Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Darf ich Sie bitten, sich zu erheben.
({0})
Plötzlich und unerwartet verstarb am 3. November 1993 unser Kollege Richard Bayha. Richard Bayha wurde am 15. März 1929 in Altenhaßlau geboren. Nach dem Besuch der Volksschule, der Handelsschule und der Ackerbauschule wurde er selbständiger Landwirt.
Der Landwirtschaft und ihren vielfältigen Problemen fühlte sich Bayha sein ganzes Leben hindurch eng verbunden. Er gehörte zu den Mitbegründern des Bundes der hessischen Landjugend, war Jahre hindurch Vorsitzender des Kreisbauernverbandes Gelnhausen und Kreislandwirt.
1954 schloß sich Bayha der CDU an. Zunächst Mitglied des Gemeindevorstandes in Altenhaßlau, wurde er schließlich Mitglied des Kreistages in Gelnhausen. Ab 1970 übernahm Bayha für sechs Jahre als Abgeordneter des Hessischen Landtages politische Verantwortung. 1976 wurde er als Abgeordneter in den Deutschen Bundestag gewählt. Er gehörte dem Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten als ordentliches Mitglied an und bekleidete seit 1987 den Vorsitz des CDU-Bundesfachausschusses Agrarpolitik.
Neben seiner Tätigkeit im Deutschen Bundestag war Richard Bayha in zahlreichen landwirtschaftlichen Organisationen und Unternehmungen aktiv Seit der friedlichen Revolution in der früheren DDR engagierte er sich in vielfältiger Weise bei dei Umstrukturierung der ostdeutschen Landwirtschaft.
Er war ein politisch und sozial engagierter Mensch, ein geselliger und liebenswerter Kollege.
Ich spreche den Angehörigen des Verstorbenen, besonders seiner Frau und seinen drei Kindern, namens des ganzen Hauses unsere Anteilnahme aus Der Deutsche Bundestag betrauert den Tod Richard Bayhas und wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren.
Am 2. November 1993 verstarb Hans Troßmann, dei erste Direktor beim Deutschen Bundestag von 194 bis 1970. Er hat in den schwierigen Jahren des demokratischen Neubeginns engagiert und pflichtbewußt für den Aufbau einer leistungsfähigen und modernen Parlamentsverwaltung Sorge getragen. Entscheidend war sein Beitrag zur Gestaltung unseres parlamentarischen Alltags mit seinen regelnden und belebenden Elementen einer guten Geschäftsordnung.
Er hatte eine besondere Ausstrahlungskraft und stand den Parlamentarieren und Mitarbeitern stets mit Rat zur Seite.
Der Deutsche Bundestag wird ihn ehrend in Erinnerung behalten.
Sie haben sich zu Ehren der Verstorbenen erhoben. Ich danke Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kollegin Dr. Else Ackermann feierte am 6. November 1993 ihren 60. Geburtstag, und der Kollege Hans Schuster feiert heute seinen 65. Geburtstag. Im Namen des Hauses spreche ich ihnen die besten Glückwünsche aus.
({1})
- Nein, Sie sind es nicht.
Nachdem der Deutsche Bundestag in der 179. Sitzung den Kollegen Herbert Lattmann zum ordentlichen Mitglied im Infrastrukturrat beim Bundesministerium für Post und Telekommunikation benannt hat, ist für ihn ein neuer Stellvertreter zu benennen. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt hierfür den Kollegen Manfred Kolbe vor. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit ist der Abgeordnete Manfred Kolbe als stellvertretendes Mitglied im Infrastrukturrat beim Bundesministerium für Post und Telekommunikation benannt.
Der Abgeordnete Dr. Rudolf Karl Krause ({2}) hat mir mitgeteilt, daß er auf seinen Sitz als ordentliches Mitglied im Kontrollausschuß beim Bundesausgleichsamt verzichtet. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt als Nachfolger den Abgeordneten Clemens Schwalbe vor. Sind Sie auch damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit ist der Kollege Clemens Schwalbe als ordentliches Mitglied in den Kontrollausschuß beim Bundesausgleichsamt gewählt.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Die Anschläge terroristischer Kurdenorganisationen auf türkische Einrichtungen in Deutschland und die deutschtürkischen Beziehungen ({3})
2. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Bericht über die Sondersitzung des Europäischen Rates in Brüssel vom 29. Oktober 1993
3. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Forderungen an die künftige Europapolitik der Bundesregierung
- Drucksache 12/6106 -
4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Lage der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie
5. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren Verlängerung der Kündigungsmöglichkeiten in der öffentlichen Verwaltung nach dem Einigungsvertrag
- Drucksache 12/6120 -Aktuelle Stunde auf Verlangen der Gruppe der PDS/Linke Liste: Konsequenzen aus der jüngsten Steuerschätzung für die Haushalts- und Finanzpolitik der Bundesregierung
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Weiterhin ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 19b und c - Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz 1993 sowie Gesetz zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften - bereits nach Tagesordnungspunkt 11 aufzurufen und in verbundener Beratung 30 Minuten zu debattieren. Die Beratungen ohne Aussprache werden im Anschluß an die heutige Aktuelle Stunde auf gerufen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann haben wir es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Afrikadebatte
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anneliese Augustin, Hans-Dirk Bierling, Wolfgang Börnsen ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Dr. Michaela Blunk ({5}), Günther Bredehorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Förderung der regionalen Kooperation, vor allem im Bereich der Wirtschaft, im südlichen Afrika durch die Europäische Gemeinschaft
- Drucksache 12/6034 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({6})
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit EG-Ausschuß
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R. Werner Schuster, Hans-Günther Toetemeyer, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Afrika hat Zukunft - Für eine neue Afrika-politik
- Drucksache 12/6053 - Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit ({7})
Auswärtiger Ausschuß
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Volkmar Köhler ({9}), Karl Lamers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Dr. Olaf Feldmann, Burkhard Zurheide, Manfred Richter ({10}) und der Fraktion der F.D.P. Grundlagen deutscher Politik gegenüber den Partnerstaaten südlich und östlich des Mittelmeers, insbesondere den Maghreb-Staaten
- Drucksachen 12/4479, 12/5416 - Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Volkmar Köhler ({11})
Ulrich Irmer
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({12})
a) zu dem Antrag der Abgeordneten HansGünther Toetemeyer, Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau und weiterer Abgeordneter
Unterstützung des Demokratisierungsprozesses in Zaire
b) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Günther Toetemeyer, Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Unterstützung des Demokratisierungsprozesses in Togo
c) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Günther Toetemeyer, Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau und weiterer Abgeordneter
Durchführung demokratischer Präsidentschaftswahlen in Kamerun
d) zu dem Antrag der Abgeordneten HansGünther Toetemeyer, Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Beendigung des Bürgerkrieges in Angola und Hilfe für die betroffenen Menschen
- Drucksachen 12/4314, 12/4315,
12/4316, 12/4920, 12/6122 - Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Volkmar Köhler ({13})
Ulrich Irmer
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Einverstanden? - Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht der Kollege Dr. Volkmar Köhler.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigen Tagen hat der Kommentator einer großen deutschen Tageszeitung uns zur Geduld mit Afrika geraten. Er hat in seinem Artikel darauf hingewiesen, daß in den Jahren seit dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers in der Hälfte der afrikanischen Staaten Wahlen stattgefunden haben, daß ein gutes halbes Dutzend Diktatoren weichen mußten, allerdings auch etwa ein Dutzend ihre Wahlen gewonnen haben. Wie auch immer, er weist darauf hin, daß vieles auf halbem Wege steckengeblieben ist. Er erinnert uns an die unsägliche Katastrophe Angolas - andere Länder müßten hier auch noch erwähnt werden -, und er ruft uns auf, den Demokratisierungsprozeß geduldig zu unterstützen. Daran soll es nicht fehlen. Wir haben mit Afrika viel Geduld gehabt, und wir werden sie auch weiter haben.
Aber ich glaube, die Fragestellung ist nicht ganz richtig. Der Zusammenbruch des sozialistischen Blocks, das Ende der zweiten Welt, hat auf dieser Welt eine ungeheuer scharfe Konkurrenz aller Länder hinterlassen: um die Kapitalströme, um die privaten Investitionen, um die Attraktivität des eigenen Standorts. - Wir können selbst ein Lied davon singen. Wir diskutieren in diesem Hause immer wieder auch über unsere eigene wirtschaftliche Zukunft. - In dieser Konkurrenz ist Afrika weit zurückgefallen, ja spielt zum Teil, was das schwarze Afrika angeht, kaum noch eine Rolle.
Wir haben in den 70er und 80er Jahren erlebt, wie sich Banken und Investoren aus Schwarzafrika nahezu total zurückgezogen haben. Die Verdoppelung der öffentlichen Entwicklungshilfe hat das Schicksal Schwarzafrikas nicht wenden können. Übriggeblieben ist eine Situation: zum Leben zuwenig, zum Sterben zuviel.
So sprechen wir heute über diesen Kontinent in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, von dem wir uns nicht lösen können und übrigens auch nicht lösen wollen.
Ich werde nicht vergessen, wie vor knapp zwei Jahren bei einer Tagung des Africa Leadership Forum in Köln - den Vorsitz führte der frühere nigerianische Präsident Obasanjo - einer der Afrikaner nahezu verzweifelt sagte: Was muß denn geschehen, damit wir überhaupt in euren Zeitungen noch auftauchen - und wenn, dann vielleicht nicht nur mit dem Stigma der Hoffnungslosigkeit! Chester Crocker, der hocherfahrene amerikanische Afrika-Spezialist, gab die klassische Antwort. Er sagte: Verwirklicht die Menschenrechte, führt die Demokratie ein, wählt den Weg der Marktwirtschaft, dann werdet ihr wieder attraktiv für diese Welt werden!
Eine ganze Reihe von Anträgen, die heute auf dem Tisch liegen und die - bis auf Nuancen -, wie ich glaube, in diesem Hause einmütiger Wille sind, versuchen, die Linie, die auch schon in den Kriterien des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und in den Beschlüssen der Konferenz der deutschen Botschafter Afrikas in Accra zum Ausdruck kommt, weiterzuführen, hie und da zu verstärken und zum eindeutigen Willen dieses freigewählten Parlamentes zu erheben. Ich glaube und hoffe, daß die Bundesregierung dies zu schätzen weiß, weil sie mit dem, was wir heute besprechen und beschließen, den klaren Willen dieses Parlaments im Rücken hat. Es wird nötig sein, diesen Willen zu den politischen Anstrengungen zu haben, die in der Tat nötig sind. Denn Afrika hängt nicht nur von dem ab, was wir hier reden. Es ist in Wirklichkeit eine Frage aller großen Geber und Partner Afrikas. So werden schwierige Gespräche über die Koordination der Anstrengungen mit der Europäischen Gemeinschaft und mit unseren Freunden und Verbündeten, insbesondere mit Frankreich, auch in Zukunft nötig sein.
Ich möchte sehr bitten, daß wir manches Denkschema zur französischen Afrikapolitik beiseite legen. Natürlich hat Frankreich in den letzten zwei, drei Jahren zwischen dem Vorrang für Stabilität und dem Wunsch, demokratische Entwicklungen zu fördern, pendeln müssen. Aber Frankreich ist in vielen Teilen Afrikas tief in die essentiellen Fragen des politischen Geschehens involviert und kommt aus dieser Situation nicht heraus, selbst wenn es das wollte. Wir Deutschen stehen Afrika sozusagen mehr akzessorisch zur Seite. Wir haben an keiner Stelle Schutzgarantien, Währungsgarantien oder dergleichen auf unserer Tagesordnung stehen.
Ich betrachte es als Ermutigung, daß der Dialog über Afrikapolitik zwischen Frankreich und Deutschland in den letzten Monaten anfängt, sich zu verdichten, und bitte, daß wir ihn mit Intensität führen, wo immer dies möglich ist. Wir müssen die europäischen Kräfte bündeln. Dazu gehört auch das, was die Kommission in Brüssel tun kann, wo es inzwischen auch Gedanken gibt, möglicherweise das Vertragswerk von Lomé in wesentlichen Zügen zu verändern. Das darf nicht zu einer Phase des Attentismus führen. Der politische Wille muß möglichst bald in aller Klarheit formuliert werden.
Es gibt viele Fragen, die auf der Tagesordnung stehen. In Paris spricht man seit Monaten über die Zukunft der französischen Währungszone in Afrika. Man tut dies auch vor dem Hintergrund des Vertrages von Maa stricht, und man prüft die Frage, was diese Währungsgarantie Frankreichs eventuell mit einer europäischen Zentralbank zu tun haben könnte. Es gibt keinen zwingenden Zusammenhang. Aber man kann hier Überlegungen anstellen. In Paris denkt man sogar über eine Ausweitung auf eine westafrikanische Währungszone nach. Auch dazu muß eine deutsche Position definiert werden. Das Gespräch muß aufgenommen werden, bevor wir in die Lage geraten, in eine Richtung mitzugehen, die unseren Überzeugungen vielleicht nicht voll entspricht.
Ich möchte zu den Afrika-Anträgen im Moment nichts weiter sagen; andere Redner werden das noch tun. Ich glaube aber, daß sie ein guter Weg sind, eine intensivere Afrikapolitik, wie sie der Herr Bundesaußenminister angekündigt hat, zu fördern und voranzutreiben.
Zwei Regionen Afrikas - über Schwarzafrika selbst hinaus - haben für uns im Moment noch ein zusätzliches und drängendes Interesse.
Da ist einmal das schwierige Thema des Maghreb. Wir haben dieser Frage einen besonderen Antrag
Dr. Volkmar Köhler ({0})
gewidmet, weil wir glauben, daß die Europäische Union als Raum des Friedens, der Stabilität und der wirtschaftlichen Prosperität nicht an ihren Grenzen haltmachen darf, sondern ihre Verantwortung für die benachbarten Räume auf sich nehmen muß. Die nordafrikanische Gegenküste kann und darf nicht eine ständige Beunruhigung Europas werden. Intensiver Dialog und Zusammenarbeit sind nötig, um die Spannungsfelder zu gestalten.
Diese Grundüberzeugung, die in diesem Antrag zum Ausdruck kommt, klingt heute schon fast ein wenig zu positiv. Offen gestanden wissen wir nicht genau, was die Zukunft uns an Problemen bringen wird: ob wir wirklich das Ziel einer fruchtbaren Entwicklungszusammenarbeit realistisch anstreben können, ob wir uns angesichts der tiefgehenden Meinungsunterschiede zu Fragen der Menschenrechte, zu Fragen der Demokratie zwischen der islamischen Welt und uns nicht unter Umständen auf eine Phase langfristiger Koexistenz einrichten müssen, für die wir ein entsprechendes Gedankenwerk noch entwickeln müssen, oder ob die sich zunehmend zuspitzende und einem Bürgerkrieg immer ähnlicher werdende Lage in Algier uns nicht in näherer Zukunft zwingen wird, uns gänzlich der Schadensbegrenzung zu widmen und die Folgen eines solchen negativen Verlaufs in Algier auch für Tunesien und Marokko mit auffangen zu helfen. Wir müssen uns auf alle diese Möglichkeiten einrichten.
Aber wenn ich „wir" sage, dann auch wieder in der Überzeugung, daß dies nicht allein eine Aufgabe deutscher Politik sein kann, sondern daß wir alles tun müssen, um möglichst bald zu einer gemeinsamen europäischen Haltung in diesen Fragen zu kommen; denn andernfalls würde die Gefahr drohen, daß sich Europa aufteilt in die Mittelmeeranrainer, die ihre Interessen dort verfolgen, und daß man um so eher sagen würde: Ihr Deutschen kümmert euch um den Osten. Eine solche Aufteilung wäre nicht nur deswegen falsch, weil wir für beide Aufgaben die Kräfte des gesamten Europa benötigen, sondern weil dies auch unter europapolitischen Gesichtspunkten auf lange Zeit das Ende der Chance wäre, zu einer gemeinsamen europäischen Außen- und Entwicklungspolitik zu kommen.
({1})
Wir können eine solche Entwicklung nicht akzeptieren, und wir müssen dabei auch in aller Klarheit sagen, daß aus deutscher Sicht dazu die Tatsache gehört, daß die Vereinigten Staaten im Mittelmeerraum präsent sind und auch bleiben werden. Versuche, die USA aus diesem Raum herauszudrängen, würden aus unserer Sicht als kontraproduktiv zu betrachten sein.
Der zweite sehr wichtige Punkt, von dem ich soeben sagte, daß er eine Region betrifft, die unser besonderes Interesse erfordert, ist das Thema Südafrika. Hier haben sich in einer nicht mehr zurückzudrehenden Weise in schneller Folge Situationen ergeben, die jetzt unser Handeln nicht nur möglich machen, sondern uns auch zum Handeln zwingen.
Während es vor etwas mehr als einem Jahr noch fast unmöglich war, in Johannesburg oder Kapstadt mit allen beteiligten politischen Kräften über die Zukunft der Zusammenarbeit Europa/südliches Afrika zu sprechen - weil der ANC klar und deutlich erklärte: Solange wir nicht an der Macht sind, dulden wir keine solchen Gespräche -, hat sich diese Haltung inzwischen fundamental geändert. Auch der ANC und andere - auch beim PAC z. B. können Sie das finden - wissen ganz genau, daß wenige Tage nach dem 27. April - wenn das denn das Wahldatum im nächsten Jahr ist - die schwarzen Massen fragen werden: Was ist denn nun? Wo sind die Häuser? Wo sind die Arbeitsplätze? Wo sind die Hospitäler, die wir brauchen, damit nicht eine ganze Generation verloren sein wird?
({2})
Auf diese Frage zu antworten ist ungeheuer schwierig.
Man darf nicht glauben, daß allein durch den Wandel die Finanzströme wieder in Gang kommen, selbst wenn die Weltbank ihren Teil dazu beiträgt. Die Weltbank ist zwar ein erster, politisch motivierter Agonist auf diesem Gebiet. Aber darüber hinaus ist die ganze nichtkonzessionäre Finanzierung zu beachten. Der Attentismus der Investoren - wir Deutschen haben da Interessen und haben auch Interessen zu wahren - muß überwunden werden.
Deswegen ist es in höchstem Maße nötig, so schnell es irgend geht, politische Anreize dafür zu schaffen, daß die große Aufgabe der Umstrukturierung der Postapartheidswirtschaft in Südafrika weiter betrieben und die finanzielle und wirtschaftliche Grundlage der Zukunft des Landes gestärkt wird. Alles, was auf dem Gebiet der Entwicklungshilfe getan wird, begrüße ich ausdrücklich; es kann nur helfen. Entscheidend ist die Wirtschaftskraft des Landes selbst, und um die geht es.
Hier gibt es verschiedene Optionen, was wir tun können. Es besteht Unsicherheit darüber, was das Richtige ist. Es gibt offensichtlich in Brüssel Kommissare, die prüfen, ob man diese Frage nicht mit einem grundsätzlichen Umbau der Lomé-Konvention verbinden sollte. Es gibt die Frage, ob es richtig sei, daß Südafrika der Lomé-Konvention beitritt - was ich nicht zu glauben vermag; das würde bedeuten, daß für 69 Länder das Kuchenstück jeweils kleiner würde. Es würde ein riesiges Ratifikationsverfahren erforderlich machen und viel Zeit kosten. Aber ich glaube, daß hier und heute begonnen werden muß, die technischen Vorfragen - das sind sehr viele und sehr diffizile Fragen im Bereich des Handels und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit - in der Sache zu klären, damit nach dem politischen Wechsel der politische Entscheidungsprozeß formalisiert werden kann. Wenn wir erst dann anfangen, verlieren wir unerträglich viel Zeit.
({3})
Nach meiner Ansicht wird der richtige Weg sein, sozusagen einen Halbbruder zu Lomé zu kreieren, ein Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Südafrika, in dem Dinge wie
Dr. Volkmar Köhler ({4})
Stabex und Sysmin, weil überfordert in diesem Zusammenhang, nicht zum Tragen kommen, sehr wohl aber der gesamte Bereich des wissenschaftlichen Austauschs, der Umweltzusammenarbeit, des Handels usw.
({5})
- Ich habe diesen Vorschlag schon oft gemacht und habe jetzt endlich auch die Chance, ihn so zu machen, lieber Herr Kollege Toetemeyer, daß Sie ihn hören.
({6})
Ich habe das in Wort und Schrift niedergelegt, und ich glaube, man kann darüber reden. Man muß darüber reden, weil auch die Frage zur Sprache kommt: Ist denn Südafrika in diesem Fall der richtige Partner für die Kooperation, oder ist es nicht möglich und klug, eine regionale Zusammenarbeit im südlichen Afrika anzustreben,
({7})
gegen die es viele Hindernisse gibt? Mancher schwarzafrikanische Staat fürchtet einen vom ANC geleiteten Staat in Südafrika beinahe mehr als einen Burenstaat.
({8})
Hier gibt es vieles zu bereden. SADC hat sich auf die Situation vorbereitet, und wir sollten die Chance nutzen, die verschiedenen Optionen so bald als möglich zu klären. Denn - um das noch einmal zu sagen -: Wir haben nicht mehr viel Zeit, wenn wir wirklich intensiv helfen wollen.
Wenn wir dies aber zuwege bringen, können wir ein Zeichen der Hoffnung setzen und Zukunftsmöglichkeiten eröffnen, die über Südafrika hinaus für das südliche Afrika, ja für Subsahara eine Hoffnung sind, eine der wenigen Hoffnungen, die wir noch haben: Afrika voranzubringen über das hinaus, was ich einleitend als bittere Analyse sagen mußte.
Ich bin sehr froh, daß wir in der Lage sind, diese Anträge heute verabschieden zu dürfen, und ich bitte um die Zustimmung des Hohen Hauses zu den vorliegenden Anträgen.
({9})
Als nächster spricht unser Kollege Dr. Werner Schuster.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Bundestagsfraktion legt nach 1987 heute erneut einen grundsätzlichen Antrag zur Afrikapolitik vor. Dies hat mehrere Gründe:
Erstens. Wie Sie wissen, haben die beiden Autoren eine sehr persönliche Beziehung zu Schwarzafrika: Der eine ist in Namibia, der andere in Tansania geboren. Was liegt da näher, als alle geeigneten Gelegenheiten zu nutzen, um auf das Schicksal unserer schwarzen Freunde auch im Bundestag und in den Medien aufmerksam zu machen?
({0})
- Herr Irmer, ist persönliche Betroffenheit eigentlich ein ungeeignetes Motiv für Politik?
Zweitens. Das Ende des Ost-West-Konfliktes und damit das Ende des unsäglichen Gegeneinanderausspielens bietet eine einmalige Chance für die Entwicklung Schwarzafrikas. Herr Minister Kinkel, haben wir sie eigentlich wirklich in den vergangenen drei Jahren systematisch genutzt?
Oder: Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Präsident Museveni aus Uganda gemeinsam mit meinen Kolleginnen Frau Augustin und Frau Männle im Sommer 1992. Absprachegemäß haben wir ihn gefragt, wie er es denn mit den Menschenrechten halte. Seine Antwort war: Das ist eine typisch deutsche Frage. Warum fragt ihr mich nicht: Wie hoch ist die Einschulungsquote unserer Kinder, wie hoch die Kindersterblichkeit oder die Lebenserwartung der Menschen in Uganda?
Menschenrechte - heißt das nicht auch das Recht auf menschenwürdiges Überleben? Sind wir nicht permanent in der Gefahr, Afrika unser ach so erfolgreiches europäisches Weltbild als allein seligmachend aufzudrängen?
Oder: Ich habe Ihnen hier ein Buch mitgebracht: „Die Kinder der Regenmacher" von dem berühmten tansanischen, inzwischen verstorbenen Dichter Kite-reza. Dem Leser wird schlagartig bewußt: Auch in Schwarzafrika gab es vor der Kolonialzeit eigenständige Kulturen, mit einem lebenswerten Lebensstil - der natürlich nicht der unsere ist - und der Fähigkeit, in und durch Dorfgemeinschaften selber Konflikte und Probleme zu lösen. Wie weit haben wir eigentlich durch unsere jahrzehntelange Interventionspolitik, auch der gutgemeinten, diese Lösungskompetenz der Betroffenen untergraben?
({1})
Oder: Warum wurden in den letzten Jahren - mein Vorredner hat darauf hingewiesen - in den Medien von Afrika fast ausschließlich „bad news" verbreitet, ohne ausreichend die Ursachen zu hinterfragen? Die Hungersnöte in Äthiopien und Somalia, die Bürgerkriege in Angola, Sudan und jetzt in Burundi sind doch nicht nur den angeblich so unfähigen und kriegslüsternen Schwarzen allein anzulasten. Oder doch?
Wo bleiben eigentlich die Berichte über positive Entwicklungen, z. B. in Namibia, Benin, Kap Verde, Eritrea, oder über die Tatsache, daß sich viele afrikanische Länder selbst ernähren?
({2})
Dies alles und noch viel mehr ist Anlaß genug, deutlich zu machen, daß Afrika nicht nur vor der Lösung großer Probleme steht, sondern auch eine Zukunft hat, wenn beide Teile es wollen: die Menschen im Süden und wir im Norden. Das, meine
Damen und Herren, muß die Botschaft der heutigen Afrikadebatte nach draußen sein.
Damit sind wir aber, Herr Minister Spranger, bereits beim ersten wesentlichen Unterscheidungsmerkmal zu Ihrem BMZ-Konzept vom August 1992. Afrika hat nur eine Chance, wenn wir unsere Einäugigkeit, nur die im Süden müssen sich ändern, endlich zugunsten eines ganzheitlichen Sehens aufgeben.
({3})
Es sind eben interne Entwicklungshemmnisse und externe Ursachen, für welche auch die Bundesrepublik als drittgrößte Wirtschaftsmacht ihr gerütteltes Maß an Verantwortung trägt.
Der aus unserer Sicht zweite Hauptfehler am BMZ-Konzept - bei aller Übereinstimmung in nicht unwichtigen Details - ist das ungeprüfte Überstülpen europäischer Konzepte auf Afrika. Museveni hat sich in dem genannten Gespräch so geäußert: weniger Einmischung von außen; Afrika war 500 Jahre Spielball europäischer und amerikanischer Interessen. - Das heißt aber, Zuhören und Dialog vor Ort - das ist manchmal sehr zeitaufwendig - statt Bevormundung.
Noch ein Drittes ist anzumerken: Es ist eine strategische Illusion, zu glauben, die Situation der Menschen in Afrika werde sich allein durch noch so engagierte Entwicklungshilfe beheben lassen. Hier muß man schon an mehreren Schrauben gleichzeitig drehen. Ein vernetzter Politikansatz von Außen-, Finanz-, Währungs-, Wirtschafts-, Landwirtschaftsund Handelspolitik ist vonnöten. Afrikapolitik als kohärente Querschnittspolitik - de facto bislang ein Fremdwort.
Doch nun zur eigentlichen Zielsetzung unseres Antrages: Eine auf Dauer tragfähige, sozial gerechte, wirtschaftlich produktive, ökologisch verträgliche, menschenwürdige und friedliche Entwicklung wird gefordert.
Das bedeutet u. a.: erstens Förderung von demokratischen Strukturen, welche die Menschenrechte dauerhaft sichern, eine tatsächliche Beteiligung der Bevölkerung an politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungsprozessen. Eine solche Partizipation der Betroffenen ist doch wirklich ein bißchen mehr als die bloße Übernahme eines europäischen Mehrparteiensystems. Konfliktlösungen durch friedlichen Interessenausgleich müssen aktiv unterstützt werden.
Zweitens. Unterstützung von Strukturreformen in den afrikanischen Staaten, welche der Beseitigung oben genannter Entwicklungshemmnisse dienen. Das bedeutet in der Praxis eine positive Konditionierung, nicht aber, Herr Minister, den Staatskommissar aus dem Norden. Das heißt weiter: Strukturanpassung ja, aber nur mit strikten sozialen und ökologischen Konditionen. Hier müssen IWF und Weltbank wirklich noch viel lernen.
Drittens. Förderung sinnvoller Ansätze regionaler Kooperation. Hier findet sich im südlichen Afrika eine Vielzahl von ungenutzten Chancen. Man wird dabei nicht umhin können, die europäische Idee des Nationalstaates zu relativieren. Die von uns allen gewünschte verstärkte regionale Kooperation mit gleichzeitiger Dezentralisierung der Entscheidungsbefugnisse wird diesen Zielkonflikt in vielen afrikanischen Ländern sehr deutlich machen.
({4})
Viertens. Hilfe für eine das Überleben sichernde wirtschaftliche Entwicklung durch Abbau des Protektionismus bei uns,
({5})
Anhebung der Erlöse für afrikanische Exportprodukte und Lösung der Schuldenkrise durch weitgehenden Schuldenerlaß.
Fünftens. Effektivierung der bilateralen und multilateralen Entwicklungszusammenarbeit. Wo, Herr Minister, gibt es eigentlich länderspezifische strategische Entwicklungskonzepte, abgestimmt innerhalb der Bundesregierung, mit der EG oder gar mit der Weltbank? Die Wirklichkeit sieht doch ganz anders aus. Nach wie vor konkurrieren die Industrieländer mit ihren Angeboten, inklusive Lieferbindung,
({6})
und wir wundern uns anschließend über die „spoon feeding mentality" unserer Partner. Notwendig ist eine Konzentration auf Schwerpunkte - Armut, Frauen, berufliche Bildung -, welche sich nicht nur in den Konzepten, sondern auch in der Haushaltswirklichkeit des BMZ wiederfinden müssen.
({7})
Sechstens. Überprüfung und Korrektur aller relevanten Vorhaben deutscher Politik im Sinne einer Afrikaverträglichkeit.
In unserem Antrag haben wir diese sechs Kernforderungen an eine neue Afrikapolitik in konkrete „therapeutische" Maßnahmen umgesetzt. Ich empfehle sie Ihnen natürlich eindringlichst zur Lektüre.
Wenn es ein Entwicklungskabinett gäbe, so wie es die SPD seit langem fordert, und alle betroffenen Minister an diesem Zielkatalog die Leistungen ihres Hauses jedes Jahr neu bewerten müßten, dann, glaube ich, ginge es ihnen so wie seinerzeit Petrus, welcher sich bekanntlich abwandte und bitterlich weinte.
({8})
Ich bin mir aber nicht sicher, daß dies bei einem sozialdemokratischen Kabinett völlig anders wäre, wenn ich es mir auch sehr erhoffe.
Wenn ich Ihre Diskussionsbeiträge, liebe Kolleginnen und Kollegen, im AwZ vom 29. September zu diesem Afrikakonzept des BMZ betrachte, bin ich mir sicher, daß wir zumindest verbal in vielen Aspekten nicht weit auseinanderliegen.
Bleibt also zum Schluß die Frage: Warum wird nicht so gehandelt? Wahrscheinlich, weil wir nicht den Mut haben, unseren Wählerinnen und Wählern die Konsequenzen einer solchen Afrikapolitik offensiv darzuDr. R. Werner Schuster
stellen. Es wäre nämlich notwendig, der Öffentlichkeit die konkreten Folgen vor Augen zu halten: Kaffee und andere landwirtschaftliche Erzeugnisse würden für die deutschen Verbraucher nicht unerheblich teurer. Kostengünstiger produzierte Waren aus afrikanischen Ländern würden auf „unseren Märkten" konkurrieren. Welch schreckliche Vorstellung! Eine notwendige Erhöhung der finanziellen Unterstützung von politischen und wirtschaftlichen Reformen müßte durch Einsparungen in anderen Bereichen finanziert werden. Oder: Betriebe, welche Rüstungsgüter, Giftmüll und ähnliches nach Afrika exportieren, müßten ihre Produktion umstellen.
Ein selbstbestimmter eigener Entwicklungsweg Afrikas müßte eine Politik des Teilens, eine Politik der politischen, ökonomischen und ökologischen Selbstbeschränkung bei uns mehrheitsfähig machen.
({9})
Dann gäbe es für Afropessimismus keinen Grund mehr.
Meine Herren Minister, es ist dieser Traum von einem neuen Afrika, welcher uns alle umtreiben sollte. Lassen wir uns gemeinsam diese Chance nutzen!
Ich bedanke mich.
({10})
Als nächster spricht der Kollege Ulrich Irmer.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Meine Damen und Herren! Ich muß Sie zunächst leider mit einer technischen Problematik konfrontieren. Das kommt davon, wenn man in aller Eile am vorherigen Tage im Auswärtigen Ausschuß eine Beschlußempfehlung bastelt, die am nächsten Tag ins Plenum soll. Zwischen dem Kollegen Toetemeyer und mir ist einfach eine Verständigungspanne passiert. Wir müssen deshalb von der Koalition aus einen Änderungsantrag zu der Beschlußempfehlung einbringen. Er wird verteilt werden.
Es geht lediglich darum, daß auf Seite 5 der Beschlußempfehlung der Teil III, in dem von den einzelnen Ländern - Zaire, Togo, Kamerun und Angola - die Rede ist, durch einen anderen Text ersetzt werden soll. Ich bin auch von den Experten im Auswärtigen Amt darauf hingewiesen worden, daß der Text, wie er jetzt in der Beschlußempfehlung steht, veraltet ist, nicht mehr den neuesten Stand wiedergibt, weil da von der Bundesregierung zum Teil Punkte gefordert werden, die diese nach eigenem glaubwürdigen Bekunden längst erledigt hat.
Meine Damen und Herren, es wäre zwar nicht das erste Mal, daß wir hier Dinge beschließen, die vielleicht fragwürdig sind; das kommt vor. Es ist gut, wenn man es noch rechtzeitig merkt und verhindern kann. Ich bitte also um Vergebung. Ich klopfe mir an die eigene Brust; auch ich habe da gestern geschlafen.
Jetzt zur Sache. Meine Damen und Herren, wir sind dem Bundesaußenminister dankbar dafür, daß er erklärt hat, für die Bundesregierung werde die AfrikaPolitik einen besonderen Stellenwert einnehmen. Ich glaube, es ist hoch an der Zeit, daß wir uns diesem uns auch geographisch so nahe liegenden Kontinent stärker widmen.
Natürlich werden bei uns in der Öffentlichkeit die Fragen gestellt: Warum macht ihr das denn? Was geht uns Afrika eigentlich an?
So wie auch die Frage gestellt wird: Was geht uns eigentlich der Osten Europas an?
Man kann versuchen, die Antwort mit unterschiedlicher Motivation zu geben. Ich persönlich stehe nicht an, mich hier ganz eindeutig zu dem humanitären Ansatz zu bekennen. Ich finde es unerträglich, wenn man beobachten muß, wie die Menschen - speziell in Afrika - dahinsterben, wie die Verelendung immer weiter um sich greift, wie Menschen dort verrecken und vor die Hunde gehen. Das ist für mich persönlich schwer erträglich.
({0})
Auf der anderen Seite verlange ich eigentlich von niemandem, daß er diesen Ansatz unbedingt teilt. Denen, die das nicht tun, möchte ich sagen: Es gibt auch eine rein nützlichkeits- und rein interessenbezogene Antwort auf die Frage, warum wir uns mit Afrika beschäftigen sollten. Wenn Afrika endgültig vor die Hunde geht, dann wird, meine Damen und Herren, das Mittelmeer buchstäblich schwarz sein von Menschen, die bei uns Zuflucht suchen - genauso wie sich Flüchtlingsströme von Osten nach Westen in Bewegung setzen werden, wenn es uns nicht gelingt, den Demokratisierungsprozeß und den wirtschaftlichen Gesundungsprozeß im Osten unseres Kontinents zu fördern und zu stabilisieren.
Meine Damen und Herren, negativ gesehen gilt es, Gefahren und Risiken durch die Kooperationspolitik, die wir betreiben müssen, für uns abzuwenden. Positiv gesehen geht es darum, daß wir in diesen Weltgegenden auch künftige Märkte für unsere Produkte schaffen. Denn wenn wir auch in künftigen Jahren und Jahrzehnten unsere gewerblichen Produkte in der Welt verkaufen wollen, dann müssen wir auch dafür sorgen, daß es künftig neue Märkte gibt. Neue Märkte entstehen nur da, wo Kaufkraft vorhanden ist.
Ich möchte diese Gelegenheit wahrnehmen, überhaupt auf die eigenartige Geschichte hinzuweisen, daß jetzt immer der Versuch gemacht wird, einen Gegensatz zwischen einer wertorientierten Politik und einer Interessenpolitik zu konstruieren. Beides verträgt sich sehr wohl miteinander; beides bedingt einander auch. Wenn Leute daherkommen und sagen: Es wird höchste Zeit, daß wir endlich wieder Interessenpolitik betreiben, wir haben das in der Vergangenheit nie getan, dann kann ich nur antworten: Wir haben nichts anderes getan, als außenpolitisch unsere Interessen zu vertreten, indem wir nämlich bei unserer West- und unserer Ostpolitik dafür gesorgt haben, daß wir unsere Freiheit, unseren Wohlstand erhalten konnten und daß wir en passant die Einigung unseres Landes erzielen konnten. Es kommt jetzt darauf an, aus dieser Kombination von Interessen- und Wert16234
orientiertheit auch eine neue Südpolitik zu gestalten.
({1})
Der Isolationismus, dem bei uns vielfach - zumindest von der Stimmung her - das Wort geredet oder das Gefühl gegeben wird, führt uns nicht weiter. Es ist kurzsichtig, zu sagen: Wir müssen uns auf unsere eigenen Probleme konzentrieren; wir müssen jetzt verstärkt deutsche Interessen sehen, bayerische Interessen sehen. Das ist alles recht und gut. Aber wenn wir uns dann dazu verleiten lassen, nicht über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und nur im eigenen Saft zu schmoren, meine Damen und Herren, dann werden wir auch unsere eigenen Probleme nicht lösen können.
({2})
- Das habe ich damit gemeint, lieber Josef Grünbeck.
Das Ende des Ost-West-Konflikts hat auch in Afrika neue Chancen eröffnet. Wir wissen es alle: Die Großmächte, die Machtblöcke haben über die Jahrzehnte hin den Versuch unternommen, eigene Interessensphären auf dem Kontinent aufzubauen und zu erhalten. Zum Teil wurde der Ost-West-Konflikt stellvertretend auf afrikanischem Boden ausgetragen.
({3})
Dieses ist Gott sei Dank vorbei. Wir haben es überwunden, daß wir entweder einzelne Länder bestechen mußten oder glaubten, dies zu müssen, oder daß wir uns von einzelnen Ländern haben erpressen lassen. Wir wissen dieses alles. Wir haben zum Teil in der Vergangenheit in Afrika Politik betrieben, nicht deswegen, weil wir glaubten, es sei richtig, sondern deshalb, weil wir in diesem Ost-West-Konflikt befangen waren und nicht verhindern konnten oder wollten, daß dort auf dem Rücken der Ärmsten der Armen der Ost-West-Konflikt stellvertretend ausgetragen wurde, wo er nicht hingehörte.
Wenn Sie mir zu dieser frühen Stunde den Kalauer gestatten: Es gab neben den frankophonen und den anglophonen und den lusophonen Ländern in Afrika dann auch noch diejenigen, wo die DDR besonders aktiv war; das waren die sachsophonen Länder.
({4})
Aber dies beleuchtet ja, aus welcher Interessenlage heraus - ({5})
- Ja, Sie gehören auch dazu, Herr Solms - dort Tätigkeit entfaltet wurde. Es war ja nicht so, daß etwa die Staaten des damaligen Ostblocks bei der Entwicklung helfen wollten, sondern die Hilfe beschränkte sich in erster Linie auf Waffenlieferungen, auf Einfluß, auf den Aufbau von Geheimdiensten und von Überwachungssystemen und dergleichen mehr. Dieses, meine Damen und Herren, ist Gott sei Dank überwunden.
Keineswegs überwunden - und darauf haben Herr Kollege Schuster und auch Herr Kollege Köhler hingewiesen - ist der Versuch von Industrieländern, eigene Vorstellungen einem anderen Kulturkreis aufzuzwingen. Es ist völlig richtig, wenn man sagt, die eigentlichen Menschenrechtsverletzungen liegen darin, daß die Menschen eben Hungers sterben, daß sie von Seuchen dahingerafft werden, daß sie den Analphabetismus nicht überwinden können.
Aber, meine Damen und Herren, deswegen jetzt zu sagen, unsere europäischen Menschenrechtsvorstellungen haben in Afrika nichts zu suchen, wäre genauso falsch.
({6})
Denn dieses Argument läuft ja darauf hinaus, daß man leider oft aus sogenannten Entwicklungsländern hört: Jetzt kümmert euch um die eigentlichen Menschenrechtsverletzungen und verschont uns mit eurem idealistischen Müll, den ihr in Europa produziert habt!
Das ist ein Mißverständnis. Es kann doch nicht heißen, daß jemand, der hungert und krank ist, dann auch noch eingesperrt oder verprügelt werden soll. Darum geht es.
({7})
Wir müssen auch akzeptieren: Wer nicht die elementarsten Menschenrechte auch in unserer europäischen Tradition achtet, dem wird es auch nicht gelingen, die Menschen zu motivieren, daß sie dazu kommen, ihre eigenen Schwierigkeiten zu überwinden und anzupacken, und zu motivieren, daß sie mit ihren eigenen Problemen fertigwerden. Denn so geht es auch nicht - die Tendenz herrscht manchmal leider auch in diesem Hause vor -, dann mit dem Finger nur auf die Europäer und die Amerikaner zu zeigen und zu sagen: Die sind an allem schuld; das ist alles der Kolonismus oder der Neokolonismus. Das hat mit Sicherheit dazu beigetragen. Aber es ist auch ein afrikanisches Problem selbst.
Insofern ist das richtig, was die Bundesregierung vertritt: Da, wo Menschenrechte geachtet werden, wo eine nicht korrupte und wirtschaftlich vernünftige Regierungsform praktiziert wird, da sollen wir dies auch dadurch honorieren, daß wir Angebote auf verstärkte Zusammenarbeit machen. Das hat nichts mit Zuckerbrot und Peitsche zu tun. Es ist vielmehr auch gegenüber unserem Steuerzahler gar nicht anders zu verantworten, daß wir da investieren, wo wir selber den Eindruck haben: Es lohnt sich auf Grund der eigenen Bemühungen dieser Länder.
Lassen Sie mich ganz zum Schluß ein Wort zu Südafrika sagen. So erfreulich der Reformprozeß dort ist - es grenzt fast an ein Wunder, was in jüngster Zeit für Fortschritte gemacht werden konnten -, so brüchig ist doch noch der Boden, auf dem dieses steht. Gerade wir als Deutsche sollten wissen, daß die Überwindung einer rechtlichen und politischen Trennung allein noch nicht dazu führt, daß eine Gesellschaft zusammenwächst.
Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 189. Sitzung. Bonn, Donnerstag, cien 11. November 1993 16235
Wenn die Apartheidsregelungen in Südafrika lükkenlos abgeschafft sein werden, wenn sich das Prinzip „Ein Mensch, eine Stimme" durchgesetzt haben wird, wenn alle Bevölkerungsgruppen an der Regierung beteiligt sein werden, dann erst fängt die eigentliche Arbeit an, nämlich die Gesellschaft in Südafrika, die verschiedenen ethnischen Gruppen, zusammenzuführen, damit sie gemeinsam ihr Land aufbauen können. Das Wichtigste ist hierbei - darauf sollten sich auch unsere Zusammenarbeitsbemühungen konzentrieren -, Bildung und Ausbildung für die Schwarzen, die in der Vergangenheit bewußt völlig außen vor blieben, wenn es um diesen Bereich ging, zu fördern. Lassen Sie uns daran mithelfen!
Vielen herzlichen Dank.
({8})
Als nächste spricht die Kollegin Dr. Ursula Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der heutigen Debatte haben wir es mit Beziehungen zu einem Kontinent zu tun, auf dem 680 Millionen Menschen, d. h. 12,3 % der Weltbevölkerung leben.
Leider ist Afrika heute zum Synonym für Unterentwicklung, Überschuldung, Not und Elend geworden. Sein Anteil am Weltbruttosozialprodukt ist von 1,9 % 1960 auf 1,2 % 1989, der Anteil am Welthandel von 3,8 % auf 1 % zurückgegangen. Dieser Trend hält an. Die Wirtschaftsbeziehungen Deutschlands mit Afrika haben lediglich eine marginale Bedeutung. Unser Import aus dem afrikanischen Kontinent betrug 1992 16,5 Milliarden DM und kann mit dem deutschen Import aus Spanien verglichen werden, der Export von 15,4 Milliarden DM kann mit dem deutschen Exportvolumen nach Schweden verglichen werden.
Geht man von der schier ausweglosen Lage des afrikanischen Kontinents und von den Erfordernissen aus, dort wenigstens die Grundbedürfnisse der Menschen zu sichern, so muß man feststellen, daß die Drucksachen der Koalitionsparteien zur Mittelmeerregion und zur Kooperation im südlichen Afrika wenig Strategie- und Politiksubstanz offenbaren und teilweise hinter den Materialen des BMZ zu diesen Regionen zurückbleiben.
Ich möchte unseren Standpunkt vom 11. März dieses Jahres zur Mittelmeerpolitik der Bundesregierung noch einmal ausdrücklich bekräftigen. Im März verwies ich nämlich u. a. darauf, daß in Friedens- und Sicherheitsfragen der Antrag auf Allgemeinplätze beschränkt bleibt und kein Wort über Abrüstung, Rüstungskontrolle und Stopp der Lieferung von Rüstungsgütern in diese Region enthält. Im Plenum brachte ich damals meine Hoffnung zum Ausdruck, daß dies im Ausschuß nachgeholt wird.
Die in der Beschlußempfehlung der CDU/CSU und F.D.P. vom 13. Juni 1993 enthaltene diesbezügliche Einfügung weisen wir als zynisch und unannehmbar zurück. Will die Bundesregierung in der Tat - ich zitiere - das Ziel, „den Export von Rüstungsgütern in die Krisenstaaten des Mittelmeerraumes zu vermindern", zur Regierungspolitik erklären? Es ist geradezu ein Verbrechen und eine gravierende Verletzung von Menschenrechtsprinzipien, aber auch eine gehörige Zumutung, von den Abgeordneten dieses Hauses zu erwarten, daß sie beschließen, den Export von Rüstungsgütern in die Krisenstaaten dieser Region zu vermindern. Diese Ergänzung sagt zunächst einmal nichts über das Maß der Verminderung aus.
({0})
Falls dieser „friedensfördernde" Einfall beschlossen wird, sanktioniert er außerdem den deutschen Rüstungsexport sogar in Krisenregionen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, das Geschäft mit Rüstungsgütern unverzüglich einzustellen. Weder dem ursprünglichen Antrag noch der Ergänzung in der vorliegenden Form werden wir unsere Zustimmung geben. Wir fordern die Abgeordneten der anderen Oppositionsparteien, aber auch der CDU/ CSU und der F.D.P. auf, diesen Antag aus diesem Grunde abzulehnen.
Meine Damen und Herren, wir sind sehr für eine neue, eine andere Afrikapolitik und auch dafür, daß Afrika eine Zukunft haben soll. Aber über 30 Jahre nach Überwindung des imperialistischen Kolonialsystems des Ost-West-Konfliktes sind die zentralen Probleme dieses Kontinents eben nicht nur noch nicht gelöst, wie es im Antrag der SPD heißt, sondern sie sind so zugespitzt wie nie zuvor und von einer Lösung weit entfernt. Nach dem verlorenen Jahrzehnt in den 80er Jahren droht ein weiteres Jahrzehnt verlorenzugehen. Millionen vegetieren in Afrika menschenunwürdig dahin; das wurde hier schon wiederholt gesagt.
Diese Armutsdiagnose, da bin ich mir sicher, ist in diesem Haus mehr oder weniger konsensfähig. Was jedoch die externen und die internen Ursachen der entstandenen Lage, die Wechselwirkung dieser Ursachen und vor allem deren Überwindung betrifft, sind die Unterschiede unverkennbar.
Der Antrag der SPD-Fraktion zu Afrika vom 29. Oktober enthält unseres Erachtens wesentliche Überlegungen, denen sich die Bundesregierung nicht länger verschließen sollte.
Ausgangspunkt für entwicklungspolitische Zusammenarbeit sollten Eigeninitiativen von Afrikanern und regionale Entwicklungsstrategien sein. Ein schematisches Überstülpen von nordwestlichen Entwicklungsmodellen sollte dabei tunlichst vermieden werden. Günstigere innere Bedingungen sind erforderlich, damit der afrikanische Kontinent seine Potenzen im Interesse der Menschen entfalten kann. Diese inneren Rahmenbedingungen müssen die Völker Afrikas in Wahrnehmung ihres Selbstbestimmungsrechtes schaffen. Sie sollten nicht durch eine fremdbestimmte Konditionalität der Entwicklungspolitik erzwungen werden.
Meine Damen und Herren, von vitaler Bedeutung für die Zukunft Afrikas erscheint uns das Eintreten für eine andere Weltwirtschaftsordnung, die - ich zitiere aus dem SPD-Antrag - „die schweren Benachteiligungen, denen die Entwicklungsländer ausgesetzt
sind, dauerhaft beseitigt" . Um das erreichen zu können, bedarf es unseres Erachtens aber einer recht gründlichen Reform dieser Weltwirtschaftsordnung, die auf Ungerechtigkeit und schweren dauerhaften Benachteiligungen auch der afrikanischen Entwicklungsländer basiert. Wir sind für eine grundlegende Reform, Abbau des Protektionismus, die Öffnung der Weltmärkte und die Erhöhung der Exporterlöse durch Einführung gerechter Preise.
All das aber rüttelt an den Grundpfeilern der auf Maximalprofit beruhenden Weltwirtschaftsordnung. Lediglich kosmetische Reformen dieser Ordnung werden, wie die Vergangenheit deutlich gezeigt hat, die schweren Benachteiligungen der Entwicklungsländer nicht dauerhaft beseitigen können - noch schlimmer: Es wird immer weiter bergab gehen.
Gelingt es nicht, die Schlüsselbereiche der deutschen Politik einer Entwicklungsverträglichkeitsprüfung zu unterziehen, dann werden auch künftig die Wirkungen unserer Entwicklungspolitik nicht zuletzt in Afrika marginal bleiben müssen. Im Mittelpunkt der Entwicklungspolitik muß endlich - wie oft in diesem Zusammenhang verbal angemahnt wird - der Mensch stehen, und zwar der leidende Mensch in den Entwicklungsländern und nicht der, der sich um die Wiedererlangung der Zahlungsfähigkeit der verschuldeten afrikanischen Staaten mehr kümmert als um gerechte weltwirtschaftliche Beziehungen.
Es ist doch kein Zufall, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, daß - ich zitiere aus Ihrem Antrag - „ das westliche Krisenmanagement zur Lösung der Schuldenkrise Afrikas versagt hat". Und wir wissen: nicht nur dort. Eine Schuldenstrategie oder ein Schuldenmanagement - bezeichnend ist hier schon die Wortwahl -, deren Kern letztlich in der zeitlichen Streckung der Zahlungsverpflichtungen besteht, bei Aufrechterhaltung der Schulden, hat eben nur eines im Sinn: Gewinn. Je länger dieses „Management" funktioniert, desto mehr kann man die Entwicklungsländer ausbeuten. Die Krönung der Demagogie besteht dann in der generösen Streichung von Schulden für Länder, die die Schulden ohnehin nicht mehr zahlen können und die die ursprünglichen Kredite über Zins und Zinseszins längst zurückgezahlt haben.
Von der Bundesregierung fordern wir nicht zum erstenmal, daß sie sich für einen rigorosen Schuldenerlaß für die LDC-Staaten in Afrika und für solche weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen einsetzt, die eine Verschuldungskrise dieses Ausmaßes von vornherein ausschließt.
Meine Damen und Herren, niemand wird wohl ernsthaft bestreiten, daß die Entwicklung im südlichen Afrika regionale und kontinentale Auswirkungen hat. Die Art und Weise dieser Auswirkungen werden vor allem davon abhängen, inwieweit und wie schnell es gelingt, das Apartheidregime und die Strukturen der Rassentrennung zu überwinden und den Weg eines demokratischen, antirassistischen Südafrika zu beschreiten.
Die PDS/Linke Liste befürwortet wie die Antragsteller der Regierungsparteien sowohl die Reintegration Südafrikas in die Weltwirtschaft als auch die regionale Integration sowie eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen diesem Wirtschaftsraum und der EG. Zugleich können wir angesichts der dramatischen Ereignisse in Südafrika allein in diesem Jahr und vor allem der Ausschreitungen der Rassisten unsere Besorgnis nicht verhehlen, daß die Apartheidbefürworter offensichtlich nichts unversucht lassen, um den Demokratisierungsprozeß rückgängig zu machen.
Den ersten freien und demokratischen Wahlen kommt bekanntlich eine Schlüsselrolle zu. Mit diesem Volksentscheid aller Bürgerinnen und Bürger Südafrikas werden die Weichen für die Zukunft einer ganzen Region gestellt. Wir sollten deshalb darauf drängen, daß diese Wahlen, wie vorgesehen, störungsfrei und fair stattfinden können. Es erscheint keineswegs zu spät, danach Prozesse in Gang zu setzen, die einer regionalen Wirtschaftskooperation und einer Kooperation von EG und Südafrika dienlich sind.
Um es deutlich zu sagen, meine Damen und Herren: Die PDS/Linke Liste sieht keinen dringenden Handlungsbedarf seitens der Bundesrepublik und der EG, das bisherige Verfahren umzukehren. Dadurch könnten Apartheidfanatiker eher ermuntert werden, ihre demokratiefeindlichen Aktivitäten zu verstärken. Die Bundesregierung hat im August 1992 in ihrem AfrikaKonzept u. a. Menschenrechte, die Beteiligung der Bevölkerung am politischen Prozeß, Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit als Kriterien für Umfang und Gestalt der Entwicklungszusammenarbeit proklamiert.
Warum gibt es auf einmal in bezug auf Südafrika eine solche Eile? Die derzeitige Eile der Bundesregierung ist mir absolut unverständlich. Auf anderen Feldern fordern Sie doch die Einhaltung von Kriterien und sind dann erst bereit, entwicklungspolitische Hilfe zu leisten. In Südafrika geht es immerhin um die demokratische Legitimation für die Überwindung des staatlich organisierten Rassismus. Und ausgerechnet da wollen Sie bereits vor dieser Entscheidung Maßnahmen einleiten, die die ökonomische Zusammenarbeit der EG mit diesem Wirtschaftsraum regeln?
Lassen Sie uns heute tun, was wir tun müssen, nämlich mithelfen, daß die Wahlen stattfinden, damit das Apartheidregime endlich auch in Südafrika überwunden wird!
Meine Damen und Herren, der Demokratisierungsprozeß in Afrika geht in der Tat nur schwer voran. Zu lange sind die afrikanischen Länder Objekte von Kolonialpolitik und dann in die Ost-West-Auseinandersetzung eingebunden gewesen - das ist hier schon gesagt worden -, und auch jetzt werden sie sträflichst benachteiligt.
({1})
- Stellen Sie mir eine Frage! Ich würde ganz gern darauf antworten. Ich habe nur nicht so viel Zeit.
({2})
Wir haben keine grundsätzlichen Einwände gegen die Anträge der SPD zur Unterstützung des DemokraDr. Ursula Fischer
tisierungsprozesses in Zaire, Togo, Kamerun und Angola. Dennoch möchten wir hinterfragen, was die SPD darunter versteht, wenn sie an entsprechende internationale Maßnahmen oder daran denkt, daß Deutschland die Verzögerung der Demokratisierung Kameruns nicht ohne Reaktion hinnehmen werde. Ausgehend von den jüngsten Erfahrungen, würden wir von der Bundesregierung nicht fordern wollen - wie im Antrag der SPD formuliert -, daß sie sich im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen für die Entsendung von Blauhelmen nach Togo einsetzt.
In Abhängigkeit von den Antworten, die die SPD auf diese Fragen gibt, werden wir entweder den Anträgen zustimmen oder uns enthalten.
Ausdrücklich begrüßen wir den zusätzlichen Formulierungsvorschlag der SPD vom 27. Oktober, zu Angola insbesondere die Feststellung, daß die Bundesrepublik Deutschland eine durch militärische Gewaltakte an die Macht gelangte UNITA-Regierung nicht anerkennen wird.
Kolleginnen und Kollegen, da im Bundestag leider alles parallel läuft, muß ich mich jetzt verabschieden und in den Untersuchungsausschuß gehen. Ich bitte, Fragen, die mir gestellt werden sollten, an mich persönlich in meinem Büro zu richten.
Ich bedanke mich.
({3})
Als nächster spricht der Kollege Konrad Weiß.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag der SPD-Fraktion, den wir heute beraten, trägt den Titel „Afrika hat Zukunft". Ich frage: Hat Afrika Zukunft? Schaut man auf den Kontinent, so blickt man auf zahlreiche Krisenregionen, auf Länder, die von Krieg und Bürgerkrieg, von Hunger und Epidemien, von Umweltzerstörung und Kulturverlust gezeichnet sind. Vieles davon sind die Spätfolgen eines erbarmungslosen Kolonialismus, der Afrikaner als Barbaren und Kindmenschen angesehen und sie als billige Sklaven mißbraucht hat. Und es sind Folgen einer verfehlten Entwicklungspolitik, die Afrika europäische Wertvorstellungen und Strukturen implantieren wollte. Den schlimmen Zustand des Kontinents haben wir mitzuverantworten.
Doch Afrika hat Zukunft. Sie liegt aber zuerst bei den Afrikanern selbst. Unsere Verantwortung ist es, dort zu helfen, wo Hilfe und Beratung gebraucht und gewünscht werden, nicht aber, uns einzumischen, und schon gar nicht, unsere Vorstellungen zu oktroyieren. Der emanzipatorische Prozeß, der notwendig ist und ja längst begonnen hat, verträgt keine störenden Eingriffe von außen. Wir müssen auch ertragen lernen, wenn Afrikaner andere Lebensformen finden oder wiederfinden, wenn sie zu ihren Traditionen zurückkehren und auf westlichen Wohlstand und die fragwürdigen Segnungen unserer Zivilisation verzichten.
({0})
Sie haben eine eigene Zivilisation, die wir zu respektieren haben. Sie haben ein eigenes und anderes Menschenbild und Weltbild. Auch das haben wir zu achten. Wir haben zu akzeptieren, wenn Afrikaner andere Formen der politischen Partizipation entwikkeln, die unseren Vorstellungen von Demokratie nicht entsprechen.
Diese grundlegende Bereitschaft vermisse ich im Antrag der SPD, dessen Analysen und Forderungen ich aber ansonsten weitgehend folge. Ausdrücklich widerspreche ich allerdings in einem Punkt, nämlich der Feststellung, daß spezifische kulturelle Gegebenheiten und die Bevölkerungsexplosion Entwicklungsfortschritte erschweren würden.
({1})
Ich sehe die spezifischen kulturellen Gegebenheiten im Gegenteil als eine, wenn nicht gar als die entscheidende und besondere Kraftquelle Afrikas an, die aus einer jahrtausendealten Erfahrung gespeist wird. Sie ist das Ergebnis eines evolutionären Anpassungsprozesses an die äußeren Lebensbedingungen in Afrika.
Ich glaube nicht, daß wir das Recht haben, von einer Bevölkerungsexplosion zu sprechen. Ich mag dieses Wort, das schrecklich inhuman ist und das eine Vorstellung von einer Bedrohung durch die Bevölkerungsexplosion beinhaltet, ohnehin nicht. Zudem wissen wir doch, daß sich das Bevölkerungswachstum inzwischen in vielen afrikanischen Ländern erheblich verlangsamt.
Ich stimme dem Antrag der Kollegen Schuster und Toetemeyer und der Fraktion der SPD im übrigen aber zu und würdige ausdrücklich, daß in diesem Antrag die wesentlichen Punkte einer sinnvollen Afrikapolitik gefunden und definiert wurden und daß daraus konsequente Forderungen abgeleitet sind. Würden diese wirklich umgesetzt, könnten wir wesentlich zur Verbesserung der Situation in Afrika beitragen.
Der Antrag versteht Entwicklungspolitik als Querschnittsaufgabe und fordert zu Recht, daß alle relevanten Vorhaben der deutschen Außenpolitik, der Finanz- und Währungspolitik, der Wirtschafts- und Handelspolitik sowie der Landwirtschaftspolitik darauf zu überprüfen sind, ob sie im Einklang mit entwicklungspolitischen Grundsätzen und Maßstäben stehen. Damit wird ein wirkliches Kernproblem der Entwicklungspolitik angegangen. Wir unterstützen insbesondere, daß künftig Hermes-Bürgschaften grundsätzlich an die Einhaltung von entwicklungspolitischen und ökologischen Kriterien zu knüpfen sind.
Auch die Ausführungen zu den Themen Verschuldung und Strukturanpassung sowie zur IWF- und Weltbankpolitik stimmen weitgehend mit den Vorstellungen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN überein. Uns sind allerdings die Konsequenzen, die daraus gezogen werden, nicht konkret genug. Natürlich kann ich den Schwerpunkten am Schluß des Antrags nicht widersprechen; aber das ist mehr ein Katalog, der so richtig wie unverbindlich ist. Der Antrag offenbart darin eine gewisse Unentschlossenheit und
Konrad Weiß ({2})
läßt Grenzen erkennen, an die wir bei der Formulierung einer Afrikapolitik zwangsläufig stoßen.
So fehlen im Antrag der SPD auch klare Aussagen zur Ethik der Wirtschaftsbeziehungen zwischen uns und Afrika. Der Vorsitzende der Süd-Kommission, Julius Nyerere, hat unlängst auf diese vernachlässigte Dimension in den internationalen Beziehungen aufmerksam gemacht. „Ist es etwa moralisch einwandfrei" , so fragt er, „die Welt so zu organisieren, daß die wohlhabenden und entwickelten Staaten automatisch - kraft des Funktionierens der internationalen Wirtschaftsordnung - immer reicher und mächtiger werden, während die ärmsten und unterentwickelten Länder arm bleiben oder noch ärmer werden?"
Zugleich mahnt er die Bürgerinnen und Bürger und die politischen Führer in Afrika nachdrücklich, sich der eigenen ethischen Verantwortung für die notwendigen Veränderungen in Afrika bewußt zu sein.
Die vorliegenden Anträge der Koalitionsfraktionen zum südlichen Afrika und zu den Maghreb-Staaten sind aus der Sicht von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN problematisch. Sie vertreten vorrangig wirtschaftliche und sicherheitspolitische Ziele. Der Antrag zur Förderung der regionalen, vor allem der wirtschaftlichen Kooperation im südlichen Afrika durch die Europäische Gemeinschaft, hat unverkennbar das Ziel, möglichst schnell den Fuß in die Tür zu bekommen. In Südafrika wird zu Recht ein großes wirtschaftliches Potential gesehen. Ich meine jedoch, daß von Entwicklungspolitikern vorrangig die Interessen der Region beachtet werden sollten.
Die Einschätzung der Situation im südlichen Afrika scheint mir überdies zu optimistisch. Noch herrscht in Angola ein grausamer Bürgerkrieg. Bisher haben in Südafrika keine freien Wahlen stattgefunden, und bisher ist auch noch keine von allen Südafrikanern gewählte demokratische Regierung installiert.
Die Integration Südafrikas in die Gemeinschaft der Staaten des südlichen Afrikas wird sich so selbstverständlich, wie im Antrag erwartet, nicht vollziehen. Denn natürlich wird Südafrika, dessen Wirtschaftskraft dreimal stärker ist als die aller anderen Länder des südlichen Afrikas, diesen Wirtschaftsraum dominieren. Ob gewollt oder ungewollt: Es wird eine südafrikanische Hegemonie geben, die zu Konflikten und Spannungen führen muß. Ob der soeben gebildete Gemeinsame Markt für das östliche und südliche Afrika ein Äquivalent sein kann, das gewichtig und stark genug ist, steht in den Sternen.
Für Deutschland jedenfalls ist Sensibilität und Zurückhaltung in Südafrika angeraten. Wichtiger als die schnelle wirtschaftliche Kooperation wird die konsequente Unterstützung des Demokratisierungsprozesses sein. Der vorliegende Antrag der Koalition wird dem aus unserer Sicht nicht gerecht.
Ich will an dieser Stelle die klare Haltung der Bundesregierung zur geplanten Ausweisung von Botschafter Karl Prinz aus Sierra Leone erwähnen und ausdrücklich würdigen. Es entspricht unseren außenpolitischen Vorstellungen, wenn sich ein deutscher Botschafter in Menschenrechtsfragen deutlich positioniert. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ermutigt die Bundesregierung, ihre klare Position gegenüber der Militärregierung in Freetown beizubehalten und auch künftig dort und anderswo gegen Menschenrechtsverletzungen zu protestieren.
({3})
Bleibt der Antrag der Koalition zu den Grundlagen der deutschen Politik gegenüber den Maghreb-Staaten. Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verkennt nicht die Bemühungen, die Beziehungen zwischen Deutschland und diesen Staaten neu und tragfähig zu gestalten. Dennoch finden sich Widersprüche in diesem Antrag. Einerseits werden Gemeinsamkeiten in Geschichte und Kultur beschworen. Andererseits aber werden die religiösen Überzeugungen abwertend als „rückwärtsgewandt" und „fundamentalistisch" beschrieben. Ich meine, eine solche Wertung steht uns nicht zu. Sie leistet auf subtile Art und Weise dem neuen Feindbild Islam Vorschub.
Fragwürdig ist der Antrag auch in seiner Forderung an die Maghreb-Staaten, die UN-Beschlüsse, die die Region betreffen, zu beachten und einzuhalten. Das wäre zweifellos nützlich. Aber solange sich die Bundesregierung selber in ihrer Marokko-Politik nicht von der UN-Resolution zur Westsahara beirren läßt, ist ein solcher Appell wenig glaubhaft und überzeugend.
Die Ergänzung in der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses schließlich, die fordert, den Export von Rüstungsgütern in die Krisenstaaten des Mittelmeerraumes zu vermindern - die Kollegin Fischer hatte schon darauf hingewiesen -, führt den ganzen Antrag ad absurdum. Das Ziel kann nur der vollständige Stopp aller Rüstungsexporte sein. So steht es auch im Antrag der SPD „Für eine neue Afrika-Politik"
Die vorliegenden Anträge zeigen bei allem Bemühen deutlich die Grenzen, die der deutschen Einflußnahme auf die Situation in Afrika gesetzt sind. Afrika muß sich vor allem selbst aus seinen Krisen helfen. Wir sind gefordert, wenn es darum geht, die notwendigen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu verändern und neu zu gestalten. Ohne eine gerechte Weltwirtschaftsordnung, durch die allen Ländern gleiche Chancen geboten werden, und ohne einen Verzicht auf Protektionismus und Subventionen der Industriestaaten wird es Afrika schwer haben. Ebenso wichtig ist es, gezielt und konsequent Projekte zu fördern, die zur Emanzipation der Bürgerinnen und Bürger in diesen Ländern beitragen. Alle Erfahrungen zeigen, daß hierbei die Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen und Bürgerbewegungen besonders sinnvoll ist.
Wir sollten versuchen, die vorliegenden Anträge so zu verändern, daß sie von allen Fraktionen und Gruppen mitgetragen werden können. Vielleicht gelingt uns ja eine Koalition der Entwicklungspolitiker, die es möglich macht, unsere Interessen gegenüber den Wirtschaftspolitikern und Haushältern durchzusetzen und dazu beizutragen, daß Afrika wirklich Zukunft hat. In diesem Sinne lasse ich mich gern als Lobbyist beschimpfen.
Konrad Weiß ({4})
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nunmehr der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Afrika erlebt einen tiefgreifenden Wandel, ist ein Kontinent im Um- und auch im Aufbruch. Das Ende des Ost-West-Konflikts war in zirka vierzig afrikanischen Staaten mit einer Bevölkerung von etwa 400 Millionen Menschen der Beginn politischer und wirtschaftlicher Reformen. Aber in wichtigen Staaten fiel dieser Neubeginn mit kulminierenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten zusammen. Vor allem ein extrem hohes Bevölkerungswachstum führte bei niedrigen, häufig negativen Wachstumsraten leider auch zu zunehmender Verarmung.
Afrika südlich der Sahara hat seit 1965 seine Bevölkerung verdoppelt. Im Jahre 2030 werden dort voraussichtlich 1,5 Milliarden Menschen leben, fast ein Fünftel der Weltbevölkerung.
Die afrikanischen Staaten haben als einzige Staatengruppe seit Beginn der 80er Jahre einen deutlichen Rückgang ihrer Pro-Kopf-Einkommen auszuhalten. Es beträgt heute nur noch 5 % des Durchschnitts in den Industrieländern. 1950 waren es immerhin noch 11 %. Die Schere öffnet sich scheinbar unaufhaltsam. Bewaffnete Konflikte haben zu dieser negativen Entwicklung beigetragen. Die kriegerischen Auseinandersetzungen in Somalia, Liberia, Äthiopien, Mosambik, Angola, im Tschad, im Sudan und jüngst in Burundi haben teilweise zur Auflösung staatlicher Ordnung geführt, vor allem aber überall unermeßliches Leid verursacht.
Das alles darf uns nicht unberührt lassen. Wer, wenn nicht wir, die Europäer, sollte sich um diesen Kontinent kümmern?
({0})
Afrika ist nun einmal unser Nachbarkontinent; es muß uns nahestehen. Aber nicht nur aus humanitären Gründen - das kam vorhin schon zum Ausdruck -, sondern eben auch aus wohlverstandenen eigenen Interessen müssen wir uns den Problemen dieses Kontinents stellen: dem Kreislauf von wirtschaftlichem Niedergang und Umweltzerstörung, den armuts- und kriegsbedingten Flüchtlingsbewegungen, dem gefährlichen Chaospotential in den Slums afrikanischer Großstädte, den Seuchen und auch den Naturkatastrophen.
Afrika braucht dringend unsere Hilfe, und zwar auf allen Ebenen.
({1})
Herr Köhler hat recht: Wir werden das nicht allein schaffen. Wir brauchen dabei Hilfe. Wir brauchen vor allem die Hilfe Europas. Die Botschafterkonferenz in Accra im Mai dieses Jahres - ich habe mich sehr
gefreut, daß Abgeordnete des Deutschen Bundestages aus mehreren Fraktionen teilgenommen haben - hat zehn Leitlinien erarbeitet und, wie ich finde, wichtige Orientierungspunkte für unsere Afrikapolitik gesetzt. Unsere Bemühungen werden um so erfolgreicher sein, je enger wir sie mit unseren westlichen Partnern abstimmen und je stärker es uns gelingt, zu den neuen afrikanischen Führungspersönlichkeiten auch ein Vertrauensverhältnis aufzubauen.
({2})
Wir müssen uns - das kam ebenfalls schon zum Ausdruck -, was Afrika anlangt, auch um mehr Augenmaß bemühen. Allzu häufig lassen wir uns nicht zuletzt durch die in den letzten Jahren stark gewachsene Tendenz zur ausschließlichen Katastrophenberichterstattung den Blick verstellen für die ermutigenden Entwicklungen der letzten vier bis fünf Jahre. Und die gibt es.
({3})
Afrika und die Afrikaner haben immer wieder ihre Kunst zum Überleben unter Beweis gestellt. Der neue Wind des Wandels belegt fast täglich die Fähigkeit zu oft schmerzlichen Umstellungen, aber eben auch zu kreativem Umdenken. Der modisch gewordene Afropessimismus scheint mir heute noch weniger berechtigt als in den 70er und 80er Jahren. Gerade wir Europäer sollten uns häufiger fragen, ob er nicht auf Fehleinschätzungen mangels genauer Kenntnis und auch mangels Einfühlungsvermögens auf Grund zivilisatorischen Hochmuts beruht.
({4})
Ich habe mich mit Afrika in meiner früheren beruflichen Tätigkeit sehr beschäftigt. Ich bleibe überzeugt, daß Afrika für die Zukunft der Weltgemeinschaft nach wie vor eine wichtige Rolle zukommt.
({5})
Es ist durchaus ermutigend, daß die Hungersnot auf Grund guter Ernten in einer Reihe von Ländern zurückgegangen ist. Wenn etwas anderes behauptet wird, ist dies falsch. Es gibt durchaus auch Hoffnungen, daß Afrika als Kontinent des Hungers noch in diesem Jahrzehnt mindestens die Chance hat, daß dies der Vergangenheit angehören könnte. Wir sollten uns darum bemühen, daß es so kommt, und hoffen, daß es so kommt.
Nötig ist natürlich eine verstärkte und gezielte Bevölkerungspolitik; das wissen wir alle.
In den Staaten, die sich im Zusammenwirken mit dem IWF und der Weltbank um Strukturanpassungen bemühen, hat es trotz der auch von uns sehr ernst genommenen Kritik beachtliche Erfolge gegeben. Das Bruttosozialprodukt ist in den Anpassungsländern von 1987 bis 1992 immerhin um 3,1 % gewachsen. In den fünf Jahren vor der Strukturanpassung waren es nur 1,9 %. Die Kritik an der Strukturanpassungspolitik übersieht leider ein wenig diese auch positiven Entwicklungen.
({6})
Wir wollen deshalb als Bundesregierung unsere Beteiligung an diesen Strukturanpassungsprogrammen verstärken. Das auf der letzten Jahrestagung von IWF und Weltbank erzielte Einvernehmen über den Schutz der ärmsten Bevölkerungsgruppen durch eine gezielte Unterstützung ist, wie wir meinen, der richtige Weg.
Beachtlich sind auch - das wurde ebenfalls schon erwähnt die Demokratisierungsfortschritte in Ländern Afrikas. Sie geben vielen Afrikanern neue Hoffnung auf eine bessere und menschenwürdigere Zukunft. Das gilt auch angesichts enttäuschender, ja, ich sage es deutlich, teils bedrückender Rückschläge, wie wir sie gerade in Burundi leider wieder erleben mußten.
Herr Köhler hat auch darauf hingewiesen, was ein Kommentator einer großen deutschen Tageszeitung kürzlich gefordert hat. Ich wiederhole es noch einmal: Geduld mit Afrika, mehr Geduld, bitte, mit Afrika. - Dem kann ich mich nur anschließen. Fordern wir nicht zu viel zu rasch, helfen wir vielmehr, das junge Pflänzchen Demokratie zu schützen und zu hegen.
Wir werden künftig unsere Zusammenarbeit noch klarer an politischen und wirtschaftlichen Kriterien orientieren. Das haben wir beschlossen, so haben wir das vorgesehen. Beteiligung der Bevölkerung am politischen Prozeß, Achtung fundamentaler Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, marktfreundliche Wirtschaftsordnungen, entwicklungsorientiertes staatliches Handeln, das sind die von AA und BMZ gemeinsam vertretenen Grundsätze, und wir möchten mit diesen Grundsätzen und mit dieser Politik ermutigen, zu Reformen ermutigen, jedoch nicht bevormunden. Wir wollen ermutigen, nicht bevormunden.
({7})
Afrika muß seine eigenen, auf einheimischen Traditionen fußenden Strukturen in der Demokratie finden.
({8})
Das Auswärtige Amt unterstützt, wie Sie wissen, mit Ihrer Hilfe durch einen eigens eingerichteten Fonds diese Politik. Die Mittel werden für die Organisation und Beobachtung von Wahlen verwendet, für die Förderung von Menschenrechtsorganisationen und die Beratung bei der Erarbeitung vor allem neuer Verfassungen. Da haben wir mit unserer Verfassung durchaus einiges zu bieten.
Deutschland wirkt dabei eng mit seinen Partnern in der Europäischen Union zusammen. Ich verweise auf das deutsch-französische Vorgehen bei der vorübergehenden Gefährdung der Demokratisierung in der Zentralafrikanischen Republik. Jetzt geht es zusammen mit Frankreich und den USA um eine ordnungsgemäße Vorbereitung der bevorstehenden Parlamentswahlen in Togo.
Noch in der vergangenen Woche hat der Beauftragte für Afrikapolitik in meinem Auftrag mit allen Beteiligten in Lomé und Paris dazu Gespräche geführt. Die enge Zusammenarbeit mit dem Präsidenten von Burkina Faso in dieser Frage eröffnet eine neue Dimension trilateraler politischer Zusammenarbeit.
Gerade für Afrika gilt: Ohne Achtung der Menschenrechte ist ein menschenwürdiges Leben eben nicht denkbar. Afrika hat sich mit der afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker von Banjul seine eigenen Standards gesetzt, an denen es sich auch messen lassen muß. Afrikanische Regierungsvertreter haben bei der Menschenrechtskonferenz in Wien die bemerkenswerte Akzeptanz der Universalität der Menschenrechte mitgetragen, eine Politik, für die wir uns ja ganz massiv einsetzen. Und auch in Afrika verliert das früher beharrlich vertretene Postulat der Nichteinmischung zunehmend an Bedeutung. Wir begrüßen diesen Umdenkungsprozeß bei den Menschenrechten.
Zu den Mindeststandards, die wir von unseren afrikanischen Partnern erwarten, gehört Rechtsstaatlichkeit. Rechtsstaatliches Handeln von Verwaltung und Justiz ist eine entscheidende Voraussetzung, vor allem eben für die wirtschaftliche Entwicklung.
Wir sehen in einer Reihe von afrikanischen Staaten mit großer Besorgnis, wie das Fehlen rechtsstaatlicher Strukturen die dringend gebrauchten in- und ausländischen Investitionen hindert. Entwicklungsanstrengungen sind zum Scheitern verurteilt, wenn dort Privatinvestitionen unterbleiben.
({9})
Und auch für Afrika gilt der Grundsatz: Trade ist wirkungsvoller als Aid. Deshalb ist der termingerechte Abschluß der GATT-Verhandlungen vor Jahresende, zum 15. Dezember, gerade auch für den leidenden Kontinent Afrika von ganz besonderer Bedeutung. Er hätte die Chance, dort zu helfen.
({10})
Eine weitere Bedrohung für die wirtschaftliche Entwicklung, die so außerordentlich wichtig ist, sind die zahlreichen internen Konflikte in afrikanischen Ländern. Sie erfordern bessere Mechanismen der Konfliktbeilegung und der Vertrauensbildung, auch unter Einschluß der internationalen Staatengemeinschaft. Deutschland ist bereit und will an diesen Bemühungen, soweit wir es nur irgendwie können, mitwirken. Beispiele sind die Entsendung deutscher Soldaten im Rahmen von UNOSOM nach Somalia, unsere Mitgliedschaft in der Zentralen Kontrollkommission für das Friedensabkommen von Mosambik, in Äthiopien und Ruanda die Mitgliedschaft deutscher Missionschefs in Gremien, die sich um eine Aussöhnung zwischen Regierung und Opposition bemühen.
Vor allem aber wird es ohne den Abbau von Waffenarsenalen, ohne die Reduzierung überdimensionaler Armeen und die Räumung von Minen keinen wirklichen Frieden in Afrika geben.
({11})
Die Verfügbarkeit entsprechender Haushaltsmittel vorausgesetzt, wollen wir uns hier künftig stärker engagieren. Ich habe ja vor den Vereinten Nationen den Vorschlag gemacht, einen Fonds zur MinenräuBundesminister Dr. Klaus Kinkel
mung einzurichten und bin damit auf sehr viel Zustimmung gestoßen. Ich hoffe, daß wir als Bundesrepublik Deutschland auch unseren finanziellen Beitrag dafür leisten können.
({12})
Meine Damen und Herren, unsere besondere Aufmerksamkeit gilt der Entwicklung in Südafrika. Erfolg oder Mißerfolg des dortigen Reformprozesses wird zwangsläufig auf den gesamten Kontinent ausstrahlen. Wir müssen alles, aber auch alles tun, um den friedlichen Wandel dort zu fördern.
({13})
Ich freue mich deshalb sehr, daß die Unterstützung Südafrikas auf dem vergangenen Gipfel der Europäer in Brüssel zu einer der ersten gemeinsamen Aktionen erklärt worden ist. Auf Grund meiner Erfahrungen und auf Grund von Gesprächen bei der UNO-Woche in New York kann ich nur sagen: Nach dem Wegfall der Ost-West-Auseinandersetzung ist in bezug auf die Regionalkonflikte weltweit besondere Genugtuung darüber empfunden worden, daß sich neben dem ersten wichtigen Schritt in Nahost nun in Südafrika mit den Wahlen am 27. April des nächsten Jahres eine positive Entwicklung anzubahnen scheint. Das müssen wir unterstützen.
({14})
Sichtbares Zeichen dieser Politik sind die europäische Beobachtermission zur Eindämmung der politischen Gewalt, die unter deutscher Leitung steht, und unsere Mitwirkung an der vom Europäischen Rat beschlossenen gemeinsamen Unterstützung des demokratischen Übergangs. Es geht darum, die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Apartheid möglichst schnell zu überwinden.
Es gibt ein umfangreiches Ausbildungsprogramm für künftige Führungskader, nicht zuletzt mit Hilfe der politischen Stiftungen, die dort überhaupt wichtige Arbeit leisten und weiter leisten können.
Mein Vorschlag einer Konferenz der europäischen Außenminister und ihrer Kollegen aus dem südlichen Afrika für die Zeit nach den ersten freien Wahlen hat eine sehr, sehr große Resonanz gefunden. Ich freue mich darüber. Eine enge und besonders intensive Zusammenarbeit zwischen Europa und den Ländern der SADCC-Zone unter Einbeziehung des neuen Südafrikas sollte unser gemeinsames Ziel sein. Ich fand sehr interessant, Herr Köhler, was Sie zu diesen Fragen gesagt haben.
Meine Damen und Herren, wir werden Afrika mit seinen Wirtschaftsproblemen und Entwicklungsanstrengungen nicht allein lassen. Dabei sind wir auf die Bereitschaft der Afrikaner und ihrer politischen Führer zu Eigenverantwortung und Eigenanstrengungen angewiesen. Auch und gerade für Afrika gilt: Alles, was wir an Hilfe leisten können und wollen, kann nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. Wir wollen mit Afrika einen partnerschaftlichen, aber auch offenen und durchaus kritischen Dialog führen.
Die Bundesregierung rechnet dabei auf die weitere Unterstützung des Deutschen Bundestages. Die heutige Debatte zeigt, genauso wie kürzlich die erfreulich rasche Reaktion auf die tragischen Ereignisse in Burundi, unser gemeinsames Interesse an diesem uns historisch und geographisch so eng verbundenen Teil der Dritten Welt.
Ich will zum Schluß sagen: Ich bin, was die Afrikapolitik anbelangt, ganz besonders dankbar, daß wir hier so sehe ich es einen weitgehenden Konsens haben und daß der Bundestag die schwierigen Bemühungen der Bundesregierung unterstützt, diesem Kontinent zu helfen, der lange zu sterben schien, einem Kontinent, in dem immer noch das Bruttosozialprodukt der 40 Länder südlich der Sahara dem Bruttosozialprodukt Belgiens entspricht. Ich bin dankbar, daß der Bundestag die Bundesregierung bei diesen schwierigen Bemühungen so stark unterstützt.
Vielen Dank.
({15})
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Christian Schmidt ({0}) das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ist Afrika der Kontinent der Zukunft oder der Kontinent der Vergangenheit? Nicht nur die drei zurückliegenden entwicklungspolitischen Dekaden, sondern auch manche heute bereits mehrfach zitierte Hoffnung im Hinblick auf Demokratisierung - wie zuletzt in Burundi - machen es schwer, an die Zukunft Afrikas zu glauben. Aber schließen diese Enttäuschungen die Zukunft Afrikas wirklich aus? Können wir nicht mit dem Blick auf Teile Europas eigentlich dieselbe pessimistische Haltung für unseren Kontinent einnehmen?
Der Herr Außenminister hat vom Hochmut gesprochen, den wir nicht haben sollten. Ich meine, es gehört auch dazu, daß wir gestehen, daß es selbst in diesem zivilisierten Europa leider ebenso unappetitliche Kriege, gewalttätige Ausschreitungen und Menschenrechtsverletzungen gibt,
({0})
wie sie gerade in vielen Ländern Afrikas stattfinden. Jedenfalls rückt die heutige Debatte um die außenpolitische Initiative der Bundesregierung, die einen markanten Punkt in der Botschafterkonferenz in Accra erhalten hat, Afrika Gott sei Dank wieder mehr ins Blickfeld. Wobei ich mir hinzuzufügen erlaube, daß der Blick auf die Pressetribüne zeigt, daß durchaus noch etwas gesteigerte Aufmerksamkeit auch von den Medien für diesen Kontinent vonnöten wäre.
({1})
Ich lade die Medien ein, sich der Afrikainitiative der
Bundesregierung insoweit anzuschließen, daß sie sich
Christian Schmidt ({2})
mit diesem Kontinent mehr als nur schlaglichtartig mit einigen wenigen Krisenherden beschäftigen.
({3})
Je mehr die Außenpolitik europäisch verflochten wird, je mehr durch gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und durch multilaterale Entwicklungspolitik die Verantwortungsgemeinschaft Europas wächst, desto weniger können wir Deutschen es uns leisten, an Afrika vorbeizusehen.
Nach dem Ende der bipolaren Welt sind die Konditionen der Konfliktbewältigung in Afrika andere geworden. Am deutlichsten wird dies am Beispiel Südafrika.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit und an dieser Stelle gern den Botschafter der Republik Südafrika, Herrn Golden, begrüßen und ihm für meine Fraktion und sicherlich im Sinne auch des gesamten Bundestages sagen, daß wir Südafrika in der jetzigen Phase nicht allein lassen wollen und nicht allein lassen werden.
({4})
Südafrika mit seinen besonderen Problemen, aber auch seinen riesigen wirtschaftlichen Chancen kann so etwas wie ein Eckpfeiler eines demokratischen und menschlichen Afrika werden. Friedlicher Wandel ist möglich.
Namibia, mit dem wir Deutschen nach wie vor enge Beziehungen und ein Stück gemeinsame Geschichte haben, hat den friedlichen Wandel vorgemacht. Simbabwe hat trotz der gegenwärtigen Schwierigkeiten mit einer im Vergleich zu anderen besonnenen Politik des Übergangs sich eine respektable Basis für die Zukunft geschaffen.
Ich stimme mit allen überein, die dringend davor warnen, jetzt den Blickwinkel, auch den Blickwinkel der Öffentlichkeit, von Südafrika wegzunehmen. Die Weltgemeinschaft darf Südafrika in der gegenwärtigen kritischen Phase des Übergangs nicht im Stich lassen. Dies reicht von der politischen Flankierung des Entwicklungsprozesses zur Demokratie durch Wahlbeobachter bis hin zu einem intensiven Dialog mit den tragenden Parteien und beinhaltet den Versuch, mögliche Störpotentiale im politischen Bereich soweit wie möglich in den Dialog einzubeziehen - ich meine damit alle Seiten und nicht auszugrenzen, und auch die Notwendigkeit einer wirtschaftlich engagierten Begleitung des Umstrukturierungsprozesses.
Nach der längst fälligen Aufhebung des Handelsembargos muß der Prozeß der Wahlen und einer anschließenden Regierungsübernahme oder Regierungsbeteiligung des ANC als ein ich habe kein besseres deutsches Wort gefunden - window of opportunity, als ein Augenblick der Gelegenheit, also als eine entscheidende Phase für die zukünftige Entwicklung, angesehen werden. Das heißt, daß in dieser Phase der Grundstein für eine wirtschaftlich positive Entwicklung und staatliche Stabilität gelegt werden muß. Dazu gehört im übrigen auch die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit Südafrika. Ich bin sehr erfreut, daß das BMZ im Rahmen der sich entwickelnden Zusammenarbeit die baldige Aufnahme der Aktivitäten beispielsweise der DEG, aber auch anderer Institutionen in Südafrika vorantreibt.
({5})
Es muß vielen, wenn nicht allen Bürgern in Südafrika mit Händen zu greifen sein, daß die neue Situation ihr Leben verbessert. Wenn uns das nicht gelingt, steht Südafrika in der Gefahr, kein Land außenpolitischer Normalität, innenpolitischer Stabilität und innerer Solidarität zu werden, sondern nach wie vor ein problematisches Land mit unterschiedlichen Interessenlagen, die bis zu Gewalttätigkeiten führen, zu bleiben. Dies wird schwer genug sein. Wir in Europa haben ein nachhaltiges Interesse an der Stabilität in diesem Land und müssen uns deswegen engagieren.
Leider ist Südafrika noch nicht soweit, eine neue wichtige Rolle auch in der zukünftigen Regionalstruktur des südlichen Afrika zu spielen. Die vom Außenminister angesprochene Initiative zur Konferenz der EG-Außenminister und der des südlichen Afrika ist sicher ein sehr wichtiger Markstein. Vielleicht bietet die Entwicklung in Südafrika dann auch eine Chance, etwa den Konflikt in Angola wieder in friedliche Bahnen zu lenken und letztendlich weitere Gewalt zu verhindern.
({6})
Bei Angola bin ich sehr skeptisch, was den möglichen Erfolg von Verhandlungen von UNITA und MPLA betrifft. Das Ausmaß an Brutalität, das in Angola zum Ausdruck kommt, läßt die Suche nach den auslösenden Faktoren dieses Konflikts fast verblassen.
({7})
Festzuhalten bleibt, daß das Engagement der Vereinten Nationen in guter Absicht geschah. Manche Verhaltensweisen nach der Wahl haben aber auch die Vereinten Nationen hinters Licht geführt. Eine regionale Initiative der Anrainerstaaten wäre wichtig und sinnvoll. Diese Staaten müßten eigentlich das größte Interesse an einer Friedenslösung haben. Eine Initiative der OAU oder auch der SADC wäre dringend notwendig. Damit könnten diese regionalen Organisationen auch Respektabilität gewinnen und der notwendigen Regionalisierung der Konfliktlösung auch in anderen Fällen Afrikas Vorschub leisten. Ich unterstreiche, daß sowohl Herr dos Santos als auch Herr Savimbi wissen müssen, daß Gewalt keine Verbündeten schafft, nie geschaffen hat und auch nicht toleriert werden kann.
Wenn es stimmt, wie Generalsekretär Boutros Ghali uns im Februar dieses Jahres hier in Bonn vorgerechnet hat, daß es mehr als 20 Konflikte in Afrika gibt, die akut oder potentiell eine Intervention der internationalen Gemeinschaft erfordern könnten, so wird die Lösung von westlichen Industrienationen allein nicht zu tragen sein. Dies heißt, daß wir, die Europäer und auch die Amerikaner, zwar hilfreich zur Seite stehen sollten, aber aus vielerlei Überlegungen heraus die afrikanischen Regionalorganisationen ermuntert werChristian Schmidt ({8})
den müssen, ihrer Verantwortung für den Kontinent selbst Rechnung zu tragen.
({9})
- Ich weiß, daß dies leichter gesagt als getan ist. Auch wir in Europa verfügen bisher nicht über eine funktions- und sanktionsfähige Sicherheitsorganisation, die zu wirkungsvollem Eingreifen bei uns in der Lage wäre. Ich brauche nur das Stichwort Bosnien zu nennen.
({10})
Trotz aller Unvollständigkeit bleibt uns nur, Afrika den Weg einer unterstützten Selbsthilfe zu empfehlen. Die politische Isolation von Diktatoren geschieht am wirkungsvollsten mit einer Ausgrenzung durch seine Nachbarschaft. Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß in dieser Frage wir Europäer auch selbst in der Pflicht bleiben. Herr Mobutu, der sich, was immer er auch gewesen sein mag, zum Blutsauger entwickelt hat und hinter Gitter, aber nicht auf die Konferenz der frankophonen Länder gehört, ist solch ein Diktator, der mit vereinten Kräften isoliert werden muß.
({11})
Wichtig dabei bleibt, daß wir unsere Einflußmöglichkeiten konsequent anwenden. Dies hat der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit für seinen Bereich und seine Politik der Konditionierung der Entwicklungshilfe bereits deutlich gemacht. In der Außenpolitik sind die Prinzipien, wie sie auf der Botschafterkonferenz in Accra verabschiedet worden sind, richtig; sie finden sich auch in unserem Antrag wieder.
Es gibt eine Reihe von Konflikten, wie z. B. den im Sudan oder den von der Welt fokussierten in Somalia, die die Stabilität der sie umschließenden Region ernsthaft bedrohen. Dabei stoßen wir auf Fallkonstellationen, in denen die staatliche Gewalt de facto nicht mehr existent ist, sondern sich in Warlords aufgelöst hat. Hier bedarf es auch und gerade nach der kriegerischen Beendigung der Konflikte der Bereitschaft zur aktiven Förderung der demokratischen Entwicklung.
Deutsche, in den europäischen Verbund eingebettete Außenpolitik gegenüber Afrika kann nicht mehr so aussehen, wie sie sich leider über lange Jahre gezeigt oder eben in Afrika nicht gezeigt hat.
({12})
Lange Jahre war Deutschland beispielsweise in unakzeptabler Weise in Namibia weggetaucht. Lange Jahre ging man jedem Konflikt aus dem Weg.
({13})
Wo steht eigentlich geschrieben, daß Deutschland nicht eine aktive Rolle in der Lösung mancher Konflikte in Afrika einnehmen sollte?
Die koloniale Vergangenheit Deutschlands, die länger zurückliegt als die der anderen Staaten, hat die deutsche Politik viel weniger geprägt, als wir das von unseren europäischen Nachbarn kennen. Darin liegt auch eine Chance. Darin liegt die Chance eines unbefangenen Zugangs zu den Staaten Afrikas.
Die Bundesregierung sollte diese Chance nutzen. Wir werden die Bundesregierung in diesem Ansinnen unterstützen, damit Afrika eine Chance für die Zukunft behält, so wie wir das für unseren Kontinent Europa ja auch wünschen und fordern.
({14})
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Christoph Zöpel das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! In diese generelle Afrika-Debatte einbezogen ist die abschließende Behandlung des Antrags der Koalitionsfraktionen zu den Grundlagen deutscher Politik gegenüber den südlichen und östlichen Mittelmeeranrainern. Das kann man unstreitig so machen. Bei den Maghrebstaaten, die ja in diesem Antrag besonders angesprochen sind, entspricht das auch ihrer außenpolitischen Kategorienbildung.
Wenn wir uns von einem tunesischen Außenpolitiker erläutern lassen, was die Kategorien tunesischer Außenpolitik sind, dann spricht er davon, daß sich ein tunesischer Außenpolitiker vier Hüte - quatre chapeaux - aufsetze, den maghrebinischen, den arabischen, den afrikanischen und den mediterranen.
Da es ja vielleicht in den internationalen Zusammenhängen Sinn macht, auch hin und wieder in den Kategorien unserer Partner zu denken, benutze ich diese vier Hüte tunesischer Außenpolitik nun zumindest als Gliederung meiner Bemerkungen, die ich hier machen möchte.
({0})
- Herr Kollege Lamers, das war ja ein Kompliment an die Tunesier. Sie denken komplizierter als wir.
({1})
- Herr Kollege Lamers, nach der liebenswürdigen Zwischenbemerkung sage ich doch: Man soll nicht von sich auf andere schließen.
({2})
Zurück zu den Hüten. Uns liegt der mediterrane am nächsten. Wenn wir den sehen, können wir uns erinnern an die Debatte über die Ergebnisse des Friedensprozesses im Nahen Osten vor einigen Wochen. Hier liegen, wenn der Prozeß gut weitergeht, was wir alle hoffen und woran wir mitwirken, Möglichkeiten, unsere Beziehungen zu den südlichen Anrainern des Mittelmeerraumes - mit „unsere" meine ich die europäischen - noch etwas zu ändern und zu verbessern.
Es bieten sich vor allem deshalb Chancen - das sage ich jetzt, und ich glaube, es wird nicht mißverstanden -, weil unsere Politik gegenüber den arabischen Ländern dieser Region dann, wenn Israel in sicheren Grenzen liegt, nicht mehr so beeinflußt und - wie ich deutlich sage - belastet wird durch die Rücksichtnahme auf Israel, solange es in ungesicherten Grenzen lebte.
({3})
Wenn das so ist, kann sich der europäisch-arabische Dialog intensivieren. Das ist mein erster Gesichtspunkt. Intensivieren würde für mich - nach dem, was ich gehört habe, Herr Außenminister; da kann man sich immer noch irren; man sollte lange warten, bis man selber glaubt, ein Experte zu sein; insoweit gebe ich Ihnen recht, Herr Lamers - bedeuten, daß der institutionelle Dialog zwischen den arabischen und den europäischen Ländern etwas regelmäßiger betrieben würde.
Die Außenministerkonferenzen, die Symbolcharakter haben - dafür hätte ich Verständnis - und nicht den internationalen Konferenzmechanismus noch unnötig anreichern sollen, könnten regelmäßiger sein. Das beklagen jedenfalls arabische Nachbarländer.
Ich glaube, Institutionen zu verfestigen, sich regelmäßiger auf der obersten Ebene und auf den unteren Ebenen der Außenministerien zwischen Arabern und Europäern zu treffen, wird dann einfacher sein. Es wird auch seltener Gelegenheiten geben, das einmal ausfallen zu lassen, weil gerade Israel mit eine Rolle spielt und man darauf Rücksicht nehmen muß.
({4})
- Die Parlamentarier beziehe ich immer mit ein. Ich sehe nur einen Unterschied zwischen Regierung und Parlamentariern darin, daß die Parlamentarier, wenn sie Mut haben, einen Vorteil haben: Sie können auch einmal politische Kontakte aufnehmen oder fortführen, wenn das gerade nicht in die aufgeregte Weltlage paßt. Bei Regierungen ist das schwieriger. Das ist gerade gegenüber arabischen Staaten, glaube ich, auch funktionell sehr wichtig.
Zweiter Gesichtspunkt. Es ist jetzt, glaube ich, möglich, in der Außenpolitik deutlicher zu artikulieren, daß es eine unterschiedliche Betroffenheit Europas und der Vereinigten Staaten gegenüber der arabischen Welt gibt, eine unterschiedliche Betroffenheit, die durch ein unveränderbares geopolitisches Faktum, nämlich die geographische Nähe, bedingt ist. Das ist sehr deutlich. Ohne das in den wenigen Minuten, die sinnvollerweise hier zur Verfügung stehen, auszuwalzen: Mindestens bei einem Punkt, bei der Politik gegenüber Libyen, glaube ich, ist die Frage nicht unberechtigt, ob die guten Argumente, die durchaus für das Embargo sprechen, nicht im Augenblick wieder dazu führen, daß wir einen Gefahrenherd verschärfen, in den sich der libysche Staatschef hineingetrieben fühlt. Das ist mein Eindruck, und die Frage, was man durch eine solche Politik auch erreichen kann, ist erlaubt. Wenn hier etwas passiert, ist immer der südliche und der nördliche Mittelmeerraum eher involviert als die Vereinigten Staaten, die immerhin den Atlantik dazwischen haben, wenn vor allem in Richtung Terrorismus etwas gemacht wird.
Dritter Gesichtspunkt ist die Rüstungspolitik. Ich finde es schön, wenn in einer Debatte im Plenum - so war es ja zu dem Antrag, über den ich jetzt spreche - Argumente ausgetauscht werden können, die dann im Ausschuß zu einer Verbesserung eines Antrags führen. Damit meine ich die Aufnahme des Punktes, daß wir den Rüstungsexport in diese Länder vermindern wollen. Ich finde es sehr schön, daß es darüber Konsens gibt.
({5})
Dies erlaubt der SPD, dem Antrag der Koalitionsfraktionen in diesem Punkte zuzustimmen. Praktisch bleiben natürlich Probleme bestehen. Wenn wir in diesen Tagen lesen, was vom Vorstand der DASA hinsichtlich der deutschen Rüstungsexportpolitik und im Zusammenhang mit den Arbeitsplätzen gesagt wird - das aufzuzeigen ist nicht unmoralisch und nicht verboten -, dann könnte es vielleicht doch notwendig sein, auf den dafür möglichen Ebenen die Überlegungen zu intensivieren, wie es sich denn tatsächlich auch in den nördlichen Anrainerstaaten des Mittelmeerraumes managen läßt, Rüstung durch Wirtschaftshilfe zu ersetzen in praktischen Maßnahmen. Da beginnt ja die Schwierigkeit, nicht auf der Ebene des Austauschs von moralischen Argumenten.
Letzter Punkt: die Menschenrechtspolitik. Niemand, der den moralischen Prinzipien der Aufklärung verpflichtet ist, wird etwas dagegen sagen, daß europäische Außenpolitik an den Menschenrechten der Aufklärung zu orientieren ist. Das Problem ist die Praxis. Für mich wird die Praxis zu einem Problem, wenn wir in der Entwicklungspolitik gegebenenfalls ökonomisch strafen, d. h. einem Land, das den europäischen Ansprüchen der Menschenrechtspolitik nicht entspricht, Entwicklungshilfe nicht in dem Maße geben wie sonst - ich formuliere das ganz vorsichtig -, hingegen kaum oder selten bereit sind, wegen Menschenrechtsverletzungen auch einmal ökonomische Nachteile in Kauf zu nehmen.
({6})
Damit sind wir bei dem Punkt unserer Wirtschaftspolitik gegenüber dem Iran, um in der islamischen Welt zu bleiben; China kann man auch erwähnen. Ich habe ein Erlebnis gehabt, das die ganze Schwierigkeit wirtschaftlicher Zusammenarbeit, wenn sie nicht vom Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, sondern vom Bundeswirtschaftsminister in diesem Raum vertreten wird, deutlich macht. Zu Beginn dieser Legislaturperiode - damit steht fest, wer damals Wirtschaftsminister war - traf man in Teheran auf Repräsentanten deutscher Unternehmen, die einem SPDAbgeordneten sagten, der Bundeswirtschaftsminister hätte in Teheran aber deutlicher Menschenrechtspositionen einklagen können. Daran zeigt sich die Schwierigkeit der Praxis, die alle europäischen Regierungen haben, ob sie nun überwiegend vom konserDr. Christoph Zöpel
vativen oder überwiegend vom sozialdemokratischen Lager geführt werden. Das füge ich ausdrücklich hinzu, damit das nicht falsch verstanden wird. Da liegt die Problematik der Umsetzung der Menschenrechte. Ist Europa bereit, auch einmal einen wirtschaftlichen Nachteil hinzunehmen, um Menschenrechte durchzusetzen, und nicht die einfachen Fälle der möglichen ökonomischen Bestrafung allein zu erwähnen?
Zweiter Punkt: der maghrebinische Raum. Es macht Sinn, sich die Länder in dieser Region anzuschauen, zu verfolgen, was dort passiert, und zu fragen: Wo kann man die Politik ändern?
Ich glaube, im Augenblick macht es allen Sinn, die Länder, denen ein vorsichtiges Abwägen zwischen funktionsfähigem Staat - das ist nämlich das erste und Wichtigere - und Hinwendung zu Pluralismus und mehr Demokratie gelingt, als Partner im Mittelmeerraum zu erhalten. Das heißt für mich eine deutliche Unterstützung vor allem für Tunesien und Marokko.
Ich halte diesen Prozeß, den sie versuchen, nämlich den Staat funktionsfähig zu erhalten und dann Schritte hin zur Demokratie zu gehen, angesichts der Lage dort im Vergleich zu Algerien, dem dritten Land, für richtig.
({7})
In Algerien kann man im Augenblick wohl nur hoffen, daß in einem ganz schwierigen Prozeß, in dieser komplizierten Lage das Regime, das überwiegend selbst daran schuld ist, was ihm passiert, dennoch nicht weiter destabilisiert wird. Man muß ungefähr wissen, was noch kommt, und sollte auch beobachten, ob sie miteinander reden und dabei Dritte, z. B. die politisch relativ starken Berber, berücksichtigen. Mehr kann man wohl nicht tun und sonst nur viel hoffen.
Ich wiederhole deutlich, weil das innenpolitisch kontrovers sein kann: Wir müssen im Augenblick dort die Staaten unterstützen, die Schwierigkeiten haben, ein stabiler Staat zu sein, und versuchen, sanfte Schritte zu mehr Pluralismus zu gehen.
Damit ist fast der arabische Raum angesprochen, der ein islamischer ist. Wir haben in der ersten Debatte ausführlich diskutiert, wie wir uns gegenüber dem Islam verhalten. Ich finde es schön, daß der Hinweis auf europäischen Hochmut nicht mehr nötig ist. Es ist eigentlich alles breit diskutiert; ich will daran erinnern.
Ich komme zu dem afrikanischen Hut: Wenn der Dialog zwischen den arabischen und europäischen Staaten offener wird und mehr Facetten bekommt, dann ist es allerdings auch eine internationale Verpflichtung, über das Verhältnis der arabischen Staaten zu ihren südlichen afrikanischen Nachbarn zu sprechen. Das ist berechtigt und notwendig.
Da verbindet sich etwas, was ich bei dem dritten Gedanken, Verzicht auf Hochmut und damit Verzicht auf missionarisches bevormundendes Gehabe, gesagt habe.
({8})
Denn wenn wir uns selber in der Praxis dazu durchringen könnten, als Europäer auf vorgabenmachendes missionarisches Gehabe zu verzichten, dann bekommen wir so etwas wie eine internationale Rechtfertigung, Arabern zu sagen, sie mögen dieses unter muslimischen Vorzeichen nicht gegenüber ihren nichtmuslimischen südlichen Nachbarn tun; auch sie mögen das lassen.
({9})
Damit haben wir sofort eine Reihe von Konflikten angesprochen, auch den in Marokko gegenüber der Polisario, die Konflikte im Sudan gegenüber den nichtmohamedanischen schwarzen Bevölkerungsstämmen in diesem Teil des Landes, die Konflikte gegenüber den Tuaregs in mehreren Staaten des Sahararaums.
Herr Abgeordneter, Sie befleißigen sich dankenswerterweise geschäftsordnungsmäßig der freien Rede.
({0})
Das erlaubt es mir auch, etwas großzügiger zu sein.
Aber ich bin nichtsdestotrotz verpflichtet, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Ihre Redezeit überschritten ist. Da Sie sich der freien Rede befleißigen, wird es Ihnen auch nicht allzu schwerfallen, bald zum Schluß zu kommen.
Herr Präsident, ich bedanke mich für die liebenswürdige Form, mit der Sie mich auf diesen Tatbestand aufmerksam gemacht haben. Ich war beim vierten Hut; das war der letzte.
Deshalb sage ich: Dieser Aspekt - er mag weitere Debattenbeiträge mit bestimmen - gehört in den internationalen Dialog. Die internationale Staatengemeinschaft, einbezogen Araber und Europäer, ist darauf hinzuweisen: Weder europäisches Missionarstum des Christentums oder der Aufklärung noch muslimisches Missionarstum sind für diese Welt, wenn sie, in welcher Form auch immer, zu Gewalttätigkeiten neigen, erträglich.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich erteile nunmehr dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Carl-Dieter Spranger, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die bisherige Debatte hat eine Fülle übereinstimmender Argumente für die Behauptung gebracht, daß Afrika uns nicht nur geographisch nahe liegt. Der Kollege Zöpel hat, meine ich, zu Recht auch auf die große Bedeutung und die Verbindungen insbesondere Deutschlands zu den Süd- und Ostregionen des Mittelmeerraumes im Politischen, im Wirtschaftlichen und im Kulturellen hingewiesen. Herr Kollege Zöpel, ich stimme Ihnen
zu, daß wir die Erschütterungen in dieser Region auch unmittelbar in Europa spüren und spüren werden.
Deswegen ist es unser Ziel gewesen - und wird es auch weiterhin sein -, das gegenwärtige Entwicklungsgefälle zwischen den nördlichen und südlichen Anrainern des Mittelmeers zu vermindern, damit Konflikte an der Nahtstelle zwischen den Industrieländern in der EG und den Entwicklungsländern, vor allem der islamischen Welt, vermieden werden.
Der dauerhafte Frieden in dieser Region, der für unsere eigene Sicherheit von grundsätzlicher Bedeutung ist, kann aber nur erreicht werden, wenn es uns gelingt, die ungeheuren gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Probleme, denen sich die islamische Welt gegenwärtig gegenübersieht, mit zu lösen.
Die Bundesregierung hat deswegen immer besonderen Wert auf eine enge entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit den Ländern des Maghreb und des Maschrik gelegt. Allein im vergangenen Jahr, 1992, entfiel etwa ein Fünftel aller bilateralen Regierungszusagen an Entwicklungsländer auf Empfänger in dieser Region; das waren rund 790 Millionen DM. Wir beteiligen uns darüber hinaus mit 28,6 % an den Finanzprotokollen, die die EG-Kommission im Rahmen der erneuerten Mittelmeerpolitik mit den Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens abschließt.
Mit dem historischen Durchbruch in den Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern am 13. September sind die Chancen für eine friedliche und erfolgreiche Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Menschen und eine länderübergreifende Zusammenarbeit in der Region erheblich gestiegen.
Die Bundesregierung begrüßt diese Entwicklung ausdrücklich und hat sich zusammen mit den Partnern in der Europäischen Union bereit erklärt, den Friedensprozeß im Nahen Osten außenpolitisch zu begleiten und entwicklungspolitisch im Rahmen unserer Möglichkeiten zu unterstützen.
Die Initiative der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. unterstützt die Politik der Bundesregierung in dieser Region. Das Konzept der deutschen Entwicklungszusammenarbeit für die Länder des südlichen und östlichen Mittelmeerraums, das ich im Juni der Öffentlichkeit vorgestellt habe, erfaßt die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Region: die Verminderung des immer noch explosiven Bevölkerungswachstums, das eine Ursache der erschrekkend hohen Jugendarbeitslosigkeit ist - insbesondere auch in Algerien - und damit sowohl mit der Auswanderung nach Europa als auch mit dem Zulauf zu radikalen islamischen Gruppen in Verbindung steht, die Bekämpfung der Umweltschäden, des Wasserdefizits und der fortschreitenden Desertifikation.
Über einzelne Programme und Projekte hinaus kommt es aber vor allem darauf an, die Selbsthilfekräfte in der Region und die politische Gestaltungsfähigkeit zu stärken. Deswegen konzentrieren wir uns zusätzlich besonders auf die Förderung privatwirtschaftlicher Initiative sowie auf die Berufsausbildung und helfen, durch gesellschaftspolitische Projekte - ich anerkenne auch hier sehr die Leistungen und die Arbeit aller Stiftungen - eine tragfähige Grundlage für die Demokratisierung und eine Verbesserung der Menschenrechtslage in unseren Partnerländern zu schaffen.
Nachhaltige Entwicklungserfolge - das heißt auch: verbesserte Friedenschancen für die Region und mehr Sicherheit für Europa - sind letztlich nur zu erreichen, wenn es gelingt, entwicklungsfördernde Rahmenbedingungen in Politik, Verwaltung und Gesellschaft herzustellen und einer intensiveren regionalen Zusammenarbeit den Weg zu ebnen.
Ich begrüße daher ausdrücklich die in dem Antrag der Koalitionsfraktionen enthaltene Aufforderung zu einem intensiveren Meinungsaustausch mit den Partnerregierungen. Dazu gehört auch, daß wir alles in unseren Kräften Stehende tun, um Ansätze zur regionalen Zusammenarbeit und Integration zu unterstützen, wo immer und wann immer das möglich ist. Dies gilt für Sub-Sahara-Afrika nicht weniger als für die Mittelmeerregion. Der Beschlußantrag zur Förderung der regionalen Kooperation im südlichen Afrika stimmt mit den erklärten Zielen der Bundesregierung überein. Die darin genannten regionalen Integrationsvorhaben werden von uns seit langem unterstützt.
Ich habe bei meinen Gesprächen in Afrika - zuletzt Ende August in der Republik Südafrika, in Botsuana und in Namibia - erneut auf die Bedeutung der regionalen Zusammenarbeit als Beitrag zu wirtschaftlicher Stabilität und Entwicklung, aber auch als Instrument zur kollektiven Sicherung des Friedens hingewiesen. Auch aus diesem Grund haben wir uns ausdrücklich für die Aufnahme der Republik Südafrika in die Entwicklungskonferenz des südlichen Afrika ausgesprochen.
Angesichts der Tatsache, daß das Pro-Kopf-Einkommen der Republik doppelt so hoch ist wie das der SADC-Staaten und ihr Bruttosozialprodukt 75 % dessen der gesamten Region ausmacht, kann ein solcher Integrationsprozeß allerdings nur langsam und mit der gebotenen Vorsicht erfolgen.
In unserem Konzept für die Entwicklungszusammenarbeit mit Sub-Sahara-Afrika vom August vergangenen Jahres haben wir deutlich gemacht, daß die Zukunft der Länder südlich der Sahara davon abhängt, ob es gelingt, ihr eigenes Entwicklungspotential zu entfalten. Eine verbesserte regionale Zusammenarbeit wäre ein ganz wichtiger Schritt in diese Richtung.
Meine Damen und Herren, aber nicht nur zwischen den Staaten Afrikas muß ein neues Klima der Zusammenarbeit herrschen - es kommt vor allem auch darauf an, in den Ländern die internen Ursachen für Entwicklungsrückstände zu beseitigen. Ich freue mich, Herr Kollege Schuster, daß sich der entsprechende Antrag der SPD insofern der Konzeption des BMZ vom August 1992 anschließt.
({0})
Diese Konzeption hat nicht nur die Botschafterkonferenz vom Mai dieses Jahres befruchtet. Wir sind uns
auch darin einig - das entnehme ich Ihrem Antrag -,
daß nachhaltige Entwicklung nur dort entstehen wird, wo ein günstiges Gesamtklima vorhanden ist.
Ich freue mich über Ihre Aussage und die Überschrift in dem Antrag: Afrika hat Zukunft. Das ist das, was ich seit vielen Monaten immer wieder auch als Argument gegen den weitverbreiteten Afrika-Pessimismus vorgetragen und begründet habe.
Zu den drei Kritikpunkten, die Sie hier nannten, darf ich ganz kurz Stellung nehmen. Herr Kollege Schuster, ich habe immer wieder betont - Sie waren bei einer Reihe von Reden dabei und haben auch an Diskussionen teilgenommen -, daß für die Entwicklung in den entsprechenden Ländern nicht nur die internen, sondern vor allem auch die externen Rahmenbedingungen ganz entscheidend sind, deswegen auch der Einsatz der Bundesregierung und, ich glaube, aller Fraktionen hier im Bundestag für den erfolgreichen Abschluß der GATT-Uruguay-Runde im Interesse der Entwicklungsländer.
Ich habe mich stets auch gegen die pauschale Übertragung europäischer Strukturen oder Wertvorstellungen in die Entwicklungsländer gewehrt; das war niemals meine Vorstellung, das war wohl in den siebziger Jahren lange vor meiner Zeit in diesem Amt die Vorstellung. Es war meine Initiative und dann auch die Arbeit im BMZ, die uns schon im Februar 1992 das Rahmenkonzept „Sozio-Kulturelle Kriterien für Vorhaben der Entwicklungszusammenarbeit" haben entwickeln lassen, in dem wir dargestellt haben, daß nicht unsere Vorstellungen, sondern die Strukturen, Traditionen und Kulturen in den Entwicklungsländern ein ganz entscheidender Faktor sind, den wir beachten müssen, wenn wir Entwicklungserfolge erreichen wollen.
({1})
- In dieser Konzeption - ich bin gern bereit, sie Ihnen noch einmal zu übersenden - ist all dieses schon dargelegt und entwickelt worden. Wir halten uns im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit strikt an diese Konzeption.
Was schließlich die Abstimmung der multilateralen Politik und auch der EG-Politik anbelangt, haben wir nie Defizite bestritten, sondern bemühen uns seit erklecklicher Zeit, hier zu einer stärkeren Kooperation und damit zu einer stärkeren Effizienz und Abstimmung im Bereich der EG, nicht nur innerhalb der EG-Staaten, sondern auch im Verhältnis zur Kommission, zu kommen. Nur, Sie wissen selbst: Wir können hier nichts erzwingen, wir können nur argumentieren, und wir können versuchen zu überzeugen.
Ich glaube also, daß diese Kritik nicht begründet ist. Was hier kritisiert wird, ist seit langem praktizierter Bestandteil unserer Politik geworden.
Wir müssen auch feststellen, daß natürlich nicht alle Kriterien, wie sie heute von allen als sinnvoll akzeptiert werden, für unsere Zusammenarbeit gleichermaßen erfüllt sind. Wir sind aber der Meinung, es muß immer wenigstens einen positiven Ansatz geben. Regierungen, die diese Voraussetzungen durch Reformen schaffen wollen und die wirtschaftliche Strukturanpassungen durchführen, unterstützen wir bevorzugt. Es herrscht andererseits auch Einvernehmen darüber, daß gegenüber Regimen wie in Zaire, Togo, Sudan oder Nigeria, die Demokratisierungsprozesse behindern, unser Druck, der auch durch Art und Umfang unserer Entwicklungszusammenarbeit ausgeübt werden kann, nicht nachlassen wird.
Sollte sich beispielsweise auch bestätigen, daß der deutsche Botschafter in Sierra Leone wegen seines Eintretens für die Menschenrechte vom dortigen Militärregime ausgewiesen wird, werde ich auch hier die notwendigen Konsequenzen ziehen.
Herr Bundesminister, Sie wissen, daß ich Ihnen Ihre Redezeit nicht beschränke - das will ich auch nicht -, aber ich bin verpflichtet, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie im Begriff sind, die Redezeiten der Kollegen Andreas Schmidt und Graf Waldburg-Zeil mit zu verbrauchen. Ich glaube nicht, daß das Ihre Absicht ist.
Das ist wirklich nicht meine Absicht. Deswegen mache ich es wie der Kollege Dr. Zöpel und komme schnell zum Abschluß, Herr Präsident.
Ich glaube, wenn wir ein Fazit ziehen, können wir feststellen, daß die Herausforderungen, die in Afrika bestehen, von allen gesehen werden. Mit administrierten Preisen und internationalen Rohstoffmarktordnungen, um noch ein Thema aus Ihrem Antrag aufzugreifen, ist Afrikas Zukunft allerdings nicht zu gewinnen. Nicht ideologische Ladenhüter oder fehlgeschlagene Konzepte der Vergangenheit, sondern eine an Menschen orientierte Entwicklungspolitik und die Förderung privatwirtschaftlicher Initiative, wie sie die Koalition vertritt, weisen in die richtige Richtung.
Ich biete ausdrücklich auch den Damen und Herren von der SPD an, in den weiteren Beratungen ihrer Anträge darüber zu diskutieren, wie der Weg Afrikas aussehen kann. Wenn wir den Menschen in Afrika helfen wollen, dann brauchen wir zukunftsweisende, von uns allen getragene Politikansätze. Ich danke allen für jede Initiative, die uns diesem Ziel näher-bringt.
({0})
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Christoph Matschie.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich an dieser Stelle vor allem mit dem Antrag zu den Grundlagen deutscher Politik gegenüber den Partnerstaaten südlich und östlich des Mittelmeers und insbesondere den Maghrebstaaten beschäftigen.
Ich glaube, daß die Politik gegenüber den Partnerstaaten südlich und östlich des Mittelmeers vor einer alten und einer neuen Herausforderung steht. Die alte Herausforderung ist in dem vorliegenden Antrag sehr gut beschrieben. Es geht um eine tiefere, eine bessere, eine intensivierte Zusammenarbeit, und zwar auf
vielen Ebenen, zwischen den europäischen und den arabischen Staaten.
Wir haben eine lange, eine wechselvolle gemeinsame Geschichte. Während es in früheren Jahrhunderten noch die Möglichkeit gab, sich voneinander abzuschotten und abzugrenzen, ist das in der heutigen, kleiner und enger werdenden Welt kaum noch möglich. Allein 5,5 Millionen Menschen aus dem Maghreb leben schon heute in der EG.
Die Zusammenarbeit unserer Staaten ist nicht mehr nur ein Wunsch, sondern ist ein Muß geworden. Die neue Herausforderung ordnet sich in diesen Zusammenhang ein. Sie liegt nach meiner Auffassung in der Gestaltung und Absicherung des Friedenprozesses, der im Nahen Osten in einer ganz neuen Weise begonnen hat und plötzlich die Chance bietet, zu einem dauerhaften Frieden zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn zu kommen.
Damit entsteht auch die Chance einer völlig neuen Kooperation und Zusammenarbeit im Nahen Osten. Hier wird Neuland betreten. Wir müssen nachdenken, welche Rolle wir in diesem Prozeß spielen wollen. Es kann nicht einfach darum gehen, unsere bisherige Zusammenarbeit nur zu verlängern, quantitativ auszuweiten, sondern wir müssen in dieser Zusammenarbeit Neues entwickeln. Wir müssen daran denken, daß mit dieser großen Chance, die entstanden ist, gleichzeitig eine gewisse Klammer in der arabischen Welt wegfällt, nämlich der gemeinsame Feind Israel. Der Wegfall dieser Klammer wird nach meiner Auffassung auch dazu führen, daß Differenzen innerhalb der arabischen Welt heute stärker zu Tage treten. Das bedeutet, daß wir uns noch mehr als bisher vor allem um eine regionale Kooperation der arabischen Staaten untereinander bemühen müssen.
Ich will hier aber nicht nur allgemein bleiben, sondern zu konkreten Aufgaben der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit mit diesem Raum kommen. Der Minister Spranger hat hier deutlich gesagt, daß die Entwicklungspolitik einen Schwerpunkt in dieser Region des Mittelmeerraumes setzt. Es gibt Programme der Zusammenarbeit mit fast allen Anrainerstaaten des südlichen und östlichen Mittelmeers, ausgenommen Libyen und Syrien. Wir haben in der letzten Oktoberwoche gerade eine intensive Diskussion über das neue Konzept der Zusammenarbeit mit dieser Region gehabt. Dort sind Kernprobleme der Entwicklung aufgelistet und entwicklungspolitische Ansätze für die Zusammenarbeit entworfen worden. Aber wir müssen hier auch in die konkrete Wirklichkeit gehen. Deshalb möchte ich einige Schwierigkeiten und Defizite in der Zusammenarbeit anreißen.
Ein Fünftel der bilateralen Mittel für Entwicklungszusammenarbeit fließen in diese Region. Diese Schwerpunktsetzung macht Sinn. Das Problem ist allerdings die Art und Weise der Verteilung und des Einsatzes dieser Mittel. Wir haben hier 82 % der Mittel, die in die finanzielle Zusammenarbeit fließen, und nur 18 %, die in die technische Zusammenarbeit gehen. Das ist insofern problematisch, als ein erheblicher Teil der FZ-Mittel in Großprojekte und in Industrievorhaben fließt. Ich möchte hier nur einige Beispiele herausgreifen. In der Zusammenarbeit mit Ägypten gibt es solche Vorhaben wie die Rehabilitierung eines Batteriewerkes mit 35 Millionen DM, Ergänzungsvorhaben zum Ganzzugverkehr mit 30 Millionen DM, Verbesserung des Elektrizitätsnetzes mit 60 Millionen DM oder auch das Beispiel Türkei: Eisenbahnmaterial 25 Millionen DM, Freileitung 50 Millionen DM. Ich denke, hier geht es oft eher um Exportförderung für deutsche Firmen als wirklich um entwicklungspolitisch sinnvolle Zusammenarbeit.
({0})
Hier müssen die Gewichte verschoben werden.
Der im Regionalprogramm genannte Schwerpunkt der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit, Bildung und Ausbildung, kommt - man sehe sich das Finanztableau an - wesentlich schlechter weg. Dabei ist gerade dieser Bereich enorm wichtig für eine selbsttragende Entwicklung.
Allein die Analphabetenraten in der Region südlich des Mittelmeers sprechen eine beredte Sprache. In Marokko beträgt die Analphabetenrate 66 %, in Algerien 54 %, in Tunesien 45 % -, um nur einige Zahlen zu nennen. Deshalb wäre es wichtig, in diesen Schwerpunkt der Bildung und Ausbildung mehr zu investieren als es bisher der Fall ist.
Ohne Zweifel ist es einfacher, Geld in größeren Projekten anzulegen. Eine Frage bleibt dabei: Ist das sinnvoll? Ich glaube, wir müssen uns die Mühe machen, mehr Kleinarbeit zu leisten und nach kleineren Projekten intensiverer Zusammenarbeit zu suchen. Das wird auch bedeuten, daß wir für solche Fragen mehr Personal brauchen. Ich habe, als ich Gespräche in Ägypten geführt habe, feststellen müssen, daß wir in dei Botschaft lediglich eine Person zur Verfügung haben, die die Entwicklungszusammenarbeit koordiniert, und das bei einem Land, das zu den größten Empfängerländern bundesdeutscher Entwicklungshilfe gehört.
Ein anderes Problemfeld ist die Förderung der regionalen Zusammenarbeit. Es gibt in Afrika mehr als 200 Institutionen regionaler Zusammenarbeit. Leider sind ein Großteil oder wahrscheinlich der größte Teil von ihnen Papiertiger. Das betrifft nicht nur die Mittelmeeranrainer, sondern vor allem auch Schwarzafrika.
In einem Informationsvermerk des BMZ vom April dieses Jahres wurde uns mitgeteilt, daß 415 Millionen DM in die bilaterale Zusammenarbeit mit regionalen Zusammenschlüssen in Afrika fließen. Dies ist eine erhebliche Summe. Guckt man sich dann aber an, was mit dem Geld gemacht wird, dann stellt man fest, daß allein mehr als die Hälfte davon, nämlich 230 Millionen DM, in das umstrittene Staudammprojekt Manan-tali fließen - eine Kooperation zwischen Mauretanien, Senegal und Mali - und nur etwa 30 Millionen DM für die Zusammenarbeit mit regionalen Zusammenschlüssen im Maghrebbereich eingesetzt werden.
Das Problem, vor dem wir hier stehen, besteht auch darin, daß es in dieser Region kaum tragfähige Strukturen regionaler Zusammenarbeit gibt, vielleicht mit Ausnahme des Golf-Kooperationsrates. Aber der liegt schon wieder ein bißchen weiter außerhalb unserer
heutigen Betrachtungen. Ich denke, es ist eine Aufgabe für den politischen Dialog, immer wieder darauf hinzuweisen, daß die regionale Kooperation eine bedeutende Rolle spielt.
Der Antrag, der uns vorliegt, fordert die Unterstützung beim Aufbau der Union der arabischen Maghrebstaaten und äußert die Hoffnung auf ein Freihandelsabkommen zwischen der EG und der Union der Maghrebstaaten irgendwann in der Zukunft. Aber auch hier gilt: Die UMA ist bislang kaum wirklich existent; sie ist Anfang 1989 primär als militärischer Beistandspakt gegründet worden und ist ein Konzept, das voller Konfliktpunkte steckt. Ich nenne nur Westsahara und Libyen.
Es gibt allerdings keine Alternative zur verstärkten multilateralen Zusammenarbeit. Wir dürfen nur nicht die Probleme, die sich dabei ergeben, unterschätzen und müssen darauf hinarbeiten, unsere Konzepte auch auf diese Probleme abzustellen.
In diesem Antrag steht der wichtige Gedanke, daß wir den Dialog nicht auf Wirtschaftshilfe beschränken dürfen, sondern auch den politischen und kulturellen Austausch fördern müssen. Gerade im Bereich der kulturellen Zusammenarbeit wird von unseren Partnern immer wieder ein größeres Engagement erbeten. Die intensive Begegnung der Kulturen und die wissenschaftliche Zusammenarbeit sind meiner Auffassung nach eine ganz wichtige Säule für gemeinsame Entwicklungsanstrengungen. Hier ist bislang zuwenig geschehen.
Selbst dieses Wenige ist teilweise bedroht. Ich glaube, es paßt nicht zur Intention dieser Debatte, daß im Bereich der auswärtigen Kulturpolitik Mittel gekürzt werden und davon gerade auch die Goethe-Institute betroffen sind.
({1})
Ich habe gehört, daß beispielsweise die Bibliothek in Tunis von einer Schließung bedroht ist. Eine solche Entwicklung darf nicht stattfinden. Das muß korrigiert werden. Hier brauchen wir mehr Mittel statt weniger. Wir erleben bei Gesprächen in der arabischen Welt immer wieder, daß das Bewußtsein einer deutlichen Differenzierung gegenüber Europa sehr ausgeprägt ist, daß es eine psychologische Kluft zwischen Arabern und Europäern gibt und daß auf der arabischen Seite ein Gefühl kollektiver Demütigung vorhanden ist. Wir müssen deshalb in diesem Bereich der Begegnung von Menschen im Rahmen der kulturellen Zusammenarbeit große Anstrengungen unternehmen.
Ich glaube, wir sind uns im Ziel dieses Antrags einig. Daß es in der konkreten Ausgestaltung noch Fehlentwicklungen, Versäumnisse und eine Menge offener Fragen gibt, darauf wollte ich mit meinem Beitrag hinweisen. Ich hoffe, daß dieser Antrag und auch die heutige Debatte dazu beitragen, in dieser Entwicklung ein paar Schritte voranzukommen. Wir dürfen die Perspektive in nicht zu kleinen Dimensionen sehen. Es geht hier um Prozesse, die sich nicht in Monaten, sondern in Jahren und Jahrzehnten vollziehen. Auch das sollten wir dabei nicht vergessen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort kann ich nunmehr dem Abgeordneten Andreas Schmidt ({0}) erteilen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundesminister Spranger, ich teile im Ergebnis Ihre Einschätzung, daß Afrika eine Chance hat und daß man auch Grund für Optimismus haben kann. Aber ich finde, wahr ist leider auch, daß wir in vielen Bereichen der Politik, in vielen europäischen Ländern zur Zeit eine Renaissance eines sich ausbreitenden Afro-Pessimismus erleben.
({0})
Ich finde, wahr ist auch, daß Afrika auf absehbare Zeit der Sorgenkontinent Nummer eins auf unserer Erde sein wird.
Während zu Beginn der 90er Jahre durch einsetzende Demokratisierungsprozesse ein vorsichtiger Optimismus aufkeimte, bestimmt heute leider wieder der Pessimismus die politische Analyse, wenn man über Afrika spricht. Rückfall in Bürgerkriege und Diktaturen und die Zunahme von Menschenrechtsverletzungen prägen in vielen Ländern Afrikas leider die Szene. Der grausame Putsch in Burundi - er ist heute oft angesprochen worden - ist für viele Menschen geradezu ein Menetekel einer drohenden düsteren Perspektive für Afrika.
Ich will das hier offen bekennen: Wenn man, wie der Kollege Schuster, der Kollege Ruck und ich, vor kurzem in Burundi war, mit dem Staatspräsidenten und dem Parlamentspräsidenten gesprochen hat, nach einer demokratischen Wahl einen guten Eindruck hatte, dann wenige Tage später nach Hause kommt und erfährt, daß die Politiker, mit denen man abends noch beim Bier zusammengesessen hat, bestialisch umgebracht worden sind, dann muß man sich selbst davor schützen, daß man nicht in diesen AfroPessimismus verfällt.
({1})
Ich finde, meine Damen und Herren, gerade vor dem Hintergrund der heutigen Afrikadebatte ist es wichtig, zu sagen, daß diese Debatte nur dann einen Sinn hat, wenn wir aus ihr die Erkenntnis gewinnen und wenn von ihr die Botschaft ausgeht, daß wir wissen, daß Afrika nicht irgendein Kontinent wie ein anderer Kontinent auf dieser Erde, sondern unser Nachbarkontinent ist.
({2})
Wir müssen uns mit Hilfe dieser Debatte ebenfalls klarmachen, daß Deutschland, aber auch Europa ein elementares eigenes Interesse an einer positiven Entwicklung in Afrika haben, gerade weil es unser Nachbarkontinent ist. Wenn man die Lage in Afrika analysiert, dann ist es wichtig, über Ostafrika und
Andreas Schmidt ({3})
Südafrika zu sprechen. Aber wir sollten die Maghrebstaaten nicht vergessen.
Afrika ist unser Nachbarkontinent, aber die nächsten Nachbarn sind die Maghrebstaaten. Wenn wir die Probleme in diesen Ländern nicht lösen, dann werden sie bald die Probleme Europas sein, wenn sie es nicht schon sind. Deswegen, meine ich, müssen die Maghrebstaaten eine besondere Aufmerksamkeit in dieser Debatte bekommen.
Meine Damen und Herren, in der gebotenen Kürze will ich nur einige Gedanken äußern, die meines Erachtens wichtig sind, um einem begründeten, vorsichtigen Afro-Optimismus langfristig wieder eine Chance zu geben. Es ist ein großer Irrtum, zu glauben, allein rein technisch oder rein wirtschaftlich ausgerichtete Entwicklungshilfeprojekte könnten Impulse für eine positive Entwicklung in Afrika geben. Wir alle wissen doch: Entscheidend sind die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen in den afrikanischen Ländern. Sie entscheiden letztlich darüber, ob Entwicklungshilfeprojekte langfristig Erfolg haben können oder nicht. Daraus folgt doch für uns, daß wir uns unter der Bedingung knapper finanzieller Ressourcen im Zweifel dafür entscheiden müssen, zunächst in die Entwicklung innerstaatlicher Demokratisierungsprozesse zu investieren.
Wir, Herr Ruck, Herr Schuster und ich, haben das bei unserer Reise in Tansania erlebt. Dort steht man gerade vor der Entscheidung, ein Mehrparteiensystem einzuführen. Darüber, ob das gelingt, haben wir nach den Gesprächen große Zweifel. Aber jetzt entscheidet sich die Zukunft von Tansania. Ich bin ganz sicher: Wenn die Demokratisierung nicht gelingt, werden alle weiteren wirtschaftlichen und technischen Entwicklungshilfeprojekte auf Dauer zum Scheitern verurteilt sein. Deswegen ist es wichtig, daß wir jetzt in den Demokratisierungsprozeß investieren.
({4})
Ein zweiter Punkt. Es ist unredlich, wenn die Industrienationen Marktwirtschaft predigen, gleichzeitig jedoch auf Grund kurzfristiger nationaler Einzelinteressen die afrikanischen Länder dirigistisch vom Weltmarkt fernhalten. Protektionismus gegenüber Afrika ist im Ergebnis nichts anderes, als die armen Länder in ihrer Armut einzusperren. Marktwirtschaft im Inneren sowie die Hilfe durch Handel im Rahmen der Entwicklungspartnerschaft sind die einzige realistische Perspektive für Afrika auf dem Weg in eine bessere Zukunft.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Wort zum Antrag der SPD sagen. Es ist viel darüber gesprochen worden, lieber Herr Schuster, es ist auch viel Richtiges darin. Wir stimmen ja in vielen Punkten überein; das hat die Debatte gezeigt. Aber ich finde: Sie sollten den Antrag noch einmal in einigen Passagen überarbeiten. Der Antrag enthält nämlich leider auch einige Rückschritte, einige alte Sachen aus der sozialistischen Mottenkiste. So steht in Ihrem Antrag etwas über eine künstliche Anhebung von Preisen für Exportprodukte
Afrikas und über die nicht zu definierende gerechte Weltwirtschaftsordnung.
({5})
Ich finde nicht, daß das eine Perspektive für Afrika sein kann. Die Perspektive kann nur in einer innerstaatlichen sozialen Marktwirtschaft auch für die afrikanischen Länder bestehen und darin, daß wir den afrikanischen Ländern die Möglichkeit geben, am Welthandel teilzunehmen.
({6})
-Ja, der alte Hut von Herrn Zöpel. Es gibt einige Hüte bei den Sozialdemokraten, aber mit Hüten kann man keine Perspektive für Afrika formulieren.
({7})
- Lieber Herr Zöpel, daß wir recht haben, wenn wir auf Handel und Marktwirtschaft setzen, zeigt doch auch eine seriöse Schätzung der Weltbank. Die Weltbank hat folgendes ausgeführt und errechnet: Allein durch eine Reduzierung der Handelsbarrieren um 50 % in der Europäischen Gemeinschaft, in Japan und in den USA würden die Exporterlöse der Entwicklungsländer um 50 Milliarden US-Dollar ansteigen. Das ist annähernd der Betrag, der die westliche öffentliche Entwicklungshilfeleistung ausmacht.
Es gibt keinen besseren Beweis dafür - ({8})
- Wenn Sie das meinen, bin ich einverstanden. Dann müssen wir über die Definition sprechen. Ich habe jedoch den Eindruck, daß Sie unter neuer Weltwirtschaftsordnung immer mehr Dirigismus, immer mehr Planung und auch ein wenig Protektionismus verstehen. Das kann nicht unsere Politik sein. Wir sind uns in vielen Punkten einig, vielleicht können wir darüber noch einmal reden.
({9})
- Herr Kollege Holtz, wenn Sie für mehr Markt sind, dann werden Sie bei uns immer einen Verbündeten finden. Da brauchen Sie keine Sorgen zu haben.
Ich will einen dritten Punkt nennen, der mir wichtig erscheint. Es ist viel über regionale Kooperation gesprochen worden. Ich finde, wir müssen die afrikanischen Länder anspornen, auf ihrem Kontinent größere eigene Binnenmärkte zu schaffen. Denn nur, wenn diese Binnenmärkte da sind, haben die Länder auch eine Chance, am Weltmarkthandel auf Dauer teilzunehmen.
({10})
Es gibt hierfür, meine Damen und Herren, sicherlich kein Patentrezept. Wir sollten aber überlegen, ob dieser Ansporn nicht dadurch geschaffen werden kann, daß unsere Unterstützung für unerläßliche öffentliche Dienstleistungen in den afrikanischen Ländern verstärkt im Rahmen regionaler, mehrere Länder umfassender Programme erfolgen kann.
Andreas Schmidt ({11})
Das könnte ein erster Schritt zu einer regionalen Kooperation und damit ein erster Schritt auf dem Weg zu regionalen Binnenmärkten in Afrika sein. Wir sollten darüber nachdenken. Es gibt sicherlich Möglichkeiten, in diese Richtung zu arbeiten.
Ein vierter Punkt: Das Hauptproblem wird das Bevölkerungswachstum sein. Wenn es hier keine Änderung gibt, dann glaube ich, daß alle Entwicklungshilfeprojekte zum Scheitern verurteilt sein werden.
({12})
Wir müssen hier größere Anstrengungen unternehmen, um gemeinsam mit den afrikanischen Ländern - nicht gegen sie und nicht über sie - Konzepte zu entwickeln. Wir müssen - da bin ich mit Ihnen völlig einer Meinung - eine stärkere Kohärenz in der Entwicklungshilfepolitik schaffen. Es darf nicht sein, daß, wenn wir eine Rindfleischzucht in Westafrika aufbauen, einige Jahre später die Franzosen billiges, subventioniertes Rindfleisch in dieses Land exportieren. Sie würden dann das, was wir aufgebaut haben, kaputtmachen.
({13})
Dies ist keine kohärente Entwicklungshilfepolitik. Ich habe die Hoffnung, daß wir auch durch den Vertrag von Maastricht zu einer stärkeren Abstimmung innerhalb der multilateralen Entwicklungshilfepolitik kommen. Es ist jedenfalls notwendig.
Es gibt viel über Afrika zu sagen. Wir sagen immer: Europa ist unsere Chance und unsere Zukunft. Ich glaube, das stimmt. Auch darüber sind wir uns einig. Es ist jedoch auch richtig, wenn wir sagen: Afrika ist die Herausforderung Europas.
Ich danke Ihnen.
({14})
Der Abgeordnete Hans-Günther Toetemeyer hat das Wort.
Herr Präsident, ich bitte, die Uhr noch nicht laufen zu lassen, weil ich vorab als Berichterstatter etwas sagen möchte.
Eine großzügige Behandlung sei Ihnen zugesichert. Sie haben das Wort.
Herr Kollege Köhler und ich als Berichterstatter haben soeben festgestellt, daß uns gestern beim Unterschreiben des Berichts ein Fehler unterlaufen ist. Es muß bei der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses unter III im zweiten Absatz, in dem es um Togo geht, im letzten Satz etwas eingefügt werden. Dort steht: „nach Durchführung freier Wahlen". Es muß jedoch heißen: „nach Durchführung freier Parlamentswahlen". Das heißt, das Wort „Parlament" muß eingefügt werden. Wir beide haben das gestern übersehen. Es gab darüber Übereinstimmung im Auswärtigen Ausschuß. Ich bitte, das entsprechend zu ändern.
Das war es, Herr Präsident. Jetzt läuft unerbittlich meine Redezeit.
({0})
- Sie wissen selbst, Herr Kollege, wie schnell zehn Minuten herum sind.
Ich bin dankbar, daß wir trotz aller Probleme, die wir in Europa haben und die gewiß nicht klein sind, nach langem wieder einmal Zeit haben, miteinander über Afrika zu diskutieren. Es ist etwa anderthalb Jahrzehnte her, seit Willy Brandt seinen Nord-Süd-Bericht vorgelegt hat, unter dem Motto: „Das gemeinsame Überleben sichern" . Ihm ist Olof Palme mit dem Vorschlag der „gemeinsamen Sicherheit" gefolgt und Gro Harlem Brundtland schließlich mit der „gemeinsamen Zukunft" . Das sind die Themen seit 15 Jahren. Willy Brandt hat in seinem Vorwort damals gesagt - ich glaube, das ist nach wie vor aktuell -:
Wir wollen die Überzeugung deutlich machen, daß die beiden vor uns liegenden Jahrzehnte
- das war 1979 für die Menschheit von schicksalhafter Bedeutung sein werden.
Ich denke, dieser Satz stimmt nach wie vor. Aber von den zwei Jahrzehnten, die Willy Brandt damals im Auge hatte, sind nur noch fünf Jahre übriggeblieben. Ich bin sehr skeptisch, ob wir es schaffen werden, die noch ungelösten Probleme, mit denen wir uns heute morgen in der Debatte beschäftigt haben, in diesen fünf Jahren wirklich so zu lösen, daß wir gemeinsam mit Afrika eine Zukunft haben, daß wir unser Überleben gemeinsam gesichert haben werden. Ich bin da sehr skeptisch.
Nun möchte ich, Kollege Irmer von der F.D.P., auf den Änderungsantrag der Koalition zurückkommen. Ich verstehe ihn überhaupt nicht. Sie haben eben von Mißverständnissen gesprochen. Ich glaube, hier gibt es ein großes Mißverständnis. Der Antrag, initiiert von der F.D.P.-Fraktion, geht vom alten SPD-Antrag zu den vier Afrika-Anträgen aus. Den gibt es nicht mehr. Wir haben ihn zurückgezogen. Wir unterhalten uns heute nicht mehr über die alten SPD-Anträge, sondern über die Beschlußfassung im Auswärtigen Ausschuß.
Kollege Irmer, Sie werden sich erinnern - das richtet sich jetzt auch an den Staatsminister -: Wir haben bei jedem afrikanischen Land, von Togo bis Zaire, immer wieder den Staatssekretär, der anwesend war, gefragt: Ist das so in Ordnung, oder muß es geändert werden? Es bestand volle Übereinstimmung. Das heißt, wenn jetzt ein anderer Antrag verabschiedet wird als das, was wir als Ergebnis einer sehr gründlichen und, wie ich finde, auch sehr guten Diskussion im Auswärtigen Ausschuß verabschiedet haben, dann ist das eine Desavouierung des Staatssekretärs. Die möchte ich nicht. Das ist der Grund, warum die SPD-Fraktion an dem gemeinsamen Beschlußentwurf festhält.
({1})
Kollege Irmer, vergleichen Sie einmal Ihren Antrag mit dem gemeinsamen vom Auswärtigen Ausschuß, der das Ergebnis einer wirklich sehr guten Diskussion
ist. Ihrer ist ein kastrierter Antrag. Es fehlt z. B. ein ganz wichtiger Satz. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, daß die F.D.P.-Fraktion ihren eigenen Außenminister im Regen stehen läßt. Es fehlt der Satz völlig, daß „demokratische Wahlen ... durch die Bereitstellung finanzieller Hilfen bei Wahlvorbereitung und -durchführung ... zu unterstützen" sind. Das ist überhaupt nicht mehr vorhanden. Der Herr Minister hat in seinem letzten Satz noch einmal sehr ausführlich darauf hingewiesen.
Sie kennen meine Meinung seit zehn Jahren in diesem Parlament. Ich habe immer den Standpunkt vertreten, wir sollten bei Anträgen zu Afrika gemeinsam handeln. In diesem Fall gab es einen langen Diskussionsprozeß im Auswärtigen Ausschuß, der bis gestern nachmittag dauerte. Wir haben uns verständigt. Ich bitte sehr darum, daß wir um des Prinzips willen daran festhalten. In der Sache gibt es überhaupt keine Differenzen, außer daß Ihr Antrag, der jetzt plötzlich kommt, sehr viel kürzer und kastriert ist und wichtige Elemente Ihres eigenen Außenministers nicht mehr enthält.
({2})
Es verschlägt doch nichts, wenn Sie sagen: Wir sind bei unserem Änderungsantrag von dem alten SPDAntrag ausgegangen; wir haben uns geirrt, er steht gar nicht mehr zur Debatte. So könnten wir die Einheitlichkeit der Meinungsbildung aufrechterhalten. Ich finde diesen Änderungsantrag wirklich sehr unfair gegenüber ihrem eigenen Außenminister, mindestens aber gegenüber dem Staatssekretär, der im Ausschuß den Minister vertreten hat.
Meine Damen und Herren, abschließend zur Debatte noch ein paar Bemerkungen zu dem, was vorher gesagt worden ist. Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, Herr Kollege Köhler, daß wir bei der Frage, wie wir die künftige Republik Südafrika nach dem 27. April des nächsten Jahres, was wirtschaftliche Zusammenarbeit angeht, behandeln sollten, noch einmal überdenken müssen: Paßt Lomé? Brauchen wir, wie Sie es vorgeschlagen haben, eine partielle Veränderung des Lomé-Vertrages? Oder könnten wir unter Umständen - das wäre mein Vorschlag - eine Lösung für das erste Jahrzehnt finden, wie sie die UNO bei Namibia gefunden hat? Sie hat gesagt: Wir betrachten dieses Land, was das Bruttosozialprodukt angeht, nicht als eine Einheit, sondern wir sehen, daß es Probleme in bestimmten Regionen gibt; wir sind bereit, diese Regionen als As-if-LDCs zu akzeptieren.
Wir sollten darüber gemeinsam diskutieren. Ich glaube, das ist notwendig. Ich warne vor dem Gedanken, daß es möglich sein könnte, in Südafrika auf jegliche Entwicklungshilfe auch im Sinne des LoméVertrages zu verzichten. Südafrika hat nämlich drei große Aufgaben zu lösen: die Herbeiführung fairer Chancen in der Erziehung für die schwarze Mehrheit der Bevölkerung, insbesondere in der Grundbildung, ferner die Herbeiführung fairer Chancen in der Basisgesundheitsversorgung für die schwarze Bevölkerung sowie die Bereitstellung von Millionen neuer Arbeitsplätze unter Einbeziehung der Probleme der Wanderarbeiter aus den Nachbarländern.
Das kann diese Republik trotz aller wirtschaftlicher Potenz allein nicht leisten.
({3})
Sie ist auf die Zusammenarbeit mit der Europäischen Gemeinschaft und auch mit der Bundesrepublik angewiesen. Wenn wir das versäumen, werden wir, glaube ich, eines Tages sagen: Wir sind schuld daran, daß es nicht funktioniert.
Ich begrüße - wie alle Kollegen heute morgen - ausdrücklich die Bereitschaft der Weißen und der führenden Schwarzen zu einer Koalition der nationalen Einheit und Versöhnung. Dies ist die einzige Chance für Südafrika, daß Weiße und Schwarze nach den Wahlen zunächst einmal für fünf Jahre sagen - ich bin fest davon überzeugt: es wird länger dauern; ich sehe den Zeitraum von einem Jahrzehnt -: Wir vergessen unsere alten Konflikte, wir üben keine Rache, wir nehmen uns Namibia zum Vorbild, wir werden eine Regierung der nationalen Einheit bilden.
Von daher glaube ich, daß alle Vorschläge, auch der Vorschlag des Kollegen Köhler, der für mich neu war, durchdacht werden müssen. Auf jeden Fall muß etwas geschehen, Herr Kollege Köhler; wir können Südafrika nicht außen vor lassen. Das alte Instrumentarium erweist sich in diesem neuen Fall eben als nicht mehr griffig. Wir sollten weiter darüber diskutieren.
Ich komme zum Schluß. Wir bleiben bei dem, was wir gemeinsam erarbeitet haben. Wir sollten uns darum bemühen, zu einer gemeinsamen Beschlußfassung zu kommen, zumal es in der Sache keine Differenzen gibt. Wir sollten - wir haben das als SPD-Fraktion getan - nicht aus irgendwelchen Gründen auf eigenen Formulierungen beharren. Ich wäre sehr dankbar, wenn auch diese Afrikadebatte mit einem einmütigen Beschluß des Deutschen Bundestages enden würde, so wie der Auswärtige Ausschuß gestern den Beschluß einmütig verabschiedet hat. Von daher bitte ich um Zustimmung für die Vorlage aus dem Auswärtigen Ausschuß.
Ich bedanke mich fürs Zuhören.
({4})
Herr Präsident, ich habe es geschafft, in der Zeit zu bleiben.
Herr Abgeordneter, das freut mich ganz besonders, weil Sie auch bei anderen Gelegenheiten immer sehr genau darauf achten, daß die Redezeiten eingehalten werden.
Graf Waldburg-Zeil, im Interesse der Debatte möchte ich gern dem Kollegen Irmer, da er direkt angesprochen wurde, das Wort vor Ihnen erteilen. Herr Abgeordneter Irmer.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Ich habe mich noch einmal gemeldet, und zwar auch in meiner Eigenschaft als Berichterstatter -- neben den Kollegen Köhler und Toetemeyer - zu dieser Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses.
Herr Kollege Toetemeyer, wir haben gestern, als wir uns am Rande der Plenarsitzung darüber verständigt haben, wie wir die verschiedenen Anträge zusammenfassen wollen, in einer Sache aneinander vorbeigeredet; das habe ich erst später festgestellt. Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, daß die Passagen zu den einzelnen Ländern aus dem im AwZ behandelten Koalitionsantrag von Ihnen übernommen werden. Es hat sich herausgestellt: Dies war ein Dissens.
Inhaltlich möchte ich auf folgendes hinweisen. Die Bundesregierung wird nach dem Text der Beschlußempfehlung bezüglich Zaire aufgefordert, „eine weitere Behinderung der Arbeit der Nationalkonferenz und der Interimsregierung sowie Übergriffe der Sicherheitskräfte nicht länger ohne Reaktion" hinzunehmen „und entsprechende internationale Maßnahmen" einzuleiten. Diese Forderung läuft völlig ins Leere, weil diese Behauptung, die hier aufgestellt wird, schlicht nicht mehr zutrifft. Das ist nämlich in Abstimmung mit unseren westlichen Partnern längst geschehen.
Zweitens. Zu Togo ist zu sagen, in diesem Land geht es uns derzeit vorrangig darum, die Voraussetzungen für freie und faire Parlamentswahlen zu schaffen. Der Beauftragte für Afrikapolitik ist im Auftrag des Auswärtigen Amtes zu diesem Zweck in einer Art Shuttle-diplomacy zwischen Togo, Burkina Faso, Paris und London unterwegs.
Was Kamerun betrifft, da ist die Forderung nach einer Wiederholung der Wahlen - auch wenn dies für uns sehr ärgerlich sein mag - unrealistisch. Es ist völlig unsinnig, dies zu fordern,
({0})
weil es zu nichts führen wird. Es kommt in Kamerun darauf an, Verfassungsgespräche auf eine möglichst breite Grundlage zu stellen. Neuwahlen sind dann nach Verabschiedung der Verfassung möglich.
Schließlich ist die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit Zaire und Togo längst eingestellt. Regierungsverhandlungen mit Kamerun sind als Reaktion auf die Bewertung der veranstalteten Wahlen Sine die verschoben worden. Das ist der Sachstand.
Lieber Kollege Toetemeyer, nachdem ich dieses klargestellt habe, will ich dann gleichwohl Ihre ausgestreckte Hand nicht verschmähen und nicht zurückweisen. Wir sind mit Ihnen darüber einig, daß es gerade in außenpolitischen Fragen vernünftig ist, großen Konsens herzustellen.
Nachdem ich als Berichterstatter jetzt hiermit zu Protokoll gegeben habe, daß dies, soweit es in den Anträgen enthalten ist, nicht stimmt, einer sachlichen Grundlage entbehrt und daher in den Schlußfolgerungen falsch ist, begnüge ich mich gleichwohl damit, darauf zu verweisen, daß der eigentlich richtige Text, der Gegenstand unseres Änderungsantrages war, in dem Bericht mit abgedruckt ist, nämlich da, wo der Vorschlag aus dem AwZ abgedruckt ist, auf Seite 9 der Beschlußempfehlung. Da uns dies im Sinne der Harmonie genügt. ziehe ich hiermit namens der CDU/ CSU- und der F.D.P.-Fraktion unseren Änderungsantrag zurück. Hier zeigt sich einmal wieder: Um der
Harmonie und der Einigkeit willen geben die Klügeren nach, aber die Wahrheit wird siegen.
Vielen Dank.
({1})
Das heißt, um es zu konkretisieren, Herr Abgeordneter Irmer: Über den Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/ CSU und der F.D.P. auf der Drucksache 12/6125 brauche ich nicht abstimmen zu lassen?
({0})
- Okay, er ist zurückgezogen worden.
Herr Toetemeyer hat selbstverständlich noch einmal zu einer Erwiderung kurz das Wort.
Herzlichen Dank, Herr Kollege Irmer. Ich will nur noch zwei Sätze sagen: Wahrheit ist relativ. Klugheit gilt für alle.
Danke.
({0})
Meine Damen und Herren, nun hat Graf Waldburg-Zeil das Wort. Bitte sehr.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben soeben ein Beispiel der Konsensfindung sogar im Plenum über einen Antrag zu Afrika erlebt. Herr Kollege Toetemeyer, für Ihren neuen Antrag „Afrika hat Zukunft - Für eine neue Afrikapolitik" wird sicher auch gelten, daß man nach gründlicher Beratung und Abklärung der beiden Positionen wieder zu einem gemeinsamen Antrag kommen wird.
In diesem Antrag - ich darf zitieren -- steht:
Förderung von demokratischen Strukturen, die die Menschenrechte dauerhaft sichern, eine tatsächliche Beteiligung der Bevölkerung an politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungsprozessen ermöglichen und die Konfliktlösungen durch friedlichen Interessenausgleich herbeiführen.
Ja, in der Tat; hier wird sicher jeder im Hause zustimmen. Aber wenn, wie wir hier im Hause am Freitag vor zwei Wochen besprochen haben, am 29. Juni 1993 80 % der Bevölkerung Burundis eine Partei ihres Vertrauens gewählt haben und kaum drei Monate später durch einen Putsch die halbe Regierungsmannschaft bestialisch ermordet wurde, Zigtausende, vielleicht sogar Hunderttausende Mitglieder des Mehrheitsstammes massakriert wurden und nun scheinheilig Vorschläge gemacht werden, doch wieder der alten Elite und der alten Mehrheitspartei die Macht zurückzugeben, dann ist das für die Menschheitsfamilie schlichtweg einfach unerträglich.
({0})
Sich zur Demokratie zu bekennen ist gut. Man muß aber auch verstehen, daß eine Regierung, die unter Bedrohung der eigenen Armee steht, internationalen Schutz anfordert. In der Zwischenzeit hat ja der Beauftragte der OAU bereits deutlich gemacht, daß man im Rahmen der OAU eine solche Schutztruppe aufstellen möchte.
Man muß auch verstehen, daß bis zum unerläßlichen Umbau dieser Armee, den auch der Deutsche Bundestag in einer einmütigen Resolution befürwortet hat - denn es geht nicht an, daß in einer Armee der Minderheitsstamm allein vertreten ist, der für die Massaker der Vergangenheit verantwortlich ist -, internationaler Schutz auch für die Bevölkerung, nicht nur für die Regierung angefordert wird.
Man muß schließlich verstehen, daß bei der Herstellung dieses Schutzes die legale Regierung zunächst einmal aus dem Exil zu handeln sich überlegt.
Es ist klug, daß die Vereinten Nationen hier eng mit der Organisation für Afrikanische Einheit zusammenarbeiten wollen. Es wäre auch klug, wenn die Europäische Gemeinschaft den Wunsch der legalen Regierung unterstützen würde, daß französischsprechende Länder des nördlichen Afrikas die Schutztruppen entsenden. Es wäre auch gut, wenn die Bundesrepublik im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft und der Völkerfamilie diese Bemühungen unterstützen würde.
Mit das Schlimmste neben dem Fortgang des Mor-dens in einigen Provinzen ist im Moment die Fluchtbewegung. Wir haben nach einigen Angaben bis zu 700 000 Flüchtlinge, die nun im Nachbarland Ruanda sind. Sie erinnern sich alle an den gemeinsamen Antrag, den wir beschlossen haben: „Ein entwicklungspolitischer Beitrag zur Lösung von Weltflüchtlingsproblemen. " Das war im Jahr 1989. Jetzt gilt es, die damals getroffenen Maximen zu verwirklichen:
({1})
Hilfe für Nachbarländer! Denn wenn aus einem armen und entwicklungsbedürftigen Land Menschen zu Hunderttausenden in ein Nachbarland fliehen, das ebenso arm ist, dann drückt das noch viel stärker auf die Armut in diesem Nachbarland. Wir müssen alles tun, um in diesem Nachbarland Hilfestellung zu geben.
Angesichts dieser Tragödie in Burundi überlege ich mir, ob es nicht sinnvoll wäre, auch zu einigen ganz ungewöhnlichen und ungewohnten Maßnahmen zu greifen.
({2})
- Ja, der Herr Staatsminister fehlt im Moment. Ich darf mich an die Kollegen des Auswärtigen Ausschusses wenden.
Wir wollen Demokratie fördern. Das heißt ja, daß wir einer legitim gewählten Regierung alle nur denkbare Unterstützung geben sollten. Wie ist denn der Plan der Minoritäten, die versucht haben, über diesen Putsch die Macht wieder zu bekommen? Der Plan ist vollkommen durchsichtig. Der Plan besteht darin, jetzt die legale Regierung zu lassen, aber ihr überhaupt keine Möglichkeit zu geben, Erfolge zu erringen.
({3})
Das heißt, man übersendet kein Geld an die Botschaften. Dann können die Botschafter, die diese Regierung vertreten sollen, nicht mehr agieren. Man läßt die Finanzen ruhen. Man versucht, diese Regierung einfach totlaufen zu lassen, und dann sagt man: Seht ihr, die Hutu können eben nicht regieren, laßt doch wieder die Tutsi dran!
({4})
Das ist genau das, was schon wieder in einigen Ländern, auch Nachbarländern von uns, als Idee und letzte Räson aufgegriffen wird.
({5})
Wir müssen also alles tun, um genau das zu vermeiden. Das heißt, wenn wir einen Demokratiefonds haben, müssen wir einmal überlegen, ob man diesen auch etwas ungewohnt einsetzen kann, z. B. ein paar Monate lang dazu, den Botschaften ihre Arbeit weiter zu ermöglichen.
({6})
Eine andere Problematik bezieht sich nun speziell auf entwicklungspolitische Bereiche, Herr Bundesminister Spranger. Im Moment kann in den Regionen, in denen das Morden weitergeht, natürlich entwicklungspolitisch überhaupt nichts getan werden. Aber es gibt Unterschiede in den Regionen. Ich kann nicht sagen: die Tutsi. Vielmehr gibt es in dem Minderheitsstamm der Tutsi, die bisher die Herrschaft ausgeübt haben, die im wesentlichen auch für alle Massaker der Vergangenheit verantwortlich sind, einen großen Kreis, der eingesehen hat, daß es so nicht weitergeht. Auch im Militär hat es einige Garnisonen gegeben, die nicht mitgemacht haben.
Wir müssen zu unterscheiden versuchen, in welchen Regionen sich die Armee sauber verhalten hat. In diesen Regionen wird das Vertrauen der Bevölkerung noch vorhanden sein. Also können wir dort entwicklungspolitisch möglicherweise fortfahren, während in anderen Regionen unbedingt abgewartet werden muß, bis die Bevölkerung durch internationale Truppen vor Übergriffen behütet wird und dann der Umbau der Armee erfolgen kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, man wird sich immer wieder fragen: Was hat denn die Bundesrepublik mit all dem zu tun? Da gibt es Länder, die früher koloniale Verantwortung getragen haben und die näher an den Problemen stehen. Ich glaube, die Frage ist ganz einfach zu beantworten: Die Bundesrepublik spielt in Europa eine gewichtige Rolle, und die Bundesrepublik spielt auch in den Weltorganisationen eine gewichtige Rolle. Infolgedessen muß sie bei der Lösung solcher Konflikte mittun und Verantwortung mittragen.
Das war das Anliegen, das ich heute vortragen wollte.
({7})
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/6034 und 12/6053 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Ich nehme an, das Haus ist damit einverstanden. - Das ist der Fall. Dann ist es auch beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 4 c, zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. „Grundlagen deutscher Politik gegenüber den Partnerstaaten südlich und östlich des Mittelmeers, insbesondere den Maghreb-Staaten" , Drucksachen 12/4479 und 1.2/5416. Ich bitte alle diejenigen, die der Ausschußfassung zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Bei Gegenstimmen der beiden Gruppen ist der Antrag mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. angenommen worden.
Wir stimmen ab über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu den Anträgen von Abgeordneten und der Fraktion der SPD zu Zaire, Togo, Kamerun und Angola, Drucksache 12/6122. Der Ausschuß empfiehlt, die Anträge auf den Drucksachen 12/4314, 12/4315, 12/4316 und 12/4920 zusammenzuführen und in der Ausschußfassung anzunehmen. Der Änderungsantrag, der ursprünglich gestellt war, ist nunmehr zurückgezogen, und die Beschlußempfehlung ist ergänzt worden von dem Berichterstatter Toetemeyer, der eine Ergänzung offensichtlich mit Zustimmung aller vorgenommen hat. Also in der so geänderten Fassung, ohne den Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen, lasse ich jetzt über die Beschlußempfehlung abstimmen. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der PDS/Linke Liste ist die Beschlußempfehlung einstimmig angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung des Mißbrauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts ({0})
- Drucksachen 12/5630, 12/5764, 12/5940 - ({1})
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2})
- Drucksache 12/6078 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dankward Buwitt Detlev von Larcher
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 12/6079 - Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Wieczorek ({4})
Dieter Pützhofen
Dr. Wolfgang Weng ({5})
Dazu liegen Änderungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P., der Fraktion der SPD sowie der Gruppe PDS/Linke Liste und Entschließungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P., der Fraktion der SPD und der Gruppen PDS/Linke Liste und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. - Das Haus ist offensichtlich damit einverstanden.
Ich eröffne die Debatte. Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald das Wort.
Dr. Joachim Grünewald, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung den Entwurf des Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetzes. Sie wissen, daß dieser Gesetzentwurf der, wenn Sie so wollen, dritte Baustein zur Umsetzung unseres Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms ist.
Unter Federführung des Finanzausschusses haben die Ausschüsse dieses Hauses Hand an den Gesetzentwurf gelegt. Sie haben ihn kritisch analysiert, in großen Teilen bestätigt, teilweise aber auch verändert. Die kritischen Fragen bezogen sich diesmal sogar schon auf den Gesetzestitel und die dahinterstehende Frage, ob das Stopfen von Steuerschlupflöchern, die ein Gesetzeswortlaut in Einzelfällen ermöglicht, Mißbrauchsbekämpfung darstellt.
Ein Beispiel: Bei der Erbschaftsteuer ist nach geltendem Recht bei der Übertragung von nicht notierten Anteilswerten an Kapitalgesellschaften der zuletzt im Rahmen der Einheitsbewertung festgestellte Vermögenswert heranzuziehen. Das soll der Verwaltungsvereinfachung dienen, weil man davon ausgeht, daß die Geschäftstätigkeit im Laufe eines Jahres normalerweise gleichbleibt und keine außerordentlichen Veränderungen Platz greifen. Wenn nun jemand diese Regelung ausnutzt und z. B. nach der letzten Bewertung einen hohen Geldbetrag in das Betriebsvermögen einlegt, um diesen ohne steuerliche Erfassung übertragen zu können, dann ist das jedenfalls nach meinem Verständnis Mißbrauch. Schon Seneca hat gesagt: „Was das Gesetz nicht verbietet, das verbietet der Anstand. " Wir wollen uns nicht auf den Anstand verlassen und müssen deshalb das Gesetz in Einzelfällen nachbessern.
Denken Sie nur an das Problemfeld der Finanzinnovationen. Der Finanzausschuß hat in seiner Beschlußempfehlung jetzt auch Regelungen zur steuerlichen Erfassung von Finanzinnovationen aufgenommen, und zwar dankenswerterweise einvernehmlich. Dadurch wird verhindert, daß eigentlich steuerpflichtige Zinserträge als steuerfreier Wertzuwachs konstruiert werden. Den Urhebern von Umgehungsmodellen sei zugerufen, daß wir gewillt und wild entschlossen sind,
Parlamentarischer Dr. Joachim Grünewald
auf diesem Feld den Wettbewerb zwischen Hase und Igel zu gewinnen.
({6})
Nicht mehr im Gesetzentwurf enthalten ist die zunächst vorgeschlagene Abschaffung der Sparzulage für Arbeitnehmer in den alten Ländern. Sie wissen, daß die Bundesregierung diese Abschaffung zur Haushaltskonsolidierung - wir wollten dadurch 800 Millionen DM einsparen -, aber auch und insbesondere zur Steuervereinfachung vorgeschlagen hatte. In die nun abweichende Entscheidung können wir uns aber fügen, weil das entgangene Einsparvolumen durch drei andere Komponenten aufgefangen wird, nämlich den Verzicht auf die Ausdehnung des Schuldzinsenabzugs für das selbstgenutzte Wohnungseigentum auf den Baujahrgang 1995, die Absenkung der Arbeitnehmersparzulage für Produktivkapital auf 10 %, wie bei den anderen Anlageformen bekanntlich üblich, und letztlich die Verschiebung der Auszahlung der Sparzulage auf das Jahr nach Ablauf der Sperrfrist.
Eines allerdings sollten wir uns vor Augen halten: Wer in diesen finanzpolitisch schwierigen Zeiten Verantwortung trägt und Entscheidungen entsprechend den finanzpolitischen Notwendigkeiten zu treffen hat, der kann nicht immer beliebt sein, wie ich in diesen Tagen in allen möglichen Veranstaltungen leidvoll erfahre.
Abschied genommen hat der Finanzausschuß auch von den beabsichtigten Regelungen zur zeitnahen Erfassung von Veräußerungsgewinnen der Investmentfonds. Umfassende Gespräche, auch unter Beteiligung der Opposition - hier darf ich mich ganz ausdrücklich auch bei Ihnen, lieber Herr Kollege Norbert Wieczorek, herzlich bedanken -, haben zu der Auffassung des Finanzausschusses geführt, den Fonds die Möglichkeiten einer kontinuierlichen Ertragspolitik nicht durch eine Verschärfung der steuerlichen Regelungen zu beschneiden; denn in einer Vielzahl von Fällen wird hier für Sozialkapital ein verläßlicher Ertrag sichergestellt.
({7})
Eine jetzt „mit heißer Nadel" genähte Konzentration der beabsichtigten Neuregelung auf Steuersparmodelle der Branche hätte hingegen zu schier unübersehbaren Komplizierungen im Steuerrecht geführt. Die Bundesregierung respektiert ausdrücklich die Entscheidung, auf diese Maßnahme also insgesamt zu verzichten, zumal dieses Votum im Finanzausschuß einvernehmlich erging. Andererseits - das sage ich mit aller Deutlichkeit - kann diese Entscheidung für diejenigen der Branche, die die derzeitigen Regelungen tatsächlich allein aus steuerlichen Gründen ausnutzen, keineswegs Entwarnung bedeuten.
({8})
Gemeinsam, Herr Kollege Poß, Parlament und Regierung, werden wir darauf achten, daß das nicht eintritt.
Meine Damen und Herren, Sie haben sicherlich Verständnis dafür, wenn ich das Erläutern sonstiger
Änderungen des Gesetzentwurfes den Kollegen überlasse, die in den Ausschüssen die Arbeit geleistet haben, wofür ich mich ganz herzlich bedanke. Wichtig für mich ist aber, noch auf folgendes hinweisen zu dürfen. Das Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz ist keine Mogelpackung. Auch nach den jetzigen Veränderungen in den Ausschußberatungen werden die angestrebten finanziellen Volumina eingehalten. Das heißt, das Gesetz leistet seinen Beitrag zu dem 21-Milliarden-DM-Sparpaket.
Auch darf das Ausmaß der Mißbrauchsbekämpfung - für Kritiker füge ich hinzu: im weitesten Sinne - nicht am Gesamtergebnis der finanziellen Auswirkungen dieses Gesetzentwurfs gemessen werden. Denn Sie wissen, der Gesetzentwurf enthält auch steuerentlastende Komponenten, insbesondere die Senkung bei der Kraftfahrzeugsteuer für Lastkraftwagen. Mit dem heute eingebrachten ergänzenden Antrag zur Kraftfahrzeugsteuer soll durch eine weitere Tarifsenkung der schwierigen Wettbewerbslage unserer Güterverkehrsunternehmen noch besser Rechnung getragen werden.
({9})
Außerdem sollen durch die veränderte Staffelung der Tarife die sogenannten Euro I-Fahrzeuge gegenüber den Altfahrzeugen begünstigt werden. Aus verwaltungstechnischen Gründen - davon haben wir Sie ja auch wohl im Ausschuß überzeugen können - kann aber diese Regelung erst zum 1. April 1994 in Kraft treten.
Zu den steuerentlastenden Komponenten des Gesetzentwurfs gehört auch die Anhebung der Kilometerpauschale für Personenkraftwagen bei Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte. Wegen der Mineralölsteuererhöhung zur Finanzierung der Bahnreform ist es notwendig, vor allem die Belastung für Berufspendler abzufedern, die beispielsweise im ländlichen Raum keinerlei Möglichkeit haben, auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen.
Im übrigen - man kann es nicht oft genug wiederholen, und es darf einfach nicht untergehen und übersehen werden -: Beginnend mit der Steuerreform 1990 bis hin zur Refinanzierung des Standortsicherungsgesetzes sind innerhalb nur weniger Jahre steuerliche Vergünstigungen und Sonderregelungen in einer Größenordnung - man höre und staune - von insgesamt 38 Milliarden DM abgebaut worden.
Darüber habe ich jüngst gegenüber dem Kollegen Poß auf Mark und Pfennig Rechenschaft abgelegt.
({10})
Da wir ja alle wissen, daß der Kollege Poß ein außerordentlich kritischer Kollege ist - was ich ja ausdrücklich begrüße, lieber Herr Poß -, hat er meine Rechnung nicht angegriffen. Da schließe ich dann mit den Lateinern: Qui tacet, consentire videtur.
({11})
- Das hätte er längst getan. So kenne ich ihn auch.
({12})
- Das ist ja ein Kompliment, lieber Kollege Poß.
Parlamentarischer Dr. Joachim Grünewald
Die Fortsetzung dieser Arbeit muß notwendigerweise - das wissen wir doch alle - immer schwieriger werden. Das zur Genüge zitierte Beispiel vom Ausquetschen einer bereits ausgequetschten Zitrone will ich erst gar nicht bemühen. Aber ich will in Ihre Erinnerung rufen: Wir hatten uns schon in der letzten Legislaturperiode auf eine Steinbruchliste geeinigt. Diese Steinbruchliste haben wir in nächtelangen gemeinsamen Arbeiten inzwischen weitmehr als abgearbeitet.
Die neuerlich vorgelegten steuerlichen Sparvorschläge der SPD hingegen - ich bin fast geneigt zu formulieren: das ist so etwas wie „Potsdam-Variationen" - sind und bleiben einfach ungeeignet.
({13})
Das ist alter Wein in alten Schläuchen. Das sind steuerpolitische Ladenhüter.
({14})
Wollen Sie z. B. wirklich die Rückgängigmachung der Übernahme der Steuerbilanzwerte in die Vermögensaufstellung? Wollen Sie das wirklich machen, was wir in mühsamer Arbeit im Vermittlungsverfahren gemeinsam zur Verbesserung der Besteuerung unserer Unternehmen durchgesetzt haben, nicht zuletzt auch aus Gründen der Steuervereinfachung?
({15})
Liebe Kollegen von der SPD, Sie waren doch im September bei der Anhörung zur Lage der Finanzverwaltung dabei.
({16})
Ich denke, wir sollten gemeinsam alles unterlassen, was den Eindruck erweckt, daß wir die Sorgen der Bediensteten der Finanzverwaltung nicht ernst nehmen. Werfen Sie Ihren ideologischen Ballast über Bord.
({17})
Herr Kollege Hauser kommt gerade aus Österreich wieder. Ich nehme an, er wird Ihnen das erzählen, was er mir auch gesagt hat: In Österreich, unter einer sozialistischen Regierung, hat man ganz andere steuerliche Schritte vorgenommen, wie man mir vor wenigen Tagen in Garmisch-Partenkirchen auf einer großen Veranstaltung noch neidvoll und kritisch entgegengehalten hat.
Für heute erbitte ich Ihre Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. Er ist ein unverzichtbar notwendiger Schritt zur Konsolidierung und eröffnet uns damit, so hoffen wir, neue steuerpolitische und weitere finanzpolitische Handlungsspielräume.
Ich danke Ihnen sehr.
({18})
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Detlev von Larcher das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute ein umfangreiches Gesetz, ein sogenanntes Omnibusgesetz, in dem über 30 Gesetze geändert und eine Vielzahl von Paragraphen neu gefaßt werden.
Die Bundesregierung, die Koalitionsfraktionen, haben ihm den Namen „Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz" gegeben. Ich habe mich an dieser Stelle schon einmal über die wohlklingenden, die wahren Absichten verschleiernden Gesetzesnamen geäußert, die diese Bundesregierung ihren Gesetzesvorlagen verleiht. Es kommen gerne die positiv besetzten Begriffe wie „Solidarität", „Wachstum" und „Standortsicherung" vor - wohlklingende Überschriften. Aber schaut man in den Gesetzestext, stellt man fest: Unter „Standortsicherung" versteht diese Bundesregierung Steuergeschenke an die Unternehmen. Unter „Solidarität" versteht diese Regierung: Der Schwache gibt, der Starke nimmt. Unter „Wachstum" ist zu verstehen: Den Unternehmen werden die Steuersätze gesenkt, und gleichzeitig wird die Nachfrage geschwächt, indem man die Einkommen kürzt, die fast ausschließlich in den Konsum gehen, also unmittelbar nachfragewirksam sind.
({0})
So ähnlich verhält es sich auch mit dem heute zu beratenden Gesetz. Der Vorsitzende im Finanzausschuß hat am Schluß der Ausschußberatung zu Protokoll gegeben, dieses Gesetz solle seiner Meinung nach schlicht „Steueränderungsgesetz 1993" heißen. Recht hat er.
({1})
Denn geändert wird durch dieses Gesetz viel; aber die Mißbrauchsbekämpfung ist, verglichen mit den hochtrabenden Ankündigungen in der ersten Lesung, fast auf Null geschrumpft, und bereinigt wird nur wenig.
({2})
Als wir in den Ausschußberatungen an den Punkt kamen, an dem klar wurde, daß von den angekündigten 1,2 Milliarden DM - der Herr Staatssekretär hat es schon angesprochen - Steuermehreinnahmen durch die Bekämpfung des Steuermißbrauchs in einem einzigen Bereich - 650 Millionen DM zuviel angesetzt worden waren, sagte Herr Gattermann, symbolische Politik zahle sich nicht aus oder doch nur drei oder vier Tage lang - will in unserem Falle heißen: nur bis das Gesetz im Finanzausschuß beraten wird.
({3})
Die Mitglieder der Bundesregierung sollten sich endlich hinter die Ohren schreiben: Quidquid agis, prudenter agas et respice finem.
({4})
Was immer du tust, fange es klug an, und bedenke das
Ende! Zu dieser Äußerung sah sich Herr Rind an
diesem Punkt veranlaßt. Aber weder von einem klugen Anfang ist hier zu berichten, noch, glaube ich, ist das Ende bedacht worden.
Unser Ausschußvorsitzender, Herr Gattermann, hat am 8. November 1991 aus Anlaß der zweiten und dritten Beratung des Steueränderungsgesetzes 1992 eine bemerkenswerte Äußerung zum damaligen Verfahren im Finanzausschuß gemacht. Er sprach von einer Grenze, die überschritten wurde, „bei der man selbst noch das Gefühl hatte, seriöse Arbeit zu leisten" , weil bis zur letzten Minute Änderungsanträge vorgelegt wurden. „Es besteht natürlich auch die dringende Gefahr" , so sagte er, „daß die Qualität der Gesetzesarbeit darunter leidet", und er versprach, daß er so ein Verfahren nie mehr zulassen werde.
Wir haben den Vorsitzenden in der Folgezeit mehrfach an sein Versprechen erinnert. Aber beim Verbrauchsteuer-Binnenmarktgesetz, beim Standortsicherungsgesetz, beim Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms und jetzt bei diesem Gesetz haben wir es immer wieder mit demselben unmöglichen Beratungsverfahren zu tun gehabt. Herr Gattermann hat sich dabei zwar immer wieder verbal in die Schuhe der Kritiker gestellt - es tut mir leid, daß er jetzt nicht da ist -, aber entgegen seinem damaligen Versprechen hat er nichts unternommen, das inzwischen wirklich untragbar gewordene Verfahren, das keine seriöse Arbeit mehr zuläßt, zu unterbinden. Wir haben Herrn Gattermann beim Wort genommen. Das ist ein Kompliment; aber deswegen ist natürlich die Enttäuschung, daß dennoch keine Besserung eingetreten ist, um so größer.
({5})
Betrachten wir den Inhalt dieses Gesetzes, geht es mit Enttäuschung gleich weiter. Das Gesetz soll nach den selbstformulierten Zielsetzungen der Bundesregierung ein Gesetz zur Bekämpfung des Mißbrauchs im Steuerrecht, zum Abbau von Steuervergünstigungen und zur Steuervereinfachung sein. Leider sind Anspruch und Wirklichkeit dieses Gesetzes in etwa so weit voneinander entfernt wie Bundesminister Waigel von einer soliden Haushaltsführung.
({6})
Die Bekämpfung des Mißbrauchs im Steuerrecht geschieht bei diesem Gesetzesverfahren nur im Titel, aber nicht im Inhalt. Nach Schätzung der Deutschen Steuergewerkschaft sind 1992 allein in den alten Bundesländern Steuerausfälle in Höhe von mindestens 130 Milliarden DM entstanden.
({7})
Nach den Ausschußberatungen rechnet die Bundesregierung für 1994 in diesem Bereich mit Steuermehreinnahmen nur noch in Höhe von einer halben Milliarde DM und für 1995 lediglich in Höhe von einer Milliarde DM.
({8})
Welch ein krasses Mißverhältnis!
Übrigens zeigt die Bundesregierung in diesem Punkt Geradlinigkeit: Wenn Sie sich das Ergebnis der Steuerschätzung, die der Bundesfinanzminister gestern veröffentlicht hat, ansehen, werden Sie feststellen, daß die Zinsabschlagsteuer noch nicht einmal die Hälfte der vom Bundesfinanzminister angesetzten Steuermehreinnahmen bringt. Knapp 13 Milliarden DM in diesem Jahr, und 16,5 Milliarden DM im kommenden Jahr fehlen dem Staat an Steuereinnahmen allein dadurch, daß der Bundesfinanzminister nicht bereit ist, die Steuerhinterziehung bei den Zinseinkünften wirksam zu bekämpfen. Schon heute rächt sich, daß Bundesfinanzminister Waigel im Zusammenhang mit der Zinsbesteuerung nach dem Motto verfahren ist: Es muß etwas geschehen, aber es darf nichts passieren.
({9})
Hier zeigt sich nämlich, daß man Haushaltslöcher nicht mit Schlupflöchern stopfen kann.
Da sich die Kapitalertragsteuer spätestens jetzt endgültig als Flopp erwiesen hat, wird sich die SPD erneut dafür einsetzen, daß der Schutz der großen Steuerhinterzieher durch den vom Bundesfinanzminister Waigel hartnäckig verteidigten § 30 a der Abgabenordnung endgültig beseitigt wird.
({10})
Der Abgeordnete Uldall möchte eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit, sie zu beantworten? Ich werde sie nicht anrechnen.
Das soll er tun.
Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.
Herr Kollege, auch wenn Ihre Ausführungen jetzt schon etwas zurückliegen, weil mir nicht sofort das Wort erteilt wurde, darf ich Sie fragen, ob die Nichterzielung der ursprünglichen Ansetzung beim Zinsabschlag nicht auch darauf zurückzuführen sein könnte, daß die deutschen Steuerzahler ehrlicher gewesen sind, als es von Ihnen und von uns und allgemein unterstellt wurde.
Herr Kollege Uldall, das wäre sehr schön, nur, ich glaube nicht daran. Wir haben uns im Ausschuß auch damals schon über den § 30 a der Abgabenordnung unterhalten. Es ist wirklich so: Er schützt die großen Steuerhinterzieher, und Sie sind nicht bereit, ihn abzubauen.
Zum zweiten: Der längst überfällige, auch von Forschungsinstituten und Verbänden immer wieder angemahnte Abbau von Steuervergünstigungen findet in diesem Gesetz wiederum nicht statt. Viele Steuervergünstigungen für die ausgesprochen Wohlhabenden in unserer Gesellschaft werden statt dessen weiterhin zum Tabu erklärt.
Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, wollen wie die Bundesregierung unverändert an den völlig ungerechtfertigten Steuervorteilen für eine kleine gutsituierte Minderheit festhalten und
damit bewußt weiterhin auf Steuereinnahmen in Milliardenhöhe verzichten. Das ist angesichts der Opfer, die Sie von Otto und Lisa Normalverbraucher und sogar von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern verlangen, wahrhaftig ein Skandal.
({0})
Warum haben Sie beispielsweise unsere Anträge abgelehnt, mit der steuerlichen Absetzbarkeit der Kosten für Hausgehilfinnen und von Schmiergeldern Schluß zu machen? Warum beharren Sie auf der unbegrenzten Absetzbarkeit betrieblich genutzter Luxus-Pkws? Für 80 000 DM bekommt man doch wohl ein schönes Auto, mit dem vorzufahren sich kein Manager und Unternehmer schämen mußte. Warum sind Sie gegen diese von uns beantragte Begrenzung? Warum soll ein Zahnarzt weiterhin die Kosten seines Autos von der Steuer absetzen können, wenn er nicht zu seinen Patienten fährt, sondern sie zu ihm kommen?
({1})
Warum haben Sie das alles abgelehnt, wo Sie doch beim Abbau von Sozialleistungen so bedenkenlos vorgehen?
Ich sage Ihnen die Antwort: Weil sich in dieser Regierungskoalition immer die Interessenvertreter jener kleinen gutsituierten Minderheit durchsetzen. Sie machen hier Interessenpolitik für eine kleine reiche Minderheit und lassen dafür die breite Bevölkerungsmehrheit einschließlich der Schwächsten in unserer Gesellschaft bluten. Das ist eine Schande.
({2})
Herr Abgeordneter Larcher, das veranlaßt den Abgeordneten Hauser, eine Zwischenfrage zu stellen, wenn Sie sie beantworten wollen.
Bitte sehr.
Bitte.
Herr Kollege von Larcher, würden Sie mir bitte erklären, wie ein Zahnarzt seine Fahrten oder seinen Pkw absetzen kann, wenn er dem Finanzamt nicht nachweisen kann, daß er diesen Pkw betrieblich benutzt?
Er bekommt doch eine Pauschale dafür.
({0})
- Das ist nicht falsch.
({1})
Er muß jede Fahrt abrechnen.
Ich darf die Frage wiederholen: Würden Sie mir bitte erklären, wie ein Zahnarzt seinen Pkw betrieblich absetzen kann, wenn er diesen Pkw nicht betrieblich nutzt? Ich hätte gern eine Antwort auf diese Frage.
Er gibt doch vor, ihn betrieblich zu nutzen. Deswegen wird er dann eben doch abgesetzt. Er muß ihn aber nicht benutzen, weil die Patienten zu ihm kommen, und er geht nicht zu den Patienten. Das ist doch so.
({0}) - Das ist nicht falsch.
({1})
Daß es auch beim Sparen gerecht zugehen muß, will Ihnen nicht in den Kopf. Lassen Sie sich vom DIW sagen, daß Sie kurzsichtig handeln, wenn Sie in einer Situation, in der sich das soziale Sicherungssystem zu bewähren hat, die sozialen Leistungen beschneiden und den Umfang von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen einschränken. Das Forschungsinstitut fordert wie wir den Abbau von Steuervergünstigungen. Es stellt aber resignierend fest:
Kraft und Willen fehlen im übrigen auch bei der Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, dem Mißbrauch von Steuervergünstigungen oder dem stärkeren Eintreiben von Steuerrückständen.
Ich sage: Vor allen Dingen der Wille fehlt; denn die Kraft, die Sie für alternative, sozial gerechte Maßnahmen gebraucht hätten, haben wir Ihnen ja geliehen. Wir haben Ihnen im Finanzausschuß 14 Vorschläge gemacht; Sie finden sie heute in unserem Entschließungsantrag wieder. Sie hätten nur Ihre Hand an der richtigen Stelle heben müssen. Sie haben aber alle Vorschläge abgelehnt. Hinter den von Ihnen angeführten Begründungen scheint immer Ihre Ideologie durch; Sie können sie nicht mehr verbergen.
Zu deutlich wird jedermann, in welche Richtung Sie schon seit 1982 steuern: rigorose Umverteilung von unten nach oben und von der Sozialen Marktwirtschaft zur Ellenbogengesellschaft, in der die Schwachen unter die Räder kommen.
({2})
Dafür werden Sie in spätestens einem knappen Jahr die Quittung bekommen; da bin ich ganz sicher.
({3})
- Ja, ja. Uns werfen Sie Ideologie vor. Wenn man Ihnen Ihre aufzeigt, dann trifft Sie das natürlich.
({4})
Im übrigen trug sich auch bei der Beratung unserer Vorschläge zum Abbau von Steuervergünstigungen Bemerkenswertes zu. Spontan, wie er ist, brach es aus dem Kollegen Hauser heraus: „Schon wieder eure altbekannten Vorschläge! " oder so ähnlich. Es stimmt, wir haben sie Ihnen schon mehrfach vorgelegt; Sie haben sie stets abgelehnt. Was Herr Hauser aber übersehen hat, ist die Sprachregelung seines Freun16260
des Theo Waigel, der immer behauptet, wir, die SPD, hätten gar keine konkreten Alternativen.
({5})
Ich würde mich schon auf eine Version einigen.
Zu begrüßen ist, daß meine Damen und Herren Koalitionäre von ihrer Absicht abgerückt sind, den Schuldzinsenabzug noch ein Jahr länger zu gewähren. Auf einmal soll das stark gesunkene Zinsniveau der Grund sein. In Wahrheit haben Sie doch wohl Angst vor der eigenen Courage bekommen, den Schuldzinsenabzug zu verlängern, aber gleichzeitig das Schlechtwettergeld und die Arbeitnehmersparzulage zu streichen.
So begrüßenswert es nun ist, daß Sie an dieser Stelle unseren Forderungen nachgekommen sind, müssen wir kritisieren, daß Sie das Schlechtwettergeld streichen wollen, wenn auch ein Jahr später als geplant. Sie sollten jedoch die Hände ganz vom Schlechtwettergeld lassen. Sie säen Wind und ernten Sturm; die 120 000 Bauarbeiter in Bonn sollten Ihnen Warnung genug sein.
Sie wollen darüber hinaus diese Verlängerung durch die Einschränkung bei der steuerlichen Förderung des Wohnungsbaus finanzieren. Dazu stelle ich fest: Zum einen besteht überhaupt kein sachlicher Zusammenhang. Zum anderen ist angesichts der großen Wohnungsnot eine Reduzierung des Volumens der Wohnungsbauförderung nicht hinnehmbar. Vielmehr muß die steuerliche Förderung des Wohnungsbaus zumindest im bisherigen Umfang beibehalten werden. Allerdings muß sie effizienter und gerecht ausgestaltet werden; auch dazu liegen Ihnen unsere Vorschläge vor. Wann endlich hören Sie auf, sich dagegen zu sperren?
Entgegen Ihren ursprünglichen Absichten streichen Sie die Arbeitnehmersparzulage nicht. Sie halbieren aber den Zulagensatz für Produktivkapitalbeteiligungen auf 10 %. Den Anreiz zur Vermögensbildung von Arbeitnehmern mindern Sie noch zusätzlich dadurch, daß die Zulage erst am Ende der Laufzeit, nach sieben Jahren, ausgezahlt werden soll.
Angesichts der starken Inflationsrate bleibt von den 10 % nach sieben Jahren kaum etwas übrig. Die Kosten der Vermögensbildung verschieben Sie so auf künftige Haushaltsjahre - eine heimliche Erhöhung der Staatsverschuldung, wie unser Kollege Poß richtig bemerkt hat. Sie rechnen wohl selbst damit, daß Sie in sieben Jahren nicht mehr darüber nachdenken müssen, wie die Steuermittel zur Finanzierung der Arbeitnehmersparzulage aufzubringen sind. Mit dieser Kalkulation liegen Sie richtig; denn schon in knapp einem Jahr werden Sie auf der Oppositionsbank Platz nehmen müssen.
Herr von Larcher, ich muß Sie noch einmal stören. Der Abgeordnete Poß möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte sehr.
Herr Kollege Larcher, gestatten Sie mir, daß ich auf den Disput mit dem Kollegen Hauser zurückkomme und Ihnen die Frage stelle, ob es zutrifft, daß nach Abschnitt 118 Abs. 2 der Einkommenssteuerrichtlinien aus Vereinfachungsgründen ohne Nachweis davon ausgegangen werden kann, daß der betriebliche Nutzungsanteil für Pkw bei 65 bis 70 % liegt und daß dies grundsätzlich auch für Zahnärzte gilt?
Herr Abgeordneter Poß, es mag sein, daß Herr von Larcher das gestattet. Aber darüber, ob ich eine solche Dreiecksfrage - die es offensichtlich ist - zulasse, möchte ich noch nachdenken. Vielleicht wird er geschickt genug sein, auf Ihre Frage einzugehen.
Ich bin schon darauf eingegangen. Ich habe versucht, es zu sagen; ich habe nur die entsprechende Vorschrift nicht zitiert. Aber die Koalitionsfraktionen beliebten zu rufen, das sei nicht wahr.
({0})
Ich will jetzt noch eine Bemerkung zu den Spezialfonds machen; ich sprach schon anfangs darüber. Im Regierungsentwurf waren für eine zeitnahe Besteuerung als thesaurierte Erträge Steuermehreinnahmen von 850 Millionen DM im Entstehungsjahr bzw. 650 Millionen DM im Rechnungsjahr 1994 veranschlagt. Wir haben diese Kalkulation schon in der ersten Beratung als Luftbuchung moniert. Jedoch wies das BMF unseren Einwand zurück und behauptete steif und fest, die Mehreinnahmen würden tatsächlich hereinkomm en.
Im Finanzausschuß haben wir zu diesem Punkt auf einem Gespräch mit Experten bestanden. Da wurde dann schnell klar, daß wir richtig lagen. Dies war die Stelle, an der Herr Gattermann von symbolischer Politik sprach, die sich nicht auszahle. Und dies ist die Stelle, die zu der großen Verminderung der Steuermehreinnahmen geführt hat.
Eine Steuervereinfachung beschert uns dieses Gesetz ebenfalls nicht. Seit ihrem Regierungsantritt spricht diese Bundesregierung immer wieder von Steuervereinfachung. Tatsache ist jedoch, daß keine Bundesregierung unser Steuerrecht so verwüstet hat wie diese.
Die Anhörung des Finanzausschusses am 22. September 1993 - Sie haben sie erwähnt - belegt dies ebenso wie die Kritik des Präsidenten des Deutschen Steuerberaterverbandes, .Jürgen Pinne. Er hat bei der Eröffnung des 16. Deutschen Steuerberatertages in München deutliche Worte gefunden. Da war von „Wegwerfgesetzen" die Rede, weil Steuergesetze, kaum beschlossen, schon wieder geändert werden. In dem von der Bundesregierung angerichteten Steuerchaos seien die meisten Steuerberater nicht mehr in der Lage, sich auf dem laufenden zu halten, so Herr Pinne. Wenn er unser Gesetz anspricht, dann hat er recht, denn dies Gesetz vereinfacht nicht, sondern verkompliziert. Sehen Sie sich nur die Vorschriften an, die die sogenannten Finanzinnovationen betreffen! Also gilt auch für den Punkt „Steuervereinfachung" unter dem Strich: Fehlanzeige.
Dieses Gesetz ist kein Gesetz gegen Mißbrauchsbekämpfung. Dieses Gesetz leistet keinen Beitrag zum Abbau von Steuervergünstigungen. Dieses Gesetz dient nicht der Steuervereinfachung. Darum werden wir dieses Gesetz heute ablehnen.
({1})
Unsere Alternative haben wir im Ausschuß deutlich gemacht. Ich skizziere sie hier kurz:
Erstens konsequente und ernsthafte Bekämpfung der Steuerhinterziehung und der Wirtschaftskriminalität. Hier kann und muß viel mehr getan werden, als es diese verbrauchte Bundesregierung tut.
Zweitens Abbau von Steuervergünstigungen entsprechend unseren Vorschlägen.
Drittens Steuervereinfachung, z. B. beim Familienlastenausgleich die Beseitigung des komplizierten Nebeneinanders von ungerechten Kinderfreibeträgen, Kindergeld und Kinderzuschlägen durch ein für alle Kinder gleich hohes Kindergeld.
({2})
Steuervereinfachung, z. B. durch die Umgestaltung der steuerlichen Wohneigentumsförderung. Der komplizierte, ungerechte und ineffektive § 10 e Einkommensteuergesetz sollte durch einen einfachen und gerechten Eigenheimabzugsbetrag ersetzt werden, der von der Steuerschuld abgezogen wird und deshalb unabhängig von der Einkommenshöhe gleichmäßig wirkt. Es ist doch nicht einzusehen, warum ich für mein Eigenheim eine höhere Förderung bekomme als beispielsweise ein Facharbeiter.
({3})
Steuervereinfachung, z. B. durch den Ersatz der Kilometerpauschale durch eine verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale, eine Maßnahme, die auch der Bundesrat vorschlägt und die nicht nur das Steuerrecht vereinfachen würde, sondern auch ökologisch höchst vernünftig wäre.
({4})
- Nicht viel mehr als das, was Sie hier mit der Kilometergelderhöhung vorschlagen: maximal 200 Millionen DM. Das ist die Antwort des Bundesfinanzministeriums.
({5})
- Ich kann Ihnen das an Hand Ihrer Antwort zeigen.
Wir stellen unseren Antrag zur Einführung einer verkehrsmittelunabhängigen Entfernungspauschale hier im Plenum erneut zur Abstimmung, um Ihnen die Gelegenheit zu geben, ökologische Vernunft walten zu lassen. Übrigens: Ihre Verkehrspolitiker sind doch auch schon auf dem Dreh.
({6})
- Die F.D.P. hat es auch beschlossen.
({7})
Die Erhöhung der Kilometerpauschale ist ein völlig falsches Signal. Sie ermuntert die Arbeitnehmer gerade nicht, darüber nachzudenken, ob es nicht doch eine Möglichkeit gibt, mit einem anderen Verkehrsmittel zur Arbeitsstelle zu kommen oder wenigstens beim nächsten Autokauf ein Fahrzeug mit niedrigem Spritverbrauch auszuwählen. Sie ermuntert nicht zur Bildung von Fahrgemeinschaften. Das alles aber würde die Entfernungspauschale bewirken.
Schließlich wären unsere Vorschläge zum Abbau von Steuersubventionen ebenfalls ein Beitrag zur Steuervereinfachung.
Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, hätten es doch ganz leicht. Wir haben Ihnen zu diesem Gesetz und darüber hinaus eine Fülle von vernünftigen Vorschlägen ausgearbeitet, Sie bräuchten nur zuzugreifen. Aber dazu müßten Sie sich ja nicht nur für die kleine Schicht mit hohen und höchsten Einkommen verantwortlich fühlen, sondern für alle Menschen in unserem Land.
Dazu müßten Sie ja Abschied nehmen von Ihrer Ideologie: Wenn es denen da oben gut geht, geht es allen gut - ein Glaubenssatz, zu dem sich zu meinem großen Erstaunen plötzlich auch die Christlichen Arbeitnehmer bekennen, ein Glaubenssatz, der jedoch mit der traurigen Realität nichts gemein hat, sondern nur das ideologische Zerrbild einer interessengeleiteten Klientelpolitik ist.
({8})
Mit diesem Gesetz, das Sie gleich mit Ihrer Mehrheit verabschieden werden, kassiert die Bundesregierung erneut bei denjenigen ab, die gerade noch das Notwendigste zum Leben haben, und verschont wieder einmal die Wohlhabenden. Die Mißbrauchsbekämpfung im Sozialbereich ist Ihr großes Thema. Die Bekämpfung des steuerlichen Mißbrauchs ist für diese Bundesregierung lediglich Alibi, und vom Volumen her gerät sie zur Farce.
Wir, die SPD, zeigen mit unserem Konzept, daß durch entschiedene Bekämpfung der Steuerhinterziehung und der Wirtschaftskriminalität und durch den Abbau von ungerechtfertigten Steuersubventionen die notwendigen Mehreinnahmen des Staates möglich sind, ohne daß die zutiefst ungerechten und zudem ökonomisch verfehlten Einschnitte in das soziale Netz vorgenommen werden müssen.
Dieses miserable Gesetz kann daher unsere Zustimmung nicht finden.
({9})
Herr Abgeordneter von Larcher, Sie hatten die Abwesenheit
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
des Kollegen Gattermann erwähnt. Ich hoffe, daß Sie wie ich der Meinung sind, daß die Abwesenheit voll gerechtfertigt ist, weil er sich in vorbildlicher Weise um seine familiären Pflichten bemühte.
Herr Präsident, ich habe das gar nicht kritisiert. Ich habe es bedauert, weil ich eine Passage hatte, in der ich ihn persönlich ansprechen wollte, und da habe ich mein Bedauern zum Ausdruck gebracht.
Dann darf ich nunmehr dem Abgeordneten Hansgeorg Hauser ({0}) das Wort erteilen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Leider ist meine Redezeit nicht lange genug, um die Ausführungen des Kollegen von Larcher hier ausreichend in Frage zu stellen. Denn das, was er alles gebracht hat, ist wirklich so haarsträubend, daß man hier im einzelnen alles ganz genau widerlegen müßte, und dafür reicht leider die Zeit nicht.
({0})
Mit dem heute zu verabschiedenden Gesetz zur Bekämpfung des Mißbrauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts verfolgen wir neben anderen Schwerpunkten das Ziel, unerwünschten Steuergestaltungen, nicht gerechtfertigten Steuersubventionen und mißbräuchlicher Inanspruchnahme steuerlicher Regelungen einen Riegel vorzuschieben.
Das Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz hat einen Titel, über den wir schon in der letzten Debatte diskutiert haben und der uns nicht besonders gefällt, weil natürlich Steuergestaltungen, die gesetzlich möglich sind, kein Mißbrauch sind. Man muß das einschränken, das verstehe ich schon. Es ist nicht alles Mißbrauch, was hier gesetzlich möglich ist.
Wir liegen mit diesem Gesetz auf der Linie aller größeren Steuergesetze der letzten Jahre, die jedenfalls auch die Einschränkung steuerlicher Subventionen
({1})
und ungerechtfertigter steuerlicher Vorteile zum Ziele hatten. Ich kann deshalb nicht verstehen, daß Sie von der SPD und von der Opposition dieses Gesetz nicht mittragen, wo wir hier ausdrücklich eine ganze Reihe von Steuerschlupflöchern schließen. Genau das haben Sie sich doch auch zum Ziel gesetzt.
Noch weniger verstehe ich Ihren Vorwurf, die Koalition tue nicht genug gegen steuerliche Mißbräuche. Das haben Sie in Debatten über die vorangegangenen Steuergesetze auch immer behauptet. Ich will diesen falschen Behauptungen einfach einmal die Fakten gegenüberstellen.
Tatsache ist, daß allein die bisherigen Maßnahmen zur Einschränkung steuerlicher Subventionen und ungerechtfertigter steuerlicher Vorteile zu Steuermehreinnahmen von jährlich rund 38 Milliarden DM geführt - Herr Staatssekretär Dr. Grünewald hat es bereits erwähnt - und damit in erheblichem Maße zur Haushaltskonsolidierung und zu einem Mehr an Steuergerechtigkeit beigetragen haben. Das ist, meine ich, eine Bilanz, die sich wirklich sehen lassen kann.
Auch Sie, Herr von Larcher, haben eine Zahl zitiert, die so nicht richtig ist. Das vorliegende Gesetz führt zu Mehreinnahmen in einer Größenordnung von fast 2,5 Milliarden DM. Sie dürfen nicht diese eine Zahl nehmen, die saldiert ist. Sie müssen die Zahlen brutto rechnen und können hier keine Verrechnungen anstellen.
Dies veranlaßt nun den Kollegen von Larcher zu einer Zwischenfrage.
Herr Kollege Hauser, würden Sie mir dennoch zustimmen, daß, wenn wir nur den Teil Mißbrauchsbekämpfung ansehen, nicht mehr herauskommt als im ersten Jahr eine halbe und im zweiten Jahr eine Milliarde DM?
Herr von Larcher, Sie müssen die Zahlen genauer anschauen. Die Zwischensumme, die hier gebildet ist, ist eine Nettozahl. Diese Nettozahl sagt nicht aus, was brutto erreicht wird. Es werden hier Maßnahmen saldiert, die Steuermehreinnahmen bewirken, und Maßnahmen, die zur Haushaltskonsolidierung an anderer Stelle eingespart werden. Das ist eine Nettozahl, eine saldierte Zahl. Sie müssen sich das bitte genau anschauen. Nehmen Sie sich die einzelnen Posten vor, und addieren Sie das auf, dann kommen Sie zu einer ganz anderen Zahl.
Darf ich noch eine Zusatzfrage stellen?
Darf Herr von Larcher noch eine Zusatzfrage stellen?
Ja, bitte.
Das, was Sie sagen, bedeutet doch nicht, daß ich die Zahlen, die von der Bundesregierung ursprünglich vorgegeben wurden, nicht mit dem vergleichen kann, was jetzt dabei herauskommt. Wenn Sie von Saldierung sprechen: Würden Sie mir zustimmen, daß es doch wohl nicht wahr sein kann, wenn beispielsweise in der Antwort der Bundesregierung auf unsere Frage nach den Zahlen auf einmal die Mehreinnahme durch die Mehrwertsteuer, die sich aus der Mineralölsteuererhöhung ergibt, auftaucht und das unter Mißbrauchs-bekämpfung firmiert wird.
Sehen Sie, das ist wieder die typische Art, mit der Sie versuchen Polemik zu machen.
({0})
- Ich habe Sie gerade darauf hingewiesen. Sie müssen die Zahlen nehmen, die im einzelnen aufgeführt sind. Dann müssen Sie daraus eine Bruttosumme ermitteln. Wenn ich beispielsweise eine ZwischenHansgeorg Hauser ({1})
summe aus Haushaltskonsolidierung, Steuermißbrauchsbekämpfung usw. nehme, dann komme ich zu einer Nettozahl, die nicht die richtige Aussage trifft. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen. Rechnen Sie das bitte noch einmal nach, dann werden Sie zu diesen Zahlen kommen.
({2})
Am allerwenigsten, Herr Kollege von Larcher, kann ich ihre sogenannten Alternativen zu unserem Gesetzentwurf verstehen. Auf diese ollen Kamellen, die Sie trotz der vernichtenden Kritik aus Steuerpraxis und Steuerwissenschaft gebetsmühlenhaft zum x-ten Male vortragen, werde ich nachher noch im einzelnen zurückkommen.
({3})
Lassen Sie mich zunächst kurz auf einige wichtige Maßnahmen des Gesetzentwurfes eingehen: Im Bereich des Außensteuerrechts sind zu nennen:
Der Abzug fiktiver ausländischer Steuern von der Steuerbemessungsgrundlage ist künftig ausgeschlossen.
Steuersparende Gestaltungen durch Verlagerung von Gewinnen ins Ausland werden massiv eingeschränkt. Damit wird nicht nur verhindert, daß insbesondere für Konzernfinanzierungsgesellschaften erhebliche Steuervorteile in Anspruch genommen werden können, sondern auch sichergestellt, daß eine angemessene Besteuerung im Inland erfolgt.
Dem sogenannten Treaty-shopping, d. h. der mißbräuchlichen Ausnutzung eines Doppelbesteuerungsabkommens, wird ein Riegel vorgeschoben.
Von besonderer Bedeutung sind die Regelungen zur Besteuerung der sogenannten Finanzinnovationen. Diese im Spar- und Konsolidierungsprogramm angekündigten Maßnahmen haben auf dem Markt bereits Wirkung gezeigt. Steuertricksern ist es nun verwehrt, steuerpflichtige Zinserträge als steuerfreien Wertzuwachs zu konstruieren und damit der Besteuerung zu entziehen. Wir haben hier eine wirtschaftliche Betrachtungsweise eingeführt und kommen somit zu einer anderen Beurteilung als vorher.
Unerwünschte Gestaltungsformen zur Erlangung des umsatzsteuerlichen Vorsteuerabzugs bei der Vermietung von Grundstücken werden weiter eingeschränkt, wobei für im Bau befindliche Objekte eine Übergangsregelung gilt.
Immobilieninvestitionen ausländischer Objektgesellschaften werden steuerlich erfaßt.
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, bemängeln an dem Gesetz, das sei alles noch viel zu wenig, um steuerlichen Mißbräuchen wirksam entgegenzutreten. Dazu muß man klipp und klar sagen - wie ich das eingangs angemerkt habe -, daß durch gesetzliche Regelungen allein Steuermißbräuche nicht verhindert werden können. Notwendig ist vielmehr auch die Überwachung und Durchführung der Gesetze. Für diese Aufgaben sind jedoch die Bundesländer zuständig; der Bund kann eben nicht neue Finanzbeamte einstellen oder mehr Betriebsprüfer in die Betriebe schicken. Nehmen Sie doch diese finanzverfassungsrechtliche Realität endlich zur Kenntnis, und hören Sie auf, mit der falschen Behauptung durch die Lande zu ziehen, der Bund tue nicht genug gegen Mißbräuche im steuerlichen Bereich.
({4})
Nebenbei gesagt: Wenn Sie sich in diesem Zusammenhang immer wieder auf die Zahlen der Deutschen Steuergewerkschaft berufen, die von einem Steuerausfall in Höhe von rund 130 Milliarden DM spricht, so stützt das keinesfalls Ihre Argumentation. Diese Berechnungen beruhen auf Schätzungen über den Umfang der sogenannten Schattenwirtschaft. Die beste und erfolgreichste Methode, Schwarzarbeit zu unterbinden, ist, die Steuertarife zu senken, nicht aber -- wie es Ihnen offenbar vorschwebt -, hinter jeden Steuerpflichtigen einen Finanzbeamten zu stellen.
({5})
- Das wird aber von dieser Seite hier immer wieder verlangt. Es wird immer wieder davon gesprochen, man müsse das besser überwachen. Letzten Endes bleibt Ihnen nur noch übrig, jeden einzelnen Steuerpflichtigen der Steuerhinterziehung zu verdächtigen und ihn dann zu überprüfen.
({6})
Ihre sogenannten Alternativvorschläge zur Mißbrauchsbekämpfung sind nun - ich habe das schon erwähnt - zum x-ten Male vorgetragen worden. Das ist ein trauriges Kapitel. Ich will es Ihnen ersparen, jetzt noch einmal all das darzustellen, was man vorgeschlagen hat. Ich finde es Unsinn, die Vermögensteuerbefreiung in den neuen Bundesländern wieder aufheben zu wollen. Es ist Unsinn, den Ansatz der Steuerbilanzwerte bei der Vermögensteuer und der Gewerbekapitalsteuer wieder rückgängig machen zu wollen, den Bewertungsabschlag beim Betriebsvermögen wieder abzuschaffen und den Freibetrag bei der Vermögensteuer wieder auf 125 000 DM abzusenken. Sie können in den Protokollen nachlesen, welche Begründungen der Ablehnung all dessen wir gebracht haben.
Sie haben vorgeschlagen, die Abzugsfähigkeit der Bewirtungskosten und der Werbegeschenke abzuschaffen, die Pkw-Abschreibung zu senken,
({7})
die Absetzbarkeit von Schmiergeldern abzuschaffen. Sie führen immer wieder das „ Dienstmädchenprivileg " an.
({8})
Meine Damen und Herren, zu jedem einzelnen Punkt gibt es ausführliche Begründungen, die darlegen, warum wir Ihnen in diesen Punkten nicht folgen.
({9})
Hansgeorg Hauser ({10})
Das sind sehr gute Begründungen. Beispielsweise zum Thema Dienstmädchenprivileg: Fragen Sie doch einmal Ihre Gewerkschaften, was sie dazu sagen. Sie wollen erreichen, daß solche Beschäftigungsverhältnisse wieder unter die Steuerpflichtgrenze fallen.
({11})
Damit erreichen Sie, daß solche Beschäftigungsverhätnisse in bezug auf die Sozialversicherung wieder erheblich schlechtergestellt werden.
({12})
Der Abgeordnete Poß möchte eine Zwischenfrage stellen. Herr Abgeordneter Hauser, sind Sie bereit, diese zuzulassen?
Ich möchte zum Schluß kommen. - Noch kurz zu dem Thema der Schmiergelder: Wir haben beim letzten Mal in aller Deutlichkeit erklärt, daß Schmiergelder im Inland nicht abzugsfähig sind, es sei denn, es wird der Empfänger genannt. Wenn dies der Fall ist, muß entweder der Empfänger oder der Zahlende diese Gelder versteuern. Ins Ausland fließende Schmiergelder können jederzeit als Provision oder als sonst irgend etwas umdeklariert werden. Das, was Sie hier machen wollen, geht absolut ins Leere. Es ist der falsche Platz, das unter moralischen Gesichtspunkten zu betrachten. Es geht um die Steuergesetzgebung.
({0})
Die Besteuerung dieser Zahlungen ist sichergestellt. Das möchte ich in aller Deutlichkeit noch einmal sagen.
({1})
- Lieber Herr Poß, wenn Sie solche Zwischenrufe machen, muß ich annehmen, daß Sie offensichtlich weder die Rechtsprechung zu solchen Themen noch die Steuergesetzgebung dazu kennen.
({2})
Sie sollten sich damit einmal beschäftigen. Dann können Sie dazu etwas erklären.
({3})
Ich kann Ihnen abschließend nur eines raten: Setzen Sie sich einmal mit den Finanzpolitikern Ihrer österreichischen Schwesterpartei zusammen. In Österreich wird zur Zeit unter Federführung der SPÖ eine Steuerreform gemacht, die u. a. die Abschaffung der Vermögensteuer und der Gewerbesteuer vorsieht. Dort hat man inzwischen eingesehen, daß mit Ideologie von gestern und Schüren von Neidkomplexen keine zukunftsorientierte Finanz- und Steuerpolitik zu machen ist, die das Wachstum der Wirtschaft fördert und Arbeitsplätze sichert.
({4})
Es bleibt nur zu hoffen, daß diese Einsicht möglichst bald auch in der deutschen Sozialdemokratie Einzug hält.
({5})
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Gerhard Schüßler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieses Gesetz zur Bekämpfung des Mißbrauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts hat wie so manches andere Gesetz einen zumindest im ersten Teil eher problematischen Titel. Denn es geht ja nicht um die Bekämpfung von Mißbrauch; das Gesetz ist vielmehr ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung unerwünschter steuerlicher Gestaltungsmöglichkeiten. Damit wird eine seit Jahren verfolgte Politik der Einschränkung steuerlicher Subventionen und ungerechtfertigter Steuervorteile fortgesetzt. Diese Politik ist ein wichtiger Beitrag zur Haushaltskonsolidierung - dies ist schon zweimal gesagt worden, aber man kann es ja nicht oft genug sagen - und hat bisher zu 38 Milliarden DM Steuermehreinnahmen geführt. Daran können Sie noch soviel zweifeln; es ist nun einmal nachgewiesenermaßen so.
Der Bericht des Bundesfinanzministeriums vom Sommer dieses Jahres hat viele Möglichkeiten zur Ausnutzung von sogenannten Schlupflöchern des Steuerrechts aufgezeigt, die mit diesem Gesetz jetzt beseitigt werden. Sie erwecken ja den Eindruck, als ob das Gegenteil der Fall sei. Manche der im Bericht des Bundesfinanzministeriums genannten unerwünschten Gestaltungsmöglichkeiten sind kurzfristig nicht einzudämmen, da dies sehr konkrete Gespräche zwischen der Bundesregierung und den Bundesländern erforderlich macht. Deutlich muß ebenfalls gesagt werden, daß vielen Mißbrauchs- und Umgehungstatbeständen mit gesetzlichen Regelungen nicht begegnet werden kann. Darum sind erstens eine schnelle Verringerung des Vollzugsdefizits in der Steuerverwaltung, zweitens eine konsequente Ausschöpfung steuerlicher Nachweispflichten und drittens eine erhebliche Effizienzsteigerung bei den Betriebsprüfungen dringend erforderlich. Ich denke, diese drei Dinge haben sich bei der Anhörung der Finanzverwaltung im Finanzausschuß sehr deutlich und in eindeutiger Weise ergeben.
Meine Damen und Herren, das Gesetz trägt - das sei angemerkt -, wenn auch nur in äußerst bescheidenem Rahmen, zur Steuervereinfachung bei, ebenso aber auch zu einer erheblichen Komplizierung des Steuerrechts. Letzteres zu bestreiten wäre in der Tat unwahrhaftig.
({0})
Es ist eben so: Mögliche Konstruktionen zur legalen Steuerersparnis sind in der Regel so kompliziert, daß ihnen auch nur mit ebenso komplizierten Gegenvorschriften begegnet werden kann. Beispielhaft nenne ich die vorgesehenen Rechtsänderungen im Bereich der Finanzinnovationen und das Außensteuerrecht.
Nur, meine Damen und Herren, das Jammern und Klagen darüber hilft uns überhaupt nicht, solange wir nicht den politischen Willen und den politischen Mut aufbringen, uns möglichst ohne Verzug mit einer grundsätzlichen Neuordnung unseres viel zu komplizierten und selbst für anerkannte Fachleute nicht mehr verständlichen Steuerrechts zu beschäftigen.
({1})
Dabei ist es sicherlich kein Trost, wenn wir uns um die Zukunft der steuerberatenden Berufe keine Sorgen zu machen brauchen.
Unser Steuerrecht ist in vielen Jahrzehnten zu einem nicht mehr übersehbaren Moloch herangewachsen. Ich kann Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, nur empfehlen, sich beispielhaft einmal intensiv mit den Bund-Länder-Finanzbeziehungen zu beschäftigen. Aber ich warne Neugierige und empfehle zuvor ein finanzwissenschaftliches Studium, wenn Sie überhaupt noch etwas verstehen wollen.
({2})
- Auch Staatssekretär Grünewald hat da seine Schwierigkeiten.
Es kann ebenfalls nicht richtig sein, wenn die Steuerfachleute von Verbänden, etwa des DIHT, Jahr für Jahr in der Lage sind, eine 200seitige Broschüre, z. B. in diesem Jahr mit dem Titel „Steuertips für 1994", herauszugeben. Das ist nicht gerade ein Ausweis für ein intaktes Steuerrecht.
Ich wage die Behauptung, daß unser Steuerrecht, unsere Steuergesetzgebung nicht mehr administrierbar ist. Und wenn das so ist, dann braucht man nicht allzuviel Phantasie, um sich vorzustellen, was das für den Fiskus bedeutet.
Der vorliegende Gesetzentwurf enthält - ich sagte es schon - auch einige Maßnahmen mit erheblicher Vereinfachungswirkung. Ich nenne in diesem Zusammenhang nur die durchgreifende Vereinfachung der Kürzungsregelung beim Vorwegabzug von Versicherungsbeträgen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Gesetzentwurf entspricht in wesentlichen Teilen den Vorstellungen der Bundesregierung und denen der Koalitionsfraktionen und enthält die Maßnahmen, mit denen der steuerliche Teil des von CDU/CSU und F.D.P. und der Bundesregierung beschlossenen Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms realisiert werden soll.
Die F.D.P. ist dem Vorschlag der Regierung nicht gefolgt, die Arbeitnehmersparzulage in den alten Bundesländern abzuschaffen. Ihre grundsätzliche Beibehaltung war ein ganz besonderes Anliegen der F.D.P., weil wir sie als Instrument der Vermögensbildung für unabdingbar halten. Die Arbeitnehmersparzulage wird also in einer etwas modifizierten Form beibehalten, und damit wird einer wichtigen Forderung der F.D.P. Rechnung getragen.
({3})
In den außerordentlich langwierigen, zeitraubenden und schwierigen Beratungen im Finanzausschuß hat die Opposition - wie nicht anders zu erwarten war -, wenig Konstruktives dazu beigetragen, nein, sie hat alle ihre alten Hüte wieder hervorgezaubert, so die Abschaffung der Sonderausgaben von Aufwendungen für hauswirtschaftliche Beschäftigungsverhältnisse. Meine Damen und Herren, es ist wirklich nicht mehr zu verstehen, daß Sie auch in Zeiten dramatischer Arbeitslosigkeit immer noch an Ihrem arbeitsplatzfeindlichen Arbeitsplatzverhinderungsprogramm festhalten.
({4})
- Sie wollen die Aufhebung der Vermögensteuer- und Gewerbekapitalsteuerbefreiung in den neuen Bundesländern. Auch das ist ein klassischer Fehlschuß,
({5})
der sich exakt gegen alle Bemühungen wendet, die wirtschaftlichen Verhältnisse in den neuen Bundesländern entscheidend zu verbessern. Sie wollen die Rückgängigmachung des Ansatzes der Steuerbilanzwerte bei der Vermögensteuer und der Gewerbekapitalsteuer. Sie wollen die Senkung des Freibetrages bei der betrieblichen Vermögensteuer von 500 000 DM auf 125 000 DM.
Man kann Ihren langen Forderungskatalog noch beliebig fortsetzen. Ich kann mir das aber an dieser Stelle ersparen, da der Kollege von Larcher das ja selbst in quantitativer Form gestaltet hat.
({6})
Die wenigen Beispiele genügen. Die SPD ist und bleibt die Steuererhöhungspartei.
({7})
So mag es Sie nicht verwundern, daß die F.D.P. Ihren Vorschlägen nicht zustimmen wird. Die F.D.P.-Fraktion hält den vorliegenden Gesetzentwurf für ausgewogen und solide und stimmt ihm in der vorliegenden Form zu.
({8})
Die Abgeordnete Frau Dr. Barbara Höll hat nun das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser Gesetzentwurf stellt den vorläufigen Höhepunkt einer von den Koalitionsparteien und der Bundesregierung losgetretenen Kampagne gegen den angeblichen Mißbrauch des sozialen Netzes durch sogenannte Sozialschmarotzer dar.
Dr. Barbara Hö11
Obwohl der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung den Präsidenten des Bundesverbandes des Deutschen Groß- und Außenhandels in einem Schreiben wissen ließ, daß
von einer Reihe von Arbeitgebern ein großes Maß an krimineller Energie entwickelt wird, um die Solidargemeinschaft zu betrügen
und obwohl die großangekündigte Aktion gegen Schwarzarbeiter und Pseudoarbeitslose letztlich die Unternehmer ins Zwielicht rückte, führt die Bundesregierung keinen Kampf gegen Steuerhinterziehung und ungerechtfertigte Steuervorteile, sondern gegen diejenigen, die sie in die Armut getrieben hat und treibt.
Die Bundesregierung hat dabei ein unbestrittenes Talent, ihre Gesetzentwürfe mit Überschriften zu versehen, die entschlossenes Handeln vortäuschen. Da wurde bereits fleißig gespart, konsolidiert, der Standort gesichert und das Wachstum gefördert. Ab heute soll der Mißbrauch bekämpft, und die Steuern sollen bereinigt werden. Wie weit die Konsolidierung der Staatsfinanzen bereits fortgeschritten ist, hat die jüngste Steuerschätzung eindrucksvoll bewiesen. Wir werden dazu hier im Hause am Freitag auf Antrag unserer Gruppe debattieren.
Ein Blick in den uns heute vorliegenden Gesetzentwurf genügt, um zu erkennen, daß die Mißbrauchsbekämpfung lediglich auf dem Papier stattfindet. Diejenigen, die den Bundesfinanzminister vielleicht immer noch ernst nehmen und etwa befürchten, Schmiergelder nicht mehr von der Steuer abziehen zu können oder auf das sogenannte Dienstmädchenprivileg verzichten zu müssen, oder die gar beim Gedanken an die Streichung der Übernahme der Steuerbilanzwerte in die Vermögensaufstellung - übrigens ein Steuergeschenk von jährlich 1,8 Milliarden DM - in Panik geraten,
({0})
können beruhigt ihren einträglichen Geschäften nachgehen. Herr Waigel hat nämlich vor dem Deutschen Steuerberatertag in München Entwarnung gegeben. Er erklärte dort wörtlich:
Nach Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfes sollte allerdings in diesem Bereich zunächst einmal Ruhe eintreten.
Das wird geschehen.
Dieser Gesetzentwurf bereinigt weder das Steuerrecht, noch bekämpft er den Mißbrauch. Im Verantwortungsbereich des Bundesministeriums der Finanzen können Steuerpflichtige relativ risikolos private Ausgaben in den beruflichen bzw. betrieblichen Bereich verlagern, z. B. Haushaltsgehilfen und Gärtner als Betriebsangehörige einstellen oder auf Betriebskosten Fahrzeuge von Familienangehörigen reparieren lassen.
({1})
- Herr Rind, Sie können mir gern eine Frage stellen. Daß das die Realität ist, wissen Sie selber.
({2})
- Ich fordere nicht auf, sondern das ist Ihre Gesetzespolitik.
({3})
Steuerpflichtige können nicht entstandene Aufwendungen geltend machen, weil sie die verwaltungsinternen Nichtbeanstandungsgrenzen kennen. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden illegal beschäftigt, selbstverständlich wird keine Lohnsteuer abgeführt. Oder bei Vollzeitarbeitskräften wird die Lohnsteuer rechtswidrig pauschaliert, indem mehrere kurzfristige Anstellungsverhältnisse angegeben werden.
Der Bundesfinanzminister schafft das Kunststück, sowohl die als Folge des Personalmangels lückenhafte Überwachung zu beklagen als auch eine Verstärkung der Ermittlung und Überwachung anzukündigen. Wo andere Kaninchen aus dem Hut zaubern, da präsentiert uns Herr Waigel das Kunststück, wie man trotz Personalmangels die Wachen verdoppeln kann. Es fällt mir schwer, der Bundesregierung bei ihrer Mißbrauchsbekämpfung Redlichkeit zu attestieren.
Es gibt sozial und steuerpolitisch gerechtere Alternativen zu diesem Gesetzentwurf. Ich weise zum wiederholten Male darauf hin, daß die Einheitswerte des Grundvermögens, die die Bemessungsgrundlage für die Vermögen-, die Grund- und die Erbschaftsteuer sind, deutlich unter den Verkehrswerten liegen und daß es zu einer ungleichmäßigen und deshalb verfassungswidrigen Besteuerung der unterschiedlichen Vermögensarten kommt. Wir fordern von der Bunderegierung die Vorlage gesetzlicher Regelungen zur Aktualisierung der Einheitswerte.
Ich vermisse Vorschläge der Bundesregierung zum Abbau der Steuervergünstigungen aus dem Ehegattensplitting. Daß der Splittingvorteil auf Grund des progressiven Einkommensteuertarifs mit zunehmenden Einkommen steigt und in der oberen Proportionalzone 22 842 DM pro Jahr beträgt, während eine Niedrigverdienerfamilie mit einem Kind vierzehn Jahre braucht, um über den Kinderfreibetrag und das Kindergeld in dieser Höhe von Steuern entlastet zu werden, ist ein steuer- und finanzpolitischer Skandal. Das kann man nachrechnen.
({4})
Die PDS/Linke Liste fordert die Bundesregierung auf, einen ersten Schritt zu tun und einen Gesetzentwurf zum Abbau der Vorteile aus dem Splittingtarif vorzulegen. Bereits die Kappung des Splittingsvorteils in der Spitze um 20 %, also die Reduzierung des Splittingdivisors von 2 auf 1,8, würde zu Mehreinnahmen bei der Lohn- und Einkommensteuer von rund 5,5 Milliarden DM führen. Damit treffen Sie wirklich keinen Armen. Das könnten Sie sehr leicht machen.
Zu diesem Gesetz gibt es nur ein Nein der PDS/ Linke Liste ohne jedes Ja. Ich fordere Sie auf - obDr. Barbara Höll
wohl Sie in Ihren bisherigen Reden darauf nicht eingegangen sind -, sowohl unserem Entschließungsantrag, der sehr ausführlich begründet ist, als auch dem Änderungsantrag zuzustimmen, in dem wir die Beibehaltung der Arbeitnehmersparzulage in der bisherigen Form sicherstellen wollen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Gunnar Uldall das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Der Aufbau in Ostdeutschland, die Umwälzungen in Osteuropa und der notwendige Strukturwandel der deutschen Wirtschaft werden auch weiterhin die deutschen Finanzen einer hohen Belastung aussetzen.
({0})
Um einmal die Größenordnungen darzustellen: Allein der Finanztransfer in die ostdeutschen Bundesländer erreicht Jahr für Jahr eine Größenordnung von netto 120 Milliarden DM. Diese Zahl 120 Milliarden DM besagt wenig; sie ist abstrakt. Deswegen will ich einmal darstellen, welchem Steueraufkommen die Zahl von 120 Milliarden DM entspricht.
Man stelle sich einmal vor, vor der Wiedervereinigung wäre im Jahre 1988 ein Politiker aufgetreten und hätte gefordert, folgende Steuern zu beseitigen: die Tabaksteuer plus Branntweinabgaben plus Versicherungsteuer plus Kaffeesteuer plus Schaumweinsteuer plus Kraftfahrzeugsteuer plus Vermögensteuer plus Biersteuer plus Grunderwerbsteuer plus Erbschaftsteuer plus Renn-, Wett- und Lotteriesteuer plus Feuerschutzsteuer plus Gewerbesteuer plus Kapitalertragsteuer plus Grundsteuer A plus Grundsteuer B und alle übrigen Gemeindesteuern.
Man stelle sich einmal vor, hier wäre ein Politiker aufgetreten und hätte das gefordert! Er wäre schlichtweg für verrückt erklärt worden,
({1})
weil er die Finanzpolitik der Bundesrepublik vor unlösbare Probleme gestellt hätte. Die Wiedervereinigung hat uns diese Finanzprobleme gebracht. Wir freuen uns, daß wir die Wiedervereinigung bekommen haben, und wir freuen uns, daß wir diese Probleme haben, denn das Plus, das wir durch die Wiedervereinigung bekommen, umfaßt mehr, als die Finanzprobleme ausmachen. Ich bitte aber, bei aller Kritik an der Bundesregierung immer zu berücksichtigen, daß die Probleme, die durch unseren Finanzminister zu bewältigen sind, diese unglaubliche Größenordnung erreicht haben.
({2})
Meine Damen und Herren, ich will noch einen anderen Vergleich wählen. Der Finanztransfer in Höhe von 120 Milliarden DM macht, pro Kopf gerechnet, das 205fache der Marshallplanhilfe aus, die nach dem Zweiten Weltkrieg den entscheidenden Anstoß zum Aufbau in Westdeutschland gab.
Diese Vergleiche dürften jeden Zweifel beseitigen, daß wir in einer außerordentlich schwierigen finanzpolitischen Situation stehen. Um diese schwierige Situation zu überwinden, hat der Bundesfinanzminister eine Reihe von Gesetzen auf den Weg gebracht: zunächst das Föderale Konsolidierungsprogramm, dann das Erste Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms, sodann das Zweite Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms sowie schließlich das Standortsicherungsgesetz. Nun liegt mit dem Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz das fünfte Paket auf dem Tisch, um in der Bundesrepublik auf Dauer solide Finanzen zu schaffen.
({3})
Dem Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz liegt folgende Überlegung zugrunde: Weitere Steuererhöhungen sind nicht mehr möglich, da die Belastungen der Wirtschaft mit Steuern bereits zu hoch sind. Aber das Schließen von Steuerlücken und die Beseitigung von MiBbrauchstatbeständen schafft die Möglichkeit, neue Einnahmen zu beschaffen und zugleich Ungerechtigkeiten in der Besteuerung zu beseitigen. Ich komme auf das zurück, was der Kollege von Larcher hier in einer sehr polemischen Form der Koalition vorgeworfen hat, nämlich daß in sozial unausgewogener Weise eine Belastung erfolgte.
({4})
Lieber Herr Kollege Larcher, Sie kennen exakt die Zahlen,
({5})
Sie kennen exakt das, was die Bundesregierung vorgelegt hat. Ihr Vorwurf ist geprägt von Ideologie, Gehässigkeit und Ignoranz.
({6})
Ich will Ihnen die Zahlen nennen. Das Angenehme in der Finanzpolitik ist ja, daß auf diesem Gebiet im Gegensatz zu manch anderen Politikfeldern auf der Basis von Zahlen klar darüber gesprochen werden kann, wie sich etwas verteilt. In vielen anderen Politikbereichen kann man interpretieren, ob es so oder anders ist. Das Schöne an einer Zahl ist, daß man mit ihr eine meßbare Einstufung vornehmen kann.
({7})
Meine Damen und Herren, das Belastungsvolumen, das der Bevölkerung durch die Bundesregierung und die Beschlüsse dieses Parlaments auferlegt wird, beträgt 81,3 Milliarden DM. Dahinter verbergen sich Anhebungen von Sozialabgaben für die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteile, Nullrunde für Beamte, Einschränkung von Transferleistungen, Solidaritäts16268
zuschlag, Saldo sonstiger steuerlicher Maßnahmen, und alles das zusammen ergibt 81 Milliarden DM.
Jetzt fragen wir uns: Wer hat diese 81 Milliarden DM zu tragen? Von diesen Beträgen werden 25,5 von den oberen 5 % der Steuerpflichtigen getragen. Die oberen 25 % tragen 62 %.
Lieber Herr von Larcher, in einer solchen Situation der Koalition derartige Vorwürfe zu machen ist schlichtweg unfair und ungerecht und entspricht auch nicht dem Niveau, mit dem ich Sie im Finanzausschuß sonst habe argumentieren hören.
({8})
Meine Damen und Herren, das Schließen von Steuerlücken erfordert komplizierte Gesetze. Es ist schwer zu entscheiden, wo eine steuerliche Bestimmung nicht mehr im Sinne der ursprünglichen Zielsetzung genutzt wird, das heißt, wo der Mißbrauch anfängt.
Eine steuerliche Lücke zu schließen ist schwerer, als eine generelle Erhöhung eines Steuersatzes vorzunehmen. Deswegen müssen wir erkennen, daß diese Vorlage mit den 31 Gesetzen, die durch sie geändert werden, und mit ihren 50 verschiedenen Maßnahmen eine weitere Komplizierung unseres Steuerrechts zur Folge hat.
({9})
Die Steuerschraube wird gleichzeitig zu einer Verkomplizierungsschraube.
Aber es sind nicht nur die Politiker, die zu dieser Verkomplizierung beitragen, sondern es muß auch einmal festgehalten werden, daß auch der Bundesfinanzhof durch seine Rechtsprechung zur Verkomplizierung beiträgt. Es kann z. B. auf dieses Waschmaschinenurteil hingewiesen werden, wonach in Zukunft ausgerechnet werden kann, wieviel Laufzeit der Waschmaschine auf das Reinigen der Berufskleidung entfällt. Ich sage mal, wenn wir bei uns schon soweit gekommen sind, dann ist schlichtweg das Steuerrecht auch durch die Urteile des BFH nicht mehr zu „handlen".
({10})
Meine Damen und Herren, der finanzpolitische Weg des Bundesfinanzministers ist steinig, aber er ist richtig.
({11})
Vor allem: Es gibt keinen anderen Weg. Deswegen reagierte die Bundesbank auf die Maßnahmen bereits positiv. Das Sinken der Zinsen ist wichtiger als jedes Konjunkturprogramm für Investitionen und wichtiger als jedes Hilfsprogramm für den Wohnungsbau. Wenn die internationalen Finanzmärkte erkennen, daß die Deutschen die extremen Finanzbelastungen in den Griff bekommen, ist dies ein wichtiges Signal für einen wirtschaftlichen Aufschwung.
Meine Damen und Herren, leider hat die SPD in diesem Zusammenhang eine absolut unzureichende Linie. Hier wird Ideologie eingebracht,
({12})
aber es wird in der Finanzpolitik nicht verantwortungsbewußt mitgestaltet.
({13})
Seien Sie sich bewußt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, daß man die Kuh nicht schlachten darf, wenn man sie melken möchte. Mit Ihren Anträgen, die Sie jetzt wieder vorgelegt haben, sind Sie auf dem besten Wege dahin, die Leistungsträger unserer Gesellschaft zum Schlachthof zu führen.
({14})
Besinnen Sie sich auf die Haupttugend aller Politiker, ein Auge für das rechte Verhältnis der Dinge zu finden.
Vor uns liegt noch eine lange, finanzpolitisch schwere Strecke. Aber ich bin sicher, wir werden diese Herausforderung meistern, wenn wir die Probleme mit Sachlichkeit, Konsequenz und Beharrlichkeit anpacken. Die Koalition wird die Regierung auf diesem Wege weiter stützen.
Vielen Dank.
({15})
Bevor ich dem Abgeordneten Werner Schulz das Wort gebe, möchte ich Sie kurz über die Geschäftslage informieren.
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, wie die weitere Tagesordnung abgewickelt werden soll: Der laufende Punkt ist der Tagesordnungspunkt 5. Er wird natürlich erst zu Ende abgehandelt. Dann kommt der Tagesordnungspunkt 6, das ist das Staatsangehörigkeitsrecht. Er wird, wie vorgesehen, anschließend abgehandelt.
Danach beginnt die Fragestunde. Sie wird um 14 Uhr für die Regierungserklärung unterbrochen. Die Debatte über die Regierungserklärung dauert bis 16 Uhr.
Dann wird die Fragestunde fortgesetzt. Tagesordnungspunkt 7, der Kinderbericht, folgt anschließend, danach die Aktuelle Stunde. Dann geht es in der ursprünglich vorgesehenen Tagesordnung weiter.
Ich wäre dankbar, wenn die Geschäftsführer die Fraktionen und die betroffenen Abgeordneten entsprechend informieren würden.
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Werner Schulz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nichts symbolisiert die Steuerpolitik dieser Bundesregierung besser als der Zeitpunkt dieser Debatte. Der vorliegende Gesetzentwurf zur Bekämpfung des Mißbrauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts ist offensichtlich der Beitrag der Bundesregierung zum Auftakt des närrischen Treibens.
Werner Schulz ({0})
Der Finanzminister hält sich hier ganz an die Maxime von Horaz: „Lieblich ist's, zur rechten Zeit ein Narr zu sein." Der rheinische Frohsinn hat ihn ergriffen. Er ist ein fröhlicher Schuldenmacher, und nach den jüngsten Steuerschätzungen werden die Defizite munter weitersteigen. In diesem Jahr wird die Verschuldung des Bundes auf deutlich über 70 Milliarden DM klettern und doppelt so hoch sein wie ursprünglich geplant.
Doch aus dem Elferrat des Kabinetts ist zu hören: An der finanzpolitischen Grundlinie der Bundesregierung ändert sich nichts. Die Frage ist, warum die Bundesregierung nicht imstande ist, das von ihr angerichtete Steuerchaos zu beenden. Offenbar hat dieses Chaos Methode. Regierung und Finanzminister wollen es mit mächtigen Interessengruppen nicht verderben. Die Mißbrauchsbekämpfung setzt vornehmlich bei den Sozialleistungen an und nicht dort, wo die steuerlichen Ressourcen weitaus ergiebiger sind, nämlich bei der Steuerkriminalität und der Steuerumgehung.
Immerhin sind steuerliche Subventionen für die Bundesregierung eine besonders effektive Form der Wahlwerbung. Die fragwürdige Steuerpolitik der letzten Jahre ist deswegen nicht zuletzt ein Resultat des Streits zwischen den Koalitionspartnern um ihre jeweilige Wählerklientel.
Der Gesetzentwurf bleibt deshalb in kümmerlichen Ansätzen stecken. Die Bundesregierung folgt nicht einmal den Vorgaben ihres eigenen Mißbrauchsberichts, sondern setzt ihre hektische und konzeptionslose Steuerpolitik fort. Die „Frankfurter Rundschau" hat recht, wenn sie bemerkt, daß kurz vor dem Superwahljahr die Zeit begonnen hat, Geschenke zu verteilen, und ungeschoren davonzukommen ist in schweren Zeiten eine besondere Form von gönnerhaftem Glück.
({1})
Die großen Posten der Steuerungerechtigkeit bleiben erhalten. Ein Beispiel ist die Steuerfreiheit von Spekulationsgewinnen, die selbst Johannes Groß in der „FAZ" als außergewöhnlich empfindet. Er konstatiert extreme Besteuerung der Einkünfte aus Arbeit einerseits und überhaupt keine aus Vermögensgewinnen andererseits. Dem ist nichts hinzuzufügen. Er hat recht damit, und jeder weiß es. Nur, diese Koalition will es nicht ändern.
Die Bundesregierung hat nun Mißbräuche im Steuersystem aufgedeckt. Dies ist immerhin beachtenswert; denn bisher hat sie sich eher um den sozialen Mißbrauch gekümmert und eine vordergründige Kampagne aufgeblasen. Diese Regierung ist seit über zehn Jahren im Amt. Der Steuermißbrauch ist vor allem ein Resultat ihrer eigenen Politik.
Herr Kollege Schulz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hauser?
Ich führe nur noch diesen Satz zu Ende. - Er ist ein Resultat von zehn Jahren unsozialer Steuergesetzgebung.
Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Kollege Schulz, ich hätte gern einmal von Ihnen gewußt, wie oft Sie oder ein Vertreter Ihrer Gruppe bei den Beratungen dieses Gesetzes im Finanzausschuß anwesend waren.
Wissen Sie, lieber Kollege, es ist so eine platte Standardfrage, die Sie da stellen. Wir können uns - das müßte sich doch auch bei Ihnen herumgesprochen haben - mit acht Abgeordneten nicht auf 25 Ausschüsse aufteilen.
({0})
Aber Sie dürfen bei dieser Gelegenheit erfahren, falls Sie es wirklich noch nicht wissen: Wir kümmern uns intensiv um die Gesetzgebung. Wir sind bemüht, standzuhalten. Sie können ja meiner Rede entnehmen, daß ich durchaus auf dem aktuellen Stand der Ereignisse bin, daß ich durchaus in der Lage bin, Ihre Tricks zu durchschauen. Das muß ich mir nun nicht im Ausschuß im Detail antun.
Die MiBbrauchsbekämpfung nach Art des Hauses Kohl konzentriert sich folglich auf Nebensächliches. Die erwarteten Mehreinnahmen stehen in keinem vernünftigen Verhältnis zu den durch Mißbrauch ausfallenden Steuern.
({1})
1994 werden etwa 1,4 Milliarden DM erwartet. Vergleicht man dieses Sümmchen mit den Sozialkürzungen - allein im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit sollen 10 Milliarden DM eingespart werden -, dann zeigt sich die Schlagseite der Regierung Kohl.
Es ist unbestreitbar, Steuerhinterziehungen, der Mißbrauch des Steuerrechts darf nicht toleriert werden. Deshalb ist es notwendig, daß die steuerlichen Einnahmeausfälle durch Steuerhinterziehung und durch den Mißbrauch von Steuervergünstigungen weitaus energischer als bisher bekämpft werden. In diesem Bereich lassen sich mittelfristig Einnahmepotentiale in zweistelliger Milliardenhöhe realisieren. Wir haben solche Möglichkeiten in unserem Entschließungsantrag aufgezeigt.
Herr Schüßler, ich meine, nicht, wer solche Forderungen stellt, wagt sich damit an alte Hüte, sondern Sie verwechseln das damit, daß hier praktisch verstaubte Zylinder abgeklopft werden.
Notwendig ist ebenso ein energischer Abbau von sozial unangemessenen und wirtschaftspolitisch verfehlten Steuersubventionen. Die Bundesregierung hat - entgegen ihren Ankündigungen - auf diesem Gebiet versagt.
Eines ist klar, das Steuerchaos muß beendet werden. Wir brauchen deshalb eine durchgehende Vereinfachung des Steuerrechts. Die Erhebung der derzeitig 35 Steuern wird in über 100 Steuergesetzen und noch erheblich mehr Verordnungen geregelt. Neben dem Abbau überhöhter Steuern sind eine Vereinfachung und Straffung des Besteuerungsverfahrens notwendig. Das Steuerrecht muß überschaubar und gerechter werden.
Werner Schulz ({2})
Daß dies geht, bestätigen namhafte Fachleute. Allerdings liegt auch heute der Beweis vor: Es geht nicht mit dieser Regierung.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Dieter-Julius Cronenberg.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer der Debatte aufmerksam gefolgt ist, muß den Eindruck haben, als ob es eine Vielzahl von Betrieben gäbe, die von morgens bis abends nichts anderes im Kopf hätten, als Steuern zu hinterziehen. Lassen Sie mich deswegen mit aller Deutlichkeit feststellen: Die allermeisten Betriebe in diesem Lande zahlen ordentlich und korrekt ihre Steuern - und die sind zu hoch.
({0})
Bei den Betriebsprüfungen stellt sich gelegentlich heraus, daß es unterschiedliche Meinungen über Bewertungsfragen, Abschreibungsfragen und ähnliches gibt; aber Steuerhinterziehungstatbestände sind die ungewöhnliche Ausnahme.
Verehrter Herr Kollege von Larcher, wenn Sie sagen, wir hätten die falsche Philosophie, weil wir meinen, den Betrieben sollte es gutgehen, dann möchte ich dem energisch widersprechen. Ich bin überzeugt davon, daß ich, wenn es den Betrieben gut geht, wenn es meinem Betrieb gut geht, in der Lage bin, mehr Leute zu beschäftigen, mehr zu investieren und so für die Arbeitsplätze mehr zu tun - und nicht das Gegenteil.
({1})
Wenn ich aber vom Mehrgewinn in Form von Gewerbesteuer, Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidarzuschlag mittlerweile fast 70 % beim Staat abliefern muß, dann ist das kein Beitrag zu mehr Beschäftigung, sondern genau das Gegenteil.
({2})
Meine Damen und Herren, verehrte Kollegen, lassen Sie mich diesen Satz auch noch anbringen: Wenn hier immer wieder vom sogenannten Dienstmädchenprivileg die Rede ist, bitte ich Sie allen Ernstes, im Interesse der Arbeitsplätze doch einmal in Ruhe darüber nachzudenken, ob es nicht sinnvoll ist, wenn es in Familien, in denen es z. B. zwei Verdiener gibt, also in Doppelverdienerfamilien, ein ordentliches Beschäftigungsverhältnis mit ordentlich abgeführten Lohnsteuern und Sozialbeiträgen gibt. Das kann helfen, mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Das löst nicht alle Probleme, aber ist ein sinnvoller Beitrag. Das sollte man nicht als Dienstmädchenprivileg in Mißkredit bringen und diffamieren, sondern man sollte unvoreingenommen darüber nachdenken, ob das nicht eine sehr sinnvolle Maßnahme ist, um mehr Lohnsteuern und Sozialversicherungsbeiträge einzunehmen. Natürlich müssen diese Aufwendungen gegebenenfalls steuerlich relevant geltend gemacht werden.
Herzlichen Dank.
({3})
Zu einer kurzen Erwiderung der Kollege von Larcher.
Herr Kollege Cronenberg, Sie haben mich angesprochen. Ich möchte gern die Stelle gezeigt bekommen, wo ich die Meinung vertreten hätte, es sollte den Unternehmen schlecht gehen.
({0})
- Natürlich! Ich habe von einer kleinen Minderheit Wohlhabender gesprochen. Ich habe, glaube ich, über Unternehmen nichts gesagt.
Ich sage Ihnen jetzt etwas anderes. Ich habe hier eine Tabelle „Körperschaftsteuern im OECD-Vergleich". Ich gebe sie Ihnen nachher, damit Sie sie sehen können. Sie werden dann feststellen, daß zwar die Körperschaftsteuern Deutschlands nominal am höchsten sind, wenn Sie die Länder Großbritannien, Frankreich, Japan, Italien, USA und Kanada daneben-stellen. Aber wenn es um den Effektivsatz geht, dann sind die Steuern in Deutschland am niedrigsten. Dies ist eine Quelle der OECD. Soweit zu diesem Punkt.
({1})
- Seit wann zahlen die denn Körperschaftsteuer?
({2})
- Eben. Ich sprach aber von der Körperschaftsteuer. Sie sollten vielleicht zuhören.
({3})
Noch einmal zu den Hausgehilfinnen, Herr Kollege Cronenberg. Wir haben den Antrag gestellt, daß es sozialversicherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse nicht geben soll. Deswegen ist es falsch, wenn Sie sagen, wir würden diese dadurch begünstigen. Wir sagen nur, es ist sozial ungerecht, wenn man denjenigen, die sich eine Hausgehilfin leisten können, weil sie es bezahlen können, eine Möglichkeit gibt, diesen Aufwand von der Steuer abzusetzen, während Kindergartenfreibeträge nicht von der Steuer abgesetzt werden können.
({4})
Zu einer Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung erteile ich dem Kollegen Peter Conradi das Wort.
({0})
Herr Präsident! Ich würde gern auf den Zwischenruf zur Fehlbelegungsabgabe eingehen, doch ich kann dies nicht im Rahmen dieses Beitrags. Ich bitte Sie, deshalb mir anschließend an
diese Debatte die Möglichkeit zu einer Äußerung nach § 30 unserer Geschäftsordnung, zu einer persönlichen Erklärung, zu geben.
Ich will jetzt etwas zur Abstimmung für meine Fraktion sagen. Wir haben die inhaltlichen Gründe, die uns bewegen, gegen das Gesetz zu stimmen, hier dargelegt. Es gibt bei diesem Gesetz aber auch verfassungsrechtliche Bedenken; ich will sie kurz erläutern.
Ich habe bei der zweiten Lesung des FKP-Gesetzes dieses Haus darauf hingewiesen, daß in dieses Gesetz die Änderung von Rechtsverordnungen hineingepackt war. Ich habe damals gesagt, der Bundestag hat keine Verordnungen zu ändern, das hat die Regierung zu machen, und warum sollen wir die Arbeit der Regierung tun? Sie erinnern sich, die Regierung konnte nicht darlegen, warum wir das machen sollten. Das Haus hat dann in großer Einmütigkeit diesen Artikel gestrichen.
Nun habe ich mich, neugierig geworden, in der Zwischenzeit mit dieser Materie beschäftigt und festgestellt, daß wir in den letzten Jahren von der Bundesregierung zunehmend angehalten werden, Rechtsverordnungen in Gesetzen zu ändern, obwohl das eigentlich nicht unsere Aufgabe ist. Das mag unproblematisch sein, wenn die Änderung der Rechtsverordnung die Verordnung dem neuen Gesetz anpaßt, dies also in einem Aufwasch miterledigt. Es wird aber sehr problematisch - ich zitiere Hans Schneider -, wenn die Verordnungsermächtigung berührt wird, d. h. wenn „auf dem zur Verordnung offenen Feld ein Brocken plaziert wäre, der nur mit Hilfe eines Gesetzes bewegt werden könnte".
Der Verfassungsrechtler Hans Heinrich Rupp sagt dazu:
Die Änderung von Rechtsverordnungen durch den Gesetzgeber verwischt die Verantwortung, setzt Art. 80 Abs. 1 GG matt, unterläuft das förmliche Gesetzgebungsverfahren und erzeugt unlösbare Folgeprobleme und Widersprüche im Sinngefüge der Verfassung.
Nun enthält dieser Gesetzentwurf, Herr Präsident, erneut fünf Verordnungsänderungen. Der Bundesfinanzminister hat in der ersten Lesung auf meine Frage, warum die Bundesregierung das nicht selber macht, gesagt, eine Verordnungsänderung durch Gesetz sei wetterfester, rechtsbeständiger und schneller zu erreichen. Eine politisch unrichtige und verfassungsrechtlich irrelevante Feststellung, denn niemand hindert den Bundesfinanzminister, die notwendigen Verordnungsänderungen dem Bundesrat zu Beginn des Verfahrens zu überweisen, damit Bundesrat und Bundesregierung gemeinsam dafür sorgen, daß die Verordnungsänderung vorliegt, wenn das Gesetz rechtskräftig wird.
Ich halte dieses Verfahren für einen Verfassungsverstoß - so auch Rupp -, und ich bin gespannt, ob ein von dieser Verordnung betroffener Bürger, der nach Karlsruhe geht und klagt: diese Verordnung sei nicht rechtmäßig zustande gekommen, nicht recht bekommt.
Ich will das Haus nicht ein zweites Mal überfallartig auffordern, die verordnungsändernden Artikel dieses Gesetzes zu streichen. So etwas gelingt einem Oppositionsabgeordneten im Leben nur einmal. Aber ich möchte hier doch - auch im Namen meiner Fraktion, die meine Bedenken heute nicht mehr für so abwegig hält wie im Mai dieses Jahres - den Rechtsausschuß nachdrücklich bitten, dieses Problem anzugehen und so zu klären, daß Gesetz Gesetz und Verordnung Verordnung bleibt. Wir machen hier doch schon viel zuviele Gesetze, und viele Gesetze werden nicht mit der erforderlichen Sorgfalt beraten. Deswegen ist es unsinnig, daß wir uns durch die Regierung auch noch die Änderung von Verordnungen aufhalsen lassen.
Ich verspreche Ihnen, ich werde künftig, wenn wieder solche Gesetze kommen, beharrlich immer wieder verlangen, daß dieser Punkt endlich geklärt wird. Das ist eine Drohung. Meine Fraktion unterstützt diese Drohung.
({0})
Das ist jetzt ein bißchen problematisch. Herr Kollege Conradi, Ihre Wortmeldung nach § 30 - ({0})
- Ja, das ist völlig klar.
Ich finde das Ganze ein bißchen problematisch. Sie haben natürlich im Grunde genommen einen ganz normalen Debattenbeitrag geleistet, zu dem sich nunmehr die Regierung, die jederzeit Rederecht hat, äußern möchte.
Deshalb erteile ich das Wort dem Staatssekretär Grünewald.
Schönen Dank, Herr Präsident! -Herr Kollege Conradi, jeder hat ja so sein Steckenpferdchen, und über dieses Ihr Steckenpferdchen haben wir hier ja schon wiederholte Male streiten dürfen. Ich stelle für die Bundesregierung fest:
Erstens. Trotz der von Ihnen angebrachten Kritik ist das Gesetz verfassungsfest.
Zweitens. Die Erklärungen, die mein Minister, Dr. Waigel, auf Ihre entsprechende Frage schon bei der ersten Lesung abgegeben hat, waren zutreffend.
Drittens. Es ist richtig, daß wir mit diesem Gesetz in fünf Rechtsverordnungen eingreifen. Das hat aber auch gesetzestechnisch-ökonomische Gründe, weil das Gesetz und diese geänderten Verordnungen zeitgleich zum 1. Januar 1994 in Kraft treten sollen.
Schließlich letztens: Es ist gar nicht vorgesehen, daß diese Eingriffe qua Gesetz in den Verordnungsweg dauerhaft bleiben, denn im Gesetz selber steht die sogenannte Entsteinerungsklausel, -die künftig die Zuständigkeit für diese Regelungen wieder dem Verordnungsgeber zuführt.
Schönen Dank.
({0})
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Conradi zu einer Erklärung nach § 30 unserer Geschäftsordnung.
Der Zwischenruf „Fehlbelegungsabgabe" gibt mir die Möglichkeit, hier etwas zu Meldungen im „Spiegel", in „Bild am Sonntag" und in anderen Zeitungen über Abgeordnetenwohnungen und die Fehlbelegungsabgabe zu sagen. Das hat ja ziemlichen Staub in der Öffentlichkeit aufgewirbelt.
({0})
Ich bewohne eine von 134 Ein-Zimmer-Wohnungen, die die Bundesregierung vor 30 Jahren unmittelbar am Bundeshaus für Abgeordnete errichtet hat. Die Miete für diese Wohnung ist durch die Bundesdarlehen außerordentlich gering. Die Fehlbelegungsabgabe wird zu Recht erhoben. Aber die Oberfinanzdirektion Köln hat mir eine Fehlbelegungsabgabe in Rechnung gestellt, die mehr als das Vierfache der gesetzlich zulässigen Höhe beträgt.
Da ich das Gesetz damals selbst mitbearbeitet und viele Mieter in Sachen Fehlbelegungsabgabe beraten habe, habe ich natürlich sofort gemerkt: Das stimmt nicht. Daraufhin habe ich Einspruch erhoben und verlangt, sie sollen das herabsetzen. Dann habe ich auch noch meine Nachbarinnen und Nachbarn darauf aufmerksam gemacht, sie zahlten zuviel.
Ich habe mich in einer gewissen Betriebsblindheit nur auf die Fehlbelegungsabgabe konzentriert und die niedrige Miete verdrängt.
({1})
Es wäre wahrscheinlich klüger gewesen, ich hätte die überhöhte Fehlbelegungsabgabe stillschweigend gezahlt, statt darauf zu pochen, daß die Gesetze auch für Abgeordnete gelten. Dafür bitte ich Sie um Nachsicht. Nicht alles, was Rechtens ist, ist auch richtig. Ich bedauere, daß ich durch mein unbedachtes Verhalten das Ansehen des Hauses beeinträchtigt und viele Menschen verärgert habe.
({2})
Herr Kollege Conradi, hier ist auch durch eine sehr zweifelhafte Form der Berichterstattung, die einen Einzelfall verallgemeinert hat, dieser Eindruck entstanden. Das Motiv, aus dem Sie gehandelt haben, war ehrenwert.
({0})
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/ CSU und der F.D.P. sowie der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Mißbrauchbekämpfungsund Steuerbereinigungsgesetzes, Drucksachen 12/ 5630, 12/5764 und 12/6078.
Dazu liegen Änderungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P., der Fraktion der SPD sowie der Gruppe PDS/Linke Liste vor.
Wir stimmen zuerst über den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 12/6108 ab. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich seiner Stimme? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wir stimmen jetzt über den Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/6126 ab. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich seiner Stimme? - Bei zwei Stimmenthaltungen ist auch dieser Änderungsantrag abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Änderungsantrag der CDU/CSU und der F.D.P. auf Drucksache 12/6123. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist angenommen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung mit der soeben beschlossenen Änderung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Kann ich davon ausgehen, daß wir trotz Annahme des Änderungsantrags in die dritte Beratung eintreten können? - Dies ist offensichtlich der Fall. Dann ist das mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen.
Wir kommen damit zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zuzustimmen gedenken, sich zu erheben. - Wer will dagegenstimmen? - Wer enthält sich seiner Stimme? -- Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. auf Drucksache 12/6131. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/6107. Wer stimmt dafür? - Wer dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/6110. Wer stimmt dafür? - Wer dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/6109. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Staatsangehörigkeitsrechts
- Drucksache 12/5684 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({1}) Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend
Vizepräsident Hans Klein
Könnten die Kolleginnen und Kollegen, die an diesem Beratungspunkt nicht teilnehmen wollen, ihren Auszug bitte etwas beschleunigen?
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich offensichtlich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, unserem Kollegen Eduard Lintner.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung stimmt mit dem Bundesrat darin überein, daß die Integration der auf Dauer bei uns lebenden Ausländer soweit wie möglich gefördert werden muß und daß in diesem Zusammenhang natürlich auch der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit erleichtert werden sollte.
In Verfolgung dieses Ziels wurden in dem vor zweieinhalb Jahren in Kraft getretenen neuen Ausländergesetz erhebliche Einbürgerungserleichterungen geschaffen. Zu nennen wären hier: Regelanspruch auf Einbürgerung für Heranwachsende zwischen dem 16. und dem 23. Lebensjahr, allgemeiner Regelanspruch nach 15jährigem Inlandsaufenthalt, Festsetzung der Gebühr für diese Einbürgerungen auf nur 100 DM.
Am 1. Juli dieses Jahres sind mit dem Gesetz zur Änderung asylverfahrens-, ausländer- und staatsangehörigkeitsrechtlicher Vorschriften noch weitere spürbare Erleichterungen in Kraft getreten, Stichworte: Umwandlung der Regelansprüche im Ausländergesetz in zwingende Ansprüche auf Einbürgerung, Fortfall der Geltungsbegrenzung auf fünf Jahre, Ersetzung des Begriffs der Unbescholtenheit im Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz durch Fehlen von Ausweisungsgründen, Einführung einer Festgebühr von 500 DM für die verbliebenen Ermessensfälle. Insbesondere wurde durch das genannte Gesetz der bereits im Bundesratsentwurf geforderte Abstammungserwerb für nichteheliche Kinder deutscher Väter eingeführt.
Auch die Bundesregierung hält die umfassende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts für dringlich. Hieran wird intensiv gearbeitet, wobei es allerdings nicht nur - wie im vorliegenden Gesetzentwurf oder in dem ebenfalls in parlamentarischer Behandlung stehenden Gesetzentwurf der SPD-Fraktion - um weitere Erleichterungen des Erwerbs der Staatsangehörigkeit geht, sondern auch um eine Überarbeitung und Neustrukturierung des gesamten, in zahlreiche Gesetze aufgesplitterten deutschen Staatsangehörigkeitsrechts sowie um die Lösung zahlreicher, in der staatsangehörigkeitsrechtlichen Praxis aufgetretener Probleme. Lassen Sie mich einige Stichworte nennen: Feststellungsbefugnis der Staatsangehörigkeitsbehörden, Erleichterung des Staatsangehörigkeitsnachweises, Lösung offener Fragen im Zusammenhang mit der ehemaligen DDR-Staatsangehörigkeit.
Angesichts der auf Integration ausgerichteten Politik der Bundesregierung spielt die Frage, ob gegebenenfalls weitere Erleichterungen des Staatsangehörigkeitserwerbs ermöglicht werden können, eine nicht unbedeutende Rolle bei der Gesamtreform. Hierbei wird allerdings darauf zu achten sein - dies betone ich insbesondere im Hinblick auf die im Bundesratsentwurf vorgesehenen, nur an die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts gebundenen Einbürgerungsansprüche nach acht Jahren bzw. noch kürzerer Frist -, daß ein Mindestmaß an Integrationsvoraussetzungen gewährleistet bleibt. Insoweit möchte ich auf die Sachverständigenanhörung des Bundestagsinnenausschusses zum Entwurf der SPD-Fraktion hinweisen, bei der sich die vier Staatsrechtslehrer unter den Sachverständigen einhellig dafür ausgesprochen haben, die Voraussetzungen für die Einbürgerung eher hoch anzusetzen, jedenfalls höher, als dies im Entwurf der SPD-Fraktion der Fall ist. Dies gilt um so mehr gegenüber den Bestimmungen des jetzt vorliegenden Entwurfs.
Bezüglich der im vorliegenden Entwurf als Regelfall geforderten Hinnahme von Mehrstaatigkeit bei der Einbürgerung wird bei der Reform zu entscheiden sein, ob und gegebenenfalls welche Erleichterungen in diesem Bereich in Betracht kommen. Auch in dieser Frage haben die Darlegungen der Staatsrechtler in der erwähnten Sachverständigenanhörung gezeigt, daß die generelle Hinnahme von Mehrstaatigkeit keineswegs so problemlos ist, wie dies zur Zeit vielfach vertreten wird.
Den im vorliegenden Entwurf enthaltenen Vorschlag eines Geburtserwerbs schon für die erste hier geborene Ausländergeneration hält die Bundesregierung unverändert für bedenklich. Dies geht noch über die oft als Vorbild herangezogenen Regelungen in bestimmten anderen Ländern Mitteleuropas, z. B. Frankreich, hinaus. Im übrigen erscheint es zweifelhaft, ob die im Entwurf als Voraussetzung vorgesehene unbefristete Aufenthaltserlaubnis nur eines Elternteils Gewähr für den Verbleib des Kindes in Deutschland und für seine Integration bietet. Auch in diesem Zusammenhang ist die bereits mehrfach erwähnte Anhörung von Interesse, in der diese Erwerbsart von allen Staatsrechtsprofessoren abgelehnt wurde, wobei auch die verfassungsrechtliche Problematik - im Hinblick auf Art. 16 Abs. 1- des als korrespondierende Regelung erforderlichen Verlusttatbestandes eine Rolle spielte.
Abschließend, meine Damen und Herren, noch eine ganz kurze Bemerkung zur Gebührenfrage. Die Einbürgerungsgebühr wurde, wie erwähnt, für die 1991 in Kraft getretenen Einbürgerungstatbestände des Ausländergesetzes auf 100 DM gegenüber bisher 300 DM bis 5 000 DM festgesetzt. Mit dem am 1. Juli dieses Jahres in Kraft getretenen Gesetz zur Änderung asylverfahrens-, ausländer- und staatsangehörigkeitsrechtlicher Vorschriften wurde die Gebühr für die Ermessenseinbürgerung auf 500 DM festgesetzt. Der im vorliegenden Entwurf vorgesehene völlige Verzicht auf die Deckung des zum Teil sehr hohen Verwaltungsaufwands bei Einbürgerung erscheint der Bundesregierung nicht vertretbar.
Dennoch, meine Damen und Herren: Insgesamt sehen wir den sich anschließenden Beratungen im
Innenausschuß und in anderen Ausschüssen des Deutschen Bundestages mit Interesse entgegen.
({0})
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich sage dies jetzt, damit es auch diejenigen, die in ihren Büros an den Lautsprechern darauf warten, erfahren: Angesichts der Tatsache, daß die Regierungserklärung um 14 Uhr beginnt und sich die Behandlung unseres vorhergehenden Tagesordnungspunkts in nicht vorhersehbarer Weise verlängert hat, wird die Fragestunde auf die Zeit nach 16 Uhr verlegt.
Ich erteile jetzt der Kollegin Cornelie Sonntag das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der aktuellen und lebhaften Diskussion über die Zulassung der doppelten Staatsbürgerschaft, die noch unter dem Eindruck der Schreckenstaten von Solingen und Mölln stattfand, war zu befürchten, daß diese Bewegung mit größerer zeitlicher Distanz erlahmen werde. Das ist gottlob nicht eingetreten. Nach wie vor gibt es eine sehr starke und unüberhörbare Forderung, hier einen deutlichen Schritt nach vorn zu tun.
Die SPD, deren Gesetzentwurf seit März vorliegt, kann sich also auf Verbündete in dieser Gesellschaft stützen. Wir alle merken es auch am unverminderten Interesse, an dem allerorts spürbaren Bedürfnis der Menschen, über das Thema zu reden, Informationen zu erhalten und endlich auch Entscheidungen zu hören.
Insbesondere die Initiatoren des „Referendums" für die Zulassung der doppelten Staatsbürgerschaft haben inzwischen ihr selbstverordnetes Ziel erreicht und 1 Million Unterschriften gesammelt. Diese Aktion geht weiter. Ich möchte an dieser Stelle allen, die daran mitgewirkt haben, Dank sagen. Was Sie da tun, beweist, daß viele Menschen, und zwar über die Parteigrenzen hinweg, eine Änderung der bisherigen, äußerst eingeschränkten Möglichkeiten wollen. Das hilft uns weiter. Tempo und Dynamik sind hier mehr als angebracht.
Der Entwurf der SPD-Bundestagsfraktion ist in erster Lesung beraten und Ende September im schon erwähnten Anhörungsverfahren behandelt worden. Heute debattieren wir den Gesetzentwurf des Bundesrates. Er ist nicht deckungsgleich mit unseren Vorstellungen, zielt aber in unsere Richtung und unterstreicht die Dringlichkeit des Vorhabens. Er bringt im übrigen zusätzliche Anstöße und Argumente in die Diskussion. Er gibt uns politische Schubkraft und Bewegung. Deswegen begrüßt meine Fraktion ausdrücklich diese Intitiative aus den Ländern.
Im übrigen haben die Gemeinsamkeiten weit stärkeres Gewicht als die Unterschiede. Ich will sie kurz darstellen.
Ebenso wie unser Entwurf will dieser den hier länger lebenden Ausländerinnen und Ausländern die Einbürgerung erleichtern und sie von bürokratischen und psychischen Hemmnissen befreien - deutlich über das hinaus, was bislang nach § 85 und § 86 des Ausländergesetzes möglich ist.
Ebenso wie unser Entwurf räumt der des Bundesrates einen Anspruch nach acht Jahren Aufenthalt ein, für die Ehepartner deutscher Bürgerinnen und Bürger nach fünf Jahren.
Ebenso wie unser Entwurf erklärt er die Mehrstaatigkeit für zulässig. Das heißt: Die Ausnahme kann zur Regel werden.
Und schließlich sagen beide Gesetzentwürfe klar und eindringlich: Die Einwanderung, meine Damen und Herren, die in Deutschland seit nunmehr mehr als drei Jahrzehnten stattgefunden hat, ist nicht mehr umkehrbar. Wir sind de facto ein Einwanderungsland. Das sollten wir uns endlich eingestehen, nicht nur, indem diese Erkenntnis immer wieder in klingende Parolen gefaßt wird, sondern auch dadurch, daß wir in der Gesetzgebung die Lebenswirklichkeit mitvollziehen.
({0})
- Herr Kollege Hirsch, Sie bitten sonst immer um Ruhe bei wichtigen Beratungen. Ich möchte Sie bitten, Ihre Lautstärke etwas zu dämpfen.
Es ist schlicht und einfach ein Gebot der inneren Logik und der Ehrlichkeit. Für uns Deutsche kommt etwas hinzu, was noch entscheidender ist: die Verpflichtung, aus den Folgen der Migration, die wir aus wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Gründen gewollt haben, auch die volle Teilhabe derer herzuleiten, die hier heimisch geworden sind und sich auch gern heimisch und anerkannt fühlen wollen. Meine Kollegen und Kolleginnen, das bedingt die rechtliche, die soziale und die politische Gleichstellung. Das heißt also: Weg vom Lippenbekenntnis über die gut nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschen und den Bürgerinnen und Bürgern anderer Nationen und Religionen hin zu konkreten Signalen! Das ist der Kern beider Gesetzesinitiativen.
Sie zeigen auch Unterschiede. In der Bundesratsvorlage ist mit etwas gönnerhaftem Unterton zu lesen, unser Entwurf, also der der SPD, enthalte zwar zutreffende Ansätze, biete freilich für den Abschluß der Integration nur längerfristige Perspektiven. Mit anderen Worten: Die Ländervertretung reklamiert für sich die fortschrittlichere, die großzügigere Linie. Ich vermag diese Abstufung nicht zu erkennen. Zwar machen wir uns den Vorschlag, das sogenannte Territorialprinzip als Grundlage für die Staatsangehörigkeit schon in der zweiten Ausländergeneration zu verankern, nicht zu eigen, während des Anhörverfahrens ist aber unsere etwas zurückhaltendere Linie auch von einigen Experten durchaus bestätigt worden.
Ich will nun aber Ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die Entschließung richten, die der Bundesrat zu seiner Vorlage am 18. Juni dieses Jahres gefaßt hat. Dort wird nämlich der Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion eindeutig unterstützt und das Parlament aufgefordert, die Beratung darüber umgehend abzuschließen.
In diese Beratung sollten die Vorschläge der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung einfließen, heißt es weiter. Und das, liebe Kollegen und Kolleginnen, ist der ausschlaggebende Grund dafür, daß der Bundesrat den Entwurf der Ausländerbeauftragten in den Bundestag einbringt. Das heißt: Die Länder machen sich nicht jede einzelne Regelung zu eigen. Sie sagen ebensowenig, daß sie diese Vorschläge auf alle Fälle allen anderen Modellen vorziehen.
Sehen Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen in der Koalition: Das macht bei Ihnen die massive Schieflage aus. Frau Schmalz-Jacobsen prescht vor, präsentiert ein Konzept und schafft es nicht, ihre eigenen Vorstellungen offiziell in den Bundestag einzubringen, weil ihre eigene Fraktion, die F.D.P., nicht die Kraft hat, die Reform anzufordern, die sie sich selbst in Parteibeschlüssen aufs Panier heftet.
Mit anderen Worten: SPD-Fraktion einerseits und Bundesrat andererseits leisten Geburtshilfe für die eigentlich von Ihnen politisch gewünschte Reform. Die Initiative der Länder liefert das notwendige Transportmittel, um den Überlegungen der Ausländerbeauftragten parlamentarische Behandlung und Beratung überhaupt zu ermöglichen. Das, liebe Kollegen und Kolleginnen, ist ein klägliches, ein ärmliches Bild, das Sie bei einer höchst behutsamen Novellierung bieten. Vor allem an die Adresse der Kollegen und Kolleginnen aus der F.D.P.-Fraktion: Sie können sich nicht länger davor drücken, endlich zu dieser Frage Farbe zu bekennen.
Ich nutze diese Beratung für einen erneuten Appell an die Adresse der Bundesregierung. Herr Lintner, nehmen Sie bitte den Fuß vom ausländerpolitischen Bremspedal! Dieses Gesetz und diese Novellierung sind überfällig. Hören Sie bitte auf - Sie haben es auch heute wieder getan -, sich hinter den Hinweis auf die noch ausstehende umfassende Novellierung des Staatsangehörigkeitsrechts zu verschanzen, die Sie uns bis 1994 versprochen haben! Die Willensbekundungen aus der Koalition, die zeitliche Grenze bei der Einbürgerung im Ausländergesetz von 15 auf zehn Jahre herunterzusetzen, ist herzlich unzureichend.
Ich finde, das Herumwursteln, das Zaudern bei dieser Problematik macht alle wortreichen Bekundungen für ein besseres und partnerschaftliches Zusammenleben zwischen Deutschen und Ausländern fadenscheinig und unglaubwürdig. Viele Menschen in diesem Land, ob mit deutschem Paß, oder ohne ihn, warten jetzt auf ein konkretes und überzeugendes Signal.
Ich sage noch einmal: Es ist aus meiner Sicht keine Wunderwaffe gegen Fremdenhaß und Terror von rechts. Aber es ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß unsere eingewanderten Mitbürgerinnen und Mitbürger endlich die Anerkennung erfahren, die sie verdienen,
({1})
und daß sie das Gefühl bekommen, dazuzugehören mit allem Drum und Dran, nicht nur als unsere Steuerzahler, unsere Rentensicherer und die Lückenbüßer in den unbeliebten Bereichen des Arbeitsmarktes, sondern als mündige Bürger, die Rechte und
Pflichten so selbstverständlich wahrnehmen wie die Mehrzahl - leider ja auch nicht alle - der deutschen Kollegen und Freunde.
Tun Sie bitte diesen Schritt jetzt und nicht erst am Sankt-Nimmerleins-Tag!
Danke schön.
({2})
Das Wort hat der Kollege Meinrad Belle.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz aus dem Jahre 1913 wurde insbesondere 1990 reformiert. Eingeführt wurde dort der Regelanspruch auf Einbürgerung für hier aufgewachsene junge Ausländer und für länger als 15 Jahre hier lebende Ausländer. Auch für Ehegatten und Kinder wurde die Einbürgerung erleichtert. Durch den Asylkompromiß des letzten Jahres wurden diese Regelansprüche in zwingende Einbürgerungsansprüche umgewandelt und der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Geburt für nichteheliche Kinder deutscher Väter neu eingeführt.
Der Gesetzentwurf des Bundesrates bringt nun im wesentlichen eine Umkehr vom ius sanguinis zum ius soli. Die im Inland geborenen Kinder, also die erste hier geborene Ausländergeneration, sollen die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten. Außerdem soll der Einbürgerungsanspruch, der nur an die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts gebunden ist, bereits nach acht Jahren entstehen.
Gleichzeitig sieht der Entwurf den Verzicht auf die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit vor. Er bringt also im Regelfall die doppelte Staatsbürgerschaft.
Meine Damen und Herren, auch die CDU/CSU-Fraktion sieht die Notwendigkeit einer umfassenden Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes.
({0})
- Wir gehen dann schon mit.
({1})
Umfangreiche Vorarbeiten und Prüfungen sind dazu noch im Gange und werden wohl auch noch einige Zeit in Anspruch nehmen.
({2})
Diese grundlegende Reform des Reichs- und Staatsangehörigkeitsrechtes sollte allerdings auch abgewartet und es sollte nicht vorher an einzelnen Bestimmungen des alten Gesetzes herumgedoktert werden.
Grundlage einer umfassenden Reform muß nach unserer Auffassung die weitere Integration der hier dauerhaft wohnenden ausländischen Mitbürger sein. Allerdings meinen wir, daß jeder, der auf Dauer hier bei uns leben will, sich auch einfügen, sich integrieren muß. Er muß die Grundwerte unserer Verfassung akzeptieren, die Gleichberechtigung der Frau, die
Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit anerkennen.
({3})
- Natürlich.
Unerläßlich ist die Beherrschung der deutschen Sprache, weil sonst ein gedeihliches Zusammenleben in der örtlichen Gemeinschaft nicht möglich ist und der Eingebürgerte sich weiterhin als Fremder fühlen wird.
Die Einbürgerung setzt auch eine erkennbare Bindung an die Bundesrepublik Deutschland voraus.
({4})
- Der Kollege Vergin sollte wissen, daß VillingenSchwenningen nicht in Oberschwaben, sondern in Südbaden liegt. - Zwangsläufig kann die Einbürgerung daher nur am Ende eines solchen Einfügungsprozesses stehen.
Meine Fraktion lehnt die generelle Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft nach wie vor ab.
({5})
Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist die Staatsangehörigkeit Ausdruck der Grundbeziehung, der mitgliedschaftlichen Verbindung und der rechtlichen Zugehörigkeit zur staatlichen Gemeinschaft. Daraus ergibt sich ein umfassendes Rechtsverhältnis, aus dem Rechte und Pflichten erwachsen. Staatsbürgerrechte und Staatsbürgerpflichten sind keineswegs nur beliebig austauschbare Äußerlichkeiten. Sie betreffen den innersten Kern unseres Staates und unserer Demokratie.
Unsere weiteren Argumente gegen die doppelte Staatsangehörigkeit sind bekannt und bedürfen heute keiner weiteren Erläuterung.
Auf ein tatsächliches und rechtliches Problem möchte ich aber trotzdem heute noch aufmerksam machen. Seit 1973 sind nicht weniger als zwei Millionen türkische Staatsangehörige in ihre Heimat zurückgekehrt. Im Falle der doppelten Staatsbürgerschaft wären große rechtliche Probleme bei den Kindern dieser Doppelstaatler in der Türkei zu erwarten. Auch dies, meine Damen und Herren, ist ein Grund, weshalb wir dem Gesetzentwurf des Bundesrates nicht zustimmen können.
Selbstverständlich ist unsere Bereitschaft, an einer umfassenden Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes mitzuarbeiten. Auch wir wollen die Integration der hier schon länger wohnenden und mit uns arbeitenden Ausländer in den Mittelpunkt unserer Arbeit stellen. Denkbar wäre für uns dabei die Herabsetzung der Mindestaufenthaltsdauer oder auch eine Erweiterung des Ausnahmetatbestandes bei der Inkaufnahme der doppelten Staatsangehörigkeit, z. B. auf Fälle, in denen erhebliche Rechtsnachteile drohten. Aber, meine Damen und Herren, es sollen Ausnahmefälle bleiben.
Einzelreparaturen sind Stückwerk. Wir wollen sie nicht fortführen.
({6})
Wir wollen gemeinsam die Generalüberholung dieses Gesetzes verwirklichen. Dazu sind eine umfassende Konzeption und die Vorlage der Ergebnisse der BundLänder-Arbeitsgruppe zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts notwendig.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Ich erteile der Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute die erste Beratung des Gesetzentwurfs zur Änderung und Ergänzung des Staatsbürgerschaftrechts aus dem Bundesrat.
Die drei grundlegenden Positionen zur Erleichterung der Einbürgerung werden, was kein Geheimnis ist, von meiner Fraktion geteilt.
Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, Sie wissen es so gut wie alle hier im Raum, daß Koalitionsverträge Verträge sind und daß das nicht immer einfach ist. Wenn ich nach Hamburg sehe, Frau Kollegin, dann habe ich das Gefühl, daß es dort im Moment einige Schwierigkeiten gibt, und zwar, weil man sich so schwer einigt.
Zu den drei Grundpositionen: Da ist zum einen der Rechtsanspruch auf Einbürgerung, eine frühere Einbürgerung; da ist zum zweiten die deutlich erweiterte Hinnahme der Doppelstaatsbürgerschaft - das teilt die F.D.P.-Fraktion --; und da ist drittens die zusätzliche Einführung des Territorialprinzips, d. h. der automatischen Staatsbürgerschaft für Kinder der dauerhaft bei uns lebenden Eltern. Im Bundesratsvorschlag ist die zweite Generation vorgesehen. Meine Fraktion meint wie Sie, die dritte Generation sei wichtig. Darüber sollte es jetzt keinen Streit geben. Wichtig ist, festzustellen, daß das natürlich nur zusätzlich zum Abstammungsrecht eingeführt werden kann.
Einige Vorschläge - das haben wir heute auch von Ihnen gehört, Herr Staatssekretär - sind schon geltendes Recht. Dabei merkt man, daß es sich lohnt, Vorschläge zu machen; sonst ändert sich nämlich gar nichts. Ich nenne hier den Anspruch auf Einbürgerung, wie es ihn zum ersten Mal seit dem 1. Juli dieses Jahres gibt - das ist gut -, verbunden mit einer sehr niedrigen Gebühr, und die Gleichstellung von ehelichen und nichtehelichen Kindern.
In der Stellungnahme der Bundesregierung heißt es, daß mit dem Bundesrat darin übereingestimmt wird, daß die Integration der voraussichtlich auf Dauer hier lebenden Ausländer nach Kräften gefördert werden soll. Es heißt weiter, daß eine umfassende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts für dringlich gehalten wird und daß im Zuge dieser Reform unter Abwägung aller Argumente pro und contra zu entscheiden sein wird und, wenn ja, welche weiteren Erleichterungen
in Betracht kommen. Da hat man nun das Gefühl: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, und man will niemanden erschrecken. Aber immerhin, es rührt sich etwas. Ich meine, man sollte diese Reform beherzt angehen und zügig entscheiden. Wir haben nämlich keine Zeit zu verlieren.
({0})
Warum dies so wichtig ist, zeigt besonders die Situation der ausländischen Jugendlichen.
({1})
Sie haben im Vergleich mit deutschen Jugendlichen einen höheren Anteil an ihrer Altersgruppe, als der Gesamtanteil der Ausländer an der Bevölkerung beträgt. Das bedeutet im Klartext: Wir haben hier viele junge Leute, von denen -- dies ir Klammern gesagt - die meisten hier geboren sind.
Viele von Ihnen befinden sich in einer widersprüchlichen Lebenssituation. Aber gerade Jugendlichen sollte der Zwiespalt, als Ausländer im eigenen Heimatland aufzuwachsen, erspart bleiben. Zu den Widersprüchen gehört, daß sie einerseits in einem demokratischen Land heranwachsen und in der Schule zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern erzogen werden - hoffentlich! -, andererseits aber erleben, daß sie an Wahlen nicht teilnehmen können.
Das Bild, das sie von sich selbst haben - nämlich: „Wir leben wie deutsche Jugendliche" -, stimmt mit dem Bild, das andere von ihnen haben, nämlich daß sie anders, daß sie Ausländer sind, nicht überein. Das ist für die psychische Gesundheit nicht besonders förderlich. Einerseits wird von ihnen gefordert, sich zu integrieren, andererseits stoßen sie immer wieder an die Grenzen dieser Integration. Das betrifft z. B. die Fragen von Bildung und Ausbildung, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das haben wir ja in der letzten Sitzungswoche behandelt. Dabei wurde von allen Seiten dieses Hauses sehr deutlich gemacht, wo die Schranken liegen.
Es gibt den Streit, ob die Staatsbürgerschaft der Endpunkt einer vollzogenen Integration oder die Grundlage für eine Integration sei. Offen gestanden halte ich diesen Streit für ziemlich töricht; denn er verkennt die Realitäten.
({2})
Die Integration ist nämlich beides: Integration ist natürlich eine Voraussetzung; aber die Sicherheit des Status befördert die Integration auch.
({3})
Unter allen Formen der Gleichberechtigung ist die politische sicher die wichtigste. Nur als Staatsbürger kann man der einheimischen Bevölkerung gleichgestellt werden. Das wird so bleiben.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Darf ich noch meinen Schlußsatz sagen? - Das Thema ist hochemotional. Völkischer Nationalismus hat in der Bundesrepublik der Gegenwart natürlich überhaupt keinen Platz. Trotzdem tun wir uns so schwer, deutsche Staatsbürger ausländischer Herkunft als echte Deutsche anzuerkennen. Die Änderung dieser Einstellung wird den Wandel herbeiführen. Es kommt darauf an, ob wir Staatsbürgerschaft als ein Band betrachten, das uns in einer Gemeinschaft vereinigt, oder als ein Band, das andere Leute ausgrenzt.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile der Kollegin Ulla Jelpke das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor allem nach den Mordanschlägen von Solingen wurden die Erleichterung der Einbürgerung und die Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes als Zauberwaffen gegen rassistische Übergriffe und wachsende Ausländerfeindlichkeit ins Feld geführt. Mehr als eine Million Unterschriften unter die Forderung nach doppelter Staatsbürgerschaft wurden von Bürgerinnen und Bürgern gesammelt.
Zwei Gesetzentwürfe sind inzwischen im parlamentarischen Prozeß. Mit dem einen versucht die SPD, ihren Kniefall in Sachen Asylkompromiß auszubügeln.
({0})
- Ja, so verstehe ich das. - Der zweite ist der heute zu behandelnde Entwurf des Bundesrates, der auf die Initiative der Ausländerbeauftragten zurückgeht.
Der vorliegende Entwurf nähert sich einigen Tabugrenzen bisheriger Regelungen an - mehr leider nicht. Er ist von einigem ideologischen Gerümpel, das auch noch im SPD-Entwurf mitgeschleppt wird, befreit. Straffreiheit und kein Bezug von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe fehlen als direkte Voraussetzung für eine Einbürgerung. Indirekt sind sie natürlich über Ausländer- und Asylverfahrensgesetz weiterhin beibehalten. Insofern wagt der Entwurf den Bruch mit der bisherigen Praxis leider nicht.
Auch der Kreis der zu einem Anspruch auf Einbürgerung Berechtigten wird in dem Entwurf erweitert, aber das restriktive Spielchen mit den Fristen wird beibehalten. Warum beispielsweise muß die Ehe mit einer Ausländerin oder mit einem Ausländer ausgerechnet drei Jahre im Geltungsbereich dieses Gesetzes geführt worden sein, um einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung zu erlangen?
Dasselbe gilt für die lebensfremden Fristen für Kinder. Warum - so steht es im vorgeschlagenen § 10 - erhält ein Kind einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung erst, wenn es „seit drei Jahren im Geltungsbereich dieses Gesetzes in familiärer Gemeinschaft lebt"? Vom befürchteten Mißbrauch wird hier nicht gesprochen, aber genau das steckt hinter dieser Regelung. Gesprochen wird ebenfalls nicht von der Integrationsbereitschaft als Voraussetzung. In diesem Entwurf ist von einer dauerhaften Perspektive, die durch bestimmte Fristen belegt werden muß, die Rede.
Wie gesagt, die ideologische Entrümpelung ist natürlich zu begrüßen. Andererseits eröffnet sie durch ihre Halbherzigkeit weiterhin den unsäglichen Debatten um einen angeblich ausländerspezifischen Mißbrauch Tür und Tor. Die Bundesregierung läßt bisher keinerlei Entgegenkommen erkennen. Weder bei der Anhörung zum SPD-Entwurf noch in ihrer Stellungnahme zu dem jetzigen Gesetzentwurf ist Flexibilität erkennbar.
Seit Monaten kündigt die Bundesregierung umfassende Reformen des Staatsangehörigkeitsrechtes an und fegt damit alle konkreten Alternativen vom Tisch.
Frau Kollegin, noch einen Satz, bitte.
Es ist zu befürchten, daß sie die negativen Entwicklungen in Westeuropa, z. B. in Frankreich, zum Anlaß nehmen will, um hier auf dem alten völkischen Recht zu beharren.
Wir werden uns auf jeden Fall dafür einsetzen, daß Art. 116 Grundgesetz im Sinne einer wirklichen Einbürgerung verändert wird.
Danke.
({0})
Ich erteile dem Kollegen Konrad Weiß das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 41 Jahre lang lebten in Deutschland 17 Millionen Menschen, die die doppelte Staatsangehörigkeit hatten.
({0})
Ich war einer von ihnen. Wir waren Bürgerinnen und Bürger der DDR, wie widerwillig oder wie begeistert auch immer. Wir hatten aber den Rechtsanspruch darauf, in der Bundesrepublik Deutschland Bürgerinnen und Bürger zu werden.
Diesen Rechtsanspruch haben Ausländerinnen und Ausländer, die oftmals seit Jahren schon in Deutschland leben, heute nicht. In Deutschland leben fast 6 Millionen ausländische Bürgerinnen und Bürger, davon ein Drittel, also 2 Millionen, die länger als 10 Jahre hier leben und denen die mindesten und elementarsten Bürgerrechte vorenthalten werden. Das hat inzwischen geradezu irrationale Züge.
({1})
Ich frage mich, warum eine Partei wie die CDU, deren Vorsitzender Konrad Adenauer - ich denke, er war kein Grüner - die doppelte Staatsangehörigkeit für Franzosen und Deutsche gefordert hat, sich jetzt dagegen sträubt. Auch Carlo Schmid hatte schon 1949 den Vorschlag gemacht, daß es mehrere Staatsangehörigkeiten geben möge. Man möge eine, zwei, drei oder vier Staatsangehörigkeiten dulden. Ich denke, das ist richtig so.
({2})
Internationale Erfahrungen, z. B. im Commonwealth oder zwischen Argentinien und Italien, zwischen Spanien und den iberoamerikanischen Staaten, wo das längst praktiziert wird, zeigen, daß das geht.
In den vergangenen Monaten haben 1 Million Bürgerinnen und Bürger in einer Sammlung von Unterschriften, die vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN logistisch unterstützt wurde, ihre Unterschrift dafür gegeben, daß Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland leichter eingebürgert werden können.
Wir begrüßen es, daß nun ein Gesetzentwurf vom Bundesrat vorgelegt worden ist, in dem weitgehend Vorschläge, die vom BÜNDNIS 90 in der Vergangenheit gemacht worden sind, aufgegriffen worden sind. Er geht uns nicht weit genug. Aber wir werden diesen Vorschlag, diesen Gesetzentwurf mit unterstützen.
Ich würde mir wünschen, meine Kolleginnen und Kollegen, wenn es darüber hinaus eine Initiative des Deutschen Bundestages gäbe, wenn sich diejenigen in allen Fraktionen, die sich für eine Erleichterung der Einbürgerung und für eine doppelte Staatsangehörigkeit einsetzen, zusammenfänden und den Fraktionsdruck durchbrächen, um diese vernünftige, humane, menschliche und unserem Land sicher dienliche Sache endlich durchzubringen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist ein gutes Stück überschritten.
Ich bedanke mich, Herr Präsident. Ich wünsche, daß wir zu einem solchen Gruppenantrag kommen.
({0})
Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 12/5684 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
ZP2 Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Bericht über die Sondersitzung des Europäischen Rates in Brüssel vom 29. Oktober 1993
ZP3 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Forderungen an die künftige Europapolitik der Bundesregierung
- Drucksache 12/6106 Überweisungsvorschlag:
EG-Ausschuß ({0})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Aussprache nach der Regierungserklärung bis 16 Uhr dauern. Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 1. November 1993, vor wenigen Tagen, ist der MaastrichtVertrag in Kraft getreten. Dies ist ein historisches Datum für Europa und ein großer Erfolg für unsere Politik.
({0})
Aus diesem Anlaß ist der Europäische Rat am 29. Oktober auf Grund einer deutsch-französischen Initiative zu einer Sondertagung zusammengetreten.
In unserer gemeinsamen Botschaft haben Präsident Mitterrand und ich darauf hingewiesen, daß die Völker der Europäischen Gemeinschaft wie auch die Völker Europas überhaupt gerade jetzt erwarten, daß wir in der EG als eine starke und geschlossene Gemeinschaft alles dafür tun, um Frieden, Sicherheit, Wohlstand und Solidarität auf unserem Kontinent zu sichern.
Nachdem der Vertrag jetzt in Kraft getreten ist, muß er mit Leben erfüllt werden. Diesem Ziel dienten sowohl unsere Sondertagung am 29. Oktober wie auch die Jahrestagung des Europäischen Rats am 10. und 11. Dezember. Beide Termine bilden auch politisch eine Einheit.
Das Ergebnis der Tagung in Brüssel ist für mich ermutigend. Die Botschaft aller Staats- und Regierungschefs lautet: Wir müssen alles tun, damit Europa vorankommt.
({1})
Insbesondere für uns Deutsche hat die Sondertagung ein hervorragendes Ergebnis gebracht. Die Entscheidung für Frankfurt am Main als Sitz des Europäischen Währungsinstituts und der künftigen Europäischen Zentralbank war nicht selbstverständlich. Ich bin für diese Entscheidung dankbar.
({2})
Diese Entscheidung ist ein überzeugendes Zeichen des Vertrauens in uns Deutsche und in unsere am Ziel der Geldwertstabilität ausgerichtete Währungspolitik. Die Deutsche Bundesbank und mit ihr Frankfurt am Main sind in den vergangenen Jahrzehnten in Europa, ja weltweit, zum Symbol für diese Stabilitätspolitik geworden.
Meine Damen und Herren, bei dieser Entscheidung war es wichtig, daß meine Kollegen im Rat begriffen und zur Kenntnis genommen haben, daß wir im Blick auf die Frage der Währung in Deutschland wegen unserer Erfahrungen in einer ganz besonders schwierigen psychologischen Lage leben. Die Mehrheit der heute lebenden Deutschen hat den Zusammenbruch nach dem Krieg und das Jahr 1948 mit der Währungsreform erlebt. Viele von uns haben noch durch die Eltern von den schlimmen Erfahrungen während der großen Inflation nach dem Ersten Weltkrieg gehört.
So ist die Deutsche Mark mit dem Tag der Währungsreform 1948 und mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland schon sehr früh für viele in Deutschland und in der Welt zu einem wichtigen Symbol der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland geworden. Wir haben in diesen Jahren erfahren, daß die stabile Deutsche Mark auch für viele in der Welt eine ganz bestimmte Verbindung zum stabilen neuen demokratischen Deutschland gebracht hat. Es war kein Zufall - und es tut gut, in dieser Woche daran zu erinnern -, daß unsere Landsleute in den neuen Ländern im Jahre 1990 immer wieder gefordert haben: Auch wir wollen die D-Mark haben. Damals hieß der Slogan: Wenn die D-Mark nicht zu uns kommt, gehen wir zur D-Mark.
Unsere Partner und Freunde in der Europäischen Gemeinschaft teilen mit uns die Überzeugung, daß eine künftige europäische Währung genauso stabil sein muß wie die D-Mark. Deswegen bin ich besonders dankbar für die Entscheidung, die Europäische Zentralbank nach Frankfurt zu holen. Damit ist für viele nicht nur in Deutschland das Zeichen gegeben, daß eine neue europäische Währung eine stabile Währung sein muß. Das ist die Bedingung für uns alle.
({3})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 12. Oktober die Europapolitik der Bundesregierung in allen wesentlichen Punkten bestätigt. Die Bundesregierung hat damit den notwendigen politischen und rechtlichen Spielraum für eine konsequente Fortsetzung der deutschen Europapolitik in Richtung auf eine politische Union erhalten, die auf dem Maastricht-Vertrag und dem neuen Art. 23 des Grundgesetzes aufbaut. In vollem Einklang mit der Politik der Bundesregierung hebt das Urteil hervor, daß mit dem weiteren Ausbau der Gemeinschaft auch die demokratische Kontrolle der Politik der Gemeinschaft durch die Parlamente, den Bundestag und das Europäische Parlament, zu stärken ist.
Die besondere Hervorhebung der Stabilitätskriterien für die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion entspricht ohne Einschränkung unserer Politik. Bekräftigt wird insbesondere die Auffassung, daß die Wirtschafts- und Währungsunion als eine Stabilitätsgemeinschaft angelegt ist. Zur Verwirklichung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion gehört aber auch, daß wir alle unsere Anstrengungen fortsetzen und durch eine konsequente Politik der Stabilität, auch durch notwendige Strukturveränderungen, eine möglichst große Annäherung der nationalen Volkswirtschaften in der Gemeinschaft erreichen. Erst wenn wir diese zwingenden Voraussetzungen des Maastricht-Vertrages erfüllen, werden wir eine gemeinsame europäische Währung einführen können. Das sind schwierige Hausaufgaben für uns alle, auch und gerade für uns Deutsche.
Mit Blick auf die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion haben Deutschland und Frankreich erstmals ihre nationalen Konvergenzprogramme gemeinsam der Europäischen Kommission und dem EG-Währungsausschuß zugeleitet.
Meine Damen und Herren, wie so oft in den letzten zehn Jahren hat in den letzten Wochen und Monaten wiederum das Wort von der Euroskepsis die Runde gemacht. Vor zehn Jahren war es der Begriff Euro16280
sklerose. Insofern hat sich bei den Pessimisten etwas verbessert.
({4})
Von einer schweren Krankheit sind wir zu einer Befindlichkeitsstörung - wie man in der Modesprache sagt - übergegangen.
Ich denke, wir müssen ungeachtet unserer Entschiedenheit auf dem Weg nach Europa die Fragen und Sorgen unserer Bürger verstehen. Wir müssen sie ernst nehmen, weil sie eine Realität sind, auch jene Befürchtungen, die unbegründet sind. Das erfordert von uns allen, die wir uns der Idee des geeinten Europas verschrieben haben, das Notwendige zu tun, um die Köpfe und die Herzen unserer Bürger für die europäische Einigung zu gewinnen.
Dabei muß man bedenken - das sage ich auch manchem, der von außerhalb der deutschen Staatsgrenzen unser Land beobachtet und vielleicht auch kritisiert -, daß die geschichtlichen Umwälzungen der vergangenen vier Jahre, jede für sich genommen, hohe und höchste Anforderungen an unsere Veränderungs- und Reaktionsfähigkeit stellen. Das Ende des kalten Krieges, der Zusammenbruch des Kommunismus, die deutsche Einheit, die Freiheit für Mittel-, Ost- und Südosteuropa und das Ende der Sowjetunion liefen im Rückblick in einer Art historischem Zeitraffertempo ab. Viele konnten dies nicht so schnell verarbeiten. Deshalb müssen wir Geduld und Verständnis für jene haben, die diese gewaltigen historischen Umbrüche nur schwer verarbeiten und verstehen.
Wahr ist auch, daß die Umwälzungen auf unserem Kontinent und nicht zuletzt bei uns in Deutschland vielfach vom europäischen Integrationsprozeß abgelenkt haben. Viele stellen ganz einfach die Frage: Mull das sein, erst die Einigung Deutschlands mit allen Herausforderungen und auch Problemen, und jetzt auch noch die Einigung Europas?
Es kommen Fragen auf - wir müssen uns diesen Fragen stellen -, ob dieses Europa nicht ein Europa sei, das überbürokratisiert und eine zentralistisch gesteuerte Maschinerie sei.
Es ist sicher richtig - wir haben gerade vor einem Jahr auf dem Gipfel in Edinburgh darüber diskutiert, wie man das abstellen kann, und bestimmte Beschlüsse gefaßt -, daß manche EG-Richtlinien wenig sinnvoll sind, daß ihr Sinn und Zweck schwer zu vermitteln sind, daß es hier gelegentlich einen Regulierungseifer gibt, den wir durchaus entbehren können.
({5})
Ich halte es aber nicht für fair - das sage ich auf Ihren freundlichen Beifall hin, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen -, wenn man in diesem Zusammenhang alles der EG und Europa anlastet und nicht einmal genau hinschaut, wei jeweils mit massivem parlamentarischem und ökonomischem Druck versucht, solche Richtlinien herbeizuführen.
({6})
Das ist natürlich nicht nur eine deutsche Frage, sondern sie betrifft alle Nationen. Es gibt nicht wenige in der Wirtschaft - im weitesten Sinne des Wortes - und sicherlich auch in der Politik, die mit bestimmten Wünschen auf nationaler Ebene gescheitert sind und anschließend, nachdem es in Bonn, Paris oder London nicht funktioniert hat, ihre Intentionen geschickt auf diesem oder jenem Weg in Brüssel in die Gemeinschaft einbringen.
Ich habe übrigens nicht wenige auf großen Veranstaltungen von Verbänden und Organisationen darüber klagen hören, daß die Situation so ist, aber sie sagen nicht, daß sie selbst die Hauptakteure dieser Entwicklung waren. Auch das gehört zur Wirklichkeit unseres Landes.
Meine Damen und Herren, die Reaktion auf einen vermeintlichen Zentralismus, den wir alle nicht wollen, kann und darf auf keinen Fall der Rückzug auf eine überlebte nationalstaatliche Denkart sein.
({7})
Wir haben sowohl die Ökonomie als auch die Ökologie zu betrachten, die Herausforderungen im wirtschaftlichen Bereich, etwa die Konkurrenzsituation in bezug auf den Fernen Osten, aber auch die europäischen Bildungsinstitutionen. Ich warne davor, den Bau des geeinten Europas als eine rein ökonomisch-soziale Frage anzusehen und dabei die kulturelle Dimension dieses Europas, das wir wünschen, zu übersehen.
({8})
Wenn das richtig ist - und ich kenne niemanden, der es bestreiten kann -, dann muß man auch sagen, daß wir diese Herausforderung nur gemeinsam bestehen. Wir wollen ein Europa, ein geeintes Europa - wir wollen konkret die Politische Union -, das seine Kräfte bündelt, zugleich aber die Vielfalt und die Identität seiner Mitgliedsstaaten wahrt. Das ist sehr wohl miteinander zu verbinden, ja, es ist doch die Voraussetzung. Wir bleiben selbstverständlich in diesem Europa Franzosen, Italiener, Niederländer, wir bleiben Deutsche und zugleich Europäer.
Einheit in Vielfalt ist die einzig vernünftige Alternative zu einem öden Zentralismus. Dies entspricht auch, meine Damen und Herren, unserer Erfahrung und unserem Verständnis von Föderalismus. Es ist schwer, dies immer in EG-Gremien zu sagen, weil so etwas auf den Gedanken hinleitet, die Deutschen wollten in allen Fällen versuchen, wieder Vorbild zu sein. Unsere föderale Ordnung hat sich in den 44 Jahren der Geschichte unserer Bundesrepublik bewährt. Diese positive Erfahrung wollen wir in den europäischen Einigungsprozeß einbringen.
Aber föderale Erfahrung, meine Damen und Herren, ist nicht Eigenbrötelei.
({9})
Föderale Erfahrung bedeutet, daß das einzelne Bundesland auf die Dauer nur geraten kann, wenn das
Land als Ganzes, die Bundesrepublik Deutschland, gerät.
({10})
- Wenn Sie den Zwischenruf „Richtig! " machen, sollten Sie sich noch einmal - ich komme gerade aus dem Gespräch mit den Bildungsfachleuten - das Paket im Blick auf die Zuständigkeiten betrachten. Wenn wir über die Verfassungsänderung sprechen, dann werden wir darüber noch einmal zu reden haben.
Wir wollen ein bürgernahes Europa, und deshalb haben wir im Vertrag von Maastricht das Subsidiaritätsprinzip durchgesetzt, das ja zudem richtigerweise in unserem Grundgesetz im neuen Art. 23 verfassungsrechtlich verankert ist. Dieses Subsidiaritätsprinzip bedeutet, daß die höhere Ebene nur dann tätig werden darf, wenn es nachweislich notwendig ist, und sie darf sich nicht anmaßen, alles bis ins letzte Detail regeln zu wollen.
({11})
Sehen Sie, meine Damen und Herren, ich sage das jetzt gerne auch in die bundesstaatliche Diskussion hinein, was nämlich für die EG und die Politische Union und für Europa gilt, gilt natürlich auch für die nationalen Verantwortungen. Die Verantwortung und die Lösungskompetenz ist vor allem dort gefordert, wo man die Entscheidung am besten regeln kann. Es ist nicht der richtige Weg, weder im Blick auf Europa noch auf die bundesstaatliche Ordnung in Deutschland, wenn die unbequemen Dinge jeweils auf die nächsthöhere Ebene abgeschoben werden.
In dieses Bild gehört auch, daß wir unsere Vorstellung von föderaler Ordnung einbringen in die Europäische Gemeinschaft, die Politische Union. Bezogen auf unsere Ebene heißt dies, daß sie nicht nur aus Bund und Ländern, sondern aus Bund, Ländern und Gemeinden besteht.
({12})
Denn das ist eine entscheidende Voraussetzung für die zukünftige Entwicklung.
Wir haben hier, wie ich denke, einen wirklichen Schatz aus unserer Geschichte einzubringen. Das, was in der Steinschen Gemeindereform gewachsen ist, was sich weiterentwickelt hat, wird von vielen in Europa als vorbildlich betrachtet. Wir sollten alles versuchen, daß beim Werden und Zusammenwachsen der Politischen Union auch die Ebene der Gemeinde ihr eigenes Gewicht behält, weil sie nun in der Tat in einer besonderen Weise berufen ist, zu bürgernahen Entscheidungen beizutragen.
Meine Damen und Herren, es ist nun vier Jahre her, daß die Berliner Mauer fiel. Es sind drei Jahre, seit das Land wiedervereint wurde. Und es ist wichtig, weil es viele vergessen oder vergessen wollen, daß die deutsche Einheit im Jahre 1990 nur denkbar war mit Zustimmung all unserer Partner und Freunde. Das war ein einmaliger historischer Vorgang.
({13})
Diese Zustimmung haben wir nur bekommen, weil die deutsche Einheit 1989 und 1990 nicht in einen europäischen geschichtslosen Raum gefallen ist, sondern weil Jahrzehnte gemeinsamer Partnerschaft in den Institutionen der EG, übrigens auch in der Atlantischen Allianz, vorhergegangen waren.
Deswegen bleibt der Satz Adenauers richtig und ist Richtschnur für die Politik der Bundesregierung, daß deutsche Einheit und europäische Einigung auch in Zukunft zwei Seiten einer Medaille bleiben.
({14})
Meine Damen und Herren, ich sage das auch in Rückschau auf diese letzten vier Jahre Einigungsprozeß. Wir haben ja fast täglich Gelegenheit, an Hand interessanter Memoiren von Zeitgenossen und Zeitgenossinnen diesen Prozeß zu einem Teil nachzuvollziehen.
({15})
- Ich weiß gar nicht, was Sie da unter einem Syndrom verstehen. Sie haben doch genug Gelgenheit, sich im bayerischen Wahlkampf zu betätigen; das brauchen Sie doch hier nicht zu machen.
({16})
Meine Damen und Herren, wir dürfen dabei nicht übersehen, daß bei unseren Nachbarn auch Ängste vor einem, wie Margeret Thatcher es sagt, zu mächtigen Deutschland bestehen. Gerade in dieser Woche ist es wichtig, daran zu erinnern, daß die Erfahrung mit den Deutschen in der jüngsten Geschichte selbstverständlich noch überall präsent und lebendig ist.
Es ist auch wahr, daß wirtschaftlicher Neid im Zusammenhang mit den Erfolgen der Deutschen eine Rolle spielt und daß das Mißgunst erzeugt. Warum sollte das bei unseren europäischen Partnern anders sein als bei uns zu Hause in Deutschland?
Dies alles sind Realitäten, ob es uns paßt oder nicht. Ziel deutscher Politik, Ziel der Europapolitik, überhaupt Ziel unserer Außenpolitik muß sein, diese tatsächlichen und vermeintlichen Ängste abzubauen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß dies wirklich überzeugend und dauerhaft nur geschehen kann, wenn wir, die Deutschen, gemeinsam mit unseren Nachbarn und Partnern unter einem gemeinsamen europäischen Dach leben.
({17})
Dabei ist ein wichtiger Grundsatz herauszustellen, der in der ersten Regierungserklärung Konrad Adenauers angesprochen wurde und den in dieser oder anderer Form Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt und Helmut Schmidt im Deutschen Bundestag in vielen Debatten und der Welt in vielen Äußerungen deutlich gemacht haben. Das ist der Grundsatz, daß unsere Partner Deutschland als einen verläßlichen und berechenbaren Freund und Nach16282
barn kennen und schätzen müssen. Das ist die Voraussetzung für eine friedliche Zukunft.
({18})
Meine Damen und Herren, nicht zuletzt der Krieg im früheren Jugoslawien hat die bisherigen Grenzen der Europäischen Gemeinschaft bei Krisenvorbeugung und Krisenlösung deutlich aufgezeigt. Wir alle leiden darunter, daß wir mitten im Bau des geeinten Europas bei dieser Heimsuchung ein alles andere als überzeugendes Bild abgeben. Aber es ist auch nicht fair, dies der Gemeinschaft in ihrer bisherigen Situation und Struktur vorzuwerfen, weil eben jeder, der sich ernsthaft mit den Dingen beschäftigt, zugeben muß, daß man bisher, vor dem Maastricht-Vertrag, die notwendigen Kompetenzen und Instrumente gar nicht hatte. Es gibt jetzt diesen Vertrag, und es gibt die Möglichkeit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die ihren Namen wirklich verdient.
Deswegen müssen wir jetzt auch im Blick auf die barbarische Situation, die wir Abend für Abend in den Fernsehnachrichten verfolgen können, alles tun, um trotz der Vorgeschichte, die bis zu den Vorort-Verträgen von Paris nach dem Ersten Weltkrieg zurückreicht, zu gemeinsamen Positionen und Aktionen zu kommen.
Dies war die Botschaft, die François Mitterrand und ich auch im Vorfeld der Sondertagung an den Rat gegeben haben.
Der Bundesaußenminister und der französische Außenminister haben in den letzten Tagen die erste wichtige gemeinsame Aktion der Europäischen Union auf der Grundlage des Vertrages von Maastricht angestoßen. Angesichts des herannahenden Winters gilt es jetzt vor allem, ganz schnell die notwendige, auch humanitäre Hilfe für die Menschen in Bosnien auf den Weg zu bringen.
Darüber hinaus haben die Außenminister der Europäischen Union, ebenfalls auf Grund eines Anstoßes des deutschen und des französischen Außenministers, einen neuen, umfassenden Impuls für eine Friedenslösung in Bosnien-Herzegowina und für eine schrittweise Lösung der gefährlichen Lage in den besetzten kroatischen Gebieten gegeben.
Herr Präsident, meine Damen und Herren,
({19})
- Entschuldigung, ich bin ja für jeden Verbesserungsvorschlag von Ihnen dankbar, meine Damen und Herren.
({20})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, von besonderer Bedeutung ist für uns alle, d. h. für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die Frage der inneren Sicherheit. Terrorismus - wir erleben das in diesen Tagen in einer besonders deutlichen Weise -, Drogenmafia und organisiertes Verbrechen operieren längst grenzüberschreitend. Es ist völlig ausgeschlossen, daß wir dieser Herausforderung und dieser Gefahr nur mit den nationalen Möglichkeiten begegnen. Das ist keine Kritik etwa an der nationalen Polizei, aber die internationale Drogenmafia operiert weltweit, und für sie sind die Möglichkeiten, die eine nationale Polizei, auch die deutsche, hat, überhaupt nicht in dem Sinne gefährlich, daß sie auf die Dauer diesem Verbrechertum das Handwerk legen könnte.
Ich habe hier zu einem früheren Zeitpunkt schon eingeräumt, daß zu den Enttäuschungen bei der Verhandlung über den Maastricht-Vertrag für mich gehört, daß wir uns damals nicht zu einer gemeinschaftlichen Entscheidung haben durchringen können, weil wir keine Einstimmigkeit erreicht haben in den Fragen des Asylrechts und in den Fragen der europäischen Polizeiarbeit.
Jetzt haben wir wenigstens die Chance, Europol so schnell wie möglich in die Lage zu versetzen, handlungsfähig zu sein. Aber das, was bisher - ich will offen sagen, wie ich es empfinde - bei Europol vorgesehen und angedacht ist, ist für das, was ich eben hier gefordert habe, überhaupt nicht ausreichend. Es ist mit Sicherheit nicht ausreichend, wenn jetzt die nationalen Polizeien eine wesentliche Verdichtung ihrer Informationen schaffen. Was wir brauchen, ist eine europäische Polizeibehörde zur Bekämpfung des internationalen Verbrechens auch über Staatsgrenzen hinweg in enger Einbindung der nationalen Polizeien.
({21})
Wir haben jetzt in Brüssel die Innen- und Justizminister aufgefordert, ein sehr konkretes Arbeitsprogramm bis zum Europäischen Rat im Dezember zu erarbeiten und vorzulegen.
Die Diskussion, meine Damen und Herren, um die Einigung Europas und um den Vertrag von Maastricht fällt in eine Zeit, in der alle Staaten der Gemeinschaft in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage sind. 17 Millionen Bürger der Gemeinschaft sind arbeitslos. Arbeitslosigkeit zu überwinden und neue Arbeitsplätze zu schaffen ist eine der zentralen Aufgaben nicht nur für die nationalen Regierungen, sondern auch für die Gemeinschaft. Gerade im wirtschaftlichen Bereich stehen wir vor den größten Herausforderungen auch in der Gemeinschaft. Unsere Volkswirtschaften sind einem immer stärkeren Konkurrenzdruck aus den USA und vor allem aus Ostasien ausgesetzt.
Darüber hinaus wachsen nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems und dem Aufbau der Marktwirtschaft in den Ländern Mittel-, Süd- und Osteuropas neue, leistungsfähige Volkswirtschaften heran. Wir wünschen dies doch auch, weil ohne den Erfolg der Reformstaaten - ich nenne hier die Tschechische Republik genauso wie Ungarn und Polen, aber auch Rußland - auf Dauer dort keine friedliche Entwicklung möglich sein wird. In wenigen Jahren, werden u. a. diese Länder ihre Volkswirtschaften modernisiert haben. Sie werden dann natürlich nicht nur Konkurrenten, sondern auch leistungsfähige Handelspartner sein. Ich sehe in einer solchen Entwicklung vor allem eine große Chance. Es wäre ein verhängnisvoller Fehler - ich spreche dies aus, weil man solches in Deutschland und Europa gelegentlich hört -, wenn die Westeuropäer glaubten, sie könnten daraus Nutzen ziehen, wenn sie sich dem Wettbewerb
entzögen, indem sie ihre eigenen Märkte abschotten.
({22})
Deswegen: Bei allen Problemen, die die GATTVerhandlungen mit sich bringen, sind wir elementar an einem Erfolg von GATT interessiert. Wir müssen als Westeuropäer einsehen, daß auch die Chance besteht, daß wir durch eine neue Konkurrenz, etwa aus deutscher Sicht unmittelbar vor unserer Haustür, gezwungen sind, verkrustete Strukturen endlich aufzubrechen und den Blick auf die Zukunft zu richten. Wenn wir Arbeitsplätze erhalten und neue Arbeitsplätze schaffen wollen, muß die Wirtschaft wettbewerbsfähig sein, müssen die Handelsströme fließen, müssen Anreize für Innovationen und Investitionen geboten werden. Das geht eben nur in einem Klima offener Märkte.
Wenn wir von Wettbewerbsfähigkeit sprechen, stellt sich nicht nur in Deutschland, sondern auch in EG-Europa unweigerlich die Frage nach dem Wirtschaftsstandort Europa. Wir müssen gemeinsam versuchen, unser enormes Potential zur Innovation für Wachstum zu nutzen. Auch dies ist, glaube ich, ein wesentlicher Punkt der Diskussion, die wir im Blick auf die Zukunftssicherung des Standorts Deutschland seit der Vorlage der Bundesregierung Anfang September führen.
Auf der Sondertagung des Europäischen Rates in Brüssel haben wir uns in Vorbereitung der Hauptsitzung im Dezember sehr intensiv mit der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Gemeinschaft beschäftigt. Wir haben einen ersten Zwischenbericht des Präsidenten der Kommission, Jacques Delors, entgegengenommen, der den Auftrag hat, für die Kommission bis zum Dezember ein Weißbuch über eine mittelfristige Strategie für Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung vorzulegen. Er hat uns grundlegende erste Diskussionsbeiträge vorgetragen. Wir müssen nicht nur im nationalen, sondern auch im europäischen Bereich intensiv an diesem Thema arbeiten. Wir brauchen in Europa und in Deutschland die richtigen Rahmenbedingungen. Auch hier zeigt sich, daß diese Bedingungen optimal nur im Rahmen der Gemeinschaft der Europäischen Union geschaffen werden können.
Meine Damen und Herren, bei all dem, was jetzt zu tun ist und diskutiert wird, sollten wir eines nicht vergessen - das ist ein weiteres Argument für die europäische Einigung -: Der Zusammenschluß Westeuropas in der EG hat bisher ganz entscheidend zu Beschäftigung, Wachstum und wirtschaftlichem Wohlstand in Deutschland beigetragen. Wirtschaftlich hat unser Land in den vergangenen Jahrzehnten von den europäischen Rahmenbedingungen, die die EG und die EFTA geboten haben, mehr profitiert als alle anderen. Der deutsche Export ist und bleibt die entscheidende Säule bei der Erarbeitung unseres Bruttosozialprodukts. Jeder dritte Arbeitsplatz in Deutschland hängt vom Export ab. Wir erwirtschaften ein Drittel unseres Bruttosozialprodukts durch Exporte, von denen wiederum drei Viertel - man muß es wiederholen: drei Viertel - von unseren europäischen Nachbarn abgenommen werden. In keine andere Region der Welt sind unsere Exporte so stark gestiegen wie in die Länder der Europäischen Gemeinschaft. Wenn ich dies so deutlich hervorhebe, will ich allerdings hinzufügen, daß wir im Blick auf andere Teile der Welt, nicht zuletzt im Blick auf Asien, in den letzten zehn, fünfzehn Jahren sicherlich zu wenig getan haben. Auch das ist kein Gegensatz zu dem eben Gesagten.
({23})
Beim Abschluß der Römischen Verträge im Jahr 1957 gingen deutsche Exporte im Wert von 14 Milliarden DM in die zwölf Länder, die heute der EG angehören. Im Jahr 1992, meine Damen und Herren, exportierten wir Waren im Werte von 365 Milliarden DM in diese Länder - eine Steigerung von 14 Milliarden DM auf 365 Milliarden DM. Unsere Ausfuhren in die EG sind damit doppelt so stark gestiegen wie unsere Exporte in die übrige Welt.
Die konsequente Umsetzung der Möglichkeiten des Maastricht-Vertrages in allen seinen Teilen wird die Wirtschaftskraft Europas stärken. Die von uns unterstützte und bevorstehende Erweiterung um die EFTA-Staaten Österreich, Finnland, Schweden und Norwegen - wie wir hoffen, zum 1. Januar 1995 - wird diesem Europa neue Kraft und Dynamik verleihen. Unseren Freunden in der Schweiz steht die Tür zur Europäischen Union weiterhin offen. Ich denke, auch dort wird nach der Volksabstimmung die Diskussion inzwischen in einer anderen Weise geführt.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ganz Europa, wir alle brauchen heute mehr denn je einen sicheren und festen Anker. Diese Rolle kann nur eine starke Europäische Gemeinschaft, die Politische Union, übernehmen, aber nur dann, wenn sie sich nicht abschottet und als ein exklusiver Klub versteht.
In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, jetzt schon darüber nachzudenken, wie sich eine Erweiterung der Gemeinschaft und der Politischen Union in Richtung auf Mittel- und Osteuropa vollziehen kann.
Ich glaube, wir sind uns hier im Hohen Hause einig, daß es für uns als Deutsche völlig unerträglich wäre, wenn etwa die Westgrenze Polens und der Tschechischen Republik auf Dauer die Ostgrenze der Politischen Union sein sollte.
({24})
Wir haben daher auf dem Europäischen Rat in Kopenhagen im letzten Jahr den neuen Demokratien in Mittel- und Südosteuropa, mit denen uns bereits Assoziierungsverträge verbinden, die notwendige Beitrittsperspektive eröffnet. Den baltischen Staaten, die teilweise beachtliche Fortschritte bei ihren Reformen vorweisen können und die mit der EG bereits durch ein Kooperationsabkommen verbunden sind, sollten wir in einer ersten Stufe Freihandelsabkommen anbieten.
Das Partnerschaftsabkommen mit Rußland sollte vor Ende dieses Jahres zum Abschluß gebracht werden, nicht zuletzt auch als eine Ermutigung für eine
demokratische Entwicklung mit all dem, was Demokratie für Rußland bedeutet.
({25})
Ähnliche Vereinbarungen wollen wir auch mit der Ukraine und mit Weißrußland anstreben.
Die Länder des Mittelmeerraumes und des Nahen Ostens erwarten jetzt angesichts einer mutigen, aber, wie ich denke, für die friedliche Zukunft einzig möglichen Politik von den Europäern und der Gemeinschaft wesentliche Unterstützung. Wir müssen mit ihnen ein gutnachbarschaftliches Verhältnis entwickeln, das unseren besonderen historischen, kulturellen und geographischen Erfahrungen und Bindungen entspricht. Ich stelle mit großem Interesse fest, daß sowohl auf israelischer Seite wie auch in den arabischen Staaten diese Erkenntnis der historisch intensiven Beziehungen zu dem alten Europa nicht ab-, sondern zugenommen hat. Wir können den Friedensprozeß, den wir alle wünschen, in dieser wichtigen Region unserer Erde am besten dadurch unterstützen, daß wir diesen Ländern und dieser Region möglichst viele Chancen zu einer engen, vor allem auch wirtschaftlichen Kooperation mit Europa geben.
({26})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Erweiterung der Gemeinschaft zwingt uns, auch über die Steigerung von Handlungsfähigkeit und Effizienz nachzudenken. Hier in den Fraktionen des Bundestages wird ja über dieses Thema bereits diskutiert, und es werden Überlegungen angestellt. Ich bin ganz sicher - wobei ich nicht sicher bin, ob ich mir das angesichts der Arbeitsfülle wünschen soll -, daß wir in der zweiten Jahreshälfte des nächsten Jahres unter der deutschen Präsidentschaft und in der Vorbereitung für die institutionelle Überprüfung des Jahres 1996 diese Diskussion ganz wesentlich mit zu führen haben; wie ich hoffe, in einer engen Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bundestag und dem Europäischen Parlament.
Ich will aber zu der aktuellen Diskussion - um das Thema aufzugreifen - wenigstens eine Bemerkung machen: Ich rate uns aus vielen Gründen dazu, daß wir dabei - bei aller Wahrung wohlverstandener Interessen der Deutschen - die Anliegen der kleineren Mitgliedsländer stets im Auge behalten.
({27})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Absicherung und die Fortführung des europäischen Einigungswerks ist eine Schicksalsfrage für diesen Kontinent und vor allem für unser eigenes Land. Wenn wir die Gedenkdaten dieser Woche, die uns gegenwärtig sind, noch einmal überdenken, dann wissen wir, daß die europäische Einigung vor allem eine Schicksalsfrage für die Deutschen ist.
Es gibt für Deutschland keine Alternative zur europäischen Einigung. Unter allen Staaten Europas - man kann das nicht oft genug sagen - haben wir die meisten Grenzen und damit die meisten Nachbarn. Es liegt in unserem ureigensten Interesse, daß wir dieses Umfeld unter politischen, ökonomischen und sozialen Gesichtspunkten immer als ein Umfeld betrachten, das stabil bleiben muß.
Wenn wir jetzt sagen dürfen, wir haben gemeinsam viel in der Europäischen Gemeinschaft erreicht, dann müssen wir auch sagen, daß sich dies auf die Dauer nur absichern läßt, wenn es politisch abgesichert wird. Eine irgendwie geartete Freihandelszone, so wie sie in diesen Tagen in der Auseinandersetzung um die Ratifikation von Maastricht in London immer wieder diskutiert wurde, auch von meiner langjährigen Kollegin, reicht dazu nicht aus.
Die Erfahrung der Geschichte - man kann das nicht beschwörend genug sagen - zeigt uns, daß auch eine Art gehobene Freihandelszone sicher für eine Reihe von Jahren funktionieren würde. Aber ich behaupte von dieser Stelle aus, daß sie nicht weit hinein ins nächste Jahrhundert, das in sieben Jahren beginnt, tragen wird. Wir brauchen diese Politische Union mehr als alle anderen, weil wir in der Mitte Europas historisch und politisch die Lektion hinter uns haben.
({28})
Es ist ja kein Zufall, daß Deutschland sehr spät, viel später als andere und dann noch im Gefolge eines Krieges, seine nationale Einheit fand und daß wir heute von der nationalen Dimension unserer Einheit eine andere Vorstellung haben. Daß sie ein wichtiger Teil der europäischen Einigung ist, in dem Sinne, wie ich es gerade definiert habe, steht außer Zweifel. Aber wir sollten - ich sage das auch an meine eigene Adresse - vielleicht lernen, daß wir mit unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Deutschland ebenso wie anderswo zuwenig darüber gesprochen haben, daß der Bau der Politischen Union, die Einigung Europas, vor allen anderen wichtigen ökonomischen und sozialen Fragen eine Frage der Bewahrung von Frieden und Freiheit und eine echte Chance für die Errichtung eines Bollwerks gegen kriegerische Entwicklungen ist.
({29})
Ich halte es für einen schweren Fehler, daß mancher Zeitgenosse glaubt, daß die schrecklichen Erfahrungen in dem Gebiet des früheren Jugoslawiens auf diesen Teil Europas beschränkt sind und daß Rassismus, Nationalismus, Chauvinismus und Fremdenfeindlichkeit in anderen Teilen Europas, auch in Deutschland, für alle Zeit gebannt sind. Die Geschichte hat uns ja auch hier wichtige Lektionen erteilt. Manche wollen nicht wahrhaben, daß Friede und Freiheit keineswegs etwas Selbstverständliches sind, das keiner Anstrengung mehr bedarf. Es mag hier erlaubt sein - wenn wir im Reichstag in Berlin wären, wäre das noch leichter zu erklären --, zu sagen, daß es in der Mitte der kurzen Lebenszeit der Weimarer Republik, im Jahr 1925, im Zusammenhang mit dem Locarno-Vertrag eine große, freudige Stimmung gab, wonach ab diesem Zeitpunkt Erbfeindschaft zwischen Deutschen und Franzosen ausgeschlossen sein würde. Das, was Aristide Briand und Gustav Stresemann damals schufen, wurde nicht nur
mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, sondern entsprach der Hoffnung der besten Geister unserer Länder.
Aber von Locarno konnte man schon hinüber nach Italien schauen, und das war das Italien von Benito Mussolini. Acht Jahre später kam das Jahr 1933 und weitere sechs Jahre später der Zweite Weltkrieg. Wer also über Zukunft redet, muß sich überlegen, woher er historisch gesehen kommt.
Die heutige Europadebatte findet auf den Tag genau 75 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs statt. Wir dürfen uns, glaube ich, in dieser Stunde zu Recht daran erinnern und klarmachen, weshalb wir, die heute hier Versammelten, die heute in Deutschland Lebenden, das Glück haben, in der längsten Friedensperiode seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu leben. Dieses Ergebnis ist nicht zuletzt eine Frucht des europäischen Einigungsprozesses.
({30})
21 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs begann der Zweite Weltkrieg, und 43 Jahre nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 brach der Erste Weltkrieg aus.
Heute leben wir hier im vereinten Deutschland bereits 48 Jahre in Frieden und jetzt seit 1990 gemeinsam in Freiheit. Wir werden nur dann absolute Gewißheit haben, daß dies auch weiterhin so bleibt, wenn wir in unseren Anstrengungen für die Einigung Europas nicht nachlassen.
Wie die Politische Union Europas schließlich in allen Einzelheiten und Details in dem Jahrzehnt, das vor uns liegt, aussehen wird, kann heute niemand genau vorhersagen. Es ist deutsche Art und Mentalität, alles zu diskutieren, nur nicht das, was in diesen Tagen, jetzt sofort geschehen muß, auch im Blick auf die europäische Entwicklung.
Niemand von uns will einen zentralistischen europäischen Einheitsstaat. Aber ich hoffe auch, niemand von uns will zurück in ein nationalstaatliches Denken, das die zweite Hälfte des 19. und die erste Hälfte dieses Jahrhunderts geprägt hat.
({31})
Die althergebrachten machtpolitischen Rivalitäten früherer Zeiten auf unserem Kontinent müssen ein für allemal der Vergangenheit angehören.
Ich stelle hier für die Bundesregierung vor dem Forum der deutschen wie der internationalen Öffentlichkeit erneut wie schon so oft ausdrücklich fest, daß wir uns in unserem Einsatz für Europa nicht beirren lassen. Wir wissen und vergessen auch in zukünftigen Tagen nicht, was wir auf dem Weg zur deutschen Einheit der europäischen Einigung zu verdanken haben. Deutschland ist und bleibt unser Vaterland, und das vereinte Europa ist unsere gemeinsame Zukunft.
({32})
Als nächste spricht die Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag und mit ihm die SPD-Fraktion haben bei der Ratifizierung des Maastricht-Vertrages dafür gesorgt, daß die Bundesrepublik Deutschland ein zuverlässiger Partner in der Gemeinschaft und ein integrationsoffenes Land bleibt, das seine Zukunft in einem zusammenwachsenden Europa sieht.
({0})
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat diese Position ausdrücklich bestätigt.
Im übrigen: Die Bundesregierung wäre mit dem Maastrichter Vertrag in Karlsruhe gescheitert, wenn nicht die SPD-Bundestagsfraktion bei der Ratifizierung des Vertrages gleichzeitig entsprechende gesetzliche und verfassungsrechtliche Verankerungen für eine stärkere Beteiligung des Deutschen Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union durchgesetzt hätte.
({1})
Daß Maastricht jetzt in Kraft treten konnte, ist Ergebnis der Arbeit des Deutschen Bundestages. Daß der Europäische Rat Frankfurt zum Sitz der Europäischen Zentralbank benannt hat, ist gut.
({2})
Daß der Sitz der Europäischen Zentralbank nach Frankfurt gelegt werden soll, war im Vorfeld mehrfach die Forderung des Deutschen Bundestages, bereits seit anderthalb Jahren.
({3})
Dies wäre nicht möglich gewesen ohne die Verankerung des Parlamentsvorbehaltes, den wir im Deutschen Bundestag bei der Ratifizierung von Maastricht vorgesehen haben.
({4})
Man muß, wenn man hier die Entwicklung darstellt, dies in der Tat korrekt tun.
Wer, wie Edmund Stoiber, die Fortsetzung der europäischen Integration in Frage stellt, schadet nicht nur dem Ansehen unseres Landes, sondern auch den Interessen der Bürger und Bürgerinnen in unserem Land.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die Wirtschaft international organisiert ist, wenn die Medien international organisiert sind, wenn die Mafia international - an den Nationalstaaten vorbei - operiert und sie austrickst, kann sich Deutschland, Herr Stoiber, keine nationale Engstirnigkeit leisten.
({6})
Ein Rückzug auf den Nationalstaat würde heißen:
ökonomischer Schaden für uns alle, vor allem aber für
die Deutschen; denn ihre Arbeitsplätze im Export werden durch die Kaufkraft unserer Nachbarländer in der EG gesichert.
Im übrigen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben doch in den letzten Jahren alle gemeinsam gelernt: Desintegration ohne neue Bindung bedeutet und erzeugt Gewalt. Wer zuläßt, daß sich die Europäische Gemeinschaft desintegriert, der läßt auch zu, daß in Westeuropa wieder Gewalt entsteht - im Inneren der Mitgliedstaaten und auch zwischen ihnen.
({7})
Und auch dies: Man kann die Erweiterung um osteuropäische Staaten nicht gegen die europäische Integration ausspielen. Die westeuropäische Integration schafft überhaupt erst die Voraussetzungen dafür, daß wir Ost- und Mitteleuropa politisch und vor allen Dingen auch wirtschaftlich stabilisieren können.
({8})
Heiner Geißler muß gespürt haben, daß nicht nur Edmund Stoiber von diesem nationalistischen Bazillus befallen ist, sondern auch weite Teile der CDU; denn sonst hätte er nicht mit dem begrifflichen Hammer „Hochverrat" zugeschlagen.
Ich zitiere an dieser Stelle den Kommentator der „Frankfurter Rundschau" von gestern:
Mit gelindem Entsetzen sehen wir, wie im Lager der regierenden politischen Rechten der historische Bruch Deutschlands mit der Idee des vereinten Europas vorbereitet wird, ohne daß Kanzler ... Kohl diesen Leuten in die Parade führe. Er traut sich nicht, denn der europäische Gedanke ist auch in der CDU schon angekränkelt. Setzen sich der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber ... und Kohls Kandidat für das Bundespräsidentenamt, Steffen Heitmann, durch, dann wird daraus eine tödliche Krankheit.
({9})
Angesichts dieser Tatsache und der Befürchtungen im In- und Ausland muß ich sagen: Ein Machtwort, das man angesichts dieser dramatischen Situation von Helmut Kohl hier erwartet hätte, hat es heute jedenfalls nicht gegeben.
Die Fortsetzung der europäischen Zusammenarbeit und die Integration sind notwendig und unerläßlich. Die SPD sagt aber auch: Es gibt dringenden Reformbedarf im Prozeß der europäischen Integration. Unsere Kritik daran als „antieuropäisch" zu bezeichnen, ist falsch. Die SPD-Bundestagsfraktion hat immer wieder - vor, während und auch nach der Maastricht-Ratifizierung - betont, daß die Art, wie die Regierungschefs und die Ministerräte die europäische Integration unter Ausschluß der Menschen betreiben, dem Ansehen Europas schwer geschadet hat. Der Maastrichter Vertrag ist auch in der Art, wie er Ablehnung hervorgerufen hat, ein Ergebnis dieser Art von Arbeit. Mein Eindruck ist, daß die Regierungschefs noch immer nicht gelernt haben, daß auf diese Art und Weise jedenfalls Europa nicht mehr voranzubringen ist, sondern daß wir einen neuen, demokratischeren Ansatz für die europäische Integration brauchen.
({10})
Zu den notwendigen Reformen gehört: Anstatt die nächste Überprüfungskonferenz 1996, die hier schon genannt wurde, die Konsequenzen aus Maastricht ziehen zu lassen und die deutsche EG-Ratspräsidentschaft, die am 1. Juli nächsten Jahres beginnt, wieder im stillen Kämmerlein der deutschen Bürokraten vorzubereiten, schlagen wir öffentliche Debatten und Anhörungen im Deutschen Bundestag zu der Frage vor, wie Europa weiter gestaltet werden kann und sollte. Auf keinen Fall darf es wieder Regierungskonferenzen hinter verschlossenen Türen geben.
Es ist gut und schön, wenn hier vieles zur Kritik am Zentralismus gesagt wird. Die Ministerräte, die Gesetze beschließen, müssen endlich öffentlich tagen. Ich sehe weder einen CSU-Minister noch einen F.D.P.- oder CDU-Minister dieser Regierung, der sich dieser vordemokratischen Praxis bisher widersetzt hätte. Tun Sie etwas und sorgen Sie dafür, daß die Ministerräte öffentlich tagen!
({11})
Dann wird jedenfalls ein Teil des Unsinns an Regulierung drastisch zurückgehen.
({12})
Zum Reformbedarf gehört auch, daß die Regierungsparteien, CDU/CSU und F.D.P., sich endlich bereit finden müssen, den im Grundgesetz zu verankernden Ausschuß für die Europäische Union im Deutschen Bundestag zu konstituieren. Auch er muß öffentlich tagen, Europa darf nämlich nicht im Wege der Geheimdiplomatie betrieben werden.
({13})
Des weiteren gehört zu den Forderungen der Reform: Das Rechtsstellungsgesetz, das der Deutsche Bundestag ebenfalls aus Anlaß der Ratifizierung verabschiedet hat, ist am 1. November 1993 in Kraft getreten. Es verlangt, daß der Deutsche Bundestag alle Stadien der EG-Verhandlungen der Bundesregierung wirklich genau verfolgt und daß die Bundesregierung die Position des Deutschen Bundestages ihren Verhandlungen in Brüssel zugrunde legt. Vor allen Dingen muß der Deutsche Bundestag dafür sorgen, daß die Bundesregierung in Brüssel nicht anders abstimmt, als sie zu Hause redet.
({14})
Im übrigen: Der größte Teil der Kritik Edmund Stoibers am EG-Zentralismus hat überhaupt nichts mit der EG zu tun, sondern ist Kritik am Verhalten der Bundesregierung, die in den EG-Ministerräten jedes einzelne EG-Gesetz mitbeschlossen hat.
({15})
Herr Stoiber, in den Verwaltungsausschüssen, auf die die Landesregierungen wie die Bundesregierung so besonderen Wert legen, sind deutsche und auch bayerische Beamte immer flugs dabei, wenn es gilt, den Krümmungsradius der Gurke bis ins Detail zu bestimmen.
Dem bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber ging es mit seinen Äußerungen aber nicht um den notwendigen Reformbedarf, wie ich ihn eben angesprochen habe, und um Bürgernähe. Wenn es ihm um Bürgernähe und Verhinderung von Zentralismus ginge, dürfte die Bayerische Staatsregierung nach dem Prinzip der Subsidiarität, das sie in Europa zu Recht einfordert, die Gemeinden in Bayern nicht an der bürokratischen und zentralistischen Leine führen, sondern müßte ihnen viel mehr eigenen Spielraum einräumen.
({16})
Es ist eine Tatsache: Unter den Ländern wird immer darauf hingewiesen, daß die Bayerische Staatsregierung bundesweit als Paradebeispiel für Zentralismus und Bürokratie in einem Bundesland gilt.
({17})
Es ging Herrn Stoiber und auch Herrn Glos offensichtlich aus durchsichtigen wahltaktischen Gründen um ein Anbiedern bei den Wählern der rechtsextremen Republikaner, nach der Parole: Wir machen die Reps überflüssig, weil wir ihre eigenen Positionen übernehmen. Herr Stoiber, dann wählen die Rechtswähler allemal lieber das Original. So macht man Reps und Rechtsextreme hoffähig, und so sorgt man dafür, daß sie Stimmen gewinnen.
({18})
Europa und auch unser Land brauchen jetzt weniger eine abstrakte Diskussion über die zukünftige Form Europas, sie brauchen vielmehr entschlossenes europäisches Handeln, das heißt auch: Handeln der EG-Regierungen. Wenn die Regierungen hier versagen, wird Europa wirklich scheitern, und zwar im ökonomischen Bereich, in der Frage des Binnenmarktes.
Europa braucht einen Pakt gegen die Massenarbeitslosigkeit. 18 Millionen Menschen in der Gemeinschaft brauchen eine Perspektive der Zukunft der Arbeit. Notwendig sind abgestimmte Aktionen zwischen den EG-Mitgliedstaaten zu mehr öffentlichen, zu mehr privaten Investitionen, zu Zinssenkungen. Notwendig und dringend erforderlich sind abgestimmte Aktionen zur Arbeitszeitverkürzung, die bei dem Europäischen Rat in Kopenhagen angekündigt war, und zwar abgestimmt zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten und innerhalb der Mitgliedstaaten zwischen den Tarifvertragsparteien.
Ich bitte Sie deshalb sehr, den Antrag der SPD-Bundestagsfraktion zu unterstützen, den wir eingebracht haben und der hier einen besonderen Schwerpunkt bei der Arbeit der Europäischen Gemeinschaft setzt.
({19})
Schließlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa ist mehr als ein Markt. Es sollte aus unserer Sicht ein Modell für soziale Demokratie sein. Wir warnen die CDU/CSU und auch die F.D.P. davor, die großen Veränderungen, die vorhin hier auch noch einmal in Erinnerung gerufen wurden, in Europa zu mißbrauchen, um soziale Leistungen zu beseitigen.
Denn das ist das, was ja im Moment von der Bundesregierung in Brüssel versucht wird.
({20})
Im Gegenteil, die europäische Sozialcharta muß endlich mit Leben erfüllt werden. Gute soziale Leistungen, starke Gewerkschaften, Mitbestimmung der Betriebsräte, gute Ausbildung, hohe Umweltstandards - das sind alles keine Nachteile für Europa, sondern Vorteile des Standorts Europa.
({21})
Den müssen wir sichern und dürfen nicht diese Vorteile auch noch durch die eigene Politik ankratzen und damit die Voraussetzung schaffen, daß schlimmer Protektionismus erneut zu Lasten der Arbeitsplätze um sich greift.
Europa braucht jedenfalls keine gemeinsame Verteidigungspolitik. Ich verstehe immer noch nicht, warum eigentlich neben der NATO jetzt noch einmal 40 000 oder 60 000 Mann für zusätzliche Aufgaben unter Waffen gestellt werden. Europa braucht die Verteidigung von Arbeitsplätzen, die Verteidigung von hohen sozialen und Umweltstandards. Das ist das, was angesagt ist und was den Menschen auch wirklich hilft.
Wir rufen zu einer großen europäischen ökologischen Offensive auf. In diesem Bereich Schwerpunkte zu setzen bedeutet nicht nur mehr Umweltschutz, sondern sichert auch mehr Arbeitsplätze.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die abstrakte Diskussion über die Frage Föderation oder Konföderation, Staatenbund oder Bundesstaat führt aktuell wenig weiter. Das Verfassungsgericht hat den jetzigen Stand der erreichten Integration als - ich zitiere - „Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der staatlich organisierten Völker Europas" , d. h. als einen supranationalen Zusammenschluß von Nationalstaaten bezeichnet.
Damit sind uns alle Möglichkeiten einer europäischen Weiterentwicklung eröffnet. Es wäre doch weiß Gott absurd und gefährlich, wenn wir am Ende dieses Jahrhunderts wieder auf der Organisationsform festsäßen, die sich in unserem Jahrhundert als ungeeignet erwiesen hat, die Probleme zu lösen, nämlich auf der des Nationalstaats.
({22})
Zum Schluß, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die beste Garantie, daß die unselige europäische Vergangenheit nicht wiederaufersteht, ist europäische Zusammenarbeit.
Es ist schon angesprochen worden: Bei aller Kritik, die immer notwendig und richtig ist, lassen Sie uns nicht vergessen, daß sich in der Europäischen Gemeinschaft Völker versöhnen konnten, die sich über Jahrhunderte hinweg blutige Schlachten lieferten.
Deshalb lassen Sie uns uns dafür engagieren und all unser Engagement einsetzen, daß das, was an Verflechtung existiert, nicht rückgängig gemacht wird, nicht gestoppt wird, sondern daß es als ein wichtiges, kostbares Gut bewahrt wird.
Heidemarie Wieczorek-Zeul Ich danke Ihnen sehr.
({23})
Ich erteile nunmehr dem Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte zunächst um Verständnis, wenn ich um 15.30 Uhr hier weggehen muß, was mir aus verschiedenen Gründen unangenehm ist. Aber längst bevor diese Debatte angesetzt wurde, war ein trilaterales französischpolnisch-deutsches Treffen in Warschau angesetzt mit der Verleihung des Deutsch-Polnischen Preises.
Meine Damen und Herren, die letzten Tage waren besondere Tage für Europa. Am 12. Oktober hat das Bundesverfassungsgericht für die deutsche Ratifizierung des Maastricht-Vertrages Grünes Licht gegeben. Seit dem 1. November leben wir in der Europäischen Union, und Frankfurt wird Sitz der Europäischen Zentralbank. Damit sind wesentliche Ziele von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat erreicht. Es ist der Weg eines europäischen Deutschlands, das sich auf Dauer fest mit seinem Nachbarn verbindet und damit seine Sicherheit und seinen Wohlstand sichert.
({0})
Seit dem Ende der Ost-West-Auseinandersetzungen sind viele der alten Denkmuster überholt, aber diese genannte Grundkoordinate unseres nationalen Interesses hat sich nicht verschoben. Ich sage deutlich und klar: Wir fördern den europäischen Zusammenhalt in der Europäischen Union nicht unseren Nachbarn zuliebe, sondern aus der geschichtlichen Erf ah-rung jahrhundertelanger europäischer Bruderkriege und aus unserem deutschen Interesse heraus.
({1})
All das, was wir politisch und wirtschaftlich in den letzten 40 Jahren erworben haben, wäre ohne diese Gemeinschaft undenkbar gewesen, die uns in vielen, sehr vielen Bereichen gestützt und auch getragen hat. Das gilt auch für die Wiedervereinigung. Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen. Vergessen wir das nicht: Die Europäische Gemeinschaft hat das vereinte Deutschland mit offenen Armen aufgenommen, und die neuen Bundesländer sind sehr, sehr schnell integriert worden. Ihnen wird aus Brüsseler Kassen substantiell geholfen,
({2})
zuletzt mit 14,1 Milliarden ECU aus dem Strukturfonds - ein wahrhaftig nicht wegzuwischender Betrag.
({3})
Vergessen wir, wenn wir über Europa und die Eingliederung der neuen Länder in die Europäische Gemeinschaft sprechen, auch nicht, daß die anderen Umbruchländer in Mittel- und Osteuropa dies mit großer Sorge und natürlich auch mit einem gewissen Begehren sehen müssen; denn sie stehen noch draußen und warten sehnlichst auf die Aufnahme in die Gemeinschaft, die die neuen Länder erhalten haben, uno actu mit der Wiedervereinigung - ein ganz großer Vorteil für uns.
({4})
Deshalb, meine Damen und Herren. dürfen und können wir jetzt, nach der Wiedervereinigung, keinen Schlußstrich ziehen und nicht auf die Bremse treten. Vor diesem Fehlschluß kann ich nur warnen.
Man braucht wahrhaftig nicht Außenminister zu sein, um zu erkennen: Die Verbindung der europäischen Völker untereinander ist noch längst nicht so problemlos, als daß dieses Gebäude nicht sorgsamster Pflege und sorgsamsten weiteren Ausbaus bedürfte.
Daß Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft des in der Mitte des Kontinents liegenden Deutschland nach wie vor den Verdacht des Hegemoniestrebens wekken, müssen wir angesichts der schlimmen Erfahrungen in der Vergangenheit verstehen. Wir müssen auch verstehen, daß Europamüdigkeit schnell zu unguten Weiterungen führen könnte, die dann nur sehr schwer wieder einzufangen wären.
Natürlich ist es in einer Demokratie nur mehr als recht, auch bei uns, wenn wir die Art und Weise, wie wir Europa verwirklichen wollen und wie wir voranschreiten, bei uns offen diskutieren. Ohne eine solche Diskussion -- wir führen sie heute Gott sei Dank hier im Parlament - können wir keine Glaubwürdigkeit schaffen, können wir unsere Bürger vor allem auf diesem Weg nicht mitnehmen. Es ist uns zweifellos bisher leider nicht gelungen, dieses Europa in den Herzen und auch im Verstand der Menschen zu verankern. Wir haben als Politiker nicht verstanden, die Menschen auf diesem Weg nach Europa mitzunehmen. Leider. - Also, diskutiert werden soll, aber bitte verantwortungsbewußt.
Der Maastrichter Vertrag bekräftigt ausdrücklich den Fortbestand der Nationalstaaten. Es ist doch nicht wahr, daß in Brüssel irgend jemand die Deutschen, die Franzosen, die Engländer daran hindern will, weiter Deutsche, Franzosen oder Engländer zu sein.
({5})
Auch die Bayern, Herr Stoiber, dürfen Bayern bleiben. Ich glaube, das kann man Ihnen zusichern.
({6})
Die beste Garantie dafür, daß es dabei bleibt, ist doch, daß es Franzosen oder Engländern, aber auch Schweden, Polen oder Ungarn, die wir ja in Zukunft auch in der Gemeinschaft dabeihaben wollen, nicht im Traum einfallen würde, ihre nationale oder gar ihre kulturelle, regionale Eigenständigkeit aufzugeben.
({7})
Deshalb ist auch die Diskussion darüber, ob die europäische Union eines Tages ein Bundesstaat, ein Staatenbund oder ein Staatenverbund sein soll - so die Wortwahl des Bundesverfassungsgerichts -, für meine Begriffe im Augenblick leere Theorie zur Unzeit. Es wird bei den Nationen bleiben. Aber diese
werden so weit zusammenrücken, wie es eben notwendig ist, um sich selbst und ihren Bürgern in der Welt von morgen ein Mitspracherecht zu sichern. Denn darum geht es doch eigentlich: daß Deutsche oder Franzosen, Bayern, Lothringer schon heutzutage nicht mehr für sich allein bestehen können. Glaubt denn wirklich einer, daß unsere Bundesländer ohne die Europäische Gemeinschaft zu den Industrie- und Technologiestandorten geworden wären? Glaubt denn wirklich jemand, die Wohlstandsexplosion in Deutschland in den vergangenen 30 Jahren wäre ohne den europäischen Markt möglich gewesen?
Deshalb mein Appell: Wir dürfen in der Europadiskussion keine falschen Ängste wecken. Richten wir unser Augenmerk auf die praktischen Aufgaben, die die Europäische Union sofort anpacken muß, wenn sie vor ihren Bürgern bestehen will! Das betrifft zwei Hauptthemen: die Arbeitslosigkeit und das Problem der inneren Sicherheit. Achten wir darauf, daß die Europäische Union nicht falsche Sicherheit hinter Zollmauern sucht, sondern sich dem Wettbewerb in einem freien Welthandel stellt! Sorgen wir dafür, daß das Problem der Arbeitslosigkeit in Europa mit dem richtigen Rezept bekämpft wird, auch wenn es bitter schmeckt! Das heißt: mehr arbeiten, weniger Ansprüche stellen. Das heißt: Runderneuerung von Bildung, Wissenschaft, Forschung und unserer Sozialsysteme, so wie wir es in unserem Standortpapier vorgesehen haben.
Europa hat das größte Facharbeiterreservoir der Welt. Wir sind schnell dabei, solche wichtigen Dinge zu vergessen. Ich wiederhole: Europa hat das mit weitem Abstand größte Facharbeiterreservoir der Welt. Europa braucht sich hinsichtlich seines geistigwissenschaftlichen Potentials wahrhaftig hinter niemandem zu verstecken.
Diese Potentiale sind in den letzten Jahren leider etwas verkrustet. Es ist Fett angelegt worden; jetzt muß abgespeckt werden. Das ist nicht einfach. Strukturanpassung bringt auch soziale Härten, mit denen wir uns jetzt auseinandersetzen müssen. Aber niemand sollte glauben, daß wir durch weniger Arbeiten auf Dauer sichere Arbeitsplätze schaffen können.
Wer sich einmal im asiatisch-pazifischen Raum umgeschaut hat, weiß, was wir unseren Bürgern begreiflich machen müssen: Wir befinden uns als Europäer in einer völlig neuen Wettbewerbssituation in der Welt. Arbeitsplätze und innere Sicherheit können wir nicht dadurch gewährleisten, daß wir versuchen, die Uhren zurückzudrehen und Mauern oder Grenzbalken wiederzuerrichten. Das schaffen wir nur, wenn wir uns als Europäer gemeinsam wieder wettbewerbsfähig machen und dem organisierten Verbrechen und der unkontrollierten Zuwanderung europaweit begegnen.
({8})
Das muß nach unserem gemeinsamen Willen der Europäische Rat im Dezember auf die Schiene bringen. Entsprechend dem Auftrag des Unionsvertrages werden die Innen- und Justizminister im Dezember Vorschläge zur wirksamen Bekämpfung des organisierten Verbrechens vorlegen. Europol, das ist unser Wunsch, muß möglichst schnell handlungsfähig werden.
({9})
Zur inneren Sicherheit tritt natürlich die äußere Sicherheit. Auch hier haben wir nun bessere Instrumente. Mit ersten gemeinsamen Aktionen - der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen - wie der Sicherung der humanitären Hilfe in Bosnien, der Unterstützung des Nahost-Friedensprozesses oder der Wahlbeobachtung in Rußland durch die Europäer wollen wir europäische Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen. Niemand wird behaupten wollen, das sei der falsche Weg. Den Kritikern, die die fehlende Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen wollen, müssen wir durch praktisches Handeln entgegentreten.
Meine Damen und Herren, vor 40 Jahren drängten die Burger ihre Politiker und rissen in Europa Schlagbäume nieder. Wir haben es vergessen. Schlagbäume zwischen den nationalen Grenzen sind niedergerissen worden. Heute müssen wir, die Politiker, die Bürger davon überzeugen, daß Europa notwendig ist und nicht als Selbstverständlichkeit hingenommen werden kann. Wir müssen sie vor allem davon überzeugen, daß kein anderes Land von einer einzigen Region so sehr abhängig ist wie Deutschland als große Wirtschafts- und Industrienation von Europa.
({10})
Wir müssen sie davon überzeugen - das ist die Aufgabe der Politiker -, daß jeder einzelne von uns in Deutschland durch dieses Europa unwahrscheinlich viele Vorteile hat. Wir können uns am allerwenigsten erlauben, Europaskepsis oder Europamüdigkeit an den Tag zu legen. Wir haben als Deutsche - ich wiederhole es - so viel von Europa profitiert wie kein anderes europäisches Land, und wir werden auch in Zukunft so viel davon profitieren wie kein anderes Land. Daran sollten wir denken.
({11})
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Theo Waigel das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, der Kollege Dr. Schäuble, hat mich beauftragt, der Bundesregierung für die Abgabe der Regierungserklärung zu danken,
({0})
und er hat mich ausdrücklich gebeten, in den Dank auch den Bundesfinanzminister einzubeziehen
({1})
für die Vorarbeiten, die auf dem Gipfel dann einen fruchtbaren Erfolg zeitigten.
In der Tat, meine Damen und Herren, ist die Vergabe des Europäischen Währungsinstituts und der künftigen Europäischen Zentralbank nach Frankfurt ein großartiger Erfolg für Deutschland. Wir alle hätten das vorher nicht zu träumen gewagt; wir alle wußten nicht, ob es so kommt. Daß es gelungen ist, ist ein großer Erfolg, zu dem wir dem Bundeskanzler und der Bundesregierung gratulieren
({2})
und für den wir unseren europäischen Partnern danken.
({3})
- Der Bundestag hat uns in dieser wichtigen Frage in bemerkenswerter Weise unterstützt. Ohne diese übergreifende Unterstützung wäre die gemeinsame Europapolitik nicht möglich gewesen.
({4})
Alle Spekulationen über eine angebliche Verwässerung unserer Stabilitätsziele durch die Europaintegration werden durch die Entscheidung für Frankfurt zur Makulatur. Deutschland hat sich sachlich, was die Kriterien anbelangt, in diesem Teil der Wirtschafts- und Währungsunion durchgesetzt. Es ist ebenfalls ein großartiger Erfolg, daß die Stabilitätskultur der Deutschen Bundesbank auf das übertragen wird, was sich in einer europäischen Währungsunion fortsetzt.
({5})
Wie geht es weiter mit Europa? Es stellt sich die Frage: Vertiefung oder Erweiterung
({6})
oder - was ich für richtig halte - Vertiefung und Erweiterung?
({7})
Es ist keine Frage, daß die Vertiefung in Stufenplänen stattfinden muß. Im ökonomischen Bereich bewegen wir uns in der ersten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion. Das heißt umfassende Konsultationen über die Wachstums-, Beschäftigungs- und Stabilisierungspolitik. Ab 1. Januar 1994 gehen wir in die zweite Stufe: mit regelmäßigen Berichten über Konvergenzanstrengungen und die Fortschritte bei der Erfüllung der Konvergenzkriterien. Ich meine, ein ganz wichtiges Zeichen ist, daß Frankreich und Deutschland gemeinsam noch in diesem Monat ihre jeweiligen Konvergenzprogramme vorlegen werden, um erstens darzustellen, wie wichtig uns die Kriterien sind, und um zweitens diese gemeinsame Achse in der europäischen Bewegung auch bei dieser wichtigen Frage unter Beweis zu stellen.
({8})
Was in dieser zweiten Stufe passiert und was vor sich geht, das bringt nur Vorteile, auch für die Deutschen, und nicht einen Nachteil, nicht eine Gefahr. Die Anwendung des Verfahrens zur Vermeidung übermäßiger Haushaltsdefizite ist doch nur in unserem Interesse. Keine Notenbankkredite mehr für die Staatshaushalte sind in unserer Zielsetzung. Vorbereitung der Unabhängigkeit der nationalen Zentralbanken in den anderen Ländern ist von uns gewünscht und gefordert.
Entscheidend sind nicht Termine, sondern ist das Zusammenwachsen zur Stabilitätsgemeinschaft. Es gibt keinen Automatismus in Richtung auf eine Gemeinschaftswährung. Wir gehen Stufe um Stufe und haben für jede Stufe auch die notwendigen ökonomischen und politischen Sicherungen eingebaut.
Selbstverständlich muß es die parlamentarische Rückendeckung für die dritte Stufe geben. Auch das ist notwendig und unverzichtbar.
({9})
Wir sind uns völlig einig - auch Ministerpräsident Stoiber hat das immer wieder erklärt -: Wir brauchen eine gemeinsame Außenpolitik, eine gemeinsame Verteidigungspolitik, eine gemeinsame Umweltpolitik und eine gemeinsame innere Sicherheitspolitik. Da gibt es überhaupt keine Divergenz in unseren Auffassungen.
({10})
Auch darin sind wir uns einig: Die Vertiefung der Gemeinschaft bedeutet nicht den Ausschluß der Länder, die an die Gemeinschaft heranwachsen wollen. Vertiefung und Erweiterung erfolgen durch die Entwicklung konzentrischer Kreise.
Im ersten Kreis bewegen sich die Länder, die als erste die Kriterien für die Währungsunion erfüllen.
Im zweiten Kreis befinden sich die übrigen Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft.
Einen dritten Kreis bilden die Staaten, die bereits ihren Aufnahmeantrag für die Europäische Gemeinschaft gestellt haben. Ich denke an Österreich, Schweden, Finnland und Norwegen. Wir alle sollten sehr daran interessiert sein, daß diese Staaten möglichst bald in die Europäische Gemeinschaft kommen. Als Bayer bin ich natürlich besonders an Österreich interessiert, aber ich denke auch an die anderen.
({11})
Denn sie alle sind ökonomisch gesunde Staaten und daher Nettozahler. Sie entlasten also die Europäische Gemeinschaft. Ihr Beitritt ist auch im Sinne der ökonomischen Entwicklung mehr als wünschenswert.
({12})
Der Beitritt dieser Länder, nicht zuletzt der skandinavischen Länder, ist auch schon deswegen notwendig, weil damit noch mehr Solidarität gegenüber den baltischen Staaten, gegenüber den mittel- und osteuropäischen Staaten stattfindet und manches, was dort als große europäische Herausforderung auf uns
zukommt - ich nenne nur das Stichwort: Sicherheit der Kernkraftwerke -, gemeinschaftlich stärker angepackt werden kann, als dies bisher in der Europäischen Gemeinschaft und von den G-7-Ländern erfolgt ist.
({13})
Einen vierten Kreis bilden dann die übrigen EFTAStaaten, die nicht oder noch nicht der EG beitreten wollen.
In einem fünften Kreis befinden sich die Staaten, die durch Assoziierungsabkommen mit uns verbunden sind. Ich denke an Polen, an die Tschechische Republik, an die Slowakische Republik und an Ungarn. Man muß sich darüber im klaren sein, daß eine Entwicklung auch hier nur in Stufen und an Hand der ökonomischen Fortschritte erfolgen kann, weil eine schnelle Aufnahme Europa wohl überfordern würde. Jetzt schon müssen an die 145 Milliarden ECU für Struktur- und Kohäsionsfonds von 1994 bis 1999 aufgebracht werden.
In einem sechsten Kreis befinden sich die GUS-Staaten, die durch Handelsabkommen mit uns verbunden sind.
Meine Damen und Herren, diese europäische Entwicklung hat für Deutschland große Vorteile durch offene Grenzen und durch die Ausbreitung des Stabilitätsbewußtseins. Eines ist ganz sicher - und das müssen wir den Bürgern in Deutschland noch viel mehr begreiflich machen -: daß Deutschland von Europa profitiert.
Auch jenseits der Ökonomie, jenseits von Angebot und Nachfrage, gibt es einen Gewinn, den wir nicht unterschätzen sollten. Deutschland gehört durch die Wiedervereinigung, durch die Neuordnung Europas und durch die europäische Integration zum erstenmal in diesem Jahrhundert zwar nicht zu den Siegern, aber zu den Gewinnern der Geschichte. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bestand darin, daß unsere Väter und Mütter Opfer der Geschichte waren. Deutschland war Verlierer.
({14})
Ich denke an den Ersten Weltkrieg, den Niedergang der Weimarer Republik, die Nazi-Diktatur, den Zweiten Weltkrieg und die Teilung Deutschlands und Europas.
Die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts verlief Gott sei Dank anders: Demokratie und Soziale Marktwirtschaft im Westen Deutschlands, Ansehen und Souveränität durch die Europäische Gemeinschaft und durch die NATO sowie Aussöhnung und Freundschaft mit unseren Nachbarn, die Wiedervereinigung und die Chance zur Neuordnung Europas Gott sei Dank für alle Deutschen. Zum erstenmal in diesem Jahrhundert sind wir nicht von Gegnern und von Feinden umgeben - oder sieht es so aus? -, sondern wir sind von Partnern und von Freunden umgeben.
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir eine persönliche Anmerkung. Dank der Arbeit des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge fand ich vor einigen Monaten das Grab meines Bruders. Vor vierzehn Tagen stand ich zum erstenmal an seinem Grab in Niederbronn unweit von Straßburg, wo 15 000 deutsche Soldaten liegen. Am gleichen Tag, an dem ich meinen privaten Besuch - ohne Abstimmung mit den Franzosen - vornahm, fand die Grundsteinlegung für eine französisch-deutsche Jugendgedächtnisstätte neben dem Soldatenfriedhof in Niederbronn statt. Der französische Minister Mestre hat dort über die deutschen Soldaten und die Opfer gesprochen. An dieser Stätte werden sich französische und deutsche Jugendliche, Jugendgruppen und Schulklassen treffen. Sie pflegen die Gräber und helfen bei der Umbettung: eine großartige Jugendinitiative beider Völker über die Gräber hinweg! Das gleiche, was wir heute zwischen Deutschen und Franzosen tun, muß zwischen Deutschen und Russen, zwischen Russen und Deutschen stattfinden.
({15})
Unsere Kinder besuchen fast jährlich ihre französischen Schulfreunde und umgekehrt.
Wie verschieden sind die beiden Hälften dieses Jahrhunderts, und wie großartig sind die Chancen für uns und für die nächste Generation! Nichts zeigt deutlicher als dies, wie sehr sich Europa gewandelt hat, nicht allein ökonomisch, sondern auch im Denken und im Gedenken, aber auch im Blick auf die Zukunft. Diesen Gewinn für die Zukunft dürfen wir nicht verspielen. Deswegen müssen wir jenseits der Ökonomie die Erkenntnis vermitteln: Europa ist ein Friedensgewinn, wie es ihn für die Deutschen und die anderen Europäer noch nie gab.
({16})
Die Struktur dieses Europas wird so aussehen, daß die Länder und die Regionen unsere Heimat sind, daß Deutschland unser Vaterland und unsere gemeinsame Nation ist und daß Europa unsere gemeinschaftliche Zukunft darstellt, Frieden, Freundschaft, Sicherheit und wirtschaftlichen Erfolg bedeutet.
Ich danke Ihnen.
({17})
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Gregor Gysi das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Erklärung der Bundesregierung zur Europapolitik, überaus bescheiden als Bericht von der Sondersitzung des Europäischen Rates tituliert, in Wirklichkeit vom Außenminister als Machtwort gegen die bayerische Europanörgelei herbeigesehnt, hätte es nicht gegeben, wenn die PDS/Linke Liste nicht eine Aktuelle Stunde zu den Vorschlägen des Bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber über die Renationalisierung der Europapolitik beantragt und bewilligt bekommen hätte.
({0})
Diese Aktuelle Stunde, die sich eindeutig gegen die Gefahr einer rechtskonservativen Wende in der Europapolitik der Unionsparteien gerichtet hätte, lag diesen Parteien offensichtlich so schwer im Magen, daß sie sich entschlossen haben, mittels einer in kürzester Frist festgelegten Regierungserklärung den Versuch einer Offensive zu starten.
Worum geht es bei dieser rechtskonservativen Wende, die unmittelbar nach dem Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages gestartet wurde? Einerseits geht es - wie Kollegin Wieczorek-Zeul hier gesagt hat - sicherlich darum, bei Europa- und Bundestagswahlen Stimmen auch von ganz rechts zu holen. Aber, ich glaube, die Problematik geht tiefer: Es soll tatsächlich Schritt für Schritt eine Wende herbeigeführt werden.
Die PDS hat von Anfang an in der Europapolitik das Ziel der Bildung einer Europäischen Union, auch eines europäischen Bundesstaates unterstützt. Wir haben bereits Ende 1989, Anfang 1990 erklärt, daß wir kein deutsches Europa, wohl aber ein europäisches Deutschland wollen. Dennoch haben wir gegen den Vertrag von Maastricht gestimmt.
({1})
Dafür hatten wir gute Gründe, denn Maastricht klammert Osteuropa aus, ermöglicht eine Militarisierung der europäischen Politik, wiederholt die Fehler aus dem Einigungsvertrag, indem an den Beginn eine Wirtschafts- und Währungsunion gestellt wird, ohne daß eine Sozialunion auch nur im Ansatz vereinbart wäre. Wer aber auf Sozial- und Lohnangleichung verzichtet, organisiert bewußt Sozial- und Lohndumping.
Gegen Maastricht spricht, daß es erhebliche Demokratiedefizite besiegelt, denn Befugnisse werden vom Bundestag nicht etwa auf das Europäische Parlament - was in Ordnung gegangen wäre -, sondern auf die Bürokratie von Brüssel übertragen, die nicht öffentlich arbeitet, wie z. B. die Entscheidung hinsichtlich EKOStahl beweist.
Der Bundestag verweigerte einen Volksentscheid und damit die Einbeziehung der Bevölkerung in die Entscheidung über Maastricht. Doch jetzt ist Maastricht in Kraft und gilt, wenngleich dringend Verbesserungen erforderlich sind.
Aber nicht diese erheblichen Defizite am Maastrichter Vertrag, die ich aufgezählt habe, bewegen den bayerischen Ministerpräsidenten. Er hat in seinem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung" am 2. November 1993 ganz generell eine rechtskonservative Wende in der Europapolitik gefordert. Er hat diesbezüglich den Bruch mit einer Ära gefordert, die von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl reicht. Diese Wende ist ihm so wichtig, daß er dabei auch in Kauf nimmt, den Bundeskanzler zu demontieren. Stoibers Forderungen: kein Bundesstaat, täglich möglicher Austritt für Deutschland, keine gemeinsame Wirtschaftspolitik, deutschnationale Besinnung.
Er erklärt in seinem Interview auch, weshalb er meint, daß sich Deutschland diese Wende leisten könne. Er führt aus, daß die Deutschen in den 50er und 60er Jahren den Weg zum europäischen Bundesstaat
gehen wollten, d. h. die Auflösung deutscher Staatlichkeit in europäische Staatlichkeit anstrebten.
Er begründet dies wie folgt:
Eine Rolle spielten dabei unsere geschichtlichen Belastungen: Wir hofften, die Nation, die damals geteilte deutsche Nation würde aufgehen in einer europäischen Nation, und wir würden uns damit auch entlasten von den geschichtlichen Verantwortlichkeiten. Mit der deutschen Wiedervereinigung haben wir nun eine andere Situation - und wir müssen uns bewußt werden, was die deutsche Identität eigentlich ist.
An anderer Stelle erklärt Ministerpräsident Stoiber:
Es gab einmal eine europäische Bewegung in Deutschland, die unter anderem auch glaubte, in der europäischen Identität belastete deutsche Identität auffangen zu können. Das ist vorbei.
Im Klartext heißt das, daß nach Auffassung des bayerischen Ministerpräsidenten europäische Einigungspolitik nur so lange etwas taugte, wie sie als einziger Weg zur deutschen Einheit erschien und solange damit die Hoffnung verbunden war, sich aus der Verantwortung für Geschichte stehlen zu können.
Wie Margaret Thatchers Memoiren zu entnehmen ist, wollte sie die deutsche Vereinigung zumindest hinauszögern. Sie sorgte sich um eine künftige Übermacht des größer gewordenen Deutschlands in der Mitte Europas. Trotz der vom Bundeskanzler gepflegten Achse Bonn - Paris soll nach ihren Aussagen auch Präsident Mitterrand sehr besorgt gewesen sein, weil Deutschland „in der Geschichte noch nie seine wahren Grenzen gefunden" habe. Er soll aber auf die deutsche Einbindung in den Maastrichter Integrationsprozeß gesetzt haben.
Der in London und Paris gehegte Argwohn ist spätestens durch die gegenwärtige Europadebatte, die von Ministerpräsident Stoiber ausgelöst wurde, im nachhinein mehr als gerechtfertigt worden. Sowohl in den Zwei-plus-Vier-Gesprächen als auch in den Maastricht-Verhandlungen war den ehemaligen Kriegsgegnern Deutschlands aus dem Zweiten Weltkrieg von bundesdeutscher Seite versichert worden, daß die deutsche und europäische Einheit zwei Seiten einer Medaille seien, sich wechselseitig bedingten und gemeinsam einen Verfassungsauftrag des Grundgesetzes darstellten. Deutsche Identität sei unwiderruflich mit europäischer Verantwortung verbunden. Das daraus abgeleitete Bekenntnis zum europäischen Deutschland führte letztlich dazu, daß die Nachbarn der raschen staatlichen Einheit Deutschlands ihren Segen gaben.
Jetzt, wo die staatliche deutsche Einheit hergestellt ist, meint Ministerpräsident Stoiber, daß Deutschland an die damaligen Versprechungen nicht mehr gebunden sei. Jetzt sollen deutsche und europäische Einheit nicht mehr zwei Seiten einer Medaille sein. Ministerpräsident Stoiber lehnt europäische Identität diesbezüglich ausdrücklich ab und verlangt deutsche Identität.
Dieser Vorstoß löste auch in der CDU Proteste aus. Kollege Heiner Geißler sprach sogar von Hochverrat,
und er sagte, daß die Bundesrepublik angesichts ausländerfeindlicher Gewalttaten und des unnötigen Geredes über Europa für ihre Nachbarn derzeit schwer erträglich sei. Aber inzwischen scheinen sich beide Unionsparteien darauf geeinigt zu haben - und das zeigt auch die Debatte heute hier, zumindest bisher -, die Problematik eher zu verdecken, um den außenpolitischen Schaden zu begrenzen.
Trotz der heutigen Beteuerungen zum europäischen Prozeß durch den Bundeskanzler und den Bundesaußenminister muß hier festgestellt werden, daß es sich bei den Äußerungen von Ministerpräsident Stoiber keinesfalls um Ausrutscher handelte. Er deutete seine diesbezügliche Haltung schon früher an. Er gibt damit nur die Stimmung vieler konservativer Politiker wieder, die eigentlich schon immer Gegner einer europäischen Idee waren, weil sie deutschen Nationalismus befördern wollen. Eine deutsche Vormachtrolle in Europa sehen sie durch Maastricht nicht ausreichend gesichert. Sie meinen, daß man eine solche Rolle auch ohne vertragliche Einbindungen durch eine entsprechende Außen- und Wirtschaftspolitik erreichen kann.
Diese Ansätze fallen leider auf fruchtbaren Boden in Teilen der Bevölkerung, und letztlich befördern sie auch Rechtsextremismus und decken sich nicht zufällig mit den anti-europäischen Vorstellungen der Republikaner. Hier bezahlen wir jetzt die Zeche für Versäumnisse in der Europapolitik der Bundesregierung in der Vergangenheit. Denn diese Bundesregierung hat es unterlassen, den Menschen die europäische Idee nahezubringen, z. B. in Vorbereitung eines Volksentscheids.
Wer eben unter Europafähigkeit vor allem die Aufstellung einer europäischen Armee versteht, wie es Verteidigungsminister Rühe zum Ausdruck brachte, wer der Wirtschafts- und Währungsunion eindeutig Priorität gegenüber einer Sozialunion einräumt, wer in unzureichendem Maße auf eine Stärkung des Europäischen Parlaments drängt und wer der eigenen Bevölkerung eine Mitentscheidung über die Fragen der europäischen Entwicklung verweigert, der muß sich nicht wundern, wenn in ähnlich demagogischer Weise wie bei der Asyldiskussion fremdenfeindlich motiviert die Abneigung gegen eine Öffnung zu anderen Ländern, ihren Menschen, ihren Kulturen gefördert und vertreten wird.
Damit geraten wir offensichtlich in eine Situation, in der die positive europäische Idee verteidigt werden muß. Wir müssen die Verwirklichung der Präambel des Grundgesetzes fordern, in der vom vereinten Europa die Rede ist. Wir müssen sogar die Respektierung des Maastrichter Vertrages fordern, den wir selbst aus den oben dargelegten Gründen abgelehnt haben, der aber nun wirksam geworden ist. Aber Maastricht muß verbessert werden, die sozialen und demokratischen Defizite sind so schnell wie möglich zu beheben.
Wir fordern von der Bundesregierung, daß sie den nationalistischen Angriffen aus ihren eigenen Reihen in bezug auf die europäische Einigung in Zukunft eine klare Abfuhr erteilt und strikt dafür sorgt, daß die Präambel des Grundgesetzes und der neue Art. 23 Abs. 1 eingehalten werden.
Wir fordern zweitens, daß die Bundesregierung - beginnend mit dem nächsten Europäischen Rat im Dezember dieses Jahres - vor allem dafür wirkt, daß die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen zur wichtigsten Gemeinschaftsaufgabe in der EG wird. Die EG braucht schnellstens ein gemeinsames Beschäftigungs- und Investitionsprogramm, denn es gilt, 20 Millionen Arbeitslosen Arbeit zu beschaffen. Wir brauchen ökologische Standards, und wir brauchen vor allem eine Angleichung von Sozial- und Lohnleistungen, damit es nicht zu einem gewaltigen Sozial- und Lohndumping innerhalb dieser Europäischen Gemeinschaft kommt.
Ich denke, wir müssen auch den Weg für die Einbeziehung der Bevölkerung öffnen.
Lassen Sie mich als letztes sagen: Wir haben in Kürze hier die Gelegenheit, zu entscheiden, wie weit die europäische Idee bei uns vorgedrungen ist; denn wir haben heute einen Gesetzentwurf eingebracht, der das aktive und passive Wahlrecht entsprechend der im Maastrichter Vertrag festgelegten Unionsbürgerschaft für EG-Bürgerinnen und EG-Bürger, die in Deutschland leben, hinsichtlich der Europawahl im nächsten Jahr bestimmt. Wir werden sehen, ob dieses Gesetz rechtzeitig verabschiedet wird und ob es einmütig verabschiedet wird. Daran kann man u. a. beweisen, ob man der europäischen Idee Wirklichkeit und Realität verleihen will.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Gerd Poppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein wenig befremdlich wirkt es schon, wie dieser Tagesordnungspunkt zustande gekommen ist. Erst sollte es keine Debatte geben, dann eine Aktuelle Stunde zu Herrn Stoibers Äußerungen.
({0})
Schließlich ist es nun sogar eine Regierungserklärung mit ausgiebiger Debatte geworden, was im Ergebnis an sich erfreulich ist.
Andererseits deutet die Konfusion darauf hin, daß die vermeintliche Geradlinigkeit der Regierungsparteien in Richtung auf die Vertiefung der Westintegration einer Verunsicherung und Widersprüchlichkeit gewichen ist. Deren Ursachen mögen zum Teil im besorgniserregenden Zustand Europas zu suchen sein. Vor allem aber liegen sie in den unübersehbaren konzeptionellen Mängeln bei dessen Überwindung - auch nach der Maastricht-Ratifizierung.
Nun ist es ja nicht unbedingt negativ zu bewerten, wenn in CDU und CSU eine kontroverse Debatte beginnt. Es ist auch nicht a priori europafeindlich, sich kritisch zur gegenwärtigen Verfaßtheit der Europäischen Union zu äußern. Im Gegenteil: Gerade wer für die gesamteuropäische Integration, für eine ökonomische, soziale, ökologische und dem Frieden verpflichtete Union, für eine demokratisch verfaßte und subsi16294
diär strukturierte Union ist, der wird sich kritisch mit den Ergebnissen von Maastricht und ihrer bisher unzulänglichen Umsetzung befassen.
Ein Großteil der von verschiedener Seite geäußerten Kritik erhält seine Berechtigung aus diesen Unzulänglichkeiten. Leider geben diese auch Argumentationen, die seit jeher und aus ganz anderen Motiven gegen die Europäische Union aufgeboten werden, neue Nahrung. Gemeint sind jene, die von dumpfem Provinzialismus oder nationalem Dünkel geprägt sind, die in der Anmaßung einer deutschen Überlegenheit oder eines besonderen deutschen Machtanspruchs jede Abtretung nationalstaatlicher Souveränität an supranationale Institutionen mit Argwohn betrachten.
Wenn solche Auffassungen nun nicht mehr allein als ein besonderes Merkmal rechtsextremistischer Kreise von Hoyerswerda bis Mölln angesehen werden müssen, sondern mindestens tendenziell in Äußerungen deutscher Landespolitiker wiederkehren, dann ist das ein alarmierendes Zeichen, das die zügige Fortschreibung der europäischen Integration um so notwendiger werden läßt.
({1})
Nun darf der Blick auf berechtigte Fragen nicht durch eine spezifisch deutsche Verklemmtheit in nationalen Angelegenheiten verstellt werden. Jene mit Tabus zu belegen ist nichts anderes als die Kehrseite der schrecklichen Auswüchse. Selbstverständlich berechtigt das Demokratiedefizit auf europäischer Ebene zu der Frage nach der Rolle nationaler Institutionen und föderaler Strukturen im Rahmen der erwünschten Integration.
Mit der Antwort, es handele sich nicht um einen Bundesstaat, sondern um einen Verbund von Staaten, ist es aber nicht getan. Ebensowenig genügt der Hinweis auf vereinbarte Subsidiarität. Ein Schlagwort und ein eher symbolischer Ausschuß der Regionen bewirken noch keinen funktionierenden Mechanismus regionaler Interessenvertretung.
({2})
Die westeuropäische Zusammenarbeit entwickelte sich unter den Bedingungen des Kalten Krieges. Nach dessen Ende droht die Eigendynamik des Integrationsprozesses die westeuropäischen Nationalstaaten selbst zu zerreißen. Man betrachte nur das Beispiel Italiens, das mehr denn je in einen reichen Norden und in ein zunehmend verfallendes Mittel- und Süditalien auseinanderzubrechen in Gefahr ist. Die unter den Bedingungen des Kalten Krieges entwickelten nationalstaatlichen Instrumente reichen nicht einmal mehr aus, die westeuropäischen Prozesse zu steuern.
In weiten Teilen Mittel-, Ost- und Südosteuropas werden sich stabile staatliche Strukturen erst noch herausbilden. Aber auch dort, wo der staatliche Rahmen gegenwärtig nicht in Frage gestellt wird, ist die kurze Zeit der Euphorie und der Hoffnung auf leichte und schnelle Lösungen vorbei. Spätestens nach dem Wahlsieg der Postkommunisten in Polen ist klar, daß die lange Phase der Transformation erst begonnen hat.
Osteuropa ist tief verunsichert. Der Zusammenbruch der Wirtschaft und des Mythos der sozialen Sicherheit und nicht zuletzt der Zerfall des Warschauer Pakts bedeuten eine noch immer nicht hinreichend angenommene Herausforderung für den Westen.
Der bayerische Ministerpräsident hat nun unsere alte Forderung nach Erweiterung der Europäischen Union in Richtung Mittel- und Osteuropa aufgegriffen.
({3})
Es liegt in der Logik dieser Forderung, daß damit eine Relativierung der gegenwärtigen Bemühungen um Vertiefung verbunden ist. Es geht aber gerade nicht darum, die Vertiefung der europäischen Integration durch den Erweiterungsprozeß zu ersetzen. Entscheidend ist vielmehr, daß die stärkere westeuropäische Verflechtung nicht zu politischer und ökonomischer Abschottung gegenüber Mittel- und Osteuropa führt. Stufenpläne, wie sie vorhin der Abgeordnete Waigel für die Wirtschafts- und Währungsunion genannt hat, muß es nun endlich auch für die Erweiterung geben.
({4})
Herr Stoiber - und da liegt der Unterschied zu uns - möchte den Verlauf der Integration zugunsten eines Europas der Nationen verlangsamen. Ein nationaler Kurs der Bundesrepublik, der keine Rücksicht mehr auf irgendwelche Belastungen deutscher Identität gemeint ist die belastete deutsche Geschichte - nimmt, scheint ihm die angemessene Haltung nach der Wiedervereinigung zu sein. Einen derartigen Irrweg einzuschlagen würde all die seit Öffnung der Mauer getroffenen Aussagen Lügen strafen, die die deutsche Einheit zum Bestandteil und Ausgangspunkt der europäischen Einheit erklärt haben.
An nationalen Machtinteressen orientiertes Denken bestimmt aber auch - nur auf andere Weise - das krampfhafte Festhalten der Bundesregierung am Ablaufplan des Maastrichter Vertrags. Wenn es in Herrn Stoibers nationaler Variante darum geht, Türen für einen taktischen Rückzug aus Europa offenzuhalten, hält die Regierungsversion deutscher Europapolitik auf lange Sicht die Türen verschlossen. Diese Politik läuft auf Konsolidierung des reichen Zentrums und seines Schutzes gegenüber den Risiken der südlichen und östlichen Peripherien hinaus. Zusätzlich sind in der Praxis auch die Peripherien schon der jetzigen Europäischen Union betroffen, um noch einmal auf das Beispiel des Mezzogiorno zu verweisen.
Beide Spielarten deutscher Interessenpolitik würden sich als Behinderung der Europäischen Union und damit als Gefahr für Europa erweisen. Eine Lösung kann nur darin bestehen, die Hintertürchen zur Renationalisierung fest zu verschließen, gleichzeitig aber die europäischen Entscheidungszentren im Interesse der benachteiligten Regionen wie auch unserer neuen
Partner, z. B. der sogenannten Visegrad-Staaten, offener zu gestalten.
Zum Szenario der geschlossenen Türen, meine Damen und Herren, gehört der Automatismus, mit dem fast wie bei dem berühmten Pawlowschen Reflex das Stichwort der „gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" immer sogleich in militärische Optionen übersetzt wird. Zur Illustration können die Schlußfolgerungen des Vorsitzes der Brüsseler Konferenz vom 29. Oktober zum Thema der gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik dienen. Die einschlägigen Bestimmungen des Maastrichter Vertrages und die Erklärung zur WEU sind es, die - ich zitiere -„sämtlich" und „umgehend" umgesetzt werden sollen. Alles andere genügt „schrittweise" und ,,pragmatisch" nach Lage der Dinge.
Diese enge Sicht auf westeuropäische Sicherheitsinteressen, die anhaltende Priorität von militärisch orientiertem Denken wird keine Probleme lösen, schon gar nicht, wenn sie im Rahmen nationaler Besitzstands- und Interessenwahrung bleibt. Es sind andere Prioritäten zu setzen. Sie sind schon genannt worden: eine soziale Union, eine Umweltunion z. B.
Ich meine, daß die Zeit endgültig vorbei ist, in der die Westeuropäer hinter verschlossenen Türen ihre Probleme klären und mehr oder weniger gnädig darüber befinden, wer sich daran beteiligen darf.
({5})
Über die gemeinsame Zukunft kann, soll es kein böses Erwachen aus dem europäischen Traum geben, nur innerhalb ganz Europas und mit allen heute noch benachteiligten Europäern entschieden werden.
({6})
Meine Damen und Herren, ich erteile nunmehr dem Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern, Dr. Edmund Stoiber, das Wort.
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine sehr verehrten Herren! Nach den Diskussionen der letzten Tage, die auch erheblich von einem Hang zum bewußten und gewünschten Mißverständnis geprägt waren,
({1})
freue ich mich, daß ich die Regierungserklärung des Bundeskanzlers auch dazu nutzen darf, die Diskussionen in diesem Hause zu einem vernünftigen Ergebnis und manchen derer, die sich hier geäußert haben, vielleicht auch zu einem Rückzug zu bringen.
({2})
- Einige Dinge, die ich in der Zeitung gelesen habe, sind hier nicht so zum Ausdruck gebracht worden.
Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, vor Ihnen steht ein „Hochverräter" , der zudem noch „dumme Äußerungen" absondert, sich auf einer „europäischen Geisterbahn" befindet, den ,,Rechtsextremismus schürt", sich als „Brandstifter in Sachen Europa" betätigt.
({3})
Vieles von dem habe ich heute nicht so gehört, aber vieles von dem ist mir in den letzten Tagen über Medien mitgeteilt worden.
Ich möchte einmal deutlich machen: Was hat denn dieser „Hochverräter" getan? Er hat dem Vertrag von Maastricht zugestimmt. Er hat einem europäischen Bundesstaat eine Absage erteilt. Er hat die Prognose gewagt, daß die europäische Währungsunion in diesem Jahrhundert nicht mehr in Kraft treten wird.
({4})
- Ich finde es großartig, daß man hier nicht einmal bereit ist, den Angegriffenen - er ist von Ihnen angegriffen worden, Frau Wieczorek-Zeul ({5})
überhaupt zu hören. Sie sollten wenigstens die Kraft aufbringen, sich das anzuhören.
({6})
Er hat sich für eine Teilmitgliedschaft osteuropäischer Staaten eingesetzt, er hat das Unbehagen vieler Bürgerinnen und Bürger über zentralistische europäische Regelungen und die Undurchschaubarkeit des europäischen Entscheidungsprozesses aufgegriffen. Er hat darauf hingewiesen, daß Europa gemeinschaftsweite Probleme nicht löst, sich statt dessen in kleingärtnerische Detailregelungen verliert. Und er hat sich für neue Strukturen in der Europäischen Union eingesetzt, die den Grundsätzen von Demokratiegebot und Transparenz auch in der Europäischen Gemeinschaft Geltung verschaffen.
Bei diesem Vergehenskatalog ist klar: Der Mann muß natürlich
({7})
verurteilt werden. Er hat nämlich gewagt, was man in Deutschland offenbar nicht tun sollte: Er hat nicht europäische Visionen und Träumereien verbreitet, sondern Realitäten zur Kenntnis genommen und die Sorgen der Bevölkerung aufgegriffen.
({8})
Meine Damen, meine Herren, da Sie sich nicht lediglich an Schlagzeilen orientieren sollten, bin ich gerne bereit, die Auffassung der Bayerischen Staatsregierung - nicht nur meine persönliche - zur europäischen Integration darzulegen.
({9})
- Sie können nicht die Dinge nur in den Medien
austragen und wenn ich hierherkomme und Ihnen das
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({10})
erläutern will, sagen: „Das muß nicht sein!" Das ist kein guter Stil.
({11})
Erster Streitpunkt. Wollen wir einen Bundesstaat Europa, ja oder nein? Das ist nicht nur ein theoretischer Begriff, sondern das ist auch die Frage, welche Integration wir wollen. Denn ein Bundesstaat ist nun einmal etwas anderes als ein Staatenbund oder ein Staatenverbund. Ein Bundesstaat hat das Recht, im Rahmen der Verfassung die Aufgaben aufzugreifen, die ihm regelungsbedürftig erscheinen. Dagegen bleiben in einem Staatenbund oder, wie das Bundesverfassungsgericht meint, Staatenverbund die Mitgliedstaaten souverän.
({12})
Sie teilen dem Staatenverbund konkret einzelne Befugnisse zu. In einem europäischen Bundesstaat wäre das umgekehrt.
Unsere eigenen Erfahrungen in Deutschland zeigen doch, daß mit jeder Zentralisierung notwendigerweise auch eine Bürokratisierung einhergeht. Wir wollen aber den Mitgliedstaaten, den Ländern und Regionen ihre eigenen Gestaltungsmöglichkeiten soweit als möglich erhalten. Dabei spüre ich als Vertreter eines Landes auf Grund der Erfahrungen der letzten 30 Jahre besonders deutlich, welche Eingriffe ein Bundesstaat Europa für einen Mitgliedstaat Deutschland und natürlich erst recht für die Staatlichkeit der Länder bedeuten würde.
({13})
Die für einen europäischen Bundesstaat notwendigen tatsächlichen Voraussetzungen liegen auch nicht vor. Wir haben weder ein europäisches Volk noch eine europäische Sprache, geschweige denn einen europäischen Willensbildungsprozeß. Dieser Feststellung des Bundesverfassungsgerichtes habe ich nichts hinzuzufügen.
Glaubt denn jemand im Ernst, daß das morgen anders wäre? Noch so schöne politische Beschlüsse oder Manifeste können doch Fakten nicht ersetzen. Europa kann man nicht nur beschließen, Europa muß wachsen. Aus diesen Gründen will Bayern keinen Bundesstaat. Nur insoweit habe ich von einem Bruch mit den Erwartungen Adenauers oder auch von Franz Josef Strauß gesprochen. Der Vertrag von Maastricht sieht keinen Bundesstaat vor; so das Bundesverfassungsgericht. Ich füge hinzu: Der Vertrag hätte einen solchen Bundesstaat auch nicht vorsehen können, ohne gegen das Grundgesetz zu verstoßen.
Wegen meiner Äußerungen treibt den ehemaligen Außenminister Genscher die Sorge um, es könnten Zweifel an der Berechenbarkeit des vereinten Deutschland entstehen.
({14})
- Wenn die Länder, Herr Kollege Haussmann, unter maßgeblicher Mitwirkung Bayerns mit ihrem konsequenten Einsatz für den neuen Art. 23 des Grundgesetzes das innerstaatliche Demokratiedefizit in puncto
Europa nicht beseitigt hätten, dann wäre Maastricht gescheitert. Die Länder haben damit zu mehr Berechenbarkeit der deutschen Position beigetragen,
({15})
und das - auch dies sage ich ganz offen - gegen den permanenten und immensen Widerstand des deutschen Bundesaußenministers, des alten wie des gegenwärtigen.
Die Regierungschefs anderer Mitgliedstaaten sehen die europäische Zusammenarbeit häufig wesentlich realistischer als manche deutsche Politiker oder in besonderem Maße Kommentatoren.
Herr Ministerpräsident, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Haussmann zu beantworten?
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({0}): Gerne.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Herr Ministerpräsident, ich stelle Ihnen die Frage: Halten Sie es für außenpolitisch berechenbar für die Bundesrepublik Deutschland, wenn Sie in einem Zitat der „ Süddeutschen Zeitung" folgendes sagen - ich zitiere -:
Stoiber: Staatenbund bedeutet, daß jede Kompetenz einzeln und immer wieder neu übertragen werden muß und auch wieder zurückgenommen werden kann.
SZ: Also die Möglichkeit des jederzeitigen Austritts.
Stoiber: Ja richtig, . . .
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({0}): Lieber Herr Kollege Haussmann, damit habe ich nur die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 12. Oktober zitiert. Ich würde Ihnen empfehlen, sie einmal im einzelnen nachzulesen. Das ist genau die Unterschiedlichkeit zwischen einem Staatenbund und einem Bundesstaat.
Die Frage, die ich Ihnen in dem Zusammenhang ermöglicht habe, hat ja einen ganz anderen Hintergrund. Der Hintergrund ist der: Die Berechenbarkeit wäre nicht gegeben gewesen, wenn Art. 23 des Grundgesetzes nicht geändert worden wäre und nicht ein neuer Art. 23 geschaffen worden wäre. Ich habe darauf abgehoben, daß das in dem Widerspruch zu Ihren Auffassungen und Vorstellungen durchgesetzt werden mußte.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Regierungschefs - auch das erlaube ich mir, noch einmal zu sagen - anderer Mitgliedstaaten sehen die europäische Zusammenarbeit häufig wesentlich realistischer. So hat z. B. Präsident Mitterrand erst vor einigen Wochen klargestellt, daß die europäische Integration von den Nationalstaaten ausgeht. Sie bleiben als identitätsstiftende und soziale Großverbände noch lange erhalten.
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({2})
Wenn ich hiermit die deutsche Diskussion vergleiche, dann verwundert sie mich manchmal. Wenn man so etwas in Deutschland darlegt, dann wird man sofort von vielen in diesem Hause in eine rechte oder gar rechtsradikale Ecke gedrängt.
({3})
Sie wissen gar nicht, was Sie damit eigentlich tun.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das sind die Fakten, die uns bewegen, einen europäischen Bundesstaat abzulehnen.
Einen Austritt - das wiederhole ich noch einmal, Herr Haussmann - aus der EG habe ich dagegen nie gefordert. Zum Austrittsrecht als Abgrenzungskriterium zwischen Bundesstaat und Staatenbund habe ich lediglich das Bundesverfassungsgericht zitiert. Mir deshalb den Austrittswillen zu unterstellen ist bösartig.
({5})
Die Ablehnung des Bundesstaates Europa ist keine einsame Wende der Europapolitik des bayerischen Ministerpräsidenten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf Ihnen hier ein Zitat des Bundeskanzlers vom 5. Oktober dieses Jahres in Wien vortragen:
Deswegen spreche ich auch nicht mehr von den Vereinigten Staaten von Europa als Zukunftsziel. Ich selbst habe dies in der Vergangenheit getan, aber ich räume gerne ein, daß dieser Begriff - der auf die große Rede Winston Churchills 1946 in Zürich zurückgeht - zu Mißverständnissen Anlaß gibt. Wir wollen kein staatliches Abbild der Vereinigten Staaten von Amerika.
({6})
Wir wollen aber kein Zurück in den Nationalstaat des 19. Jahrhunderts ... Heimat, Vaterland, Europa - dies ist der Dreiklang der Zukunft.
Nur, Herr Kollege Glotz, die Vereinigten Staaten von Europa sinnbildlich wie die Vereinigten Staaten von Amerika, das waren natürlich die Träume und Wünsche und auch die Beschlüsse der Politikergeneration in den 50er und in den 60er Jahren. Dies hat sich verändert. Wenn Sie das nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dann machen Sie einen verhängnisvollen Fehler.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die CSU hat aus eigener Einsicht am 7. November 1992, also vor einem Jahr, einen entsprechenden Beschluß gefaßt. Auch Herr Kinkel - das habe ich hier leider nicht gehört - sollte das Geheimnis lüften, daß sich die F.D.P. nach dem Urteil von Karlsruhe am 16. Oktober 1993 auf dem Parteitag in Magdeburg klammheimlich vom europäischen Bundesstaat verabschieden mußte. Ich bin gespannt, wann die programmatische Veränderung auch in der SPD kommen wird und ob es dabei bleibt, was Herr Lafontaine formuliert. Er sagt: Deutschland ist nur ein Provisorium in Richtung europäischer Nation, von der er am 3. Oktober dieses
Jahres auf einer zentralen Veranstaltung des Bundesrates gesprochen hat. Wir wollen keine europäische Nation an Stelle der Nationalstaaten; das sage ich hier ganz deutlich.
({8})
- Sie müssen das bei sich selber klären, aber nicht uns Vorwürfe machen, meine Damen und Herren.
Zweite Streitfrage: Erweiterung vor Vertiefung. Bayerische Position ist: Aus der westeuropäischen muß auch eine gesamteuropäische Gemeinschaft werden. Das bedeutet, wir müssen nach Maastricht in der Integrationspolitik differenzieren. Gemeinschaftsweite Aufgaben müssen weiter integriert werden, aber wir dürfen die Gemeinschaft wirtschaftlich und sozial nicht zu einer Festung gegenüber Osteuropa werden lassen. Prag, Warschau oder Budapest gehören ebenso zum Urgestein Europas wie Rom, Paris oder Wien.
({9})
Außenminister Genscher, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat doch bereits am 4. Mai 1991 in der „Welt am Sonntag" öffentlich vorgeschlagen, die Staaten Mittel- und Osteuropas in die Europäische Gemeinschaft aufzunehmen. Ist das heute alles Schall und Rauch? Zucken wir ein bißchen zurück, wenn es ernst wird? Wer das tut, der braucht sich über mangelnde Glaubwürdigkeit der Politik nicht zu beklagen.
({10})
Mit dem Wegfall der Blöcke ist der Europäischen Gemeinschaft die Verantwortung für Gesamteuropa zugewachsen. Wachsende soziale Spannungen und um sich greifende Konflikte können zu politischen Explosionen führen, die den ganzen Kontinent in Mitleidenschaft ziehen. Westeuropa muß deshalb einen entscheidenden Beitrag zum Abbau dieses Gefahrenpotentials leisten. Eine Prioritätensetzung „Vertiefung vor Erweiterung" wäre das falsche Signal. Die Völker in Osteuropa ringen um ihre Zukunft, und sie brauchen auch eine schnelle Annäherung an die Gemeinschaft.
Meine Damen, meine Herren, genau das ist die konsequente Fortsetzung der Adenauerschen Friedenspolitik nach Osten. Er hat noch 1967 gesagt:
Unser Ziel kann ... nicht ein Europa der Sechs bleiben ... Auch nach Osten müssen wir blicken, wenn wir an Europa denken. Zu Europa gehören Länder, die eine reiche europäische Vergangenheit haben. Auch ihnen muß die Möglichkeit des Beitritts gegeben werden.
So Adenauer noch 1967.
Wir brechen eben nicht mit der Adenauerschen Politik der Friedensgemeinschaft und der wirtschaftlichen Integration, wie mir unterstellt wird. Hier wollen wir vielmehr sein Erbe einlösen, das heute zum Teil von einigen beschnitten wird.
Das bedeutet aber: Wir können nicht die westeuropäische Integration über den Vertrag von Maastricht
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({11})
hinaus generell beschleunigen und gleichzeitig die Staaten Osteuropas in diese Integration einbeziehen. Wer das glaubt - das glauben hier anscheinend viele -, der lügt sich in die Tasche.
Wir wollen eine Konsolidierung der Europäischen Gemeinschaft, um diesen Völkern ein Nachrücken überhaupt zu ermöglichen. Wer dies bewußt umdeutet in eine Abkehr von der Integration, der baut einen Popanz auf, um vielleicht eine Diskussion um etwas zu gestalten, die sinnlos ist.
({12})
- Einen Popanz haben Sie aufgebaut, Herr Glotz.
({13})
- Das interessiert mich doch gar nicht.
Aus meinen Gesprächen mit den mitteleuropäischen Nachbarn Bayerns weiß ich: Sie erwarten ein deutsches Signal, daß wir die Türen zum Europäischen Haus öffnen, daß wir auch sie in ihren Sicherheitsängsten nicht alleine lassen.
Deshalb treten wir ebenso wie der frühere Außenminister EG-Außenkommissar Andriessen für eine Teilmitgliedschaft von Polen, der Slowakei, Slowenien, der Tschechischen Republik und Ungarn in der Gemeinschaft ein. Sie sollten möglichst bald an einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, an der Kontrolle der Außengrenzen, bei der Einwanderungspolitik und bei der Bekämpfung der internationalen Kriminalität einschließlich des Drogenhandels mitarbeiten und mitentscheiden. Europa braucht einen gemeinsamen Sicherheitsraum.
({14})
Daran hat gerade Bayern als Grenzland der EG ein vitales Interesse.
Drittes Problem: Neustrukturierung der Gemeinschaft. Wir brauchen eine klare Aufgabenteilung, die sich am Subsidiaritätsgrundsatz und nicht am Minimalgrundsatz orientiert. Es besteht doch eine eklatante Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die EG vermag gemeinschaftsweite Probleme nicht zu lösen; davon war heute schon die Sprache. Sie läuft aber zu großem Perfektionismus auf, wenn es darum geht, den Unterschied zwischen Schlafanzug und Hausanzug zu normieren.
Wir brauchen eine europäische Union, die endlich die Gemeinschaftsprobleme anpackt. Ich denke hier natürlich an eine gemeinsame Außenpolitik, an die Bekämpfung der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität. Nur, meine Damen und Herren, ich habe hier heute bei der Debatte sehr viel gehört. Aber keiner hat darauf hingewiesen, daß unsere europäischen Nachbarstaaten Frankreich, Holland, Belgien in der Zeichnung des Schengener Abkommens unterschiedliche Regelungen zulassen. Der deutsche Polizist darf in dem einen Land nur eine Viertelstunde verfolgen, in das andere darf er nur 30 km hinein. Im übrigen darf er nur herein, wenn er sofort den zuständigen Kollegen aus dem anderen Land verständigt, und nur der darf festnehmen. Da sollte man erst einmal ansetzen, bevor man große Visionen zeichnet.
({15})
Ich denke an die Wirtschaftsprobleme und die steigende Arbeitslosigkeit in ganz Europa, an die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit Europas gegenüber den Vereinigten Staaten, Japan und Südostasien, an eine gemeinsame Asylpolitik und die Steuerung der Flüchtlingspolitik.
({16})
Deutschland hat im letzten Jahr zwischen 50 000 und 100 000 Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien aufgenommen. Wir haben insgesamt fast 400 000 Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien aufgenommen. Ich erinnere mich noch sehr genau an die niederschmetternden Berichte des Bundesinnenministers auf der Innenministerkonferenz im Sommer 1992. Wie beschämend gering war doch die Bereitschaft unserer westeuropäischen Nachbarn, überhaupt in eine europäische Kontingentierung der Flüchtlinge aus Südosteuropa einzutreten!
({17})
Das wäre schnellstens zu verbessern. Da muß man den Finger auf die Wunde legen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Aber ich sage Ihnen auch: Wir lehnen eine Europäische Gemeinschaft ab, die statt dessen Aufgaben der Mitgliedstaaten an sich zieht. Ich wiederhole: In Brüssel muß nicht verordnet werden, welche Arbeitsräume der Metzger von Holzkirchen vorzuhalten hat. In Brüssel muß nicht entschieden werden, ob der kleine Bauunternehmer in Hof für seine Baustellen einen Sicherheits- und Gesundheitsbeauftragten zu bestellen hat.
({18})
In Brüssel muß nicht festgelegt werden, unter welchen Voraussetzungen man in der Isar baden darf. In Brüssel muß nicht bestimmt werden, welche Brandschutzanforderungen an Hotels im Allgäu zu stellen sind. In Brüssel muß nicht jedes Schaf in der Rhön, jede Einzelparzelle eines Bauernhofes im Ries erfaßt werden, um den Mißbrauch von EG-Fördermitteln zu verhindern.
({19})
Daß dabei auch noch Hecken und Obstbäume herauszumessen sind, schlägt dem Faß den Boden aus.
({20})
Ich weiß, meine sehr verehrten Damen und Herren: Das wird von Ihnen als lächerlich und provinziell abgetan. Es ist aber bitterernst, was wir dazu von unseren Bürgerinnen und Bürgern täglich in den Rathäusern, in den Landratsämtern, in den Landwirtschaftsämtern, in den Gewerbeaufsichtsämtern und in anderen Ämtern hören. Auch das ist das real existierende Europa, von dem Brüssel und der Bundestag
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({21}) möglicherweise zuwenig sehen. Das diskreditiert Europa! Das unterläuft unsere gesamten Bemühungen um Vorschriften- und Verwaltungsabbau!
({22})
Herr Minister - Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({0}): Nein.
({1})
- Herr Kollege Vogel, lösen Sie sich doch einmal von Ihren Klischeevorstellungen! Hier geht es um Probleme, die gelöst werden müssen.
({2})
Die Gemeinschaft muß weg von diesem Zentralismus und Bürokratismus, hin zu mehr Demokratie und Transparenz. Europa braucht neue Strukturen, die die Einhaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Grundsätze in der Europäischen Union gewährleisten.
Meine Damen und Herren, dazu werden wir über den Bundesrat Vorschläge unterbreiten. Wir fordern eine Strukturkonferenz der Europäischen Gemeinschaft. Sie muß meines Erachtens spätestens mit der deutschen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 1994 beginnen, nicht erst 1996.
({3})
Meine Damen und Herren, die hysterische Reaktion auf meine Äußerungen beweist auch, wie weit wir Deutsche noch von einem normalen Verhältnis zur Nation und zur Formulierung nationaler Interessen entfernt sind.
({4})
Ich hoffe, meine Damen und Herren, daß alle Bürgerinnen und Bürger auch draußen mitbekommen, wie Sie hier von der linken Seite diese Ausführungen, die ich gerade mache, was den Zentralismus und die Einstellung zu deutschen Interessen anbelangt, lächerlich zu machen versuchen.
({5})
Sie müssen sich angewöhnen, hier und draußen in den Veranstaltungen die gleiche Sprache zu sprechen.
({6})
Hier machen Sie etwas lächerlich, draußen treten Ihre Abgeordneten auf und bekämpfen und beklagen genau das, was ich hier kritisiere.
({7})
Es ist bemerkenswert, wenn der Bundesaußenminister, der leider nicht mehr da sein kann, behauptet, meine Aussagen seien falsch,
({8})
weil sie bei seinen Kollegen im EG-Außenministerrat
nicht auf Zustimmung gestoßen seien. Wer deutsche
Interessen artikuliert, der liegt doch nicht deshalb
falsch, weil ihm Engländer, Italiener oder Griechen nicht sofort applaudieren.
({9})
Es ist schon merkwürdig, daß der Außenminister die innenpolitische Diskussion um den europapolitischen Kurs zu tabuisieren versucht. Sie können nicht jeden, der nationale Interessen formuliert, in die rechte Ecke stellen.
({10})
Unsere Bürger haben ein feines Gespür für Gerechtigkeit. Sie erwarten nicht nur in der Innen-, sondern auch in der Europapolitik, daß es gerecht zugeht,
({11})
und sie haben, ob zu Recht oder zu Unrecht, das Gefühl, in Europa würden die Lasten oft nicht gerecht verteilt. Selbst dort, wo deutsche Interessen gewahrt wurden, haben die Bürger davon nicht die Überzeugung gewonnen. Auch für die Europapolitik gilt: Nur was die Bürgerinnen und Bürger einsehen und akzeptieren, ist auf Dauer tragfähig. Meine Damen und Herren, ich frage die F.D.P., die seit 1969 den Außenminister in Deutschland stellt,
({12})
aber ich frage letzten Endes auch uns alle, warum die zu verantwortende Europapolitik in den Herzen der Menschen keine Mehrheit hat.
({13})
- Da machen Sie es sich aber zu leicht, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das haben Sie schon bei der Asyldiskussion zu tun versucht, und danach sind Sie doch auf unsere Vorschläge eingegangen. Nicht derjenige, der auf einen Mißstand hinweist und versucht, diesen Mißstand zu beheben, ist schuld, sondern der Mißstand ist es, der aufgegriffen werden muß und beseitigt werden muß.
({14})
Nichts anderes war mit meinem Wort von der Kopfgeburt gesagt. Wenn es in Deutschland zu Maastricht, Herr Kollege Vogel, ein Referendum gegeben hätte, hätte die deutsche Europapolitik möglicherweise ihr blaues Wunder erlebt.
({15})
Wer in Deutschland über die Nation redet, wird häufig als Ewiggestriger verdächtigt. Sie, meine Damen und Herren von der SPD
({16})
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({17})
- hören Sie erst mal zu -, sind deshalb mit Oskar Lafontaine an der Spitze auch ein bißchen auf der Flucht vor der Nation.
({18})
Damit gehen Sie über Verwurzelungen und Gefühle unserer Bürgerinnen und Bürger hinweg.
Wir dagegen wollen unsere nationale Identität in Europa einbringen. Der polnische Patriot Papst Johannes Paul II. antwortet auf die Frage, welchen Beitrag Osteuropa zur Schaffung eines größeren Europas leisten kann: „Zunächst einmal den Beitrag der nationalen Identität dieser Länder." So in der „Woche" vom 4. November 1993. Daraus spricht Achtung vor den Nationen als Bausteinen Europas.
Wer für die Vertretung deutscher oder gar bayerischer Interessen eintritt, der wird von Ihnen als Populist beschimpft.
({19})
Ich bekenne mich dazu, daß ich als Volksvertreter die Sorgen und die Befürchtungen der Bürgerinnen und Bürger aufgreife.
({20})
Zu diesen Ängsten der Bürger gehört auch, daß sie sich von den Lasten der Einheit und einem gleichzeitig forcierten europäischen Integrationsprozeß überfordert fühlen. Jetzt wird doch allenthalben beim Bürger sichtbar, daß die deutsche Einheit etwas kostet. Dazu bekennen wir uns. Wir können jede Mark aber nur einmal ausgeben.
In dieser einmaligen historischen Ausnahmesituation muß Deutschland doch seinen Partnern gegenüber vertreten können, daß wir zusätzliche Lasten der weiteren europäischen Einigung derzeit nicht so ohne weiteres verkraften können.
({21})
Deshalb sind wir noch lange nicht antieuropäisch.
Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, mit großem Interesse habe ich Ihre Reaktionen zu einer Reihe von Aussagen zur Kenntnis genommen. Sie bieten mir reichhaltige Möglichkeit, natürlich auch draußen zu verbreiten, wie Sie diese Dinge,
({22})
wie lächerlich Sie die Probleme der Menschen im Grunde beurteilen.
({23})
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: Wenn es „Hochverrat" ist, daß ich mich zur Europäischen Union bekenne, die Frieden und Sicherheit in ganz Europa gewährleisten soll, daß ich mich zum Binnenmarkt bekenne, weil er gerade für das Exportland Deutschland Arbeitsplätze, soziale Sicherheit und Wohlstand sichert, daß ich einen europäischen Bundesstaat ablehne, der uns mit einer Regelungsflut überziehen würde und keinen Raum für eigenverantwortliches Gestalten der Länder langfristig ließe, daß ich eine Strukturreform zur Stärkung von Demokratie und Transparenz in der EG einfordere und daß ich die Nation nicht leugne, sondern sie als Baustein in Europa einbringen will, dann bekenne ich mich gerne schuldig. Aber ich sage Ihnen auch, meine Damen und Herren: Das Urteil sprechen nicht Sie, sondern das Urteil spricht die Bevölkerung.
Danke schön.
({24})
Meine Kolleginnen und Kollegen, ich habe Ihnen zunächst einmal mitzuteilen - ich muß es an dieser Stelle tun, damit es nicht untergeht -, daß der Ältestenrat in seiner heutigen Sitzung vereinbart hat, in der Sitzungswoche vom 22. November mit Rücksicht auf die Haushaltsberatung keine Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunden und keine Aktuellen Stunden durchzuführen. Sind Sie mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden? - Das ist offenbar der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Um 16.00 Uhr hätte die Fragestunde beginnen sollen. Wir hatten auch eine Vereinbarung über die Debattenlänge. Herr Ministerpräsident Dr. Stoiber, diese internen Vereinbarungen sind Ihnen vermutlich nicht so gewärtig. Jedenfalls bleibt jetzt für den Rest der Debatte, auf den die anderen Fraktionen, aber auch die eigene, noch eine Menge zeitlichen Anspruch hätten, kaum mehr Zeit. Deshalb bitte ich, daß die Geschäftsführer sich so am Rande noch einmal absprechen, wie wir weiterfahren wollen.
Auf jeden Fall hat jetzt der Kollege Dr. Peter Glotz das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundeskanzler, der Bundesaußenminister und der Kollege Waigel haben heute die Auffassung vertreten, daß es wenig Zweck hat, heutzutage über die Frage zu philosophieren, wie Europa in 20 Jahren aussehen wird, was Bundesstaat oder Staatenbund dann im einzelnen bedeuten wird. Dem hat Ministerpräsident Stoiber widersprochen. Ich glaube, daß der Bundeskanzler, der Bundesaußenminister und der Kollege Waigel recht haben, meine Damen und Herren.
({0})
Herr Ministerpräsident Stoiber, Sie haben eine ganze Reihe von plastischen und wirksamen Beispielen aufgeführt
({1})
für falsche und fragwürdige Regelungen. In der Tat: Zwischen der Europäischen Kommission, den Nationalstaaten, den Bundesländern und den Mittelbehörden gibt es manches, was neu geregelt werden könnte. Es wäre besser, statt einseitig alles der Kommission zuzuweisen, diese Regelungen zu verändern, im Zweifel durchaus auch Kompetenzen von der Kommission auf andere Ebenen zurückzuholen. Aber es wäre besser, das praktisch zu reformieren, als
unsere europäischen Nachbarn über den europäischen Kurs der deutschen Politik zu verunsichern.
({2})
Weil Sie, Herr Ministerpräsident, so unbürokratisch sind, möchte ich in bayerischer umfassender Solidarität Ihnen und dem Herrn Faltlhauser mitteilen, was der Bayerische Bauernverband herausgefunden hat. In Bayern gibt es ein Formular zum Antrag auf Bullenprämie, 30 Seiten lang. In Frankreich ist das, was zum gleichen Thema geschrieben wird, eine Seite lang. Der Bayerische Bauernverband sagt, daß für einen durchschnittlichen Bauern 3,5 Kilogramm Antragspapier auf Grund der bayerischen Regelungen erforderlich sind. Herr Stoiber, ändern Sie das in Ihrem Bundesland, statt hier gegen Europa zu agitieren!
({3})
Herr Kollege Glotz, darf ich Sie einen Moment unterbrechen? - Herr Kollege Faltlhauser, der Redner spricht gerade, sozusagen pausenlos, den Ministerpräsidenten an. Sie nehmen ihm die Gelegenheit zuzuhören, ({0})
Aber ich habe das Wort, Herr Glos.
- wobei ich aber bitte, sich auf dieser Seite des Hauses nicht zu sehr zu erregen. Die Art und Weise, wie Sie den Ministerpräsidenten bei der Rede vorhin begleitet haben, war nun auch nicht die ganz feine englische Art. Sie kennen meine Abneigung gegen Ordnungsrufe; deshalb bin ich auf verschiedene Zwischenrufe, Herr Kollege Vogel, nicht eingegangen.
Bitte Herr Dr. Glotz, fahren Sie fort.
Wir reden nicht nur über ein Wendemanöver, meine Damen und Herren, das der bayerische Ministerpräsident gegen den Willen seines Parteivorsitzenden, aber offensichtlich mit großer Unterstützung aus seiner Partei vollzieht. Wir müssen hier genauso über die allmähliche und gleichzeitig kontinuierliche Stärkung eines nationalkonservativen Elements in der CDU reden. Man muß dem bayerischen Ministerpräsidenten recht geben, wenn er seinem Satz über den Bruch mit Adenauer hinzufügt - ich möchte den Herrn Ministerpräsidenten wörtlich zitieren -:
Diesen Bruch vollzieht die Union jetzt insgesamt.
Da kann der von mir kochgeschätzte, aber auch ein bißchen bedauernswerte Kollege Geißler lange von Hochverrat reden! Meine Damen und Herren, wie Herr Stoiber seine Rede auf den Begriff „Hochverrat" aufgebaut hat, um Herrn Geißler auszugrenzen, zeigt
schon etwas vom menschlichen Klima in der CDU/ CSU.
({0})
Da kann der Kollege Geißler lange von Hochverrat reden, Herr Stoiber hat recht, daß auch die CDU aus ihrem Programm den Begriff „Bundesstaat" herausgestrichen hat. Die Rede von Wolfgang Schäuble - ich bedaure, daß er jetzt nicht mehr anwesend ist - auf dem Berliner CDU-Parteitag ist zwar bewußt ungenauer als das Interview von Edmund Stoiber, aber sie geht doch in die gleiche Richtung. Wohin anders soll denn das dunkle Geraune von „gemeinsamen Werten", „nationaler Zusammengehörigkeit", „Schutz- und Schicksalsgemeinschaft" führen als zu einer nationalstaatlich fundierten Politik?
Die Bemühungen des Kollegen Schäuble erinnern mich an Franz-Josef Strauß.
({1})
Der hat 1967 in einem berühmten Essay, Herr Kollege Glos, gesagt:
Die Identität von Nation und Staat herzustellen und auf diese Weise die irrationalen Kräfte des Volkes, das sich auf Grund seiner gemeinsamen Überlieferungen, Eigenarten und Verständigungsmöglichkeiten schicksalshaft zusammengehörig empfindet, im rationalen Rahmen wirksam werden zu lassen, läßt sich ebenso als begeisternde Aufgabe wie als logisch einleuchtendes Konzept betrachten.
Das ist das, was Wolfgang Schäuble derzeit in der Situation der Wiedervereinigung versucht. Diesen Versuch kann ich verstehen. Nur fügt Strauß hinzu, meine Damen und Herren:
Die Kehrseite der Medaille war doch stets die potentielle Gefahr, daß mit dem und in dem Nationalstaat ein hemmungsvoller Gruppenegoismus zu subjektiven Überbewertungen des eigenen Volkes führte, was wiederum zu seiner gewollten und bewußten Isolierung beitrug.
Meine Damen und Herren, mit diesem Satz ist der Strauß von 1967 Jahrzehnte moderner als der Schäuble von 1993.
({2})
Tatsache ist: Die Union und nicht nur die CSU wendet sich von der europäischen zur deutschen Partei.
({3})
Ich teile all die Einzelkritik, die die Kollegin Wieczorek-Zeul heute an der europäischen Politik des Bundeskanzlers geübt hat. Aber der Bundeskanzler hält die unterschiedlichen Optionen für die europäische Integration offen.
Ich sage Ihnen: An dem Tag, an dem Helmut Kohl aus der Politik ausscheiden wird,
({4})
wird die CDU/CSU eine antieuropäische Partei mit ein paar Europäern wie Geißler, Lamers und noch 15 anderen sein.
({5})
Diese Politik widerspicht nicht nur irgendwelchen Idealen; sie widerspricht, wie die Kollegin Wieczorek-Zeul richtig gesagt hat, unseren deutschen Interessen, die so gerne betont werden.
Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, Herr Ministerpräsident, Ihren großen Lehrer zu zitieren. Er hat im gleichen Essay gesagt:
Die Nationalstaaten sind im heutigen Europa allein auf Grund ihrer Größenordnung und Bevölkerungszahl anachronistische Gebilde,
({6})
die ihre Funktion als lebens- und wettbewerbsfähige Einheit nicht mehr zu erfüllen vermögen.
Der Mann hat nämlich, wenn er von Außenpolitik gesprochen hat, auch an Wirtschaftspolitik gedacht. Deshalb ist er Leuten wie Glos himmelhoch überlegen gewesen.
({7})
Strauß wörtlich:
Es wäre eine nicht nur unnötige, sondern für das Wohl des Fortbestands der europäischen Völker bedrohliche Zeitvergeudung, wenn man sich noch weiterhin mit den überholten Problemen der nationalstaatlichen Organisation und Reorganisation in Europa beschäftigte, anstatt politische Entscheidungen einzig unter dem Gesichtspunkt einer Harmonisierung der Interessen aller Völker dieses Kontinents zu treffen.
({8})
Meine Damen und Herren, das war Politik über den Tag hinaus. Edmund Stoiber hat nur ein Ziel im Auge, nämlich die absolute Mehrheit in Bayern zu behalten. Herr Ministerpräsident, Sie begehen politisch Selbstmord aus Angst vor dem Tode. Das ist die Situation!
({9})
Jacques Delors hat der Befürchtung Ausdruck gegeben, die EG könnte zur Freihandelszone verkommen. Ich füge hinzu: Wer zuläßt, daß die Integration großer und kleiner Völker in einem verklammerten Westeuropa aufgelöst wird, der stürzt Deutschland in sein altes Dilemma. Dieses Volk war zwischen 1871 und 1945 zu klein, um Europa unbestritten führen zu können, und zu groß, um sich in Europa einzuordnen. Wenn wir dieses Dilemma nicht meiden, fallen wir zurück in die Querelen der Zwischenkriegszeit. Dies ist ein verhängnisvoll falscher Weg, der unser Volk ins Unglück führen kann und gegen den wir uns stemmen müssen.
({10})
Erinnern Sie sich doch an jene Situation, als die Bundesregierung ein paar Wochen lang zögerte, die Westgrenze Polens anzuerkennen. Damals lud Präsident Mitterrand geradezu zeremoniös die polnische Führung, Jaruzelski und Mazowiecki, ein. Plötzlich war wieder ein Rüchlein der alten Ententepolitik der Zwischenkriegszeit im Raum. Es ist fahrlässiger Dilettantismus, Deutschland wieder in diese Gefahr der Isolierung zu bringen.
({11})
Geben wir es doch zu: Margaret Thatcher spricht das aus, was sehr, sehr viele Politiker unserer Nachbarn denken.
({12})
Spüren Sie nicht, wie bei unseren kleinen Nachbarvölkern beispielsweise bei den Holländern oder auch bei vielen Skandinaviern - Bedenken gegenüber dem großen Deutschland wachsen? Übersehen Sie, wie sehr die deutsch-französische Freundschaft und Kooperation in den letzten Monaten gelitten hat?
({13})
In dieser Situation ist es falsch, daß Edmund Stoiber auf der Linie von Margaret Thatcher sagt: Eine Ost-Erweiterung der EG ist notwendig, um eine Vertiefung der Integration zu verhindern. - Genau das hat er gesagt, und das ist die falsche Politik, meine Damen und Herren.
({14})
Natürlich haben Sie recht, Herr Ministerpräsident: Wenn Sie in Prag mit Herrn Klaus sprechen, dann sagt auch er, er wolle lieber einen losen europäischen Verbund, er wolle keine europäische Integration in wirklichem Sinne. Aber wir werden den osteuropäischen Völkern nur helfen können, wenn Westeuropa stark bleibt und verklammert bleibt. Sonst ist das völlig ausgeschlossen.
({15})
Meine Damen und Herren, ich möchte deutlich machen, wie inkonsistent die Politik der Regierung in diesem Punkt ist. Herr Waigel, ich entnehme einer Nachrichtenzusammenfassung von ddp von gestern
ich zitiere -:
Waigel befürwortete eine beschleunigte Aufnahme der Schweiz und Österreichs als EG-Mitglieder und warnte vor einer raschen Mitgliedschaft Polens, der Tschechischen Republik, Ungarns und anderer mittel- und osteuropäischer Länder, weil dies finanzpolitisch von der Gemeinschaft derzeit nicht verkraftbar sei.
({16})
Meine persönliche Aufassung ist, daß Sie recht haben. Aber ich stelle gleichzeitig fest: Das ist das absolute Gegenteil zu dem, was Edmund Stoiber hier gesagt hat.
({17})
Für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion erkläre ich: Wir halten den Bruch, der hier mit der Politik der europäischen Einigung vollzogen wird,
({18})
für eine verhängnisvolle, falsche Weichenstellung,
({19})
gegen die wir uns mit all der Kraft, die in der Sozialdemokratie steckt, wehren werden.
Herzlichen Dank.
({20})
Herr Kollege Helmut Haussmann, Sie haben das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir, die F.D.P.-Fraktion, die CDU und Herr Waigel, wollen uns den Erfolg auf europapolitischem Gebiet nicht nehmen lassen.
({0})
Wir sollten Herrn Stoiber hier nicht zu wichtig nehmen,
({1})
sondern wir sollten feststellen, daß am 1. November der Maastrichter Vertrag in Kraft getreten ist - ein wirklich historischer Durchbruch - und daß wir es gegen den Widerstand vieler Stimmen geschafft haben, daß Frankfurt am Main der Sitz der Europäischen Zentralbank wird.
({2})
Das steht im Mittelpunkt. Es wirft ein bezeichnendes
Licht auf die sogenannte Elite in Wirtschaft, Publizistik und Wissenschaft, daß sie im Grunde genommen
eine solche historische Entscheidung derzeit in Deutschland kaum zur Kenntnis nimmt.
({3})
Es ist wirklich sehr traurig. Egal, ob es damals die Rede von Delors war, in der er sagte, daß die deutsche Form der sozialen Marktwirtschaft praktisch das Ordnungsprinzip in Europa wird, egal, ob die Maastrichter Konvergenzkriterien praktisch nach deutschem Vorbild festgelegt wurden, egal, ob die künftige Europäische Zentralbank nach dem Muster der Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank gestaltet wird: Alles nimmt man in Wirtschaft und Wissenschaft zur Kenntnis, man hakt es ab und geht zur Tagesordnung über.
Deshalb frage ich: Was gibt es eigentlich Besseres und was kann Politik Besseres tun, als für das größte Exportland der Welt Märkte zu öffnen, Binnenmärkte zu organisieren und eine Wirtschafts- und Währungsunion vorzubereiten?
({4})
Das ist doch die entscheidende Politik. Amerikaner und Japaner beneiden uns darum. Deshalb, verehrte Kollegen von der CSU, dürfen wir an der weiteren Integration Europas keinen Zweifel lassen,
({5})
weil sich in allen wichtigen Wirtschaftsräumen Binnenmärkte organisieren, ob in Asien oder im NAFTARaum. Deshalb darf es aus ökonomischer Sicht keine Verzögerung bei der Wirtschafts- und Währungsunion geben.
({6})
Wer wie Herr Stoiber Zweifel daran läßt und sagt, daß er die Erweiterung als Mittel zur Verlangsamung der Vertiefung ansieht, schadet uns wirtschaftspolitisch massiv.
({7})
Ich sage Ihnen, Herr Stoiber, voraus: Am Ende werden wir nur zwei Nachteile haben. Wir werden das Mißtrauen unserer westlichen Partner in Europa haben, und wir werden zur Erweiterung nicht kommen, weil zur Erweiterung ein gewisses Maß an Vertiefung gehört. Es ist ein paralleler Prozeß.
({8})
Das eine läßt sich nicht gegen das andere ausspielen.
Zurück zu Frankfurt: Dies war ein entscheidender Durchbruch - der Bundeskanzler und Herr Waigel haben es zu Recht betont -, auch psychologisch. Das sollte man, Herr Stoiber, in den Vordergrund stellen; man sollte nicht die dumpfen Vorbehalte gegen Europa bestärken. Man sollte die Bürger auf dem Weg nach Europa bestärken, so daß sie weitergehen.
({9})
Es ist ein Riesenerfolg - das sollte man nutzen - kurz nach Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages und kurz nach der Entscheidung für Frankfurt, daß die künftige europäische Geldkontrolle in Frankfurt stattfinden wird, am Sitz der Deutschen Bundesbank. Das ist ein Pro für Europa, nicht das Gegenteil.
({10})
Herr Kollege Haussmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schmidt?
Bleie schön.
Herr Kollege Haussmann, stimmen Sie mit mir darin überein, daß die Gefahr besteht, daß bei einer weiter fortschreitenden Vertiefung der westeuropäischen Integration die von uns allen erstrebte Erweiterung in den osteuropäischen Bereich schwieriger wird, weil die Integration für die neu hinzukommenden Staaten bei deren gegenwärtiger Verfaßtheit mehr Probleme aufwirft, als sie zu verkraften in der Lage sind?
Nein, ich stimme der Meinung von Herrn Waigel zu, daß wir uns zunächst durch eine weitere Integration in Kerneuropa stärken müssen, um die Erweiterung voranzutreiben.
({0})
Mit der Entscheidung für Frankfurt ist ein notwendiger, aber kein hinreichender Schritt für eine europäische Währung und für eine europäische Zentralbank getan. Es bliebe, meine Damen und Herren - das sollten wir heute nicht vergessen -, bei einem unbedeutenden Währungsinstitut ohne große Ausstrahlung, wenn nicht gleichzeitig gewaltige Anstrengungen zur Konvergenz und damit zur Wirtschafts- und Währungsunion gemacht würden. Denn erst dann wird aus einem Institut eine richtige Währungsbank. Da hat die Arbeit im Grunde genommen erst begonnen.
Deshalb sage ich hier erneut für meine Fraktion: Nicht nur die Konvergenzkriterien, sondern auch der Zeitplan sind wichtig. Die Verzögerung des Zeitplanes, das Offenlassen, das Hinausschieben in das nächste Jahrtausend ist in Wirklichkeit auch Feigheit, auch Resignation vor der Bekämpfung der eigenen, nämlich der nationalen Verschuldung und Inflation.
({1})
Zu den Sozialdemokraten möchte ich sagen: Wir schätzen Ihr Bekenntnis zu den Konvergenzkriterien. Wir schätzen auch, daß Sie sich immer gegen einen Automatismus entschieden haben. Aber Sie müssen jetzt auch national wirtschafts-, sozialpolitisch und haushaltspolitisch etwas dafür tun, damit die Konvergenzkriterien in Deutschland eingehalten werden können. Denn ohne Umbau unseres Sozialsystems, ohne eine radikale Privatisierung und ohne eine Ausschöpfung aller Wachstumsquellen in Deutschland durch Deregulierung und Flexibilisierung erreichen wir die Entschuldung in Deutschland nicht, machen damit die Wirtschafts- und Währungsunion aus deutscher Sicht unmöglich und verhindern damit die europäische Wirtschafts- und Währungsunion.
({2})
Herrn Stoiber frage ich erneut: Macht es wirklich Sinn, zwei Tage nach der Entscheidung für die Zentralbank in Frankfurt den jederzeitigen Austritt aus der Wirtschafts- und Währungsunion zumindest offenzulassen?
({3})
Es macht wirklich keinen Sinn. Denn man muß sich vorstellen: Die Europäische Zentralbank baut sich in Frankfurt auf, und anschließend entscheiden deutsche Politiker, daß sich die deutsche Währung wieder zurückzieht.
({4})
Für mich ist das unsinnig.
Herr Stoiber, ich will Ihnen, auch in bezug auf das, was Sie zu Herrn Kinkel gesagt haben, in allem Ernst sagen: So einfach kommen Sie nicht aus dem Deutschen Bundestag weg. Sie täuschen sich, Sie waren isoliert. Es gab, von wenigen Kollegen in der CSU abgesehen, kaum Kollegen ({5})
die sich seriös mit Außen- und Wirtschaftspolitik beschäftigen, die Ihren Thesen hier im deutschen Parlament zustimmen.
({6})
Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis. Die „Süddeutsche" Zeitung ist für mich eine seriöse Zeitung. Ich berufe mich auf die „Süddeutsche Zeitung": Es ist ein Fehler, zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Maastrichter Vertrages bei unseren europäischen Partnern die Zweifel zu nähren, daß wir jetzt nach der Wiedervereinigung eine weitere Integration nicht mehr wollen. Das ist ein schwerer außenpolitischer Schaden, der entstanden ist.
({7})
Er steht leider in einer gewissen Tradition mit dem unsäglichen Gerede vom Esperanto-Geld, das leider auch von Herrn Gauweiler immer wieder angeführt wird. Wir können so in Europa kein guter Partner sein. Wir schaden uns damit außen- und wirtschaftspolitisch.
({8})
Meine Damen und Herren, in Wirklichkeit - und damit möchte ich auch abschließen - bleibt es im Bundestag dabei: Wir, die F.D.P., die CDU und einzelne wichtige Vertreter auch der CSU, vor allem Herr Waigel, bleiben auf europapolitischem Kurs. Es wäre eine absolute Katastrophe, wenn diese Art von DisDr. Helmut Haussmann
kussion weitergehen würde, wenn wir nach der Wiedervereinigung zu einem außenpolitischen Kurswechsel kommen würden.
({9})
Wir würden uns außenpolitisch abmelden. Europa ist meines Erachtens zu wichtig, um mit diesem Thema den bayerischen Wahlkampf zu beginnen.
({10})
Herr Kollege Faltlhauser, ich würde Ihnen sehr raten, das nicht weiter zu kommentieren. Ich muß den Redner zumindest den Satz vollenden lassen, bevor ich ihn frage, ob er eine Zwischenfrage zuläßt. Wenn er die Gelegenheit nutzt, gleich ganz aufzuhören, ist das seine Sache.
Ich erteile als nächstem dem Kollegen Dr. Rudolf Krause das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Europawahl 1994 wird zu einer Volksabstimmung über Maastricht. Drei schwere Folgen auch der Europapolitik lasten auf unserem Land: Massenarbeitslosigkeit, Kriminalitätsexplosion und eine galoppierende Staatsverschuldung auf über die Hälfte der Spareinlagen der gesamten Bevölkerung.
({0})
Massenarbeitslosigkeit kann durch Freihandel nicht beseitigt werden. Was will man mit sechs Millionen Arbeitslosen machen? Will man sie zu Freihändlern umerziehen? Soll der deutsche Bäcker ein europäischer Backwarenverkäufer werden, wie das schon in Ulm der Fall ist, wo das Brot und die Brötchen in Ungarn gebacken werden?
({1})
Soll das die Zukunft Deutschlands sein? Auch deutsche Europapolitik muß sich an den Interessen Deutschlands orientieren und zuerst den Interessen des eigenen Volkes dienen.
Als einziger produktiver Wirtschaftszweig hat in den neuen Ländern die Landwirtschaft den Euroschock überlebt: weil hier ein europäischer Protektionismus besteht. Ich trete deshalb ganz deutlich dafür ein, uns in all den Bereichen und für die Zeiträume, wo das notwendig ist, gegen Billigimporte zu schützen.
Frau Wieczorek-Zeul, Sie sprachen vom Schutz der Arbeitsplätze. Ich frage: Schutz vor wem? Vor der Billigkonkurrenz! Was denn sonst?
({2})
Mit gnadenlosem Handelsboykott wurde 1991 die einheimische Produktion in den neuen Ländern vom Binnenmarkt verdrängt, und ganze Wirtschaftszweige in Mitteldeutschland wurden vernichtet. Es kommt zu einer Arbeitsverlagerung ins Ausland, in Billiglohnländer, oder zur Automation. Beides vernichtet unsere Arbeitsplätze.
1989 haben wir in Leipzig gerufen: Wir sind ein Volk! Und: Deutschland, einig Vaterland! Etwas anderes haben wir nicht gerufen. Von Europa war da keine Rede. Es gab auch noch keine Angst vor Europa und keine Angst vor der Arbeitslosigkeit. Viereinhalb Millionen Menschen haben in den neuen Bundesländern ihre Arbeit verloren. Herr Ministerpräsident Stoiber sagte wörtlich, daß in den Herzen der Menschen diese Europapolitik keine Mehrheit hat. Er fuhr fort: Wenn es in Deutschland ein Referendum zu Maastricht geben würde, würden die deutschen Europapolitiker ihr blaues Wunder erleben. - Dieses blaue Wunder wird zur Europawahl eintreten.
Ja, ich trete zur Europawahl an, aber mit aufrechtem Gang. Ich bin mir auch sicher, das deutsche Volk wird entscheiden. Viele Millionen werden sich gegen die europäische Freihandelspolitik aussprechen. Wir brauchen Soziale Marktwirtschaft nach innen. Aber wir brauchen auch einen gezielten Außenschutz für die Branchen und für die Regionen, die auf absehbare Zeit gegen Billigkonkurrenz nicht mehr werden konkurrieren können.
({3})
Lassen Sie mich zum Schluß kommen.
({4})
Wer Europa für wichtiger hält als Massenarbeitslosigkeit, Kriminalitätsexplosion und galoppierende Staatsverschuldung, der soll das dem deutschen Volk auch sagen; jedenfalls war in der Rede des Bundeskanzlers von diesen Problemen gar nichts zu hören.
Herr Kinkel sagte, Europa habe die neuen Länder voll integriert. 4,5 Millionen Menschen haben ihre Arbeit verloren. Ich sage nur: Das ist eine wunderschöne Integration! Ich bedanke mich sehr für die Wahlkampfhilfe, denn gerade die F.D.P. hat in Sachsen-Anhalt am meisten Wählerstimmen zu verlieren. Die Europawahl wird als Stimmungsbarometer zeigen, wie es in Deutschland um Europa und um die Arbeitsplätze in Deutschland bestellt ist.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat der Kollege Ortwin Lowack.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Flucht nach Europa wird um so nebulöser, je weniger die politischen Spitzen in den Mitgliedsländern wirklich ein geistiges Potential überbringen, denn sonst könnten wir die Grausamkeiten und das, was heute in einem Teil Europas passiert, nicht einfach so hinnehmen. Die
Politik der Bundesregierung - ich bin von der Regierungserklärung sehr enttäuscht; das sage ich ganz offen - beginnt, eine Politik der Irrtümer und der Verschiebung von Kompetenzen zu werden, ohne Perspektive für die Lösung der wirklichen Probleme, vor denen wir in Deutschland stehen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die ständige Unterwürfigkeit und auch der Dank an Europa müssen als zweite Komponente doch auch den Hinweis enthalten, daß es die Deutschen waren, die mit einer ungeheuren Energie und Leistung diese Europäische Gemeinschaft überhaupt erst ermöglicht haben, und daß wir uns natürlich auf unsere Interessen besinnen müssen, wenn es um die Weiterentwicklung Europas geht.
Auch bei der deutschen Einheit war es weit weniger eine Frage, ob und wann ihr die Nachbarstaaten zustimmen würden, denn die waren völkerrechtlich noch aus der Adenauer-Zeit verpflichtet: durch den Deutschland-Vertrag, durch die NATO-Doktrin, durch das Zusatzprotokoll zu den Römischen Verträgen und vieles mehr. Die deutsche Einheit war Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen und das Ergebnis des Mutes der Menschen, die auf die Straße gegangen sind und die deutsche Einheit mit dieser Haltung erkämpft haben, und sie war ein Ergebnis des Zusammenbruchs des kommunistischen Systems in Osteuropa, trotz Unterstützung durch zahlreiche westliche Regierungen, auch der Bundesregierung.
Gorbatschow war viel bescheidener als der Bundeskanzler, als er gesagt hat, er habe die deutsche Einheit nur nicht behindert, während sich der Bundeskanzler in Berlin hingestellt und behauptet hat, er habe erreicht, daß beispielsweise die Frage eines Beitritts Gesamtdeutschlands zur NATO geklärt werde. Der Bundeskanzler wußte von der Kommission aus der Verteidigungsarbeitsgruppe, bevor er nach Moskau gegangen ist, daß die Zustimmung bereits seit zehn Tagen vorlag. Das ist die Wahrheit; auch das muß hier einmal gesagt werden. Nur war er derjenige, der es fertiggebracht hat, aus 4 Milliarden DM sowjetischer Forderungen 84,4 Milliarden DM zu machen, die unsere Haushalte heute belasten.
Es ist vom Ansatz her falsch, zu sagen, es ginge darum, zu verhindern, daß Deutschland ein unverdaubarer Klotz in Europa würde. Wir haben eine solche Politik nicht nötig. Ich möchte dem Bundeskanzler bei einer Regierungserklärung nicht mehr in dieser Form zuhören müssen.
({0})
Viel wichtiger für uns wäre doch, daß wir die Europäische Gemeinschaft endlich auch auf Ihre Ausgabenmentalität hin auf den Prüfstand bringen. Es ist doch ein Witz, wenn der Bundesaußenminister heute erklärt, wir sollten stolz auf die 27,6 Milliarden DM Strukturmittel aus dem europäischen Topf sein, denn wir erkaufen das damit, daß wir gleichzeitig 93,3 Milliarden DM in den Topf einbezahlen müssen. So kann es in und mit Europa nicht weitergehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Bundesverfassungsgericht hat den Deutschen Bundestag in eine wichtige Kontrollfunktion für die Verträge von Maastricht gebracht.
({1})
Es wird ausdrücklich gesagt: Eine weitere Hoheitsübertragung auf die Europäische Union muß unter dem Gesichtspunkt überprüft werden, daß der Verlust von Kompetenzen des Deutschen Bundestages das Recht jedes wahlberechtigten Bürgers in Deutschland aus Art. 38 des Grundgesetzes verletzen kann. Es hat festgestellt, daß das Volk über die Mitgliedschaft in der zwischenstaatlichen Gemeinschaft, ihren Fortbestand und ihre Entwicklung bestimmen können muß. Es hat festgestellt, daß die Geltung und Anwendung von Europarecht in Deutschland von dem Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes abhängt und daß der Unionsvertrag keine Union, sondern einen Staatenverbund begründet, daß Deutschland einer der Herren des Vertrages bleiben muß und daß die Zugehörigkeit zur Europäischen Union durch einen gegenläufigen Akt wieder aufgehoben werden kann, und vor allem - das bitte ich hier im Haus zu berücksichtigen -, daß sich die Gemeinschaftsgewalt nur von den Mitgliedsstaaten ableitet und daß der Deutsche Bundestag Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht erhalten muß.
Und noch etwas: Die sogenannte Kompetenzkompetenz besteht nicht. Das heißt, die Europäische Gemeinschaft darf von sich aus nicht entscheiden, welche Mittel sie für die Durchsetzung ihrer Ziele zu benötigen glaubt.
Gerade auch bei der Frage des Sitzes des Europäischen Währungsinstituts in Frankfurt, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, werden wir darauf achten müssen, daß das keine Alibientscheidung ist, damit die Deutschen beruhigt sind und sagen: Der Sitz ist Frankfurt, und jetzt kann nichts passieren. Hier hat der Deutsche Bundestag eine ganz wichtige Aufgabe.
Ich möchte Edmund Stoiber nur fragen - ich stimme ihm ja in vielem, in fast allem zu -: Warum hat dann sein Parteivorsitzender und Bundesfinanzminister seine Unterschrift unter den Vertrag von Maastricht gesetzt?
Herr Kollege Lowack!
Warum hat die Landesgruppe einstimmig zugestimmt?
Ich komme zum letzten Satz, Herr Präsident.
Die Äußerungen des Bundeskanzlers heute in der Debatte lassen allerdings vermuten, daß er die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes nicht kennt. Um so mehr bleibt dieses Parlament aufgefordert, seiner Aufgabe als Kontrollorgan gerecht zu werden und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes voll zu respektieren, die deutschen Interessen wirklich zu vertreten, zu verhindern, daß die ungeheuren Probleme, vor denen wir stehen,
Herr Kollege Lowack!
- auf ein schemenhaftes, nebulöses Europa verschoben und damit letztlich nur verschärft werden.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Ulrich Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Situation ist, glaube ich, noch schwieriger, als es in dieser Debatte - zumindest stellenweise - zum Ausdruck gekommen ist. Der Europäische Einigungsprozeß ist ernsthaft in Gefahr. Er ist in Gefahr vor allem durch neonationalistische Strömungen in Deutschland. Er ist in Gefahr durch einen systematischen Prozeß der Renationalisierung weiter Bereiche der deutschen Politik und insbesondere der konservativen Mitte in Deutschland.
Die ersten Regungen jener neuen alten deutschnationalen Politik stellen in Frage, was vier Jahrzehnte doch geradezu gelebtes politisches Selbstverständnis zumindest in Westdeutschland war, nämlich daß wir eines Tages in der Zukunft Europäer und nichts sonst in einem einigen, friedlichen und demokratischen Europa sein würden. Das hieß und das heißt Aufgehen Deutschlands in einem Bundesstaat Europa, Aufgabe der nationalen Identität als Deutsche zugunsten einer neuen, anderen, eben europäischen Identität.
Genau das jedoch - und darin liegt das besonders Problematische auch in den Außerungen des bayerischen Ministerpräsidenten, der insofern ja den Schulterschluß zu den Rechtsradikalen des Herrn Schönhuber vollzieht -, genau dieses selbstverständliche Politikelement der westdeutschen Nachkriegsgeschichte wird jetzt im Jahre vier des wiedervereinigten und wieder großen Deutschlands - das zu allem Überfluß auch noch eine völlig überzogene militärische Präsenz aufrechterhält - in Frage gestellt.
Dabei muß genau dieses Deutschland wegen seiner uneuropäischen, zum Teil politisch barbarischen Traditionen europäisch eingebunden werden. Es muß wegen der Verbrechen in der deutschen Geschichte, die in diesen Tagen in Form von Rassismus, Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit, pogromähnlichen Ausschreitungen gegen Unschuldige einen Nachhall finden, geradezu politisch gefesselt und geknebelt werden. Auch das war ja ein wichtiger und nach wie vor gültiger Grund für den europäischen Einigungsprozeß.
Es sollte und es darf auch nie wieder deutsche nationale Alleingänge geben. Es darf auch nie wieder, auch nicht in Anklängen, jenes brutale, autoritäre, aggressive Deutschland des dutzendjährigen Reiches geben. Und es darf auch keine partielle Entwicklung in diese Richtung geben.
Wäre Maastricht gescheitert - an Karlsruhe oder an einem französischen Votum beim Referendum oder woran auch immer -, in diesem Lande wäre der Teufel los. Wir wären auf dem Wege zurück in die Restauration deutschnationaler Machtpolitik ganz unseligen Angedenkens.
Und vergessen wir nicht: Problematischer noch als die bewußt in Szene gesetzten neonationalen Bewegungen - Herr Stoiber hat heute meines Erachtens dafür ein vielleicht sogar epochemachendes Beispiel gegeben - in den politischen Institutionen, in den Parteien, in den Parlamenten, in der intellektuellen Diskussion sind die diffusen und in ihren Auswirkungen überhaupt nicht recht absehbaren und abschätzbaren Veränderungen im Bewußtsein der Bevölkerung oder zumindest großer Teile der Bevölkerung.
Problematisch und geradezu angstmachend ist insbesondere der gesellschaftliche Prozeß der Renationalisierung. Ich sage das ganz bewußt als jemand, dessen Familie seit 15 Jahren in den Niederlanden lebt, der im Begriff ist, sich in bestimmten Zusammenhängen mit sehr viel Vergnügen wieder etwas nach Paris zu orientieren.
Was soll denn aus all diesen Lebensbedingungen werden, wenn es hier in diesem Land so weitergeht, wie es sich jetzt gerade in den Worten von Herrn Stoiber andeutete? Wer jetzt am Stammtisch, in Kneipenhinterzimmern oder auch im Parlament - wie heute hier geschehen - rechten nationalen Wind sät,
({0})
wird vermutlich in einigen Jahren den Sturm von Gewalt bis hin zu Pogromen ernten. - Ja, Herr Faltlhauser, das riskieren Sie. - Daran sei bewußt - wenige Tage nach dem 9. November und auch nach Rostock, Mölln, Solingen, Oberhof usw. - noch einmal erinnert.
Auch deshalb: Hände weg von Europa! Hände weg vom europäischen Einigungsprozeß, hin zu einem europäischen Bundesstaat! Es darf keine Renaissance deutschnationalen Machtstrebens und deutschnationaler Machtpolitik geben, nicht jetzt und auch nicht in der Zukunft. Europa muß nicht langsamer, sondern schneller ein Bundesstaat werden. Ich glaube, das ist eine der ganz entscheidenden Aufgaben der unmittelbaren und auch der weiteren politischen Entwicklung in diesem Land.
Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Peter Kittelmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie nicht anders zu erwarten, wurde heute in der Debatte zum Teil eine Diskussion geführt, bei der man nicht immer fair war. Ich finde, Herr Glotz, Sie waren in einigen Ausführungen Ihres Beitrags eher antieuropäisch, weil Sie noch dort geteilt haben, wo man hätte zusammenfügen können.
Helmut Haussmann ist schon weg, so sage ich für das Protokoll: Auch seine Form der Diskussion ging über das hinaus, was man in sachlichen Auseinandersetzungen mit anderen Meinungen hätte darstellen können.
({0})
- Es geht nicht um Provokation, sondern ich sage meine Meinung.
Der Sondergipfel hat die Themen angepackt, die den Bürger am meisten berühren und die bereits im Vorfeld dieses Gipfels von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion als vordringlich bezeichnet wurden: gemeinsames Handeln in der Außen- und Sicherheitspolitik, gemeinsame Bekämpfung des internationalen Verbrechens und eine engere Koordinierung der Wirtschafts- und Währungsunion zur Sicherung der Arbeitsplätze.
Der Bundeskanzler und die Bundesregierung haben den herzlichen Dank des ganzen Hauses für den Erfolg auf diesem Brüsseler Gipfel verdient.
({1})
Weil dies in den letzten Minuten ab und zu in Zweifel gezogen wurde, darf ich nochmals sagen: Die CDU und die CSU unterstützen geschlossen inhaltlich die Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl.
({2})
Europa hat nach langer Zeit des Zögerns und der Unsicherheit darüber, wie es mit dem Einigungsprozeß weitergeht, wieder Anlaß zur Freude und Zuversicht. Und, meine Damen und Herren, diese Freude und Zuversicht müssen sich doch von diesem Podium aus in den Saal und bis zu den Bürgern ausbreiten.
Wenn ich höre, wie wir hier miteinander Konflikte herbeireden, die der Bürger nicht begreifen kann, wie wir teilweise populistisch miteinander streiten - auch in Versammlungen -, statt die Schwierigkeiten des Einigungsprozesses darzustellen und dem Bürger im einzelnen klarzumachen, daß es zu seinem eigenen Vorteil ist, was wir für Europa tun - teilweise erleben wir das Gegenteil! -, ermuntere ich Sie quer durch alle Fraktionen, etwas positiver, selbstbewußter und schlüssiger mit den Bürgern zu diskutieren, als es häufig der Fall ist.
({3})
Ich weiß, daß ich bei jeder Versammlung Beifall bekomme, wenn ich diese oder jene EG-Verordnung angreife. Ich weiß aber auch, daß ich mit Nachdenklichkeit über all das, was wir in Europa geschaffen haben und was wir noch vor uns haben, die Zustimmung vieler Bürger finde. Und dies ist unsere Aufgabe als Parlamentarier, nachdem wir den Maastrichter Vertrag ratifiziert haben.
Der Vertrag von Maastricht ist erst seit dem 1. November 1993 in Kraft. Der Sondergipfel der Staats-und Regierungschefs hat die Weichen dafür gestellt, daß der Vertrag nun zügig umgesetzt werden kann.
({4})
Das Gipfeltreffen war insofern nicht nur ein Erfolg für die Entschluß- und Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft, sondern ein echter Durchbruch. Der Sondergipfel hat aber auch deutlich gemacht, daß mit dem Maastrichter Vertrag etwas Neues im Entstehen ist.
Der Abgeordnete Waigel hat zu Recht die Wirtschafts- und Währungsunion, deren zweite Stufe nun termingerecht am 1. Januar beginnt - das ist ein Stück Vertiefung -, als einen Schlüsselfaktor für die wirtschaftliche Stabilität und den Wohlstand dargestellt. Es war ein großer Erfolg für Deutschland und das persönliche Verdienst des Bundeskanzlers und auch des Bundesfinanzministers, daß es gelungen ist, die Europäische Zentralbank nach Frankfurt zu holen.
({5})
Wir können uns gar nicht genug darüber freuen, daß das gelungen ist. Lesen wir doch einmal die Kommentare vor Brüssel. Hier stimme ich ausdrücklich dem bayerischen Ministerpräsidenten zu, der gesagt hat:
Wenn es dem Bundeskanzler gelingt, die Europäische Zentralbank nach Frankfurt zu holen, ist dies ein neuer Schub für Europa.
Und es ist gelungen!
({6})
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion erwartet nun, daß bereits ab 1. Januar die Sitzungen der Notenbankpräsidenten nicht mehr in Basel oder anderswo, sondern in Frankfurt stattfinden. Das Europäische Währungsinstitut als Vorläufer der Zentralbank wird also keine „Briefkastenfirma" sein.
Meine Damen und Herren, erst mit der Einbindung in eine politische Union mit Zuständigkeiten auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheits- wie der Innen-und Justizpolitik ist ein Rückfall in das jahrhundertelange nationalstaatliche Gegeneinander in Europa ausgeschlossen. Der Vorbildcharakter einer handlungsfähigen politischen Union ist der wichtigste Beitrag, den die Gemeinschaft leisten kann, um den Unwägbarkeiten und Konfliktpotentialen in Ost- und Südosteuropa entgegenzuwirken.
Wir alle erfreuen uns auch der Beschlüsse von Brüssel, die im Rahmen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik jetzt gemeinsame Aktionen ermöglichen, z. B. zu Rußland, Südafrika und dem Nahen Osten. Dies geht in die richtige Richtung. Dazu gehört auch die deutsch-französische Initiative zur Lösung des Bosnienkonflikts, die einen ersten Schritt aus der Sackgasse der festgefahrenen Friedensverhandlungen bedeuten kann. Nur - auch das muß dem Bürger klargemacht werden -, diese Initiativen sind erst seit dem 1. November möglich. Denn jetzt gibt es durch den Maastrichter Vertrag die Möglichkeit, gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik zu machen. Vorher war das nicht möglich. Aber viele Diskussionen hier finden so statt, als ob das auch schon vorher möglich gewesen sei. Das heißt, wir sind dabei, den Bürgern Sand in die Augen zu streuen, statt uns der Erfolge zu erfreuen und ihnen diese Erfolge zu vermitteln.
({7})
Eine weitere wegweisende Entscheidung des Sondergipfels betrifft die von uns allen angestrebte Erweiterung der Gemeinschaft, die bis zum 1. Januar 1995 zunächst um die EFTA-Staaten Österreich, Norwegen, Schweden und Finnland stattfinden soll. Das ist ein ehrgeiziges Ziel. Aber wir wissen aus zahlreichen Gesprächen, daß diese Länder es wollen. Sie wollen in die Europäische Gemeinschaft, obwohl sie hier angeblich ein Jammertal erwartet. Warum wollen diese Staaten, die zum Teil wirtschaftlich gesund sind, in die Europäische Gemeinschaft? Um sich zu schaden
oder um sich zu nutzen? Auch dies kann den Bürgern in Diskussionen klargemacht werden. Sie werden bemerken, daß die Bürger Ihnen dann nachdenklich zustimmen.
Wir müssen vor allem deutlich machen, daß der Einfluß neuer - insbesondere kleiner - Mitgliedstaaten in der Europäischen Union nicht verschwinden darf, sondern effektiver zur Geltung kommen muß als bisher.
Demokratie, Bürgernähe und Subsidiarität sind tragende Elemente der Europäischen Union. Sie gewährleisten, daß die Identität und die Gestaltungsmöglichkeiten jedes einzelnen Mitgliedstaates grundsätzlich nicht beeinträchtigt werden. Auch hier wird teilweise gegen die Wand diskutiert, so, als sei dies nicht möglich. Niemand nimmt mir als Berliner - weil hier viel von Bayern geredet worden ist - meine Identität oder meine Identität als Deutscher. Niemand verhindert, daß ich als Deutscher in Europa etwas tun kann. Auch das ist doch eine Verdrehung der Tatsachen. Gerade Deutschland mit seinem ausgeprägten und einzigartigen Föderalismus versteht sich als Hüter der Subsidiarität in der Gemeinschaft. Das wird von uns begrüßt, das wird von uns unterstützt. Dabei wird der Ausschuß der Regionen eine wichtige Rolle spielen.
({8})
Meine Damen und Herren, eines ist uns allen aber auch klar: Die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft ist kein Instrument zur Verlangsamung oder zur Verhinderung der Weiterentwicklung der Europäischen Union.
({9})
Dies ist die Politik der CDU, der CSU und, wie ich weiß, der Koalition insgesamt. Ohne eine fortschreitende Vertiefung der Gemeinschaft sowohl in ihren Institutionen wie auch in ihren Handlungsbereichen ist die Erweiterung eine leere Form und wird nicht lange Bestand haben. Stillstand bedeutet nicht Rückschritt, er wäre langfristig wahrscheinlich das Ende der Gemeinschaft.
Diejenigen, die eine Verlangsamung der Integration oder eine bloße Freihandelszone fordern, unterliegen einem Geschichtsirrtum, der sich bitter rächen würde, sollte sich diese Auffassung durchsetzen. Die Erweiterung der Europäischen Union darf und soll sich nicht auf die EFTA-Staaten beschränken. Die Europäische Union muß das ganze Europa im Blick haben. Dies gilt besonders für die notwendige schrittweise Einbindung der Reformdemokratien in den mittel- und osteuropäischen Staaten.
({10})
Meine Damen und Herren, der enge Zusammenhang zwischen Außenwirtschaftspolitik, Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und den Zielen einer politischen Schicksalsgemeinschaft wie der Europäischen Union wird leider immer noch unterschätzt. Dies gilt z. B. für den Export von Dual-use-Produkten ebenso wie für den Abschluß der GATT-Runde. Der freie Austausch von Waren - was haben wir dazu vorhin eigentlich für einen Blödsinn gehört - ist ein Fundament unseres Friedens und unseres Wohlstands. Das sollten zumindest die Mitgliedstaaten der Europäischen Union aus der Erfolgsgeschichte der wirtschaftlichen Integration gelernt haben.
Nach Maastricht hat die Begleitung der Arbeit der Bundesregierung durch den Bundestag eine neue Qualität erhalten. Sie wird mit dazu beitragen, durch kritische Diskussion die Transparenz und die Akzeptanz europapolitischer Entscheidungen in der Öffentlichkeit zu verstärken. Der Bundestag wird sich künftig gemäß seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung in besonderer Weise an der Umsetzung des Vertrags von Maastricht und der Weiterentwicklung der Europäischen Union beteiligen. Wir brauchen: einen besseren Informationsstand über die Europäische Union, um sie dem Bürger zu vermitteln; ein stärkeres Bewußtsein über die Vorteile der Europäischen Union bei jedem Bürger; eine wachsende Erkenntnis, daß nur Europa die Forderungen der Bürger nach stabiler Währung, Sicherheit der Arbeitsplätze und Schutz vor internationaler Kriminalität auf Dauer wirksam erfüllen kann; ein stärkeres Handeln der Wirtschaft und des vorpolitischen Raums bei der Umsetzung der Vorteile Europas, weil die Politik allein bei der öffentlich wirksamen Vermittlung eines positiven Europabewußtseins überfordert ist.
Herr Kollege Kittelmann, kommen Sie bitte zum Schluß.
Der letzte Satz. - Meine Damen und Herren, die CDU/CSU wird in den nächsten Wochen und Monaten die Aufgabe der Vermittlung eines stärkeren positiven Europabewußtseins mit zu ihrer Hauptaufgabe erklären. Ich bin sicher, wir werden hier im Hause dabei sehr viel Unterstützung erfahren.
Schönen Dank.
({0})
Herr Kollege Dieter Schloten, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege Kittelmann, Sie haben mit einer Schelte begonnen. Wenn hier einer zu schelten ist, dann ist es der bayerische Ministerpräsident,
({0})
der mit seiner überlangen Rede nicht nur bewirkt hat, daß so viele Europäer an dieser Diskussion gar nicht mehr teilnehmen können, sondern jetzt nicht einmal bereit ist, selber bis zum Schluß teilzunehmen. Das halte ich für ausgesprochen unfair.
({1})
- Ich habe dem nichts hinzuzufügen.
1948 erschien ein Buch mit dem Titel „Weltgeschichte Europas". Geschrieben hat es der konserva16310
tive Historiker und Geschichtsphilosoph Hans Freyer, und zwar in den Jahren 1939 bis 1945. Das Buch schließt mit den Worten:
So zersplittert Europa zumeist war, so zerteilt es heute ist, seine Einheit ist über alle politischen Grenzen, über alle binneneuropäischen Kulturscheiden hinweg in einer mehrtausendjährigen Geschichte begründet. Alte Wahrzeichen, die die europäischen Völker verbinden, gibt es genug. Für die Zukunft wird die Frage sein, ob es in Europa Kräfte gibt, die neue Wahrzeichen dieser Art schaffen können, weil sie im Mark unversehrt geblieben sind ... Solche Kräfte ... verbürgen die Zukunft.
Ich habe hier heute andere Kräfte gehört. Ich hoffe, daß die in der Minderheit bleiben werden, wie Kollege Haussmann das vorhin gesagt hat.
({2})
Heute, 45 Jahre nach der Veröffentlichung dieses Buches, spricht der ebenfalls konservative bayerische Ministerpräsident- der, als er noch Generalsekretär seiner Partei war, gern die Wahrzeichen der Geschichte bemüht hat; manchmal allerdings nur, um dem politischen Gegner eins auszuwischen - von der Möglichkeit eines Austritts aus dem europäischen Staatenbund. Er nennt Europa eine Kopfgeburt.
In der Tat: Die westeuropäische Gemeinschaft ist u. a. in den Köpfen von Winston Churchill, Robert Schuman, Konrad Adenauer und Willy Brandt geboren worden. Sie und ihre Nachfolger, zu denen auch Helmut Kohl gehört, haben die Europäische Gemeinschaft mit Herz und Verstand aufgebaut.
({3})
Der bayerische Ministerpräsident dagegen hat - mit Verlaub gesagt - dieses mit viel Mühe errichtete Haus mit der heftigen Bewegung eines von Herz und Verstand relativ weit entfernten Körperteils zu zerstören versucht. Er hat dies soeben „Realitäten" genannt.
Zum Glück hören wir seit dem 3. November in den Medien - so wie heute im Deutschen Bundestag - die zahlreichen Stimmen der deutschen Europäer, die versuchen, die Scherben aufzusammeln und zu kitten, die Herr Stoiber angerichtet hat. Europa ist ein zu kostbares Gut, um es auf dem Altar des bayerischen Wahlkampfs gefräßigen Nationalisten zu opfern.
({4})
Gestatten Sie mir an dieser Stelle, Max Horkheimer zum Thema Nationalismus zu zitieren. Er nennt ihn den „Ausdruck des Gemeinschaftsbewußtseins der einzelnen, denen das Selbstbewußtsein verlorengegangen ist".
Die Überwindung der Rezession, neue attraktive Arbeitsplätze, neuer Wohlstand, die äußere, innere und soziale Sicherheit hängen von der weitergehenden Integration der Europäischen Union ab, die nichts mit Zentralismus zu tun haben muß. Diese Güter sind national nicht mehr zu haben - schon gar nicht bayerisch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir Politiker die vermeintlich neu entdeckte „nationale Identität" zum Feigenblatt unserer europäischen Scham machen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn andere ihre sogenannte lokale - „Berliner" hörte ich soeben -, regionale oder nationale Identität als Vorwand gegen Europa benutzen oder mit den Begriffen „Europäischer Bundesstaat", „Europäischer Staatenbund", „Europäischer Staatenverbund" - siehe Verfassungsgericht -, „Europa der Vaterländer", „Vereinigte Staaten von Europa", „Europäische Gemeinschaft" und „Europäische Union" jonglieren und damit die Bürger verwirren, wie wir es vorhin von Herrn Stoiber gehört haben.
Nicht Begriffe, nicht Worthülsen und Leerformeln sind gefragt, wenn wir demnächst in Form eines Wahlkampfes für das Europäische Parlament werben, sondern eine praktische europäische Politik, die den in der Welt einmaligen Anker der politischen und wirtschaftlichen Stabilität für viele Nationen - an dem auch noch einige andere andocken können - sichert; eine Politik, die dem weltweit um sich greifenden Nationalismus und Partikularismus die Alternative des erfolgreichen Modells der gleichberechtigten Partnerschaft, der guten Nachbarschaft, der Solidarität, des Wohlstands und des Schutzes der Umwelt entgegensetzt.
Hans Freyer hat gesagt: "Für die Zukunft wird die Frage sein, ob es in Europa Kräfte gibt, die neue Wahrzeichen dieser Art schaffen können ... "
Lassen Sie uns gemeinsam und entschieden - wie wir es in der Maastricht-Abstimmung in diesem Hause getan haben - im kommenden Europa-Wahlkampf für dieses Modell der Zusammenarbeit, des Friedens und der Sicherheit in der Welt einstehen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/6106 an die der Tagesordnung auf geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage soll zusätzlich an den Innenausschuß zur Mitberatung überwiesen werden.
({0})
- Frau Kollegin, es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung. Wenn Sie als einzelne Kollegin davon abweichen wollen, können Sie dies äußern.
({1})
Vizepräsident Hans Klein
Also die Frage an das Haus: Wer ist für die Überweisung nach dem interfraktionellen Vorschlag? -Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 3:
Fragestunde
- Drucksache 12/6076 Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Eduard Lintner zur Verfügung.
Ich rufe Frage 24, gestellt vom Kollegen Dr. Burkhard Hirsch, auf:
Gibt es Vereinbarungen zwischen cien Ländern über eine gültige Aufnahmequote für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge, die von dem für die Verteilung von Asylbewerbern gültigen Schlüssel abweicht?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bitte um Beantwortung.
Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Hirsch, die Antwort lautet wie folgt: Die Länder haben bisher keine derartigen Vereinbarungen getroffen.
Zusatzfrage, Herr Kollege Hirsch.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, da wir ja eigentlich nur die Fragerei fortsetzen, die wir gestern begonnen haben: Dart ich Sie angesichts des wirklich desaströsen Zustandes, in dem sich die Verhandlungen offenbar befinden, fragen, auf welcher Ebene die Verhandlungen zwischen Bund und Ländern geführt werden?
Herr Dr. Hirsch, es gab vielerlei Gespräche dazu, und es ist auch auf der Ebene der politischen Leitung darüber gesprochen worden.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Meinung, daß - ich sage das noch einmal - die Umsetzung der Auffassung des gesamten Hauses über einen Sonderstatus für Bürgerkriegsflüchtlinge bisher an finanziellen Differenzen zwischen Bund und Ländern gescheitert ist? Halten Sie es nicht für zwingend erforderlich, daß die Verhandlungen auf der Ebene der Innenministerkonferenz geführt werden oder daß der Bundeskanzler sich endlich selber in diese Sache einschaltet, um dem Willen dieses Hauses den entsprechenden Erfolg zu verschaffen?
Herr Kollege Dr. Hirsch, wir sind besten Willens, wirklich alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um zu einer Vereinbarung zu kommen, weil wir natürlich die Verpflichtung fühlen, den neuen Status im Sinne des § 32a des Ausländergesetzes in die Tat umzusetzen. Wir werden kein Mittel ungenutzt lassen, auch nicht das Gespräch zwischen den Ministern, wenn dieser Einsatz Erfolg verspricht. Bisher ist es aber so, daß auch nicht ansatzweise eine Bereitschaft der Länder zu erkennen ist, sich im Zuge dieser Verhandlungen zur Kostentragungspflicht auf der Basis des § 32 a zu verstehen.
Zusatzfrage, Herr Kollege Wolfgang Lüder.
Herr Staatssekretär, wir hatten ja beidseitig seit gestern Zeit nachzudenken. Meine Partei veranstaltet am Montag eine Fraktionsvorsitzendenkonferenz. Deswegen frage ich: Welche Möglichkeiten sehen Sie, auf bestimmte Länder gezielt einzuwirken, um das vom Bund gewünschte Ergebnis zu erzielen?
Herr Kollege Lüder, die nächste beste Möglichkeit sehe ich eigentlich in der bevorstehenden Innenministerkonferenz, bei der das Thema offiziell oder am Rande erörtert werden kann, und zwar auf Ministerebene. Ob dabei allerdings ein Erfolg zu erzielen ist, wage ich nicht vorauszusehen.
Frau Kollegin Schmalz-Jacobsen.
Herr Staatssekretär, Sie haben gestern angedeutet, daß die meisten Bürgerkriegsflüchtlinge ihrer eigenen Erkenntnis nach in den beiden südlichsten Bundesländern, in Baden-Württemberg und in Bayern, sind. Haben Sie Beobachtungen darüber angestellt, wie in den Gemeinden dieser beiden Bundesländer auf diesen sehr hohen vorübergehenden Zuzug reagiert wird? Haben Sie Erkenntnisse darüber, ob in den beiden Bundesländern erkennbar mehr Asylanträge durch Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien gestellt werden?
Ich habe darüber keine auf die beiden Bundesländer bezogenen Erkenntnisse. Ich kann Ihnen nur die Gesamtzahl sagen. Beispielsweise haben seit der Anerkennung von Bosnien-Herzegowina als selbständiger Staat - erst seither werden die Asylbewerber aus diesem Bereich gesondert erfaßt -, also im Zeitraum von Juli 1992 bis Ende Oktober 1993, insgesamt 24 010 Personen aus Bosnien-Herzegowina in Deutschland um Asyl nachgesucht. Das wiederum läßt angesichts der ansonsten bekannten Asylbewerberzahlen den Rückschluß zu, daß der Anteil derjenigen, der aus dem Bereich einen Antrag stellt, so groß nicht ist.
Weitere Zusatzfragen dazu werden nicht gewünscht.
Dann rufe ich die Frage 25 auf, die ebenfalls unser Kollege Dr. Burkhard Hirsch gestellt hat:
Welche Regelung ist vorgesehen, um zu gewährleisten, daß die neuen Bundesländer hierbei nicht übermäßig belastet werden?
Ich bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, um Beantwortung.
Herr Kollege Dr. Hirsch, die Antwort lautet: Die im Wege der Kontingentaufnahme aufgenommenen Flüchtlinge sind entsprechend dem für Asylbewerber geltenden
Schlüssel verteilt worden. Die neuen Länder haben hiergegen keine Einwendungen erhoben.
Zusatzfrage, Herr Kollege Hirsch.
Herr Staatssekretär, da sich die Frage nicht nur darauf bezieht, wie viele Flüchtlinge im Rahmen eines Kontingents aufgenommen worden sind, sondern auch darauf, wie es mit den Verhandlungen über die Umsetzung des Bürgerkriegsstatus steht, darf ich Sie nun fragen, nachdem Sie sich gestern nicht in der Lage gesehen haben, diese Frage zu beantworten, welche Länder eigentlich gegen die beabsichtigte und vom Bundestag geforderte Neuregelung Widerstand leisten und ob Sie ein Entgegenkommen wenigstens der Länder finden, bei denen Innen- und Finanzminister zur Koalition gehören.
Herr Kollege Dr. Hirsch, der Widerstand ist sozusagen flächendekkend.
Herr Kollege Hirsch, bevor ich Sie zur zweiten Zusatzfrage aufrufe, würde ich mir gerne erlauben, die Teilnehmer der Konferenz am hinteren Ende des Plenarsaals zu bitten, diese außerhalb des Plenarsaals fortzusetzen oder an der Fragestunde teilzunehmen.
Bitte, Herr Kollege Hirsch, die nächste Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, da ich es nach den Regeln der Fragestunde nicht mehr schaffe, Sie um Auskunft darüber zu bitten, was Sie unter „sozusagen flächendeckend" verstehen, möchte ich Sie fragen, ob nicht die Verhandlungen dadurch vorangebracht werden können, daß Sie den neuen Bundesländern - entgegen den sonst üblichen „ Spielregeln" des Königsteiner Schlüssels einschließlich Ergänzung - Erleichterungen verschaffen, weil diese mit sozialen Aufgaben besonders belastet sind, um auf diese Weise zu erreichen, daß die erforderlichen Vereinbarungen getroffen werden können.
Herr Kollege Dr. Hirsch, Sie wissen, daß der Schlüssel unter den Ländern ausgehandelt worden ist, der Bund darauf also keinen Einfluß hat. Deshalb ist der Bund natürlich nicht in der Lage, diesen Schlüssel etwa zugunsten der neuen Bundesländer zu ändern.
({0})
- Wie Sie wissen, besteht dazu keine Bereitschaft.
Herr Kollege Lüder, wollten Sie eine Zusatzfrage stellen? - Bitte.
Herr Staatssekretär, ich habe Ihr „Flächendeckungsargument" zur Kenntnis genommen. Ich will nicht wiederholen, was ich gestern gefragt und von Ihnen als Antwort auf die Frage bekommen habe, ob wir dann das Gesetz ändern müssen.
Ich möchte Sie jetzt fragen, ob die Bundesregierung, da sie nie aufgibt, wenn sie etwas will, bereit ist, ihren Willen umzusetzen und uns zu sagen, in welcher gestuften Form wir bei welchem Bundesland argumentativ anfangen sollen, um das umzusetzen, was der Bundestag und die Bundesregierung gemeinsam wollen.
Herr Kollege Lüder, Sie sind sich darüber klar, daß Sie jetzt nur zu den neuen Bundesländern fragen?
Das reicht ja.
Herr Kollege Lüder, Sie sehen mich ratlos. Sie können sich selbstverständlich eines der Bundesländer, zu dem Sie einen besonders intensiven und engen Kontakt haben, aussuchen. Wir würden Ihre Bemühungen tatkräftigst unterstützen. Aber mit der Äußerung einer Empfehlung, bei welchem Land Sie jetzt beginnen könnten, bin ich in der Tat im Moment überfordert.
({0})
Es gehört zu den Regeln der Fragestunde, weder kommentierende Einleitungen noch Nachbemerkungen zu machen.
Bitte, Frau Kollegin Schmalz-Jacobsen.
Herr Staatssekretär, Sie haben uns gestern mitgeteilt, daß von dem Kontingent in Höhe von 7 000 Plätzen für Flüchtlinge 3 000 noch nicht besetzt sind, daß es also in diesem Kontingent insgesamt nur 4 000 Bürgerkriegsflüchtlinge in der Bundesrepublik gibt. Darum frage ich Sie: Haben Sie Erkenntnisse darüber, ob es überhaupt Bürgerkriegsflüchtlinge in den neuen Bundesländern gibt?
Im Rahmen des Kontingents sicher. Wir hatten 17 000 Bürgerkriegsflüchtlinge als unseren Kontingentanteil an einer Aktion, die innerhalb der UNO und der EG abgesprochen war, übernommen. Ich gehe, ohne es jetzt nachgeprüft zu haben, davon aus, daß dieses Kontingent gemäß dem vorhin genannten Schlüssel verteilt worden ist. Das würde bedeuten, daß Flüchtlinge selbstverständlich auch in den neuen Bundesländern untergebracht worden sind.
Weitere Zusatzfragen zu dieser Frage? - Bitte, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, ich gehe davon aus, daß die Bundesregierung ein Konzept hat, wie man der kroatischen Staat unterstützen kann, wenn die ethnischen Säuberungen weitergeführt werden und weiterhin Hunderttausende Flüchtlinge an die kroatische Küste getrieben werden. Ist dieses Konzept der Bundesregierung so abgestimmt, daß auch die neuen Bundesländer einbezogen sind?
Jetzt muß ich Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie gefragt haben, wie wir den kroatischen Staat unterstützen. Da kann ich Ihnen nur sagen, daß wir bislang HilfsliefeParl. Staatssekretär Eduard Lintner
rungen und Leistungen im Werte von etwa 500 Millionen DM zur Verfügung gestellt haben. Ein guter Teil davon ist dem kroatischen Staat zugute gekommen, weil er die Hauptlast der Flüchtlingsbewegung vor Ort zu tragen hat.
Wir verfahren aber im übrigen konsequent nach dem Grundsatz des UNHCR, der besagt, daß möglichst vor Ort geholfen werden soll und daß weniger Anreize ausgeübt werden sollen, Fluchtbewegungen in Gang zu setzen.
Herr Staatssekretär, ich habe den Eindruck, der Kollege Schmieder hat bereits eine Zusatzfrage zu seiner eigenen Frage gestellt; denn dies war keine Zusatzfrage zu dieser Frage.
({0})
- Entschuldigung, sie gehörte nicht zu dieser Frage.
({1})
- Ich irre nicht.
({2})
Ich rufe die Frage 26 auf, die der Kollege Dr. Jürgen Schmieder gestellt hat:
Wurden seit Inkrafttreten der asylrechtlichen Grundgesetzänderung am 1. Juli 1993 Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, die auf dem Landweg einreisen wollten, an der Grenze abgewiesen oder in einen Drittstaat zurückgeschickt?
Frage 26 wird wie folgt beantwortet: Seit Inkrafttreten des neuen Asylrechts am 1. Juli 1993 wurden Staatsangehörige aus dem ehemaligen Jugoslawien, die auf dem Landweg einzureisen versuchten, an der Grenze zurückgewiesen oder in das Land, aus dem sie gekommen sind, zurückgeschoben, soweit sie die Grenze bereits unerlaubt überschritten hatten.
Zusatzfrage, Herr Kollege Schmieder.
Herr Staatssekretär, können Sie die Zahlen konkret nennen und sie dabei nach Erwachsenen und Kindern aufsplitten?
Darüber sind keine Aufzeichnungen erfolgt. Ich sehe mal in die Antwort zu Ihrer nächsten Frage. - Dort sind Zahlen enthalten. Darf ich die Antwort auf die Frage 27 einbeziehen?
Ich möchte bei der Frage 26 bleiben.
Entschuldigung, Sie können nicht nach etwas fragen, was in der nächsten Frage steht, die Antwort darauf aber mit Hinweis auf die nächste Frage verweigern. So geht es nicht.
Herr Präsident, bei der nächsten Frage habe ich nach der Gesamtanzahl gefragt. Bei der Zusatzfrage zu der Frage 26 aber fragte ich eigentlich nur nach einer Aufsplittung nach Erwachsenen und Kindern.
Das wäre aus meiner Sicht wesentlich, weil ich dort mit meiner zweiten Zusatzfrage anschließen und im Detail nach den Zurückweisungsgründen fragen möchte.
Ich kann Ihnen nach den Unterlagen, die mir jetzt vorliegen, sagen, daß eine Aufschlüsselung nach Erwachsenen und Kindern nicht enthalten ist, aber in der Antwort auf Ihre nächste Frage sehr wohl Zahlenangaben hinsichtlich der jeweiligen Staatsangehörigkeit enthalten sind.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage zu dieser Frage, wenn Sie wollen. - Dann wird das der Kollege Dr. Burkhard Hirsch für Sie tun.
Herr Staatssekretär, da wir keine gemeinsame Grenze mit Jugoslawien haben und hier nach Flüchtlingen gefragt worden ist, die auf dem Landweg einreisen wollen, und es sich dementsprechend nur um Flüchtlinge handeln kann, die über Österreich in die Bundesrepublik einreisen, darf ich Sie fragen, wie Sie an der Grenze festgestellt haben, ob es sich um Bürgerkriegsflüchtlinge oder um Asylbewerber handelt.
Die Frage war, welche Flüchtlinge an der Grenze abgewiesen worden sind. Es ging nicht in Richtung Bürgerkriegsflüchtlinge nach dem neuen Status. Da kann ich Ihnen nur die Zahlen geben, die unsere Grenzorgane festgestellt haben, wenn Staatsangehörige aus diesen Ländern unter Berufung auf ihre Staatsangehörigkeit oder unter Beweis ihrer Staatsangehörigkeit um Einreise gebeten haben und nicht eingelassen worden sind. Dem widerspricht nicht, daß sie zunächst Österreich durchqueren mußten. Offenbar ist es ihnen gelungen, Österreich zu durchqueren und an die deutsche Grenze zu gelangen.
Zusatzfrage, Herr Kollege Lüder.
Herr Staatssekretär, wie und durch Dienstkräfte welchen Dienstgrades wurde die Flüchtlingseigenschaft derer, die abgewiesen wurden, festgestellt?
Da es sich, nehme ich an, weitgehend um die bayerische Grenzpolizei gehandelt haben wird, die an der deutschösterreichischen Grenze die legal Einreisenden noch kontrolliert, kann ich Ihnen die Antwort naturgemäß nicht geben. Da müssen Sie bei der Bayerischen Staatsregierung nachfragen.
({0})
- Das mag sein, aber wir verlangen keine Aufstellung
darüber, in welchem Stand des gehobenen oder
sonstigen Dienstes der jeweilige Beamte zu welcher Uhrzeit Einreisende prüft.
({1})
Frau Kollegin SchmalzJacobsen.
Herr Staatssekretär, mich hat die Antwort irritiert und verwirrt, die Sie gegeben haben, wenn es sich um illegal eingereiste Flüchtlinge handelt. Vielleicht formuliere ich es ein bißchen anders: Wie läßt sich denn feststellen, ob es ein Asylbewerber oder ein Flüchtling ist? Wie stellen das die Grenzer fest?
Ich habe eben von den legal Eingereisten oder jedenfalls von denjenigen gesprochen, die über die legalen bzw. vorgesehenen offiziellen Grenzübergänge an die deutsche Grenze gekommen sind und einreisen wollten.
Die Illegalen werden an der Grenze in der Regel nicht festgehalten, sondern erst hinterher im Inland festgestellt, wenn sie beispielsweise einen Asylantrag stellen oder ihr Aufenthalt als Tourist sich in einen dauernden Aufenthalt ändert.
So ist davon auszugehen, daß die Zahlen, die ich hier vorliegen habe, ehemalige Jugoslawen betreffen, denen die Einreise verweigert worden ist, als sie bei den offiziellen Grenzübergängen um Einreise gebeten haben.
Nun noch der Kollege Koppelin, dann keine weiteren Zusatzfragen, sonst geht die Fragestunde ins Uferlose.
Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, da wir von dem Abweisen von Flüchtlingen an der Grenze sprechen: Muß ich, wenn Sie Ihre Idee verwirklichen, Bundeswehrangehörige in BGS-Uniform auftreten zu lassen, damit rechnen, daß zukünftig Bundeswehrsoldaten diese Flüchtlinge an der Grenze abweisen?
Das ist eine rein hypothetische Frage, die ich Ihnen jetzt deshalb nicht beantworten kann, weil die Problematik des Status, der Rechtsstellung, der Uniformbekleidung, all diese Dinge überhaupt noch nicht festgelegt sind.
Es bedarf schon einer sehr großzügigen Auslegung, diese Frage noch in unmittelbaren Zusammenhang mit der schriftlich gestellten Frage zu bringen.
Ich rufe die Frage 27 auf, die der Kollege Dr. Jürgen Schneider gestellt hat:
Wenn ja, um welche Anzahl ({0}) und um Angehörige welcher der Teilrepubliken des ehemaligen Jugoslawien handelt es sich?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Die Frage 27 beantworte ich wie folgt: In der Zeit vom 1. Juli 1993 bis 31. Oktober 1993 wurden an den deutschen
Landgrenzen insgesamt 15 401 Staatsangehörigen aus dem ehemaligen Jugoslawien die Einreise verweigert. Von diesen waren 11 996 aus Rest-Jugoslawien, 1 871 aus Bosnien-Herzegowina, 1 020 aus Kroatien, 349 aus Makedonien und 165 aus Slowenien. 53 der Zurückgewiesenen, davon 52 aus Rest-Jugoslawien und einer aus Bosnien-Herzegowina, hatten bei den Grenzbehörden um Asyl nachgesucht.
Im gleichen Zeitraum wurden insgesamt 3 935 Staatsangehörige des ehemaligen Jugoslawiens nach illegalem Grenzübertritt zurückgeschoben. Nach Teilrepubliken aufgeschlüsselt waren es 3 602 aus Rest-Jugoslawien, 274 aus Bosnien-Herzegowina, 18 aus Kroatien und 41 aus Makedonien. 137 der Zurückgeschobenen hatten an der Grenze Asyl beantragt, davon 117 aus Rest-Jugoslawien, 19 aus BosnienHerzegowina und einer aus Makedonien.
Zusatzfrage, Herr Kollege Schmieder.
Herr Staatssekretär, ich möchte das gleiche Problem noch einmal ansprechen, es nach dem Alter aufsplitten und die Frage anschließen, ob Sie mir den Wunsch erfüllen können, mir schriftlich nachzureichen, wie viele Erwachsene, wie viele Kinder und Jugendliche davon betroffen waren.
Für den Fall, daß wir die Zahlen tatsächlich haben, reiche ich sie Ihnen gerne nach. Aber ich kann Ihnen im Moment die Frage nicht beantworten, ob die Zahlen wirklich erhoben werden und deshalb vorliegen.
Die zweite Zusatzfrage.
Die möchte ich nicht in Anspruch nehmen.
Dann der Kollege Lüder.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie, wofür ich dankbar bin, nach Asylbewerbern und anderen so gut differenzieren konnten, frage ich: Gibt es auch Zahlen darüber, wie viele dieser Grenzübergangssuchenden - ich glaube, das Wort ist richtig - den Anspruch, Bürgerkriegsflüchtlinge zu sein, erhoben haben?
Das geht aus meinen Unterlagen nicht hervor. Möglicherweise kannten sie diesen Status noch gar nicht und haben deshalb den Anspruch nicht erhoben; möglicherweise haben sie es getan, aber es ist nicht verzeichnet worden.
Herr Kollege Hirsch.
Herr Staatssekretär, vielleicht habe ich nicht richtig zugehört. Aber da es auch nach heute geltendem Recht für die Frage, ob jemand ein Asylrecht in Anspruch nehmen kann, nicht darauf ankommt, ob er legal oder illegal in das Bundesgebiet eingereist ist, frage ich: Habe ich Sie
richtig verstanden, daß Sie Leute, die sich auf ein Asylrecht berufen haben, zurückgeschickt haben? Und auf Grund welchen Verfahrens haben Sie das gemacht?
Herr Kollege Hirsch, da haben Sie mich falsch verstanden. Denn die Antwort ist zweigeteilt. Im ersten Teil wird einfach darauf hingewiesen, wie vielen die Einreise verweigert worden ist. Da ist keine Angabe enthalten, daß Leute, denen die Einreise an der Grenze verweigert worden ist, dort das Asylrecht beantragt gehabt hätten.
Im zweiten Teil wird gesagt, wie viele zurückgeschickt worden sind. Die Zahlen beziehen sich aber nicht auf Vorgänge an der Grenze, sondern auf Abschiebevorgänge, die insgesamt angefallen sind.
Jetzt rufe ich die Frage 28 des Kollegen Heinz-Dieter Hackel auf:
Welche Möglichkeiten einer Familienzusammenführung bestehen für Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, deren Angehörige getrennt geflohen oder auf der Flucht getrennt worden sind?
Herr Kollege Hackel, die Antwort lautet: Im Hinblick darauf, daß den in der Bundesrepublik Deutschland bisher aufgenommenen Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen der Aufenthalt im Bundesgebiet nicht auf Dauer erlaubt werden soll, der Aufenthalt vielmehr von vornherein bis zum Wegfall des Zwecks der Schutzgewährung befristet ist, ist ein Familiennachzug für diesen Personenkreis nicht vorgesehen.
Eine Ausnahme besteht nur bei den bosnischen Flüchtlingen, die im Rahmen der zwischen Bund und Ländern im November/Dezember 1992 vereinbarten Kontingente für 1 000 bzw. 6 000 Personen aufgenommen worden sind.
Zusatzfrage, Herr Hakkel.
Herr Staatssekretär, finden Sie diese Lösung gut, und wo und wie sind die Flüchtlinge untergebracht?
Herr Kollege, ich finde die Lösung zunächst einmal sachgerecht; sonst hätten wir sie nicht so getroffen. Im übrigen ist die Unterbringung Sache der Länder. Ich bin jetzt überfragt. Wenn Sie die Antwort erwarten sollten, welcher Teil wo untergebracht ist oder wer speziell wo untergebracht ist, dann kann ich nur sagen: Diese Flüchtlinge werden gemäß dem zwischen den Ländern ausgehandelten Kontingent verteilt.
Herr Kollege Hackel, haben Sie eine zweite Zusatzfrage?
Nein.
Bitte, Herr Kollege Hirsch.
Herr Staatssekretär, die Frage des Kollegen Hackel bezieht sich doch nicht auf Menschen, bei denen ein Familienangehöriger geflohen und der andere in dem früheren Jugoslawien geblieben ist, sondern sie bezieht sich auf Menschen, die entweder getrennt geflohen oder die auf der Flucht getrennt worden sind, wo beide also ihr Heimatland als Bürgerkriegsflüchtlinge verlassen mußten. Halten Sie es wirklich für sachgerecht, daß wir diesen Flüchtlingen keine Möglichkeit einräumen, als Familie wieder zusammenzukommen?
Herr Kollege Dr. Hirsch, Sie haben eine Fallgestaltung gewählt, die nicht dem der Frage zu Grunde liegenden Fall entspricht. Hier geht es darum, ob Flüchtlinge, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, Familienangehörige nachholen können und ob darauf möglicherweise ein Anspruch besteht.
Der Anspruch besteht nicht, weil wir meinen - und das halten wir für sachgerecht -, daß nur ein vorübergehender Aufenthalt bis zum Wegfall der Fluchtgründe vorgesehen ist und deshalb ein Familiennachzug nicht in Betracht kommt.
Wenn jemand als Flüchtling kommt, dann wird er hier selbstverständlich als Flüchtling aufgenommen, aber nicht, weil er beispielsweise ein Familienangehöriger des hier bereits vorhandenen Flüchtlings ist oder gemeinsam mit einem Familienangehörigen, der auch Flüchtling ist, Einlaß in unser Land begehrt.
Herr Kollege Hirsch, ich habe Ihre Reaktion gesehen. Aber ich habe noch einmal sorgfältig gelesen. Hier steht:
... bestehen für Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, deren Angehörige getrennt geflohen oder auf der Flucht getrennt worden sind?
Das heißt, daß es sich um Flüchtlinge handelt, die getrennt fliehen mußten.
({0})
Entschuldigung, das steht da eben nicht.
Ich habe beide Varianten beantwortet.
Hier steht: „deren Angehörige getrennt geflohen sind"; nicht: die selber von ihren Angehörigen getrennt wurden. Das steht jedenfalls so nicht in der Frage.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., Sie sind sich darüber im klaren, daß Sie mit diesem Fragenkomplex die gesamte Fragestunde zu okkupieren versuchen.
({0})
- Das stimmt schon, Herr Koppelin. Ich bestreite das
nicht. Nur, ich versuche, dies, auch wenn es die SPD so
Vizepräsident Hans Klein
macht, an irgendeiner Stelle zu beschränken, damit wir noch zu anderen Fragen kommen.
({1})
Dann wollen wir an dieser Stelle die Zusatzfragen dazu abschließen.
Ich rufe die Frage 29 des Kollegen Hackel auf:
Welche schulischen oder beruflichen Ausbildungsmöglichkeiten bestehen für die geflohenen Kinder und Jugendlichen, um ihnen während des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland eine Zukunftsperspektive zu eröffnen?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Die Antwort lautet: Welche schulischen Ausbildungsmöglichkeiten bestehen, vermag die Bundesregierung nicht abschließend zu beurteilen, da sich dies nach den einzelnen Landesvorschriften richtet. Die Aufnahme einer beruflichen Ausbildung ist ausländerrechtlich nicht ausgeschlossen. Aber eine dazu erforderliche Arbeitserlaubnis wird nach Maßgabe der allgemeinen arbeitsrechtlichen Bestimmungen gegeben. Darüber wird also nach Maßgabe dieser Bestimmungen entschieden. Allerdings wird der Aufenthalt ausschließlich zum Zweck des Schutzes vor den Bürgerkriegsgefahren gewährt. Entfällt dieser Zweck und werden die für bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge getroffenen generellen ausländerrechtlichen Regelungen aufgehoben, tritt die Ausreisepflicht ohne Rücksicht darauf ein, ob eine aufgenommene Ausbildung bereits abgeschlossen ist.
Zusatzfrage, Herr Kollege Hackel?
Herr Staatssekretär, finden sich bei Ihnen Unterlagen, die Auskunft darüber geben, in welchen Ländern es Möglichkeiten der Ausbildung von Kindern und Jugendlichen gibt? Wenn Sie das jetzt nicht beantworten können, bitte ich, das auf dem schriftlichen Wege zu machen.
Im Zuständigkeitsbereich des Bundesinnenministeriums sind solche Unterlagen sicher nicht vorhanden. Ich schließe nicht aus, daß das Bundesbildungsministerium oder ein anderes Bundesministerium über hilfreiche Angaben verfügt. Ich müßte die Frage entsprechend weitergeben.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage, Herr Hackel? - Nein. Kollege Lüder.
Herr Präsident, darf ich zu Ihrer Bemerkung sagen: Wir haben im Interesse unseres Koalitionspartners mit unserer Haltung in der Fragestunde vermieden, wegen der unzureichenden Antworten der Bundesregierung gestern eine Aktuelle Stunde zu fordern. Deswegen müssen wir heute weiterfragen. Sonst wäre die gestern kaputtgegangen.
({0})
Herr Kollege Lüder, Sie haben hoffentlich nicht den Eindruck, ich säße hier als Vertreter der Koalition.
({0})
Sie hat mich zwar präsentiert, aber gewählt hat mich das ganze Haus.
({1})
Ich wollte Sie, Herr Präsident, nur über das objektive Faktum der Koalitionsfreundlichkeit der F.D.P. informieren.
({0})
Dies wird natürlich immer gerne zur Kenntnis genommen.
Herr Staatssekretär, da es sich hier nicht um eine Verwaltungsfragestunde handelt, sondern um eine Fragestunde, die sich an die Regierung wendet, frage ich: Welche Politik legt die Bundesregierung hinsichtlich der schulischen und beruflichen Ausbildungsmöglichkeiten für Jugendliche zugrunde, die Opfer von Bürgerkriegen und Flüchtlinge sind?
Im Zentrum der Bemühungen der Bundesregierung steht bei diesem Personenkreis der Schutz, den die Jugendlichen beispielsweise vor Ausweisung und damit vor Abschiebung in die Verhältnisse des jeweiligen Heimatlandes genießen können. Das hat oberste Priorität. Inwieweit es im Einzelfall möglich ist, den Menschen Ausbildungsleistungen zugute kommen zu lassen, entzieht sich im Augenblick meiner Kenntnis.
Frau Kollegin SchmalzJacobsen.
Herr Präsident, hier wird nach schulischer und beruflicher Ausbildung gefragt; die Frage dreht sich also um junge Menschen. Ich sage das vorsorglich, damit Sie wissen, daß meine Frage zu der ursprünglich gestellten Frage gehört. - Herr Staatssekretär, haben Sie Erkenntnisse darüber, wie viele der Flüchtlinge alleinreisende Minderjährige sind, und, wenn ja, können Sie mir sagen, wie diese in dieser Hinsicht betreut werden und ob sie eine besondere Unterbringung erfahren?
Frau Kollegin, ich habe in Beantwortung einer Frage des Kollegen Hackel bereits darauf hingewiesen, daß in meinen Unterlagen keine Differenzierung zwischen minderjährigen und erwachsenen Flüchtlingen vorgenommen worden ist. Ob diesbezüglich Zahlen vorliegen, kann ich Ihnen jetzt so nicht beantworten. Ich bin gerne bereit, mich hier sachkundig zu machen.
Im übrigen ist auch die Unterbringung von Jugendlichen und Kindern natürlich Sache der Länder und fällt deshalb nicht in die Zuständigkeit des Bundes. Der Bund hat im einzelnen keine Erkenntnisse der von Ihnen jetzt abgeforderten Art.
Die letzte Zusatzfrage dazu. Kollege Hirsch.
Herr Staatssekretär, da Sie das alles so relativ selbstzufrieden sagen, darf ich Sie fragen: Hat die Bundesregierung Verständnis für das Problem, daß durch den Bürgerkrieg eine Vielzahl von Kindern und Jugendlichen von zu Hause vertrieben wird und eigentlich über Jahre hinweg keinen geregelten Zugang zu Schule oder Ausbildung hat? Empfinden Sie das als ein Problem? Berührt Sie das irgendwie?
Herr Kollege Dr. Hirsch, ich darf Sie darauf hinweisen, daß die Bundesrepublik Deutschland derjenige Staat in Europa ist, der bei weitem am meisten für die Flüchtlinge in deren Heimatland und in unserem Land getan hat.
({0})
Die Beträge, die dafür vom deutschen Steuerzahler aufgebracht worden sind, gehen in die Hunderte von Millionen. Hinzuzurechnen sind all jene Leistungen, die freiwillig und ehrenamtlich durch Bürgerinitiativen Jugoslawien zukommen. Ich kenne auch aus meinem eigenen Wahlkreis eine Vielzahl solcher Bemühungen. Ich weiß auch, daß gerade Kindern von privater Seite große Zuwendung gegeben wird, so daß ich auf diesem Sektor eigentlich kein Defizit der Politik oder der Gesellschaft zu registrieren vermag.
Ich stelle fest, daß die Fragen 30 und 31 der Kollegin Pfeiffer schriftlich beantwortet werden sollen. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 32 auf, die unser Kollege Dr. Jürgen Meyer gestellt hat:
Ist es zutreffend, daß der Verfassungsschutz hei Sicherheitsüberprüfungen auch Intimdaten von Bundesbürgern gesammelt und gespeichert und diese selbst nach Jahrzehnten nicht vernichtet hat und daß gespeicherte Auszüge aus Strafprozeßakten auch nach Freisprüchen nicht vernichtet werden?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz verfährt bei der Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen entsprechend den Bestimmungen des Bundesverfassungsschutzgesetzes und den „Richtlinien für die Sicherheitsüberprüfungen von Personen im Rahmen des Geheimschutzes", kurz: Sicherheitsrichtlinien. Nach diesen Vorschriften ist die Speicherung der bei der Sicherheitsüberprüfung anfallenden personenbezogenen Daten zulässig, soweit dies für Zwecke des Geheimschutzes erforderlich ist. In einer Arbeitsdatei des Bundesamtes für Verfassungsschutz, deren Einrichtungsanordnung das Bundesministerium des Inneren nach Anhörung des Bundesbeauftragten für den Datenschutz genehmigt hat, ist im einzelnen festgelegt, ob und welche sicherheitserheblichen Daten gespeichert werden dürfen. Intimdaten, z. B. homosexuelle Veranlagung, werden in der Datei nicht gespeichert.
In der Sicherheitsüberprüfungsakte des Betroffenen werden als Grundlage für das Votum des Bundesamtes für Verfassungsschutz be- und entlastende tatsächliche Anhaltspunkte auch aus dem engeren persönlichen Lebensbereich gesammelt und aufbewahrt. Zu den entlastenden Tatsachen können auch Freisprüche in Strafverfahren gehören. Sie dienen dazu, Hinweise auf Strafverfahren, z. B. durch eine Auskunftsperson, sicherheitsmäßig richtig einordnen zu können. Ansonsten müßten jedesmal neue Ermittlungen zum Ausgang des Strafverfahrens eingeleitet werden.
Die Daten und Akten werden je nach Höhe der Überprüfungsart nach Ablauf von 5 oder 15 Jahren nach dem Ausscheiden des Betroffenen aus der sicherheitsempfindlichen Tätigkeit gelöscht und vernichtet.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Meyer.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß rund 600 000 Bundesbürger, die irgendwann einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen wurden, in der Verbunddatei der deutschen Verfassungsschutzämter erfaßt sind und daß die dort gesammelten Berichte von Auskunfts- und Referenzpersonen Daten aus dem engsten Privat- und Familienleben der Betroffenen samt intimer Angaben über Charaktereigenschaften und -schwächen enthalten?
Die Zahl liegt mir im Moment nicht vor. Ich gehe davon aus, daß es natürlich annähernd so viele sein könnten, wie von Ihnen genannt worden sind. Ich bin gerne bereit, Ihnen die genaue Zahl noch mitzuteilen.
In bezug auf die Daten, die Sie jetzt speziell erwähnt haben, möchte ich auf meine Antwort verweisen. Darin ist der Umfang dessen, was abgefragt wird, in etwa angedeutet. Charaktereigenschaften - wenn Sie damit Wertungen oder dergleichen meinen - sind meines Wissens darin nicht enthalten.
Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie schon bestätigt haben, daß auch Akten bzw. Informationen über Freisprüche gespeichert werden, möchte ich Sie ergänzend fragen, ob auch Daten über Verurteilungen gesammelt und gespeichert werden, und zwar auch dann, wenn diese aus dem Bundeszentralregister längst getilgt worden sind.
Herr Kollege Dr. Meyer, die Frage kann ich Ihnen jetzt nicht beantworten. Ich kann nur darauf hinweisen, daß natürlich auch Verurteilungen aufgenommen werden, weil ja be- und entlastende Anhaltspunkte gesammelt werden sollen. Die Fristen, die für das Vorhalten der Daten vorgesehen sind, nämlich 5 bis 15 Jahre, werden sicher eingehalten.
({0})
Ob sich darunter mittlerweile gelöschte Angaben befinden, bitte ich Ihnen nachträglich mitteilen zu dürfen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie sagen, es sind keine Intimdaten gesammelt worden. Man kann aber sehr wohl von unersprießlichen Details sprechen, die erfaßt worden sind. Stimmt es, daß Millionen von Seiten erfaßt wurden?
Nach der Anzahl der Seiten habe ich leider nicht gefragt. Ich kann Ihnen die Frage nicht beantworten.
Können Sie es dann wenigstens schriftlich machen?
Sofern es bürokratisch überhaupt zu bewältigen ist, die Zahl der Seiten festzustellen, werden wir Ihnen das selbstverständlich mitteilen.
Kommen wir zur Frage 33, oder gibt es noch Zusatzfragen zur Frage 32? - Das ist nicht der Fall. Ich rufe damit die Frage 33 des Kollegen Dr. Jürgen Meyer auf:
Hält die Bundesregierung die bisher geltenden Richtlinien für ausreichend, oder gedenkt sie, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der diese Richtlinien im Sinne des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung weiterentwickelt und präzisiert?
Herr Dr. Meyer, die Antwort lautet: Die Bundesregierung hat mit Datum vom 6. Mai 1993 dem Deutschen Bundestag den Entwurf eines Gesetzes über die Voraussetzungen und das Verfahren von Sicherheitsüberprüfungen des Bundes, Sicherheitsüberprüfungsgesetz genannt, vorgelegt; Bundestagsdrucksache 12/4891.
Der Gesetzentwurf hat die in Ihrer Frage angesprochene Zielsetzung der Präzisierung und Weiterentwicklung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung zum Inhalt. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz ist bei den Arbeiten am Entwurf sehr intensiv beteiligt worden und hat die wesentlichen datenschutzrechtlichen Verbesserungen gegenüber den Sicherheitsrichtlinien in seinem 14. Tätigkeitsbericht hervorgehoben. Der Gesetzentwurf befindet sich zur Zeit in der abschließenden Beratung des federführenden Innenausschusses.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bemüht, das Gesetzgebungsverfahren in Erfüllung des Auftrages des Bundesverfassungsgerichts noch in dieser Legislaturperiode zum Abschluß zu bringen?
Das geht schon aus dem Stadium hervor, das ich soeben bekanntgegeben habe. Der Gesetzentwurf befindet sich in der abschließenden Beratung im zuständigen Ausschuß.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen und würde dieses auch bei den Gesetzesberatungen berücksichtigt werden können, daß die noch geltenden Sicherheitsrichtlinien auf die Situation Anfang der 60er Jahre, auf den Höhepunkt des Kalten Krieges zurückgehen, wo man besonderen Wert auf die Überprüfung der Zuverlässigkeit von Bediensteten legte, die mit Geheimmaterialien umgehen mußten, und daß diese Prozedur, an der damals der Verfassungsschutz lediglich - wie es hieß - mitwirken sollte, mittlerweile zu einer der Hauptaufgaben dieses Geheimdienstes geworden ist?
Das zweite kann ich nicht bestätigen. Aber das erste kann ich Ihnen bestätigen. Das ist mit ein Grund dafür, warum die Novellierung erforderlich geworden ist.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind in dem Entwurf, von dem Sie gesprochen haben, die Institution der Auskunftsperson und die Möglichkeit, ausländischen Lebenspartnern nachzuspüren, vorgesehen?
Eduard Lintner, Pari. Staatssekretär: Das kann ich in der Präzision nicht beantworten, weil der Gesetzentwurf im Zuge der Beratung im Ausschuß auch da und dort verändert worden ist. Ich kann Ihnen aber beispielsweise sagen, daß der Verlobte gestrichen worden ist. Es sind Einschränkungen vorgenommen worden, ob auch genau in Ihrem speziell abgefragten Fall, kann ich Ihnen nicht sagen.
Könnte ich das bitte schriftlich haben?
Ja, das können Sie gern schriftlich haben. Demnächst wird die abschließende Beratung im Innenausschuß erfolgen. Dann liegt die Fassung vor, die im Plenum abschließend behandelt wird. Im übrigen sind Ihre Kollegen im Innenausschuß intensiv an der Beratung beteiligt.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, kann die Bundesregierung erklären, daß solche Fälle, wie sie im „Spiegel" geschildert werden, daß ein vor 22 Jahren erfolgter Freispruch bei Ihnen immer noch gespeichert wird, durch die Neuregelung verbindlich ausgeschlossen werden?
Davon gehe ich aus, ja.
Die Frage 34 der Abgeordneten Dr. Else Ackermann wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 35 des Abgeordneten Claus Jäger auf:
Trifft es zu, daß wichtige Teile der zentralen Stasi-Abhörkartei, in der die Ergebnisse der Telefonüberwachung wichtiger Persönlichkeiten der Bundesrepublik Deutschland festgehalten sind, der Vernichtung durch die Stasi-Führung entgangen sind und auch der Bundesregierung zur Einsichtnahme zur Verfügung stehen?
Herr Kollege Jäger, zu den laut „Focus" vom 25. November 1993 aufgetauchten Zielkontrollkarten, die dem Bundesamt für Verfassungsschutz nicht vorliegen, kann keine verbindliche Erklärung abgegeben werden, um welche Art von Karten es sich handelt, seien es Originale, Kopien oder Abschriften.
Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR hat „Focus" zur Herausgabe der Unterlagen an ihn aufgefordert. Eine Reaktion ist bisher nicht erfolgt. Der Bundesbeauftragte hat den Artikel in der Zeitschrift „Focus" zum Anlaß genommen, in den noch nicht geordneten Beständen nach Karteikarten mit Zielkontrollaufträgen zu suchen. Dabei wurden im Berliner Zentralarchiv etwa 25 laufende Meter dieser Kartei gefunden. Es handelt sich nach erster Überprüfung vermutlich ausschließlich um Kopien, wobei derzeit der Verbleib der Originale nicht aufklärbar ist. Weitere Kontrollkarten sind in der Außenstelle des Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen in Magdeburg gefunden worden. Hier lagen etwa 3 laufende Meter. Nach bisherigem Erkenntnisstand trifft es nicht zu, daß die Zielkontrollkarten auch die Ergebnisse der Überwachungsmaßnahmen enthalten.
Herr Kollege Jäger.
Herr Staatssekretär, kann man davon ausgehen - denn Sie sagten, daß es sich um Kopien handelt --, daß die Meldung in dem Nachrichtenmagazin zutrifft, hohe Stasi-Offiziere hätten noch zu Zeiten der DDR die Vernichtung dieser Kartei angeordnet und durchgeführt, so daß es überhaupt nur noch Kopien gibt, die von anderen offenbar rechtzeitig vorher gemacht worden waren?
Herr Kollege Jäger, ich kann das selbstverständlich nicht ausschließen. Man ist auf diesem Gebiet vor Überraschungen ohnehin nicht sicher. Deshalb schließe ich auch nicht aus, daß die eine oder andere Originalkarte die ganze Aktion überlebt hat.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung Maßnahmen bereits eingeleitet oder erwogen, wie verhindert werden kann, daß mit den Karten, die jetzt plötzlich auftauchen, Mißbrauch getrieben wird?
Herr Kollege Jäger, dazu ist ein eigenes Gesetz, das Stasi-Unterlagengesetz, geschaffen worden. Eine eigene Behörde, der Bundesbeauftragte für diese Unterlagen, kümmert sich mit die Einhaltung der Vorschriften. Wir hatten diese Angelegenheit vor kurzem im Innenausschuß und konnten dabei durch Bericht des Bundesbeauftragten in Erfahrung bringen, daß der Bundesbeauftragte bisher in jedem Fall die Herausgabe verlangt hat, daß er, wenn gezögert worden ist, ein Ordnungswidrigkeitenverfahren, ein Bußgeld angedroht hat und daß das bisher ausgereicht hat, um die Herausgabe der jeweiligen Unterlagen zu erreichen.
Im Falle „Focus" handelt es sich, wenn Sie so wollen, um einen Einzelfall, der neuerdings aufgetreten ist. „Focus" hat bis gestern nicht reagiert. Ob es hier zu einem Verfahren nach dem Stasi-Unterlagengesetz kommt oder ob sich diese Karten überhaupt im Inland befinden und nicht etwa nur in Prag Einsicht genommen worden ist oder Kopien angefertigt worden sind, kann ich nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge nicht sagen.
Herr Kollege Lüder.
Herr Staatssekretär, hat es bei der Bundesregierung Überlegungen gegeben, ob sich das Magazin „Focus" durch die Veröffentlichung dieser Art strafrechtlich relevant verhalten hat, und wie ist das Ergebnis Ihrer bisherigen Prüfung?
Herr Kollege Lüder, Sie wissen, daß wir uns damit sehr genau befaßt haben. Wir haben auch ein Ergebnis erzielt. Ich scheue mich ein bißchen, dieses Ergebnis öffentlich darzulegen, weil ich in die Nähe der Einflußnahme auf ein Verfahren gerate, das bei der Justiz möglicherweise bereits eingeleitet worden ist. Deshalb bitte ich, mir den zweiten Teil der Antwort zu erlassen.
Ich komme zur Frage 36 des Abgeordneten Claus Jäger:
Trifft es zu, daß diese Karteiblätter Hinweise auf bisher nicht enttarnte kommunistische Agenten im Bundesgebiet enthalten, und sind die zuständigen Bundesbehörden dieser Frage durch Überprüfung der entsprechenden Karteikarten nachgegangen?
Die Antwort lautet: Auf Grund methodischer Erkenntnisse des Bundesamtes für Verfassungsschutz zum generellen Inhalt der Zielkontrollkarten kann unterstellt werden, daß diese keine geeigneten Hinweise enthielten, die eine unmittelbare Identifizierung von Agenten hätten ermöglichen können. Eine Überprüfung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz hat auf Grund des vorgenannten Beschlusses nicht stattgefunden.
Wegen der Einzelheiten darf auf den Bericht des Bundesministers des Innern in der Sitzung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 10. November 1993 hingewiesen werden.
Herr Jäger.
Herr Staatssekretär, kann die Bundesregierung, da ihr, wie Sie vorhin sagten, der genaue Umfang dieser vernichteten Unterlagen und der davon übriggebliebenen Kopien gar nicht bekannt ist, denn ausschließen, daß in den auch der Gauck-Behörde noch gar nicht bekannten Fällen derartige Hinweise auf Agenten enthalten sind?
Herr Kollege Jäger, natürlich können wir das letztlich nicht ausschließen, weil wir die Fälle möglicherweise noch gar nicht vollständig kennen. Nach der Art der Eintragung in den bislang bekannten Zielkontrollkarten - hier handelt es sich bereits um Zigtausende - ist allerdings zu schließen, daß auch die übrigen solche Angaben, nach denen Sie gefragt haben, nicht enthalten werden.
Zweite Frage.
Herr Staatssekretär, ist sichergestellt, da es sich bei diesen speziellen Karten
um Karten über die selbstverständlich illegale Telefonabhörung von Persönlichkeiten in der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland handelt, daß diese Karten - soweit sie noch gar nicht bekannt und überprüft sind - nicht zu Erpressungsversuchen der verschiedensten Art mißbraucht werden können?
Soweit sie nicht bekannt und daher auch nicht registriert sind, ist das natürlich nicht sichergestellt, denn wir können nicht auf Dinge reagieren, die wir nicht kennen.
Die Fragen 37 und 38 des Abgeordneten Simon Wittmann, die Frage 39 des Abgeordneten Hans Wallow und die Frage 40 des Abgeordneten Freimut Duve werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich komme zur Frage 41 des Kollegen Horst Kubatschka:
Wie viele Autodiebstähle wurden seit Beginn des Einsatzes des Fahrzeugidentifizierungs- und Auswertungssystems ({0}) an deutschen Grenzübergängen aufgedeckt, und wie beurteilt die Bundesregierung den Vorschlag, „Finas" bei den Zulassungsstellen einzusetzen?
„Finas" ist seit dem 1. Januar 1993 für die bayerische Grenzpolizei verfügbar. Von insgesamt 1 280 auf Grund vorliegender Verdachtsmomente überprüften Fahrzeugen konnten 425 Kraftfahrzeuge an Hand von „Finas"Abfragen sichergestellt werden.
In den übrigen Grenzabschnitten ist „Finas" seit zwei Monaten geschaltet. Zu Sicherstellungen kam es bisher auf Grund von Erhebungen unter Anwendung des „Finas" nicht. Die Bundesregierung prüft derzeit die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten, „Finas" auch beim Kraftfahrt-Bundesamt und bei den Kfz-Zulassungsstellen zum Erkennen von Manipulationen einzusetzen.
Erste Frage.
Herr Staatssekretär, kann man mit diesem System die sogenannte „Schrottfrisierung" in den Griff bekommen?
Bitte?
Die Schrottfrisierung, d. h. die Diebe kaufen Schrottautos auf, eignen sich die Papiere an und frisieren die Autos um.
Mit Hilfe des Systems können - wie es hier heißt - „Plausibilitätsprüfungen zwischen Fahrzeugidentifizierungsnummern und Zulassungsdaten der Kfz durchgeführt werden". Möglicherweise ist also dem, wonach Sie jetzt gefragt haben, Rechnung getragen.
Bis wann würde eine endgültige Beurteilung von Ihnen vorliegen?
Dafür haben wir kein Datum festgelegt. Selbstverständlich sind wir daran interessiert, sobald vernünftige, seriöse Ergebnisse vorliegen, endgültig darüber zu entscheiden.
Damit ist der Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern beendet. Danke schön, Herr Staatssekretär.
Ich komme zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Die Frage 3 des Abgeordneten Ortwin Lowack wird ebenso wie die Frage des Abgeordneten Freimut Duve schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich komme zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Die Beantwortung erfolgt durch die Staatsministerin Frau Ursula Seiler-Albring.
Die Frage 11 der Abgeordneten Ingrid Walz wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 12 des Abgeordneten Gernot Erler:
Welches waren im einzelnen die Reaktionen bei den Regierungen in Mittel- und Südosteuropa auf die Reden des Bundeskanzlers am 22. und 26. Oktober 1993 jeweils auf dem Petersberg, bei denen insbesondere durch das gesprochene Wort der Eindruck entstehen mußte, daß die Bundesregierung in Abweichung von den Beschlüssen des Europäischen Rates vom 21./22. Juni 1993 über die Beitrittsperspektive zur Europäischen Union für alle sechs Assoziationsländer in Wirklichkeit nur Polen und Tschechien diese europäische Zukunft offenhalten, die übrigen Assoziationsstaaten aber ausgrenzen will?
Frau Präsidentin! Herr Kollege Erler, die slowenische Regierung hat über ihre Botschaft in Bonn um eine Stellungnahme zu Pressemeldungen über angebliche Äußerungen des Bundeskanzlers zu Beitrittsperspektiven der Staaten in Mittel- und Osteuropa zur Europäischen Union gebeten.
Das war es.
Frau Staatsministerin, gestatten Sie die Frage, ob die Bundesregierung nur offizielle Stellungnahmen von Regierungen als Reaktion wertet oder ob sie auch in anderer Weise die Reaktionen auf solche politischen Äußerungen des Bundeskanzlers zur Kenntnis nimmt?
Selbstverständlich nehmen wir dies zur Kenntnis. Herr Kollege Erler, Sie genauso wie die Mitglieder der Bundesregierung, die sich mit diesem Themenkreis beschäftigen, werden auch in Zukunft Gelegenheit nehmen darzustellen, daß es Politik dieses Hauses und auch der Bundesregierung ist, den Staaten in Mittel- und Osteuropa - wenn die Zeit dafür vorhanden und gekommen ist die Perspektive einer Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft zu eröffnen.
Die zweite Frage.
Frau Staatsministerin, was glaubt die Bundesregierung, was glauben Sie, was die Wirkung ist, wenn der Bundeskanzler innerhalb von zehn Tagen in drei verschiedenen Reden dreimal bei der Frage der Beitrittsperspektiven immer wieder ausschließlich die Länder Polen und Tschechien nennt und keine anderen? Was glauben Sie, welche Reaktion das in den sechs Assoziierungsländern haben wird?
Herr Kollege Erler, in vielen Gesprächen, die der Bundeskanzler zu diesem Thema mit Politikern, Gästen und Diplomaten aus dem Bereich Mittel- und Osteuropa geführt hat, gibt es überhaupt keinen Anlaß, daran zu zweifeln, daß die Haltung der vom Bundeskanzler geführten Bundesregierung eindeutig ist, daß kein Staat in Mittel- und Osteuropa, der die Voraussetzungen dafür mitbringt, von einem schließlichen Beitritt zur Gemeinschaft ausgeschlossen werden darf. Der Bundeskanzler hat dies auch sehr oft gesagt.
Wenn er im Laufe einer Rede ein oder zwei oder drei Länder beispielhaft hervorhebt, kann daraus nicht geschlossen werden, daß andere Länder, die er in dieser Rede nicht erwähnt, von einem solchen Beitrittsbegehren abgehalten werden sollten oder gar von einem Beitritt schließlich ausgeschlossen werden könnten.
Eine Zusatzfrage vom Herrn Kollegen Jäger, bitte.
Frau Staatsministerin, ich wollte nur fragen, ob die Bundesregierung davon ausgeht, daß unseren osteuropäischen Partnerregierungen und ihren Diplomaten das Stilmittel des Pars pro toto in einer solchen Erklärung bekannt ist, so daß sie es nicht falsch werten.
Ich gehe davon aus, Herr Kollege Jäger, daß dies der Fall ist, zumal es wirklich eine Vielzahl von entsprechenden Äußerungen aus dem Kreis der Bundesregierung gibt - und der Außenminister hatte ja gestern mittag hier Gelegenheit, ausführlich dazu Stellung zu nehmen -, daß sich die Bundesregierung gerade der Entwicklung, sowohl der politischen Entwicklung als auch der wirtschaftlichen Entwicklung, der Länder in Mittel-und Osteuropa ganz besonders annimmt.
Danke. Ich komme zur Frage 13 des Abgeordneten Gernot Erler:
Welche Maßnahmen mußten die Bundesregierung und die Auslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschland inzwischen ergreifen bzw. haben sie ergriffen, um diesem fatalen Eindruck entgegenzuwirken, und welchen Erfolg haben diese Anstrengungen zur Korrektur und Klarstellung der einschlägigen Passagen der beiden Reden des Bundeskanzlers bisher gezeitigt?
Herr Kollege Erler, gegenüber der slowenischen Regierung wie auch gegenüber entsprechenden Anfragen der bulgarischen Presse an die Botschaft Sofia hat die Bundesregierung wie folgt geantwortet:
Der Bundeskanzler hat in seiner Rede am 26. 10.1993 auf dem Petersberg bei Bonn beispielhaft - ohne Bulgarien, Rumänien, Slowenien und andere zu erwähnen - einige Länder genannt, die für eine spätere Erweiterung der Europäischen Union in Frage kommen. Dadurch sollten keinesfalls die nicht erwähnten Staaten aus dem Kreis der Beitrittskandidaten ausgeschlossen werden.
Die Bundesregierung hat ferner auf ihren Einsatz für eine möglichst enge Heranführung aller assoziierten Staaten in Mittel- und Osteuropa auf die Europäische Gemeinschaft verwiesen. Die Bundesregierung steht zu den Beschlüssen des Europäischen Rates von Kopenhagen, die sie maßgeblich initiiert hat: Die assoziierten Länder in Mittel- und Osteuropa, die dies wünschen, können Mitglieder der Europäischen Union werden, sobald sie die erforderlichen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen erfüllen.
An dieser Politik, die der Bundeskanzler bei seinem Besuch in Sofia im Juni noch einmal deutlich unterstrichen hat, wird sich auch in Zukunft nichts ändern.
Kollege Erler.
Frau Staatsministerin, angesichts der jetzt von Ihnen dargelegten Bemühungen der Bundesregierung, die falschen oder die verhängnisvollen Eindrücke wieder zurechtzurücken, die diese Reden des Bundeskanzlers ausgelöst haben, erwägt vielleicht die Bundesregierung, in Zukunft eine andere Ausdrucksweise zu benutzen, die es nicht nötig macht, hinterher solche diplomatischen Bemühungen in Gang zu setzen, um das Bild wieder geradezurücken?
Herr Kollege Erler, Ihre Wertung der Äußerungen kann ich nicht teilen. Ich versichere Ihnen aber, daß die Bundesregierung - wie in der Vergangenheit - sehr darum bemüht sein wird, daß ihre Äußerungen von den Partnern in Mittel- und Osteuropa richtig verstanden werden.
Wir kommen nun zur Frage 14 des Abgeordneten Norbert Gansel:
Beabsichtigt der Bundeskanzler bei seinem bevorstehenden Besuch der Volksrepublik China, den chinesischen Ministerpräsidenten Li Peng oder andere chinesische Politiker, die für das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking im Jahr 1989 Verantwortung tragen, in die Bundesrepublik Deutschland einzuladen?
Herr Kollege Gansel, auf Ihre Frage antworte ich wie folgt: Die Entscheidung darüber hat sich der Herr Bundeskanzler selbst vorbehalten.
({0})
Frau Staatsministerin, muß ich Ihre Antwort so verstehen, daß der Bundeskanzler in Erwägung zieht, sich bei seinem Besuch in Peking spontan dafür zu entscheiden, den chinesischen Ministerpräsidenten Li Peng, der der Hauptverantwortliche für das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking 1989 gewesen ist, in die Bundesrepublik einzuladen? Nehmen Sie mir ab, daß ich die diplomatischen Gepflogenheiten so weit kenne, daß ich weiß, daß Einladungen der Bundesregierung an ausländische Regierungschefs nicht aus dem Hut gezogen werden, sondern einer sorgfältigen Planung bedürfen?
Herr Kollege Gansel, das können Sie aus meiner Antwort nicht entnehmen.
({0})
- Sie haben Ihre Frage so formuliert, daß ich Ihnen diese Antwort geben kann.
Und der erste Teil?
Herr Kollege Gansel, ich habe Ihnen gesagt, daß der Herr Bundeskanzler sich die Entscheidung in bezug auf den Inhalt Ihrer Frage vorbehalten hat. Ich bin nicht imstande, Ihnen eine Auskunft darüber zu geben, auf welchem Entscheidungsstand dieses Thema zur Zeit ist. Ich gehe aber davon aus, meine Damen und Herren, daß der Bundeskanzler, wenn es dazu kommt, sich im Lichte der zur Zeit seines Besuches in der Volksrepublik China sich darstellenden Menschenrechtssituation entscheiden wird.
Letzte Zusatzfrage, dann ist die Fragestunde beendet. Herr Gansel, bitte.
Nun ist ja schon der Besuch des Bundeskanzlers beim chinesischen Ministerpräsidenten Li Peng nicht ganz unproblematisch in Anbetracht dessen, daß dieses Massaker 1989 seinen drohenden Schatten auf die Entwicklung in der DDR geworfen hat, als dort eine friedliche Revolution vorbereitet wurde. Deshalb frage ich die Bundesregierung, ob aus ihrer unklaren Haltung der Schluß gezogen werden kann, daß, wenn das DDR-Regime im Oktober 1989 die Demonstration in Leipzig massiv und brutal niedergeschlagen hätte, auch in der DDR 1993 der rote Teppich für einen Staatsbesuch aus der Bundesrepublik wieder hätte ausgerollt werden können.
Herr Kollege Gansel, das ist eine hypothetische Frage und Erwägung, auf die ich Ihnen keine Antwort geben kann.
Meine Damen und Herren, damit endet der Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes, und ich beende zugleich die Fragestunde für heute.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: Aktuelle Stunde
Wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Lage der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie
Die SPD hat zu diesem Thema eine Aktuelle Stunde verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Lilo Blunck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Der Bundeskanzler klagt über die Gefährdung des Wirtschaftsstandortes Deutschland. „Freizeitpark Deutschland", so verhöhnt er die verzweifelten Menschen. Das heißt: Ihr seid abgeschrieben, ihr werdet nicht mehr gebraucht! Und das von einem Bundeskanzler, der doch dem Wohl des gesamten Volkes dienen sollte.
Der Kanzler trägt die Verantwortung für die Regierungspolitik. Wo bleibt er aber in seiner Richtlinienkompetenz? Er sieht doch seit 1982, daß das wie ein Erbhof der F.D.P. genutzte Fachministerium keine Industriepolitik, keine Politik für die Wirtschaft betreibt. Dort beschäftigt sich der Minister, wie z. B. der gegenwärtige Amtsinhaber, medienwirksam am liebsten mit Lappalien wie Ladenschlußgesetzen, wie Rabattgesetzen.
({0})
Der Kanzler wird sich hierbei nicht mit einem Blackout herausreden können. Er wird nicht sagen können, er habe all dies nicht gewußt und er habe all dies nicht bemerkt. Sowohl die Industriemanager wie auch die Gewerkschaften haben ihn auf die fehlende Industriepolitik in der Bundesrepublik mehrfach hingewiesen.
Es war doch auch eben dieser Kanzler, der bereits 1982 vom „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen" gesprochen hat. Wo sind aber die Konversionspläne? Wo ist das Konzept, das die High-TechRüstungsindustrie für fortschrittliche, füi zivile Anwendungen nutzt? Fehlanzeige. Als Folge davon Hoffnungslosigkeit für die von den Schließungsplänen Betroffenen und in der Gesellschaft ein Ruck nach rechts. Denn Massenarbeitslosigkeit ist schon immer ein Nährboden für den Rechtsextremismus gewesen.
Dort, wo Herr Haussmann 1989 einmal während der Fusionsanträge in die Industriepolitik eingegriffen hat, hat er leider gefehlt, hat er eine völlig falsche Entscheidung getroffen. Ich sage das auch unter dem Gesichtspunkt, daß schon damals bei dem Antrag auf Fusion Kolleginnen und Kollegen der SPD genau diese Folgen, die jetzt eingetreten sind, vorausgesagt haben. Damit haben sich die vielgescholtenen Politiker unter anderem auch als vorausschauender erwiesen als die Wirtschaftsmanager.
Fehlanzeige auch für vorausschauende Wirtschaftspolitik beim Management der DASA, einem Management, das viel fordert und dafür häufig wenig leistet und dessen Fehler jetzt auf dem Rücken der Belegschaften ausgetragen werden.
({1})
Ich will nicht gerade von „Nieten in Nadelstreifen" sprechen, aber ich frage mich: Was tun diese teuer bezahlten Männer eigentlich, wenn sie denn doch nur Beschäftigungsrisiken der öffentlichen Hand überantworten und nur ihre eigene Bilanz im Auge haben? Welche Doppelmoral! Einerseits Klage über hohe Lohnnebenkosten, andererseits kassiert man gleichzeitig für Frühpensionierung und wälzt fast alle Risiken auf das Sozialversicherungssystem ab. Zu den Managementfehlern gehören ein unorganischer Aufbau der DASA und keine vorausschauende Firmenpolitik. Obwohl absehbar war, daß es mit den Rüstungsausgaben so nicht weitergehen konnte, hat man von seiten der DASA keine rechtzeitige Umorientierung vorgenommen.
Lieselott Blunck ({2})
Die DASA geht mit öffentlichen Geldern nicht verantwortungsvoll um; denn sie macht jetzt die Industriestruktur, die wir alle miteinander bezahlt haben, zu Kleinholz. Bezahlen müssen es die Arbeitnehmer, die Arbeitnehmerinnen, unter anderem auch in meinem Wahlkreis in Wedel.
Jetzt, da es in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation Managementqualitäten nachweisen könnte, hetzt dieses Management die Arbeitnehmer nur gegenseitig auf, versucht dadurch Landesregierungen zu erpressen, um sich durch einen kräftigen Griff ins Staatssäckel zu sanieren. Das darf nicht sein.
({3})
Ich fordere die DASA auf, eigene Anstrengungen zu unternehmen, nicht einzelne Standorte plattzumachen, Arbeitszeitverkürzungen statt Entlassungen vorzunehmen, die Sozialplanmittel nicht zur Finanzierung von Arbeitslosigkeit zu verwenden, sondern zur Finanzierung von Arbeit. Ich möchte, daß gewinnträchtige Geschäftsfelder erhalten werden. Das bedeutet, auch Nischen wie Solartechnik wirklich zu erhalten und nicht schlichtweg zu verkaufen.
({4})
Das bedeutet, den Zeitdruck von den Standorten wegzunehmen, das bedeutet, auch da, wo man sich von Sparten trennen will, die Regeln eines Kaufmanns zu beachten
({5})
und die Teile überhaupt erst verkaufsfähig zu machen. Das heißt Verlustausgleich, das heißt Eigenkapitalausstattung, das heißt auch, erforderliche Investitionen zu tätigen.
Frau Blunck, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich fordere die Bundesregierung auf, endlich ein Konzept zur Konversion vorzulegen. Für die Arbeitnehmer der DASA fordere ich eine sozial verträgliche Lösung der gegenwärtigen Probleme.
({0})
Als nächstes spricht die Kollegin Eva-Maria Kors.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Feststellung des Koordinators für die deutsche Luft- und Raumfahrt, die Bundesregierung könne und wolle in unternehmerische Entscheidungen nicht eingreifen, ist ebenso zu bejahen wie die Forderung, daß der Industrie klare und verbindliche Planungsgrundlagen für den Raumfahrt- und Verteidigungsbereich geliefert werden müssen. Wenn aber, wie gerade in diesen Bereichen, die öffentliche Hand mit Milliardenbeträgen zur Entwicklung beigetragen hat und sie weiterhin als Auftraggeber in Erscheinung tritt, dann erwächst gerade diesen Industriezweigen auch eine besondere wirtschaftliche und soziale Verantwortung.
({0})
Daß die deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie ebenso wie andere Bereiche von politisch gewollten Einsparmaßnahmen betroffen ist und darüber hinaus in einem immer schärfer werdenden internationalen Wettbewerb steht, muß der Fairneß halber auch gesagt werden.
Völlig unverständlich und inakzeptabel ist es jedoch, wenn der Daimler-Konzern unternehmenspolitische Entscheidungen trifft, die betriebswirtschaftlich nicht nachzuvollziehen sind. Das trifft nach meiner Auffassung eindeutig für die angedrohte Schließung des Werkes Lemwerder zu.
({1})
In Lemwerder wurden bis 1992 schwarze Zahlen geschrieben. Diese sind nach objektiven Berechnungen des Betriebsrats auch für die Zukunft möglich. Voraussetzung dafür ist natürlich, daß man die Leute arbeiten läßt. Es ist ein Stück aus dem Tollhaus, daß die Unternehmensleitung dem Vertrieb in Lemwerder ab sofort untersagt hat, Aufträge hereinzuholen.
({2})
Es ist schon schlimm, daß der örtliche Betriebsrat von der geplanten Schließung des Werkes Lemwerder seitens der Unternehmensleitung nicht informiert wurde. Aber noch schlimmer ist es, daß der Konzern bis zum heutigen Tage nicht bereit ist, mit dem Betriebsrat sachliche Auseinandersetzungen über die Zukunft des Werkes zu führen.
({3})
So, meine Damen und Herren, kann man am Ende des 20. Jahrhunderts nicht mit Menschen umgehen, und schon gar nicht, wenn es um deren Existenz geht.
({4})
Lassen Sie mich an dieser Stelle einmal meinen persönlichen Dank an den Betriebsrat und die Belegschaft für ihr vorbildliches Verhalten in dieser für sie so dramatischen Zeit aussprechen. Bis zum heutigen Tag arbeitet die Belegschaft hochmotiviert mit vollem Einsatz in allen Schichten, ohne das Werk auch nur eine Stunde blockiert zu haben. Diese Menschen haben es auf Grund ihrer qualifizierten erfolgreichen Arbeit und ihres Verhaltens verdient, daß ihnen jede mögliche Hilfe zuteil wird. Ich begrüße deshalb ausdrücklich die zahlreichen Solidaritätsbekundungen und insbesondere auch die angekündigte Hilfe der niedersächsischen Landesregierung.
({5})
Lassen Sie mich zu dieser Hilfe aber noch einige Anmerkungen machen. Sie kann, wenn sie verwirklicht wird, nur kurz- und mittelfristig zur Problemlösung beitragen. Zur langfristigen Sicherung vorhandener und zur Gewinnung neuer Arbeitsplätze müssen bessere Rahmenbedingungen insbesondere im Forschungs- und Technologiebereich geschaffen werden. Es ist wenig hilfreich für die wirtschaftliche Entwicklung Niedersachsens, wenn durch die jetzt eingeführte Verbandsklage Maßnahmen zur Infrastruktur unnötig erschwert werden.
({6})
16324 Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode
- Hören Sie einmal zu! - Die Niedersächsische Landesregierung fordert von der Bundesregierung als Voraussetzung und Grundlage ihrer Hilfe, daß die Wartung der Transall auch künftig in Lemwerder erfolgt. Man kann aber nicht einerseits Arbeitsplätze im wehrtechnischen Bereich erhalten und sichern wollen und andererseits wehrtechnische Forschung an niedersächsischen Hochschulen untersagen, wie dies jetzt im niedersächsischen Hochschulgesetz verankert wurde.
({7})
- Nehmen Sie das zur Kenntnis! Das sind die Fakten.
- Wehrtechnische Forschung überall, nur nicht in Niedersachsen, aber die sich daraus ergebenden industriellen Arbeitsplätze nach Niedersachsen, das heißt nach dem Motto verfahren: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß."
({8})
Ich fordere deshalb all jene dazu auf, ihre Position noch einmal zu überdenken, die in der vergangenen Zeit eine Verabschiedung z. B. aus dem JägerProgramm sowie starken Kürzungen im Verteidigungshaushalt das Wort geredet haben.
Damit ich nicht falsch verstanden werde, liebe Kolleginnen und Kollegen auch von der Opposition: Dies soll kein Entlastungsargument für die DASA sein, ganz im Gegenteil. Ich fordere von dieser Stelle die DASA auf, erstens die betriebswirtschaftliche Notwendigkeit der Schließung des Lemwerder Werkes schlüssig nachzuweisen und mitzuteilen, ob beim ANA/FRA-Programm die Kosten- und Zeitschiene bei der beabsichtigten Verlegung überhaupt eingehalten werden kann; zweitens endlich das Gespräch mit dem örtlichen Betriebsrat aufzunehmen und diesen nicht
- wie bisher - in seinen Bemühungen um den Erhalt des Werkes Lemwerder stumm vor die Wand laufen zu lassen und drittens stärker als bisher in ihre Entscheidung einzubeziehen, daß die öffentliche Hand und damit der Steuerzahler in großem Umfang Auftraggeber für das Unternehmen ist und sie eben dadurch eine ganz besondere Verantwortung für die Menschen und die einzelnen Regionen zu tragen hat.
Ich bedanke mich.
({9})
Als nächster spricht der Kollege Günther Bredehorn.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lage der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie gibt zur Sorge Anlaß. Große internationale Fluggesellschaften machen Verluste. Das führt zum Rückgang von Aufträgen oder zur Stornierung bereits vorhandener Aufträge.
Die Auslieferung von Airbus-Flugzeugen hat sich fast halbiert. Auch der Militärflugzeugbau hat sich stark verringert. Die Diskussion um den Jäger 90 oder den Eurofighter 2000 zeigt, daß wir bald entscheiden müssen, welche Sicherheitspolitik wir zukünftig brauchen, welche Sicherheitspolitik notwendig ist und welches Gerät dazu notwendig ist. Insbesondere sind aber jetzt unternehmerische Verantwortung und unternehmerische Entscheidungen und Kreativität gefragt.
({0})
Dabei ist eine Kapazitäts- und Kostenanpassung unabdingbar. Dieses ist notwendig, um die Masse der Arbeitsplätze für die Zukunft langfristig zu sichern. Luft- und Raumfahrt ist Zukunftsindustrie, von der wichtige technische, technologische und wirtschaftliche Impulse ausgehen. Von daher ist auch die Politik gefordert, ihren Teil beizutragen zur Sicherung dieser hochwertigen Arbeitsplätze.
Dabei kann und soll die Politik nicht direkt in die unternehmerischen Entscheidungen eingreifen. Es ist aber notwendig, die Rahmenbedingungen für die Luft- und Raumfahrt in Deutschland zu verbessern. Das kürzlich dazu von Staatssekretär Göhner vom Bundeswirtschaftsministerium vorgelegte AchtPunkte-Programm ist dabei eine gute Grundlage.
In den letzten Jahren haben wir allein die Flugzeugindustrie mit über 10 Milliarden DM gefördert. Dieses ist richtig, notwendig und eine Zukunftsinvestition. Die Politik hat also hier ihre Verantwortung wahrgenommen.
Diese Wahrnehmung der Verantwortung erwarte ich allerdings auch von den geförderten Unternehmen.
({1})
Für mich ist es völlig unverständlich, daß der Weltkonzern DASA/Daimler in einer Blitzaktion ohne Beteiligung des Betriebsrates und ohne Beteiligung der betroffenen Arbeitnehmer das Werk Lemwerder der Deutschen Aerospace/Airbus plattmachen will - ich kann es leider nicht anders ausdrücken -, ein Werk, welches für die nächsten Jahre mit Wartungsaufträgen voll ausgelastet ist, ein Werk, das bis 1993 schwarze Zahlen schrieb, Gewinne machte und wo auch in den nächsten Jahren Gewinne erwartet werden können, wenn der Vorstand es denn zuließe.
({2})
Ich glaube, es ist wohl das erste Mal, daß hier ein Konzern - einfach, weil er es so will oder weil es irgendwelchen Leuten einfällt - einen Betrieb schließt, ohne das mit betriebswirtschaftlichen Daten begründen zu können.
({3})
Ich bin betroffen und - ich muß sagen - wütend, wie hier das Management ohne Rücksicht auf die betroffenen Arbeitnehmer und ihre Familien und ohne Rücksicht auf die Region eiskalt vollendete Tatsachen schaffen will.
So wurden bestehende Verträge einseitig gekündigt - Hapag Lloyd. Man hat versucht, den Airbus A 310, der zu einem Frachter umgebaut werden soll, dort erst gar nicht mehr hinzubringen. Den Mitarbeitern des Vertriebs wurde untersagt, neue Wartungsaufträge hereinzuholen. Die Wartung der Transall C 160 will man nach Manching verlagern.
Es ist erfreulich, daß das Arbeitsgericht Oldenburg mit seiner Entscheidung diesem Treiben zunächst ein Ende setzte. Hier im Deutschen Bundestag frage ich den DASA-Vorstand: Ist es zu verantworten, Wartung von Verkehrsflugzeugen, die von hochqualifiziertem Personal ausgeführt wird, die hohe Sicherheitsstandards beachtet, die sich wirtschaftlich trägt, in Lemwerder zu zerschlagen? Ist es bei der Knappheit der Mittel im Verteidigungshaushalt zu verantworten, die Wartung der Transall an einen anderen Standort zu verlagern, wo die Kosten um 40 DM je Stunde höher sind? Dazu kommen noch die Kosten der Verlagerung mit 82 Millionen DM.
Können wir es gegenüber unseren Soldaten verantworten, daß die dringend notwendige Modernisierung der Transall mit der automatischen Navigationsanlage und der Flugregelungsanlage durch die Verlagerung nach Manching zeitlich erheblich verzögert wird?
({4})
Hierzu erwarte ich überzeugende Antworten vom Vorstand. Wir müssen den Bundesverteidigungsminister auffordern, bzw. wir müssen selbst dafür sorgen, daß etwas geschieht. So kann es nicht funktionieren.
({5})
Ich fordere das Unternehmen DASA/Daimler auf, sich nicht aus der Verantwortung zu stehlen, sondern seine soziale und regionale unternehmerische Verantwortung wahrzunehmen. In Art. 14 des Grundgesetzes heißt es: Eigentum verpflichtet.
({6})
Durch die bisherigen Unternehmensentscheidungen, die mich an Zeiten des Frühkapitalismus erinnern, ist viel Vertrauen in die Soziale Marktwirtschaft mutwillig zerstört worden.
({7})
Ich finde es schon beeindruckend, wie sich die Menschen in Lemwerder, wo jeder dritte Arbeitsplatz vom Werk abhängig ist, die Betroffenen: die Arbeitnehmer, die Gewerkschaften, die Kirchen, die Verbände und die Gewerbetreibenden engagieren, wie sie demonstrieren und Veranstaltungen machen, um ihre Sorgen vorzutragen.
Herr Bredehorn, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Wir nehmen dieses Anliegen sehr ernst. Wir sollten gemeinsam an die Arbeit gehen, damit die deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie eine Zukunft hat, damit aber auch das Werk Lemwerder eine Zukunft hat.
Ich danke Ihnen.
({0})
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man erkennt ja seine F.D.P. nicht wieder, wenn man hier die letzten Töne gehört hat, nicht wahr?
({0})
- Ein bißchen ist sie doch unser aller F.D.P., oder nicht?
Ich will zu der grundsätzlichen Problematik etwas sagen. Es geht hier sowohl um militärische als auch um nichtmilitärische Industrie und vor allen Dingen um Wartungsbereiche. Sie wissen, daß ich ein Anhänger der Abrüstung bin, was natürlich dazu führen würde, daß Aufträge etc. zurückgingen. Allerdings wären die Arbeitsplätze über den Bereich der Konversion durchaus zu erhalten. Aber hier gibt es gar keinen Auftragsrückgang, sondern es geht nur um eine Verschiebung zwischen verschiedenen Unternehmensteilen - und das einseitig zu Lasten der entsprechenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Hier möchte ich auf eine Sichtweise aufmerksam machen. Immer wenn irgendwo Arbeitsplätze abgeschafft werden, heißt es, daß Wirtschaft in der Wirtschaft gemacht wird und daß man in unternehmerische Entscheidungen nicht eingreifen darf, daß das antimarktwirtschaftlich oder sonstwas wäre. Immer wenn irgendwo Arbeitsplätze geschaffen werden, dann ist das das alleinige Verdienst der Bundesregierung. Dann wird einem fast jeder Arbeitsplatz vorgerechnet.
({1})
Ich sage: Solange Sie alle Arbeitsplätze, die irgendwo entstehen, für die Bundesregierung in Anspruch nehmen, so lange sind Sie auch für alle verantwortlich, die gestrichen und abgeschafft werden.
({2})
Ich füge hinzu: Das hat sehr wohl mit verschiedenen Rahmenbedingungen zu tun. Da der Staat einen Bereich wie diesen so stark subventioniert, möchte ich einmal wissen: Was haben Sie eigentlich für Anwälte? Weshalb werden nicht irgendwelche Bedingungen ausgehandelt?
({3})
Weshalb können sie machen, was sie wollen - Schließungen von Betriebsteilen oder Abschaffung von Arbeitsplätzen -, ohne daß der Staat ein Wort mitreden darf, nachdem er vorher irrsinnige Summen in diesen Bereich investiert hat? Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein. Im Falle von Subventionen müssen endlich einmal Vereinbarungen her, so daß es wirklich ein geregeltes Mitspracherecht gibt, wenn plötzlich zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer irgend etwas entschieden werden soll.
({4})
Wer zahlt, hat auch gewisse Ansprüche, meine ich. Das gilt auch, wenn der Staat bezahlt. Dann wäre es nämlich undenkbar, daß mit solchen Tricks, wie sie dort eingeleitet worden sind, ein ganzer Betrieb stillgelegt wird und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sozial völlig ungeklärt im Stich gelassen werden, letztlich auch von ihrem Staat im Stich gelassen werden, der durchaus in der Mitverantwortung steht, wenn er einen Bereich wie diesen derart subventioniert.
Ich sage noch etwas: Es wird hier wieder etwas anderes deutlich, was mich schon seit Monaten beschäftigt. Immer wenn es in der Wirtschaft eng wird, wird die Frage gestellt: Wo kann Sozialabbau stattfinden? Wo können Lohn und Lohnnebenkosten reduziert werden? Das wird als Allheilmittel verkauft, um die Wirtschaft in irgendeiner Form zu sanieren.
Ich habe hier schon einmal gesagt: Wann schauen wir uns eigentlich einmal an, was das Management in diesem Lande verdient? Wann schauen wir uns einmal an, welche Arbeitszeit und wieviel Urlaub Manager haben? Warum schauen wir immer nur nach unten und nie nach oben? Wofür werden sie eigentlich die ganzen Jahre bezahlt, wenn sie keine einzige neue Idee entwickeln - und das bei einem Betrieb, der international gerade hinsichtlich seiner Wartungsleistungen durchaus einen sehr guten Ruf hat und eine sehr qualifizierte Arbeit leistet?
Ich finde, wir haben als Gesellschaft auch nicht das Recht, so qualifizierte Arbeit zu vernichten, damit zu spielen, sie einfach untergehen zu lassen. Irgendwann brauchen wir sie sowieso; denn die Luftfahrtentwicklung wird noch größere Ausmaße annehmen; die Welt rückt näher zusammen. Dann braucht man die entsprechenden Fachkräfte, und wir haben sie vorher in den Zustand von Arbeitslosen oder sogar Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfängern versetzt. Ich glaube, das ist nicht zu vertreten.
Das ist im übrigen auch sehr viel teurer, wenn man das schon einmal wirtschaftlich und finanziell betrachtet. Das heißt, auch insofern ist das eine völlig verfehlte Politik.
Der Kritik am Vorstand stimme ich in vollem Umfange zu. Aber ich sage: Dabei alleine können wir es nicht belassen. Der Staat ist sehr wohl für Rahmenbedingungen verantwortlich.
({5})
Er ist dafür verantwortlich, wie mit seinen Subventionen umgegangen wird. Er hat eine soziale Verpflichtung gegenüber denjenigen, die in diesem Land noch Arbeit haben, ebenso wie gegenüber denjenigen, die sie bereits verloren haben. Er hat dafür zu sorgen, daß sie so schnell wie möglich zu Arbeit kommen.
Dann nutzt es auch nichts, mit dem Finger nur auf die Wirtschaft zu zeigen und sich plötzlich der Verantwortung zu entziehen, wie wir das von dieser Bundesregierung kennen. Damit muß endlich Schluß sein. Wir brauchen eine Bundesregierung, die sich auch bei negativen Entwicklungen in dieser Gesellschaft zu ihrer Verantwortung bekennt,
({6})
die sagt, wie sie Abhilfe schaffen will, und nicht nur erklärt, daß sie damit nichts zu tun hat.
Diese Bundesregierung ist für alles, was in diesem Lande geschieht, verantwortlich bzw. mitverantwortlich und sollte diese Verantwortung endlich auch annehmen. Wir brauchen generell eine andere Arbeitsmarktpolitik. Wir brauchen dafür sowohl andere steuerliche Bedingungen als auch andere arbeitsmarktpolitische Bedingungen.
Ich frage nur zur Steuer: Wann endlich fangen wir an, die Steuern so umzustellen, daß die Betriebe, die einen hohen Lohnkosten- und Lohnnebenkostenanteil haben, wirklich steuerlich begünstigt werden und jene, die ohne Arbeitskräfte hohe Produktivität erzielen, steuerlich viel stärker zur Kasse gebeten werden? Es gibt sowieso keine andere Chance als die, aus den hochproduktiven Bereichen die weniger produktiven Bereiche zu finanzieren. Das gilt für Umwelt, das gilt für Dienstleistungen, das gilt für viele andere Bereiche.
Aber davon ist diese Bundesregierung weit entfernt. Deshalb, glaube ich, brauchen wir eine neue.
Danke schön.
({7})
Als nächster spricht der Staatssekretär Reinhard Göhner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Luft- und Raumfahrtindustrie befindet sich derzeit weltweit, leider auch in Deutschland, in einer Krise, die drei Gründe hat: erstens massive Auftragsrückgänge auf Grund der Probleme der Luftverkehrsgesellschaften - es werden bestellte Flugzeuge nicht mehr abgenommen, erwartete Bestellungen bleiben aus -,
({0})
zweitens die nahezu in allen Ländern, auch bei uns, zurückgehenden Rüstungsaufträge, Aufträge für die Luftfahrtindustrie im wehrtechnischen Bereich,
({1})
und drittens natürlich die allgemein rezessive Entwicklung.
Weil es langfristig gerade in diesem Bereich der Luftfahrt- und Raumfahrtindustrie erhebliche Wachstumspotentiale gibt, ist es um so bedauerlicher, daß Kapazitätsabbau droht, verbunden sogar mit Werksschließungen und Personalabbau.
Die Bundesregierung kann und will in Einzelentscheidungen der Unternehmen nicht eingreifen. Aber
wir müssen und die Bundesregierung wird die mittelfristigen Rahmenbedingungen für die Luft- und Raumfahrt verbessern, damit Deutschland mittel- und langfristig als Standort für diese wichtige Schlüsseltechnologie und Zukunftsindustrie interessant und attraktiv bleibt.
({2})
Wir treten erstens für ein GATT-Flugzeugabkommen ein, Herr Kollege Struck, damit wir nicht neue internationale Subventionswettläufe, die wir verlieren würden, einläuten müssen.
Zweitens. Wir treten für eine strikte Einhaltung und Kontrolle des EG/US-Flugzeugabkommens ein.
Drittens. Weil die direkte Förderung auf Grund dieses Abkommens neu begrenzt ist, werden wir ein neues Förderkonzept für Forschungs- und Experimentalprojekte vorlegen, um dadurch, wie in anderen Ländern auch, stärker als bisher bei uns Forschungsförderung für die Luft- und Raumfahrt zu betreiben.
({3})
Viertens. Die Bundesregierung tritt für ein eigenständiges Teilprogramm Luft- und Raumfahrt innerhalb des 4. Forschungsrahmenprogramms der EG ein.
({4})
Die Luft- und Raumfahrtindustrie ist wie keine andere Industrie bereits in europäischen Kooperationen. Deshalb liegt diese Forschungsförderung auch von der EG in diesem Bereich nahe.
Fünftens. Wir verhandeln in Brüssel über eine europäische Harmonisierung der Exportgenehmigungen bei Dual-use-Produkten. Unsere Industrie muß in diesem Bereich europäisch kooperationsfähig sein.
({5})
Sechstens. Wir werden mittelfristig Instandsetzungsarbeiten der Luftwaffe auf die Industrie verlagern. Mit neuen Aufträgen an die Industrie in diesem Bereich ist bereits in absehbarer Zeit zu rechnen. Damit können und wollen wir zugleich einen Beitrag zur notwendigen Sicherung von Mindestkapazitäten im wehrtechnischen Bereich leisten.
Siebtens. Die Bundesregierung wird satellitengestützte Telekommunikation, Navigation und Erdbeobachtung zum Ausbau unserer Infrastrukturen fördern. Auch hier gilt wie bei der Forschungsförderung, wie bei der Raumfahrt, daß es der Markt allein nicht richtet und daß wir im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Industriepolitik staatlicher Unterstützung und Förderung bedürfen.
({6})
Achtens. Wir werden alles tun, um den gesellschaftlichen Konsens in bezug auf die Luft- und Raumfahrt zu fördern. Daran mangelt es nämlich, was negative Auswirkungen für die jetzige Beschäftigungslage hat. Wer in Bonn und anderswo jahrelang den Ausstieg aus der Raumfahrt gefordert hat, wer Entwicklungsprogramme der Luftfahrt auf wehrtechnischem Gebiet ablehnt, ist vor den Toren bedrohter Werke heute kein glaubwürdiger Demonstrant, meine Damen und Herren.
({7})
Der Bund hat gegen den Widerstand vieler in den vergangenen Jahren 10 Milliarden DM für den Aufbau der deutschen Luftfahrtindustrie eingesetzt. Wir sind dabei zunächst einmal erfolgreich gewesen. Nicht umsonst sagt der amerikanische Präsident Clinton laufend, mit der staatlichen Airbus-Förderung - in Deutschland und Europa - habe man den amerikanischen Unternehmen Marktanteile abgenommen.
({8})
Ich sage aber auch gerade angesichts dieser beträchtlichen Förderung in der Vergangenheit: Diese öffentlichen Mittel begründen auch eine besondere öffentliche Verantwortung der Unternehmen für die Beschäftigten.
Für mich ist klar: Wenn der DASA derzeit Milliardenverluste drohen, muß das Unternehmen handeln, vielleicht muß man sagen: endlich handeln. Ob die vorgesehenen Maßnahmen betriebswirtschaftlich richtig sind, kann ich zumindest derzeit nicht beurteilen. Betriebsräte und Unternehmen, mit denen ich gesprochen habe, tragen mir gegenüber gegensätzliche Fakten und Annahmen, folglich auch unterschiedliche Konzepte vor. Daß Sanierungsmaßnahmen des Unternehmens erfolgen müssen, ist allerdings bei allen Beteiligten unstreitig. Welche die richtigen sind, darum muß gerungen werden. Im Rahmen der gesetzlichen Unternehmensverfassung muß darüber von den Verantwortlichen entschieden werden.
Ich möchte ausdrücklich davor warnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß wir in der politischen Diskussion Standorte faktisch gegeneinander ausspielen.
({9})
Wenn jetzt ein Bundesland anbietet, sich an einem Werk finanziell unter der Voraussetzung zu beteiligen, daß die DASA eine Auslastungsgarantie für dieses Werk gibt, ist das nichts anderes als die Verkündung eines Todesurteiles für einen anderen Standort.
Ich denke, unsere Bemühungen müssen darauf gerichtet sein, daß wir die Rahmenbedingungen verbessern, damit die Auftragslage und die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Luft- und Raumfahrtindustrie hier in Deutschland verbessert werden. Das ist das, was Politik leisten kann. Das werden wir mit diesen acht Punkten leisten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir debattieren heute die wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Lage der Luft- und Raumfahrtindustrie. Dazu gehören auch erfreuliche Entwicklungen, die man nicht ausblenden darf.
In Dahlewitz - in Brandenburg - entsteht mit über 60 Millionen DM Unterstützung des Bundes das neue Triebwerksunternehmen BMW/Rolls-Royce mit 400 Arbeitsplätzen bis Jahresende, mit etwa 1 000 Arbeitsplätzen bis Ende übernächsten Jahres. Das Unternehmen hat ohne staatliche Entwicklungskostenförderung mit einem neuen Triebwerk erfreuliche weltweite Verkaufserfolge erzielt, zuletzt noch vor wenigen Tagen.
Wir haben in den neuen Bundesländern mit Betrieben in Brandenburg und Sachsen, mit kleineren Unternehmen auch in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen einen leistungsfähigen und weltweit wettbewerbsfähigen Kernbereich der Luft- und Raumfahrtindustrie entwickelt. Ich finde, das ist eine sehr positive Entwicklung, die wir alle begrüßen.
({10})
Meine Damen und Herren, im Rahmen ihres Sanierungsplanes hat die DASA - das gehört auch zu dem Thema „neue Bundesländer" - beschlossen, nicht an der Internationalen Luftfahrtausstellung 1994 in Berlin-Brandenburg teilzunehmen. Das gefährdet die gesamte Ausstellung. Ich appelliere deshalb von hier aus an die DASA, diesen Beschluß zu überdenken, um wenigstens einigen der Einzelunternehmen die Teilnahme zu ermöglichen.
Der Bund unterstützt die ILA 1994 erneut finanziell - übrigens als einzige Messe in Deutschland überhaupt -, gerade weil wir die Notwendigkeit sehen, für diesen Standort Luft- und Raumfahrt Deutschland langfristig eine solche Ausstellung zu sichern. Es geschieht gerade auch für die kleinen und mittleren Unternehmen dieser Luft- und Raumfahrtindustrie; denn diese Industrie besteht in Deutschland nicht nur aus einem Konzern.
Ich appelliere an alle Verantwortlichen, gegenüber den betroffenen Arbeitnehmern ehrlich zu bleiben. Die Politik kann nur die Rahmenbedingungen für die Unternehmen der Luft- und Raumfahrt verbessern. Das werden wir tun. Unser kurzfristiger Handlungsspielraum ist begrenzt, nämlich auf den Bereich, in dem wir selbst unmittelbare Aufträge vergeben. Ich appelliere an jeden von uns zu überprüfen, wo wir etwa im Rahmen der Haushaltsberatungen Akzente gesetzt haben, die dazu führen, daß eine bessere Auftragslage entstehen kann.
Ich appelliere an die Verantwortlichen in den Unternehmen, jetzt kein Schwarzer-Peter-Spiel zu beginnen und vor allem die Zukunftschancen dieser Industrie in Deutschland in einem unstreitig langfristig mit großen Wachstumschancen auf dem Weltmarkt ausgestatteten Bereich nicht zu verspielen.
Danke sehr.
({11})
Als nächste spricht die Kollegin Ilse Janz.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Herr Staatssekretär, daß es in Teilen der SPD unterschiedliche Auffassungen zur bemannten Raumfahrt gibt, ist bekannt. Trotzdem gibt und gab es in der SPD-Fraktion eine breite Unterstützung für den Gesamtbereich Luft- und Raumfahrt. Ich verwahre mich deswegen im Namen meiner Fraktion gegen Ihre Unterstellungen.
({0})
- Nein, scheinbar nicht.
Kolleginnen und Kollegen, die wachsende Unruhe unter den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Luft- und Raumfahrtindustrie über ihre berufliche Perspektive hat zu dieser Aktuellen Stunde geführt. Es ist nicht Schuld der Betroffenen, daß diese Stunde auf heute verlegt wurde und dann noch zu dieser späten Zeit stattfindet. Trotzdem verstieg man sich in der DASA-Zentrale in München zu der Bemerkung: „Sind die Leute zu einem Ausflug nach Bonn gestartet?" Dies bezieht sich auf die gestrige Demonstration. Das ist nicht nur bitter, sondern meiner Meinung nach auch unverschämt.
({1})
Die DASA will Betriebsstätten der Luftfahrtindustrie in Nord- und Süddeutschland schließen. Das BMFT kürzt Forschungsmittel auch bei der Raumfahrt und verursacht damit gravierende Einschnitte im Personalbestand dieser Industrie, Einschnitte, die wiederum Standorte gefährden und einen in vielen Jahren erreichten Entwicklungsstand bei der Beteiligung am europäischen Raumfahrtprogramm in Frage stellen.
Von der Führung bei europäischen Projekten wage ich nun gar nicht mehr zu reden. Zu vieles wurde durch eine konsistente Förderungspolitik des Bundes in den letzten Jahren verspielt. Nicht nur der Industrie können wir heute vorwerfen, sie habe die Zukunft verschlafen. Diesmal geht das, zurück in die Mitte unseres Jahrhunderts, eindeutig von der Bundesregierung aus. Franz Josef Strauß müßte sich im Grab herumwälzen, liebe Kollegen und Kolleginnen, wenn er von diesen dramatischen Einbrüchen erführe,
({2})
wenn er mitbekäme, wie die Standorte in Süd- und Norddeutschland gefährdet werden, die in den 60er und 70er Jahren im übrigen mit Bundesmitteln auf-und ausgebaut wurden.
Dies alles hat mit Marktwirtschaft nichts zu tun, sondern mit ungenügender Behauptung im freien Wettbewerb. Dies ist auch das Versagen des Bundes. Hochqualifiziertes, technologisch orientiertes Arbeitnehmerpotential perspektivlos in die Arbeitslosigkeit zu schicken heißt, zukünftig unseren weltweiten Anspruch drastisch zurückzuschrauben.
({3})
Dieses Personal kann nicht nach Belieben auf- und abgebaut werden.
Unternehmen, die bis heute einseitig auf Rüstungstechnologie setzen und für die der Begriff Konversion
ein Fremdwort ist, müßten erst Konzepte entwickeln, bevor sie einen solchen radikalen Schritt tun. Es ist völlig unverständlich, daß Anweisungen ergehen, keine weiteren Zivilaufträge zu akquirieren.
({4})
Wartungsverträge mit Japan und China werden storniert. Ich weiß gar nicht, warum wir von der Politik aus soviel dort hinfahren, um Gemeinsamkeiten zu organisieren. Anschlußaufträge sind ebenfalls futsch.
Durch eine solche Unternehmenspolitik ist für mich der Standort Deutschland gefährdet. Die SPD-Bundestagsfraktion, liebe Kollegen und Kolleginnen, wird jedenfalls dieser Bundesregierung Beine machen. Wir werden für die zweite Lesung einen Änderungsantrag zur Aufstockung des Forschungsetats für 1994 um ca. 500 Millionen DM vorlegen.
({5})
Darin werden wir auch vorschlagen, die Forschungs- und Entwicklungsvorhaben in der Luftfahrttechnologie um weitere 34 % aufzustocken. Wir wollen, daß mit der Entwicklung schadstoffarmer Triebwerke, die leistungsstärker sind, sofort Ernst gemacht wird. Wir wollen, daß die Wettbewerbsfähigkeit unserer Luftfahrtindustrie, insbesondere des Airbus, durch eine breite anwendungsorientierte Vorentwicklung aller Komponenten der Luftfahrt, und zwar konform mit den GATT-Bestimmungen, wie ich betonen möchte, verbessert wird.
Wenn Sie dem zustimmen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, dann schließen Sie sich in der übernächsten Novemberwoche unserem diesbezüglichen Antrag an. Damit hätten Ihre vielen Presseerklärungen im übrigen auch einen Sinn.
Die vom Bundesfinanzminister vorgesehenen Raumfahrtmittel des Bundesetats für 1994 sind von der Bundestagsfraktion der SPD bei den Haushaltsberatungen nicht angetastet worden. Es waren die Mitglieder der Koalition, die im Haushaltsausschuß den ESA-Beitrag um 60 Millionen DM gekürzt haben.
({6})
Wir halten das für falsch, nicht zuletzt deshalb, weil damit die deutsche Position bei den anstehenden europäischen und auch internationalen Neuverhandlungen, die erforderlich sind, über Strategien und Komponenten der Raumfahrt geschwächt wird.
Ich weiß, daß Sie immer wieder auf unseren 15-%-Beschluß hinweisen. Aber ich will es Ihnen noch einmal deutlich sagen: Dies war von uns im Hinblick auf einen gestiegenen und nicht, wie Sie ihn jetzt vorgelegt haben, gesunkenen Forschungsetat vorgeschlagen.
Während z. B. Länder wie Japan und China die Luft- und Raumfahrt als Schlüsselindustrie für die Weiterentwicklung ihrer Volkswirtschaften verstehen und dementsprechend ausbauen, ist die Bundesrepublik trotz anderslautender vollmundiger Erklärungen dabei, mit dem Reduzieren der Mittel für den Forschungshaushalt genau das Gegenteil zu tun. Damit wird ein großer Teil der technologischen Zukunft verspielt.
Bei dieser Bundesregierung herrscht Konzeptionslosigkeit.
({7})
Europaweit werden mögliche Kooperationen verschlafen. Wir fordern Bundesregierung und DASA auf, umgehend Konzepte zu entwickeln, die die Zukunftsindustrie Luft- und Raumfahrt sichern.
({8})
Bund wie DASA haben auch eine regionale und soziale Verantwortung.
Ich danke Ihnen.
({9})
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Martin Mayer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Anlaß für die heutige aktuelle Debatte ist der geplante dramatische Abbau von Arbeitsplätzen in der zivilen und militärischen Luft- und Raumfahrt. Langfristiger geht es aber um noch viel mehr. Es geht um eine Angelegenheit von nationaler und europäischer Bedeutung. Die Luft- und Raumfahrt gehört zu den Hochtechnologien, in denen Deutschland im Verbund mit den europäischen Partnern einen Vorsprung vor Japan und den Anschluß an die USA hat.
In einer Welt, in der sich die politischen Rahmenbedingungen schwindelerregend ändern, müssen auch in der Luft- und Raumfahrt die Ziele neu bestimmt werden. Die Ziele lauten in der Raumfahrt insbesondere: größtmöglicher Technologiegewinn und die Spitzenleistungen halten und ausbauen. Richtschnur dabei ist das Interesse Deutschlands. Wir müssen dann in der europäischen Familie, vor allem mit den Franzosen, unsere deutschen Interessen einbinden. Erst dann können wir mit den Freunden in der internationalen Zusammenarbeit eine vernünftige Position erreichen.
Der ängstliche Blick über den großen Teich und gen Osten nach dem, was andere in der internationalen Zusammenarbeit für uns übriglassen, muß abgelöst werden durch mehr Selbstbewußtsein von uns Deutschen und Europäern.
Unser gemeinsames Ziel ist nur erreichbar, wenn Unternehmer, Arbeiter, Wissenschaftler und Politiker, statt gegenseitiger Vorwürfe, vertrauensvoll zusammenarbeiten. Das gilt für alle Ebenen in der Hierarchie bis in die obersten Spitzen. Jeder trägt Verantwortung für größere Effizienz im eigenen Bereich.
Bei der Vielfalt der komplizierten technischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Zusammenhänge und Sachverhalte kann das allgemeine Ziel nur dann gemeinsam erfolgreich umgesetzt werden, wenn wir in all diesen Bereichen zusammenarbeiten.
Der Bundesforschungsminister hat in dieser Woche zur Hochtechnologie erklärt, daß diejenigen Pro16330
Dr. Martin Mayer ({0})
dukte, Prozesse und Dienstleistungen besondere Chancen haben, die ein hohes Maß an wissenschaftlicher Interdisziplinarität aufweisen. Für die Luft- und Raumfahrt trifft dies zu.
Die Fähigkeit, die Ergebnisse aus verschiedenen Feldern gut zu verknüpfen, ist aber auch ein Erfolgsrezept der Politik. Wir müssen deshalb in der deutschen Luft- und Raumfahrt die Kräfte bündeln. Zivil- und Militärtechnik -jetzt hören Sie von der SPD zu - gehören zusammen, auch in der Luft- und Raumfahrt und im Besonderen. Alle Ressorts müssen die Entwicklung von Schlüsselindustrien als gemeinsames Ziel voranbringen, mit Rat und Tat, auch durch finanzielle Beiträge. Das gilt ebenso für die Europäische Gemeinschaft. Im vierten Rahmenprogramm Forschung ist deshalb die Luftfahrt deutlicher als bisher zu fördern.
Für den Erfolg in der Luft- und Raumfahrt brauchen wir die Zustimmung der Mehrheit der Bürger. Es gilt zu überzeugen und die Begeisterung zu wecken. Auch dazu müssen alle einen Beitrag leisten. Diejenigen, die in der Raumfahrt arbeiten, die Wissenschaftler und letztlich auch wir Politiker. Das gilt auch für die SPD. Frau Kollegin Janz, wenn Sie hier plötzlich die bemannte Raumfahrt verteidigen, dann haben Sie wohl vergessen, daß vor wenigen Wochen die finanzpolitische Sprecherin der SPD den Bundesfinanzminister deswegen kritisiert hat, weil er in der bemannten Raumfahrt den Ansatz erhöht hat. Ich habe noch sehr gut die Anträge vom vorigen Jahr und die Presseerklärungen der Frau Bulmahn in Erinnerung, wo man an der Raumfahrt kein gutes Haar gelassen hat. Statt Angriffe auf die bemannte Raumfahrt sollten wir mehr von den vielfältigen Erfolgen der gesamten Raumfahrt reden. Bei aller, zum Teil berechtigter Kritik verspricht die bemannte Raumfahrt langfristig den höchsten Technologiegewinn.
Wir haben soeben eine Debatte über Europa geführt. Dieses Europa braucht viele Zeichen gemeinsamer Anstrengung und gemeinsamen Erfolges.
Der Airbus, vorangetrieben durch Franz Josef Strauß, steht für europäische Leistungsfähigkeit in der zivilen Luftfahrt. Die Ariane-Rakete, besonders gefördert von der Grande Nation Frankreich, verkörpert europäisches Selbstbewußtsein und europäisches Können. Diese Leistungsfähigkeit und dieses Können müssen als Voraussetzung für viele neue Arbeitsplätze von heute und morgen ausgebaut werden.
({1})
Als nächster spricht der Abgeordnete Jürgen Timm.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Regionen erzittern, wenn sie die Gefahren erkennen, wenn Unternehmenskonzepte zum radikalen Abbau oder sogar zum Schließen ganzer Technologiestandorte führen. In Norddeutschland wissen wir, wovon wir reden, wenn es z. B. um Fischerei, um Weilten - gerade da konnte die F.D.P. -, um Automobilbau, um Stahl, um Luft-und Raumfahrt geht. Die waren schon immer oder wiederholt schlimm dran.
Die Menschen fragen sich zu Recht, was die nächste Standortschließung sein könnte, wenn z. B. ein funktionierendes Flugzeugwerk wie in Lemwerder geschlossen werden soll. Ist es vielleicht der Standort Bremen oder ist es die Raumfahrttechnologie dort? Und wir als Politiker fragen, ob es überhaupt hingenommen werden darf, daß ein Konzern mit seinen Maßnahmen eine negative Regionalpolitik betreibt. Der Staat - in der Branche der Luft- und Raumfahrt ohnehin der größte Geldgeber oder Geldvorhalter, aus Steuermitteln natürlich - stellt andere Erwartungen daran, was eine ausgewogene Arbeitsmarktpolitik gegenüber den Regionen ist.
Wenn es auch richtig ist, daß bei den Konzernmaßnahmen erkennbar ist, daß Arbeitsplätze nicht nur im Norden Deutschlands, sondern auch im Süden in erheblichem Umfang abgebaut werden, so muß doch vielleicht eines als Unterschied gesagt werden. Bei der Schließung eines ganzen Betriebes im Unterweserraum wird diese Region mit einem Schlag in das arbeitsmarktpolitische und technologische Abseits gedrängt.
({0})
Einen solchen Aderlaß kann die Region nicht verkraften, sie kann ihn auch nicht ersetzen, und die Menschen können ihn auch nicht verkraften.
({1})
Sie sehen nämlich keine Perspektiven. Wir müssen uns als Politiker natürlich fragen lassen und auch selbst fragen, ob wir unseren Möglichkeiten gerecht geworden sind, ob wir sie ausgeschöpft haben, um ausreichend für die Stabilität der Arbeit unserer Republik auch in diesen Bereichen zu sorgen.
Eine kritische Anmerkung will ich durchaus machen. Der Haushalt des Forschungsministers ist für die Raumfahrt und damit auch für den Standort in Norddeutschland kontraproduktiv. Das nächste schlimme Problem liegt in der Luft, da es nicht einmal gelingt, die ESA-Beteiligung zu erhalten. Das wäre durchaus möglich gewesen. Aber der Wille des Fachausschusses wurde von den Haushaltsfestlegungen einfach überrollt. Eine Kürzung in Höhe von 80 Millionen DM bedeutet in diesem Bereich einen nicht auffangbaren Substanzverlust. Damit sind die nächsten 200 bis 250 Arbeitsplätze gefährdet. Sie stehen auf dem Spiel, obwohl wir in den Beratungen des Fachausschusses die im Haushalt geforderten Einsparungen realisieren konnten und im Forschungsausschuß durchaus Kompensationen vorhanden gewesen wären.
Deshalb ergeht mein Appell an den Forschungsminister, aber auch an den Haushaltsausschuß, in dieser Frage zu anderen Überlegungen zu kommen.
({2})
Denn der Wille des Fachausschusses muß, so meine ich, zwingend berücksichtigt werden. Wenn das nicht auf diese oder irgendeine andere Art und Weise gelingt, besteht die Gefahr, daß in der Luft- und Raumfahrttechnologie ein weiterer Standort im Bereich in Bremen unmittelbar gefährdet ist. Von den in den letzten Jahrzenten in mühevoller Arbeit aufgeJürgen Timm
bauten mittelständischen Kapazitäten auch in dieser Technologie habe ich dabei noch gar nicht gesprochen.
Mir fällt auf, daß die Sockelbeiträge für die großen Organisationen - ob national oder international - immer die gleiche Größenordnung behalten. Das heißt doch wohl, daß das Geld nur im produktiven Bereich gekürzt wird. Ich glaube, dem muß ein Ende bereitet werden.
Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, ein Wort zu Ihrer Zielvorstellung hinsichtlich der bemannten und der unbemannten Raumfahrt: Ich denke, es wird uns wenig helfen, wenn wir uns auf Erdbeobachtung beschränken.
({3})
Wir haben im Bereich der unbemannten Raumfahrt bereits so viele Daten, die zur weiteren Verarbeitung sowieso keiner haben will. Es ist - in politischer Auseinandersetzung zwischen uns - erforderlich, im Bereich der Raumfahrt infrastrukturelle Forschung und Technologie zu entwickeln. Diese werden eines Tages in die bemannte Raumfahrt münden. Dies ist erforderlich, wenn wir in der Zukunft auf dem Markt bleiben wollen. Das ist eine politische Auseinandersetzung zwischen uns, der auch Sie sich stellen müssen.
Lemwerder ist eine Gemeinde, die von der Luft- und Raumfahrt lebt. Besonders die Luftfahrt ist in Lemwerder gut aufgehoben. Das führt mich zu dem Schluß, daß der Bund, wir als Entscheider über eigene Aufträge oder die Gewährung von Subventionsmitteln, daß das Land Niedersachsen - das, so hoffe ich, nicht unternehmerische Ambitionen hat, sondern politische Hilfen gewährt -, die Politik insgesamt gefordert sind, den Luft- und Raumfahrtkonzern einer besseren und den Menschen zuträglicheren Lösung zuzuführen. So wie es jetzt läuft, kann es nicht bleiben. Der Konzern muß sich überlegen, ob er, der Empfänger hoher Steuergelder ist, als Arbeitgeber nicht auch in der Pflicht ist und ob er diese Pflicht nicht verletzt.
({4})
Die Redezeit ist beendet.
Ich denke, hier muß eine Änderung eintreten.
Vielen Dank.
({0})
Als nächste spricht die Abgeordnete Margitta Terborg.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich stehe hier für eine Region, die seit Jahren von Krisen erschüttert wird. Seit Jahren leidet der Arbeitsmarkt unter Auszehrung. Was jetzt die DASA unserer Region mit dem Plattmachen des Werkes Lemwerder zumutet, übersteigt allerdings alle Negativerfahrungen.
Ich stehe für den Erhalt des Werkes Lemwerder und spreche nicht gegen andere Werke der DASA.
({0})
Das miese Spiel der Konzernleitung, die Standorte gegeneinander auszuspielen, mache ich nicht mit.
({1})
Mit deutschen Steuergeldern wird die Zukunftschance einer ganzen Region zerstört. Denn die Schließung des Werkes Lemwerder wäre nur der Anfang. Siemens, Atlas, die Preußag und andere warten nur auf das Signal, nach frühkapitalistischen Methoden à la DASA ungestraft zuschlagen zu können.
({2})
Die Wartung der Transall soll nach Manching verlegt werden. Dort wäre sie dann uneffizienter und teurer. Das Werk in Lemwerder wird systematisch vernichtet. Es darf keine Aufträge mehr akquirieren. Bereits erteilte Aufträge werden storniert.
Ein hockqualifizierter Facharbeiterstamm wird in Kohls Freizeitpark entlassen. Gestern haben 1 500 Menschen, die direkt von der Arbeitslosigkeit bedroht sind, in Bonn für den Erhalt ihres Werkes demonstriert. Dort hat ihnen Staatssekretär Neumann namens der Bundesregierung und der CDU versichert, daß man sich für die Existenz des Werkes Lemwerder einsetzen werde. Für die F.D.P. kam die gleiche Zusage vom Kollegen Bredehorn.
Heute, in der Aktuellen Stunde, ist die Gelegenheit, daß uns der Wirtschaftsminister und der Verteidigungsminister konkret erklären, welche Schritte sie unternehmen werden, um die Zusagen ihrer Parteifreunde nicht Lügen zu strafen.
Was wir bisher, meine Damen und Herren, von der Bundesregierung gehört haben, war zuwenig. Damit kann man das Werk nicht retten. Die Regierung kann, wenn sie es denn will, einen Konzern zu sozialverträglichem und regionalpolitisch verantwortlichem Handeln zwingen, der so wie die DASA von öffentlichen Geldern abhängig ist.
({3})
Wenn sie das kann, dann muß sie es tun. Sie darf die Kollegen Neumann und Bredehorn mit ihren Versprechungen nicht im Regen stehen lassen.
({4})
Es darf Ihnen allen, meine Kolleginnen und Kollegen, nicht gleichgültig sein, wenn einer ganzen Region schrittweise das wirtschaftliche Lebenslicht ausgeblasen wird. Die Bundesregierung darf nicht zulassen, daß die Steuergelder, die auch die Arbeitnehmer von Lemwerder brav Monat für Monat aufbringen, zur Vernichtung der Arbeitsplätze von Lemwerder ausgegeben werden.
({5})
Die Bundesregierung muß Rechenschaft über die arbeitsplatzsichernde Verwendung von Steuergel16332
dern fordern. Wenn die Zukunft Lemwerders vom Konzern niedergerechnet wird, der Betriebsrat aber eine Alternative aufzeigt, dann sind beide Modellrechnungen vom Bundesrechnungshof zu prüfen. Der Bund ist Hauptauftraggeber. Er muß diesen Hebel nutzen.
Es war in Lemwerder nach einer der vielen Krisenveranstaltungen der letzten Woche. Da sprach ich mit einem jungen Mann. Er sagte: „Ein wahres Glück, daß ich hier nicht mehr arbeite. Meinen Freunden kann ich nur empfehlen, schnell die Kurve zu kratzen." So, Kolleginnen und Kollegen, stirbt eine Region. Wollen Sie dabei wirklich Totengräber spielen? Beweisen wir alle miteinander, daß wir unsere Mandatspflichten ernst nehmen! Beweisen wir es heute, vor den Augen und Ohren der Betriebsräte aus Lemwerder, die ich auf der Zuschauertribüne begrüßen darf und die seit gestern auf diese Aktuelle Stunde warten.
Ich danke Ihnen.
({6})
Es folgt jetzt der Kollege Dr. Peter Ramsauer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die wirtschaftlichen Turbulenzen, in welche die deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie hineingeraten ist, verfehlen ihre Wirkungen auf den arbeitsmarktpolitischen Bereich natürlich nicht. So haben die Mitgliedsfirmen des Bundesverbandes der Deutschen Luftfahrt-, Raumfahrt- und Ausrüstungsindustrie ihre Mitarbeiterzahl von 95 000 im Jahr 1990 auf 70 000 im Jahr 1993 reduziert und sehen in den nächsten zwei Jahren einen weiteren Abbau auf unter 60 000 für unumgänglich an. Allein die DASA hat insgesamt über 10 000 Arbeitsplätze zur Freisetzung angekündigt, wovon etwa 2 500 auf den militärischen Bereich, 6 500 auf den zivilen und hier wiederum hauptsächlich auf den Airbus-Bereich, 670 auf den Raumfahrt- und 530 auf den Triebwerksbereich entfallen sollen. Berücksichtigt man darüber hinaus den riesigen Bereich der Zulieferer, dann multiplizieren sich diese Zahlen sogar. Sie zeigen, daß der Einbruch nicht nur von der militärischen Seite kommt, sondern in besonderem Maße auch von der weltweiten Flaute der zivilen Luftfahrt herrührt.
({0})
Meine Damen und Herren, schon aus ordnungspolitischen Gründen kann selbst bei einer solchen Situation der Bund bzw. die Politik keine Unternehmensentscheidungen treffen.
Ich halte es auch, ehrlich gesagt, für verkehrt, wenn sich nun einzelne betroffene Bundesländer in einen Hilfswettlauf für einzelne Produktionsstandorte hineinbegeben, indem beispielsweise Kostenübernahmen z. B. für den Betrieb von Flugfeldern zugesagt werden.
({1})
Das löst, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, die Probleme ihrem Grunde nach nicht.
Die Unternehmen der Luft- und Raumfahrt müssen auch selbst unternehmerische Konzepte entwickeln
({2})
- ich danke für diese Zustimmung - und dabei, soweit es sich um verteidigungspolitisch bedingte Strukturveränderungen auf dem Markt handelt, auch entsprechende unternehmerische Strukturveränderungen vornehmen. Natürlich ist auch die politische Seite gefordert.
Es geht schließlich nicht nur um Arbeitsplätze, sondern auch um das gesamtwirtschaftliche und technologiepolitische Anliegen, in diesem wichtigen Segment der Weltwirtschaft als Deutsche eine Spitzenstellung zu verteidigen.
({3})
Dies geht nur, meine Damen und Herren, wenn wir konsequent und konzentriert in diesen Sektor hoher Wertschöpfung und großer Zukunftsperspektiven hinein investieren, anstatt verlorene Subventionen an überkommene Industrien des 19. Jahrhunderts zu verschleudern.
({4})
Unter wirtschaftspolitischem Aspekt ist rasches Handeln in mehrerlei Hinsicht geboten. Vieles ist gesagt worden. Ich möchte noch einmal die Privatisierung im Bereich der Instandsetzungsarbeiten bei der Luftwaffe unterstreichen. Wir müssen ganz besonders schnell und ohne Furcht die puritanische Abstinenz Deutschlands in Fragen des Exports von Rüstungs-
und Dual-use-Gütern überdenken.
({5})
Wir müssen mit Dringlichkeit prüfen, ob nicht auch EG-Strukturfonds zur Förderung der europäischen Luftfahrtindustrie herangezogen werden können. Aber wir müssen neben solchen Handlungsfeldern auch andere Fragen von strategischer Tragweite kritisch prüfen. Insbesondere ist hier die Wirtschaft selbst gefragt.
Warum beispielsweise findet zivile Fluggeräteinstandsetzung immer weniger in Deutschland statt?
({6})
Oder: Wie handeln wir auf den großen Wachstumsmärkten der zivilen Luftfahrt - China etwa? Wie bestehen wir den Wettbewerb nicht nur heutigen Konkurrenten, sondern auch ganz neuen Konkurrenten gegenüber? Ich denke beispielsweise an das zwischen Korea, der Volksrepublik China und Singapur geplante Gemeinschaftsunternehmen zur Produktion eines Asien-Airbusses.
Muß in dieser globalen, immer schärferen Wettbewerbssituation nicht auch einmal die heutige Konstruktion des europäischen Airbus-Konsortiums hinsichtlich seiner gesamten Kostenwirtschaftlichkeit und wirklichen gesamtunternehmerischen HandDr. Peter Ramsauer
lungsfähigkeit unter die Lupe genommen und gefragt werden,
({7})
ob diese lose, genossenschaftsähnliche „Interessengemeinschaft nach französischem Recht" - so heißt es wörtlich übersetzt - noch die Antwort auf den immer härteren internationalen Anbieterwettbewerb sein kann oder ob nicht eine neue, zugegebenermaßen weniger oder gar nicht mehr politisch bestimmte Unternehmensform der Weg der Zukunft ist?
Kostennachteile etwa dadurch, daß mit teuren Transporten Flugzeugteile quer durch Europa an einen nur politisch als opportun erscheinenden Montageort gebracht werden, können wir uns, glaube ich, nicht mehr oder zumindest nicht mehr lange leisten.
({8})
Die Umwandlung des europäischen Airbus-Konsortiums in eine Kapitalgesellschaft, die die Flugzeuge dann dort bauen lassen kann, wo sie am preiswertesten zu produzieren sind, muß auch von der Wirtschaft selbst vorgenommen werden. Die Politik sollte dazu allerdings Überzeugungsarbeit leisten.
Ich danke Ihnen.
({9})
Als nächster spricht der Kollege Hans Büttner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch der Ablauf der jetzigen Debatte hat erneut gezeigt: Die Parteien der Bonner Regierungskoalition sowie der Leitung des Daimler-Konzerns sind die Hauptverantwortlichen für die drastischen Arbeitsplatzverluste in der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie.
({0})
Ich sage Ihnen auch, warum: weil diese Parteien, CDU/CSU und F.D.P. - bisher im Gegensatz zu den USA, Japan und Frankreich - auf eine eigenständige Industrie- und Technologiepolitik verzichtet haben. Die Investitionsentscheidungen dieser Regierung sind zufällig, planlos und für die Unternehmen der Luft- und Raumfahrtindustrie kaum planbar.
({1})
Die Unternehmensleitung des Daimler-Konzerns hat bei der Bildung eines im europäischen Verbund arbeitenden deutschen Raumfahrtkonzerns entscheidende Fehler gemacht. Die von der Arbeitnehmervertretung der DASA wiederholt beklagte organisatorische Aufsplitterung der Bereiche Hubschrauber, ziviler und militärischer Flugzeugbau sowie Raumfahrt haben dazu geführt, daß vorher vorhandene Synergieeffekte bei der Planung und Entwicklung zumindest für den Standort Deutschland verlorengehen werden. Dies mag zwar für Daimler gut sein, für den Standort Deutschland und die Erhaltung hochqualifizierter Arbeitsplätze ist es das mit Sicherheit nicht.
Für den bayerischen Bereich kommt hinzu - diese Kritik kann ich der Staatsregierung nicht ersparen -, daß sie nach der Änderung der militärischen Situation in Europa ihre vorhandene Einflußnahme über die Anteile bei MBB nicht genügend genutzt hat, um eine ausgewogene Produktionsstruktur zu erhalten.
Über 16 000 Arbeitsplätze, ein Viertel der Gesamtbeschäftigten der DASA, werden infolge gemeinsamer Fehlentscheidungen von Koalition und Daimler bis 1996 verlorengehen. Beide, Regierung und Daimler, sind deshalb aufgefordert, unverzüglich mit den Bundesländern Alternativen zu entwickeln. Die Verpflichtung von Daimler ergibt sich auch auf Grund der Tatsache, daß von 1989 bis 1992 über 2 Milliarden DM Entwicklungskosten allein für die Airbusindustrie aus Steuermitteln aufgebracht wurden.
Erforderlich sind aus unserer Sicht fünf Punkte:
Erstens. Eine klare, mit allen gesellschaftlichen Gruppen unseres Landes abgestimmte Definition der Technologie- und Industriefelder, in denen die deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie in den nächsten Jahren tätig sein soll. Dazu gehört auch ein für zehn Jahre zuverlässiger Rahmenplan, der Inhalte und den finanziellen Spielraum staatlicher Auftragsvergabe und Fördermittel festschreibt.
({2})
Zweitens. Eine Zweckbindung solcher Fördermittel an regionalpolitische und strukturpolitische Gegebenheiten, um eine arbeitsplatzorientierte Luft- und Raumfahrt in Deutschland zu garantieren.
({3})
Ich sage deutlich: Staatliche, wirtschaftspolitische Initiativen, die lediglich die Kapitalflexibilität deutsche Namen tragender Unternehmen erhöhen, Arbeitsplätze im eigenen Land jedoch nicht schaffen, sondern vernichten, wären nicht gerechtfertigt.
({4})
Drittens. Die Bundesregierung muß endlich ein neues Streitkräftekonzept für die Bundeswehr vorlegen, auf dessen Grundlage ein neuer nationaler Konsens über die Aufgabenstellung der Bundeswehr erfolgen kann. Dieser Aufgabe ist die Hardthöhe bis heute nicht nachgekommen. Erst ein solches verläßliches Konzept nämlich macht Entscheidungen möglich, welche Flugzeuge in welchem Zeitraum erforderlich sind und auch finanzierbar angeschafft werden können. Erst ein solches Konzept erlaubt der Luft- und Raumfahrtindustrie ein planbares und steuerbares unternehmerisches Handeln.
Viertens. Solange es in Deutschland Streitkräfte gibt, werden sie auch technische Ausrüstung brauchen. Im Gegenteil, in der Zukunft um so mehr, je kleiner die Streitkräfte sein werden. Es muß deshalb selbstverständlich bleiben, daß ein möglichst großer Teil der Ausrüstung solcher Streitkräfte im eigenen Land produziert werden kann,
({5})
nicht zuletzt deshalb, damit auch die für uns Sozialdemokraten als unabdingbar geltende Rüstungsexportkontrolle auf diesem Weg wenigstens einigermaßen überwacht und eingehalten werden kann. Wer jetzt allerdings - wie einige CSU-Politiker hier - Rüstungsexporte und gleichzeitig den weltweiten
Hans Büttner ({6})
Einsatz der Bundeswehr fordert, der darf sich nicht wundern, wenn man ihm unterstellt, er wolle zur Förderung der heimischen Wirtschaft weltweit Kriege entfachen und sie dann durch die Bundeswehr wieder löschen helfen,
({7})
sozusagen das Perpetuum mobile der Wirtschaftsförderung auf Kosten von hunderttausend Menschenleben.
Fünftens. Zur kurzfristigen Abfederung des mittelfristigen Konzepts muß die Bundesregierung die staatlichen Instrumentarien für einen sozialverträglichen Strukturumbau beibehalten. Wir fordern sie auf, im Vermittlungsausschuß die von ihr vorgesehenen Kürzungen bei Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe zurückzunehmen, um Sozialpläne weiter möglich zu machen.
({8})
Wir fordern sie auf, mitzuhelfen, daß insgesamt notwendiger Abbau vorhandener Überkapazitäten z. B. im Bereich der zivilen Flugzeugwartung bei Lufthansa und in anderen Bereichen sozialverträglich gestaltet und vorgenommen werden kann.
Die Bundesregierung muß auch durch die Erhöhung der Steuerfreibeträge und einen Ersatz der Kinderfreibeträge durch ein einheitliches Kindergeld von 250 DM dafür sorgen, daß die Tarifparteien der Luft- und Raumfahrtindustrie auch über flexible Arbeitszeiten und Arbeitsplätze verhandeln können. Denn kürzere Individualarbeitszeiten bei verlängerten Betriebsnutzungszeiten
Die Redezeit ist beendet.
- werden auch im Bereich der Luft- und Raumfahrtindustrie notwendig sein, um Hochtechnologie und Arbeitsplätze dauerhaft zusammenhalten zu können.
Danke.
({0})
Als letzter in der Aktuellen Stunde der Kollege Dr. Kurt Faltlhauser.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach der Demonstration gestern in der Nähe des Bundeshauses habe ich mich mit einigen Arbeitnehmern des DASA-Werkes Neuaubing, die mit einigen Bussen angereist waren, über die Struktur ihres Unternehmens und über das, was sie tun, vertieft unterhalten.
Die Struktur dieses Unternehmens sieht so aus: genau 1 161 Mitarbeiter, davon etwa gut 800 hochqualifizierte Facharbeiter, keine Älteren, eine junge Mannschaft, kaum Verwaltung, kein „Overhead", wie man neudeutsch sagt. Also das Idealbild dessen, was das Ergebnis unserer weltweit als Vorbild geltenden Berufsausbildung ist: hochqualifizierte Facharbeiter, hochkonzentriert und ein Musterbeispiel von „lean production", wie man so schön sagt, von abgespeckter Produktion. Um so erstaunter bin ich, daß dieses Werk auf Vorschlag der DASA-Führung sehr schnell geschlossen werden soll und daß diese qualifizierten Mitarbeiter dies aus der Zeitung erfahren mußten.
Dann habe ich mir angehört, was sie tun, habe es mir auch schon angesehen. Da gibt es eine Kunststofformungsanlage, die modernste Europas, mit einem 10 m tiefen Kühllager; das hat 80 Millionen DM gekostet und ist noch gar nicht fertig. Mit dieser Investition sind sie in der Qualität und im Preis in Europa sicherlich konkurrenzlos, also besser als alle anderen denkbaren Anbieter. Daher fand ich diese schnelle Meldung an die Öffentlichkeit, daß dieses Werk geschlossen werden muß, sehr erstaunlich.
Es ist wohl richtig, daß sich die Politik - Peter Ramsauer hat das betont - nicht so ohne weiteres in betriebswirtschaftliche Entscheidungen einmischen soll. Da würden wir eine Grenzüberschreitung vollziehen, die nicht verträglich wäre.
Ich will hinzufügen: Manchmal bekommt man von den Managern ein Schulterklopfen, das besagt: Davon habt ihr keine Ahnung. Von der Kompetenz her bin ich daher etwas zurückhaltend. Ich rede von der Zuständigkeit.
Die Politik kann sehr wohl darauf hinweisen, daß auch betriebswirtschaftliche Entscheidungen Rationalität brauchen - zumal in Unternehmen, die in erheblichem Maße von Steuergeldern leben - und daß diese Rationalität auch transparent gemacht werden muß, sowohl gegenüber der Politik als auch gegenüber den Mitarbeitern.
({0})
Ich kann für den Standort Neuaubing ebenso wie für Lemwerder, was ich nicht so gut beurteilen kann, diese Rationalität und diese Transparenz nicht erkennen. Hier haben diese modernen Manager eine Aufgabe, die weit über das allein Betriebswirtschaftliche hinausgeht.
Die Politik hat sicherlich auch ihre Verantwortlichkeit. Bei der staatlichen Auftragsvergabe muß langfristige Berechenbarkeit vorhanden sein. Hier kritisiere ich ausdrücklich die unübersichtliche Situation, z. B. bei der möglichen oder nicht möglichen Bestellung und bei der zeitlichen Dimensionierung des Eurofighter 2000, der dieses Unternehmen in erheblichem Maße angeht. Sicherlich ist auch die Wirtschaft in erheblichem Maße schuld; der Flieger fliegt ja noch gar nicht.
({1})
Die Preisverhandlungen sind von den Unternehmen auch sehr zögerlich geführt worden. Ich persönlich hätte mir gewünscht - die CSU hat hieran nie einen Zweifel gelassen -, daß eine Entscheidung für diesen Eurofighter möglichst früh, 1993 oder 1994, fallen würde.
({2})
Grotesk ist es natürlich schon, liebe Kollegen von der SPD, wenn Sie hier sagen: Da müssen Arbeitsplätze geschaffen werden. Frau Kollegin Janz, ich bin ein bißchen länger in diesem Haus. Ich habe im Bundestag die Häme und die Kritik miterleben müssen, mit der Franz Josef Strauß überzogen wurde, als er in Permanenz den Airbus durchsetzte,
({3})
der sowohl in Bremen als auch in München die Arbeitsplätze schafft.
Wir hören hier täglich die Kritikpunkte am Eurofighter 2000, am Jäger 90. Frau Matthäus-Maier hat ihn schon zehnmal an dieser Stelle mit irgend etwas anderem verrechnet.
({4})
Wir hören auch in Permanenz von Ihnen, daß der Haushalt des Verteidigungsministeriums, der ohnehin schon so stark heruntergefahren wurde, noch weiter abgespeckt werden soll. Also müssen Sie sich entscheiden: entweder so oder so. Man kann nicht auf der einen Seite die Aufträge nicht vergeben und auf der anderen Seite von Konzepten schwafeln.
({5})
- Nun gut, Sie wissen, daß es so ist; es ist ja auch belegbar.
Ich habe noch ein anderes Problem.
Ja, aber Ihre Redezeit ist beendet.
Schade. Ich hätte, Frau Präsidentin, nämlich gern noch auf die Diskrepanz der Förderung der alten Strukturen - erst in dieser Woche noch einmal beschlossen: 7 Milliarden DM für die Kohle - und den zukunftsfähigen Strukturen, nämlich der Luft- und Raumfahrt, hingewiesen.
Ich meine, daß wir für die Entscheidungen, über die wir heute diskutieren, vor allem Zeit gewinnen müssen. Die Zeithorizonte müssen rüber, damit die Transparenz der Entscheidungen dieses Unternehmens auch vor der Politik besser dargelegt werden können und wir dann gemeinsam mit ihnen entscheiden können.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Thomas Kossendey hat aus Krankheitsgründen seine Rede zu Protokoll gegeben.') Sind Sie einverstanden? - Wenn sich kein Widerspruch regt, ist das angenommen.
Ich schließe damit die Aktuelle Stunde. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Frauen und
Jugend ({0}) zu dem Antrag der
s) Anlage 2
Abgeordneten Ina Albowitz, Dr. Gisela Babel, Angelika Barbe und weiterer Abgeordneter
Kinderbericht der Bundesregierung
- Drucksachen 12/4388, 12/5811 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Margret Funke-SchmittRink
Dr. Sissy Geiger ({1})
Wilhelm Schmidt ({2})
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste spricht unsere Kollegin Dr. Sissy Geiger.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich wollte nur kurz darauf hinweisen: Heute ist der 11. 11., und mein Redebeitrag hat genau 888 Wörter.
({0})
Schon im März haben wir den Antrag der SPD zur Forderung nach einem eigenen Kinderbericht abgelehnt. Wir haben unsere Meinung nicht geändert.
({1})
Ein eigener Kinderbericht hieße meiner Meinung nach, wir würden den Grundgedanken aufgeben, nach dem die Familie die Urzelle der menschlichen Gemeinschaft ist.
({2})
Gerade Kinder kann man nicht isoliert betrachten, auch wenn in der Antragsbegründung zu lesen ist, die Kinder in unserer Gesellschaft sind großen Benachteiligungen ausgesetzt usw.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren Kollegen und Kolleginnen von der SPD, wie nach Ihren Vorstellungen ein gesonderter Kinderbericht möglich sein soll, der alle zwei Jahre zusammen mit dem Familienbericht vorgelegt werden soll und in dem von den Rechten der Kinder über Fragen des Sorgerechts bis hin zur Förderung der Arbeit von Jugendverbänden für und mit Kindern die spezielle Lebenssituation der Kinder im vereinigten Deutschland betrachtet werden soll. Allein aus praktischen Gründen ist das schon nicht zu leisten.
Deshalb haben wir auch schon im März vorgeschlagen, den Jugendbericht um eine Darstellung der Situation der Kinder in der Bundesrepublik zu ergänzen. Die Fraktion der CDU/CSU ging von einer ganzheitlichen Betrachtungsweise der Familie aus und befürchtete, eine isolierte Betrachtungsweise einzelner Mitglieder eines Familienverbandes begünstige Auflösungstendenzen in der Familie.
({3})
Kinder dürften nicht nur als Erziehungsobjekte, sondern müßten als eigenständige Wesen betrachtet werden. Dafür sei jedoch kein eigenständiger Kinderbericht notwendig, sondern die Lebenswelt der Kin16336
Dr. Sissy Geiger ({4})
der sollte in den Familien- und Jugendberichten hinreichend dargestellt werden.
Ich rufe noch einmal in Erinnerung: Am 26. Januar 1990 hat die Bundesregierung die UN-Kinderkonvention unterzeichnet. Sie ist am 5. April 1992 in Kraft getreten. Seit 1988 gibt es die sogenannte Kinderkommission.
({5})
- Doch, die Kinderkommission arbeitet sehr verdienstvoll.
({6})
Sie versteht sich als Lobby der Kinder.
Trotzdem kann ich mich nicht der Forderung nach einem eigenen Kinderbericht anschließen, denn zu viele Faktoren, die mit in Erwägung gezogen werden müssen, spielen in einem Kinderleben mit.
Da ist zunächst die demographische Entwicklung zu berücksichtigen. Es werden weniger Kinder geboren, aber immer mehr Kinder sind Einzelkinder oder wachsen mit nur einem Elternteil auf. Immer weniger Kinder werden von Großeltern mitbetreut, obwohl es immer mehr alte Menschen und auch relativ gesunde alte Menschen gibt. Immer mehr Kinder müssen in öffentlichen oder privaten Einrichtungen oder von Tagesmüttern betreut werden, weil eben die Situation ihrer Mütter und Väter einbezogen werden muß, weil die Reibungspunkte zwischen Familie und Beruf eine Rolle spielen.
({7})
- Ich lese hin und wieder nebenbei noch andere Dinge, Herr Schmidt.
Die Einbeziehung der Familiensituation ist besonders wichtig bei der Betrachtung der Lage ausländischer Kinder und Jugendlicher.
({8})
Natürlich gibt es auch Faktoren, die ein Kinderleben besonders beeinträchtigen, die Verkehrsentwicklung z. B., die für viele Kinder die Spielmöglichkeiten im Freien einschränkt, oder der Einfluß der Medien mit ihren maßlosen Darstellungen über Gewalt oder mit ihren Verführungskünsten zur Konsumorientierung.
({9})
Durch diese beiden letzten Faktoren müssen die Kinder in der ehemaligen DDR besonders gelitten haben, weil sie erst jetzt langsam lernen konnten, wie man damit umgeht.
({10})
- Sie können das in der Zeitschrift „Parlament" nachlesen, Frau Kollegin. - Allerdings geht aus der Untersuchung „Kindheit im Umbruch - Biographien
ostdeutscher Kinder" vom Juni 1993, hervor, daß sich in dem „forciert einsetzenden Modernisierungs- und Transformationsprozeß in der ehemaligen DDR" die ostdeutschen Kinder im Bereich der Mediennutzung und der kulturellen Orientierung rasch angeglichen haben, so daß auch hier keine gesonderte Untersuchung nötig zu sein scheint.
Was wir aber brauchen, meine Damen und Herren, ist in der Tat ein Bericht, in dem die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen in ihrem Umfeld untersucht wird. Wir brauchen Erkenntnisse darüber, warum die Kindererziehung immer noch nicht ihrer Bedeutung entsprechend bewertet wird, so daß sich z. B. auch gut ausgebildete Männer bzw. Väter ihr freiwillig widmen, warum noch immer keine adäquate Berücksichtigung der veränderten Einstellung zur Erwerbstätigkeit beider Eltern stattfindet.
Frau Geiger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Konrad Weiß?
Ich möchte gerne meinen Beitrag zu Ende bringen, weil ich sonst keine Redezeit mehr habe.
Das wird Ihnen nicht angerechnet.
Bitte schön.
Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, daß in der DDR jährlich drei bis vier Spielfilme für Kinder und etwa 15 bis 20 Dokumentarfilme für Kinder mit einem Aufwand von jährlich bis zu 20 Millionen Mark produziert wurden, daß es ein Kinderfernsehen gegeben hat, das eine sehr gute Produktion hatte, nicht nur Indoktrination? Wissen Sie, daß es Kinderplatten und einen Kinderbuchverlag gegeben hat,
({0})
wo Bücher erschienen sind, die auch von westdeutschen Verlagen übernommen wurden? Man darf das wirklich nicht so einfach betrachten. Es gab in der DDR auch eine vernünftige Medienlandschaft, und DDR-Kinder sind zur Wende keine Medienanalphabeten gewesen.
({1})
Ich habe ja von den negativen Auswirkungen gesprochen, Herr Kollege, denen diese Kinder nicht ausgesetzt waren. Deswegen habe ich darauf hingewiesen, daß es leider Gottes so ist, daß diese Kinder damals eben damit keine Erfahrung machen konnten, aber sich sehr schnell angeglichen haben. Das wollte ich damit sagen. Deswegen bedarf es dazu keiner eigenen Untersuchung.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Krause ({0})?
Wenn es sein muß.
Das entscheiden Sie.
({0})
Frau Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß über die Hälfte der Kinder in der DDR Westfernsehen sehen konnten, aber die meisten infolge der Wahlmöglichkeit lieber die Sendungen ohne Gewaltdarstellungen, ohne Pornographie und ohne Verführungskünste vorgezogen haben?
Herr Kollege, ich kann das nicht nachprüfen. Es gibt darüber, glaube ich, keine Untersuchung.
({0})
Wenn Sie erlauben, möchte ich in meinem Bericht fortfahren. Ich möchte den Kollegen ermöglichen, nicht zu spät nach Hause zu kommen.
Ich möchte gerne noch feststellen, daß wir eine Untersuchung darüber brauchen, warum noch immer keine adäquate Berücksichtigung der veränderten Einstellung zur Erwerbstätigkeit beider Eltern stattfindet. So besteht z. B. kein ernsthafter Wille bei Industrie, Wirtschaft und Gewerkschaften, aktiv nachzudenken über verschiedene Modelle von Kinderbetreuungsmöglichkeiten, eine familienfreundlichere Gestaltung der Arbeitswelt durch mehr Teilzeitangebote oder wenigstens, was nicht viel kosten könnte, die Öffnung der diversen Kantinen für die Kinder der Mitarbeiterinnen.
({1})
Wir brauchen auch Erkenntnisse über die Möglichkeiten, wie man bei Kindern die Entwicklung der Kreativität fördern kann, was in den meisten Schulen dank einer rein analytischen Bildungsauffassung sträflich vernachlässigt wird.
({2})
Wir brauchen eine Erziehung, bei der der Mensch wieder im Mittelpunkt steht, bei der man selbstverständlich gesunde Ernährung, die Schonung der Umwelt und ein menschenwürdiges soziales Verhalten mitbekommt.
Wir brauchen verantwortungsbewußte Lehrer, meine Damen und Herren, die die Kinder zu Toleranz Andersdenkenden gegenüber erziehen. Das gelingt am besten durch einen hervorragenden Geschichtsunterricht, der nicht anhand politisch relevanten Tagesgeschehens zerstückelt präsentiert wird.
Wir brauchen verantwortungsbereite Eltern, die sich zu ihren Kindern bekennen und auch einmal Probleme durchstehen können.
Die Arbeitsgemeinschaft für Jugendliche, AGJ, hat sich in einem sehr guten Papier stark gemacht für die Rechte des Kindes und für einen eigenen Kinderbericht. Allerdings schlägt sie am Ende ihres Papieres vor - ich zitiere -, „aus praktischen und vor allem inhaltlichen Erwägungen die Federführung bei derselben Stelle anzusiedeln wie beim Jugendbericht der Bundesregierung". Das ist aber, praktisch gesehen, das gleiche wie unser Vorschlag, den Jugendbericht der Bundesregierung zu erweitern um eine Darstellung der Situation der Kinder in Deutschland. Dieser Bericht ist alle vier Jahre zu geben. Ich würde mich freuen, wenn dieser Bericht eine breite öffentliche Diskussion über die Situation der Kinder und Jugendlichen in Deutschland auslösen würde.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, jetzt hat unser Kollege Wilhelm Schmidt ({0}) das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als die Frau Kollegin Dr. Geiger eben die Begründung für die Ablehnung des Kinderberichts gegeben hat, hat sie sich mehrfach an die SPD-Fraktion gewandt. Frau Dr. Geiger, ich will Sie darauf aufmerksam machen, daß das kein Antrag der SPD-Fraktion ist. Dies ist ein interfraktioneller Antrag, was sehr selten in diesem Hause vorkommt, von mehr als 100 Abgeordneten aller Fraktionen und Gruppen, der dazu beitragen sollte, die Politik für Kinder, die im Bundestag zu formulieren ist, auf eine neue Grundlage zu stellen.
Sie tun so, als ob Sie gegen die Opposition angehen müßten. Brauchen Sie gar nicht. Wir haben zwar zum überwiegenden Teil die Unterschriften für diesen Antrag geleistet, aber er ist z. B. - und das ist eine wichtige Information, vielleicht auch wegen der Bedeutung der Kinderkommission, die Sie angesprochen haben - auf einen einstimmigen Beschluß der Kinderkommission zurückzuführen, in der Mitglieder aus allen Fraktionen und Gruppen vertreten sind.
({0})
Lange Rede, kurzer Sinn: Erstens haben Sie sich da schon einmal vergaloppiert.
Zweitens will ich zur Sache etwas sagen. Es ist so - das zeigen Sie zum wiederholten Mal, wie schon bei der ersten Lesung -, daß Sie offensichtlich überhaupt nicht bereit und in der Lage sind, Ihre ideologischen Barrieren zu überwinden.
({1})
Es ist völlig klar, daß Sie dies alles nur aus dieser ideologischen Verbrämung heraus zu verdrängen versuchen, was für Kinder eigentlich wichtig ist. Warum sind denn Kinder bei Ihnen nur ein Teil der Familie? Warum sind denn Kinder nicht auch selbstbestimmte Persönlichkeiten? Warum sind sie denn nicht auch Träger von eigenen Rechten?
({2})
Wilhelm Schmidt ({3})
Wollen Sie dies einfach nicht wahrhaben? Wollen Sie die Entwicklung in unserer Gesellschaft an dieser Stelle überhaupt nicht registrieren und umsetzen, die darauf hinausläuft, daß Kinder tatsächlich, wie Sie übrigens mit Blick auf die UNO-Konvention über die Rechte des Kindes selbst angedeutet haben, auch Träger eigener Rechte nicht nur sein sollten, sondern tatsächlich sind? Dies muß durch einen solchen eigenständigen Kinderbericht einmal aufgearbeitet werden. Das ist unsere Auffassung. Aber Sie kommen über Ihre ideologischen Barrieren nicht hinweg. Das bedauere ich außerordentlich.
Dies zog sich ja bedauerlicherweise schon wie ein schwarzer Faden durch alle Ausschußberatungen in den vergangenen Monaten, trotz des Widerstands vieler engagierter Frauen und Männer in diesem Parlament, insbesondere der Mitglieder der Kinderkommission, die sich in dieser Frage auch einig sind. Es ist schon ganz interessant, daß Sie heute dem Kollegen Werner als Ihrem Vertreter der CDU/CSU in der Kinderkommission gewissermaßen das Wort verboten haben, ihn nicht reden lassen und er zu dieser Frage hier nicht Stellung nehmen kann.
({4})
Ich finde es schon sehr interessant, was bei Ihnen alles passiert und wie diese Dinge in ein rechtes Licht gerückt werden.
({5})
- Ich sage Ihnen das so, wie es ist.
Dies hat noch etwas anderes zur Folge. Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und auch von der F.D.P., geben uns, dem ganzen Parlament, keine Chance zu einer vernünftigen Bestandsaufnahme. Frau Geiger hat selbst eine ganze Reihe von Parametern genannt, die endlich einmal aufgearbeitet werden müssen. Sie ist offensichtlich selbst unsicher, wie die Lebenswelt der Kinder in unserem Land aussieht, welche Rolle sie in der Verkehrspolitik oder in der Umweltpolitik angesichts von 3 Millionen allergiekranken Kindern spielen, wie sie beispielsweise angesichts von mehreren hundert verkehrstoten Kindern in jedem Jahr mit diesem Phänomen umgehen. Das muß doch einmal zusammengetragen werden, damit wir alle gemeinsam endlich so etwas wie eine Gesamtsituationsbeschreibung haben, von der aus wir dann in Ruhe ohne ideologische Barrieren eine Aufarbeitung mit dem Ziel vornehmen könnten, eine neue, eine intensive, eine aktive Kinderpolitik zu formulieren.
({6})
Dies alles wollen Sie offensichtlich nicht.
Statt dessen - dieses Stichwort ist in anderem Zusammenhang schon gefallen - haben Sie in diesen Tagen beispielsweise eine andere Gruppe in dieser Gesellschaft, nämlich die alten Menschen, sehr deutlich herausgehoben. Da spielt es überhaupt keine Rolle mehr, ob sie Mitglied einer Familie sind oder nicht. Die Alten werden in einem Altenbericht - den haben Sie zugelassen - auf Hochglanzpapier gefeiert. Warum, Frau Dr. Geiger? Um es Ihnen ins Bewußtsein zu heben: Weil dort Wählerstimmen zu holen sind. Bei Kindern sind keine Wählerstimmen zu holen. Darum bemühen Sie sich um diese Gruppe in der Gesellschaft bedauerlicherweise überhaupt nicht.
({7})
Wählerfang ist bei der CDU/CSU offensichtlich immer noch das höchste Motiv. Eine objektive Politik ist überhaupt nicht angesagt.
Die Frage, wie Sie mit den einzelnen Themen in dieser Gesellschaft, die die Kinder berühren und betreffen, umgehen, spielt für Sie eine nachgeordnete Rolle. Dies wird alles zunächst unter dein Deckmantel von ideologischen familienpolitischen Aspekten gesehen. Das ist einfach zu kurz gesprungen, will ich Ihnen sagen. Das ist wirklich nicht ausreichend.
Hören Sie sich die vielen Verbände und Organisationen an. Sie haben der Kinderkommission des Bundestages z. B. im Rahmen der Debatte um den Kinderbericht zugestimmt, daß dies notwendig ist. Wir wollen alle gemeinsam, die Verbände, die Organisationen, die sich um die Kinder in diesem Lande bemühen, darum ringen, daß wir die entsprechenden Grundlagen zusammengetragen bekommen. Mehr als hundert Organisationen haben uns in dieser Frage entsprechende Informationen gegeben. Wenn Sie beispielsweise die Information der AGJ, der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe, lesen, die wir vor einigen Wochen noch bekommen haben - sie hat sich als die weitestverbreitete Kinder- und Jugendorganisation im öffentlichen und im privaten Raum mit diesen Themen auseinandergesetzt -, dann würden Sie eine solche Rede heute nicht gehalten haben. Aber so etwas wird von Ihnen alles ignoriert.
Meine Damen und Herren, dies ist aber auch eine Verfahrensweise, wie wir sie bei der CDU/CSU in den letzten Wochen und Monaten häufiger zu spüren bekommen haben. Ich bedaure dies zutiefst. Wir haben eine ähnliche Verhaltensweise auch schon im Zusammenhang mit der Ratifizierung der UNO-Konvention über die Rechte des Kindes hier im Hause gespürt. Ich erinnere nur daran, daß Sie mit Ihrer Mehrheit durchgesetzt haben, daß diese UNO-Konvention nur eingeschränkt, nur mit einer Zusatzerklärung ratifiziert worden ist und daß in diese Zusatzerklärung eine ganze Reihe von zu berücksichtigenden Faktoren aufgenommen worden sind, die bei der Umsetzung der UNO-Konvention keine Rolle spielen sollen. Ich nenne nur das Ausländerrecht für Kinder, an das Sie sich überhaupt nicht heranwagen wollen, ich nenne das Kindschaftsrecht, das Sorge- und Umgangsrecht für Nichteheliche und andere, bei denen Sie Ihre ideologischen Barrieren in einer ganz bestimmten Weise auch wieder nicht zu überwinden können scheinen.
Ich will dies in einen Zusammenhang stellen; denn in diesen Tagen wird eine noch viel wichtigere Materie besprochen. Das ist die neue deutsche Verfassung. Auch dort haben Sie hinsichtlich der Frage, ob in die neue deutsche Verfassung denn auch Kinderrechte Eingang finden könnten, zunächst den Anschein erweckt, als wenn das positiv geregelt werden könnte. Was ist das Ende vom Lied? Seit einigen Wochen
Wilhelm Schmidt ({8})
wissen wir: Die CDU/CSU wird den Vorschlägen, die von vielen Fachleuten in der Anhörung am 9. Dezember 1992 hier im Hause gekommen waren, nicht folgen. Sie wird damit natürlich auch nicht den Antrag, den die SPD in den nächsten Wochen einbringen wird, unterstützen, so daß auch im neuen Grundgesetz, in der neuen Verfassung Kinderrechte keine Berücksichtigung finden werden.
({9})
Dies paßt alles genau in die Richtung, die ich heute im Zusammenhang mit dem Kinderbericht zu kommentieren habe. Ich beklage zutiefst, daß Sie tatsächlich eine neue strukturkonservative, ideologisch außerordentlich belastete Familien-, Kinder- und Jugendpolitik in diesem Hause fahren wollen. Das spricht doch wirklich in der Öffentlichkeit mittlerweile deutlich Bände.
Ich will, meine Damen und Herren, Sie aber auch konfrontieren mit dem, was Sie denn aus Kinder- und Jugendpolitik zur Zeit machen. Da wird dann herumgewurstelt. Da wird einmal eine Plakataktion unterstützt oder gefördert oder sogar selbst initiiert. Da wird einmal ein kleines Sonderprogramm, an dem drei oder vier Städte in Deutschland partizipieren können, auf den Weg gebracht, ohne daß damit ein allgemeiner Nutzen verfolgt werden kann; von der Frage, ob so etwas dann auch auf andere als Modellprojekt übertragen werden kann, ganz zu schweigen.
Es sind also immer nur diese Wursteleien, die Sie in der Kinder- und Jugendpolitik vonstatten gehen lassen. Dies darf nicht weiter über die Bühne gehen. Dagegen werden wir uns in der Kinderkommission wehren.
Apropos Kinderkommission: Meine Damen und Herren, Sie sollten sich wirklich auch ernsthaft fragen, ob Sie das, was wir einmal alle gemeinsam, zum Teil vor dieser Legislaturperiode, auf den Weg gebracht haben, nämlich die Einrichtung einer solchen Kommission zur Wahrnehmung der Belange der Kinder im Deutschen Bundestag, noch weiter ernst nehmen, ob Sie wirklich bereit sind, richtige Kinderpolitik in diesem Hause, wenn es denn konkret wird, zu unterstützen. Wir wissen mittlerweile auch in der Kinderkommission, daß wir bei vielen, gerade auch in den Mehrheitsfraktionen, in den Regierungsfraktionen, mehr und mehr als Alibi angesehen werden. Nichts anderes spielt sich bei Ihnen in den Köpfen ab.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Ich lasse mich j eden-falls als Alibi für Ihre Interessen, noch dazu für Ihre fehlgeleiteten Interessen, überhaupt nicht mißbrauchen. Wir sollten auch in der nächsten Zeit über die grundsätzliche Frage nach dem Sinn oder Unsinn einer Kinderkommission gerade in diesem Bundestag diskutieren.
Lange Rede, kurzer Sinn:
({10})
Wir können und werden das, was die Ausschüsse in dieser Frage mit der Mehrheit der Regierungsfraktionen beschlossen haben, nicht akzeptieren. Wir werden die Frage „Kinderbericht" bei passender Gelegenheit auf die Tagesordnung des Bundestages zurückholen und heute deswegen die mit Mehrheit beschlossenen Anträge zurückweisen.
({11})
Meine Damen und Herren, unser nächster Redner ist der Kollege Norbert Eimer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich eine Aussage von meinem Kollegen Schmidt korrigieren. Die Erklärung zur UNO-Kinderkonvention wurde nicht von der CDU/CSU-Fraktion erzwungen, sondern von zwei Bundesländern. Dem Bundestag blieb auf Grund der Rechtslage gar nichts anderes übrig, als das hinzunehmen. Leider, sage ich dazu.
Der Antrag auf Vorlage eines eigenen Kinderberichts ist auch von mir unterschrieben worden, und ich stehe heute noch dazu. Auch wenn ich für meine Fraktion spreche, die den Antrag leider ablehnen wird, habe ich dennoch die Freiheit, darüber hinaus meine eigenen abweichenden Vorstellungen vorzutragen.
Alle, Befürworter und Gegner dieses Antrags, wollen das gleiche: eine Berichterstattung über die Situation der Kinder, beide sogar aus gleicher Motivation, wenn ich die Reden richtig verstanden habe. Da fordern die einen, den Familienbericht um die Situation der Kinder zu ergänzen, und die anderen, einen eigenständigen Kinderbericht in Verbindung - ich wiederhole: in Verbindung - mit dem Familienbericht vorzulegen. Ich kann nicht verstehen, daß unter diesen Bedingungen ein einstimmiger Beschluß nicht möglich ist. Ich fürchte, wir machen uns in der Öffentlichkeit lächerlich.
Die Befürchtungen von Gegnern dieses Gruppenantrags teile ich zum Teil; ich habe diese Befürchtungen oft genug geäußert. Nur ändert die Ablehnung an den Zuständen nichts. Ich will diese Befürchtungen, die auch meine sind, kurz aufzählen: Wir haben zu viele Berichte, sie sind zu lang, sie sind zu unübersichtlich, sie sind nicht lesbar und für Politiker nicht brauchbar, allenfalls für Wissenschaftler. Berichte, die wir brauchen, müssen so aufgearbeitet werden, wie in der Privatwirtschaft üblich, nämlich mit Fakten für die Entscheidungen, die anstehen. Wir müssen also zu weniger Berichten, zu kürzeren Berichten und vor allem zu lesbaren Berichten kommen.
Es ist ja leider oft so, daß, wer wenig zu sagen hat oder Gedanken nicht klar gliedern kann, viel schreibt. Wenn wir hier dem Kinderbericht bzw. dem Antrag zustimmen - mit „wir" meine ich auch meinen Kollegen Werner von der Kinderkommission - und es ändert sich nichts an der Form der Berichte, die uns vorgelegt werden, dann ist, meine Damen und Herren, diese Debatte umsonst.
Professor Fthenakis bereitet einen eigenen Kinderbericht vor. Er wird privat finanziert sein von Sponsoren aus der Wirtschaft, ohne staatlichen Einfluß. So werden wir einen eigenen Kinderbericht bekommen, wenn nicht über die Bundesregierung, dann über private Initiative.
Norbert Eimer ({0})
Ich habe die Hoffnung, daß dieser Bericht übersichtlicher werden wird, mit knappen Ergebnissen zur Entscheidungsvorbereitung und eventuell mit detaillierten Anlagen für Wissenschaftler und Fachleute, also ein Bericht, wie er in der Privatwirtschaft üblich ist. Vielleicht kann der kommende Kinderbericht ein Vorbild für die Berichte sein, die staatlicherseits initiiert werden.
({1}) - Ich hoffe es.
Wenn es hier trotz der Übereinstimmung im Grundsatz zu einer kontroversen Abstimmung kommt, so sehe ich in erster Linie parteitaktische Gründe und einen Zuständigkeitsstreit zwischen zwei Ministerien. Ich möchte von dieser Stelle aus an den Bundeskanzler appellieren: Legen Sie die Ministerien Familie und Senioren sowie Frauen und Jugend wieder zusammen. Ein gemeinsames Ministerium hätte uns diese kontroverse Abstimmung wahrscheinlich erspart.
Vielen Dank.
({2})
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserer Frau Kollegin Dr. Barbara Höll das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach den Ausschußberatungen und wie wir hier hören können, ist bereits klar, daß die Mehrheit der Regierungskoalition heute die Beantragung eines Kinderberichtes ablehnen wird. Die für mich erste und wichtigste Frage dabei ist: Was ist ein Bericht? Was soll damit bezweckt werden?
Ich muß sagen: Nach der Rede von Frau Dr. Geiger und nach den Ausschußberatungen, in denen man sich sogar zu dem Argument verstieg, daß ein Kinderbericht den Bestand der Familie bedroht - man muß sich einmal überlegen: ein Bericht könne reale Familienstrukturen zerstören -, hilft vielleicht ein Blick in den Altenbericht: Es „spiegelt sich in dem umfassenderen Auftrag an die Sachverständigenkommission des Ersten Altenberichts das veränderte Selbstverständnis der älteren Generation und das veränderte Bild von den Älteren in der Gesellschaft wider" . Es geht also wirklich um eine Wertschätzung. Es geht um eine konkrete Bestandsaufnahme veränderter Bedingungen.
Mit Ihrer ausschließlichen Anbindung von Kindern an die Familie weigern Sie sich, der Lebensrealität von Kindern in diesem Lande ins Auge zu sehen. Außerdem - das hat Herr Kollege Schmidt schon ausgeführt - weigern Sie sich weiterhin, anzuerkennen, daß Kinder durchaus selbstbestimmte Subjekte sind und nicht mehr nur als Objekte von Erziehung - egal, wer diese Erziehung ausübt - betrachtet werden dürfen. Ich glaube allerdings im Gegensatz zu Herrn Schmidt, daß die Ursache für die Ablehnung nicht einfach nur in der Tatsache begründet ist, daß Kinder keine Wählerstimmen bringen.
({0})
Hier hilft vielleicht ein Blick in die letzte Rede, die der Bundeskanzler zum 40jährigen Bestehen des Bundesfamilienministeriums in einer Feierstunde hielt, wo er sagte:
Eine Gesellschaft nimmt Schaden, wenn sie Kindem den Eindruck vermittelt, sie seien unerwünscht.
Er versucht, eine bestimmte Richtung aufzuzeigen. Ich zitiere nochmals:
Was jetzt not tut, das ist eine Veränderung in den Köpfen, ein grundlegendes Umdenken. Wir müssen langjährige Gewohnheiten überprüfen, Verkrustungen aufbrechen, Prioritäten neu setzen. Der Standort Deutschland braucht die Familie und eine familien- und kinderfreundliche Gesellschaft. Kinder müssen wieder als Reichtum betrachtet werden. Als Reichtum der Familie und als Reichtum der Gesellschaft.
({1})
Wenn man das, was Sie hier tun, hinterfragt, dann ist festzustellen, daß das einerseits eine unwahrscheinliche Hochhebung der Familienstruktur ist - allerdings der eben nicht mehr allgegenwärtigen, weil sie nicht mehr der Wirklichkeit entspricht -, nämlich der intakten Mutter-Vater-Kind-Familie. Sie schätzen die und versuchen hier, Werte in einer Art und Weise wieder heraufzubeschwören, wie sie nicht mehr real existieren. Andererseits betreiben Sie eine Politik, die permanent auf Kosten gerade von Familien mit Kindern geht.
Wenn man verfolgt, was in diesem Jahr hier in diesem Hause verabschiedet worden ist, im Föderalen Konsolidierungsprogramm, in den Haushaltsbegleitgesetzen und als nächstes in der kommenden Sitzungswoche in den Haushaltsgesetzen, stellt man fest: Das geht eindeutig und andauernd auf Kosten insbesondere von Kindern, egal, in welchen Familienstrukturen diese Kinder leben.
Es ist wirklich erschreckend, wenn man sich dieser Tatsache nicht stellen will und dann noch so tut, als ob man alles auf die Familien abschieben kann, sie also einerseits hochjubelt und andererseits ihre Lebenssituation immer schwieriger gestaltet.
Ich denke, es ist kein Zufall, daß 1971 in Deutschland noch 18 Millionen Kinder unter 15 Jahren lebten und 1991 im vergrößerten Deutschland nur noch 13,1 Millionen Kinder.
Man kann den Geburtenrückgang in den neuen Bundesländern auch nicht mehr mit dem Umbruch oder ähnlichem erklären. 1989 wurden in meiner Heimatstadt Leipzig 5 961 Kinder geboren, 1991 3407, 1992 2822 und im ersten Halbjahr dieses Jahres nur noch 774. Es geht also weiter herunter.
Frau Kollegin Dr. Höll, Ihre Redezeit ist längst abgelaufen.
Mit der größten Selbstverständlichkeit sagen Ihnen die Leute auf der Straße: Das ist eine kinderfeindliche Gesellschaft. Das sollten wir ergründen.
({0})
Hier ist eine reale Bestandsaufnahme notwendig. Stellen Sie sich dem, wie Kinder hier leben müssen.
({1})
Jetzt hat unser Kollege Konrad Weiß das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Christoph Kolumbus hat nur Amerika entdeckt; ich habe das Kind entdeckt.
So Victor Hugo.
Von dieser Entdeckung ist die Mehrheit in der Koalition leider weit entfernt. Die Welt der Kinder in Deutschland ist der Bundesregierung fremder als ein weit entfernter Stern. Die hartnäckige Weigerung der Bundesregierung, einen eigenständigen Bericht über die Situation der Kinder in der Bundesrepublik zu erstellen, läßt keinen anderen Schluß zu. Lediglich ein Anhängsel an den regelmäßigen Familien- und Jugendbericht soll nach ihren Vorstellungen der speziellen Lebenssituation der Kinder gewidmet sein.
Wenn wir eine kinderfreundliche Gesellschaft gestalten wollen und uns als Anwalt des Kindes verstehen, müssen wir die Kinderwelten studieren, so weit und so differenziert wie nur irgend möglich.
Janusz Korczak wollte in der großen „Magna Charta Libertatis" die Grundrechte der Kinder aufgenommen wissen, darunter „das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist" . Zugleich mahnte er aber:
Man muß die Kinder kennen, um bei der Gewährung dieser Rechte möglichst wenig falsch zu machen.
({0})
Viele kindliche Erfahrungsfelder haben sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Ich möchte das an einem erschreckenden Beispiel verdeutlichen:
Nach einer Studie des Deutschen Jugendinstitutes ist es heute die Regel, daß Kinder Termine und Treffs mit ihren Freunden zum Spielen verabreden und daß diese durch die Eltern mit dem Auto ermöglicht werden müssen. Spontan ziehen nur noch 17 % der Kinder zum Spielen los und besuchen ihre Freunde. 83 % hingegen sind gezwungen, sich wie Manager langfristig zu verabreden, um zu spielen. Solche fundamentalen Brüche mit traditionellen Kindheitsmustern müssen wir kennen, wenn wir politisch verantwortungsvoll handeln und entscheiden wollen.
Die Argumentation, ausschließlich die Familie sei der für Kinder bestimmende Lebensbereich, ist romantisierend und war so zu keiner Zeit zutreffend.
Kinder leben in sozialen Zusammenhängen, die weit über die Familie hinausreichen und viele, ja, fast alle Bereiche von Kultur, Politik und Wirtschaft berühren. Die Familie ist keine Quarantänestation, die Kinder vor dem eigentlichen Leben schützen sollte oder schützen könnte.
Kinder sind Menschen, gleichwertige und selbstbestimmte Menschen, die auf Erfahrung, Hilfe und Unterstützung angewiesen sind. Aber weder die Eltern noch der Staat haben das Recht, sie zu Objekten zu machen oder in dem, worin sie zum verantwortlichen Handeln fähig sind, zu entmündigen.
Ein Kinderbericht, der die Erlebnisperspektive der Kinder angemessen berücksichtigt, könnte für das Parlament wie für die Regierung eine wichtige politische Entscheidungshilfe sein; ich verstehe nicht, warum Sie sich dagegen wenden. Er könnte dazu beitragen, die Situation der Kinder, die in Deutschland leben, zu verbessern. Er könnte eine Herausforderung für uns alle sein. Wir müssen uns dieser Herausforderung stellen. Ich verstehe nicht, warum Sie von der Koalition nicht bereit sind, das zu tun.
Ich bitte Sie deshalb, meine Kolleginnen und Kollegen, der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Frauen und Jugend nicht zuzustimmen, sondern sich im Sinne einer Stärkung der Stellung und der Rechte des Kindes für die regelmäßige Vorlage eines eigenen Kinderberichtes einzusetzen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist unsere Frau Kollegin Ursula Männle.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Berichtswesen in Deutschland blüht: Wir haben den Agrarbericht, selbstverständlich, Herr Schmidt, auch den Altenbericht. Wir haben den Familienbericht. Wir haben einen Jugendbericht. Wir haben den Bericht zum Stand der EG-Integration. Wir haben den Bericht zur Lage von - - Ich könnte das wirklich weiter fortsetzen und teile die Meinung des Herrn Kollegen Eimer, daß wir wahrscheinlich zu viele und zu ausführliche Berichte haben und uns den Berichten, die wir haben, manchmal viel zu selten politisch widmen und sie umsetzen.
({0})
Mit Verweis auf diese Berichte wollen wir jetzt auch einen Kinderbericht. Ich bin der Meinung: Selbstverständlich haben all diese Berichte eine gewisse Funktion. Sie haben ihre Berechtigung.
({1})
- Ja, sie haben sie. Sie analysieren, sie bewerten, sie vermitteln Problembewußtsein und geben manchmal auch Handlungsanweisungen.
({2})
Nur frage ich Sie: Wozu ein Kinderbericht?
({3})
Folgende Probleme sollen dort analysiert werden: Kinder und Familie, Fragen des Sorgerechts - Sie, Herr Schmidt, haben es angesprochen -, Kinder- und Familienumfeld, Kriminalität von Kindern und vieles mehr. Das sind ganz sicher sehr wichtige Fragen, denen wir uns in diesem Hause vielleicht noch ein bißchen mehr als bisher zuwenden müssen.
({4})
- Hören Sie mir noch zu?
({5})
- Ich merke es.
Wir, die Union, befürworten die objektive Bestandsaufnahme der in dem Antrag genannten Problemfelder. Das ist notwendig.
({6})
- Lassen Sie mich gerade noch ausreden, Herr Schmidt. Es kommt sicherlich noch; warten Sie einen kleinen Moment.
Diese Fragen können - ich greife das auf, was die Kollegin Dr. Sissy Geiger gesagt hat - unseres Erachtens besser im Familienbericht behandelt werden. Auch wenn Sie es nicht gerne hören wollen: Kinder konstituieren die Familie. Kinder brauchen Familie.
({7}) Ohne Kinder ist Ehe nicht Familie.
({8})
Lassen Sie mich auf viele Untersuchungen zurückgreifen. Sie wissen selbst, daß junge Menschen heute der Ehe gegenüber etwas skeptisch eingestellt sind,
({9})
zumindest partiell lieber andere Lebensformen praktizieren. Fragt man sie aber, was für sie zu einem glücklichen Leben gehört, dann sagen die jungen Menschen: die Familie. Sie wollen in ihrer breiten Mehrheit Familie.
Frau - Ursula Männle ({0}): Jetzt darf er etwas sagen.
Herr Kollege Schmidt, bitte.
Frau Kollegin, ohne daß ich auf Ihren nun erneut wiederholten familienpolitischen Ansatz eingehe: Finden Sie nicht auch, daß es in Ihren Äußerungen ein Widerspruch war, festzustellen, daß es unglaublich viele Lebensbereiche von Kindern gibt, die untersucht werden müssen, und dann den Kinderbericht abzulehnen? Wäre es aus Ihrer Sicht vielleicht besser, wenn man diese Dutzend oder noch mehr Lebensbereiche der Kinder in einzelnen Großen Anfragen hier in diesem Parlament zu klären versucht? Das wäre doch noch viel umständlicher.
Nein, Herr Kollege, ich bin für die Integration der Probleme.
({0})
- Auf die ganzheitliche Betrachtung komme ich gleich noch, Herr Kollege Mayer. Das will ich schon noch sagen.
Wir wehren uns auch dagegen, wenn einzelne Probleme isoliert, singulär betrachtet werden. Wir sagen z. B., daß Frauenförderung in den Entwicklungsländern in allen Projekten stattfinden muß. Es reicht nicht, einzelne Frauenprojekte zu haben. Jedes Projekt muß auf die „Frauenverträglichkeit" - so heißt es dort - überprüft werden. Also müßte man auch fragen, inwieweit Maßnahmen in bezug auf ihre Kinderverträglichkeit zu überprüfen sind.
({1})
Ich bin dafür, daß man die Kinderperspektive bei allem berücksichtigt. Hat man einen Kinderbericht, beschäftigt man sich alle vier oder acht Jahre damit, je nachdem, wie oft er erscheinen soll, und damit ist das Problem erledigt. Das wäre doch traurig; wir wollen es doch in allen anderen Bereichen ständig angesprochen wissen.
({2})
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Schmidt? Es wird Ihnen nicht auf die Redezeit angerechnet.
Ich weiß, daß es nicht angerechnet wird, aber ich denke an all die Kollegen, die noch reden wollen, und an all diejenigen, die hier im Haus beschäftigt sind und nicht nach Hause dürfen, bevor wir hier fertig sind. Nach der Tagesordnung zu urteilen, dauert es noch sehr lange.
({0})
Haben Sie ein Arbeitnehmerherz, oder beharren Sie auf einer Frage, Herr Schmidt?
({1})
- Die Kinder freuen sich, wenn ihre Väter und Mütter nach Hause kommen. Lassen wir es doch. Wir wissen doch, was wir wollen.
({2})
Ich habe an die Zeit erinnert, und ich will von daher die Punkte, die ich noch ansprechen wollte, beiseite lassen. Meiner Meinung nach bedeutet Familienfreundlichkeit Kinderfreundlichkeit und Kinderfreundlichkeit Familienfreundlichkeit.
({3})
- Ist schon recht, Frau Dr. Höll.
({4})
Die beste Kinderpolitik ist sicherlich Familienpolitik. Für uns ist der beste Ort für einen Bericht über Kinder der Familienbericht.
Jetzt greife ich auf, was der Kollege Mayer in seinem Zwischenruf gesagt hat: Wir betrachten die Familie ganzheitlich, als eine Einheit. Tendenzen, die Familienmitglieder zu separieren, sie zu singularisieren, bedeuten schon, etwas an den Bestand der Familie heranzugehen.
({5})
Ich erinnere Sie nur an die Diskussionen der frühen 70er Jahre. Da hatten wir diese Tendenz. Da haben wir alles separiert, alle Mitglieder der Familie gegeneinander ausgespielt.
({6})
- Haben wir auch nicht, Herr Kollege. Den gibt es noch nicht, den können wir aber fordern.
Wir beklagen in unserer Gesellschaft so häufig die Vereinzelung. Wir bedauern, daß ganzheitliches Denken eigentlich nicht mehr praktiziert wird, und wir fordern ein partnerschaftliches Miteinander. Wir mahnen das solidarische Füreinander an.
({7})
Ich denke, hier könnten wir es tatsächlich praktizieren. Von daher lehnen wir nach wie vor einen eigenständigen Kinderbericht ab, aber sind dafür, daß die Probleme von Kindern mehr als bisher in allen anderen Bereichen behandelt werden
({8})
und auch konkrete Schlußfolgerungen für eine kinderfreundliche Gesellschaft gezogen werden.
({9})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Frauen und Jugend zu dem Antrag der Abgeordneten Ina Albowitz, Dr. Gisela Babel, Angelika Barbe und weiterer Abgeordneter zum Kinderbericht der Bundesregierung, Drucksache 12/5811.
Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/4388 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei drei Gegenstimmen ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/5811 empfiehlt der Ausschuß für Frauen und Jugend die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe!. - Stimmenthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist ebenfalls mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen worden. Es gab eine Gegenstimme und zwei Enthaltungen, ansonsten Ablehnung.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Angelika Pfeiffer, Hartmut Büttner ({0}), Wilhelm Rawe und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über eine einmalige Zuwendung an die in den östlichen Bundesländern lebenden Vertriebenen ({1})
- Drucksache 12/5220 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({2})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß Treuhandanstalt
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung der Bundeshaushaltsordnung
- Drucksache 12/5835 -
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Ent16344
Vizepräsident Helmuth Becker
wurfs eines Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs
- Drucksache 12/6099 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({3}) Finanzausschuß
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs auf Drucksache 12/6099, Tagesordnungspunkt 18 c, soll, abweichend vom Überweisungsvorschlag in der Tagesordnung, zur federführenden Beratung an den Rechtsausschuß und zur Mitberatung an den Finanzausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre und sehe keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordungspunkte 19a, 19d bis 19j auf:
Abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der am 25. November 1992 in Kopenhagen beschlossenen Änderung und den am 25. November 1992 beschlossenen Anpassungen zum Montrealer Protokoll vom 16. September 1987 über Stoffe, die zu einem Abbau der Ozonschicht führen
- Drucksache 12/5977 - ({4})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5})
- Drucksache 12/6121 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Gerhard Friedrich Klaus Lennartz
Dr. Jürgen Starnick
d) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 29. Juli 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Zusammenarbeit und die gegenseitige Unterstützung der Zollverwaltungen
- Drucksache 12/4566 - ({6})
Beschlußempfehlung und Bericht des
Finanzausschusses ({7})
- Drucksache 12/6085 -
Berichterstattung: Abgeordneter Claus Jäger
e) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. Juli 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Erleichterungen der Grenzabfertigung
- Drucksache 12/5279 - ({8})
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des
Finanzausschusses ({9})
- Drucksache 12/6112 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Günter Weißgerber
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({10}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 12/6113 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Pützhofen Dr. Wolfgang Weng ({11}) Helmut Wieczorek ({12})
f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzsausschusses ({13}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 80/390/EWG zur Koordinierung der Bedingungen für die Erstellung, die Kontrolle und die Verbreitung des Prospekts, der für die Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Notierung an einer Wertpapierbörse zu veröffentlichen ist, im Hinblick auf die Verpflichtung zur Veröffentlichung eines Prospekts
- Drucksachen 12/4797 Nr. 3.1, 12/5972 -
Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Karl H. Fell
g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({14}) zu dem Antrag der Abgeordneten Uta Zapf, Rudolf Bindig, Dr. Ulrich Böhme ({15}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Einstellung der Militärhilfe, Erstellung eines Konzepts für Wirtschaftshilfe und Bericht über Lieferungen an die Türkei
- Drucksachen 12/3434, 12/5521 Berichterstattung:
Abgeordnete Heinrich Lummer Karsten D. Voigt ({16}) Dr. Olaf Feldmann
h) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({17}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 23 02 Titel 836 02 - Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland am Kapital der Internationalen Entwicklungsorganisation ({18}) -- Drucksachen 12/5766, 12/5945 - Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Esters
Adolf Roth ({19})
Werner Zywietz
Vizepräsident Helmuth Becker
i) Beratung der Beschlußempfehlung des
Rechtsausschusses ({20})
Übersicht 11
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 12/5988 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Hans de With
j) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 126 zu Petitionen
- Drucksache 12/6037 Hierzu ist keine Aussprache vorgesehen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 19a, zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum Montrealer Protokoll, Drucksache 12/5977. Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 12/6121, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Meine Damen und Herren, wir kommen zu Tagesordnungspunkt 19d, Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag mit der Republik Polen über die Zusammenarbeit und die gegenseitige Unterstützung der Zollverwaltungen, Drucksache 12/4566. Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/6085, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich vom Platz zu erheben. - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? Bei Enthaltung von Frau Dr. Höll ist der Gesetzentwurf angenommen.
Tagesordnungspunkt 19e: Wir stimmen jetzt über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum Abkommen mit der Republik Polen über Erleichterungen der Grenzabfertigungen ab, Drucksache 12/5279. Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/6112, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Auch hier enthält sich Frau Dr. Höll. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 f, Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu einem Richtlinienvorschlag der EG zu Wertpapieren, Drucksache 12/5972 Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Auch hier enthält sich Frau Dr. Höll. Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 g, Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Fraktion der SPD zur Einstellung der Militärhilfe an die Türkei, Drucksachen 12/3434 und 12/5521. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 h, Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu einer überplanmäßigen Ausgabe. Es handelt sich um die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland am Kapital der Internationalen Entwicklungsorganisation, Drucksachen 12/5766 und 12/5945. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 i, Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht, Drucksache 12/5988. Das ist die Ihnen vorliegende Übersicht 11. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Bei Stimmenthaltung von Frau Dr. Höll ist auch diese Beschlußempfehlung angenommen.
Tagesordnungspunkt 19j, Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 12/6037. Das ist die Sammelübersicht 126. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Auch hier enthält sich Frau Dr. Höll. Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gert Weisskirchen ({22}), Angelika Barbe, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Entschädigung nationalsozialistischen Unrechts in den Baltischen Staaten
Drucksache 12/5638 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({23})
Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß Finanzausschuß Haushaltsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst hat unser Kollege Gert Weisskirchen das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Was geht in ihnen vor, die heute auf uns blicken, in Emanuelis Zingeris, dem jungen jüdischen Abgeordneten des Sejmas in Vilnius? Was geht vor in Mavriks Vulfsons aus Riga - viele kennen ihn -, dem jüdischen Grandseigneur, Person gewordene Reminiszenz der alten kulturellen Brücke zwischen Letten, Russen und Deutschen? Können wir erfassen, welcher Schmerz sie befallen muß, wenn baltische Angehörige der Waffen-SS eine Kriegsversehrtenrente aus Deutschland beziehen können, nicht aber die Opfer der Nazi-Diktatur?
Wie mag Margers Vestermanis, der Direktor des Dokumentationszentrums der Juden in Lettland, das bewerten, was von uns an diesem Tag gesprochen wird, er, der wie kaum ein anderer verzweifelt gegen den endgültigen Tod, gegen das Vergessen ankämpft? Was, endlich, könnten die Ermordeten von ihrer Lebenslust und ihrer Todesangst, von ihrer unendlichen Qual, von ihrer überwältigenden Verzweiflung reden? Wühlen in uns nicht die Fragen der Opfer?
Gert Weisskirchen ({0})
Am 2. November 1943, vor fünfzig Jahren, begann der letzte Akt, der grauenhafteste, des Holocaust in Lettland. Die Juden des Rigenser kleinen Ghettos und des großen wurden fast alle systematisch ermordet. Nur 176 blieben übrig. Vor der Nazi-Diktatur bekannten sich in Lettland 93 000 Menschen zum jüdischen Glauben, von ihnen überlebten keine 1 000.
Vilnius, Jeruschalaim de Lita, das litauische Jerusalem - wie es genannt wurde -, beherbergte einmal 150 Synagogen und Bethäuser. Die Hauptstadt Litauens war einmal Ort der Begegnung der Kulturen. Hier schnitten sich die Kreuzwege von Ost und West, von Spannungen des gemeinsamen Lernens, von Erschütterungen der aufeinanderprallenden Fragen. Die Häuser der Deutschen Straße südlich und nördlich in der Altstadt behüten das versunkene Leben ihrer jüdischen Bewohner. Vor der Besetzung durch das Nazi-Militär lebten in Litauen 250 000 Juden, danach waren 94 % ermordet.
Hirsch Glick, Poet jiddischer Sprache, schrieb 1942 im Ghetto sein Gedicht „Sog nit kejnmol":
Sage niemals, daß es dein letzter Gang sei, weil du kein Himmelblau siehst in den Wolken, schwer wie Blei. Einst kommt die Stunde, die wir im Herzen tragen. „Hier sind wir! " wird jeder Schritt dann von uns sagen.
Am 23. September 1943 gingen die Juden des Ghettos von Vilnius ihre letzten Schritte. Sie wurden erschossen im Wald von Panerai, gehetzt in die Todeslager.
Mit ihnen starb der Humus für die unverwechselbare Kultur des Schtetl in Osteuropa. Es sog in sich auf: die Sehnsucht nach Geborgenheit und das Verlangen nach der Grenzüberschreitung, nach vertrauter Nähe und verheißender Ferne. Alle Impulse der Sprache, der Musik, der Malerei wurden begierig aufgenommen, alles Fremde behielt seine eigene Würde und fand doch einen neuen Platz im Innern. Das Äußere konnte bedrohlich werden. Und doch verlor es seinen Schrecken, weil es der eigenen Unvollkommenheit ein Spiegel war. Die Kultur der osteuropäischen Judenheit sprang über die Mauern und bewahrte sich doch den authentischen Kern. Davon ist nichts mehr. Kein Ort, nirgends. Vernichtet für immer, die Heimat, die Mordechaj Gebirtig in die Zeilen faßte:
Gehabt hab' ich a Hojm, a bisl Rojm, a Schtikl
Wirtschaft, gebunden Worzln, wie a Bojm.
„Tu was, bevor wir sterben! " - das hat unser Kollege von Stetten am 23. September in den Gesichtern gelesen, fünfzig Jahre nach der Auflösung des Ghettos von Vilnius. Die wenigen hundert Überlebenden des Völkermords im Baltikum, sie warten auf ein Zeichen Deutschlands, daß ihre Qual und die Qual all derer, die vernichtet wurden, uns Aufforderung ist, sie nicht mit ihren Bildern von Gewalt und Angst allein zu lassen. Für sie sind diese Bilder nicht vergangen - niemals. Sie stehen ihnen unauslöschlich vor Augen, entrinnen können sie ihnen nicht.
Was kann der Deutsche Bundestag tun, damit die Opfer einen Ausgleich für das von der Nazi-Diktatur zugefügte Unrecht erfahren? Es mag der Vorschlag bedacht werden - die Frau Bundestagspräsidentin hat ihn ja gemacht -, ob nicht ein privater Hilfsfonds gegründet wird, damit aus diesen Mitteln der Bau eines Altersheims finanziert werden kann. Nur, jeder sollte wissen, welche Bedeutung das Wort „Altersheim" dort in Lettland hat. Es wird dort aufgefaßt als ein Armenhaus, in das in Not Gefallene eingewiesen werden.
Margers Vestermanis sagt dazu:
Wir wollen in unsere Wohnungen, wo wir unser Leben gelebt haben. Da wollen wir auch sterben. Es geht ja nicht ums Leben. Es geht ja um die letzten Lebensjahre.
Er fügt hinzu:
Ich denke, wir werden den deutschen Staat nicht sehr lange belasten.
Der Vorsitzende der deutsch-baltischen Parlamentariergruppe, unser Kollege Herr von Stetten, hat aus Scham vor den Betroffenen in kurzer Frist von den Mitgliedern des Deutschen Bundestages persönliche Spenden in Höhe von fast 22 000 DM erbettelt. Herzlichen Dank, lieber Kollege von Stetten, daß Sie dies getan haben.
({1})
In Beträgen von jeweils 30 DM wird diese Summe nun im Baltikum weitergegeben. Wir danken sehr dafür. Versetzen wir uns aber einen Augenblick in die Lage der Empfänger, dann wird uns allen klar: Das ist kein Ausweg.
In einem Aufruf an die Fraktionen des Deutschen Bundestages und an die Bundesregierung, initiiert von Marianne Butenschön und Winfried Nachtwei, unterzeichnet von Ignatz Bubis, Lea Rosh, Friedrich Schorlemmer, Antje Vollmer und anderen, heißt es, daß der Leidensweg der Juden im Baltikum bis heute nicht zu Ende ist. Von den noch etwa 300 Überlebenden - mehr sind es nicht - sind „die meisten", so heißt es in dem Aufruf, „über 70 Jahre alt. Alle sind arm, viele sind krank, die meisten alleinstehend. Die Inflation hat ihre Ersparnisse verschlungen, die Rente reicht gerade für die Miete, nicht für Essen, Heizung und Medikamente. "
Am 8. Mai 1942 - es wäre schlimm, wir würden die Debatte so führen, und doch: wir müssen wissen, wie es war - schrieb der Leiter der Finanzabteilung des „Reichskommissariats Ostland" , daß durch die - ich zitiere - „Veräußerung jüdischer Immobilien in die Kasse des Reichskommissariats 4,5 Millionen Reichsmark geflossen sind" und „aus der Verwertung der Judenarbeit ein Erlös von 5,5 Millionen Reichsmark erzielt worden ist " .
Deshalb hat die Delegation der Jüdischen Gemeinde zu Riga und der „ Vereinigung der ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands" mit Recht in einem Schreiben an den Herrn Bundeskanzler formuliert - ich zitiere -:
Wir bitten nicht um Almosen, wir fordern bloß nachdrücklich unser Recht auf eine angemessene Kompensation für das geraubte Eigentum und für die geleistete Zwangsarbeit.
Gewiß, es ist zutreffend: Die Rechtsgrundlagen für
Entschädigungsleistungen sind seit 1969 erloschen.
Zu jenem Zeitpunkt aber - wir wissen es - waren
Gert Weisskirchen ({2})
Estland, Lettland und Litauen Teilrepubliken der Ex-Sowjetunion, eben besetzt und nicht handlungsfähig. Aber seien wir ehrlich: Halten wir eine solche formale Rechtsposition aus im Angesicht der ungeheuren Beleidigung, die die Opfer empfinden müssen, wenn die ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS Rente beziehen und ihr gerechter Anspruch, der Anspruch der Opfer, auf angemessenen materiellen Ausgleich von der deutschen Bundesregierung verweigert wird? Halten wir das aus?
({3})
Unser Antrag will anregen dazu, den Opfern der Nazi-Diktatur im Baltikum einen Weg zu öffnen, der ihre Not lindert, vergleichbar dem Weg, den wir gemeinsam mit Rußland, Belarus und Ukraine gehen. Es ist ein Weg, der zur Versöhnung führen kann, wenn er der Vergangenheit nicht ausweicht. Denn wir wissen: Die Erlösung kann nur entstehen durch Erinnerung, sagt uns der jüdische Talmud.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt Frau Dr. Roswitha Wisniewski.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das im Antrag der SPD-Fraktion zum Ausdruck kommende Grundanliegen ist ohne Zweifel ein gemeinsames Anliegen aller Fraktionen dieses Hauses und der Bundesregierung. Wir stehen damit in der Kontinuität jener Entscheidung, die die Politik der Bundesrepublik Deutschland von ihrem Beginn an geprägt hat, nämlich sich vorbehaltlos zu ihrer Verantwortung aus der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts zu bekennen. Das gilt auch und gerade für die Verbrechen, die unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland und an den Völkern Mittel-, Ost- und Südeuropas begangen wurden. Der Völkermord im Baltikum gehört zu den schrecklichsten Erinnerungen.
Nach der Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas und dem Beginn eines neuen Nachbarschaftsverhältnisses zu unseren osteuropäischen Nachbarstaaten konnte die Bundesrepublik Deutschland an die globalen Wiedergutmachungsabkommen anknüpfen, die in den fünfziger Jahren mit den westeuropäischen Staaten zugunsten der Staatsangehörigen dieser Staaten geschlossen wurden, die durch nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahmen gelitten hatten, jedoch wegen der Nichterfüllung der Wohnsitzvoraussetzungen unseres Wiedergutmachungsrechts keine gesetzlichen Leistungen erhalten konnten.
Die Bundesregierung hat, sobald es möglich wurde, nach Lösungen gesucht, um auch die osteuropäischen Länder einbeziehen zu können. Das sei dankbar vermerkt. So wurde 1991 auf der Grundlage von Vereinbarungen mit der Republik Polen die „Stiftung deutsch-polnische Aussöhnung" gegründet, und im März 1993 wurde die Gründung von drei Stiftungen „Aussöhnung und Verständigung" in Rußland, Belarus und der Ukraine beschlossen. Aus diesen Stiftungen, deren Mittel für ehemals sowjetische Bürger bestimmt sind, die durch das nationalsozialistische Regime verfolgt wurden, sollten auch die Betroffenen in den baltischen Staaten Leistungen erhalten. Offenbar ist dies aber bisher noch nicht geschehen. Es erscheint besonders wichtig, die zurückgewonnene Souveränität der baltischen Staaten hervorzuheben und zu respektieren. Deshalb ist der von der Bundesregierung jetzt eingeschlagene Weg, den drei baltischen Staaten als Entschädigung humanitäre Hilfe für Sanatorien, Krankenhäuser, Altersheime und bei der Medikamentenversorgung anzubieten, durchaus richtig.
({0})
Es sollte aber auch die Möglichkeit erwogen werden, für den betroffenen Personenkreis in den baltischen Staaten eine eigene, wenn auch kleine, Wiedergutmachungsstiftung einzurichten oder - falls dies ermöglicht werden kann - die bewährten Dienste der Claims Conference dafür in Anspruch zu nehmen. Dies erscheint um so mehr geboten, als der Kreis der für Wiedergutmachungsleistungen in Frage kommenden Personen offenbar nicht groß ist. Herr Weisskirchen hat das ja eben in schrecklicher Deutlichkeit gesagt. Etwa 150 Verfolgte leben in Litauen, ebenso viele in Lettland, und nur etwa 20 sind bisher aus Estland bekannt. Angesichts dieser Zahlen sollte schnelle Hilfe wirklich möglich sein.
({1})
Die Wende des Jahres 1989/1990 in Deutschland und die Wiedererlangung der Unabhängigkeit der baltischen Staaten im Jahre 1991 nach über 50 Jahren sowjetischer Fremdherrschaft haben es Deutschland, Litauen, Lettland und Estland ermöglicht, an die guten Seiten ihrer gemeinsamen Geschichte wieder anzuknüpfen. Wir Deutschen haben nicht vergessen und dürfen nicht vergessen, daß es das nationalsozialistische Deutschland war, das mit seiner Teilnahme am Hitler-Stalin-Pakt den baltischen Völkern großes Unglück brachte.
({2})
Der Deutsche Bundestag erwartet daher, daß die baltischen Länder in das Wiedergutmachungswerk gesondert einbezogen werden und daß sich die Bundesregierung für die baldige Verwirklichung dieser Wiedergutmachungsbemühungen energisch einsetzt. Die Beratung des vorliegenden Antrags in den Ausschüssen wird dem Parlament Gelegenheit geben, sich darüber eingehend informieren zu lassen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt der Überweisung an die Ausschüsse zu.
({3})
Meine Damen und Herren, jetzt hat Frau Kollegin Ulla Jelpke das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Während der Besetzung des Baltikums durch die Wehrmacht Nazideutschlands sind fast alle der 400 000 dort lebenden Jüdinnen und Juden umgebracht worden. Von denen, die Zwangsarbeit und Holocaust entkamen, leben heute noch 300. Diese Menschen leben unter drückenden materiellen Verhältnissen. Der Kollege Weisskirchen hat das bereits ausführlich dargestellt.
Die Bundesregierung weigert sich, diesen Überlebenden des Holocaust eine angemessene Entschädigung zu zahlen. Die Verweigerung dieser Wiedergutmachungsleistung geschieht übrigens nicht leichtfertig, sondern eine Entschädigung wurde vom BMI im Sommer 1992 nach - wie es heißt - langer und sorgfältiger Prüfung abgelehnt, da auf Grund der gültigen Rechtsprechung eine solche Möglichkeit angeblich nicht besteht.
Daß die Bundesregierung mit Bedacht eine Verantwortung für die Opfer des NS-Staates ablehnt, ist den Opfern gegenüber unmenschlich und kalt. Das ist meines Erachtens schon ein ungeheurer Vorgang. Er wird vor allem aber dadurch verschlimmert, daß die Bundesregierung ihre Fürsorgepflicht den Tätern gegenüber wahrnimmt. Nichts bringt die Sache mehr auf den Punkt, als daß beispielsweise die lettischen Angehörigen der Waffen-SS von der BRD eine Rente erhalten. Das Morden für den Nazi-Staat wird so noch im nachhinein von der BRD honoriert, im übrigen nicht schlecht: Die Rente ermöglicht es den ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS, ein materiell sorgenfreies Leben zu führen.
Meine Damen und Herren, für die Bundesregierung wäre es ein leichtes gewesen, den betroffenen Jüdinnen und Juden in den baltischen Staaten in unbürokratischer Weise zu helfen und ihnen eine Entschädigung zukommen zu lassen. Die Bundesregierung hätte wenigstens die materielle Not dieser Menschen lindern können. Man muß jedoch in aller Deutlichkeit feststellen, daß die Bundesregierung nicht einmal bereit war, eine Geste des guten Willens in Richtung Wiedergutmachung an die jüdischen Opfer des Holocaust im Baltikum zu zeigen.
Das ist meines Erachtens kein Zufall: In vielen anderen vergleichbaren Fällen hat die Bundesregierung ähnlich gehandelt. Erinnert sei nur daran, daß die Nationalsozialisten, die in Spanien in der „Legion Condor" an der Seite der Franco-Faschisten kämpften, genauso wie die lettischen Fachisten in der Waffen-SS eine Rente erhielten, während diejenigen, die für das republikanische Spanien kämpften, leer ausgingen. Daß wir dies zwei Tage nach der Gedenkfeier anläßlich der Reichspogromnacht erneut beklagen müssen, charakterisiert den traurigen Zustand in diesem Land.
Wir müssen befürchten, daß dieses skrupellose Beiseiteschieben der Opfer des Hitler-Faschismus eine neue Dimension erhält. Wer die Erklärungen der CDU/CSU zum 9. November aufmerksam gelesen hat, dem konnte nicht entgehen, daß hier versucht werden soll, sich von der Verantwortung aus der eigenen Geschichte freizumachen. Der Pogrome gegen die Juden will man nur nachrangig gedenken, die positiven Leistungen will man in den Vordergrund rükken.
Meine Damen und Herren, wir stimmen dem Antrag der SPD zu.
Danke.
({0})
Meine Damen und Herren, jetzt hat unser Kollege Wolfgang Lüder das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Weisskirchen, durch die Art, wie Sie den Antrag eingeführt haben und nicht auf jedem Wort bestanden, sondern das Thema zur Debatte gestellt haben, ist uns die Debatte sehr erleichtert worden. Denn wir können uns jetzt darauf konzentrieren, festzustellen: Wollen wir helfen oder nicht? Ich meine - das wird aus dem deutlich, was Frau Wisniewski und andere gesagt haben -: Wir werden helfen, wir wollen helfen, und wir müssen helfen. Wenn es keine gesetzliche Regelung geben wird und kann, weil wir uns an das halten müssen, was Deutschland in dieser Beziehung mit anderen Staaten vereinbart hat, dann muß es doch eine Regelung geben, und zwar aus dem gleichen Grund.
Eines steht für mich fest - wir haben gestern im Unterausschuß „Wiedergutmachung" des Innenausschusses auch dieses Thema beraten, und da bin ich noch nachdenklicher und auch härter geworden als bisher -:
({0})
Ein Null-Ouvert mit Joker, wie ihn die Bundesregierung bisher aus finanziellen Gründen offenbar anstrebt, ist für Deutschland nicht erträglich.
({1})
Meine Damen und Herren, die Ideen von Investitionen im humanitären Bereich mögen gut und nützlich sein. Wir unterstützen dies auch. Aber - da schließe ich an das an, was Frau Wisniewski gesagt hat - diese Ideen können die individuelle Opferhilfe für die NS-Verfolgten in den baltischen Staaten nicht ersetzen.
({2})
Wir müssen auch dem Vergangenheitsverständnis gerecht werden, das die Präsidentin unseres Hauses hier vor zwei Tagen für uns aktuell und überzeugend dargelegt hat.
Jeder von uns weiß um den Bußgeldkatalog der leeren Kassen des Bundes, der jedem droht, der finanzielle Forderungen, auch hinsichtlich der Entschädigung von NS-Unrecht, geltend macht. Nur, dieser Bußgeldkatalog der leeren Kassen muß - das sage ich auch in Anwesenheit des Vertreters des Finanzministeriums - abgewogen werden gegenüber dem Strafkatalog, den die Geschichte für uns
bereithält, wenn wir unserer historischen Verantwortung nicht gerecht werden.
({3})
Das Ausweichen vor Gerechtigkeit kann für unseren Staat teuer werden, finanziell und politisch.
({4})
Meine Damen und Herren, für die NS-Verfolgten in den baltischen Staaten folgt für mich daraus: Für Opfer des deutschen NS-Terrors, die bisher keinerlei Entschädigung bekommen haben, muß wenigstens eine Härteregelung gefunden werden, wie sie für die Staaten der ehemaligen Sowjetunion mit den Vereinbarungen der Republiken Belarus, der Russischen Föderation und der Ukraine geschaffen wurde. Aber es ist weder historisch verantwortlich noch für die Betroffenen zumutbar, wenn wir auf die völkerrechtlich problematische, politisch-moralisch abwegige Erwägung verfielen, NS-Opfer der von der Sowjetunion überfallenen und okkupierten baltischen Staaten zu bitten, in einem der Nachfolgestaaten dieser Besatzungsmacht um Unterstützung nachzusuchen, auch wenn diese Unterstützung von Deutschland finanziert wird.
({5})
Ich bin vor 25 Jahren mit dem heutigen Staatsminister im Auswärtigen Amt, Helmut Schäfer, das erste Mal in Litauen gewesen. Wir haben dort gesehen, was Widerstand war und wie man zum Widerstand stand. Ich glaube, diese Staaten haben Anspruch auf Respekt.
Ich will zum konkreten Thema weitergehen. Allein schon die Idee, der Legitimation für einen solchen Bittgang, einen Bittgang zu den Stiftungen in Moskau, Minsk oder sonstwo, wird für mich zum widersinnigen Bußgang.
({6})
An die damals erzwungene Staatsbürgerschaft der ehemaligen Sowjetunion anzuknüpfen übersteigt für mich die Grenze des verantwortlich Nachvollziehbaren. Man stelle sich einmal vor: Man zwingt die Litauer, die Letten und die Esten, eine Petition nicht in ihrer Heimatsprache, sondern in der in Belarus, in Rußland und in der Ukraine verstandenen Sprache der Besatzungsmacht abzufassen, um Geld aus einem Fonds zu bekommen, der mit fremden Staaten, mit den Nachfolgestaaten der Besatzungsmacht, abgeschlossen worden ist. Wo kommen wir denn im Denken damit eigentlich hin?
({7})
Deswegen bitte ich die Bundesregierung: Vergessen Sie diese Pläne bitte ganz schnell. Ich warne vor diesen Überlegungen.
Wir würden die Grenzen des Erträglichen auch dann sprengen, wenn wir zusehen würden, wie rentenberechtigte, zwischenzeitlich Sowjetbürger gewesene frühere SS-Soldaten - so heißt das ja wohl -, die für Nazi-Deutschland, für den Unrechtskrieg, für den völkerrechtswidrigen, verbrecherischen Krieg gekämpft haben, Renten aus deutschen Kassen erhalten, was ja wohl sein muß, und gleichzeitig die Opfer dieses verbrecherischen Krieges und des rassistischen Regimes dieses Staates ohne Entschädigung ließen und sie darauf verwiesen, an die Besatzungsmacht zu gehen, um zu sehen, ob sie da vielleicht ein Almosen bekommen.
Meine Damen und Herren, so sollten wir das Gorbatschow-Wort gewiß nicht verstehen: Wer zu spät kommt - weil er nach der NS-Diktatur unter sowjetischer Besatzung in der nächsten Diktatur leben mußte und daher gegen Deutschland fristgerecht keine Ansprüche stellen konnte -, den bestraft das Leben, das Bundesrepublik heißt. So nicht, meine Damen und Herren! Darüber, wie wir helfen können, sollten wir im Ausschuß beraten, aber bitte mit gutem Willen.
({8})
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt der Kollege Gerd Poppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist bedauerlich, in welcher Weise eine Entscheidung der Bundesregierung über Entschädigungsleistungen an osteuropäische Opfer des Nationalsozialismus hinausgezögert wurde. Viele der Betroffenen sind inzwischen gestorben, die meisten noch Überlebenden sind über 70 Jahre alt.
Schon Ende Oktober 1990 hat der Deutsche Bundestag eine Erklärung verabschiedet, wonach die Bundesregierung bis Jahresende 1990 einen Bericht darüber vorlegen sollte, wie eine Lösung für Härteleistungen an ehemalige Zwangsarbeiter und andere NS-Opfer in den osteuropäischen Staaten aussehen könnte. Als dieser Bericht endlich - zur Empörung vieler Kollegen erst im Januar 1992 - gegeben wurde, enthielt er zwar eine anvisierte Lösung für die polnischen NS-Opfer; vergebens suchte man aber nach Vorstellungen für die Betroffenen aus anderen osteuropäischen Staaten, die bisher nicht berücksichtigt wurden. Dabei drängt sich die Vorstellung auf, daß in diesen Fällen auf die sogenannte „biologische Lösung" gesetzt wurde.
Zwar hat es einen bemerkenswerten Versuch gegeben, auch im Falle der baltischen NS-Opfer ein Signal zu setzen; ich meine die Initiative des Kollegen von Stetten zugunsten der verfolgten lettischen Juden. Private Initiativen können das überfällige Handeln der Bundesregierung aber nicht ersetzen.
({0})
Nun greift die SPD-Fraktion dem Sinne nach einen Vorschlag auf, den BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schon am 23. April dieses Jahres in der Drucksache 12/4788 wie folgt formuliert hatte:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, ... unverzüglich dem Deutschen Bundestag zu berichten, ob, wann und in welchem Umfang Entschädigungsleistungen für die Opfer des nationalsozialistischen Unrechts in Lettland und den anderen osteuropäischen Län16350
dern, in die bislang keine Entschädigung gezahlt wurde, vorgesehen sind.
Der SPD-Antrag fällt im Wortlaut noch ein wenig dahinter zurück. Er beschreibt im Grunde genommen aber das gleiche. Wir halten es allerdings nicht für ausreichend, wenn in dem Antrag nur gefordert wird, „noch in dieser Legislaturperiode die erforderliche Grundlage zu schaffen", den NS-Opfern in den baltischen Staaten einen materiellen Ausgleich für erlittenes Unrecht zuzubilligen.
Zum einen ist zu fordern, daß die baltischen NSOpfer, ebenso aber auch die Opfer aus Ungarn, aus der Tschechischen und aus der Slowakischen Republik endlich berücksichtigt werden. Ihnen darf nicht verweigert werden, was Betroffenen in Polen bewilligt und Betroffenen aus den GUS-Staaten zugesagt wurde.
Zum anderen drängt die Zeit. Angesichts der Tatsache, daß eine angemessene Wiedergutmachung ohnehin nicht möglich ist, geht es nur um die Erleichterung des Schicksals der letzten Überlebenden und um eine verspätete Zeichensetzung im Sinne deutscher Verantwortlichkeit für Europa. Dies allerdings wird um so drängender, je mehr die Bundesrepublik eine neue Rolle für sich in Anspruch nimmt, wie es auch heute in der Europadebatte wieder mehrfach betont wurde.
Zu fordern ist eine unverzügliche Verabschiedung des Antrags und eine Festlegung möglichst kurzfristiger Termine, die im SPD-Antrag fehlen. Wir fordern die Bundesregierung auf, die erforderlichen Grundlagen bis zum Januar 1994 zu schaffen und entsprechend einen kurzfristigen Bericht zu geben, damit die möglichen Leistungen die Betroffenen noch zu Lebzeiten erreichen.
({1})
Ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist gut, daß wir heute über ein Problem sprechen, das im Zuge der Umwälzung in Ost und West fast untergegangen wäre. Wieder einmal wären die Länder Litauen, Lettland und Estland diejenigen gewesen, die wegen größerer Ereignisse vergessen oder, schärfer ausgedrückt, verraten worden wären. Dies war 1940 so, als die Sowjetunion die drei Länder Litauen, Lettland und Estland gegen deren Willen okkupierte, dies war beim Einmarsch der deutschen Truppen 1941 so, und dies war bei der Rückkehr der Sowjettruppen 1944/45 so, als die West- und Siegermächte um des lieben Friedens willen erneut die Okkupation dieser drei Länder akzeptierten. Jedesmal wurden Hunderttausende Bürger deportiert, ermordet oder nach Sibirien verbannt.
Zwar wurde die Welt am 23. August 1989, dem 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes, durch die Menschenkette von Vilnius über Riga nach Tallinn aufmerksam gemacht, um dann aber wiederum die Schikanen Moskaus, die mit Blockaden und der Entsendung der berüchtigten OMON-Truppen einhergingen, im Rahmen der Ost-West-Entspannung mit Rücksicht auf Gorbatschow oder auch den sich abzeichnenden Irak-Kuwait-Krieg zu übersehen.
Wenn in dieser Phase zunächst der Deutsch-Baltische Parlamentarische Freundeskreis mit über 100 Abgeordneten aus allen Fraktionen dieses Hauses entstand und auf verschiedenen Ebenen Hilfestellung leistete, so ist der heutige Antrag des Kollegen Weisskirchen, der auch heute noch stellvertretender Vorsitzender dieses Freundeskreises ist, nur folgerichtig, um auch einer Gruppe Hilfe zu leisten, die durch besondere Umstände droht, durch alle „Roste" der Entschädigungs- oder Wiedergutmachungsmöglichkeiten zu fallen.
Diese Menschen haben u. a. keinen Anspruch, weil sie vor dem 1. Januar 1970 keinen Antrag gestellt haben - wie sollten sie denn auch als okkupierte, besetzte Sowjetbürger? -,
({0})
sie haben keinen Anspruch gegen die Stiftung „Aussöhnung und Verständigung" für die ehemalige Sowjetunion, für die 1 Milliarde DM bereitgestellt wurde, weil sie inzwischen wieder Staatsbürger von freien Staaten geworden sind, und sie haben auch keinen Anspruch auf die von der Bundesregierung der Jewish Claims Conference zur Verfügung gestellten 100 Millionen DM, weil diese wieder nur verfolgten Juden aus den ehemaligen östlichen Ländern zustehen, die jetzt im westlichen Ausland leben.
Der Finanzminister hat diese Situation erkannt und angeboten, humanitäre Hilfe in Form von Zuschüssen für karitative Einrichtungen zu gewähren. Dies sind sicher keine Almosen, wie schon von der einen oder anderen Seite gesagt wurde, aber wir müssen einen anderen Weg finden, daß die wenigen Hunderte überlebenden KZ- und Gettohäftlinge und anderweitig Verfolgten jetzt - und zwar schnell - Hilfe bekommen, um ihr kärgliches Leben - es ist wirklich ein kärgliches Leben -, das sie nun in Freiheit haben, auch in Würde in ihren letzten Lebensjahren verbringen zu können.
({1})
Ich glaube auch nicht, daß es schwierig ist, dies zu erreichen, wenn wir schlichtweg das vorgesehene Geld in einen Fonds einbringen, der allgemein für karitative Zwecke den Opfern zur Verfügung gestellt wird. Daraus kann dann neben Zuschüssen für Einrichtungen auch für kranke und ältere Bürger ambulante Hilfe gegeben werden, die Dinge umfaßt, die bei uns wie selbstverständlich von Krankenkassen getragen werden. So fehlt schlichtweg das Geld für Medikamente, Brillen, Zahnersatzbehandlungen oder andere für alte Menschen notwendige Geräte wie Hörgeräte oder auch altengerechte Ernährung oder ambulante Hilfeleistungen. Mit einer solchen Entscheidung, den Fonds zu gründen und nicht an materielle Hilfen für Einrichtungen zu binden, wäre die Hilfe sofort wirksam, ohne daß es zu der vom Bundesfinanzminister gefürchteten unübersehbaren Zahl persönlicher Ansprüche kommt.
Wie wichtig diese Hilfen sind, haben die fast beschämend, wirklich beschämend geringen Zahlungen des Deutsch-Baltischen Parlamentarischen Freundeskreises an die überlebenden Getto- und KZ-Häftlinge in Höhe von 30 DM monatlich in den letzten Monaten gezeigt. Aber immerhin konnten mit diesen fast 40 000 DM die durchweg alten Leute kleine Dinge des täglichen Lebens kaufen, und das gab ihnen insbesondere das Gefühl, nicht vergessen zu sein.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weisskirchen? - Bitte, Kollege Weisskirchen.
Lieber Herr von Stetten, könnten Sie uns vielleicht auch sagen, wie die Betroffenen selber auf diese individuelle Zuwendung reagiert haben, die Sie und andere wie die Frau Präsidentin übergeben haben?
Es war so: Ich habe zunächst einmal bei den Organisationen angefragt, ob sie das nicht als beleidigend empfinden, denn ich habe mich natürlich in der Tat gefragt, wenn ich bei Ihnen allen und bei den Organisationen 30 DM pro Person zusammenbettle, ob das nicht Hohn ist. Man hat mir aber dann gesagt, man werde es als persönliche, private Hilfe anerkennen, natürlich könne und dürfe es aber kein Ersatz sein.
Ich habe viele Schreiben bekommen, z. B. einen Brief, in dem einer mitteilt, daß er seit 40 Jahren das erste Mal wieder in deutsch schreibt. Aus einem anderen Brief, den ich mithabe, darf ich zitieren. Ein alter Herr aus Litauen schreibt:
Sehr geehrter Herr von Stetten, ich habe von Ihnen einen Umschlag mit 30 DM erhalten. Für diese materielle Unterstützung bin ich Ihnen äußerst dankbar, Sie haben mir großartig geholfen . . . Eine kurze Auskunft: Meine Frau, Ella Lemchen, die auch in Ghetto und Konzentrationslager ... war, ehemalige Deutschlehrerin, ... ist in 1979 gestorben. Meine Kinder ({0}) wurden Ende März 1944 nach Auschwitz gebracht und dort vergast. Meine Eltern wurden in 1941 im Lager in Litauen ermordet. So bin ich geblieben einsam, auch ohne Verwandte in Litauen. Ich bin ein einsamer Mann, 89 Jahre alt, und Ihre gewährte Hilfe ist sehr willkommen.
Das sind keine Einzelbriefe. Das sind Schicksale, die wir nicht vergessen sollten.
Meine Damen und Herren, ich möchte fortfahren und auch gleich schließen.
Der Bundesfinanzminister hat angedeutet, daß die Staaten Rußland, Weißrußland und Ukraine auch Ansprüche von ehemaligen Sowjetbürgern in Litauen, Lettland und Estland mit berücksichtigen würden. Das ist soeben von Kollegen Lüder und anderen schon gesagt worden. Dies hat bei den Beteiligten, um es gelinde auszudrücken, keine Begeisterung ausgelöst. Wir sollten die Empfindlichkeiten verstehen, daß die 50 Jahre lang Unterdrückten nicht wieder von ihren Unterdrückern abhängig sein wollen.
({1})
Entsprechende Erklärungen sind von den Außenministerien Litauens und Lettlands heute per Telefax eingegangen.
Selbst wenn es jemanden nicht stören sollte, auch die Betroffenen sind im wahrsten Sinne des Wortes „betroffen", als litauische, lettische und estnische Staatsbürger in Moskau um Entschädigung für durch Deutsche erlittenes Unrecht nachsuchen zu müssen. Hier sollten wir sensibel sein und andere Wege suchen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß sagen: Wir müssen schnell handeln, und ich bin nach dieser Debatte überzeugt, daß wir über alle Parteigrenzen hinweg gemeinsam handeln werden, damit die Hilfe diese Menschen noch lebend erreicht.
Danke schön.
({2})
Meine Damen und Herren, nunmehr hat die Frau Staatsministerin im Auswärtigen Amt, unsere Frau Kollegin Seiler-Albring, das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident! - Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Die Wende der Jahre 1989/91 hat es Deutschland und den wieder unabhängigen baltischen Staaten ermöglicht, ihre Beziehungen zueinander wieder aufzunehmen. Die Bundesregierung hat diesen historischen Schritt in dem Bewußtsein der Verantwortung getan, die Deutschland vor dem Hintergrund der Geschichte auch gegenüber den baltischen Staaten zukommt. Sie hat diesem Umstand in den gut zwei Jahren seit Wiederaufnahme der Beziehungen Rechnung getragen, indem sie einen maßgeblichen Beitrag zur Unterstützung des Reformprozesses in den baltischen Staaten und zu ihrer fortschreitenden Annäherung an die europäische Zusammenarbeit geleistet hat.
Die Bundesregierung wird sich bei ihrer Politik gegenüber den baltischen Staaten auch künftig von der Absicht leiten lassen, zu Sicherheit und wachsendem Wohlstand der baltischen Staaten substantiell beizutragen. Zukunftsgerichtete Kooperation und Unterstützung für die baltischen Staaten entheben uns gleichwohl nicht der Verpflichtung, auch das den Menschen in den baltischen Staaten vom NS-Regime zugefügte Unrecht anzuerkennen und im Rahmen unserer Möglichkeiten zu mildern.
Im Falle Polens sowie Rußlands, Weißrußlands und der Ukraine hat die Bundesregierung in den vergangenen drei Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen, den von NS-Unrecht besonders Betroffenen einen Ausgleich zukommen zu lassen. Mit den Regierungen der Russischen Föderation, Weißrußlands und der Ukraine hat die Bundesregierung am 30. März dieses Jahres die Errichtung von Stiftungen in Mos16352
kau, Minsk und Kiew vereinbart, für welche die Bundesregierung einen finanziellen Beitrag in Höhe von insgesamt 1 Milliarde DM bereitstellt. Diese Stiftungen werden ehemals sowjetische Bürger unterstützen, die durch das NS-Regime verfolgt worden sind; sie werden in nächster Zeit ihre Arbeit aufnehmen können.
Meine Damen und Herren, nach der nunmehr vorliegenden Zustimmung des Bundesministeriums der Finanzen besteht innerhalb der Bundesregierung Einigkeit darüber, daß auch den wenigen überlebenden Opfern nationalsozialistischer Verfolgung in den baltischen Staaten geholfen werden muß.
Bitte erlauben Sie mir die ganz persönliche Bemerkung: Ihren unermüdlichen persönlichen Einsatz, Herr von Stetten, halte ich für bewundernswert und hochherzig. Ich möchte mich dafür sehr herzlich bedanken.
({0})
Die Bundesregierung wird zum Zweck der Hilfe in den nächsten Tagen Vorgespräche mit den Regierungen Estlands, Lettlands und Litauens führen. Ziel dieser Gespräche wird es sein, Möglichkeiten für Investitionen im humanitären Bereich zu erkunden, die nach unseren Vorstellungen den individuellen Bedürfnissen der Opfer möglichst nahekommen sollen.
Ich hoffe - und bin zuversichtlich -, daß wir in der Frage der Entschädigung nationalsozialistischen Unrechts in Kürze mit den baltischen Staaten zu einer einvernehmlichen, für alle Beteiligten zufriedenstellenden Lösung des Problems kommen können. Ich hoffe insbesondere, daß die wenigen Überlebenden der NS-Verfolgung die geplante Regelung als einen gewissen Ausgleich für das erlittene Unrecht annehmen können, obgleich wir uns völlig darüber klar sein müssen, daß es keine Wiedergutmachung für das Leiden des einzelnen Opfers gibt.
Die Bundesrepublik Deutschland hat sich seit der wiedergewonnenen Unabhängigkeit der baltischen Staaten ganz besonders um eine Intensivierung der bilateralen Beziehungen in allen Bereichen bemüht. Die Unterzeichnung von gemeinsamen Erklärungen über die Grundlagen der Beziehungen zu den drei baltischen Staaten in diesem Jahr sowie zuletzt die Besuche des Herrn Bundespräsidenten in Estland, Lettland und Litauen bezeugen das beiderseitige Interesse an enger, vertrauensvoller Zusammenarbeit. Um so mehr ist die Bundesregierung entschlossen, die noch verbliebenen Gräben der Vergangenheit rasch zu überwinden.
Danke schön.
({1})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/5638 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 9:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Unterlagen über Agenten der ehemaligen DDR unverzüglich aufarbeiten
- Drucksache 12/5625 -
Mir wird mitgeteilt, daß alle Diskussionsredner ihre Reden zu Protokoll geben wollen. Es handelt sich um den Parlamentarischen Staatssekretär Eduard Lintner, unsere Kolleginnen und Kollegen Wolfgang Zeitlmann, Dr. Peter Struck, Dr. Jürgen Schmieder, Ulla Jelpke und Ingrid Köppe. Da das eine Abweichung von der Geschäftsordnung ist, muß ich fragen: Sind Sie damit einverstanden, daß diese Reden zu Protokoll genommen werden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.*)
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll dieser Antrag der SPD-Fraktion an den Innenausschuß - federführend - und an den Rechtsausschuß - mitberatend - überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Angelika Barbe, Holger Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Beseitigung der Investitionshemmnisse im eigentumsrechtlichen Bereich der neuen Bundesländer und Sicherung des Rechtsfriedens
- Drucksache 12/6066 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({0})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß Treuhandanstalt
Haushaltsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre und sehe auch hier keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort unserem Kollegen Rolf Schwanitz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema, welches wir heute debattieren, mutet an wie eine unendliche Geschichte. Wir sind im Jahr 3 des Vermögensgesetzes. Es ist immer noch kein Entwurf zum Entschädigungsgesetz verabschiedet worden. Der Präsident des Bundesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen, Herr Schäfer, fürchtet zu Recht um die wirtschaft-
*) Anlage 3
liche Gesundung der neuen Bundesländer wegen der immer noch offenen Vermögensfragen in Ostdeutschland.
Im Frühjahr hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zum Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz eingebracht. Wir haben darüber debattiert, und die Sozialdemokraten haben in der Einbringungsdebatte ihre Hauptkritik vor allem an der vorhandenen Wertschere festgemacht, also am Auseinanderfallen der Wertsituation zwischen der Restitution und der Entschädigung.
Es gab eine Anhörung im September. Eine ganze Reihe von Experten aus dem Bereich des Verfassungsrechts haben dort diesen Gesetzentwurf in weiten Teilen als zumindest verfassungsrechtlich bedenklich charakterisiert. Seitdem hat sich die Bundesregierung aus der Weiterarbeit verabschiedet. Neue Modelle werden diskutiert. Die Bundesregierung zieht sich auf eine, wie ich es nenne, Moderatorenrolle zurück, als habe sie mit dem Gesetzentwurf nichts weiter zu tun.
Die SPD-Fraktion will die Diskussion wieder anstoßen und will die Aktivität an die Adresse zurücklenken, an die sie eigentlich hingehört, an die Adresse der Bundesregierung und vor allen Dingen an die Adresse des Bundesfinanzministers. Die jetzt bei einigen Abgeordneten und, so nehme ich an, auch in einigen Arbeitskreisen der Koalitionsfraktionen diskutierten sogenannten Kuponmodelle gehen aus unserer Sicht in eine völlig falsche Richtung.
({0})
- Wir haben ab und zu über Zeitungen Gelegenheit, das nachzuvollziehen, was Sie dort diskutieren, meine Damen und Herren.
Worum geht es? - Die Vermögensabgabe, die die Bundesregierung vorgeschlagen hat, soll offensichtlich entfallen. Die Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen sollen in Richtung Verkehrswert angehoben werden. Die Ausgabe handelbarer Zertifikate, sogenannter Kupons, soll für eine möglichst vollständige Umsetzung der Geldansprüche in ostdeutsche Immobilien, die zur Zeit beim Bund, bei den Kommunen und bei den ostdeutschen Ländern stehen, sorgen. Alteigentümer werden mit Vorkaufsrechten ausgestattet.
Für uns verstößt dieses Kuponmodell gegen vitale Interessen Ostdeutschlands. Ich will dies an fünf Punkten holzschnittartig deutlich machen.
Erstens. Die Kupons organisieren einen bisher unvergleichbaren Vermögenstransfer von Ost- nach Westdeutschland. Die Immobilien befinden sich ausschließlich im Osten. Das Gros der Berechtigten ist in Westdeutschland. Die Handelbarkeit, die hier vorgesehen ist, verstärkt diesen Transferprozeß zusätzlich.
({1})
Alteigentümer und kapitalstarke Gesellschafter sind die Gewinner dieses Transfers aus Ostdeutschland.
Zweitens. Die Kupons sind wirtschaftspolitisch kontraproduktiv. Die Immobilien werden in den Ländern und Kommunen in Ostdeutschland für Industrieansiedlungen, für den Wohnungsbau und anderes mehr benötigt, nicht zur Entschädigung. Ostdeutsche Bauern benötigen das Land zum Pachten oder zum Kauf. Mein Kollege Dr. Thalheim wird dies noch ausführlich beleuchten. Die finanzielle Knebelung der Kommunen nach dem Motto „Verkauf die Immobilien oder zahle!" ist angesichts der wirtschaftlichen Situation der ostdeutschen Kommunen unerträglich. Die Auswirkungen auf den ostdeutschen Immobilienmarkt und auf den gesamtdeutschen Markt an Wertpapieren durch diese Kuponausschüttung sind noch völlig unklar.
Drittens. Die Kupons spalten aus unserer Beurteilung heraus die Enteignungsopfer. Es wird zu einem Wettlauf um die Realisierung der Kupons in Immobilien kommen. Die Starken, die finanziell Potenten haben gute Chancen, der Schwache hat das Nachsehen. Gegebenenfalls bleiben ihm nur 25 % der Geldentschädigung beim Rückkauf im Jahre 2004 durch den Bund. Die Opfer werden so angesichts der Erwartung einer höheren Entschädigung gegeneinander ausgespielt.
Viertens. Das Kuponmodell wirft neue verfassungsrechtliche Fragen auf, da es gegen einen Grundpfeiler des Einigungsvertrags verstößt. Die Bodenflächen für die Naturalentschädigung liegen zum Großteil im Bereich der Enteignungen von 1945 bis 1949. Die Vorkaufsrechte der Alteigentümer führen zu einer faktischen Rückabwicklung der Enteignungen 1945 bis 1949, insbesondere der Bodenreform. Selbst wenn im weiteren Diskussionsprozeß in der Koalition diese Vorkaufsrechte gegebenenfalls zu den Akten gelegt werden sollten, auf diese verzichtet werden würde,
({2})
würde nur der Käuferkreis verändert, nicht aber das Immobilienaufkommen. Dies ist ein Verstoß gegen den Einigungsvertrag und aus unserer Sicht auch gegen das Grundgesetz.
({3})
Fünftens. Das Kuponmodell durchbricht die Haushaltsneutralität, die der Regierungsentwurf einzuhalten bemüht war. Die Schätzungen der Mehrbelastungen für den Bundeshaushalt und - lassen Sie uns doch ehrlich sein - für den Steuerzahler reichen von 11 Milliarden bis über 30 Milliarden DM. Dies ist nicht nur völlig unpassend im Hinblick auf die gegenwärtige Haushaltslage, angesichts der die Bundesregierung offensichtlich bereit ist, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger weiter zu schröpfen und sozial an den Rand der Gesellschaft zu drängen.
({4})
Dies verschiebt aus unserer Sicht auch zusätzlich die Relationen zu den Wiedergutmachungsleistungen bei anderen Opfergruppen. Keine Opfergruppe, weder die politischen Häftlinge noch die Opfer von Verwaltungsunrecht und beruflicher Diskriminie16354
rung, hat einen Ausgleich der erlittenen Nachteile erfahren.
({5})
Oft haben Wiedergutmachungsleistungen nur symbolischen Wert gehabt.
Anders ist dies jedoch bei Eigentumsproblemen. Hier wird alles unternommen. Hier werden zigverschiedene Modelle durchgerechnet,
({6})
um einen möglichst vollständigen Vermögensausgleich bei den Betroffenen zu organisieren. Die Bundesregierung hat mit dem Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung" bereits 1990 die von Vermögensschäden Betroffenen gegenüber den anderen Betroffenen privilegiert.
({7})
Wenn sie nun bereit ist, die Haushaltsneutralität aufzugeben und ein Kouponmodell mit einer Gesamtbelastung von ca. 30 Milliarden DM aufzulegen,
({8})
während die politischen Häftlinge nach dem 1. SEDUnrechtsbereinigungsgesetz nur knapp über 2 Milliarden DM erhalten haben, wünsche ich der Bundesregierung bei der Diskussion mit den Häftlingsverbänden viel Vergnügen. Dies ist Eigentumslobbyismus pur, meine Damen und Herren.
({9})
Meine Damen und Herren, die Diskussion muß vom Kopf wieder auf die Füße gestellt werden. Wir wollen, daß als Ergebnis der Anhörung ein eigenständiger Entwurf für die einmaligen Zuwendungen an die Vertriebenen, die im Beitrittsgebiet ihren Wohnsitz haben, vorgelegt und schnell behandelt wird.
({10})
Ich glaube, der Gruppenantrag, der sich offensichtlich in der Regierungskoalition nicht vollständig durchsetzen konnte, den wir leider ohne Debatte heute hier eingebracht haben, ist eine gute Diskussionsgrundlage dafür. Wir müssen da über einige Punkte sicher noch reden. Aber ich glaube, das ist ein guter Schritt.
Wir wollen zweitens, daß der erklärte Wille der frei gewählten Volkskammer und der letzten Regierung der DDR und der erklärte Wille, der auch aus dem Urteil des Verfassungsgerichts vom 23. April 1991 hervorgeht, Berücksichtigung findet.
Ich bin als Ostdeutscher hier besonders sensibel. Sowohl die Koalitionsvereinbarung der DDR-Regierungsparteien vom 12. April 1990 als auch die Regierungserklärung von Lothar de Maizière vom 19. April 1990 sowie die Gemeinsame Erklärung, die als Anlage III in den Einigungsvertrag gekommen ist, und
- ich sage es noch einmal - das Urteil des Bundesverfassungsgerichts haben hier eine eindeutige Sprache geredet, nämlich daß eine Rückabwicklung dieser Enteignungen - wie die Enteignungen von 1945 bis 1949 - nicht stattfindet.
Die Ostdeutschen haben dies 1990 nicht diskutiert, um die Opfer nachträglich schlechter zu stellen oder zu benachteiligen.
({11})
Es ging den Ostdeutschen hier um den Rechtsfrieden. „ ... es war unvorstellbar, " meine Damen und Herren, „daß die DDR den Vertrag ohne die spezielle Eigentumsgarantie unterschrieben hätte." Dies ist ein Zitat von Wolfgang Schäuble aus seinem Buch „Der Vertrag". Ich finde es bedauerlich, wenn dies offensichtlich nun nur noch von relativ wenigen in der Regierungskoalition so gesehen wird.
Herr Kollege Schwanitz, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte gern im Zusammenhang bis zum Ende reden.
Wir wollen zum dritten, daß die Wertschere, die ein entscheidender Kritikpunkt am Regierungsentwurf war, auf das verfassungsrechtlich unbedenkliche Maß reduziert wird. Wir sind gemeinsam mit dem Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern, Herrn Seite, der Meinung, daß dies nur mit einer Vermögensabgabe geht. Das Kouponmodell ist hierzu untauglich.
Was leistet das Kouponmodell, um die Wertschere zu schließen? Die Wertschere tritt auf zwischen dem Verkehrswert des Restitutionsobjekts und der Entschädigungshöhe.
({0})
Ich gehe einmal nach der Sparvariante, die wir im „Handelsblatt" mit der Summe von 10,9 Milliarden DM Gesamtvolumen vorgestellt bekommen haben. Danach sollen die Entschädigungen um 5 Milliarden DM erhöht werden, und die Vermögensabgabe, die einen Gesamtumfang von 3,4 Milliarden DM hat, soll wegfallen. Beides muß bei der Frage nach der Wirkung auf die Wertschere natürlich gegengerechnet werden, da es gegensätzlich wirkt.
Der Wegfall der Vermögensabgabe vergrößert die Schere, da die Belastung für den Restitutionsberechtigten geringer wird. Der Gesamtbeitrag zur Scherenschließung ist also eine saldierte Größe von 1,6 Milliarden DM. Von dem Gesamtvolumen von 10,9 Milliarden DM gehen also noch 15 % zu diesem Zweck in das Ganze tatsächlich ein.
Die Schere - dies kommt hinzu - ist aber eine individuelle Kategorie. Es geht letztendlich um den Vermögensvorteil für den einzelnen. Das heißt, die Anzahl der Restitutions- und der Entschädigungsberechtigten muß bei dieser Betrachtung berücksichtigt werden.
Am Schluß komme ich zu folgendem Fazit: Da mit hoher Wahrscheinlichkeit die Anzahl der Entschädigungsberechtigten, welche letztendlich die Nutznießer der Entschädigungserhöhung sind, viermal so groß sein wird wie die Anzahl der Restitutionsberechtigten, trägt dieses Modell nicht zur Verkleinerung, sondern zur Vergrößerung der Wertschere für den einzelnen bei.
Wenn die Wertschere bei der Anhörung der Hauptkritikpunkt am Regierungsentwurf war und die Experten ihn deswegen als verfassungswidrig oder zumindest nicht ganz verfassungskonform klassifizierten, so gilt dies folglich in noch größerem Umfang für das jetzt diskutierte Modell. Eine tolle Leistung nach zwei Monaten Modellsuche!
({1})
Wir wollen weiterhin einen Verzinsungsanspruch ab dem 3. Oktober 1990 bis zum Leistungsvollzug. Das schließt nicht nur die Schere, sondern das ist auch nur zu gerecht. Denn letztendlich ist der Anspruch am 3. Oktober 1990 entstanden, und wir wissen, daß es noch Jahre dauern wird, bis dieser Anspruch in Geld umgemünzt werden kann.
Wir wollen, daß die Vermögensabgabe für reprivatisierte Unternehmen gestrichen wird. Dies ist nach der Anhörung klar geworden. Es ist wirtschaftspolitisch kontraproduktiv, diese Vermögensabgabe zu belassen. Aufkommensseitig springt dort auch nichts heraus.
({2})
Wir wollen, daß die Entscheidungsfrist verlängert wird. Es muß - diese Forderung haben wir schon im Mai formuliert - eine reale Entscheidungsmöglichkeit zwischen Restitution und Entschädigung eröffnet werden.
Wir wollen ferner, daß eine eigenständige Entschädigungsregelung für die Opfer des Nationalsozialismus geschaffen wird. Wir sind dies unserer eigenen Geschichte und unserem internationalen Ansehen schuldig.
({3})
Meine Damen und Herren, lassen Sie ab von diesem abwegigen Kupon-Modell! Beenden Sie die weitere Diskussion über diese kontraproduktiven Planspiele! Diese gefährden den Rechtsfrieden und führen zu unübersehbaren wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen in Ostdeutschland. Wer an einer ausgewogenen Enschädigungsregelung interessiert ist, die nach einem angemessenen Kompromiß zwischen dem individuell Wünschbaren und dem ökonomisch und sozial Vertretbaren sucht, wer nicht will, daß wir 1994 in einen verteilungspolitischen Wahlkampf rutschen, der nur spalten kann, der muß von diesem Kupon-Modell ein für allemal die Finger lassen.
Danke schön.
({4})
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Reiner Krziskewitz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die am 15. und 16. September 1993 stattgefundene Anhörung des Finanz-und des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages zu Fragen des Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetzes hat noch einmal die Dringlichkeit und die Notwendigkeit einer zügigen Regelung der Gesamtproblematik verdeutlicht.
({0})
Es geht nicht darum, daß wir darüber beraten, ob wir hier etwas machen oder nicht. Wir sind vielmehr vom Grundgesetz und vom Verfassungsgericht dazu verpflichtet.
({1})
Der Briefwechsel zwischen der letzten Regierung der DDR und der Bundesregierung sowie die grundlegenden Feststellungen des Einigungsvertrages haben die grundsätzliche Regelung von Ausgleichsleistungen festgeschrieben, jedoch die endgültige Ausgestaltung dem Gesetzgeber des wiedervereinigten Deutschlands auferlegt. In vollem Einklang damit steht das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 23. April 1991.
Die Anhörung hat ergeben, daß wesentliche Elemente des Regierungsentwurfs einer Nachbesserung bedürfen. Es sind dies einmal verfassungsrechtliche Bedenken, die sich aus einem zu hohen Auseinander-klaffen von Restitutionen einerseits und Entschädigungsleistungen in Geld andererseits ergeben.
Zum anderen gibt es auch schwerwiegende volkswirtschaftliche Bedenken gegen eine zu stark ausgestaltete Vermögensabgabe, die zwar geeignet wäre, diese Wertscherenproblematik zu schließen, andererseits aber ein ernstzunehmendes Investitionshemmnis darstellt bzw. ostdeutsche Restituanten von einer körperlichen Restitution ausschließt, weil sie diese Vermögensabgabe nicht leisten können.
({2})
In bezug auf die Anhörung muß jedoch auch festgestellt werden, daß es in zentralen Punkten große Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Expertengruppe selbst gibt.
Vor diesem Hintergrund hat sich eine Arbeitsgruppe erneut mit dieser Problematik befaßt. Für die Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion aus den neuen Bundesländern ist es von entscheidender Bedeutung, daß die Landesregierungen der neuen Bundesländer in diese Beratungen fest eingebunden sind. Ich freue mich ganz besonders darüber, daß sich auch das Land Brandenburg an diesen Beratungen beteiligt. Das ist konstruktives Mittun.
Aus der Sicht von uns CDU-Abgeordneten aus den neuen Bundesländern ergeben sich u. a. folgende Schwerpunkte:
Erstens. Aus rechtlichen und sachlichen Gesichtspunkten wird eine absolute Haushaltsneutralität nicht möglich sein. Andererseits hat das Bundesverfas16356
sungsgericht in seiner Gesamtwürdigung festgestellt, daß bei der Gestaltung von Ausgleichs- und Entschädigungsleistungen die finanziellen Möglichkeiten des Staates und des Gemeinwohls überhaupt einschließlich der allgemeinen Haushaltslage eine angemessene Berücksichtigung finden müssen. Das heißt, Ausgleichs- und Entschädigungsleistungen können nur im Umfange eines vorzugebenden Rahmens gestaltet werden.
Zweitens. Während des Meinungsbildungsprozesses hat sich die Überzeugung durchgesetzt, daß eine Vermögensabgabe in größerem Umfang volkswirtschaftlich nicht sinnvoll wäre und die überall anzutreffenden Liquiditätsprobleme besonders von restituierten Unternehmen noch mehr verstärken würde.
In diesem Zusammenhang, Herr Kollege Schwanitz, begrüße ich ausdrücklich Ihre Einlassungen und die entsprechende Formulierung des SPD-Antrages. Noch in der Debatte am 13. Mai hatte Ihr Kollege Hampel nahezu fanatisch auch für diese Betriebe eine Vermögensabgabe von über 50 % gefordert. Ich habe versucht, ihn danach zu fragen, habe versucht, ihm das auszureden, aber er war einfach ideologisch blockiert. Diese Blockierung ist nun weg; ich freue mich darüber. Ich sehe auch ein positives Zeichen, daß man sich aufeinander zubewegen kann.
Drittens. Wir sind der Meinung, daß eine Differenzierung zwischen Ausgleichsleistungen für 1945 bis 1949 Enteignete und Entschädigungen für nach 1949 enteignetes Vermögen nicht nur sachlich angebracht, sondern auch juristisch vertretbar ist. Bei aller Vergleichbarkeit der individuellen Schicksale handelt es sich doch um unterschiedliche Tatbestände.
In diesem Zusammenhang darf ich u. a. darauf verweisen, daß viele Enteignungen auf besatzungsrechtlicher Grundlage 1945 nicht direkt in Volksoder Staatseigentum überführt wurden, sondern in direkten sowjetischen Besitz übergingen. Es sei hier nur auf die besonders im Bereich der Industrie und des Bergbaus damals eingeführten sowjetisch-deutschen Aktiengesellschaften hingewiesen, die erst 1952 oder 1956 in Volkseigentum übergeführt wurden.
Viertens. Wir sind der Ansicht, daß Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen nicht nur in Form von Geld, sondern auch im Erwerb von Vermögenswerten gestaltet werden können. Dabei kann es sich nicht um eine Rückgabe oder Restitution, beispielsweise im landwirtschaftlichen Bereich um eine Rückabwicklung der Bodenreform handeln. Vielmehr sollte den Berechtigten die Möglichkeit eingeräumt werden, im Zuge der Privatisierung von Bundesvermögen, wozu der Bund ja verpflichtet ist, im weitesten Sinne auch sachliches Vermögen zu erwerben.
({3})
Fünftens. Wir wollen, daß dafür kein Landes- oder Kommunalvermögen herangezogen wird. Vielmehr soll ein Erwerb ausschließlich aus Bundesvermögen ermöglicht werden. Hier möchte ich hinzufügen: Auch Bundesvermögen, das sich in den alten Bundesländern befindet - beispielsweise wenn Standorte von den Alliierten freigegeben werden -, sollte hier einbezogen werden;
({4})
denn hier haben wir es mit einem Kriegsfolgenlastenproblem zu tun, das ganz Deutschland betrifft. Wir müssen versuchen, diese ewige Diskussionsgrundlage und diesen Schlagabtausch einfach einmal aufzubrechen und zur Konstruktivität zu kommen.
Sechstens. Alle hier angesprochenen Vermögenserwerbe können nur unter der Beachtung der berechtigten Interessen der jetzigen Nutzer erfolgen. In konkreten Fällen des Erwerbs z. B. von landwirtschaftlichen Nutzflächen kann das nur mit der langfristigen Verpachtung an die jetzigen Pächter, Nutzer und Bebauer einhergehen.
Die in den neuen Bundesländern arbeitenden Kommissionen haben inzwischen ein entsprechendes Instrumentarium geschaffen, das eine gerechte Verteilung auf dem Pachtsektor ermöglicht.
Meine Damen und Herren, dessen ungeachtet sind wir aber mit der bisherigen Praxis der Verpachtung nicht zufrieden und nicht einverstanden. Obwohl wir um die Schwierigkeiten bei ungeklärten Eigentumsverhältnissen ganz besonders im Bereich von Streuflächen wissen - man muß einmal zu den entsprechenden Landesämtern gehen und sich eine solche Flurkarte ansehen -, kritisieren wir die zu zögerliche Vergabe von langfristigen Pachtverträgen.
Wir fordern von Treuhand und BVVG eine zügigere Umsetzung. Landwirtschaftliche Betriebe, in welchen Bewirtschaftungsformen auch immer sie existieren mögen, benötigen zur Verfolgung langfristiger, vernünftiger betriebswirtschaftlicher Konzepte entsprechende Garantien.
({5})
Meine Damen und Herren, wir sind der Ansicht, daß über das allgemeine deutsche Pachtrecht hinausgehende Verpachtungsmöglichkeiten, nämlich auf 18 Jahre, verwirklicht werden sollten.
({6})
Für die betriebswirtschaftliche Konzeption eines Betriebes ist das Eigentum an landwirtschaftlicher Nutzfläche kein zwingendes Erfordernis, wohl aber die langfristige Verfügbarkeit im Rahmen von gesicherten Pachtverträgen. Mit dieser Aussage, meine Damen und Herren, befinden wir uns in völliger Übereinstimmung mit den Bauernverbänden in den neuen Bundesländern.
Siebtens. Wir meinen, daß ein Teil der im Bundesvermögen befindlichen landwirtschaftlichen Nutzflächen für ein spezielles Siedlungs- und Landkaufprogramm in den neuen Bundesländern vorbehalten werden muß. Mit Hilfe eines solchen Programms sollten Neu- und Wiedereinrichter in den neuen Bundesländern auf Grund ihrer speziellen schwierigen wirtschaftlichen Situation, der Unmöglichkeit,
vorher Kapital zu bilden, die Chance erhalten, ihren Eigenlandanteil bis in Höhe von etwa 50 % der Gesamtwirtschaftsfläche aufzustocken. Hier muß man sich über entsprechende Grenzen unterhalten.
Achtens. Für die technische Abwicklung der Ausgleichs- und Entschädigungsleistungen wurde in den Beratungen u. a. ein Modell diskutiert, in dem anstelle der Auszahlung in Geld ein Erwerbsberechtigungsschein oder ein Zertifikat ausgegeben werden können. Die Werthöhe solch eines Kupons oder Gutscheins, wie immer Sie das nennen wollen, muß sich an untereinander vergleichbaren Maßstäben orientieren und muß - ich betone das - sozialen Gesichtspunkten Rechnung tragen. Das bedeutet, daß eine degressive Gestaltung der Ausgleichs- und Entschädigungsleistungen unverzichtbar ist.
({7})
Mit anderen Worten: Enteignetes Vermögen im kleinen und im mittleren Bereich muß in anderer prozentualer Höhe entschädigt werden als enteignetes Vermögen als Großvermögen von Tausenden von Hektar. Mit solch einer Lösung, die das Kuponmodell eigentlich nur als eine technizistische Variante darstellt, wäre eine Umkehr beispielsweise der Bodenreform technisch und sachlich ausgeschlossen, den Berechtigten aber die Möglichkeit eröffnet, im Rahmen ihres Anspruches Vermögen, zu dessen Privatisierung die Treuhandanstalt verpflichtet ist, zu erwerben - nicht nur im Osten, sondern auch im Westen unseres Vaterlandes.
({8})
Für die Fälle, in denen von dieser Möglichkeit nicht Gebrauch gemacht wird, sollte eine spätere Auszahlung in Geld, freilich unter einem gehörigen Abschlag, möglich sein. Ich bin dafür - da gehen unsere Meinungen auseinander -, daß wir das vorhandene Bundesvermögen privatisieren und nicht einfach horten und auf der anderen Seite den Haushalt belasten, sondern daß wir dieses Vermögen, das der Bund für seine Verwaltungsaufgaben nicht braucht, privatisieren, und das als Entschädigung ansehen.
({9})
Neuntens. Mit der heutigen Einbringung eines Gesetzentwurfes über eine einmalige Zuwendung an die Vertriebenen in den neuen Bundesländern haben über 120 Abgeordnete der Koalition aus den alten und den neuen Bundesländern dieses Anliegen auf den Weg gebracht.
Die Hauptpunkte dieses Entwurfes sind: die Feststellung des Zuwendungsanspruchs per 1. Januar 1994 und der Beginn der Auszahlung im Jahr 1994.
({10})
Meine Damen und Herren, die ältesten Jahrgänge, die über 70- oder 75jährigen, müssen zuerst bedient werden.
Die Behauptung - das möchte ich zum Schluß noch anfügen -, ein fehlendes Entschädigungsgesetz sei das ausschlaggebende Investitionshemmnis in den neuen Bundesländern überhaupt, wie das im Antrag inauguriert wird, verkennt die wirkliche Situation. Selbstverständlich gibt es bei ungeklärten Eigentumsfragen Probleme. Aber die Lage hat sich in weiten Gebieten des Landes sehr, sehr verändert. Mittlerweile gibt es zwischen Rostock und Plauen so viele Gewerbegebiete, daß man halb Europa damit versorgen könnte. Freie Flächen werden heute in jeder Stadt angeboten. Das ist nicht das Problem; die Probleme liegen woanders.
({11})
Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich bedanke mich.
({0})
Meine Damen und Herren, der Antrag der SPD trifft bei allem erkennbaren Bemühen nicht den Kern der Sache.
({1})
Da muß ein bißchen mehr Butter an die Fische, Sie müssen sich schon ein bißchen mehr Mühe geben. Wissen Sie: Ziehen Sie das Ganze zurück! Es ist einfacher für uns.
({2})
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Dr. Walter Hitschler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der SPD fordert im Kern die Bundesregierung eigentlich nur auf, neu nachzudenken. Insofern ist der Antrag überflüssig, weil man den Eindruck gewinnen muß, Herr Staatssekretär, daß die Köpfe im Finanzministerium bei einer großen Zahl Ihrer Beamten vor lauter Nachdenken nur so rauchen.
Denn der vorgelegte Gesetzentwurf eines Entschädigungsgesetzes ist auf erhebliche Kritik gestoßen. Die am 15. und 16. September durchgeführte gemeinsame Anhörung des Finanz- und Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages hat zu dem Entwurf eines Entschädigungsgesetzes übereinstimmend ergeben, daß die rechtskundigen Experten dieses Werk ziemlich einhellig als verfassungswidrig ansehen.
Die Verfassungswidrigkeit wird sowohl für die Regelungen unterstellt, welche die Höhe der Entschädigung betreffen, als auch für diejenigen für die vorgesehene Vermögensabgabe. Der Gesetzentwurf der Regierung hätte, auf einen kurzen Nenner gebracht, die Wirkung, daß die in der Zeit der DDR
von widerrechtlichen Enteignungen Betroffenen die Entschädigungsregelung sozusagen unter sich ausmachen müßten. Diejenigen, die auf Grund ihrer Restitutionsansprüche Grund und Boden in natura zurückerhielten, müßten eine Vermögensabgabe an einen Entschädigungsfonds entrichten, und diejenigen, bei denen eine Naturalrestitution nicht mehr möglich ist oder die sich für eine Entschädigung in Geld entschieden hätten, erhielten aus diesem Fonds eine äußerst niedrige Entschädigung in Geld. Die Schere zwischen der Wertentschädigung in Geld und der in natura wäre unvertretbar und unzulässig weit auseinandergegangen. Die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolger der DDR hielte sich dabei vornehm zurück und würde als ungerechtfertigt Bereicherte aus dieser Regelung hervorgehen, ungemein bereichert durch einen stattlichen Grundbesitz.
({0})
Nicht nur die Wertschere zwischen der Geldentschädigung und der Naturalrestitution verstieße gegen den Gleichheitsgrundsatz unseres Grundgesetzes, sondern auch die Tatsache, daß Geschädigte und Nichtgeschädigte ungleich behandelt würden.
({1})
Bei der Vermögensabgabe käme hinzu, daß der Wiedergutmachungsgrundsatz eine Entschädigung eigentlich ausschließen müßte und daß den bereits Geschädigten durch eine Vermögensabgabe zusätzlicher Schaden zugefügt würde. Deshalb ist man in diesem Hause wohl weitgehend einig, daß der von der Regierung vorgelegte Entwurf nicht Gesetz werden darf.
Gottlob gibt es außerhalb des Zirkels der Bundesregierung aber einige andere, die über Gesetzesvorhaben nachzudenken pflegen. Eine Gruppe solcher Abgeordneten und Kollegen, die ihren Auftrag als Gesetzgeber wörtlich zu begreifen scheinen, haben unter Führung meines Fraktionskollegen Hans Gattermann ein eigenes Modell zur Regelung der schwierigen Entschädigungsfragen entwickelt und vorgelegt.
Sie haben ein Modell entwickelt, das in der Öffentlichkeit unter dem Namen Kuponlösung oder Zertifikatslösung zirkuliert und das inhaltlich statt der bisherigen Kurzformeln „Rückgabe statt Entschädigung" oder „Entschädigung statt Rückgabe" auf eine neue Lösung setzt: „Rückgabe und Entschädigung".
Der Vorschlag trägt einigen wichtigen Grunderkenntnissen Rechnung.
Erstens. Man kann nicht zwischen guten und schlechten Enteignungen unterscheiden, so daß Enteignungen während der Zeit des nationalsozialistischen Regimes, Enteignungen während des besatzungsrechtlichen sowjetischen Regimes und Enteignungen während des kommunistischen Regimes der DDR im Prinzip rechtlich gleich zu bewerten sind, auch wenn man sie in anderen Gesetzen regelt.
({2})
Der Gattermann-Entwurf greift den in der Gemeinsamen Erklärung der beiden deutschen Regierungen zur Regelung offener Vermögensfragen vom 15. Juni 1990 festgelegten Auftrag auf, eine Entscheidung über staatliche Ausgleichsleistungen für die in der Zeit von 1945 bis 1949 enteigneten Mitbürger zu treffen. Seine Lösung geht davon aus, daß die Bundesrepublik Deutschland, wie Professor Willgerodt in der Anhörung ausgeführt hat, Gemeinschuldner der DDR geworden ist und deshalb das Ziel einer gesetzlichen Entschädigungsregelung nicht vordergründig und in erster Zielsetzung eine neutrale Haushaltslösung sein darf, sondern daß letztlich die gesamte Schicksalsgemeinschaft unseres Volkes in die Haftung genommen werden muß.
({3})
Zweitens. Der Gattermann-Entwurf nimmt die Eigentumsgarantie des Art. 14 Grundgesetz ernst und macht deutlich, daß dieser Staat das Eigentum seiner Bürger schützt und kein beliebiges Umgehen je nach Gefallen erlaubt. Man kann die Eigentumsfrage nicht mal so und mal so handhaben. Unsere Rechts- und Wirtschaftsordnung basiert auf dem Institut des Privateigentums, auch an Grund und Boden. Das Privateigentum ist eines der wichtigsten Grundelemente dieser Ordnung.
Drittens. Mit dem Gattermann-Modell wird eine geradezu glückliche Verknüpfung zwischen Rückgabe und Entschädigungsanspruch dadurch erreicht, daß Restitutionsberechtigte durch Aushändigung von beschränkt handelbaren Namenspapieren einen Anspruch auf den Erwerb von Grund und Boden erhalten, wenn auch nicht konkret und identisch auf jenen, den sie einmal besessen hatten, weil die darüber gewischte Geschichte dies nicht möglich macht.
Dieser Vorschlag ist gegen die Diskreditierungen durch die Falschbehauptungen, welche die SPD in ihrer Begründung des Antrags vornimmt, in Schutz zu nehmen.
Die erste Falschbehauptung gründet sich auf den Vorwurf, es würde ein Ausverkauf Deutschlands stattfinden. Dem ist entgegenzuhalten: 25 % der Anspruchsberechtigten wohnten am 3. Oktober und wohnen auch heute auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, also in den neuen Bundesländern.
Der Rest der Anspruchsberechtigten hat zur Zeit des kommunistischen Regimes die DDR meist unter erheblichem Druck verlassen. Diesen Mitbürgern, die zum Teil in ihre Heimat zurückkehren wollen, zum Teil über ihr dortiges Eigentum verfügen möchten, vorzuwerfen, das käme einem Ausverkauf gleich, bedeutet eine ungeheure Diskriminierung derer, die vor dem Unrechtsregime geflohen sind.
({4})
Es sind keine Pfälzer, keine Rheinländer oder Bayern, sondern Sachsen, Thüringer, Mecklenburger oder Brandenburger damals gewesen, und sie sind es heute noch. Sie kaufen nicht aus, sondern sie erhalten rechtmäßig zurück, was ihnen gehört.
Es handelt sich im übrigen um denselben Berechtigtenkreis, auf den der Regierungsentwurf abhebt.
Oder könnte es nach Vorstellung der SPD etwa ein anderer sein?
Die zweite Falschbehauptung besagt, das Gattermann-Modell ziele auf eine Rückabwicklung der Enteignungen zwischen 1945 und 1949. Dies trifft nicht zu, weil nur ein begrenzter Erstattungsanspruch eingeräumt wird. Es findet eben keine Rückabwicklung statt, aber der Versuch, denjenigen, die unter der sowjetischen Besatzungsmacht in besonders gründlicher und perfider Weise entrechtet wurden, halbwegs Gerechtigkeit dadurch widerfahren zu lassen, daß der Staat ihnen einen, an ihrem ursprünglichen Eigentum gemessen, bescheidenen Ausgleich verschafft.
Dem fühlen sich insbesondere jene 35 Kollegen meiner Fraktion verpflichtet, die bei der Abstimmung am 20. September 1990 über den Einigungsvertrag eine von Herrn Gattermann konzipierte Erklärung zur Abstimmung abgegeben haben, in der es heißt:
Wir bekräftigen für die F.D.P. die Entschlossenheit, darauf hinzuwirken, daß angemessene Ausgleichsleistungen für die unrechtmäßigen Enteignungen in der DDR zwischen 1945 und 1949 im gesamtdeutschen Parlament beschlossen und in Kraft gesetzt werden. Ausgleichsleistungen sind nach unserer Überzeugung nicht nur Geldzahlungen, sondern auch Vorkaufsrechte, Pachtrechte, Rückgabe an und von Boden an Gegenständen, wo immer das technisch möglich ist und keine gutgläubig erworbenen Nutzungsrechte oder Eigentumsrechte Dritter verletzt werden.
({5})
Diesem Anspruch werden wir mit der Zertifikationslösung gerecht.
Die dritte Falschbehauptung besagt, die Alteigentümer würden als einzige bevorzugt und erhielten mehr, als ihnen zustünde. Beim Betrachten dessen, was aus ihrem damaligen Eigentum geworden ist, werden manche Alteigentümer eher von einem Danaergeschenk reden wollen, denn das Gefühl haben, sie bekämen mehr, als ihnen zustünde. Angesichts der tatsächlichen Verhältnisse ist diese Aussage nicht nur merkwürdig zu nennen, sondern sie ist geradezu als Unverschämtheit zu bezeichnen, auch angesichts der Tatsache, daß der Staat je nach Ausstellungsdatum eine Einlösungsgarantie für die Zertifikate zwischen 25 % und 47,5 % des Wertes übernimmt, und angesichts der Tatsache, daß in allen gesetzlichen Begleitregelungen, die bereits verabschiedet bzw. konzipiert sind, all jene begünstigt werden, die zu DDR-Zeiten lediglich ein Nutzungsrecht erworben hatten. Gerade von jenen, die sich mit Hilfe der Zertifikate Grund und Boden wieder erwerben möchten, wird auch erwartet, daß sie darüber hinaus mit kräftigen Investitionen Wertverbesserungen finanzieren.
Die vierte Falschbehauptung schließlich unterstellt, das Gattermann-Modell bedeute einen Frontalangriff auf den Rechtsfrieden. Rechtsfrieden kann es nicht durch Unrechtssanktionierung geben, auch wenn dies in dem ungeheuren Verteilungskampf um die künftigen Lagerrenten, der in den neuen Ländern entbrannt ist, dem einen oder anderen oder ganzen Gruppen nicht paßt.
Das Gattermann-Modell knüpft nahtlos an den Geist des Einigungsvertrages an. Art. 9 des Einigungsvertrages bindet die Fortgeltung von DDR-Recht an die Regeln unseres Grundgesetzes, und Art. 41 des Einigungsvertrages gebietet ausdrücklich die Rückübertragung von Grund und Boden; und die gemeinsame Erklärung zur Abwicklung offener Vermögensfragen beinhaltet den Grundsatz: Enteignetes Grundvermögen wird grundsätzlich den ehemaligen Eigentümern oder ihren Erben zurückgegeben.
Es wäre also ratsam, wenn manche Kollegen gelegentlich noch einmal in dem Einigungsvertrag lesen würden. Sie kämen dabei zu der Erkenntnis, daß beide Regierungen beim Abschluß des Einigungsvertrages gesagt haben: In Eigentumsfragen ist Grundsatztreue gefragt und kein Sich-Biegen und -Neigen in populistischen Windungen.
({6})
Meine Damen und Herren, das Wort hat nun unsere Frau Kollegin Dr. Barbara Höll.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Abgeordnetengruppe der PDS/Linke Liste hält den Antrag der Fraktion der SPD für äußerst notwendig. Allerdings scheint es zunächst erforderlich, die historischen Wahrheiten zu benennen. Das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" hinsichtlich der Grundstücke in der ehemaligen DDR ist Gegenstand des Einigungsvertrages. Die SPD tut allerdings so, als ob sie von Anfang an gegen dieses Prinzip eingetreten wäre.
({0})
Aber ohne die Zustimmung der SPD in der Volkskammer, im Bundestag und im Bundesrat wäre dieser Einigungsvertrag nie zustande gekommen.
Und erinnert sei daran, daß die SPD durchaus hartnäckig sein konnte. So hat sie z. B. im Zusammenhang mit der Vereinigung ein verfassungswidriges Wahlrecht gefordert, um den Einzug der PDS in den Bundestag zu verhindern. Sie konnte sich damit durchsetzen, weil sie andernfalls nicht bereit gewesen wäre, dem entsprechenden Staatsvertrag zuzustimmen. Sie hat auch gefordert, daß die im Entwurf des Einigungsvertrages nicht vorgesehene faktische Enteignung der PDS unbedingt hinein muß, weil sie andernfalls nicht bereit gewesen wäre, dem Einigungsvertrag zuzustimmen.
({1})
Hätte sich doch die SPD damals ebenso konsequent gegen das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" gewandt! Dann hätte die Koalition keine andere Möglichkeit gehabt, als gegenüber der SPD nachzugeben, und wir hätten von Anfang an Rechtsfrieden
gehabt und ein Investitionshemmnis gar nicht erst zugelassen. Aber das ist Geschichte.
Heute ist es tatsächlich so, daß durch die gegebene Rechtslage und die große Rechtsunsicherheit auf verschiedenen Gebieten nicht nur wirtschaftlich ein Investitionshemmnis gegeben ist, sondern viele Bürgerinnen und Bürger im Osten Deutschlands völlig verunsichert sind.
Es gab in der DDR nie eine Vermögensbildung wie im Westen, mit einer wichtigen Ausnahme: Sowohl vom Anteil der Bevölkerung als auch hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Schichten gibt es in einem Umfang Grundstückseigentum, wie es in der alten BRD undenkbar war.
Viele sogenannte einfache Leute in der DDR sind Grundstückseigentümerinnen und Grundstückseigentümer geworden. Viele von ihnen leben jetzt in der Unsicherheit, entweder ihr Eigentum zu verlieren oder dafür erneut zur Kasse gebeten zu werden. Deshalb ist nicht zu Unrecht der Eindruck entstanden, daß diese eine Form der Vermögensbildung, die in der früheren DDR wesentlich umfangreicher als in der früheren BRD war, unbedingt zurückgeschraubt werden soll. Um Eigentumsgerechtigkeit geht es sowieso nicht; denn dann könnte man die historische Schere weder 1945 noch 1949 ansetzen. Davor ist Eigentum häufig auf viel fragwürdigere Art und Weise entstanden als in der DDR.
Aus all diesen Gründen ist eine Entschließung des Bundestages dringend erforderlich. Wir stimmen auch einzelnen Vorschlägen ausdrücklich zu, z. B. dem, die Entschädigung für Opfer des Nationalsozialismus einer gesonderten gesetzlichen Regelung zuzuführen.
Aber völlig unverständlich ist, weshalb der Entschließungsantrag der SPD den gesamten Problemkreis der Verwertung der ehemals volkseigenen land- und forstwirtschaftlichen Grundstücke ausspart - und das, obwohl im Wahlkampf 1990 die SPD gerade diesbezüglich aktiv war. Wolfgang Roth aus dem Bundestag und Professor Kaufhold aus der Volkskammer erklärten z. B. am 20. September 1990:
Wir empfehlen heute allen Genossenschaften und Bürgern, rasch zu handeln, noch im September volkseigene Flächen zu pachten oder zu kaufen.
Nichts dergleichen hört man heute. Der Entschließungsantrag sagt auch kein Wort über das Gesetz der Volkskammer zur Übertragung und Verpachtung volkseigener landwirtschaftlicher Grundstücke an Genossenschaften, Genossenschaftsmitglieder, andere Bürger, das durch den Einigungsvertrag übernommen wurde und im Zusammenhang mit § 1 Abs. 6 des Treuhandgesetzes die gesetzliche Grundlage der Bodenverwertung darstellt.
Der vorliegende Entwurf bedarf also unbedingt der Ergänzung dahin, daß die Verwertung der sogenannten Treuhandflächen unverzüglich auf der Grundlage des geltenden Rechts zu erfolgen hat und die sogenannte untergesetzliche - oder besser: ungesetzliche - Verwertung auf der Basis des sogenannten Bohl-Papiers zu unterbleiben hat.
({2})
- Das wurde in der Anhörung weggedrückt.
Einig sind wir uns, daß die Verwirklichung der sogenannten Kuponidee faktisch eine weitgehende Liquidierung der Ergebnisse der Bodenreform bedeuten würde. Es ist bezeichnend, daß diese Kuponregelung in der entsprechenden Arbeitsgruppe der CDU/ CSU und der F.D.P. Zustimmung findet. Die Macht des Lobbyismus ist kaum noch zu brechen. Dafür werden dann auch 25 Milliarden DM bereitgestellt, was ja offensichtlich nur möglich war, nachdem im Sozialbereich 16 Milliarden DM gestrichen wurden.
({3})
Zugunsten der Bürgerinnen und Bürger im Osten, insbesondere zugunsten der Bäuerinnen und Bauern, müssen wir das Rechtsinstitut der Erbpacht wieder einführen. Es muß also die Möglichkeit bestehen, landwirtschaftliche Grundstücke für 99 Jahre mit dem Recht der Vererbbarkeit zu pachten, wenn die landwirtschaftliche Nutzung gesichert bleibt.
({4})
Auch davon ist im SPD-Antrag keine Rede. Sie wissen, daß die Bürger im Osten gar nicht über das notwendige Kapital verfügen, um Grundstücke zu erwerben. Deshalb wäre eine Erbpachtregelung die einzige wirkliche Hilfe und die einzige reale Grundlage, um den Bürgerinnen und Bürgern im Osten tatsächlich eine Chance zu geben.
({5})
Zum Abschluß kurz eine dritte Kritik, die ich noch anbringen muß, weil auch die sogenannten Ausgleichsleistungen für besatzungsrechtliche oder besatzungshoheitliche Enteignungen aufgenommen werden. Meines Erachtens ist es weder juristisch noch politisch oder moralisch gerechtfertigt, Ausgleichszahlungen für besatzungsrechtliche oder besatzungshoheitliche Enteignungen in der gleichen Höhe mit hineinzunehmen. Sie müssen wesentlich geringer ausfallen.
In diesem Sinne unterstützen wir den Antrag der SPD mit den notwendigen Ergänzungen in den Ausschußberatungen.
Ich bedanke mich.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Ullmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer ein Restitutionsedikt mit dem Stichjahr 1949 erläßt, darf sich nicht wundern, daß es ihm bei der Lösung der deutschen Eigentumsprobleme genauso ergeht wie der Gegenreformation mit ihrem Stichjahr 1624. Er wird auf immer neue Fälle stoßen, in denen die
tatsächliche historische Situation eine Wiederherstellung einer in unserem Fall Jahrzehnte zurückliegenden Zuständlichkeit unmöglich macht.
So haben uns mehrere Jahre der Ausnahmen- und Reparaturgesetzgebung nun dorthin gebracht, wo wir jetzt stehen. Das Entschädigungsproblem droht zum Haupthindernis der Wiederherstellung des Rechtsfriedens zu werden, zu dem hin uns die beiden im parlamentarischen Verfahren befindlichen Gesetze, das Registerverfahrensbeschleunigungsgesetz und das Sachenrechtänderungsgesetz, erhebliche Schritte nähergebracht haben.
Frau Kollegin Höll, das von Ihnen favorisierte Modell der Erbpacht ist der Grundgedanke des Sachenrechtänderungsgesetzes. Das wird also kommen.
Um so mehr begrüße ich angesichts der Schwierigkeit der Entschädigung die Initiative der SPD-Kolleginnen und -Kollegen,
({0})
die die Regierung auffordert, nach ihrem gescheiterten ersten Anlauf baldmöglichst einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die in der großen Sachverständigenanhörung vorgetragenen Einwände und Vorschläge aufgreift.
Auch den im SPD-Antrag vorgetragenen Grundsätzen kann ich im wesentlichen, nicht in allen Einzelheiten - wie Sie gleich merken werden -, zustimmen.
Erlauben Sie mir, die Punkte zu benennen, bei denen ich systematische und materiellrechtliche Klarstellungen für unerläßlich halte.
Erstens müßte nach dem Scheitern des kritisierten Regierungsentwurfes jetzt so entschieden wie möglich - da unterscheide ich mich auch von dem Kollegen von der F.D.P. - als Ausgangspunkt und Gegenstand der gesetzlichen Regelung klargestellt werden: Das geforderte Gesetz hat zum Gegenstand die in der gemeinsamen Erklärung in Ziffer 1 festgelegten Ausgleichsleistungen - auch laut Karlsruher Urteil - und die in Ziffer 13 Abs. c vorgesehenen Entschädigungen, und nichts anderes.
So war es ein unbegreiflicher Mißgriff der Regierung, die Rückerstattung sogenannten arisierten jüdischen Eigentums in ein Gesetz aufzunehmen, dessen Inhalt der Ausgleich für nicht restituierbare Enteignungen zwischen 1945 und 1949 und die Entschädigung für zu DDR-Zeiten entfremdetes Eigentum, dessen Rückgabe auf unüberwindliche Hindernisse stößt, ist. Die Vermischung von Eigentumsentzug von solchen Personen, die Gegenstand der Genozidaktionen des Deutschen Reiches vor 1945 waren, mit eigentumsrechtlichen Folgen der deutschen Teilung, d. h. einer Folge jener an den Juden begangenen Verbrechen, ist einer der eklatantesten Fälle mangelnder Bewußtheit der eigenen geschichtlichen Lage.
Auf jeden Fall müssen die Fragen der Restitution jüdischen Eigentums einem besonderen Gesetz vorbehalten werden. Da bin ich also ganz anderer Meinung als Sie.
({1})
Das gleiche gilt für den Lastenausgleichsersatz für die Vertriebenen im Bereich der ehemaligen DDR. Auch das kann sofort und ohne Komplikationen in einem eigenen Gesetz geregelt werden.
({2}) Ich höre, es ist ja schon auf der Bahn.
Herr Kollege Ullmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hitschler?
Ja; bitte.
Herr Kollege Ullmann, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß das Kuponmodell des Kollegen Gattermann und weiterer Kollegen genau dies, was Sie verlangen, vorsieht, nämlich eine eigenständige gesetzliche Regelung für die jüdischen Vermögen?
Um so besser. Sie werden gleich hören, daß ich in einem bestimmten Punkt das Modell aufgreifen werde. Ich komme gleich dazu.
Es bleibt als Hauptaufgabe, festzulegen, worin die vorn Karlsruher Urteil vorn 23. April 1991 geforderten Ausgleichsleistungen und die laut gemeinsamer Erklärung zu erstattenden Entschädigungen bestehen sollen. Für die Ausgleichsleistungen steht als verfügbarer Fonds - nun kommen die Unterschiede, Herr Kollege - nur der in Treuhandverwaltung stehende Teil des zwischen 1945 und 1949 enteigneten Vermögens zur Verfügung. Er sollte nach Befriedigung eventueller Länder- und Kommunalansprüche hierfür auch genutzt werden und zur Bedienung der übrigen materiellen Entschädigungen, die in einem vertretbaren Verhältnis zum Verkehrswert stehen müssen, entsprechend hoch belastet werden. Der Meinung sind wir allerdings.
Für die genannten Entschädigungen, Ziffer 13 Abs. c, empfiehlt es sich, auf das vom zentralen Runden Tisch - das Vorbild für Gattermann - für die ganze DDR-Bevölkerung vorgesehene Kuponmodell zurückzugreifen, als dessen Bemessungsgrundlage freilich nur das oben genannte freiverfügbare Fondsvermögen dienen kann und nichts anderes.
({0})
Sofort zu beenden aber ist die aus allzu durchsichtigen Motiven entfesselte Debatte über den völkerrechtlichen und vereinigungspolitischen Aspekt der Enteignungen zwischen 1945 und 1949. Es muß bei dem Urteil von Karlsruhe bleiben.
({1})
Jene Enteignungen waren Folgen eines vom deutschen Reich entfesselten und mit bedingungsloser Kapitulation verlorenen Krieges.
Herr Kollege Ullmann, Sie sind schon ein gutes Stück über die Zeit.
Gestatten Sie mir noch einen Satz, Herr Präsident.
Ich will es so kurz wie möglich sagen. Meine Damen und Herren, es greift mir ans Herz, wenn Leute, deren Interessen hier betroffen sind und deren Interessen ich auch verstehen kann, ihre Interessen in einer Weise vertreten, daß sie sich etwa hinter den Ideen des 20. Juli des Kreisauer Kreises verschanzen, statt zu sagen: Es geht uns um unseren Besitz. Darüber kann man reden. Und man kann darüber reden, wie man dem Rechnung tragen kann.
Aber man kann nicht sagen, es ginge um Freiheit und um das Grundgesetz und die Ideale der Kreisauer, wenn man genau das Gegenteil von dem tut, was die Familie von Moltke macht, die jeden Schritt und auch jede Andeutung vermeidet, die den Eindruck erwekken könnte, es ginge ihr nur darum, etwas zurückzubekommen, was als Folge eines schrecklichen Krieges verlorengegangen ist.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen Dr. Joachim Grünewald das Wort.
Schönen Dank, Herr Präsident. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Richtig ist: Der Einigungsvertrag hat die Regelungen der Entschädigungshöhe bei Ausschluß der Rückgabe nach dem Vermögensgesetz und die „Entscheidung über etwaige staatliche Ausgleichsleistungen" für besatzungsrechtliche Enteignungen dem gesamtdeutschen Parlament übertragen. Kollege Krziskewitz hat schon darauf hingewiesen.
Diese Regelungslücke ist aus den Gründen, die Sie alle kennen und - wenn ich die bisherige Diskussion werten darf - die in den sich teilweise diametral gegenüberstehenden Lösungsansätzen noch einmal in voller Breite aufgespült ist, noch offen. Das erschwert - das ist unstreitig - die Abwicklung der offenen Vermögensfragen in der Praxis.
Richtig ist auch: Die zügige Klärung der offenen Vermögensfragen ist für die Wirtschaft und vor allem für die Menschen in den neuen Ländern von eminenter Bedeutung. Rechtssicherheit ist nun einmal die Voraussetzung für erfolgreiches Wirtschaften.
Der SPD-Fraktionsantrag spricht - wie ich meine zu Recht - in seiner Begründung von den „rechtsfriedenstiftenden Regelungen des Einigungsvertrages". Diese Formulierung ist insofern bemerkenswert, als an anderer Stelle dieses Antrags die Eigentumsregelung für verfehlt erklärt wird. Gemeint ist der Grundsatz der Rückgabe für entschädigungslose Enteignungen nach 1949. Andererseits ist aber gerade die Regelung, daß besatzungsrechtliche Enteignungen zwischen 1945 und 1949 nicht mehr rückgängig zu machen sind, über den Kreis der Betroffenen hinaus zum Stein des Anstoßes geworden.
Der Einigungsvertrag beschreitet einen Mittelweg. Das Bundesverfassungsgericht hat ihn gutgeheißen.
Dankenswerterweise hat sich das Bundesverfassungsgericht nicht darauf beschränkt, den Ausschluß der Restitution bei besatzungsrechtlichen Enteignungen für verfassungskonform zu erklären. Es hat darüber hinaus den verfassungsrechtlichen Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen sich der Gesetzgeber bei der Gestaltung der Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen frei bewegen kann. Dabei betont es den weiten Gestaltungsraum, der es zulasse, auf die Gesamtbelastung der Staatsfinanzen - und das betone ich in dieser Situation mit besonderer Deutlichkeit - Rücksicht zu nehmen.
({0})
Allerdings sind mit einer Einschränkung selbstverständlich das Sozialstaatsprinzip und selbstverständlich auch der Gleichheitssatz zu beachten.
Der Regierungsentwurf hält sich an diese Vorgaben. Dies ist heute in der vielzitierten Anhörung auch von einigen namhaften Sachverständigen ausdrücklich bestätigt worden, zugegebenermaßen keineswegs von der Mehrheit. Deswegen ist die Formulierung in Ihrem Antrag so nicht richtig. Aber, Herr Kollege Schwanitz, Sie haben die Verallgemeinerung von der Verfassungswidrigkeit, die man aus den Ergebnissen der Anhörung nun wirklich nicht ablesen kann, ja fairerweise eben ein wenig relativiert.
Der verfassungsrechtliche Gestaltungsraum des Gesetzgebers ist, wie das Bundesverfassungsgericht mehrfach hervorhebt, groß. Wir bewegen uns im Bereich der Wiedergutmachung, also der Leistungsgewährung, und nicht im Bereich der Entschädigung von Eingriffen und Eigentum, die der Bundesrepublik nicht zurechenbar sind. Aber das Bundesverfassungsgericht betont auch: Der Gesetzgeber muß auf die Ausgewogenheit des Gesamtsystems der Wiedergutmachungen von Kriegs- und Kriegsfolgenschäden achten. Dazu gehört auch die Wiedergutmachung von Schäden, die eben keine Vermögensschäden sind, also Freiheitsentzug, Gesundheitsschäden, berufliche Behinderungen und ähnliches. Ich gestehe und füge hinzu: Ich stehe noch ganz unter dem Eindruck der Diskussion um das Baltikum, der Beiträge der Kollegen Weisskirchen und von Stetten. Das gilt hier auch.
Vor diesem Hintergrund legt der Regierungsentwurf als Maß für die Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen den Wert des Objekts zum Zeitpunkt des Eingriffs zugrunde. Nur dieser Ansatz, so meinen wir, paßt in das Gesamtgefüge von Kriegsfolgeregelungen im Westen einerseits, sprich: Lastenausgleich, und im Osten andererseits, sprich: die DDR-Entschädigungen. Ansonsten drohen ganz erhebliche Präjudizgefahren; denn eine Totalrevision von 45 Jahren Unrecht und verfehlter Eigentumspolitik ist aus vielerlei Gründen, keineswegs nur aus finanziellen Gründen, einfach nicht möglich und im Einigungsvertrag gerade deshalb gar nicht vorgesehen.
({1})
Das Bundesverfassungsgericht sieht auch einen Zusammenhang zwischen Wiedergutmachung durch Restitution und Wiedergutmachung durch Geldentschädigung. Um in dieser Hinsicht zu einer Ausgewogenheit zu kommen, sieht der Regierungsentwurf die von vielen nicht geliebte Vermögensabgabe vor. Diese ist differenziert ausgestaltet, um den konkreten Bedürfnissen der Betroffenen auf der einen Seite und dem Interesse der Allgemeinheit an der Rückkehr zu einer breiten Eigentumsstreuung auf der anderen Seite Rechnung zu tragen. Dies ist die Erklärung für ein relativ kompliziertes Regelungswerk. Vereinfachungen sind denkbar. Man wird sich den Spielraum aber mit einem Weniger an Einzelfallgerechtigkeit - das ist dann immer so - erkaufen können und müssen.
Trotz der intensiven Vorarbeiten, an denen bekanntlich - das wurde ja auch gesagt - die Koalitionsfraktionen mitgewirkt haben - ich erinnere nur an die Gerster-Eckwerte vom Juli 1992 -, ist das Grundkonzept des Regierungsentwurfs auf Kritik gestoßen. Es gehe nicht an, so wird gesagt, daß Opfer Opfer entschädigen sollen.
({2})
Der Unrechtserwerb, der sich in der Verfügungsgewalt von öffentlichen Händen befinde, könne und müsse für die Wiedergutmachung mobilisiert werden, was ja auch hier in vielen Diskussionsbeiträgen anklang.
({3})
Die Kritik der Opposition ist genau gegenläufig. Die Vermögensabgabe, so heißt es im Antrag, sei zu niedrig, und eine Bevorzugung von Berechtigten durch Ausgabe von Erwerbsoptionen komme überhaupt nicht in Frage. Ich kann somit feststellen: Auch in dieser Hinsicht - ohne daß ich ihn verteidigen will- hält sich der Regierungsentwurf im Rahmen der goldenen Mitte. Ich freue mich, daß dies inzwischen auch - Herr Kollege Schwanitz hat ja darauf hingewiesen - von zumindest einem der neuen Länder ausdrücklich anerkannt worden ist.
Die Bundesregierung - damit kein Mißverständnis entsteht - will die Entschädigungsregelung so schnell wie eben möglich. Sie hat ja einen Auftrag zu erfüllen. Sie beteiligt sich deshalb intensiv an der Erarbeitung alternativer Modelle. Herr Kollege Hitschler, ich bedanke mich dafür. Ja, in der Tat sind es inzwischen viele rauchende Köpfe. Sie wissen auch, daß wir uns mit großem Ernst dem GattermannModell zugewandt haben, was ich immer als einen intelligenten Lösungsansatz bezeichnet habe, was aber leider die Achillesferse - das sieht der Kollege Gattermann genauso -, die Finanzierbarkeit, hat. Denn wenn es eine überzeugende Alternative gibt, wird sich die Bundesregierung ihr nicht versperren. Aber sie muß in dieser finanziellen Situation darauf achten, daß sie auch finanziell vertretbar ist.
Doch darf der Zeitfaktor nicht aus dem Auge gelassen werden. Vor vier Jahren fiel die Mauer. Seit drei Jahren haben wir die staatliche Vereinigung und das Vermögensgesetz. Die Demokratie lebt davon, daß
Interessen wahrgenommen - das ist ganz natürlich - und die Lösungsmöglichkeiten auch in aller Öffentlichkeit miteinander diskutiert werden. Sie kommt aber nicht ohne die Kraft zum Konsens aus. Darum bitte ich Sie herzlich, daß wir nach diesem Konsens suchen. Die Zeiten, in denen neue, milliardenschwere Leistungsgesetze vom Bundeshaushalt verkraftet werden können, sind unwiderruflich vorbei.
Ich weiß, daß Sie das alle nicht gerne hören und daß ich mir den Unmut des ganzen Hauses zuziehe, wenn ich Ihnen sagen muß: Das gilt auch für die einmalige Zuwendung an Vertriebene in den jungen Ländern in Höhe von 4 000 DM. Das ist ein Leistungsgesetz, das bei Herauslösung - ich betone: bei Herauslösung - aus dem Regierungsentwurf eben nicht ohne Gefährdung des gebotenen Konsolidierungsprozesses verabschiedet werden kann. Denn die Entschädigungsregelung ist ein komplexes und außerordentlich emotionsbeladenes Vorhaben. Bei knappen Finanzen gibt es keine Lösung, die alle zufriedenstellt.
Ich werte noch einmal die Diskussion. Ich habe die Befürchtung und füge hinzu: Selbst wenn wir noch soviel Geld in die Hand nehmen könnten, würden wir keine alle befriedigende Lösung miteinander erreichen können.
({4})
Der Grundgedanke der Wiedergutmachung ist, Kriegs- und Kriegsfolgenschäden solidarisch abzumildern und dadurch erträglicher zu machen. Wenn wir uns hieran halten, ist der Knoten, wie ich hoffe, vielleicht doch noch in dieser Legislaturperiode lösbar. Ich lade Sie herzlich ein, daran mitzuwirken und wünsche uns allen dazu das rechte Augenmaß und eine glückliche Hand.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Gerald Thalheim.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die ungelösten Fragen der Entschädigung und Sachenrechtsbereinigung sind in der Landwirtschaft der neuen Länder ein entscheidendes Investitionshemmnis. Herr Staatssekretär, auch Sie mußten das hier eben einräumen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um ein Naturereignis, sondern um Entschlußschwäche der Regierung.
({0})
Das wird besonders in der Landwirtschaft deutlich. Bis heute - drei Jahre nach der Vereinigung - sind gerade 25 % der Treuhand-Flächen langfristig verpachtet. Anstatt endlich klare Lösungen vorzulegen, verunsichern Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, die Betroffenen mit immer neuen Vorschlägen. Jüngstes Beispiel ist die sogenannte Kuponlösung. Wir können sie nur ablehnen, weil im Kern damit nicht der Entschädigungs- oder Ausgleichsgedanke verfolgt wird, sondern die Revision der Bodenreform.
Das vom Bundesverfassungsgericht bestätigte Fundament des Einigungsvertrages wird mit diesem Ent16364
wurf ganz eindeutig verlassen. Es handelt sich nicht, wie hier heute behauptet wurde, um eine glückliche Lösung, nein, es ist eine Kampfansage an die Ostdeutschen. Das gilt insbesondere für die Landwirtschaft.
({1})
Vermögenstitel würden in erheblichem Umfang in den Westen abwandern. Ich mußte heute zur Kenntnis nehmen: In drei Viertel der Fälle wäre das so. Beim diskutierten Vorschlag klafft eine weite Spanne zwischen der Naturalentschädigung -- und sei es nur bezüglich einer Teilfläche des ehemaligen Besitzes - und dem Geldanspruch. Eine solche Differenz wird dazu führen, daß sich Alteigentümer verstärkt konkurrierend um Flächen bewerben und ihre Vorrangstellung, wie sie schon im sogenannten Bohl-Papier festgeschrieben ist, auch rücksichtslos ausnutzen. Außerdem könnten die bereits zugesagten Kaufoptionen nicht in jedem Fall aufrechterhalten werden.
Wir Sozialdemokraten haben uns von Anfang an gegen eine Verquickung von Entschädigungsanspruch und Landverpachtung bzw. den mit öffentlichen Mitteln geförderten Verkauf gewandt. Was wir mit aller Entschiedenheit zurückweisen, ist die von den Regierungsparteien bewußt gewollte Vorrangstellung der Alteigentümer vor allen anderen. Eine finanzielle Entschädigung für diesen Personenkreis ist ohne Zweifel unabdingbar. Diese muß sich jedoch nicht nur an den finanziellen Möglichkeiten des Staates orientieren, sondern sollte auch berücksichtigen, was Opfer des SED- und Blockparteiregimes erhielten, die durch Haft und Verfolgung Jahre ihres Lebens und ihre Gesundheit eingebüßt haben.
({2})
Herr Staatssekretär, ich konnte mit Freude hier feststellen, daß es bei dem Punkt nahtlose Übereinstimmung mit der Bundesregierung gibt.
Die Entschädigung der Alteigentümer muß sich aber auch an den Lebensperspektiven eines großen Teiles der Landbevölkerung in den überwiegend strukturschwachen Regionen Mecklenburg-Vorpommerns und Brandenburgs orientieren. Es ist nicht zu verantworten, daß angesichts extrem hoher Arbeitslosigkeit, die natürlich für viele auch mangelnde Perspektive bedeutet, in diesen Gebieten die Politik an den einheimischen Menschen auf dem Lande einfach vorbeigeht.
Genau das hat meines Erachtens Ministerpräsident Bernd Seite von Mecklenburg-Vorpommern im Sinn gehabt, als er in seiner mutigen und viel beachteten Rede vom 21. Oktober 1993 im Schweriner Landtag forderte:
Erstens. Die Bodenreform darf nicht rückgängig gemacht werden. Zweitens. Es darf keine Kuponlösung geben. Drittens. Die Alteigentümer sind nicht zum Verkehrswert zu entschädigen.
Meine Herren von der Regierungsfraktion, die Sie heute hier gesprochen haben, ich empfehle Ihnen dringend, sich mit Herrn Seite - und Sie haben ja vermutlich einen besseren Draht, das gilt im übrigen auch für die Bundesregierung - zu unterhalten. Ich gehe davon aus, daß er auf Grund seiner Anschauung vor Ort - wir sind hier ja doch etwas weiter weg - zu ganz anderen Ergebnissen kommt.
({3})
Wie gesagt, meine dringende Empfehlung.
Die SPD hat eine eindeutige Auffassung. Wir unterstützen vorbehaltlos die Auffassung von Herrn Seite.
Wir fordern die Regierungsparteien deshalb auf, die Gespräche über die Kuponregelung zu beenden und klar und deutlich zwischen Entschädigung und Ausgleich auf der einen Seite und der Privatisierung des bisherigen sogenannten volkseigenen Vermögens auf der anderen Seite zu unterscheiden.
Wir sind der Meinung, es sollten Siedlungsgesellschaften eingeschaltet und vor allem Land nach den Gesichtspunkten der Struktur vergeben werden.
Herr Kollege, das wäre ein guter Schlußsatz. Sie sind schon ein Stück drüber.
Eine letzte Bemerkung. In diesem Konzept hätten aber auch die Alteigentümer ihren Platz. Wir sind jedoch unbedingt für Chancengleichheit. Das bedeutet, auch die Alteigentümer müßten wie ihre ostdeutschen Konkurrenten um Flächen und Betriebe die entsprechende Qualifikation haben und ein tragfähiges Betriebskonzept vorweisen. Und was vor allem wichtig ist, sie müßten sich selbst in den neuen Ländern engagieren.
({0})
Herr Kollege, Sie sind über eine Minute drüber! Ich darf doch noch einmal bitten: Wenn darauf hingewiesen wird, daß die Zeit bereits überschritten ist, dann noch einen Satz und nicht einen Absatz. Das ist einfach unfair gegenüber den anderen Kollegen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Rudolf Krause.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit diesem Thema habe ich in Dutzenden Versammlungen in Sachsen-Anhalt Säle gefüllt. Es sind nicht nur die Junker, es sind die vielen Bauern unter und über 100 Hektar, die nach 1945 widerrechtlich auf besatzungsunrechtlicher Grundlage - nämlich gegen die Haager Landkriegsordnung - enteignet worden sind. Ich muß dem Reiner Krziskewitz im Namen der vielen Hunderttausenden danken. Aber es ist für meine jetzige politische Arbeit eine sehr makabre Unterstützung, daß nicht einmal 5 % dieses Hauses da sind. Es hätten hier 150 mitteldeutsche Abgeordnete sitzen müssen. Von der CDU ist nur ein einziger da.
({0})
- Von den mitteldeutschen CDU-Abgeordneten ein einziger!
Erstens. Vertriebenenzuwendung. Sie ist sofort zu zahlen. 84 Milliarden DM für Rußland, aber die Rumeierei bei 2,6 Milliarden DM für die deutschen Opfer - ich sage es bewußt - alliierter Verbrechen,
Dr. Rudolf Karl Krause ({1})
das ist ein Mißverhältnis, und ich kann mir jeden Kommentar dazu ersparen.
Enteignungen nach 1945 sind Kriegsverbrechen in einem besetzten Gebiet. Die Enteignungen waren immer mit Vertreibung verbunden. Es muß Schluß sein mit der Fortschreibung von Kriegsverbrechen, auch mit der Fortschreibung von Kriegsverbrechen an Deutschen.
Nächster Punkt. Wie schnell ging der Einigungsvertrag über die Bühne! Es standen Handelsinteressen dahinter, man hat sich den Markt aufgeteilt, die Konkurrenz in Mitteldeutschland wurde vernichtet. Jetzt hat man Zeit. Jetzt sind es antagonistische Interessengegensätze. Ich sage dieses Wort bewußt - einige aus Mitteldeutschland werden es ja noch verstehen.
({2})
Nicht Opfer sollen die Opfer mit einer Vermögensabgabe entschädigen. Der sachsen-anhaltinische Justizminister hat das ausdrücklich als Unrecht bezeichnet. Ich fordere mit vielen anderen hier die Solidarität aller Deutschen: Entschädigung in natura in Gesamtdeutschland aus dem Staatsvermögen; nicht irgendwann Verkauf an Reiche, sondern Naturalentschädigung für die Opfer!
Es gibt diese Interessengegensätze - Hehlerinteresse des Fiskus, Interessen der Alteigentümer, Interesse westlicher Konkurrenten an der Verhinderung des Wiederaufbaus, Interessen der jetzigen Nutzer, Interessen der Anwälte, entlang der Prozesse zu verdienen und schließlich Interessengegensätze zwischen Gebäude- und Grundstückseigentümern. Hier muß entschieden werden, und wer hier entscheidet, wird so oder so Wählerklientel verlieren.
Ihr Volksparteien, dem müßt ihr euch stellen! Wenn nicht entschieden wird, wenn jahrelang keine Entscheidungen kommen, dann heißt das: Man zwingt die Geschädigten, auch die Konkurrierenden, zur Wahl anderer Parteien, links oder rechts. Ich sage als Schlußsatz noch einmal: Nicht Opfer sollen Opfer entschädigen, sondern die Solidarität aller Deutschen ist erforderlich. Der Staat darf nicht als lachender Hehler übrigbleiben.
Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/6066 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 16. November 1989 gegen Doping
- Drucksache 12/4327 - ({0})
Beschlußempfehlung und Bericht des Sportausschusses ({1})
- Drucksache 12/5813 Berichterstattung:
Abgeordnete Ilse Janz Roland Sauer ({2})
Die Beiträge zum Tagesordnungspunkt 11 sind insgesamt zu Protokoll gegeben worden.*) Sind Sie damit einverstanden? - Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist es so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum Übereinkommen gegen Doping, Drucksache 12/4327. Der Sportausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/5813 unter Nr. 1, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung empfiehlt der Sportausschuß die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19b und c auf:
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1993 ({3})
- Drucksache 12/5472 - ({4})
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({5})
- Drucksache 12/6086 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Otto Regenspurger Fritz Rudolf Körper
bb) Bericht des Haushaltsausschuses ({6}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 12/6087 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Deres
Ina Albowitz
Rudolf Purps
c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 12/3791 - ({7})
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({8})
- Drucksache 12/6088 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Otto Regenspurger Fritz Rudolf Körper
Auch zum Tagesordnungspunkt 19b und c sind die Debattenbeiträge insgesamt zu Protokoll gegeben
*) Anlage 4
Vizepräsident Hans Klein
worden.*) Ich brauche dazu das Einverständnis des Hauses. - Es wird erteilt. Ich bedanke mich.
Dann können wir sofort zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf des Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes 1993, Drucksachen 12/5472 und 12/6086, kommen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzustimmen gedenken, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Niemand. Wer enthält sich der Stimme? - Danke sehr. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte alle, die dem Gesetz zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe. - Wer enthält sich der Stimme? - Vielen Dank. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Wir stimmen jetzt ab über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften, Drucksachen 12/3791 und 12/6088. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Keine. Enthaltungen? - Vielen Dank. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte alle, die dem Gesetz zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Niemand. Wer enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses Treuhandanstalt ({9}) zu dem Antrag des Abgeordneten Dr. Fritz Schumann ({10}) und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Erarbeiten einer DM-Eröffnungsbilanz des Vermögens der DDR
- Drucksachen 12/4205, 12/5012 Berichterstattung:
Abgeordnete Hinrich Kuessner Werner H. Skowron
In einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe PDS/Linke Liste 10 Minuten erhalten soll. Besteht damit Einverständnis? - Dies ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Dr. Barbara Höll das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Durchführung einer Bestandsaufnahme des Vermögens der DDR ist in Art. 10 Abs. 6 des Vertrages vom 18. Mai 1990 über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
*) Anlage 5
der DDR klar und unzweideutig festgeschrieben. Es heißt dort - ich zitiere:
Nach einer Bestandsaufnahme des volkseigenen Vermögens und seiner Ertragsfähigkeit sowie nach seiner vorrangigen Nutzung für die Strukturanpassung der Wirtschaft .. .
Für die, die diese Frage von vornherein auf das Treuhandvermögen reduzieren wollen, sei ergänzt: Am 18. Mai 1990 konnte vom Vermögen der Treuhandanstalt noch nicht die Rede sein. Es gab das jetzt gültige Treuhandgesetz noch nicht; es wurde einen Monat später, am 17. Juni, verabschiedet. Das damals gültige Gesetz über die Treuhandanstalt enthielt keine entsprechende Festlegung.
Dieser Artikel des Vertrages vom 18. Mai 1990 wurde im Einigungsvertrag in Art. 25 Abs. 6 bekräftigt. Die Verweigerung einer Bestandsaufnahme des Vermögens der DDR ist eine eindeutige Verletzung des Vertrages vom 18. Mai 1990 und des Einigungsvertrages.
Ich bin gebeten worden, in diesem Zusammenhang hier den Protest von Petenten wiederzugeben, die eine Erfassung des DDR-Vermögens gefordert hatten. Die Petition hatten 1992 mehr als 4 000 Bürgerinnen und Bürger unterschrieben. Die Zwischenantwort Ende des vergangenen Jahres hatte sich darauf beschränkt, mitzuteilen, daß die Bundesregierung nicht verpflichtet sei, das Vermögen der DDR zu erfassen. Wann wird diese Petition abgeschlossen?, wird von den Petenten gefragt.
Niemand bestreitet, daß gewaltige Anstrengungen erforderlich sind, um in den neuen Ländern wettbewerbsfähige Arbeitsplätze entstehen zu lassen und auf weltmarktfähige Erzeugnisse umzustellen. Niemand bestreitet die Hinterlassenschaft einer gescheiterten DDR-Wirtschaftspolitik. Für wichtig halten die Bürgerinnen und Bürger es jedoch mit Recht, einen richtigen Ansatzpunkt für den wirtschaftlichen Aufbau zu wählen. Sie wehren sich zu Recht gegen die Behauptung, daß in der DDR nichts geleistet worden sei. Nach meiner Meinung hat diese Frage durchaus eine Relevanz für den wirtschaftlichen Aufbau, insbesondere für eine nüchterne Analyse dessen, was vorhanden ist. In den Materialien vieler Ressorts finden sich realistische Angaben und Einschätzungen. So heißt es im Bericht der Bundesregierung zur Situation der Forschung in den neuen Ländern, als es um die Ausgangslage geht:
Unter den im ganzen schwierigen Bedingungen für die Forschung in der ehemaligen DDR waren gleichwohl auch bedeutende Forschungsleistungen erbracht worden, an die angeknüpft werden konnte; z. B. bestätigte der Wissenschaftsrat der außeruniversitären Forschung einen hohen, teilweise international hervorragenden Standard in der Hochenergiephysik, der Festkörperphysik, der Molekularbiologie, der Mathematik, der Geoökologie, der Materialforschung, der Ernährungsforschung und der Pflanzenforschung.
Auch in anderen Bereichen wird in Gegenüberstellung von Leistungen und Ineffizienz der DDR versucht, die Basis für die jetzt zu leistende Aufbauarbeit zu bestimmen.
({0})
In einem Buch „Kombinate - was aus ihnen geworden ist", das uns die Treuhandpräsidentin, Frau Breuel, zugesandt hat, wird im Blick auf die Technologieregion Jena von einer „wertvollen und einmaligen Symbiose von Humankapital und Technologie" gesprochen, die zu erhalten „sich auf jeden Fall lohnt".
Frau Kollegin, das galt nicht Ihnen. Ich habe nur keinen Hinweis gegeben. Wenn so wenig Kollegen im Raum sind, dann fällt es besonders auf, wenn einer der Rednerin den Rücken zukehrt. Nur das war es.
({0})
Aber wenn die Bundesregierung zur Erfüllung des Einigungsvertrages aufgefordert wird, ein realistisches Bild vom Vermögen und Unvermögen der DDR zu zeichnen, sind es nichts als Schulden, was von der DDR übernommen wurde. Ich muß sagen, das paßt einfach nicht zusammen. Die Mißachtung des in der DDR Vorhandenen hat dann teilweise fatale Folgen für Erwartungshaltungen der Manager und Beamten aus dem Westen, die Aufbauarbeit in den neuen Ländern leisten. Leider hatte das nicht selten zur Folge, daß durchaus Verwertbares weggeschmissen wurde, an Vorhandenes nicht angeknüpft wurde.
Es paßt auch nicht zusammen, einerseits festzustellen, daß die entsprechenden Daten über den Umfang und den Wert des Vermögens in der dafür notwendigen Form überwiegend nicht zur Verfügung stehen, und andererseits den Schluß zu ziehen, daß nichts als Schulden da sind. Im letzteren Fall wird wiederum nur über das Treuhandvermögen gesprochen, obgleich zweifellos andere Vermögenswerte vom Bund übernommen wurden. Nicht von ungefähr hat der ehemalige Präsident der Treuhandanstalt davon gesprochen, daß ihm 40 % der DDR gehören.
Dazu ein weiteres Beispiel: Das allgemeine Bundesvermögen umfaßte 1989 vor der Vereinigung, also in den sogenannten alten Ländern, 374 700 ha. Diese reichlich 350 000 ha verkörperten vor 15 Jahren einen Wert von 50 Milliarden DM. Danach wurde der Wert dieses Teils des Bundesvermögens nicht mehr erfaßt. Von der DDR hat das Bundesvermögen 306 542 ha übernommen.
({0})
Wer will hier behaupten, daß das nichts ist, wenn sich das Bundesvermögen flächenmäßig fast verdoppelt? Wenn nur die bebauten Grundstücke betrachtet werden, hat sich das Bundesvermögen seit der Vereinigung mehr als verdoppelt. Gegenüber 54 000 ha bebauten Grundstücken von 1989 stehen jetzt mehr als 126 000 ha in der Bundesvermögensrechnung zu Buche. Es sei hinzugefügt: Das sind alles unbelastete Grundstücke. Eine Belastung von Grundstücken gab es in der DDR nicht. Das ist also eine Menge Bundesvermögen, das hier an das Bundesvermögensamt gefallen ist.
Zusammenfassend möchte ich feststellen, daß wir es für die gravierendste Ungerechtigkeit halten, daß bei pauschalen Aussagen, daß von den Bürgerinnen und Bürgern der neuen Länder nichts als Schulden in die Vereinigung eingebracht wurden, erstens ein falscher Ansatzpunkt für den wirtschaftlichen Aufbau gewählt wird und zweitens die Leistungen der Bürgerinnen und Bürger, die in der DDR gearbeitet haben, tagtäglich ihren Schweiß und ihre Ideen gegeben und eben tatsächlich etwas geleistet haben, mißachtet werden.
Mit der Aufstellung einer nüchternen Bilanz von Aktiva und Passiva durch Experten aus Ost und West könnte nach unserer Auffassung ein wichtiger Beitrag für wirtschaftlichen Aufbau geleistet werden. In einer Reihe von Publikationen, wie z. B. der des Direktors des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin, um nur eine zu nennen, gibt es dazu mehr als nur Vorarbeiten.
Ich muß sagen: Den Vorwurf, daß es jetzt dazu zu spät sei, dürfen Sie uns wahrlich nicht machen. Ich darf Sie ausnahmsweise daran erinnern, daß die PDS/Linke Liste einen Antrag zur Aufstellung einer Vermögensbilanz der DDR bereits in der 11. Wahlperiode, am 24. Oktober 1990, in den Bundestag eingebracht hat, der jedoch abgelehnt wurde.
Ich bedanke mich.
({1})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Josef Hollerith.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem uns vorliegenden Antrag der PDS wird gefordert, eine Eröffnungsbilanz des Vermögens der DDR zum 1. Juli 1990 zu erarbeiten, in der noch nicht die Wirkung der Privatisierungs-, Finanz- und Bürgschaftspolitik der Bundesregierung und in der auch nicht der Zusammenbruch der Wirtschaft der DDR nach Eintritt in das D-Mark-Wirtschaftsgebiet nach dem 1. Juli 1990 berücksichtigt ist.
Zudem sollen nach Auffassung der PDS in dieser Schlußbilanz alle wesentlichen Bestandteile des Vermögens der DDR, das Verwaltungs- und Finanzvermögen, der Wert der staatlichen Wohnungen sowie das Vermögen der Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post enthalten sein.
Worum es der PDS eigentlich geht, ist, die Mißständebilanz des SED-Unrechtsregimes trotz aller neuen und richtigen Erkenntnisse schönzufärben.
({0})
Es macht überhaupt keinen Sinn, eine solche Bilanz nachträglich zu erstellen. Hinzu kommt, daß dies im übrigen auch gänzlich unmöglich wäre. Die hierfür notwendigen Daten über Umfang und Wert des Vermögens stehen nicht zur Verfügung.
Die Forderung der PDS, Wertansätze zu wählen, die dem allgemeinen Bilanzrecht und den speziell für diese Sondersituation konzipierten Vorschriften des DM-Bilanzgesetzes widersprechen würden, ist auch unzulässig.
Die PDS will durch eine fiktive und illusionäre Bewertung des ehemaligen DDR-Vermögens vermeintliche Verluste, die durch die Einführung der Marktwirtschaft eingetreten sind, nachweisen. Der Denkansatz ist aber falsch.
Der Übergang zur Marktwirtschaft hat bewirkt, daß die in den 40 Jahren Mißwirtschaft entstandenen dramatischen Verluste an Produktivkapital aufgedeckt wurden. Dieser Wahrheit muß auch die PDS endlich ins Auge sehen.
Auffällig ist zudem, daß die Zielrichtung des Antrags und die Forderung nach irrer DM-Eröffnungsbilanz auseinanderfallen. Wenn die PDS wirklich eine Gegenüberstellung wollte, müßte es sich doch um eine Schlußbilanz in Mark der DDR handeln. Die Bewertung der ursprünglichen Verhältnisse sollte dann auch in der alten Währung erfolgen.
Zudem müßte die Rechnung auch mit dem Bewertungsverfahren erstellt werden wie die später in D-Mark erstellten Bilanzen. Solche Daten sind aber nicht verfügbar, denn die nicht veröffentlichten Bilanzen der DDR-Kombinate setzten sich aus ganz anderen Positionen zusammen und wurden mit ganz anderen Bewertungsmethoden und zu verzerrten Preisen erstellt. Zudem müßte die Umrechnung von Mark der DDR in D-Mark bei einer solchen Vorgehensweise nach dem sich am Markt orientierenden Wechselkurs erfolgen. Dieser war aber weit ungünstiger als der politisch gewählte offizielle Umstellungskurs von durchschnittlich 1,5 : 1.
Die eigentlich zentrale Frage ist doch die, daß die PDS verkennt, daß sich der Wert eines Gutes aus dem Tauschprozeß ergibt. Er ist damit von der Angebots- und Nachfragekonstellation abhängig. Gerade einen solchen marktorientierten Tauschprozeß gab es aber in der zentralplanerischen Mißwirtschaft der DDR nicht. Wahr ist doch, daß der Sozialismus die ökonomischen Bewertungsmaßstäbe zum Fallen gebracht hat. Mit dem vorliegenden Antrag unternimmt die PDS - das ist, so leid es mir tut, das feststellen zu müssen, für die PDS typisch - einen Versuch, der untauglich ist. Das Vermögen der DDR jetzt bewerten zu wollen ist ein Anspruch, der auf eine unmögliche Leistung gerichtet ist.
({1})
- Ich komme noch darauf, Frau Kollegin.
Für die Menschen in den neuen Bundesländern fand zum Glück am 1. Juli 1990 ein Systembruch statt. Angesichts der besonderen Situation war zunächst eine Basis für die zutreffende Bewertung der einzelnen Bilanzpositionen nicht möglich. Ein neues Wertniveau hat sich erst allmählich nach der Währungsumstellung herausgebildet.
Alle haben doch über das Ausmaß der Schäden, die der Sozialismus in der DDR hinterlassen hat, geirrt. So hat noch Modrow bei Gesprächen in Bonn am 13. Februar 1990 erklärt, daß das „Nettonationalvermögen" der DDR 900 Milliarden bis 1,4 Billionen Mark betrage.
({2})
Noch im Mai 1991 wurde von der ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Frau Professor Luft, der Wert der volkseigenen Kombinate, Betriebe, Güter, Wohnungen und sonstigen Einrichtungen auf über 900 Milliarden DM geschätzt.
({3})
Wir sehen also: Es gab keine Datenbasis, die einen halbwegs zuverlässigen Maßstab dafür gegeben hätte, Auskunft über das Vermögen der DDR zu erteilen.
Der Antrag und seine Begründung zeigen einmal mehr, welchen Mißverständnissen die PDS erliegt. Sie hat - jetzt komme ich zu Ihrem Thema - den Charakter der von der Treuhand im Oktober 1992 vorgelegten DM-Eröffnungsbilanz offensichtlich nicht verstanden und interpretiert die rechtlichen Grundlagen völlig falsch. Nach § 6 Abs. 1 Nr. 3 des DM-Bilanzgesetzes waren alle vorhersehbaren Risiken und Verluste zu berücksichtigen, die bis zum Bilanzstichtag entstanden waren, selbst wenn sie erst zwischen dem Stichtag und dem Tag der Aufstellung der Eröffnungsbilanz bekannt geworden sind.
Die Treuhandanstalt war also gesetzlich verpflichtet, Erkenntnisse nach dem Bilanzstichtag zu berücksichtigen, wenn dadurch Wertangaben verläßlicher gemacht werden konnten. Das hieß für die Treuhandanstalt auch, die Erkenntnisse, die sich erst im Zuge der Privatisierung, Sanierung oder Stillegung der übertragenen Unternehmen ergaben, zu berücksichtigen. Hierzu zählen auch die ungeklärten Eigentums- und Rechtsfragen und schwer bezifferbaren, ungewissen Verbindlichkeiten wie etwa die ökologischen Altlasten, die erst nach dem 1. Juli 1990 bekannt wurden.
Die von der Treuhandanstalt vorgelegte Eröffnungsbilanz ist eine Stichtagsbilanz per 1. Juli 1990. Alle der Treuhandanstalt übertragenen Vermögenswerte wurden erfaßt. Zu erfassen waren aber auch die bis dahin entstandenen Verpflichtungen, Lasten und Risiken.
Es kann doch keinen Zweifel daran geben, daß der marode Kapitalstock und der ökologisch belastete Boden aus der Zeit sozialistischer Planwirtschaft resultierten. Die auf der Grundlage des allgemeinen Bilanzrechts und des DM-Bilanzgesetzes erstellte DM-Eröffnungsbilanz der Treuhandanstalt schließt mit einem Fehlbetrag von 209 Milliarden DM ab. Alle der Treuhandanstalt übertragenen Vermögenswerte sind erfaßt und mit rund 114 Milliarden DM bewertet worden. Diesem Vermögen stehen Belastungen von rund 283 Milliarden DM gegenüber, u. a. auch Rückstellungen für die Neustrukturierung des Anteilsbesitzes aus übernommenen Altschulden sowie aus Rückübertragungsansprüchen. Hinzuzurechnen sind weitere der Treuhandanstalt auferlegte finanzielle Verpflichtungen außerhalb ihres eigentlichen Kernauftrags von rund 40 Milliarden DM.
Der vorliegende Abschluß gibt eine wirklichkeitstreue, nüchterne Gegenüberstellung der Vermögenswerte und Belastungen wieder, die das Treuhandgesetz und der Einigungsvertrag der Treuhandanstalt
zugewiesen haben. Die Vermögenswerte der Unternehmen der Deutschen Post Postdienst und Telekom Berlin weisen in der Eröffnungsbilanz einen Fehlbetrag von rund 1,1 Milliarden DM auf. Die Deutsche Post Postbank Berlin verfügt bei einer Bilanzsumme von 4,7 Milliarden DM über ein Kapital von 189 Millionen DM. Die Deutsche Reichsbahn Berlin konnte in ihrer Eröffnungsbilanz ein Eigenkapital von 13 Milli- arden DM ausweisen.
Weitere verläßliche Angaben und Zahlen liegen für das übrige Vermögen der ehemaligen DDR nicht vor. Eine zuverlässige Bewertung und damit ein aussagefähiger Zahlenbestand ist nicht möglich; denn noch immer sind, wie wir alle wissen, die Eigentumsfragen vielfach ungeklärt und zu berücksichtigende Belastungen unzureichend bekannt.
Abschließend sei wiederholt: 40 Jahre Plan- und Mißwirtschaft der DDR lassen sich nicht schönreden. Der Weg, den wir eingeschlagen haben, ist richtig: Rückschau, wo Rückschau erforderlich ist, aber Kommendes zukunftsorientiert zu gestalten, Perspektiven zu geben und für die Menschen in den neuen Bundesländern die Rahmenbedingungen so zu bestimmen, daß es trotz aller Schwierigkeiten und vieler Hindernisse weiter vorwärtsgeht. Dafür stehen wir von der Koalition.
({4})
Herr Kollege Professor Dr. Nils Diederich, ich erteile Ihnen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was uns mit diesem Antrag zu später Stunde zugemutet wird, ist, denke ich, schon ein starkes Stück. Wir sollen nämlich beschließen, daß die DDR-Wirtschaft erst nach dem 1. Juli 1990 zusammengebrochen ist. So steht es in Ihrem Antrag, verehrte Kollegin.
Aber Gott sei Dank läßt sich die Geschichte auch nicht durch Bundestagsbeschlüsse korrigieren.
({0})
Sie haben die Leistungen der DDR-Bürger angesprochen, verehrte Kollegin. Da sind wir uns einig. Ich bin immer voll Bewunderung, wie viele Millionen Menschen es geschafft haben, sich in diesem System einzurichten und zu überleben, trotz der Schwierigkeiten und Widrigkeiten, die da waren.
({1})
Vergegenwärtigen wir uns die Tatsache, daß die früheren DDR-Machthaber die Pleite der DDR schon seit längerem nur mit Mühe verschleiern konnten und die DDR-Regierung nach dem Abtritt der Honeckers, der Mittags, der Mielkes usw. sehr schnell den Offenbarungseid leisten mußte. Hier wurde schon auf die Bittgänge von Herrn Modrow nach Bonn und auf anderes hingewiesen.
Tatsache ist außerdem, daß die Bankrotterklärung der zentral geführten Planwirtschaft noch von der Regierung Modrow abgegeben wurde. Ich denke dabei, wie gesagt, auch an die Bittgänge nach Bonn.
Wir wissen doch alle, daß die Bürger der DDR von dem System die Nase voll hatten, jedenfalls neun von zehn Bürgern, denke ich. Das heißt, das rapide Zerbrechen der Strukturen der DDR, die Auflösung des jahrzehntelang mit Zwang zusammengehaltenen und durch die Mauer abgeschotteten Systems war die Ursache für die Währungsreform, aber nicht ihre Folge. Das ist, denke ich, die Voraussetzung, unter der wir alles andere zu diskutieren haben.
Die Absicht, die hinter dem Antrag, den wir hier behandeln, steht, ist klar: Es wird blauäugig verlangt, eine kostenaufwendige volkswirtschaftliche Fleißarbeit anzufertigen. Auf die Kompliziertheit haben Sie selber hingewiesen.
In Wirklichkeit sucht die PDS mit schwächlichen Mitteln und mit Bundeshilfe eine nachträgliche Beinwaschung des SED-beherrschten Systems.
({2})
Ich kann Ihnen das nachfühlen, verehrte Frau Kollegin. Schließlich war der Hauptgesellschafter des Pleiteunternehmens DDR die SED, zu deren Erbschaft Sie sich ausdrücklich bekennen - oder ist es nicht so? -, selbst wenn Sie kritische Akzente setzen. Dieses Erbe aber, denke ich, ist nicht unser Problem, sondern Ihres. Wir sind keine Weißwäscher.
Verehrter Herr Kollege Hollerith, Sie haben sehr ausführlich über die Schwierigkeiten, die Probleme bei der Erstellung solcher Bilanzen gesprochen, so daß ich vieles von dem nicht wiederholen will. Ich möchte nur die Frage stellen: Warum eigentlich hat die DDR nicht selber Bilanz gezogen? Warum ist diese Berechnung nicht von Herrn Modrow vorgelegt worden, der ja behauptet hat, das Volksvermögen läge zwischen 900 Milliarden Mark und 1,4 Billionen Mark? Warum hat er die Bilanz nicht offengelegt?
({3})
- Lieber Herr Gysi, ich räume ein, daß es auch da Irrtümer gab. Wir wissen genau, daß sich sehr viele Politiker in der Bundesrepublik, und zwar durch das ganze Spektrum, insbesondere auch in der Bundesregierung, Illusionen über den Zustand der DDR gemacht haben, weil sie sich die Augen haben verkleistern lassen von den selbstgebastelten, nicht seriösen Statistiken und Aufstellungen, die die DDR mit Fleiß und viel Propaganda verbreitet hat. So wurde z. B. von der DDR als der fünftgrößten Industrienation gesprochen.
({4})
- Lieber Herr Gysi, verdrehen Sie das doch nicht! Ich stelle nur fest, daß in Ihrem Antrag etwas behauptet wird, was die absolute Unwahrheit ist, daß nämlich die DDR-Wirtschaft erst nach dem 1. Juli 1990 zusammengebrochen ist. Lesen Sie Ihren Antrag! Das steht
Dr. Nils Diederich ({5})
darin! Sie versuchen uns hier - ich weiß nicht, ob das bösartig oder dümmlich ist ({6})
eine Behauptung unterzujubeln, die wir beschließen sollen, die gegen die Geschichte und gegen die historische Wahrheit ist. Das ist der Hauptgrund dafür, warum wir diesen Antrag, den Sie hier vorgelegt haben, ablehnen.
({7})
Ich denke, wir müssen uns mit dem befassen, was vor uns liegt. Wir Sozialdemokraten haben viele Aspekte der Handlungen der Bundesregierung kritisiert. Wir haben die Politik, die die Bundesregierung der Treuhand auferlegt hat, kritisiert. Wir haben kritisiert und kritisieren, daß sich die Treuhand nur auf Privatisierung, nicht auf Sanierung und einen langsamen Übergang der Unternehmen in die Privatwirtschaft konzentriert hat. Das brauchen wir heute hier nicht zu diskutieren, das haben wir an anderer Stelle vielfältig getan und werden es immer wieder tun.
Unser Interesse heute ist, dafür zu sorgen, daß die Arbeitslosigkeit in unserem Lande, und zwar in Osi und West, beseitigt wird und daß dafür die geeigneten Instrumente entwickelt werden. Ich komme gerade aus der Schlußabstimmung im Haushaltsausschuß, wc wir der Bundesregierung vorgeworfen haben, daß dieser Bundeshaushalt - das werden wir nächste Sitzungswoche diskutieren - jedenfalls die von uns geforderten Maßnahmen und Möglichkeiten nicht bringt, um die Situation in unserem Lande zu ändern Ich denke, das ist der Punkt, auf den wir uns zu konzentrieren haben.
Wir können nicht erkennen, welchen Nutzen die von der PDS verlangte aufwendige Schlußbilanz dei DDR für die praktischen Aufgaben von heute haber kann.
({8})
- Aber Herr Gysi, Sie sitzen doch in dem Untersuchungsausschuß,
({9})
der dank unserer Initiative eingerichtet worden ist. DE werden wir uns mit dieser Frage in aller Ruhe und Ausführlichkeit beschäftigen. Aber auch da wird uns die von Ihnen verlangte statistische Aufstellung nicht geliefert werden.
Ich darf einmal nebenbei sagen: Die DDR hat uns ir ihrer Öffentlichkeitsangst überhaupt nicht die Dater hinterlassen, die notwendig wären, um so etwas seriös zu erstellen. Sie werden mir nicht sagen können, daß eine Schlußbilanz für ein abgewickeltes Unternehmen aus den Daten entwickelt werden kann, die ir dem künftigen gemeinschaftlichen Unternehmer Bundesrepublik vorhanden sind. Dafür müßte ich vielmehr die Unterlagen und Statistiken haben, die in der DDR vorhanden waren.
({10})
Vielleicht noch einen Punkt: Nicht jeder Staat, jede Gesellschaft ist ein wirtschaftliches Unternehmen. Sie wissen, daß ich für die Beurteilung eines wirtschaftlichen Unternehmens, eines kleinen Betriebes, eines Konzerns zwar die Bilanz als ein nützliches Hilfsmittel gebrauchen kann, es gibt mir aber überhaupt noch keine Auskunft über die Lage des Unternehmens. Da muß ich die Lage am Markt, die inneren Strukturen des Unternehmens usw. mit beurteilen. Darüber wissen wir ziemlich genau Bescheid, denn zur Schlußbilanz der DDR gehören z. B. die schlechte Versorgung der Bevölkerung, der Zustand der Städte, der schlechte Versorgungsgrad, die schlechte Bedienung der privaten Nachfrage, die mangelnde Vielfalt täglicher Versorgung. Dazu gehört, daß Menschen Jahrzehnte auf einen Telefonanschluß oder ein bescheidenes Auto warten mußten, daß die Straßen in einem miserablen Zustand waren und, und, und. Diese Liste könnte man verlängern. Sie können sicherlich auch Punkte dazu beitragen. Das müßte man in solch einer Aufstellung auch berücksichtigen. Ich denke, wir wissen das alles. Das zu systematisieren und zu analysieren überlasse ich gern den Wirtschaftsgeschichtlern.
Ich denke, unsere Aufgabe ist, unseren Blick nach vorne zu lenken, uns darauf zu konzentrieren, was in der nächsten Runde passiert. Wir Sozialdemokraten bieten dafür Initiativen an. Wir bieten auch Alternativen zur Bundesregierung an. Das diskutieren wir zu einem anderen Zeitpunkt. Ich persönlich und sicher auch meine Fraktion halten die von Ihnen verlangte sogenannte Eröffnungsbilanz für völlig überflüssig. Wir lehnen deswegen Ihren Antrag ab.
Danke.
({11})
Herr Kollege Jürgen Türk, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS hat die Erarbeitung der DM-Eröffnungsbilanz des DDR-Vermögens zum 1. Juli 1990 beantragt, um sie mit der Bilanz der Treuhandanstalt zum 31. Juli 1992 vergleichen zu können. Ferner sollen laut PDS-Antrag in der zu erstellenden Eröffnungsbilanz alle wesentlichen Bestandteile des DDR-Vermögens enthalten sein.
Aber wenn man etwas vergleichen will, muß es auch vergleichbar sein. Das setzt zunächst voraus, daß dieses DDR-Vermögen bestimmbar ist und daß es überhaupt ein Vermögen darstellt. Wir wollen einmal davon absehen, daß Herr Modrow das „Nettonationalvermögen" der DDR auf ca. 1 Billion Mark einschätzte. Die Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit der ehemaligen DDR ist aus heutiger Sicht tatsächlich mehr als offenkundig.
Beides, sowohl Überschuldung als auch Zahlungsunfähigkeit, sind Gründe zur Anmeldung eines Konkurses. Diese Tatbestände waren schon in den 80er Jahren erfüllt. Was soll also das Gerede oder Geschrei vom DDR-Vermögen? Wenn man trotzdem den Versuch machen würde, es zu ermitteln, kann man folgendes feststellen.
Erstens. Eine umfassende Staatsbilanz der DDR ist nicht aufgestellt worden, weil das ganz offensichtlich auch ganz unmöglich war, wie das Professor Diederich schon gesagt hat, bei geschönten und gefälschten Bilanzen, bei unrealen Bewertungen von Kosten und Preisen. Für die Erstellung einer realen Bilanz benötigt man eben reale Eingabewerte. Das ist so.
Zweitens. Wenn die Treuhandanstalt für die ihr übertragenen Vermögenswerte trotzdem eine Eröffnungsbilanz mit 114 Milliarden DM vorgelegt hat, so ist zu sagen, daß diesem Vermögen Belastungen in Höhe von 323 Milliarden DM gegenüber stehen. Das heißt, allein die DM-Eröffnungsbilanz der Treuhandanstalt weist eine Verschuldung von 209 Milliarden DM aus. Das schließt auch ökologische Altlasten ein, deren Umfang eher höher ist als bisher eingeschätzt; das ist also ein unheimlicher Unsicherheitsfaktor.
Drittens. Wie unsicher diese Bilanzen sind, zeigt auch das Beispiel Sondervermögen Deutsche Reichsbahn mit 37,5 Milliarden DM in der Eröffnungsbilanz laut DDR-Angaben. Aber schauen Sie sich den Zustand der Gleise an! Ende 1993 werden letztlich Schulden in Höhe von 15 Milliarden DM anstehen.
({0})
Man kann also feststellen, daß aus der Überschuldung, wie hoch auch immer, kein Plus gerechnet werden kann. Wenn der Antrag darauf abhebt, daß die Marktwirtschaft diese Schulden verursacht hat, ist das eine offensichtliche Verdrehung der Tatsachen, auch wenn Sie Vereinigungskriminalität alter und neuer Seilschaften und auch Fehlentscheidungen einmal dagegenrechnen.
Den Schuldenberg, den Konkurs hat die sozialistische Planwirtschaft verursacht. Es ist unverständlich, daß sich gerade die PDS diese Konkursbilanz antun will. Ich verstehe es wirklich nicht. Aber vielleicht sollte es ja auch nur ein Scherz heute zum 11. 11. sein.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses Treuhandanstalt über den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zur Erarbeitung einer DM-Eröffnungsbilanz des Vermögens der DDR, Drucksache 12/5012. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/4205 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 13:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ingrid Köppe und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Überwachung des Fernmeldeverkehrs durch den Bundesnachrichtendienst
-- Drucksachen 12/5382, 12/5759 -
Hier sind ebenfalls alle Redebeiträge zu Protokoll gegeben worden. *) Ich frage das Haus, ob es damit einverstanden ist. - Das ist der Fall. Ich bedanke mich.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren Verlängerung der Kündigungsmöglichkeiten in der öffentlichen Verwaltung nach dem Einigungsvertrag
- Drucksache 12/6120 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({0})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Wir sollten demnächst vielleicht einmal im Ältestenrat darüber sprechen, daß es eine Bonner Stunde gibt, die ein paar Minuten länger als eine Stunde dauert. Das ist noch verständlich. Aber daß eine halbe Stunde vereinbart wird, die 41 Minuten dauern soll, ist eigentlich schon ein bißchen absurd.
({1})
- Nein, nein, das ist wesentlich länger als eine halbe Bonner Stunde.
Besteht mit der halben Stunde Einverständnis? - Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Hartmut Koschyk das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur weiteren Verlängerung der Kündigungsmöglichkeiten in der öffentlichen Verwaltung gemäß den Bestimmungen des Einigungsvertrags sollen Länder und Gemeinden in den neuen Ländern in die Lage versetzt werden, auch über den 31. Dezember 1993 hinaus den zweifelsohne bestehenden Überhang in der öffentlichen Verwaltung der neuen Länder abzubauen.
({0})
Der Bund der Steuerzahler hat ermittelt, daß die neuen Länder je 10 000 Einwohner im Durchschnitt 304, die alten Länder je 10 000 Einwohner 233 Bedienstete beschäftigen. Noch deutlicher ist nach Angaben des Bundes der Steuerzahler die Schere bei den Kommunen. Im Westen beschäftigen die Kommunen je 10 000 Einwohner 195 Mitarbeiter, im Osten über 420. Dies entspricht einem Überhang von 440 000 Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes der neuen Länder, was Mehrkosten im Osten für den öffentlichen Dienst in Höhe von 20 Milliarden DM pro Jahr ausmacht.
Das bedeutet, jede sechste oder siebte Mark der Transferleistungen an die neuen Länder wird für Mehraufwendungen für Personal im öffentlichen
*) Anlage 7
Dienst verbraucht und fehlt dringend für den notwendigen Ausbau der Infrastruktur.
Deshalb ist es vor allem ein Wunsch auch der Kommunen der neuen Länder, daß ihnen die Möglichkeit, weiteres Personal nach den Bestimmungen des Einigungsvertrages abzubauen, auch über 1993 hinaus erhalten bleibt.
So jedenfalls berichtet die FAZ vom 9. November über die Tagung des Gesprächskreises für Kommunalpolitik der SPD-Bundestagsfraktion am vergangenen Montag im Berliner Reichstag, wo der Leipziger Finanzdezernent Kaminski eine weitere Verlängerung der Bedarfskündigungen im öffentlichen Dienst mit der Begründung forderte: Wer jetzt nicht bei den Personalausgaben auch durch weiteren Abbau von Überhang spart, kann morgen keine anderen kommunalen Leistungen mehr erbringen.
Es trifft auch nicht zu, daß die Kommunen in den neuen Ländern auf diesem Gebiet bislang untätig gewesen seien. Leipzig hat von den 28 000 Beschäftigten, die es hatte, bei der Wende die Hälfte abgebaut, davon jährlich 2 500 bis 3 000 nach den Sonderkündigungsmöglichkeiten des Einigungsvertrags. Leipzig und die anderen Kommunen der neuen Länder wollen dies auch weiter tun.
Ich will auf einen weiteren Grund für die Notwendigkeit einer Verlängerung der Bedarfskündigung nach den Möglichkeiten des Einigungsvertrags hinweisen. Wenn jetzt nach diesen Möglichkeiten nicht der Personalabbau fortgesetzt wird, wenn spätestens 1995 der Bund-Länder-Finanzausgleich zu einem Diktat der Kassen führt und dann zwangsläufig zu Entlassung führen wird, gilt das allgemeine Kündigungsrecht in Deutschland. Dies bedeutet, daß die Dienstzeiten zählen. Dies kann dann dazu führen, daß diejenigen als erste entlassen werden, die nach der Wende teilweise politisch unbelastet eingestellt worden sind, weil sie kürzere Dienstzeiten in der öffentlichen Verwaltung der neuen Länder haben.
Es besteht doch nach wie vor kein Zweifel, daß wir für den in Gang befindlichen Umbau von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in den neuen Ländern eine effiziente und von den Bürgern angenommene Verwaltung brauchen. Effizienz heißt in diesem Fall ein Abbau der Überkapazitäten im Sozial- und Kulturbereich, um Defizite im Bereich der klassischen Verwaltung, vor allem in der Bauaufsicht und der Ordnungsverwaltung, abzubauen. Alle Experten sagen uns: Nur ein Herabfahren der Personalausgaben durch weiteren Personalausbau verschafft den Kommunen in den jungen Bundesländern eine Möglichkeit der Steigerung der Investitionsquote.
Deshalb, meine Damen und Herren, laden wir Sie ein, mit uns gemeinsam durch Überweisung unseres Antrags an die Ausschüsse und durch die Ausschußberatung hier einem Wunsch aus Ländern und Kommunen der neuen Länder entgegenzukommen. Ob der Weg, den wir vorschlagen, für ein Ziel, das wir vielleicht alle gemeinsam im Auge haben sollten, der richtige ist, sollte sich bei den Ausschußberatungen herausstellen. Ich glaube aber, wir sind uns alle einig, daß wir hier auch als Bundesgesetzgeber gefordert sind, um den Ländern und Kommunen Möglichkeiten
an die Hand zu geben, auch nach 1993, nach den Bedarfskündigungen, überzähliges Personal abzubauen.
({1})
Herr Kollege Rolf Schwanitz, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit will ich mich kurz fassen.
Der Antrag ist überraschend, das Problem nicht. Da stimme ich vollkommen zu, Herr Koschyk. Die Situation ist in der Tat so: Es gibt in den ostdeutschen Kommunen einen Personalüberhang, und es gibt die Notwendigkeit, nicht zuletzt angesichts der äußerst schwierigen Haushaltsituation der ostdeutschen Kommunen, Abbauprozesse im Personalbereich vorzunehmen.
Ich will aber, weil sie gerade auf einen Artikel in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung" abgestellt haben, eindeutig von dieser Stelle aus sagen, daß ich nicht die Meinung teile, daß man ein ausschließliches quotenseitiges Übertragen der Pro-Kopf- oder Pro-FlächeQuote der Alt-Bundesrepublik in die ostdeutschen Bereiche hin akzeptieren kann.
({0})
Es gibt einen Personalüberhang, und es gibt dafür Ursachen. Ich will wenigstens einmal drei Bereiche aufzählen. Ich denke, wir sind hier mit unseren Meinungen nicht auseinander. Zum einen gibt es objektive Gründe, daß in Ostdeutschland vor den Kommunen Aufgaben stehen. Ich sage bloß das Stichwort offene Vermögensfragen. Wir haben heute über Entschädigungen geredet usw. Es sind qualitativ anspruchsvolle Aufgaben, zu deren Bewältigung wir Personal brauchen und die ostdeutsche Kommunen täglich zu lösen haben, Westkommunen aber nicht kennen.
Es ist vollkommen richtig bemerkt worden, wir haben die Situation, daß die Gemeinde- und Kreisreformen in Ostdeutschland noch vor der Tür stehen. Das ist ein objektives Moment. Ich sage von dieser Stelle aber auch, daß ich schon in vielen Kommunen die Feststellung getroffen habe, daß die Möglichkeit, Personal zu reduzieren, abzubauen oder umzustrukturieren, nicht vollständig genutzt worden ist.
Herr Koschyk, ich will nicht abstreiten, daß das in Leipzig umfangreich passiert. Diese Stadt wird sicherlich gut regiert. Aber ich glaube, das ist nicht unbedingt Maßstab für alles, was wir dort sehen.
Es gibt das Problem - darin stimme ich Ihnen vollkommen zu - der Seiteneinsteiger, also derjenigen, die 1989/1990 in die Verwaltungen gegangen sind
({1})
und die wir ja dort belassen wollen.
({2})
Dies ist ein Problem, um das wir uns kümmern müssen. Was die Zielrichtung betrifft, stimmen wir auch hier vollkommen überein.
Ich sage an dieser Stelle aber auch. Wir haben hinsichtlich des Instruments Diskussionsbedarf. Darüber müssen wir im Ausschuß noch einmal reden. Ich tippe in diesem Zusammenhang nur drei Punkte an:
Es ist klar, daß eine solche Verlängerung ein zeitliches Vorenthalten von Rechten bedeutet. Das ist kritisch zu diskutieren, weil dies schon einmal der Fall war. Die Verlängerung ist bereits einmal durchgesetzt worden. Darüber wird geredet werden müssen.
Es wird auch über den Zeitraum diskutiert werden müssen, also darüber, wie es sich mit den zwei Jahren verhält. Ich weiß, bei Ihnen war das umstritten.
Schließlich wird auch über das juristische Element zu reden sein. Man muß klären, ob eine Verordnungsermächtigung an die neuen Länder ein gangbarer Weg ist. Darüber, so denke ich, können wir in den Ausschüssen reden. Dies sollte in einer sachlichen und ruhigen Atmosphäre passieren und nicht im Hauruckverfahren durchgezogen werden. Ich denke, dann kommen wir zu einer vernünftigen Lösung.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Jürgen Schmieder.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf mich bei der PDS ganz herzlich dafür bedanken, daß sie die Möglichkeit geschaffen hat, daß wir zu so später Stunde dieses herrliche Haus noch nutzen dürfen, vor überquellenden Zuschauertribünen und unter vollem Medieninteresse.
({0})
Die Personalsituation in den öffentlichen Verwaltungen der Länder im Osten Deutschlands ist nach wie vor nicht effizient. Die Personalkosten übersteigen vielfach die Möglichkeiten. Denn der Personalabbau ist trotz großer Anstrengungen noch nicht ausreichend. Bedingt durch die kommunalen Gebietsreformen wird sich der Personalüberhang sogar noch weiter erhöhen. In diesem Bereich müssen also Handlungsmöglichkeiten bestehen bleiben, so daß die Personalkosten in den Haushalten der neuen Länder und der Kommunen verringert werden können.
An dieser Stelle ist schon mehrfach auf die Möglichkeiten hingewiesen worden, die z. B. in der Privatisierung bestimmter öffentlicher Einrichtungen liegen. Das soll jetzt aber nicht Gegenstand der Diskussion sein.
Es geht um eine weitere Verlängerung der Bedarfskündigungsregelung gemäß Einigungsvertrag. Damit das transparent wird, darf ich für die Zuschauerkulisse die Fundstelle der Regelung nennen: Es handelt sich um die Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 4 Ziffer 2.
({1})
- Es war ganz wichtig, darauf noch einmal deutlich hinzuweisen, damit man an dieser Stelle nachlesen kann, um was es geht.
Wir von seiten der F.D.P. sind natürlich dafür, daß wir unseren Antrag zur ersten Lesung an den Ausschuß überweisen. Wir sind gehalten, im Ausschuß über eine Lösung zu streiten. Ich bin der Meinung, das muß keine generelle Lösung sein, die für alle Bundesländer gilt. Vielmehr muß man differenzieren können, Kollege Nitsch, weil nicht überall geschlampt worden ist; denn es gibt doch einige Kommunen, wie z. B. Leipzig, in denen Schrittmacherdienste in diese Richtung gemacht worden sind.
({2})
- Da regiert ein guter Mann - da kann man nicht meckern -, aber wahrscheinlich nicht mehr lange; das ist das Problem.
Die Länder sollten die Möglichkeit haben, z. B. die Frist von zwei Jahren zu verlängern. Wir sind auf alle Fälle dafür, daß die Entscheidung, die in den Ländern separat fallen kann, vom Parlament getragen sein muß.
Es sind mehrere Möglichkeiten denkbar. Herr Koschyk hat schon einige aufgezeigt; auch Herr Schwanitz ist auf einige Punkte eingegangen.
Ich denke, es gibt im wesentlichen zwei Möglichkeiten, die man realisieren kann: Man kann die Länder zu einer Regelung ermächtigen, die die Befassung der Parlamente nach sich zöge. Des weiteren müssen wir in einer sachlichen Aussprache prüfen, ob die Möglichkeit besteht, das im Wege einer Landesverordnung zu regeln.
Auf alle Fälle sind wir gehalten, die Beratungen möglichst schnell zu Ende zu führen und dann ein verkürztes Verfahren vor dem Bundesrat anzustreben.
Ich bedanke mich.
({3})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem Kollegen Dr. Gregor Gysi das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wundere mich zunächst einmal, zu welchem Zeitpunkt dieser Antrag kommt. Die Probleme, die Sie benennen, sind doch alle nicht neu. Nunmehr verlassen sich seit dem letzten Jahr die Beschäftigten im öffentlichen Dienst darauf, daß sie ab 1. Januar 1994 den normalen Kündigungsschutz genießen, wie er in der Bundesrepublik Deutschland üblich ist, abgesehen von dem
einen Kündigungsgrund betreffend Zusammenarbeit mit dem MfS; er bleibt ja bestehen. Alle anderen Sonderfälle wären somit herausgefallen.
Kurz vor Ablauf dieser Frist entscheiden Sie sich, hier einen Antrag einzubringen, von dem man vorher auch gar nichts erfährt und der ruck zuck auf die Tagesordnung gesetzt wird, weil man nunmehr sagt: Nein, das war so schön praktisch, daß man jeden mit der Begründung nach Hause schicken konnte, daß man keinen Bedarf mehr für ihn bzw. sie hatte, und wir wollen das, weil es so schön praktisch war, noch einmal um zwei Jahre verlängern.
Ich erinnere daran, daß dies ja ein rechtsstaatlich höchst bedenkliches Instrument ist.
({0})
Es ist mit der Begründung eingeführt worden, daß es eine besondere Situation der Umstellung im öffentlichen Dienst und in der Verwaltung geben muß und daß man deshalb für eine begrenzte Zeit eine ziemlich erleichterte Kündigungsmöglichkeit braucht. Darauf haben sich zwei Regierungen, zwei Parlamente und der Bundesrat verständigt. Das sollte für einen ganz bestimmten und sehr begrenzten Zeitraum, nämlich bis zum 2. Oktober 1992, gelten.
Im Sommer 1992 sagt Ministerpräsident Biedenkopf: Ich brauche noch viel länger. Ich möchte weiterhin reine Bedarfskündigungen aussprechen. - Daraufhin beschließt der Bundestag - übrigens damals eindeutig gegen die Stimmen der SPD-Fraktion; heute kündigen Sie fast schon Zustimmung an - die Verlängerung der Frist bis zum 31. Dezember 1993. Leider stimmte dann die SPD im Bundesrat zu. Dadurch wird es wirksam. Ich hoffe, daß sich dieses Spiel nicht wiederholt.
Jetzt, kurz vor Ablauf dieser Frist, sagen Sie: Wir hängen noch einmal zwei Jahre dran. Im November 1995 werden Sie dann feststellen, daß es so praktisch war, daß man gleich noch einmal zwei Jahre heranhängen kann. Diese Art von rechtlosem Zustand, in dem man es immer wieder verschiebt und Fristen immer wieder heranhängt, halte ich für unvertretbar.
Die Gebietsreform - das will ich noch sagen - ist gar keine Begründung, weil sie nämlich auch Kündigungen nach dem allgemeinen Kündigungsrecht rechtfertigt. Dazu brauchen Sie die Bedarfskündigungen nicht; denn das sind echte Strukturveränderungen, für die es echte betriebswirtschaftliche und andere Gründe gibt.
Ich meine, daß Sie damit die Spaltung vertiefen. Wenn Sie den Angehörigen des gesamten öffentlichen Dienstes in Ostdeutschland sagen, daß sie noch zwei Jahre länger einen wesentlich rechtloseren Zustand hinnehmen müssen als jene in den alten Bundesländern, dann qualifizieren Sie ja die Menschen, die dort tätig sind, ab. Das halte ich für undenkbar. Deshalb kommt ja auch der Protest der ÖTV.
Wir waren einmal, Herr Staatssekretär, zusammen in der Sendung „Der heiße Stuhl". Ich war auf dem heißen Stuhl, und Sie standen davor, als die Bedarfskündigung das erstemal verlängert wurde.
({1})
Damals habe ich das kritisiert, und Sie haben mir zugerufen: Alles Stasi.
Herr Kollege Gysi, dies ist zwar kein heißer Stuhl - Dr. Gregor Gysi ({0}): Ich bin sofort fertig.
Ich habe mich deshalb so geärgert, weil das ein ganz anderer Kündigungsgrund ist. Ihn betraf es gar nicht. Wenn Sie als zuständiger Staatssekretär nicht mehr wissen, welche Kündigungsmöglichkeit wir eigentlich verlängert haben, und dort so reagieren, ist das schon ein trauriger Zustand. Das will ich ganz deutlich sagen.
Lassen Sie mich als letztes sagen: Wir lehnen die Verlängerung der Bedarfskündigung ab. Lassen Sie uns uns endlich daran gewöhnen, daß wir auch im ostdeutschen öffentlichen Dienst mit normalem Recht umgehen müssen und daß es indiskutabel ist, ständig einen Zustand der Rechtlosigkeit fortzusetzen und dafür Praktikabilitätsgründe anzuführen. Es ist natürlich immer praktischer, ohne Kündigungsschutz zu kündigen. Deshalb ist aber der Kündigungsschutz eingeführt worden, und zwar nicht im Interesse der Arbeitgeber, sondern im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Dabei sollte es nun endlich auch einmal in Ostdeutschland bleiben.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/6120 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Dies ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 12. November 1993, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.