Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Ich möchte zunächst den Präsidenten der Nationalversammlung der Sozialistischen Republik Vietnam, Herrn Nong Duc Manh, und seine Delegation auf der Ehrentribüne ganz herzlich begrüßen.
({0})
Sie haben bei Ihrem Besuch zunächst in BadenWürttemberg Gespräche geführt. Diese setzen Sie seit gestern in Bonn fort, heute mit den Fraktionen und Ausschüssen des Deutschen Bundestages. Sie haben gestern abend gemerkt, wie groß die Zahl der Parlamentarier war, die an Ihrem Besuch Interesse haben und Anteil nehmen.
Wir wünschen uns sehr, daß wir gerade die parlamentarischen Beziehungen mit dem sich demokratisch entwickelnden Vietnam vertiefen, damit wir in der Zukunft auf eine gute Zusammenarbeit setzen können. Herzlich willkommen!
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Berthold Wittich feierte am 18. Oktober seinen 60. Geburtstag. Ich spreche ihm nachträglich die herzlichsten Glückwünsche des Hauses aus.
({2})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde: Folgerungen der Bundesregierung aus dem Urteil des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993 - Az. 2 BvR 2134/92 und 2 BvR 2159/92 - in bezug auf die Entwicklung der Europäischen Union ({3})
2. Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Fritz Schumann ({4}) und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Arbeit in Deutschland - Drucksache 12/5901 3. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zu den Auswirkungen ihrer Finanzpolitik auf Sozialpläne, insbesondere in der Stahlindustrie
4. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Neuordnung der Berufe in der Physiotherapie - Drucksache 12/5912 5. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Psychotherapeutische Versorgung gesetzlich Krankenversicherter und Zugang zu den Berufen des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten - Drucksache 12/5913 6. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({5})
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Errichtung einer Stiftung BundespräsidentTheodor-Heuss-Haus - Drucksache 12/5916 -
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung, anderer handwerksrechtlicher Vorschriften und des Berufsbildungsgesetzes - Drucksache 12/5918 -
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes - Abgeordnetenbestechung - Drucksache 12/5927 -
d) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Schornsteinfegergesetzes - Drucksache 12/5928 Zugleich soll von der Frist für den Beginn der Beratung, soweit dies erforderlich ist, abgewichen werden.
Des weiteren mache ich auf eine nachträgliche Ausschußüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 168. Sitzung des Deutschen Bundestages am 1. Juli 1993 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zur Mitberatung überwiesen werden:
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Sozialgesetzbuchs über den Schutz der Sozialdaten sowie zur Änderung anderer Vorschriften ({6})
- Drucksache 12/5187 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({7}) Innenausschuß
Rechtsausschuß
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Sind Sie mit den Ergänzungen der Tagesordnung und der nachträglichen Ausschußüberweisung einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Die Gruppe PDS/Linke Liste hat fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung um die erste Beratung ihres Gesetzentwurfs, Drucksache 12/5781, zum Tag der Mahnung und Erinnerung an die jüdischen Opfer des Massenmordes während der Nazidiktatur zu erweitern. Wird zu diesem Geschäftsordnungsantrag das Wort gewünscht? - Bitte, Herr Gysi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben beantragt, unseren Gesetzentwurf auf die Tagesordnung zu setzen, der festlegen soll, daß der 9. November in Deutschland nicht zu einem gesetzlichen Feiertag, sondern zu einem gesetzlichen Gedenktag erklärt wird, der die öffentlichen Einrichtungen erinnert und mahnt, dieses Tages in besonderer Weise zu gedenken.
Sie alle wissen, daß am 9. November 1938 das erste wirklich große Pogrom in Deutschland stattfand, als dessen Ergebnis letztlich sechs Millionen Jüdinnen und Juden ermordet worden sind.
Es gibt in vielen Ländern einen solchen Gedenktag, nicht nur in Israel. Wir hatten ihn leider nicht in der DDR; wir haben ihn leider nicht in der Bundesrepublik Deutschland. Ich meine, daß es an der Zeit ist, einen solchen Gedenktag gesetzlich einzuführen, auch deshalb, damit wir nicht an jedem Jahrestag erneut vor der Schwierigkeit stehen, wie wir dieser Opfer gedenken.
Ich meine, das wäre nicht nur ein wichtiges Zeichen gegenüber den Angehörigen und den Nachkommen der damals Ermordeten - soweit es solche überhaupt gibt -, sondern es wäre auch ein wichtiges Zeichen in einer Zeit, in der der Rechtsextremismus zunimmt. Hier könnte der Bundestag ein deutliches Signal geben, daß wir bereit sind, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln gegen diesen Rechtsextremismus vorzugehen und gerade in einer solchen Zeit dieser Opfer zu gedenken.
Nun weiß ich natürlich, daß sich am 9. November im Laufe der deutschen Geschichte viele Ereignisse abspielten: Kaiser Wilhelm II. hat am 9. November abgedankt, Herr Scheidemann hat die Republik ausgerufen - sicherlich ein wichtiges Datum für die SPD -, Karl Liebknecht hat sogar die sozialistische deutsche Republik ausgerufen - auch kein unwichtiges Datum, zumindest für uns. Wir wissen, daß am 9. November vor vier Jahren die Mauer geöffnet wurde. Das heißt, es gibt verschiedene Ereignisse, an die man bei diesem Tag denken kann.
Trotzdem behaupte ich, daß durch das Pogrom und die danach einsetzende Ermordung von sechs Millionen Juden alle anderen Ereignisse in den Hintergrund gedrängt werden und daß wir diesen Tag, den 9. November, zum Gedenktag zur Mahnung und Erinnerung an die sechs Millionen ermordeten Juden erklären müssen.
Ich glaube auch, daß die Vermischung verschiedener Themen einfach nicht machbar ist und letztlich auf eine Bagatellisierung, auf eine Graduierung, auf eine Relativierung hinausläuft.
Ich habe mich an Sie alle, an die Fraktionen, gewandt. Ich wollte gerne, daß das ein gemeinsamer Antrag wird. Ich wollte genau nicht, daß ein solcher Antrag in irgendeiner Form parteipolitisch genutzt wird. Das ist mir nicht gelungen. Ich bedauere das sehr, weil ich wirklich nicht das geringste Interesse hatte, ein solches Anliegen in irgendeine Art von parteipolitischen Streit hineinzuführen.
Ich habe nun gehört, daß wir in diesem Jahr eine Veranstaltung im Bundestag durchführen wollen, in der sowohl an die Ermordung der sechs Millionen Juden als auch an die Öffnung der Mauer erinnert werden soll. Ich meine, daß das die Juden innerhalb und außerhalb Deutschlands und alle Menschen, die über diesen Massenmord nach wie vor zutiefst erschüttert sind, als Mißachtung empfinden müssen. Man kann so ungleiche Ereignisse nicht gleichwertig behandeln und auch nicht in einem Atemzuge. Ich warne deshalb vor dieser Vorgehensweise.
Lassen Sie mich als letztes sagen: Hier geht es nur darum, ob wir diesen Antrag überhaupt auf die Tagesordnung nehmen, damit wir in Ruhe darüber sprechen können, was wir sinnvollerweise tun sollten.
Da ich aus der Beratung der Parlamentarischen Geschäftsführer weiß, daß der Antrag weder heute noch in der nächsten Woche auf die Tagesordnung genommen werden soll, frage ich mich, welches Signal wir eigentlich setzen, wenn wir nicht einmal bereit sind, über diese Frage miteinander hier im Plenum zu sprechen und zu diskutieren. Ich halte das für einfach undenkbar.
Das würde bedeuten, daß der Mehrheit dieses Hauses unterstellt wird, daß sie einen solchen Gedenktag nicht will. Sie werden Beifall von einer Seite bekommen, von der Sie Beifall eigentlich nicht wollen sollten.
Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen. Lassen Sie uns heute darüber reden. Lassen Sie uns eine Entscheidung finden, wie wir diesem Tag auch in Zukunft gerecht werden, ohne immer wieder neue Diskussionen aufzurühren.
Die Redezeit ist beendet.
Lassen Sie uns diesen Tag würdig begehen! Stimmen Sie dem Antrag, diesen Punkt zusätzlich in die Tagesordnung aufzunehmen, zu!
({0})
Herr Dr. Rüttgers.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist wahr: Am 9. November jähren sich zum 55. Mal die schrecklichen Ereignisse der Reichspogromnacht. Die NaziDiktatur hat damals ihr wahres, ihr menschenverachtendes, ihr mörderisches Gesicht gezeigt. Deshalb haben sich die Fraktionen des Deutschen Bundestages einvernehmlich darauf geeinigt und im Ältestenrat vorgeschlagen, für den 9. November um 14 Uhr eine Sondersitzung des Deutschen Bundestages einzuberufen. Zum Gedenken wird die Präsidentin des Bundestages das Wort ergreifen.
Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren, besteht keine zwingende Notwendigkeit, den Gesetzentwurf der PDS/Linke Liste heute auf die Tagesordnung zu setzen.
({0})
Ich finde, ein solches Verfahren würde dem Anlaß und vielleicht auch, Herr Gysi, Ihrem Anliegen nicht gerecht.
Wir lehnen den Antrag auf Erweiterung der heutigen Tagesordnung ab. Wenn es die Notwendigkeit gibt, darüber in ein Gespräch einzutreten, wird es die Möglichkeit dazu geben. Für dieses Jahr ist die Vereinbarung zwischen den Fraktionen getroffen. Dabei sollte es bleiben.
({1})
Herr Dr. Struck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Gysi hat ausgeführt, welche Gründe ihn und eigentlich auch uns veranlassen sollten, des 9. November 1938 in würdiger Form zu gedenken, und zwar nicht nur in diesem Jahr, sondern auch in den darauffolgenden Jahren. Die SPD-Bundestagsfraktion hat keinen Grund, den Antrag von Herrn Gysi, das heute auf die Tagesordnung zu setzen, abzulehnen. Wir sind der Auffassung, daß wir im Bundestag vor dem 9. November dieses Jahres, an dem sich dieser schreckliche Tag zum 55. Mal jährt, schon darüber diskutieren sollten, wie wir in Zukunft in Deutschland dieser Ereignisse gedenken wollen.
Deshalb stimmen wir dem Antrag, diesen Punkt auf die Tagesordnung zu setzen, zu. Ich denke, daß wir in einer Debatte, die heute stattfinden könnte, sehr ausführlich über die näheren Einzelheiten dieses offiziellen Gedenktages sprechen könnten.
({0})
Herr Lüder.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Fraktion der Freien Demokraten stimmt der Aufsetzung nicht zu, und zwar aus folgenden Gründen; das sage ich in Ergänzung zu dem, was Herr Kollege Rüttgers ausgeführt hat.
Ich glaube, schon aus der Darlegung des Kollegen Gysi heute ist deutlich geworden, daß wir so mit diesem Gedenktag hier und heute nicht umgehen
können. Es sind in dem, was Sie gesagt haben, Grenzen zwischen Welten sichtbar geworden.
({0})
- Ich gehe auf das ein, was Herr Kollege Gysi eben gesagt hat. Herr Kollege Gysi hat eben z. B. gesagt, es sei eine Verachtung der Juden und der Opfer, die die Juden gebracht haben, wenn wir das Gedenken an die Maueröffnung und das Gedenken an den 9. November 1938 miteinander verknüpften. Genau das ist sachlich falsch.
({1})
Ich erinnere als erstes nur daran, daß z. B. die Wiedergutmachung von NS-Unrecht auf dem Territorium der früheren DDR nicht erfolgte, solange Sie dort unter anderem Namen noch die Regie hatten.
(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und des
Abg. Konrad Weiß [Berlin] ({2})
Erst in der Folge des humanitären Aktes des Mauerfalles wurde die Öffnung zur Bewältigung der NS-Vergangenheit auf dem Territorium der DDR möglich.
Zweiter Punkt. Wir haben, bevor wir den Gedenktag zum 3. Oktober festlegten, miteinander die Diskussion darüber gehabt: Bekennen wir uns zum Staatsfeiertag am 3. Oktober, oder nehmen wir den 9. November, das humanitäre Datum 9. November 1918, den Abgrund an Inhumanität am 9. November 1938, das Zeichen für Humanität am 9. November 1989? Wir haben uns bewußt auf den 3. Oktober als Staatsfeiertag festgelegt.
Wir wollen am 9. November gedenken, aber wir wollen nicht das verordnete Gedenken, auch nicht das vom Gesetzgeber verordnete Gedenken. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab.
({3})
Herr Schulz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Lüder, worum geht es in dieser Geschäftsordnungsdebatte überhaupt? Es geht darum, daß ein Antrag, der sich mit der Vorbereitung und Gestaltung dieses Tages - ob Gedenktag oder Gedenkfeier - beschäftigen möchte, gar nicht erst auf die Tagesordnung kommen soll und offensichtlich gar nicht erst diskutiert wird.
Ich meine zwar, daß der Antrag der PDS/Linke Liste nicht sonderlich originell oder neu ist. Ich erinnere Sie in diesem Zusammenhang daran - einige von Ihnen werden das sehr lebhaft im Wasserwerk mitbekommen haben -, daß genau vor fünf Jahren dort die GRÜNEN den Antrag gestellt haben, daß die Gedenkfeier zur Reichspogromnacht erweitert wird. Mein Vorgänger, der Kollege Hubert Kleinert, hatte damals den Antrag gestellt, daß Heinz Galinski auf dieser
Werner Schulz ({0})
Gedenkfeier reden sollte. Das ist abgewehrt worden.
Sie kennen alle die Geschichte: Der damalige Bundestagspräsident hatte es sich nicht nehmen lassen, sich in einer gewagten Rede um Amt und Ansehen zu bringen. Ich meine, daß sich uns hier der Geist der alten Bundesrepublik entgegenstellt, daß wir überhaupt nicht darüber diskutieren, wie wir solche Gedenktage künftig gestalten und wie wir das in würdiger Form angehen wollen.
Ich meine nicht, daß wir die Geschichte ad acta legen könnten, wie das ein Bundespräsidentschaftskandidat unlängst meinte.
({1})
- Ich verstehe dieses Präsidentschaftsallergiefieber gar nicht, das Sie hier zeigen. Ich glaube, ich habe nur ganz kurz und prägnant wiederholt, was er gesagt hat.
({2})
Ich meine, daß wir uns das ins Bewußtsein rufen und vor allen Dingen den Dialog mit der Gesellschaft aufnehmen sollten. Es würde uns gut anstehen, wenn an einem solchen Tag nicht nur die Bundestagspräsidentin hier sprechen würde, sondern auch ein Mann wie Ignatz Bubis, wenn beispielsweise dieser Plenarsaal nicht nur durch einen Mann wie Roman Herzog eröffnet worden wäre, sondern wenn wir für Erfahrungen und Gedanken aus der Gesellschaft offen wären und uns diese Erinnerung täglich ins Bewußtsein rufen würden.
({3})
Meine Damen und Herren, wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Aufsetzungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Aufsetzungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und F.D.P. ohne Enthaltungen abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie den Zusatzpunkt 2 auf:
3. a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Zukunftssicherung des Standortes Deutschland
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur Zukunftssicherung des Standortes Deutschland
- Drucksache 12/5620 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({0})
Auswärtiger Ausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Post und Telekommunikation
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe Jens, Hermann Bachmaier, Holger Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die deutsche Wirtschaft durch Senkungen der Leitzinsen und durch eine europäische Konjunkturinitiative aus der Rezession führen
- Drucksache 12/5362 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({1}) Finanzausschuß
Haushaltsausschuß
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Dr. Fritz Schumann ({2}) und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Aufbauplan Ostdeutschland
- Drucksache 12/5671 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({3})
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uwe Jens, Wolfgang Roth, Harald B. Schäfer ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Anpassung des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft an die neuen ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Anforderungen
- Drucksachen 12/1572, 12/5653 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rudolf Sprung
f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Roth, Hans Berger, Dr. Ulrich Böhme ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Eine sich selbst verstärkende Rezession durch kompetente Wirtschaftspolitik abwenden
- Drucksachen 12/4453, 12/5654 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rudolf Sprung
g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({8})
zu dem Entschließungsantrag der Gruppe der PDS/Linke Liste
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahreswirtschaftsbericht 1993 der Bundesregierung
-Drucksachen 12/4330, 12/4462, 12/5655-
Abgeordneter Dr. Rudolf Sprung
h) Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Fritz Schumann ({0}) und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Personalausstattung der Kataster-, Grundbuch- und Vermessungsämter in den neuen Ländern
- Drucksache 12/5389 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({1}) Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß
ZP 2 Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Fritz Schumann ({2}) und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Arbeit in Deutschland
- Drucksache 12/5901 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({3}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung vier Stunden vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In Deutschland, in Europa und in der Welt hat es in den letzten Jahren großartige Veränderungen gegeben, Veränderungen, die uns allen zugute kommen können, wenn wir vor allem die Chancen, die sich daraus ergeben, nutzen.
Der Ost-West-Gegensatz ist Geschichte geworden. Das sowjetische Imperium hat sich aufgelöst. Mauer und Stacheldraht, die Berlin, Deutschland und Europa über Jahrzehnte teilten, sind verschwunden. Auch auf dem Weg der wirtschaftlichen und sozialen Einheit Deutschlands sind wir in den vergangenen Jahren ein gutes Stück vorangekommen, auch wenn jeder weiß, daß es noch sehr viel zu tun gibt.
Die dritte große Veränderung, die unsere gemeinsame Zukunft bestimmen wird, ist der Zusammenschluß der europäischen Staaten zur Politischen Union. Der Vertrag von Maastricht ist jetzt in allen Mitgliedsländern ratifiziert worden.
Ich begrüße die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Beschwerden gegen den Vertrag über die Europäische Union. Diese Karlsruher Entscheidung ist eine sehr wichtige Wegmarke auf dem Weg zum vereinten Europa. Wir Deutsche stehen zum Auftrag unseres Grundgesetzes, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen" . Wir werden uns deshalb mit aller Kraft dafür einsetzen, die im Vertrag von Maastricht vereinbarten Ziele gemeinsam mit unseren Partnern umzusetzen.
Meine Damen und Herren, alle diese Herausforderungen, die wir in erster Linie als eine Chance begreifen müssen, erfordern von uns Konsequenzen
in allen Bereichen unseres Staates, unserer Gesellschaft und nicht zuletzt in der Wirtschaft. Wir erleben täglich, wie sich in der internationalen Arbeitsteilung tiefgreifende Veränderungen vollziehen. Wir haben uns noch nicht daran gewöhnt, daß sich nicht nur in Fernost starke Konkurrenten entwickeln - neben Japan inzwischen auch in Ländern wie Korea und Taiwan sowie die Volksrepublik China.
Wir wollen den Erfolg des Umgestaltungsprozesses in den Demokratien und Reformstaaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas. Wir wollen, daß die Reformen Boris Jelzins in Rußland erfolgreich sein werden. Man muß sich klarmachen, daß in diesen Ländern rund 380 Millionen Menschen leben, die genauso intelligent und fleißig sind wie die Menschen hierzulande. Es werden dort größte Anstrengungen unternommen, Gesellschaft, Staat und Wirtschaft zu reformieren. Wenn dies gelingt - wir hoffen doch gemeinsam, daß dies gelingt - und wenn das Vertrauen der Menschen in Rechtsordnung und Stabilität des Geldes wächst, dann werden diese Länder leistungsfähige Konkurrenten, aber eben auch wichtige Handelspartner für uns werden. Wir brauchen uns nur an unsere eigenen guten Erfahrungen in der Europäischen Gemeinschaft zu erinnern, um zu erkennen, welche enormen Chancen auch in einer vertieften wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn in Mittel-, Ost- und Südosteuropa liegen.
({0})
Meine Damen und Herren, beim Abschluß der Römischen Verträge im Jahr 1957 gingen deutsche Exporte im Wert von 14 Milliarden DM in die zwölf Länder, die heute die Europäische Gemeinschaft bilden. 1992 exportierten wir aus der Bundesrepublik Deutschland Waren im Wert von 365 Milliarden DM in genau diese Länder. Unsere Ausfuhren in die EG-Länder sind damit etwa doppelt so stark gestiegen wie unsere Exporte in die übrige Welt. Viele Millionen Arbeitsplätze bei uns in Deutschland verdanken wir dieser engen wirtschaftlichen Verflechtung mit leistungsfähigen Partnern in der Europäischen Gemeinschaft. Es liegt deshalb in unserem ureigensten Interesse, bald ebenso leistungsfähige Partner in Mittel-, Ost- und Südosteuropa zu haben.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, nachdem wir die staatliche Einheit Deutschlands erreicht haben, müssen wir jetzt die Vollendung der inneren Einheit weiter vorantreiben. Das ist, wie ich hoffe, gemeinsam unser vorrangiges innenpolitisches Ziel. Der dafür notwendige wirtschaftliche Umbau in den neuen Bundesländern wird von uns auch in Zukunft große finanzielle und persönliche Anstrengungen fordern.
Die aktuellen Ereignisse in diesen Wochen, vor allem in Moskau, haben uns einmal mehr vor Augen geführt, daß die schnelle Wiedervereinigung im Jahr 1990 für uns alle ein großer Glücksfall
({1})
und für die Menschen in der früheren DDR die einzig wirkliche Chance für eine bessere Zukunft war.
({2})
Es gab im Jahr 1990 nur für kurze Zeit die Chance zur Wiedervereinigung. Wir haben diese Gelegenheit damals zum Vorteil der Menschen in ganz Deutschland entschlossen genutzt. Ich sage nach meiner festen Überzeugung: Schon wenig später wäre die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes so nicht mehr möglich gewesen.
({3})
Inzwischen wissen wir aus früher geheimgehaltenen Dokumenten der SED, daß die DDR vor dem Fall der Mauer praktisch bankrott war. Die rasche deutsche Einheit hat die Menschen wirtschaftlich, sozial und ökologisch vor dem Schlimmsten bewahrt.
Jenseits der ökonomischen Probleme, die sich nur in einer großen Gemeinschaftsanstrengung lösen lassen, scheint mir vor allem die Frage wichtig zu sein: Wie gehen wir, die Deutschen, im vereinten Vaterland miteinander um? Wie können wir es verhindern, daß in den Köpfen und in den Herzen von nicht wenigen neue Vorbehalte entstehen? Es geht darum, mehr Verständnis füreinander zu haben. Das heißt, wir sollten versuchen, mehr miteinander und weniger übereinander zu reden. Vor allem sollten wir erkennen, daß über 40 Jahre Teilung tiefere Spuren hinterlassen haben, als viele von uns, auch ich, angenommen haben.
Die Menschen in den alten Bundesländern hatten das Glück, 40 Jahre in Freiheit und selbsterarbeitetem Wohlstand leben zu können, während die Deutschen jenseits der Mauer bei all ihrem Fleiß und bei all ihrem Einsatz vom SED-Regime um die Früchte ihrer Arbeit betrogen wurden.
Heute machen die Menschen in Ostdeutschland einen schwierigen und tiefgreifenden Strukturwandel in großem Tempo durch. Dafür verdienen sie unsere Achtung und unsere Hilfe, wo immer dies möglich ist. Dies, meine Damen und Herren, gilt insbesondere für die ältere Generation, für jene, die in Rente sind und die Last der Teilung in einem besonderen Maße getragen haben. Daher war es richtig - ich möchte das hier wiederholen - und auch moralisch geboten, zunächst vor allem der Rentnergeneration zu helfen.
({4})
Da über so vieles nicht berichtet wird, was berichtenswert ist, will ich hier darauf hinweisen, daß sich die Rente eines Durchschnittsverdieners nach 45 Versicherungsjahren in den neuen Bundesländern vom 1. Juli 1990 bis zum 1. Juli 1993 von 672 DM auf 1 357 DM mehr als verdoppelt hat.
({5})
Sie hat damit innerhalb von nur drei Jahren fast drei Viertel des Rentenniveaus der alten Bundesrepublik erreicht.
Meine Damen und Herren, in Europa wird der seit Anfang dieses Jahres geltende Binnenmarkt für jedes
Mitgliedsland Wettbewerbsvorteile und neue Arbeitsplätze bringen. Für deutsche Unternehmen bedeutet dies neue Investitions- und Absatzchancen, aber auch die dringende Notwendigkeit verstärkter Modernisierung im Blick auf den jetzt stärker gewordenen Wettbewerb.
Freizügigkeit und freier Handel sind keine Einbahnstraßen. Das gilt nicht nur für uns, sondern auch für die anderen. Vor diesem Hintergrund müssen wir uns sehr ernsthaft fragen, ob unsere gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen geeignet sind, diesen neuen Herausforderungen erfolgreich begegnen zu können.
Unsere Politik der Sozialen Marktwirtschaft und eine entschlossene Haushaltskonsolidierung haben in den 80er Jahren ein kräftiges, langanhaltendes wirtschaftliches Wachstum ermöglicht und uns wertvolle Handlungsspielräume eröffnet. In den 80er Jahren sind in den alten Bundesländern mehr als 3 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen worden; und dennoch fehlen uns heute in ganz Deutschland rund 5 Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze.
Bis zu Beginn der 90er Jahre konnte der Zugriff des Staates auf die gesamtwirtschaftliche Leistung deutlich zurückgeführt und die Steuerbelastung gesenkt werden.
Heute muß es uns darum gehen, neue Handlungsspielräume für die Zukunft zu gewinnen. Die Kernfrage für die kommenden Jahre ist: Wie schaffen wir neue, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze? Um diese Frage beantworten zu können, brauchen wir eine Generalinventur der deutschen Gesellschaft. Denn nur wenn wir wissen, wo wir stehen, können wir den richtigen Weg in die Zukunft finden.
In den Aufbaujahren nach der Währungsreform haben wir in der Bundesrepublik einen erfolgreichen Aufbruch in die Zukunft geschafft. Damals haben alle die Ärmel hochgekrempelt und der Bundesrepublik zu wirtschaftlicher Blüte und Wohlstand verholfen. Niemand hat damals zuerst danach gefragt, was die Gesellschaft oder der Staat für ihn tun können. Diese Bereitschaft zur eigenen Verantwortung, dieses Ja zur eigenen Leistung brauchen wir heute genauso wieder, wenn wir die innere Einheit unseres Landes rasch vollenden wollen.
({6})
- Ich an Ihrer Stelle würde hier keinen Zwischenruf machen.
({7})
Daß Menschen in den neuen Bundesländern arbeitslos geworden sind, haben Sie ganz entscheidend politisch zu vertreten. Sie haben es jahrelang durch Ihre Politik mit herbeigeführt.
({8})
So wie wir nach der Gründung der Bundesrepublik in den 50er Jahren den Aufstieg schafften, so müssen wir jetzt im wiedervereinten Deutschland in eine zweite Aufbruchphase eintreten. Wir müssen uns, meine Damen und Herren, drei Herausforderungen gleichzeitig stellen: der Vollendung der inneren EinBundeskanzler Dr. Helmut Kohl
heit unseres Landes, dem Zusammenwachsen Europas und der Sicherung des Standorts Deutschland angesichts einer wachsenden internationalen Konkurrenz.
Dazu brauchen wir einen Wandel in Gesellschaft und Wirtschaft. Ich finde es bei allen Schwierigkeiten bemerkenswert, daß bei immer mehr Menschen in Deutschland - auch weil die Sorge wächst, daß wir unter dem Druck der internationalen Konkurrenz unseren Lebensstandard nicht länger halten könnten - die Einsicht in die Notwendigkeit von Veränderungen wächst.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat mit ihrem Bericht zur Zukunftssicherung des Standorts Deutschland deutlich gemacht, welche Fragen für uns im Vordergrund stehen und wo wir konkreten Handlungsbedarf sehen. Wir sind an einer möglichst offenen und auch kritischen, breiten Diskussion über diesen Bericht interessiert. Wir wollen diese Gespräche in allen Bereichen unserer Gesellschaft führen. Ich füge hinzu: Es geht uns in keiner Weise darum, Schuldzuweisungen für vieles von dem, was wir gemeinsam getan und beschlossen haben, vorzunehmen.
Meine Damen und Herren, wer jetzt über Versäumnisse redet, muß sich immer fragen, an welchen davon er selbst beteiligt war. Aber für die Welt von morgen nützt uns das nichts.
({9})
- Meine Damen und Herren von der SPD, Sie werden doch nicht behaupten wollen, daß ein Großteil der Dinge, über die ich gleich zu reden habe, mit Ihnen und Ihren Entscheidungen nichts zu tun hat? Das bringt uns wirklich überhaupt nicht weiter. Es nützt keinem einzigen Arbeitslosen in Deutschland, wenn die Frage gestellt wird, wer 1969, 1975 oder 1988 so oder so gestimmt hat. Es geht jetzt darum, das Notwendige durchzusetzen. Dazu sind wir bereit.
({10})
Meine Damen und Herren, bei dieser Diskussion geht es auch nicht darum, den Standort Deutschland mieszumachen oder gar kaputtzureden. Damit würden wir uns nur selbst schaden. Es gibt auch gar keinen Grund zur Verzagtheit. Es ist zwar wahr, daß wir in einigen Feldern nachgelassen haben, aber es ist auch wahr, daß wir uns in vielen wichtigen Bereichen durchaus jeder Konkurrenz stellen können. Wahr ist aber auch - das ist das Entscheidende -, daß die anderen, unsere Nachbarn, unsere Konkurrenten, sehr viel besser geworden sind. Das müssen wir endlich zur Kenntnis nehmen.
({11})
- Was heißt „Ihre Konkurrenten"? Das ist genauso Ihre wie unsere Konkurrenz. Es geht hier um die Zukunft Deutschlands und nicht um die Zukunft, wie Sie sie interpretieren.
({12})
Alle unsere Nachbarn - im weitesten Sinne des Wortes -unternehmen große Anstrengungen, um die
eigene Leistungskraft, um die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Ich erinnere auch daran, daß in diesen Tagen der amerikanische Präsident Bill Clinton eine umfassende Exportoffensive angekündigt hat. Er hat erklärt, das Ziel der US-Politik sei es, die amerikanischen Exporte bis zum Jahr 2000 von heute 700 Milliarden auf 1 000 Milliarden Dollar zu erhöhen. Er will auf diese Weise 6 Millionen neue Arbeitsplätze in den Vereinigten Staaten von Amerika schaffen. Er hat weiterhin gesagt - und ich finde es besonders wichtig, darauf hinzuweisen -, daß die amerikanische Exportoffensive vor allem auf die Märkte im asiatisch-pazifischen Raum zielt und nicht zuletzt auch auf die neuen Märkte in Mittel- und Osteuropa.
Auch wir müssen uns mehr anstrengen, um auf den rasch wachsenden Zukunftsmärkten eine starke Position zu erringen. Deshalb haben wir z. B. eine AsienKonzeption entwickelt, um die deutsche Präsenz in dieser Zukunftsregion zu verstärken. Ich hoffe, wir haben bis zum Ende des Jahres noch Gelegenheit, hier im Hohen Hause über die Konzeption unserer Asienpolitik miteinander zu diskutieren.
Trotz mancher Schwächen und Probleme bleibt unbestritten: Der Standort Deutschland hat nach wie vor viele Stärken. Wir sind eine der führenden Exportnationen der Welt, und wir besitzen eine international leistungsfähige Infrastruktur. Zu unseren Stärken gehört vor allem auch die stabile D-Mark, die nicht von ungefähr zu einer der wichtigsten Reservewährungen der Welt und zur Ankerwährung in Europa aufgestiegen ist.
Unsere berufliche Bildung ist vorbildlich. Das Duale System genießt weltweit Anerkennung. Die vergleichsweise niedrige Jugendarbeitslosigkeit bei uns ist nicht zuletzt ein Ergebnis unseres Ausbildungssystems.
Die im internationalen Vergleich geringe Zahl der Streiktage zeigt, daß alles in allem bei uns ein gutes soziales Klima herrscht. Ungeachtet aller Konflikte
- das will ich hier ausdrücklich anerkennen - bekennen sich Gewerkschaften und Arbeitgeber in Deutschland zu ihrer gemeinsamen Verantwortung für das Wohl des Ganzen. Die soziale Partnerschaft ist eine der wichtigsten Säulen unserer Gesellschaft und muß dies bleiben.
({13})
Aber, meine Damen und Herren, dieser Verantwortung müssen sich Arbeitgeber wie Gewerkschaften auch stellen, wenn es jetzt darum geht, eine ehrliche Bestandsaufnahme über den Standort Deutschland vorzunehmen. Dazu gehören auch der Mut und die Entschlossenheit, den notwendigen Veränderungen
- auch im Blick auf eigene Besitzstände - den Weg zu bahnen.
Wir Deutsche stehen heute vor einer völlig neuen Situation, in der Erfahrungen aus der Vergangenheit uns nur teilweise eine Antwort für die Zukunft geben können. Es geht jetzt eben um weit mehr als um die Überwindung der derzeitigen Rezession. Die aktuellen Konjunkturdaten sprechen dafür, daß wir in diesem Sommer die Talsohle der Rezession erreicht
haben. Steigende Aktienkurse und der stabile DMark-Kurs an den internationalen Märkten sind Ausdruck weltweiten Vertrauens in unsere Fähigkeit, mit den Problemen fertigzuwerden.
({14})
Die meisten Konjunkturforscher erwarten für 1994 wieder einen Aufschwung, der jedoch erst mit erheblicher Verzögerung auf dem Arbeitsmarkt spürbar werden dürfte.
Aber - und das ist das Entscheidende - wir haben es nicht nur mit einer normalen Rezession zu tun, sondern auch mit lange aufgestauten Strukturproblemen.
({15})
Deswegen, meine Damen und Herren, müssen wir uns - ganz unabhängig von konjunkturellen Auf- und Abwärtsbewegungen - vorrangig um die strukturellen Probleme unseres Landes kümmern. Wir müssen eine Wiederbelebung der Konjunktur erreichen, zugleich aber die Strukturschwächen konsequent bekämpfen. Die Strukturprobleme sind nicht erst mit der deutschen Einheit aufgekommen, sondern sie sind in der alten Bundesrepublik in Jahrzehnten angewachsen.
({16})
- Zu Ihren Zwischenrufen gleich eine Bemerkung: Daß wir über die Bahnreform so unendlich mühsam miteinander reden, hat doch damit zu tun, daß wir alle hier in diesem Saal Mitverantwortung dafür tragen, daß diese Reform über Jahrzehnte verschleppt wurde. Das ist doch die Wahrheit!
({17})
Weder Sie noch wir haben es geschafft, vor 10 oder 20 Jahren die notwendigen Entscheidungen zu treffen.
Nach dem Urteil vieler Experten bauen wir mit dem ICE einen der technologisch besten Züge der Welt. Richtig ist auch, daß dieser Zug noch nicht lange genug im praktischen Einsatz ist, weil wir es in Deutschland nicht fertiggebracht haben, die für hohe Geschwindigkeiten geeigneten Trassen rechtzeitig zu bauen. Das erweist sich jetzt als ein großer Nachteil für unser Land.
({18})
Jeder von uns kennt schlimme Beispiele für die Verzögerungen bei Genehmigungs- und Bauzeiten. Ich nenne als Beispiel aus jüngster Zeit eine private Werft in Norddeutschland, die konkurrenzfähige Schiffe baut und dadurch 2 000 Arbeitsplätze in der Region sichert. Als notwendige Voraussetzung für den Bau bereits fest bestellter Schiffe soll ein Fluß vertieft werden. Einsprüche und Klagen einiger weniger gefährden diese Aufträge, die damit zusammenhängenden Arbeitsplätze sowie die Existenz der ganzen Werft.
({19})
Ich kann Ihnen viele andere Beispiele nennen, etwa die unglaublichen Verzögerungen beim Bau einer
wichtigen Autobahn im Allgäu. Verwaltungsgerichtsverfahren blockieren dort seit 1985 den Bau der noch fehlenden 17 Kilometer. Ständig verstopfte Straßen in dieser Region sind die Folge. Das ist ein typisches Beispiel des deutschen Verkehrsalltags.
({20})
Es geht auch nicht an, daß für Planung und Bau eines S-Bahn-Anschlusses für einen wichtigen Flugplatz in der Bundesrepublik Deutschland 20 Jahre vergehen.
Ebenso wenig kann es richtig sein, daß Hochschulbaumaßnahmen von der Planung bis zur Fertigstellung im Durchschnitt acht bis zehn Jahre dauern. Der Neubau des Fakultätsgebäudes einer süddeutschen Universität brauchte von der ersten Planung im Jahre 1971 bis zur Fertigstellung im Jahre 1993 sogar 22 Jahre.
Für diese Standortschwächen, meine Damen und Herren, tragen doch nicht einzelne Parteien, sondern wir alle gemeinsam Verantwortung.
({21})
Ich füge gleich hinzu: Für das Aufbrechen erstarrter Strukturen ist Umdenken wichtiger als Umverteilen von Geld. Gefragt sind in erster Linie neue Ideen, nicht neue Ausgabenprogramme.
Wir müssen neue Aufgaben anpacken und uns den Veränderungen stellen. Ein Beispiel dafür ist die anstehende Reform der drei Unternehmen der Deutschen Bundespost. Die Telekommunikation ist einer der wichtigsten Wachstumsmärkte der Zukunft. Wenn die deutsche Industrie in diesem Bereich den Anschluß verliert, verpassen wir eine der bedeutendsten Zukunftschancen. An dieser Industrie hängen Tausende von Zukunftsarbeitsplätzen. Wir können es uns einfach nicht leisten, die Postreform II noch länger zu verzögern und hinauszuschieben.
({22})
Deshalb bitte ich alle Beteiligten um eine baldige positive Entscheidung.
Ich möchte einige wichtige Maßnahmen zur Standortverbesserung nennen, die die Bundesregierung in den letzten Monaten bereits durchgesetzt hat: Das neue Arbeitszeitgesetz, mit dem wir flexiblere Arbeitszeiten und längere Maschinenlaufzeiten ermöglichen wollen, liegt jetzt dem Bundestag vor. Ich hoffe und bitte darum, daß es bald verabschiedet wird. Ich fordere von dieser Stelle die Tarifparteien auf, neue Arbeitszeitmodelle zu entwickeln und möglichst noch 1994 einzuführen, um der Konjunktur zusätzlichen Schub zu geben. Damit könnten viele Unternehmen Kosten senken, die Wettbewerbsfähigkeit erhöhen, Arbeitsplätze erhalten und neue Arbeitsplätze schaffen.
Mit der vorliegenden Novelle des Gentechnikgesetzes werden die Voraussetzungen erheblich verbessert, daß auch künftig Spitzenforschung und -produktion in dieser wichtigen Zukunftstechnologie in Deutschland stattfinden können, und zwar ohne Abstriche in Bereichen der Sicherheit, der Gesundheit und des Umweltschutzes. Wie nötig diese Novelle ist, meine Damen und Herren - und über die Fehler der
Vergangenheit brauchen wir auch in diesem Zusammenhang nicht miteinander zu diskutieren -, illustriert eine einfache Zahl. Derzeit investieren deutsche Unternehmungen jährlich 1 Milliarde DM in die Genforschung, aber nur weniger als die Hälfte dieser Mittel wird bei uns in der Bundesrepublik Deutschland ausgegeben.
Mit dem Standortsicherungsgesetz werden wir ab 1994 die Steuern für gewerbliche Einkünfte spürbar senken. Durch den Verzicht auf die Einschränkung der degressiven Abschreibung für Maschinen haben wir auch im Rahmen unserer Möglichkeiten konjunkturellen Erfordernissen Rechnung getragen. Zu keinem Zeitpunkt zuvor hat es in der Bundesrepublik Deutschland niedrigere Ertragsteuern gegeben. Damit werden Investitionen ermutigt, damit kann die Schaffung von Arbeitsplätzen in Deutschland ganz wesentlich erleichtert werden.
({23})
Das der Industrie nahestehende Institut der deutschen Wirtschaft schrieb unter der Überschrift „Vorfahrt für Modernisierungsprojekte" in seinem Informationsdienst: „Das überarbeitete Standortsicherungsgesetz kann sich sehen lassen." Ich finde, es sollte sich nicht nur sehen lassen können, sondern auch in der Praxis angewandt werden.
({24})
Meine Damen und Herren, unverzichtbare Grundlage für die Zukunft unseres Landes ist eine stabile Währung. Deshalb haben wir im Bundeshaushalt 1994 und in der mittelfristigen Finanzplanung einen strikten Konsolidierungskurs vorgezeichnet. Was wir in den kommenden Jahren an Einsparungen vorgesehen haben, liegt an der Untergrenze des absolut Notwendigen, nicht etwa, wie behauptet wird, an der Obergrenze. Die festgelegte Einsparsumme steht nicht zur Disposition. Wer hier etwas ändern will, muß seriöse Alternativen vorschlagen.
Im Sozialbereich geht es dabei um den Umbau des Sozialstaates und in gar keiner Weise um den Abbau. Künftig müssen Eigenvorsorge und Selbsthilfe wieder mehr Gewicht in der sozialen Sicherung erhalten.
({25})
Nicht alle Risiken dürfen auf die Gemeinschaft der Versicherten oder auf den Staat abgewälzt werden.
Meine Damen und Herren, das gesamtdeutsche Sozialbudget, das alle öffentlichen und privaten Sozialleistungen umfaßt, beträgt inzwischen mehr als 1 Billion DM. Daran gemessen machen die geplanten Einsparungen bei den Sozialleistungen von rund 15 Milliarden DM nur etwa 1,5 % aus. Von einem Anschlag auf den Sozialstaat kann deshalb in gar keiner Weise gesprochen werden.
({26})
Im übrigen kann jeder, der einen Blick auf die Länder in unserer Nachbarschaft wirft, erkennen, was dort hinsichtlich der Zukunftssicherung geschieht. Dort werden dramatische Einschnitte in soziale Leistungen vorgenommen, die weit über das hinausgehen, was wir im Haushalt 1994 vorschlagen. In Schweden ebenso wie in den Niederlanden, in Frankreich oder in Italien sind harte Sparprogramme auf den Weg gebracht worden, ohne daß diese Länder die historische Herausforderung der deutschen Einheit zu meistern hätten.
Nur eine konsequente Stabilitätspolitik kann die Voraussetzungen für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland auch in Zukunft schaffen. Deswegen bleibt eine stabile Währung die entscheidende Grundlage für die Zukunft unseres Landes. Ich will gern die Gelegenheit wahrnehmen, hier nochmals auf die sehr positive Rolle der Deutschen Bundesbank hinzuweisen. Grundlage der Stabilitätserfolge der Bundesbank ist die Unabhängigkeit in der Entscheidung und die klare Ausrichtung auf das Ziel der Geldwertsicherung.
Meine Damen und Herren, richtige Rahmenbedingungen sind ebenso wichtig wie das rechtzeitige Erkennen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungen und die Bereitschaft, daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.
Ein Beispiel, das viel zuwenig beachtet wird, obwohl es wohl das dramatischste Beispiel ist, ist die demographische Entwicklung in unserer Gesellschaft. Wir haben nun schon seit Jahrzehnten eine der niedrigsten Geburtenraten in der Welt. Zugleich steigt bei uns erfreulicherweise die Lebenserwartung. Um die Jahrhundertwende lag die Lebenserwartung der Menschen in Deutschland bei 45 Jahren. Im Jahre 2000 dürfte sie für Männer bei durchschnittlich 75 Jahren, für Frauen bei fast 81 Jahren liegen. Die Zahl der Bürgerinnen und Bürger, die 80 Jahre und älter werden, wird im Jahre 2000 bei rund 3 Millionen liegen. Danach wird sie noch deutlicher anwachsen.
Zugleich -- dies ist ein Alarmsignal - öffnet sich die Schere zwischen aktiver Erwerbszeit einerseits sowie Ausbildung und Ruhestand andererseits immer weiter. Wer heute in Deutschland Abitur macht und studiert, ist im Durchschnitt fast 30 Jahre alt, wenn er in das Berufsleben eintritt. Zugleich beträgt heute das durchschnittliche Renteneintrittsalter bei Männern 59 Jahre. Dies bedeutet, daß in vielen Fällen 50 Jahren Ausbildung und Ruhestand nur 30 Jahre produktive Erwerbstätigkeit gegenüberstehen. Man muß doch wirklich nicht viel diskutieren, um zu erkennen, daß diese Rechnung nicht mehr aufgehen kann.
({27})
Die Entwicklung von Demographie und Lebensarbeitszeit hat langfristig tiefgreifende Folgen, etwa für den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme. Bei schon heute 1,8 Millionen akuten Pflegefällen wird die Pflegeversicherung immer dringlicher. Wir müssen sie deshalb durchsetzen, und natürlich müssen wir ebenfalls durchsetzen, daß sich dadurch die Lohnnebenkosten nicht erhöhen.
({28})
Mit der Rentenreform 1992 haben wir die Renten bis deutlich ins nächste Jahrtausend hinein auf eine sichere und solide finanzielle Basis gestellt. Den
heutigen Rentnern und den rentennahen Jahrgängen können wir sagen, daß ihre wohlverdiente Rente sicher ist. Der hier im Haus zwischen den Regierungsfraktionen und der SPD vereinbarte Rentenkonsens bleibt unangetastet. Aber wahr ist ebenfalls, daß die Generation der heute 30jährigen ein Recht darauf hat, daß wir gemeinsam darüber sprechen, wie ihre Rente eines Tages finanziert werden soll. Hierüber - und nicht über die Alterssicherung der Älteren - müssen wir nachdenken und sachlich miteinander diskutieren.
Meine Damen und Herren, trotz der beschäftigungspolitischen Erfolge der 80er Jahre in den alten Bundesländern fehlen uns heute in ganz Deutschland rund 5 Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze - und dies, obwohl wir alle wissen, daß es genug Arbeit gibt. Es ist daher höchste Zeit, daß wir auch auf dem Arbeitsmarkt bestehende Verkrustungen aufbrechen. Dies sind wir den vielen Menschen, deren Arbeitsplatz bedroht ist oder die ohne Arbeit sind, schuldig.
Immer kürzere Arbeitszeit bei steigenden Lohnkosten, immer mehr Urlaub: Das ist keine Voraussetzung für eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes. Wir haben in Deutschland im Durchschnitt 6 Wochen Urlaub und 12 Feiertage pro Jahr. Bei der wöchentlichen Arbeitszeit liegen wir gleichzeitig mit durchschnittlich 37,5 Stunden niedriger als alle unsere Konkurrenten. Dennoch scheint es für viele nichts Wichtigeres zu geben, als über mehr Freizeit nachzudenken. Meine Damen und Herren, wir können die Zukunft nicht dadurch sichern, daß wir unser Land als einen kollektiven Freizeitpark organisieren. Wir müssen in allen Bereichen unserer Ökonomie die notwendigen Voraussetzungen für eine grundlegende Umkehr schaffen.
({29})
Untersuchungen im Auftrag der EG-Kommission über Maschinenlaufzeiten in der Europäischen Gemeinschaft haben ergeben, daß die deutsche Industrie gegenüber ihren Konkurrenten auch auf diesem Feld große Wettbewerbsnachteile hat.
Die Tarifpartner müssen erkennen, daß sie eine besondere Verantwortung für Erhalt und Schaffung dauerhafter, wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze haben. Deshalb kann auch ihnen die Entwicklung der Arbeitskosten nicht gleichgültig sein. Im Zeitraum von 1985 bis 1992 sind die westdeutschen Lohnstückkosten in der Industrie um 30 % gestiegen. Bei den drei wichtigsten Konkurrenten auf dem Weltmarkt sind die Lohnstückkosten erheblich weniger gestiegen. In Japan, in den USA und in Frankreich wiesen sie nur Steigerungsraten von knapp 4 bis 11 % auf. Wer - wie z. B. viele mittelständische Maschinenbauunternehmen, und diese Unternehmen sind ein Rückgrat der deutschen Wirtschaft - zugleich die gegenwärtigen Wechselkursentwicklungen verkraften muß, gerät unter erheblichen Kostendruck und sieht sich dann eben im Extremfall zu Entlassungen gezwungen.
Die Tarifpartner müssen auch erkennen, daß Tarifabschlüsse und Arbeitszeitregelungen eine direkte Auswirkung auf die Wiedereinstellungschancen von Arbeitslosen haben. Die Tarifverträge werden in
Autonomie von Arbeitgebern und Arbeitnehmern geschlossen. Die Tarifautonomie ist ein hohes Gut. Aber Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen auch ihre gemeinsame Verantwortung für das Ganze erkennen.
({30})
Was wir jetzt brauchen, sind mehr betriebsbezogene Lösungen und flexiblere Arbeitszeiten, um in der weltweiten Konkurrenz weiterhin an der Spitze mithalten zu können. Es ist höchste Zeit, von starren Arbeitszeitregelungen Abschied zu nehmen. So wäre z. B. eine erhebliche Ausweitung der Teilzeitarbeit in unserem Land dringend notwendig.
({31})
Ich glaube, das ist auch möglich, wenn sich die Verantwortlichen in den Betrieben, in den Gewerkschaften ernsthaft zusammensetzen, um neue Arbeitszeitmodelle zu entwickeln. Dies ist im übrigen auch ein ganz entscheidender Beitrag zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Es ist doch völlig unverständlich - und das ist eine Feststellung, die eigentlich jeden umtreiben muß -, weshalb wir im internationalen Vergleich zu den Schlußlichtern beim Angebot von Teilzeitarbeitsplätzen gehören.
({32})
- Ich weiß nicht, warum Sie dabei so unruhig sind. In der Frage der Teilzeitarbeit müßten Sie doch auf Grund Ihrer Diskussion etwa um Frauenquoten und ähnliches viel Beifall spenden, meine Damen und Herren.
({33})
Was nützen denn Ihre Sonntagsreden, wenn Sie vor Ort, in den Betrieben nicht das Notwendige machen?
Meine Damen und Herren, bei der Standortbestimmung für Deutschland geht es auch um die Frage nach den geistig-kulturellen Grundlagen unserer Zukunftssicherung. Deshalb gehört der gesamte Bereich der Bildung, Wissenschaft und Forschung in den Mittelpunkt unserer Zukunftsvorsorge.
Als überzeugter Föderalist respektiere ich die in der Verfassung festgelegte Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern; aber, meine Damen und Herren, in der Bildungspolitik gibt es Entscheidungen, die uns alle in Deutschland angehen, und es ist kein Eingriff in Länderkompetenzen, wenn ich im Rahmen dieser Regierungserklärung auch diese Fragen anspreche.
Die Bildungspolitik ist nicht irgendein Thema. Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung müssen in unserem Land den hohen Rang behalten, der ihnen zukommt. Das sind wir uns auch als Kulturnation schuldig.
Bildung und Wissenschaft sind zugleich auch ein Standortfaktor allererster Ordnung. Deshalb will ich in einem ersten Grundsatzgespräch im November mit allen Beteiligten über diese Frage sprechen. Unser Wissenschafts- und Bildungssystem steht auf dem Prüfstand. Vieles davon - ich nenne noch einmal das duale System - ist gut und hat sich bewährt.
Wahr ist aber auch, daß es grundlegende strukturelle Probleme gibt. Ich bleibe bei meiner Feststellung, die viele nicht gerne hören. Ich bin überzeugt, daß die Gymnasialzeit mit neun Jahren zu lang ist.
({34})
Über die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur auf 12 Jahre diskutieren wir ja jetzt ebenfalls schon seit Jahrzehnten. Jetzt, meine Damen und Herren, sind wir in der ganz unmöglichen Situation, daß in den meisten neuen Bundesländern 12 Jahre und im Westen immer noch 13 Jahre gelten.
Auch die Studienzeiten sind viel zu lang. Unsere Hochschulabsolventen treten im internationalen Vergleich vier bis fünf Jahre zu spät ins Berufsleben ein. Sie erleiden damit - und das wird in den nächsten Jahren noch stärker werden - erhebliche Nachteile im immer intensiver werdenden Wettbewerb auf dem großen europäischen Arbeitsmarkt.
In den Geistes-, Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften hat die Zahl der Studienabbrecher mittlerweile 30 % erreicht. Aber diese Prozentzahl, die ich hier so einfach vortrage, sagt ja nichts aus über das Schicksal der Betroffenen.
({35})
Viele verlieren die besten Jahre, bevor sie ihr Berufsziel erreichen. Fast ein Viertel der Hochschulabgänger findet heute keinen Arbeitsplatz, der ihrer Ausbildung angemessen ist. Dies ist doch für junge Leute eine zutiefst frustrierende Erfahrung. Deswegen muß nicht nur nachgedacht, sondern auch gehandelt werden.
({36})
Es macht auch wirtschaftlich keinen Sinn, junge Leute für Berufe zu qualifizieren, in denen es bereits ein erkennbares Überangebot an Arbeitskräften gibt. Damit wird im übrigen ein beruflicher Verdrängungsprozeß gefördert, dem am Ende die Schwächsten, die am wenigsten Qualifizierten, zum Opfer fallen.
Meine Damen und Herren, besonders alarmierend ist, daß sich in Deutschland inzwischen ein absolut unerträgliches Verhältnis zwischen der Zahl der Studenten und der Zahl der Lehrlinge entwickelt hat.
({37})
Über 1,8 Millionen Studenten stehen ca. 1,6 Millionen Lehrlinge gegenüber. Diese Daten sind zwar wegen der unterschiedlich langen Ausbildungszeiten nicht vergleichbar - das weiß auch ich -, aber sie kennzeichnen doch einen bedenklichen Trend zur Verakademisierung unserer Gesellschaft, der ganz gewiß nicht eine bessere Zukunft verheißt.
({38})
Diese Fehlentwicklung geht vor allem zu Lasten des Mittelstandes, einer der tragenden Säulen unserer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Dort droht bei einem Anhalten dieses Trends für die Zukunft ein empfindlicher Mangel an Nachwuchskräften. Um dies zu verhindern, muß unser traditionell gutes Berufsausbildungssystem attraktiver werden. Dazu brauchen wir mehr berufliche Ausbildungsangebote, die echte Alternativen zum Studium darstellen. Es gibt erfolgversprechende Initiativen. Etwa 3 000 deutsche Unternehmen haben für das Ausbildungsjahr 1993/94 rund 12 000 spezielle Ausbildungsplätze für Abiturienten angeboten. Diese Sonderausbildungsplätze sind auf große Resonanz bei den Abiturienten gestoßen. Ich denke, es geht jetzt darum, auf diesem Weg noch weiter voranzukommen.
Wir haben auch Grund, Dank zu sagen. In diesem Jahr haben alle Beteiligten in Wirtschaft und Verwaltung erneut ihre Bereitschaft zur Mitverantwortung für die Berufsausbildung junger Leute unter Beweis gestellt. Für alle ostdeutschen Lehrstellenbewerber, die dies wollen, steht auch 1993 ein Ausbildungsplatzangebot zur Verfügung.
({39})
Ich sage dies mit großer Dankbarkeit, denn, meine Damen und Herren, was in diesen Monaten im Handwerk, in der Wirtschaft, aber auch in der Arbeitsverwaltung - das sage ich hier gern auch einmal - geleistet wurde, ist beachtlich.
({40})
Es widerlegt auch die Horrormeldungen, die von interessierter Seite unter die Leute gebracht werden. Der Erfolg bei den Lehrstellen ist eine großartige Gemeinschaftsleistung, die weit über das Ökonomische hinaus Bedeutung hat. Ich hätte ganz gerne ein Wort des Dankes an die Beteiligten auch aus dem Munde von Verantwortlichen in den neuen Ländern gehört!
({41})
Die von mir beschriebene Fehlentwicklung, die ganz unbestreitbar ist, vor allem auch im Hochschulbereich, kann nicht länger hingenommen werden - und das nicht nur aus Kostengründen. Regelungsdichte und Überbürokratisierung im Hochschulwesen ersticken, wie jeder weiß, die Kreativität und die Eigeninitiative. Wo immer man mit Rektoren und Professoren spricht, wird diese Klage laut. Es war ein großer Fehler - ich bekenne mich als früherer Ministerpräsident ebenfalls dazu -, daß Aufsicht und Einflußnahme des Staates bis in alle Einzelheiten des Hochschulbetriebes ausgedehnt wurden. Diesen Fehler müssen wir jetzt schnellstens korrigieren.
({42})
Die Hochschulen brauchen mehr Eigenverantwortung und Gestaltungsraum. Sie brauchen schlicht mehr Autonomie.
({43})
Wenn wir dieser zwingenden Forderung nachkommen, dann können wir auch zu Recht unsere Forderung gegenüber der Hochschule erheben, daß die Leistungskontrolle eben nicht nur bei den Studierenden durchgeführt wird, sondern auch bei den Hochschullehrern. Auch dies gehört zu den dringend notwendigen Veränderungen.
({44})
Wenn ich von diesen Korrekturen rede, will ich gleich vorsorglich hinzufügen - denn ich weiß ja, wie man Begriffe und Worte manipulieren kann - ({45})
- An Ihrer Stelle wäre ich jetzt ruhig gewesen. Ihre sonore Stimme ist für das, was ich eben beschrieben habe, bekannt.
Es geht dabei nicht darum, daß wir jungen Leuten Bildungschancen nehmen wollten. Jeder muß auch in Zukunft die Chance haben, zu dem Bildungsabschluß zu kommen, für den er geeignet ist. Aber angesichts der immer drängender werdenden Fragen, wie es in unseren Hochschulen weitergeht, dürfen wir nicht die Hände in den Schoß legen.
Meine Damen und Herren, Spitzenleistungen in Forschung und Technik sind eine wesentliche Voraussetzung für zukunftssichere Arbeitsplätze. Als rohstoffarmes Land leben wir von der Kreativität und von der Qualität der Arbeit der Menschen in unserem Lande. Doch sind wir gerade im Bereich von Forschung und Hochtechnologie gegenüber wichtigen Konkurrenten zurückgefallen.
Dies hat auch etwas mit der immer geringer gewordenen Akzeptanz von Fortschritt und Technik zu tun. Wenn ich dies sage, weiß ich auch, daß der Satz gilt: Nicht alles, was wissenschaftlich-technisch machbar ist, ist auch ethisch verantwortbar. Aber ich will auch vor der modisch gewordenen pauschalen Verteufelung von Forschung und Technik warnen, die uns in eine Sackgasse gebracht hat.
({46})
Wer Technikfeindlichkeit predigt, wer den technischen Fortschritt durch Horrorszenarien als Gefahr verunglimpft, gefährdet die Zukunft des Landes.
({47})
Niemand muß sich doch darüber wundern, daß heute in Deutschland Umfragen zufolge 30 % der Menschen glauben, der technische Fortschritt habe ihren Lebensstandard verschlechtert, während dies in Japan nur 4 % so sehen.
In den deutschen Unternehmen haben sich - auch das ist wahr - bei Forschung, Entwicklung und Innovation Defizite angesammelt. So haben etwa in der Informationstechnik die Patentaktivitäten in Deutschland im Vergleich zum Weltdurchschnitt und insbesondere im Vergleich zu Japan und den USA ständig abgenommen. Dies gilt, obwohl man korrekterweise berücksichtigen muß, daß es bei Patentanmeldungen in diesen Ländern eine unterschiedliche Praxis gibt.
In der Mikroelektronik schrumpfte die Zahl der deutschen Patentanmeldungen zwischen 1987 und 1992 von 289 auf 181, während die Japaner ihre Anmeldungen von 17 408 auf 23 082 Patente steigerten. Auch die USA stehen mit einer Verdoppelung ihrer Patentanmeldungen von 848 auf 1 671 wesentlich besser da als die deutschen Unternehmen. Wir sehen ähnliche Rückstände bei Großcomputern, in der
Unterhaltungselektronik, in der Bürotechnik und in der Laser-Technik.
Es ist besorgniserregend, daß die Ausgaben der Wirtschaft für Forschung und Entwicklung deutlich schwächer wachsen als das Bruttoinlandsprodukt. Der Anteil der Wirtschaft an der Finanzierung der nationalen Forschungsausgaben ist zwischen 1989 und 1992 von über 62 % auf 58 % geschrumpft. Wir müssen uns angesichts dieser Tatsachen fragen, wie wir im Bereich der Forschung und der Entwicklung von Zukunftstechnologien verlorengegangenes Terrain zurückgewinnen können.
Die erste und wichtigste Aufgabe ist es, den Stellenwert von Forschung und Technologie in der Gesellschaft wieder anzuheben, mit anderen Worten: ein forschungs- und technikfreundliches Klima zu schaffen. Dies geht uns alle an.
({48})
Die Forschungspolitik muß sich dabei konsequenter auf die Stärkung des Standorts Deutschland konzentrieren. Die Konkurrenz auf den Weltmärkten, steigende Investitionskosten und immer komplexer werdende Prozesse erfordern die Bündelung der Forschungsanstrengungen auf allen strategischen Feldern.
Meine Damen und Herren, die großen Forschungsorganisationen und unsere Forschungsstrukturen müssen auf den Prüfstand gestellt werden. Auch hier müssen wir Besitzstandsdenken und Verkrustungen überwinden. Jeder von uns, der sich mit diesem Thema beschäftigt, weiß, wie schwierig es ist, in den Forschungsorganisationen eine Verlegung aus Standorten der alten Bundesrepublik in die neuen Bundesländer vorzunehmen. Deswegen sage ich: Auch da gibt es Besitzstandsdenken, das überwunden werden muß.
({49})
Zugleich müssen wir das sind der Staat und die Wirtschaft - im Bereich der Forschung vor allem die Entwicklung in den neuen Bundesländern sehen und ihr mehr Chancen geben. Wir werden bei der Verabschiedung des Etats für 1994 dazu noch das eine oder andere an Möglichkeiten eröffnen. Es kann nicht sein, daß die alte DDR-Grenze jetzt zu einer Grenze im Blick auf Forschung und Innovation wird.
({50})
Eine Schwachstelle in der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Forschung mit der Wirtschaft ist die mangelhafte Umsetzung von Grundlagenerkenntnissen in marktfähige Produkte. Hier gilt es vor allem, darum bemüht zu sein, daß die Wirtschaft die notwendigen Anstrengungen unternimmt.
Ich bringe ein Beispiel, das wohl ziemlich überzeugend ist.
({51})
Ich erinnere daran, daß zu Beginn der siebziger Jahre in Deutschland und in den USA die ersten Fax-Geräte entwickelt wurden. Die Hauptlieferanteile am heutigen Weltmarkt für dieses Produkt besitzt jetzt ein
Unternehmen in Fernost. In diesem Zusammenhang sind über 10 000 Arbeitsplätze in Deutschland nicht entstanden.
({52})
Dieses Beispiel zeigt, daß Unternehmungsgeist, Weitblick und Mut gefordert sind. Nur wenn wir im eigenen Land unter Beweis stellen, daß wir anspruchsvolle Technologie bauen und betreiben, werden wir unsere Technologieprojekte auch auf den Weltmärkten anbieten und verkaufen können.
({53})
Es war für mich eine in höchstem Maße bedrükkende Situation, als mich der
Wo läuft bei euch in Deutschland dieser neue, schnelle Zug, den ihr anbietet? - Am Beispiel des ICE können wir doch erkennen, daß die Verzögerung wichtiger Entscheidungen wie des Baus der Eisenbahnschnellstrecken uns Arbeitsplätze und damit ein Stück Zukunft kostet.
({0})
Ich nenne ein anderes Beispiel, den Transrapid. An ihm kann und muß die deutsche Industrie ihre Zukunftsfähigkeit unter Beweis stellen. Aber es kann nicht angehen, meine Damen und Herren, daß der Bund, der Staat, die unternehmerischen Risiken trägt und daß anschließend die Wirtschaft den Gewinn abschöpft. Privates Engagement und Kapital werden daher zu einer Schlüsselfrage für die Realisierung dieses Projekts.
In Deutschland dürfen nicht langer nur Ideen entwickelt und Basiserfindungen gemacht, die Umsetzung dann aber anderen überlassen werden. Das ist entscheidend für die zukünftige Entwicklung unserer Arbeitsplätze. Bürokratie, komplizierte Verwaltungsverfahren und überlange Genehmigungsfristen verschleppen nicht nur den Ausbau einer modernen Infrastruktur, sondern erschweren häufig auch die Ansiedlung moderner Industrien am Standort Deutschland. Ich nenne auch hier ein Beispiel: Wenn für die Genehmigung einer Anlage zur gentechnischen Herstellung von Humaninsulin mehr als sechs Jahre vergehen, kann man doch nicht damit rechnen, daß potentielle Investoren sich hierher gezogen fühlen. Dadurch verlieren wir Arbeitsplätze, und deswegen muß auch dies geändert werden.
({1})
Im übrigen muß man hinzufügen, daß eben nicht nur Gesetze und Bestimmungen geändert werden müssen. Es muß auch eine Änderung im Handeln eintreten; denn es gibt ja auch gute Beispiele, daß unter den jetzigen gesetzlichen Bedingungen sehr viel erreicht werden kann.
Vor wenigen Tagen hatte ich die Gelegenheit, an der Einweihung des neuen Universitätsgebäudes in Witten-Herdecke teilzunehmen. Dieser Neubau - wie jeder weiß, ein beachtliches Projekt - konnte in einer Planungs- und Bauzeit von nur 30 Monaten verwirklicht werden. Diese zügige Umsetzung einer Idee ist darauf zurückzuführen, daß auch hier privates Engagement die treibende Kraft war. Angesichts
dieses Beispiels muß man sich doch die Frage stellen, ob nicht eine Stärkung der Autonomie der Universitäten größere Chancen für ein schnelles Umsetzen von Entscheidungen bringt.
({2})
Viele von uns haben ja miterlebt, wie für das neue Messegelände in Leipzig der Grundstein gelegt wurde. Auch unter den Bedingungen der Stadt Leipzig und in Anbetracht der Verwaltungsprobleme, die in den neuen Ländern gegeben sind, war es möglich, in zwei Jahren die Planung abzuschließen. Ich behaupte hier, daß in kaum noch einer westdeutschen Großstadt in der gleichen Zeit ein gleiches Projekt in dieser Größenordnung fertiggeplant werden könnte.
({3})
Ich frage mich beispielsweise, warum bis jetzt erst in drei Bundesländern die Genehmigungspflicht für Ein- und Zweifamilienhäuser abgeschafft wurde. Wenn drei Bundesländer das tun, könnten es doch auch alle anderen machen. In diesen Ländern muß der Bauherr sein Vorhaben lediglich der Bauaufsicht melden und kann dann, sofern ein Bebauungsplan vorliegt, innerhalb von 14 Tagen - wenn kein Widerspruch erfolgt - mit dem Bau beginnen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen - es ist der Alltag eines jeden Abgeordneten in seiner Sprechstunde -, wie die Wirklichkeit bei Baugenehmigungen aussieht.
({4})
Die Bundesregierung hat im übrigen mit dem Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz wichtige Weichenstellungen vorgenommen, um Investitionen in den alten und den neuen Ländern zu erleichtern. So kann beispielsweise in den neuen Ländern von langwierigen Raumordnungsverfahren abgesehen werden, wenn dadurch bedeutsame Investitionen im Umweltbereich verzögert würden.
Im Wohnungsbau wird vor allem die Möglichkeit eines verkürzten Bauleitplanungsverfahrens für die notwendige Dynamik sorgen. Auch die Abschaffung unnötiger Doppelprüfungen im Bau- und Naturschutzrecht durch ein Zusammenlegen der Verfahren ist seit langem überfällig.
({5})
Ich erhoffe mir, daß durch dieses Gesetz eine Zeitersparnis bei der Realisierung wichtiger Investitionen von bis zu zwei Jahren möglich wird. Aber, meine Damen und Herren, es genügt nicht, hier ein Gesetz zu verabschieden, es muß auch in der Praxis durchgesetzt werden, und die Durchsetzung muß überprüft werden. Das ist entscheidend.
({6})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die zunehmende Mobilität unserer Gesellschaft und die Individualisierung des Verkehrs - das erleben wir ja täglich - lassen das Verkehrsaufkommen rasch steigen. Durch die Öffnung Osteuropas haben die Verkehrsströme von West nach Ost und umgekehrt enorm zugenommen. Für uns muß es deshalb darum gehen, daß wir leistungsfähige und umweltschonende Ver15660
kehrssysteme entwickeln, die diesen Anforderungen gerecht werden.
Im ersten gesamtdeutschen Bundesverkehrswegeplan erhalten im kommenden Jahrzehnt die Investitionen in das Schienennetz erstmals Vorrang vor einem Ausbau des Bundesfernstraßennetzes. Das ist keine Absage an das Auto; auch das will ich hier klar und deutlich sagen, weil auf diesem Feld eine große Heuchelei durchs Land geht. Es geht darum, die Zukunftsmöglichkeiten der Bahn endlich voll auszuschöpfen. Es geht darum, zu einem vernünftigen Miteinander von Schiene und Straße zu kommen. Wir wissen auch, daß es nur mit einem verstärkten Einsatz von privatem Kapital möglich ist, dieses Ziel zu erreichen. Deswegen richte ich auch an dieser Stelle an alle Verantwortlichen die dringende Bitte, daß die Bahnreform - wir sind dabei schon ein gutes Stück vorangekommen - jetzt endlich verabschiedet werden kann.
Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und das Investitionsklima in unserem Land stehen auch in einem ganz engen Zusammenhang mit einer kostengünstigen Energieversorgung. Wir wollen eine umweltverträgliche und sichere Energieversorgung. Dabei bleibt unser oberstes Ziel die Bewahrung der Schöpfung. Die Bundesregierung will einen breiten Konsens über einen vernünftigen und zukunftsfähigen Energiemix bei der künftigen Energieversorgung erreichen. Ich hoffe bei aller Unterschiedlichkeit der Meinungen gerade zwischen Regierung und Opposition sehr, daß wir gemeinsam der Auffassung sind, daß das Industrieland Deutschland sowohl die Kohle als auch das Öl, das Gas und die Kernenergie braucht.
({7})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, viele gewohnte Verfahrens- und Verhaltensweisen, Normen und Einstellungen sind heute nicht mehr ausreichend, wenn es um die Sicherung unserer gemeinsamen Zukunft, um Freiheit, Wohlstand und soziale Sicherheit geht. Wem jetzt nichts anderes einfällt, als bloß alte Besitzstände zu verteidigen, der wird die Zukunft nicht gewinnen.
({8})
Jeder muß wissen, daß Prioritäten neu bestimmt werden müssen. Das heißt, wir müssen Gewohnheiten ändern und auch manche Ansprüche zurückstecken. Ich kann nicht entdecken, daß diese Herausforderung eine Bedrohung ist. Aus meiner Sicht ist sie vor allem eine großartige Chance, und zwar eine Chance für uns alle.
Viele von uns haben nicht nur mit Interesse, sondern mit Bewegung die Rede des Präsidenten der EG-Kommission Jacques Delors am Tag der Deutschen Einheit in Saarbrücken gehört, als er - an uns, die Deutschen, gerichtet - sagte:
Ist die Aufgabe, die Einheit im Herzen der Menschen in Deutschland zu verankern, zu groß? Fehlt es an der Bereitschaft, diese neue Welt zu akzeptieren? Ihre Nachbarn in Europa können sich über soviel Kleinmut nur wundern.
Die Konkurrenzfähigkeit des Standortes Deutschland, besser gesagt, die Zukunft Deutschlands ist eben nicht nur eine Frage der Kosten. Gefordert sind Tugenden wie Leistungswille, Fleiß, Zuverlässigkeit und Mitmenschlichkeit, aber auch der Mut zur Zukunft.
({9})
Ich habe aus gutem Grund in diesem Bericht die Generation der Rentner angesprochen, jene Generation, die nach dem Krieg, nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges unser Land unter schwierigsten Bedingungen wieder aufgebaut hat. Das gleiche müssen wir heute - in einem ganz anderen Umfeld - in einer zweiten Phase des Aufbruchs schaffen.
Die Bundesregierung will alle gesellschaftlichen Gruppen mit diesem Bericht anregen, diese Herausforderungen anzunehmen und darüber zu diskutieren, wie eigene, zusätzliche Beiträge zur Verbesserung der Zukunftschancen geleistet werden können. Wir wollen schon in den allernächsten Monaten und zu Beginn des kommenden Jahres diese Vorschläge zusammenführen und, wo möglich, in ganz konkreten Vorlagen und Beispielen dem Hohen Haus vortragen. Wer die Dinge erkennt und die Lage sieht, wie sie wirklich ist, weiß: Wir haben nur wenig Zeit. Es geht um die Zukunft; es geht um ein wirtschaftlich starkes, um ein wettbewerbsfähiges Land. Es geht darum, Arbeitsplätze zu sichern und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Damit geht es immer um den sozialen Frieden. Es geht um unseren Beitrag für die europäische Zukunftsentwicklung.
Deswegen möchte ich Sie alle sehr herzlich einladen, sich an diesem Gespräch und - was noch wichtiger ist - an den notwendigen Entscheidungen zu beteiligen.
({10})
Als nächster spricht der Ministerpräsident des Saarlandes, Herr Oskar Lafontaine.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unser Land steht vor einer einmaligen Herausforderung: In ganz Deutschland fehlen 5 bis 6 Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze. Wenn wir an dem Ziel festhalten, auch den Frauen den Zugang zum Erwerbsleben zu ermöglichen, ist die Zahl von 5 bis 6 Millionen noch viel zu gering angesetzt. Wir müssen aber an diesem Ziel festhalten, denn ohne daß den Frauen die Möglichkeit gegeben ist, sich ebenfalls am Erwerbsleben zu beteiligen, ist die Gleichstellung der Frauen in Beruf und Gesellschaft nicht möglich.
({1})
Diese Aufgabe, viele Arbeitsplätze zu schaffen, müssen wir leisten vor dem Hintergrund einer explodierenden Staatsverschuldung,
({2})
Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({3})
und wir müssen sie leisten vor dem Hintergrund einer sozialen Schieflage, die die soziale Stabilität unseres Landes bedroht. Wir müssen sie verbinden mit der Aufgabe, die Umwelt zu schonen und die Umweltbelastungen weiter abzubauen.
Wir haben, nachdem der Bundeswirtschaftsminister zum Standortbericht der Bundesregierung hier in diesem Hause Stellung genommen hat, nun mit Spannung erwartet, Herr Bundeskanzler, welche Gesprächsangebote Sie machen und welche Vorschläge Sie machen, um die Arbeitslosigkeit abzubauen.
Ich möche zusammenfassend sagen, daß Sie punktuell zwar auf das eine oder andere, was vorgeschlagen worden ist, eingegangen sind - ich denke beispielsweise an die Forschung, ich denke auch an eine etwas modifizierte Stellungnahme zur Arbeitszeitdebatte -, daß aber Ihre Vorschläge insgesamt nach unserer Auffassung nicht geeignet sind, die Massenarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland zu bekämpfen und in den Griff zu bekommen.
({4})
Ich will sie in aller Kürze durchgehen: Sie plädieren zunächst für die Bahnreform. Es ist unstreitig, daß die Bahnreform angegangen werden muß. Es ist ebenso unstreitig, daß zunächst eine Übereinkunft des Bundes und der Länder über die Verteilung der damit verbundenen Finanzlasten erfolgen muß. Das kann man nicht einfach so oder so hinwegdiskutieren.
Aber wenn die Bahnreform hier angesprochen wurde und wenn wir über die Beseitigung der Arbeitslosigkeit diskutieren, dann müssen wir uns daran erinnern, daß Sie angekündigt haben, Zigtausende von Arbeitsplätzen im Bahnbereich abzubauen. Dies wird zumindest nicht als Signal zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit verstanden.
({5})
Sie haben als zweites die Postreform angesprochen. Daß es bei der Post Reformbedarf gibt, steht ebenfalls außer Zweifel. Aber hier gilt dasselbe: Sie haben ebenfalls angekündigt, bei der Postreform Zigtausende von Arbeitsplätzen abzubauen. Dies wird nicht als Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Deutschland verstanden.
({6})
Sie haben das Gentechnikgesetz angesprochen und die Verbesserung der Genehmigungsverfahren, wenn es darum geht, gentechnische Anlagen zu errichten. Das ist unstreitig. Wir stimmen Ihnen zu. Sie sollten sich allerdings angesichts des Gesamtumsatzes, der auf diesem Gebiet in der gesamten Welt getätigt wird, keine allzu großen Hoffnungen machen, daß hier jetzt der entscheidende Ansatz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gefunden werden kann.
({7})
Sie haben das Standortsicherungsgesetz angesprochen. Auch ich will es gerne ansprechen. Es ist richtig,
daß die Ertragsteuern gesenkt worden sind. Das ist uns in der gegenwärtigen Situation angesichts der sozialen Schieflage äußerst schwergefallen.
Sie haben es begrüßt, daß der Bundesrat, d. h. daß die Sozialdemokraten verhindert haben, daß die Abschreibungsbedingungen in diesem Zusammenhang verschlechtert worden wären. Hätten wir dies zugelassen, dann wäre das Gift für die Aufgabe gewesen, durch neue Investitionen zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen.
({8})
Sie haben den Hochschulbau angesprochen. Wir stimmen Ihnen zu, daß hier unsere Zukunft zu suchen ist. Aber, verehrter Herr Bundeskanzler, die Dinge im Hochschulbau gehen nicht deshalb zu langsam voran, weil die Genehmigungsverfahren zu lange dauern; das ist ein besonderes Thema. Sie gehen deshalb zu langsam voran, weil sich der Bund seit Jahren weigert, in diesem Bereich seine finanziellen Verpflichtungen gegenüber den Ländern zu erfüllen.
({9})
Sie haben die Forschung angesprochen, Herr Bundeskanzler. Wir begrüßen das sehr. Es zeigt, daß eine Debatte auch zu Ergebnissen führt. Wenn, nachdem die Opposition das seit langem fordert und sich der Bundespräsident gestern dazu geäußert hat, jetzt der Bundeskanzler angeboten hat, über eine Aufstockung der Mittel zu reden, dann begrüßen wir das. Machen Sie es konkret. Es war ein wirklicher Fehler, nach der Einheit den Forschungsetat einfach fortzuschreiben und für gesamtdeutsch zu erklären. Dadurch sind wichtige Forschungseinrichtungen nicht geschaffen worden, die dringend notwendig gewesen wären, um Investitionen zu fördern und neue Produkte zu entwickeln.
({10})
Ich begrüße es ausdrücklich, daß Sie jetzt angeboten haben, die Mittel aufzustocken.
Sie haben die Genehmigungsverfahren angesprochen. Wir stimmen Ihnen zu. Der Bundesrat hat in dieser Sache bereits zweimal Beschluß gefaßt. Wir müssen hier alle Anstrengungen unternehmen, um Fehlentwicklungen der Vergangenheit, die gemeinsam zu verantworten sind, zu korrigieren.
Sie haben sich dann zur Arbeitszeit geäußert und haben einen Zungenschlag hineingebracht, den ich hier ansprechen möchte. Sie haben von fünf Millionen fehlenden Arbeitsplätzen gesprochen. Ich sage: Wenn wir die Gleichstellung der Frauen in Beruf und Gesellschaft ernst nehmen, sind es weitaus mehr. Dann hat es keinen Sinn, ständig für die Verlängerung der Arbeitszeit zu plädieren. Das ist der völlig falsche Weg. Es ist eine ideologische Blockade, der Sie unterliegen. Geben Sie sie endlich auf!
({11})
Sie haben sie teilweise aufgehoben. Insofern waren
Ihre Ausführungen widersprüchlich. Wer für eine
Ausweitung der Teilzeitarbeit plädiert, der plädiert
Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({12})
für Arbeitszeitverkürzung, natürlich ohne vollen Lohnausgleich.
({13})
Heben Sie doch hier Ihre ideologische Sperre auf, meine Damen und Herren! Wir werden die Probleme des Arbeitsmarktes in Deutschland mit den klassischen Rezepten von Wachstum und Beschäftigungszuwachs allein nicht lösen können. Wir werden auch Arbeit anders verteilen müssen. Wer den Menschen etwas anderes sagt, der läuft wiederum in die Sackgasse, sie zu belügen oder Erwartungen zu wecken, die er überhaupt nicht einhalten kann.
({14})
Das Wort vom „kollektiven Freizeitpark " kann auch mißverstanden werden. Ich will es nicht polemisch gegen Sie wenden. Aber wenn Diskussionen um Arbeitszeitverkürzung mit dem „kollektiven Freizeitpark" begegnet wird: Wie muß das in den Ohren der Millionen und Abermillionen Menschen klingen, die auf Arbeitzeit Null gesetzt worden sind?
({15})
Wir müssen auch sehen: Massenarbeitslosigkeit ist der Nährboden für steigende Kriminalität und für zunehmenden Rechtsradikalismus. Wir bekämpfen Kriminalität und Rechtsradikalismus nicht in erster Linie mit Gesetzen und Appellen, sondern mit dem Abbau der Massenarbeitslosigkeit und der sozialen Spannungen und Verwerfungen in unserem Lande.
({16})
Die steigende Massenarbeitslosigkeit bedroht den inneren Frieden und die demokratische Stabilität unseres Landes.
({17})
Deshalb sagen wir: Arbeitsplätze sichern und neue wettbewerbsfähige Arbeitsplätze schaffen muß endlich zur Hauptaufgabe der deutschen Politik gemacht werden. Wir brauchen mehr Wachstum und mehr Beschäftigung. Nur so können wir Wohlstand und soziale Sicherheit erhalten. Arbeit für alle in Ost und West: Das ist der Schlüssel für die innere Einheit Deutschlands.
Die deutsche Einheit, meine Damen und Herren, hat etwas wirklich Großes gebracht: Freiheit für 16 Millionen Menschen. Diese Freiheit muß für die Menschen in Ostdeutschland aber auch sozial erfahrbar werden.
({18})
Dafür brauchen sie sichere Arbeitsplätze.
Arbeit gibt den Menschen die Chance, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Es wird soviel über Freiheit gesprochen. Freiheit heißt Übernahme des eigenen Lebens in die eigene Verantwortung. Wir müssen aber die Möglichkeiten schaffen, daß die Menschen ihr Leben selbst verantworten, d. h. sich ihre Existenz durch Arbeit selbst verdienen können.
({19})
In der Ansprache zum dritten Tag der Deutschen Einheit und heute wieder haben Sie selbst, Herr Bundeskanzler, andeutungsweise eigene Fehler eingeräumt. Das verdient Respekt. Sie haben gesagt: „Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme werden wir meistern. Allerdings wird vieles länger dauern und mehr kosten, als die meisten von uns - auch ich - angenommen haben."
Nun haben Sie Ihren Beitrag in der heutigen Debatte mit dem Wunsch verbunden, daß es heute nicht um Schuldzuweisungen geht und auch nicht darum, Versäumnisse aufzuzählen. Ob Schuldzuweisungen weiterführen, mag dahingestellt sein. Aber Ihre Versäumnisse, Herr Bundeskanzler, müssen wir schon aufzählen. Das ist der Auftrag der demokratischen Opposition.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN -
Weil Sie die Einheit nicht wollten, das ist das Faktum!)
Das ist der Auftrag der demokratischen Opposition.
- Herr Bundeskanzler, ich greife gern Ihren Zwischenruf auf.
(
Sie haben ja nie die Einheit gewollt!)
Ihr Zwischenruf lautete: Sie haben nie die Einheit gewollt.
(
Nein, Sie haben sie nicht gewollt, Sie nicht!)
Verehrter Herr Bundeskanzler, ich bedaure es auch nach einigen Gesprächen, die wir geführt haben, daß Sie sich jetzt wiederum zu diesem Zwischenruf verstehen. Ich will Ihnen eines sagen: Ich habe unter Einheit verstanden, daß alle Menschen in Ost und West die Möglichkeit haben, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und Arbeit zu finden.
({0})
Ich habe große Sorgen gehabt, daß Ihre Entscheidungen diesen Prozeß erheblich erschweren.
({1})
Die Massenarbeitslosigkeit in den neuen Ländern, meine Damen und Herren, ist nicht nur, wie Sie jetzt hier vorgaukeln wollen, ein Ergebnis vierzigjähriger SED-Herrschaft, sie ist genauso - genauso, sage ich - das Ergebnis einer verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik, die Sie voll zu verantworten haben.
({2})
Zu Ihren Versäumnissen, Herr Bundeskanzler, gehört, daß Sie dem industriellen Zusammenbruch in den neuen Ländern viel zu lange tatenlos zugesehen haben.
({3})
Zu Ihren Versäumnissen gehört, daß Sie mit dem
Eigentumsprinzip „Rückgabe vor Entschädigung" bis
Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({4})
zum heutigen Tag das größte Investitionshindernis in den neuen Ländern geschaffen haben.
({5})
Ich füge noch etwas hinzu: Dieses Hindernis in den neuen Ländern, das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" ist nicht nur ein Investitionshindernis; es ist auch eine soziale Ungerechtigkeit gegenüber den Menschen in den neuen Bundesländern.
({6})
Dieses Vermögen hätte in erster Linie zum Aufbau in den neuen Ländern eingesetzt gehört und nicht für Verwandte dritten Grades hier im Westen zur Verfügung gestellt werden müssen.
({7})
Mit Ihrer sich hoffentlich noch in Ihrer Erinnerung befindenden Behauptung, für die deutsche Einheit brauche man keine Steuererhöhungen, haben Sie verhindert, daß Bund, Länder und Gemeinden unmittelbar nach der Vereinigung mit Zukunftsinvestitionsprogrammen die Grundlage für den Aufbau der neuen Länder geschaffen haben. Mit Ihren falschen Versprechungen von den blühenden Landschaften haben Sie auch die Tarifparteien in Ostdeutschland auf die falsche Fährte gelockt, Herr Bundeskanzler.
({8})
Deshalb sagen wir, auch wenn es schwer ist, die eigenen Versäumnisse stets zur Kenntnis nehmen zu müssen, auch wenn es schwer ist, zuzugeben, daß man sich geirrt hat: Stehen Sie zu Ihren Versäumnissen! Es ist auf jeden Fall Aufgabe der Opposition, diese Versäumnisse darzulegen. Der Bundeskanzler hat weder das Recht, den Bundespräsidenten zu ernennen, noch das Recht, die Aufgabe der Opposition abzuschaffen.
({9})
Was wir brauchen, was die Wirtschaft braucht, sind verläßliche und berechenbare Rahmenbedingungen. Gerade hier liegt ein Fehler der Wirtschafts- und der Steuerpolitik der letzten Jahre. An der Steuerpolitik kann man das deutlich machen: Weil Sie nicht bereit waren, frühzeitig einzuräumen, daß Ihr Ansatz falsch war, daß Sie sich in großem Umfang geirrt haben, sind Sie in der Steuerpolitik von einem Widerspruch zum anderen mit großem Schaden für die Investitionen in Deutschland gestolpert, denn Investitionen brauchen verläßliche Rahmenbedingungen. Wer aber einmal sagt, wir brauchen die Steuererhöhungen für Rußland, dann sagt, wir brauchen sie für den Irak-Krieg, und dann sagt, wir brauchen sie für Europa, Europa zwingt uns dazu, und nicht einräumt, daß unsere eigenen Probleme die Grundlage dieser Steuererhöhungen waren, der hat dann eben eine Steuerpolitik zu verantworten, die ständig hin- und herschwankte,
die sozial ungerecht war und Investitionen blockiert hat.
({10})
Wenn wirtschaftliche Probleme auftauchen, dann greifen Sie häufig auf die gleichen Rezepte zurück: neue Steuergeschenke für Unternehmen - möglichst auf Pump -, Abbau des Sozialstaats, Umweltschutz: wenn überhaupt, dann im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft, und Verlängerung der individuellen Arbeitszeit. Mit diesen Rezepten sind die Probleme der Zukunft nicht zu lösen. Im Gegenteil, wenn man diesen Vorschlägen folgt, dann wird Deutschland noch tiefer in die Krise geraten, und die Arbeitslosigkeit wird sich weiter erhöhen. Deshalb müssen wir darüber diskutieren.
({11})
Sie haben in Ihrem Standortbericht neue Unternehmensteuersenkungen angekündigt. Ich sage Ihnen, die sind überhaupt nicht zu finanzieren; sie würden die Staatsverschuldung noch weiter erhöhen. Mit dem umweltpolitischen Attentismus verspielen Sie die Chancen, die in einer ökologischen Modernisierung unserer Wirtschaft liegen. Mit einer pauschalen Verlängerung der Arbeitszeit würde die Arbeitslosigkeit noch weiter steigen. Ihr Kürzungspaket ist auch wirtschaftspolitisch grundfalsch
({12})
und sozial ungerecht. Mit Ihren Kürzungen bei Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern verschärfen Sie die rezessiven Kräfte und vergrößern die Massenarbeitslosigkeit.
({13})
Herr Bundesfinanzminister, ich greife Ihren Einwurf gern auf. Es kann sein, daß Einwendungen aus der Wirtschaft, etwa von den Handelsverbänden, oder von den Forschungsinstituten Ihr Ohr nicht erreichen.
({14})
Es bleibt aber die Tatsache, daß die niedrigsten Einkommen - um solche handelt es sich bei Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe - auch angesichts der Preissteigerungsrate voll in den Konsum wandern. Wer also hier kürzt, beschneidet den Konsum und schadet der Konjunktur. Das ist das wirtschaftspolitische Einmaleins.
({15})
Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({16})
Mit den geplanten Einschnitten treffen Sie die Schwächsten der Gesellschaft.
({17})
Dies trifft nicht zuletzt auch die Menschen in den neuen Ländern. Dieses Kürzungspaket ist auch keine wirkliche Sparpolitik, wie der Deutsche Städtetag jetzt noch einmal eindrücklich dargelegt hat.
({18})
Sie machen hier einen Verschiebebahnhof zu Lasten der Städte und Gemeinden auf und nennen dies Sanierung des Staatshaushalts. Durch Ihre Kürzungen werden Arbeitslose zu Sozialhilfeempfängern gemacht. Dadurch werden die kommunalen Haushalte in den nächsten Jahren mit jährlich 4 bis 6 Milliarden DM zusätzlich belastet. Ihr Kürzungspaket ist also ökonomisch falsch, sozial unzuträglich und ist eine zusätzliche Belastung der Gemeinden, bei denen gerade die Investitionen getätigt werden sollen, von denen Sie soeben gesprochen haben.
({19})
Sie tragen dann natürlich auch die Verantwortung für die Folgen dieses Verschiebebahnhofs, für den Anstieg der Gebühren und - ich sage das jetzt voraus - für den Anstieg der Gewerbesteuer. Man kann auf der einen Seite immer wieder neue Steuersenkungen für Unternehmen ankündigen und zur Stabilisierung der Konjunktur für richtig halten. Wenn man aber auf der anderen Seite auf die Gemeinden, die wegen der explodierenden Sozialhilfeausgaben wirklich immer größere Schwierigkeiten haben, ihre Haushalte ordnungsgemäß auszugleichen,
({20})
weitere Belastungen verschiebt, dann zwingt man die Gemeinden, die Gewerbesteuern anzuheben, was - da stimmen wir alle überein - im Moment wirklich nicht gebraucht wird.
({21})
Deshalb appelliere ich auch von dieser Stelle an die unionsgeführten Bundesländer, mit uns gemeinsam das Kürzungspaket der Bundesregierung im Bundesrat zu stoppen.
Meine Damen und Herren, mit dem Fall des Eisernen Vorhangs in Europa hat sich die Wettbewerbssituation des Standorts Deutschland drastisch verändert. Wir stehen heute nicht mehr nur in Konkurrenz mit den Hochtechnologieproduzenten der USA, Japans und Westeuropas; wir stehen auch in einem immer härter werdenden Wettbewerb mit den Niedriglohnländern in Mittel- und Osteuropa. Die Stundenlöhne osteuropäischer Arbeiter sind konkurrenzlos niedrig. Auch die Umweltstandards liegen dort weit unter dem bei uns üblichen Niveau.
Diese neue Situation hat den Wettbewerb der Standorte um neue Investitionen und neue Arbeitsplätze erheblich verschärft. Vor allem die neuen Länder sind dadurch in Bedrängnis geraten. Auf diese Herausforderung können wir aber nicht mit rückwärts
gewandten, defensiven Rezepten reagieren. Wir können nicht in einen quantitativen Abwertungswetllauf mit allen Billigproduzenten dieser Welt eintreten.
({22})
Wenn wir Wohlstand und Beschäftigung, Sozialstaat und demokratische Stabilität dauerhaft sichern wollen, müssen wir auf eine qualitative, vorwärts gerichtete Strategie setzen. Wir brauchen eine umfassende Modernisierung unserer Wirtschaft. Dabei müssen Wirtschafts-, Finanz-, Technologie-, Umwelt- und Bildungspolitik eng miteinander verzahnt und konsequent auf die Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes ausgerichtet werden.
Wir müssen darauf setzen, was unsere Wirtschaft stark und leistungsfähig gemacht hat: auf den Erfindergeist unserer Techniker und Ingenieure, auf die hohe Qualifikation und Motivation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, auf die Flexibilität und Innovationsfähigkeit des Mittelstandes, auf die Entscheidungskraft und Risikobereitschaft des Managements sowie auf die Erneuerungsfähgikeit der gesamten Gesellschaft.
Wir müssen die Chance des industriellen Neuanfangs in Ostdeutschland dafür nützen, dort eine hochleistungsfähige und innovative Industriestruktur aufzubauen. Das ist uns in Westdeutschland gelungen; das muß uns auch in Ostdeutschland gelingen. Das ist der Weg zu unserem Ziel, so schnell wie möglich gleiche Lebensverhältnisse in Deutschland herzustellen.
Wenn wir bedrohte Arbeitsplätze sichern und neue, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze schaffen wollen, muß der Zusammenhang von Lohn, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit beachtet werden. Dies liegt in der Verantwortung der Tarifvertragsparteien.
Die Tarifautonomie in Deutschland hat sich bewährt. Die deutschen Tarifpartner haben in der Regel bewiesen, daß ihnen der Zusammenhang von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und Lohnentwicklung bewußt ist. Sie wissen, daß nur das verteilt werden kann, was vorher erarbeitet worden ist.
({23})
Das gilt ohne jede Einschränkung für Gesamtdeutschland.
Heute weiß jeder, daß das Schließen der Schere zwischen Lohn und Produktivität in Ostdeutschland länger dauern wird, als das viele auf Grund der Versprechungen der Bundesregierung, speziell des Bundeskanzlers, erhofft haben. Im Interesse der langfristigen Sicherheit der Arbeitsplätze sollte der Anstieg der Einkommen soweit wie möglich dem Anstieg der Produktivität angenähert werden. Diese stärker produktivitätsorientierte Einkommensentwicklung sollte von den Tarifparteien durch Investivlohnvereinbarungen flankiert werden.
({24})
Ich finde, daß wir hier eine große Chance haben.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({25})
Wenn wir es schon versäumt haben, das in den neuen Ländern vorhandene Privatvermögen dort in erster Linie für den Aufbau der Arbeitsplätze zu nutzen, dann sollten wir die jetzt staatlich finanzierten Modernisierungen der Produktionsanlagen mit einem Einstieg in die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivvermögen verbinden.
({26})
Wenn wir für eine Verlangsamung der Einkommensentwicklung plädieren, dann wissen wir, daß wir den Menschen damit einiges zumuten. Wenn dadurch aber Tausende von Arbeitsplätzen gerettet werden können, dann nutzt das den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihren Familien mehr als das Festhalten an unhaltbaren Versprechungen.
({27})
Die Sozialdemokraten werden weiter dafür arbeiten, daß die Herstellung gleicher Lebensverhältnisse möglichst schnell erreicht wird. Der beste Weg dazu ist, daß möglichst viele Menschen ihren Arbeitsplatz behalten oder einen neuen bekommen. Das ist und bleibt das Hauptanliegen sozialdemokratischer Politik.
({28})
Weil Sie, Herr Bundeskanzler, zu Recht davon gesprochen haben, daß Gewohnheiten aufgegeben werden müssen und daß Opfer abverlangt werden müssen, in diesem Zusammenhang eine Bemerkung über die Einkommen der Spitzenverdiener in unserem Lande: Wir haben kein Verständnis dafür, daß Manager großer Konzerne, die Millionengehälter beziehen, in dieser schwierigen Zeit für sich selbst Gehaltssteigerungen beschließen, während sie gleichzeitig Massenentlassungen verkünden und von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Lohnkürzungen fordern.
({29})
Dieses Verhalten untergräbt die Solidarität und den sozialen Frieden in unserem Land. Wir können die Krise gemeinsam meistern. Dies geht aber nur auf der Grundlage der sozialen Gerechtigkeit. Deshalb plädieren wir dafür - das ist ein Appell an uns alle: Wenn wir von der breiten Mehrheit des Volkes Opfer verlangen, dann müssen wir mit den Opfern zuerst bei den höheren Einkommen anfangen. Sonst haben wir keine Basis, um mit den Menschen zu reden.
({30})
Deshalb war es ein Fehler, den Solidaritätszuschlag abzuschaffen, die Verbrauchsteuern zu erhöhen und die kleinen Einkommen überproportional zu belasten.
({31})
Ich will auch ein Wort zu den Renten sagen.
({32})
Die deutsche Einheit ist nicht denkbar ohne eine Solidargemeinschaft, die die Sozialversicherungen in Ost und West zusammenfaßt. An diesem Zusammenschluß hat die SPD entscheidend mitgewirkt. Wir haben die Rentenreform 1992 und die Einbeziehung der Rentenversicherung der ehemaligen DDR in das bundesdeutsche Rentensystem maßgeblich mitgestaltet. Dazu stehen wir. Wir halten an der nettolohnbezogenen Rentendynamik in West und Ost fest. Ziel unserer Rentenpolitik ist es, den alten Menschen in Ost und West, Männern und Frauen ein gesichertes Leben im Alter zu garantieren. Wir sagen aber auch: Die dabei notwendigen einigungsbedingten Leistungen müssen von allen gemeinsam und dürfen nicht allein zu Lasten der Beitragszahler finanziert werden.
({33})
Wenn Sie sich, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, manchmal darüber wundern, daß die Stimmung im Lande schlechter geworden ist und daß die Neigung wächst, andere Parteien zu wählen, dann müssen Sie sich die Frage stellen, woran das liegen könnte. Wir sind der Überzeugung, daß ein entscheidender Fehler Ihrer Politik mit Grundlage dieser Entwicklung ist. Die Menschen haben den Eindruck, es geht in unserem Lande nicht sozial gerecht zu. Das gilt für die Besteuerung höherer Einkommen, das gilt aber im besonderen für den schweren Fehler, die Lasten der Einheit einseitig den Sozialversicherungszahlern aufzubürden. Dies ist ein unglaublicher Fehler; korrigieren Sie ihn endlich!
({34})
Wir wollen unser Land aus der Krise herausführen. Dazu haben wir eine Strategie für Modernisierung, Beschäftigung und umweltverträgliches Wachstum erarbeitet. Diese Strategie ist bewußt gesamtdeutsch angelegt. Nur wenn wir konsequent gesamtdeutsch denken und handeln, wird uns die innere Einheit gelingen. Auf dieser Grundlage schlagen wir folgenden 10-Punkte-Plan vor:
Erstens. Wir brauchen jetzt einen nationalen Beschäftigungspakt gegen Rezession und Massenarbeitslosigkeit. Dazu genügt es nicht, daß sich Bund und Länder zusammensetzen. Daran müssen sich auch die Tarifparteien und die Bundesbank beteiligen. Wir brauchen jetzt nicht einen sogenannten Solidarpakt, der in einem Bund-Länder-Finanzausgleich endet. Wir brauchen endlich einen nationalen Beschäftigungspakt. Wir von seiten der deutschen Sozialdemokratie bieten ihn an.
({35})
Wir wollen einen klaren Vorrang für Arbeitsplätze und für mehr soziale Gerechtigkeit. Dafür brauchen wir einen gesamtdeutschen Lastenausgleich mit einer stärkeren Besteuerung hoher Einkommen und größerer Vermögen. Wir wollen mit diesen Mitteln Investitionen in neue Arbeitsplätze finanzieren. Um in Ostdeutschland Arbeitsplätze zu retten und neue Arbeitsplätze finanzieren zu können, muß - ich sagte es bereits - der Einkommensanstieg in den neuen
Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({36})
Ländern stärker an der Produktivität orientiert werden. Dies ist im Grunde unstreitig.
Zweitens. Wir wollen die ökologische Modernisierung unserer Wirtschaft. Dabei muß die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit mit dem Kampf gegen Umweltzerstörung verbunden werden. Dazu gehört eine Modernisierung des Umweltordnungsrechtes und dazu gehört auch eine ökologische Steuerreform. Wir wollen die Arbeit verbilligen und den Energieverbrauch verteuern mit dem Ziel, einen Anreiz zu schaffen, sich ökologisch vernünftig zu verhalten.
Meine Damen und Herren, ich hatte Ihnen zugestimmt, als Sie das Gentechnikgesetz angesprochen haben. Es geht darum, Modernisierungen in Gang zu bringen. Was wir aber nicht verstehen, ist folgendes: Auf der einen Seite haben wir auch heute wieder gelesen, daß wir in der Umwelttechnologie Spitze sind, daß wir dort einen hohen Anteil am Weltmarkt haben. Da wäre es doch sinnvoll, diesen Trend zu verstärken und Umwelttechnologie in unserem Land weiter zu fördern.
({37})
Wir sind der Auffassung, daß hier Zukunftsmärkte erschlossen und Millionen wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze geschaffen werden können.
Drittens. Wir wollen Forschung, Entwicklung, Bildung und Wissenschaft stärken. Besonders für die wirtschaftliche Zukunft der neuen Länder ist der Wiederaufbau einer leistungsfähigen Forschungslandschaft von lebenswichtiger Bedeutung. Deshalb ist es ein schwerer wirtschaftspolitischer Fehler, daß die Bundesregierung die Mittel für Forschung, Entwicklung, Bildung und Wissenschaft zusammenstreicht. Statt unsere Volkswirtschaft durch mehr Zukunftsinvestitionen zu stärken, planen Sie eine Kürzung der Gesamtinvestitionen um 5 %. Insgesamt soll die Investitionsquote des Bundes von 14,8 % in diesem Jahr, auf 13,1 % im Jahre 1997 zurückgeführt werden.
Wir halten diese Politik für falsch. Es ist begrüßenswert, daß der Bundespräsident auf diesen Fehler hingewiesen hat. Wir begrüßen Ihr Angebot, hier eine Korrektur Ihrer Politik herbeizuführen. Natürlich reden wir auch über die Finanzierung. Aber es muß schleunigst damit begonnen werden, in einem Land, das auf hochtechnologische Produkte angewiesen ist, eine Forschungslandschaft aufzubauen, die der Wettbewerbsposition unseres Landes angemessen ist und sie sichert.
({38})
Wir wollen, daß „Made in Germany" auf den Weltmärkten wieder zum Gütesiegel für Spitzentechnologie und innovative Produkte wird.
Hier eine Bemerkung zur Bildungspolitik. Auch hier, meine Damen und Herren von den Koalitionsparteien, gibt es einen wichtigen Unterschied. Es ist durchaus berechtigt, über zu lange Erstausbildungszeiten zu reden. Wir sind auch bereit, in einen Dialog darüber einzutreten, auch von seiten der Bundesländer.
({39})
- Verehrter Herr Zwischenrufer, Lautstärke ersetzt kein Argument.
({40})
Es hat aber nur einen Sinn, über die Verkürzung der Erstausbildungszeiten zu reden, wenn man gleichzeitig über den Ausbau der beruflichen Weiterbildung während des Arbeitslebens redet. Sonst macht Ihre Politik keinen Sinn und liegt völlig daneben.
({41})
Es kann ja sein, daß Sie vergessen haben, warum in den 70er Jahren die Schulausbildungszeiten verlängert worden sind. Sie sind verlängert worden auch unter dem Gesichtspunkt des Arbeitsmarktes, weil man damals Schwierigkeiten hatte, die Ausgebildeten auf dem Arbeitsmarkt unterzubringen. Da wir auch jetzt große Schwierigkeiten haben, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, müssen Sie doch hier das Problem sehen, daß Sie nicht nur über Verkürzung der Erstausbildungszeiten reden können. Wir reden mit Ihnen darüber, aber nur, wenn wir gleichzeitig über berufliche Weiterbildung und zusätzliche Qualifikation der Arbeitnehmerschaft reden können.
({42})
Viertens. Wir wollen ein Aufbauprogramm Ost. Damit wollen wir die Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland voranbringen. Der Wiederaufbau der ostdeutschen Wirtschaft ist eine gemeinsame Aufgabe, die im Interesse aller liegt. Wir wollen in den neuen Ländern mehr Investitionen in neue Arbeitsplätze. Mit der Sanierung der mittelfristig wettbewerbsfähigen Kerne muß endlich Ernst gemacht werden. Die Betriebe müssen durch einen festen Sanierungszeitraum von drei bis fünf Jahren eine verläßliche Perspektive erhalten. Die Absatzförderung für ostdeutsche Produkte muß verstärkt werden. Meine Damen und Herren, hier sind wir doch in der Pflicht. Der Aufwertungsschock war für die ostdeutschen Betriebe kaum zu verkraften. Wir müssen deshalb alle Anstrengungen unternehmen, um Absatzförderung zu ermöglichen und neue Marktzugänge zu schaffen.
({43})
Fünftens. Wir wollen einen klaren Vorrang für Investitionen und neue Arbeitsplätze. Um wettbewerbsfähige Arbeitsplätze zu schaffen und die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft zu erhöhen, wollen wir öffentliche Zukunftsinvestitionen verstärken. Daher der Hinweis auf den Rückgang der Investitionsquote, eine Politik, die wir für falsch halten.
Auch wollen wir die steuerlichen Födermaßnahmen für private Zukunftsinvestitionen gezielt verbessern.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({44})
Sie haben hier einen sehr merkwürdigen steuerpolitischen Ansatz: Sie starren allzusehr auf die Nominalsätze und übersehen, welche Vorteile die Volkswirtschaft aus der intelligenten Steuerung der Abschreibungsmöglichkeiten gezogen hat. Ich habe schon nicht verstanden, daß bei der Steuerreform Ende der 80er Jahre insofern anachronistisch vorgegangen wurde, daß Investitionen in Umweltschutz und Energieeinsparung, die lange Zeit steuerlich gefördert wurden, aus der Steuerförderung wieder herausgenommen wurden.
({45})
Wir wollen dies rückgängig machen und haben im Standortsicherungsgesetz darauf geachtet, daß jetzt nicht - wie das Ihre Vorlage vorsah - diejenigen bestraft werden, die investieren wollen. Deshalb war es notwendig, die Abschreibungen zu erhalten.
Wir wollen ebenfalls die Wohnungsbauinvestitionen erhöhen, da wir die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit mit einer Beseitigung der Wohnungsnot verbinden wollen.
Sechstens. Meine Damen und Herren, es geht auch um die Stärkung der privaten Nachfrage. Wenn man diese stärken will, dann muß die Kaufkraft der Bezieher von kleinen und mittleren Einkommen und der Familien mit Kindern verbessert werden. Durch eine gezielte Senkung der Lohn- und Einkommensteuer, die uns im übrigen das Verfassungsgericht aufgegeben hat, wollen wir die Steuerbelastung der Empfänger kleiner und mittlerer Einkommen wieder auf ein erträgliches Maß zurückführen.
Wir wollen auch eine kräftige Erhöhung des Kindergeldes auf 250 DM für jedes Kind. Mit dieser Reform des Familienlastenausgleichs schaffen wir mehr Gerechtigkeit, ohne die öffentlichen Haushalte zusätzlich zu belasten.
In keinem Fall aber verträgt es die Konjunktur, daß jetzt die niedrigsten Einkommen von der Bundesregierung gekürzt werden sollen. Diese unsoziale und wirtschaftspolitisch falsche Entscheidung muß zurückgenommen werden.
({46})
Siebtens. Wir wollen eine intelligentere und gerechtere Verteilung der Arbeit. Ich wiederhole: Niemand von uns ist so naiv, zu glauben, die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze sei allein ein verteilungspolitisches Problem. Angesichts der Entwicklung in Gesamteuropa und in der OECD aber stellen wir fest, daß sich die Massenarbeitslosigkeit, was den Sockel angeht, von Konjunktur zu Konjunktur immer weiter erhöht. Diese Entwicklung kann man doch nicht einfach nur zur Kenntnis nehmen. Sie ist eine Gefahr für unsere demokratische Stabilität. Die Lehre der Weimarer Republik ist doch: Hohe Massenarbeitslosigkeit führt zu extremem Wahlverhalten. Deshalb sind wir es der Demokratie schuldig, daß wir die Massenarbeitslosigkeit auch verteilungspolitisch angehen.
({47})
Wir sagen: Arbeitszeitverkürzung muß selbstverständlich auf der Einkommensseite berücksichtigt werden. Für die, die kürzer arbeiten, werden die Monatslöhne geringer sein, als dies ohne Arbeitszeitverkürzung der Fall wäre. Das ist notwendig, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen und die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft zu sichern. Wir begrüßen jetzt ausdrücklich die Tarifverträge, die genau in diese Richtung zielen. Wir begrüßen, daß die Gewerkschaften Arbeitszeitverkürzungen anbieten, um Beschäftigung zu sichern, und dabei bereit sind, Zugeständnisse auf der Lohnseite zu machen.
({48})
Im übrigen: Sie sind doch auf diesem Weg. Sie haben Teilzeitarbeit als ein Mittel angesprochen, um die Beschäftigungsprobleme in unserem Lande zu lösen und die Gleichstellung der Frauen in Beruf und Gesellschaft, die Verbindung von Familienarbeit und Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Dies ist richtig. Aber dafür müssen wir auch die Voraussetzungen schaffen, und da sind wir alle gefordert. Hier müssen wir uns alle an die Brust klopfen: Auch der öffentliche Dienst könnte an dieser Stelle mehr tun. Auf jeden Fall ist die Verlängerung der Arbeitszeit kein Mittel, zusätzliche Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst zu schaffen.
({49})
Achtens. Wir wollen Arbeit statt Arbeitslosigkeit. Dazu wollen wir die aktive Arbeitsmarktpolitik besser organisieren. Die Mittel, die jetzt noch vor allem für die Bezahlung von Arbeitslosigkeit ausgegeben werden, müssen künftig verstärkt für die Finanzierung gesellschaftlich sinnvoller Arbeit eingesetzt werden.
({50})
Der reguläre Arbeitsmarkt mit wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen muß Vorrang haben. Mit einem öffentlich geförderten Arbeitsmarkt wollen wir aber eine Beschäftigungsbrücke in diesen regulären Arbeitsmarkt schaffen. Und das geht, wie wir aus der Praxis der Gemeinden wissen.
Als Instrument dafür sollen entweder direkte Lohnkostenzuschüsse gewährt oder Zuschüsse für die Durchführung gesellschaftlich sinnvoller Arbeiten gezahlt werden. Dabei stellen wir aber klar: Auch für öffentlich geförderte Arbeitsverhältnisse müssen Tarifverträge gelten.
Wir brauchen - und das dürfen wir angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die wir haben, nicht aus dem Auge verlieren - zusätzliche Anstrengungen, um die Gleichstellung von Mann und Frau im Wirtschaftsleben zu verwirklichen. Es ist widersinnig, daß in der Wirtschaft teilweise über Facharbeitermangel geklagt wird, während gleichzeitig die immer besser werdende Ausbildung der Frauen unzureichend genutzt wird.
({51})
Hier ist auch in der Wirtschaft ein Umdenken notwendig. Wenn wir die Probleme unseres Landes lösen wollen, müssen künftig viel stärker als bisher Frauen in verantwortungsvolle und besser bezahlte Positionen kommen können.
({52})
Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({53})
Das ist nicht zuletzt ein Gebot der sozialen Stabilität und der ökonomischen Vernunft.
Neuntens. Meine Damen und Herren, wir wollen eine Reform der Kosten der Arbeit. Um bestehende Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen, wollen wir die Wettbewerbsfähigkeit des Faktors Arbeit verbessern. Dazu gehört eine Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten und eine Senkung der Sozialversicherungsbeiträge.
Wenn wir über Leistung sprechen, dann dürfen wir nicht immer nur die Erträge der Wirtschaft oder die Anreize für die investierende Wirtschaft oder Anreize für denjenigen, der Kapitaleinsatz riskiert, sehen. Wenn wir über Leistung sprechen, dann müssen wir - und darüber wird viel zu wenig gesprochen - auch über die Anreize für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sprechen, die wir nicht mit allzu hohen Sozialversicherungsbeiträgen und mit allzu hohen Steuern belasten dürfen.
({54})
Wenn dort nämlich die Leistungsbereitschaft sinkt, dann hat die deutsche Volkswirtschaft einen weitaus größeren Schaden, als wenn da oder dort vielleicht etwas versäumt wird, um zusätzliche Steuersenkungen, etwa auf der Ertragsseite oder andernorts, durchzuführen. Deshalb ist hier eine besorgniserregende Entwicklung. Wenn der Durchschnittsverdiener von einer Mark nur noch 60 Pfennig behält, dann stellt er sich allmählich die Frage, warum er eigentlich noch arbeiten geht und ob er nicht auch - wie eine Minderheit - der Versuchung erliegen soll, durch Schwarzarbeit und Bezug sozialer Leistungen sein Einkommen zu erhalten. Das ist ein echtes Problem.
({55})
- Wenn auch Sie das sagen und dem zustimmen, ist das ja gut. Dann fordern wir Sie nur auf, dieses Mißverhältnis zu korrigieren, das darin besteht, daß von Ihnen allein die Beitragszahler zur Finanzierung der deutschen Einheit herangezogen worden sind.
({56})
Dieser Zustand ist in doppeltem Sinne unhaltbar. Er mindert die Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und er ist verteilungspolitisch ungerecht. Wenn wir die Lohnnebenkosten senken, die ja auch ein Problem sind, dann ist das ein gescheiterter Ansatz für eine Unternehmensteuerreform.
Und ich sage hier auch: Um das finanzieren zu können muß einiges von dem, was Sie auf den Weg gebracht haben - ich denke an die steuerliche Behandlung des Betriebsvermögens -, in Frage gestellt werden. Denn wenn man beispielsweise, wie Sie das gemacht haben, die Bilanzwerte anders ansetzt, verschafft man Unternehmen mit hohen Vermögen beträchtliche Steuererleichterungen. Darauf haben wir bei den letzten Steuerrunden hingewiesen. Wir halten es aber für sinnvoller, stattdessen - ich sage: stattdessen - durch Senken der Lohnnebenkosten auch den Kleinstbetrieb, der einen Beschäftigten hat, zu entlasten.
({57})
Das wäre sinnvoller, als steuerpolitisch schwerpunktmäßig immer nur in die Richtung großer Unternehmen zu gehen.
({58})
Hier haben Sie strukturelle Fehler gemacht. So sehr es begrüßenswert ist, wenn immer wieder die Bedeutung des Mittelstandes und der kleinen Betriebe in den Vordergrund gestellt wird, insbesondere wenn es um die Stabilisierung der Beschäftigung geht, so sehr müssen wir darauf bestehen, daß sich auch die Unternehmensteuerreform nach diesen Kriterien richtet. Deshalb haben wir beispielsweise die Staffelung bei der Gewerbeertragsteuer zusammen vereinbart. Deshalb haben wir für die Kleinstunternehmen den Freibetrag der Gewerbeertragsteuer nach oben gesetzt und haben insoweit die Vorlage der Bundesregierung verändert. Ich erwähne hier das Kapitel Vermögensteuern. Es ist sinnvoller, die Arbeit zu verbilligen und auch denjenigen Anreize zu geben, die wenige Beschäftigte haben. Denn wir brauchen jeden Schritt, der geeignet ist, die Arbeitslosigkeit in Deutschland abzubauen.
({59})
Zehntens. Meine Damen und Herren, wir wollen dazu beitragen, die Staatsfinanzen zu sanieren. Deshalb wiederhole ich noch einmal: Wer die Staatsfinanzen sanieren will, muß bereit sein, unpopuläre Entscheidungen zu treffen;
({60})
er muß bereit sein zu Einnahmeverbesserungen und zu Ausgabenkürzungen. Wir sind dazu bereit.
({61})
Wir wollen Einsparungen auf allen Ebenen, und wir wollen den Abbau überflüssiger Steuersubventionen.
({62})
Wir wollen die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung und den Abbau überflüssiger Staatsbürokratie. Dazu gehört auch die Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität.
Um den Zwischenruf „Ja, auch bei der Kohle" aufzugreifen: Die Vereinbarung des Jahres 1991, zu der Sie nur noch unter Vorbehalt stehen, sah doch vor, Zigtausende von Arbeitsplätzen im Bergbau abzubauen. Rufen Sie doch nicht immer wieder dazwischen: „Auch bei der Kohle"! Wir haben doch mit den Beschäftigten im Bergbau einen großen Schritt getan, der endlich einmal Anerkennung finden sollte.
({63})
Herr Ministerpräsident, darf ich Sie eine Sekunde unterbrechen. - Ich bin jetzt in einer etwas schwierigen Situation. Sie haben natürlich als Mitglied des Bundesrates jederzeit - nirgends steht, wie lange - Rederecht. Es gibt eine Vereinbarung im Ältestenrat, daß jede Fraktion in der
Vizepräsident Hans Klein
ersten Runde nur die Hälfte der ihr zustehenden Redezeit beanspruchen soll.
({0})
Sie sind schon ein großes Stück darüber hinaus, und für den nächsten Redner Ihrer Fraktion ist kaum mehr etwas übrig.
({1})
Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({2}): Herr Bundestagspräsident, ich komme zum Schluß.
Wir wollen nicht nur die Steuersubventionen abbauen, wir wollen ebenfalls die Wirtschaftskriminalität bekämpfen, Subventionsbetrug verhindern und die systematische Steuerhinterziehung bekämpfen.
Meine Damen und Herren, wir appellieren an Sie: Reden Sie nicht in erster Linie immer nur über den Mißbrauch sozialer Leistungen; reden Sie genauso über Wirtschaftskriminalität, Steuerhinterziehung und Subventionsbetrug!
({3})
Das Entscheidende, was wir jetzt schaffen müssen, ist, die Arbeitslosigkeit in Deutschland zurückzuführen. Wenn das nicht gelingt, dann kann ich die Wahlergebnisse der nächsten Zeit voraussagen. Dabei geht es nicht in erster Linie darum, wer welchen Anteil hat, sondern es geht für mich um die Stabilität unserer Demokratie.
Demokratie heißt für Sozialdemokraten: Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Teilhabe am gesellschaftlichen Leben heißt, die Möglichkeit zu haben, einen Erwerbsarbeitsplatz zu finden. Deshalb heißt deutsche Einheit für uns in erster Linie: Geben wir allen Menschen, die es wollen, die Möglichkeit, sich am Erwerbsleben zu beteiligen und ihr Leben über Arbeit selbst zu gestalten!
({4})
Herr Kollege Dr. Kurt Faltlhauser, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesrepublik Deutschland steht vor großen Herausforderungen im europäischen und weltweiten Wettbewerb, vor einer außergewöhnlichen Aufgabe zur Auflösung verkrusteter Strukturen zu mehr Beweglichkeit, zu mehr Innovation und zu mehr Leistung. In dieser Situation hat der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland hier heute eine Regierungserklärung abgegeben, die durch ihre mutigen Akzente,
({0})
durch ihre wegweisende Klarheit und durch ihre konkreten Ansätze beeindruckt hat.
({1})
Für die CDU/CSU-Fraktion bedanke ich mich sehr herzlich beim Bundeskanzler für diese programmatische Rede.
({2})
Dieser Vormittag war aber auch bereits geprägt durch Kontraste, Hell und Dunkel. Wenn die Bürger draußen im Lande heute die Regierungserklärung des Bundeskanzlers an den Fernsehschirmen verfolgt haben, um anschließend die Darbietung des saarländischen Ministerpräsidenten zu hören und alternative Konzepte zu suchen, dann, liebe Kollegen, ist mir nicht bange, wein die Bürger dieses Landes im nächsten Jahr weiterhin ihr Vertrauen schenken werden.
Die Führung der SPD-Fraktion, Herr Klose, hat es für richtig gehalten, als ersten Redner nach dem Bundeskanzler Herrn Lafontaine für sich sprechen zu lassen - nicht den Fraktionsvorsitzenden, nicht den wirtschaftspolitischen Sprecher. Es kann also nur so sein, daß Herr Scharping sein Schattenkabinettsmitglied, den finanz- und wirtschaftspolitischen Gesamtsupermann, hier vorstellen wollte.
({3})
Das verstehe ich nun aber gar nicht, da sich Herr Thierse, der sich hier mit besonderen Zwischenrufen befleißigt, Frau Hildebrandt, auch die SPD-Vorsitzenden von Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern von Lafontaine als wirtschafts- und finanzpolitischem Sprecher distanziert haben. - Vielleicht, Herr Thierse, hat er Ihnen, weil er sich geärgert hat, deswegen heute die ganze Redezeit weggenommen. Nicht einmal beim Reden kann er teilen.
({4})
Herr Stolpe spricht von unverantwortbaren und taktisch unsinnigen Vorschlägen von Herrn Lafontaine. Das Urteil von Frau Schröter aus Thüringen, die dort SPD-Vorsitzende ist, ist noch unfreundlicher. Sie beurteilt Ihre wirtschaftspolitischen Thesen, Herr Lafontaine, als volkswirtschaftlichen Unfug, und unser geschätzter Kollege Rudi Walther, der Vorsitzende des Haushaltsausschusses des Bundestages, meint gar, er muß in psychiatrische Behandlung. - Herr Ministerpräsident, ich weise natürlich, auch im Namen der CDU/CSU-Fraktion, mit Empörung und Abscheu diese Bemerkung von Herrn Walther zurück. - Aber, Herr Klose, Sie müssen sich als SPD schon fragen: Für wen hat hier Lafontaine eigentlich geredet?
({5})
Für sich alleine? Für das Land an der Saar? Als wirtschafts- und finanzpolitischer Kofferträger für Herrn Scharping?
Aus den Zitaten, die ich Ihnen vorgelesen habe und die ich Ihnen beliebig erweitern könnte, ist doch sicherlich herauslesbar: Für die SPD spricht Herr Lafontaine offenbar nicht.
Sie müssen sich entscheiden. Entweder Sie stehen zu dem, was Herr Lafontaine in wirtschafts- und
finanzpolitischen Fragen hier und anderwärts sagt, oder Sie entlassen Herrn Lafontaine aus der überschweren Aufgabe, die ihm der Parteivorsitzende offenbar zugedacht hat. Ich glaube, das, was sich gegenwärtig abspielt, ist eine Dokumentation der wirtschafts- und finanzpolitischen Zerrissenheit. Hier redet einer, der die Rückendeckung der gesamten Partei erkennbar und überall nachlesbar nicht mehr hat.
({6})
Die Aussagen von Herrn Lafontaine sind geprägt von Widersprüchlichkeit und von Mut - Mut im Sinne von Chuzpe.
Herr Lafontaine, Sie reden von Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft; gleichzeitig aber sind Sie, etwa heute in Ihrer Rede, strikt gegen den Abbau von Arbeitsplätzen bei der Bahn. Wie wollen Sie denn die Bahn zukunftsfähig machen, wenn nicht auch Arbeitsplätze abgebaut werden?
Sie reden von Wettbewerbsfähigkeit und verteidigen weitere Arbeitszeitverkürzungen, weitere schematische Aufteilung des Vorhandenen. Nicht Arbeitszeitverkürzungen sind notwendig, sondern mehr Flexibilität der Arbeitszeit. Auf der Basis des neuen Arbeitszeitgesetzes werden die Tarifpartner in besonderer Weise aufgefordert sein, dies zu realisieren.
Sie sprechen vom Abbau von Steuersubventionen. Haben Sie nicht zur Kenntnis genommen, Herr Ministerpräsident, daß diese Koalition gerade in den letzten dreieinhalb Jahren Steuersubventionen in einer Größenordnung von jährlich ca. 38 Milliarden DM abgebaut hat, die auch in diesem Jahr wirksam werden? Gerade hier aber hat Ihre Fraktion und haben auch Sie im Bundesrat ständig gegengehalten und gesagt: Das ist Abbau, den wir nicht wollen. Sie sollten vor allem auch bei den Finanzhilfen mithelfen, daß Subventionen abgebaut werden. Aber da betrifft es wieder das Saarland, da sind Sie dann nicht mehr dafür.
Mut im Sinne von Chuzpe in Ihrer Aussage beweisen Sie, wenn Sie hier doch tatsächlich von der Staatsverschuldung des Bundes reden. Sie, dem der Präsident des Rechnungshofes Ihres Landes jährlich immer wieder neu vorwirft, daß Ihr Haushalt verfassungswidrig ist,
({7})
rufen hier gleichzeitig von diesem Platz aus die Ministerpräsidenten der Bundesrepublik Deutschland auf, sie sollen dem Sparpaket widersprechen. Was wollen Sie nun? Wollen Sie den Haushalt konsolidieren, oder wollen Sie mit den Ministerpräsidenten gegen Sparmaßnahmen vorgehen?
({8})
Mut auch, Herr Ministerpräsident: Sie polemisieren gegen die zugegebenermaßen zurückgehende Investitionsquote des Bundes. Schauen Sie sich doch einmal die Investitionsquote in ihrem Land an! Die hat
Mickymaus-Qualität. Ich glaube, da sollten Sie nicht so mutig sein, uns hier so etwas vorzuwerfen.
({9})
Noch etwas: Herr Ministerpräsident, der Bundeskanzler hat in seiner Einleitung mit Recht darauf hingewiesen, daß uns die aktuellen Ereignisse in Rußland wieder vor Augen geführt haben, daß die schnelle Wiedervereinigung im Jahre 1990 für uns alle ein großer Glücksfall war, und daß im Jahre 1990 nur für eine kurze Zeit die Chance zur Wiedervereinigung bestand.
Ich habe heute noch einmal Ihre damaligen Aussagen aus dem Jahr 1990 nachgeprüft. Ich betone im Lichte dieses Nachlesens, dieser Prüfung: Sie haben damals abgeraten, den mutigen Schritt zur schnellen Wiedervereinigung in dieser historischen Sekunde zu tun. Sie, Herr Lafontaine, waren damals kein guter Ratgeber in der Frage der Einheit, und heute haben Sie mit Ihrer Rede bewiesen, daß Sie auch kein guter Ratgeber in der Frage des Standorts Bundesrepublik Deutschland sind.
({10})
Lassen Sie mich nun zu zwei Kernbereichen der Standortproblematik besondere Anmerkungen machen: auf der einen Seite zur Energiesicherheit und zu den Energiekosten in unserem Lande und zum anderen zur technologischen Zukunft Deutschlands. Meine Damen und Herren, in acht Tagen werden wir in der Verhandlungsrunde des Energiekonsenses in einem ernsten Gespräch klären müssen, ob SPD, F.D.P. und CDU/CSU gemeinsam in der Lage und bereit sind, noch in diesem Jahr die Grundlagen für einen Energiekonsens zu legen.
({11})
- Ich persönlich würde mir einen entsprechenden Konsens sehr wünschen, einen Konsens, Herr Kollege Glos, ohne taktische Hintertürchen, ohne vernebelnde Formulierungen und ohne spinatgrüne ideologische Utopien.
({12})
- Fühlen Sie sich da auch schon angesprochen, meine Kollegen von der SPD? Das ist wunderschön. Wissen Sie, es ist bei den Konsensgesprächen immer wie folgt gewesen: Wenn die SPD-Ministerpräsidenten geredet haben, haben sie immer seitlich zu Herrn Fischer herübergeschaut, ob sie das, was sie gesagt haben, auch wirklich sagen durften. So angegrünt sind sie nämlich bereits. So weit sind wir in diesem Lande.
({13})
Wir brauchen für die Arbeit der bestehenden Unternehmen in diesem Land und für die Investoren von außen eine tragfähige und langfristige Perspektive für preiswerte Energien. Die hohen Energiepreise in der Bundesrepublik Deutschland sind ein Standortnachteil besonderer Qualität.
Der durchschnittliche Strompreis der EG liegt um 28 Prozent niedriger als in Deutschland.
({14})
Für stromintensive Betriebe ist dies ein fast unwiderstehlicher Anreiz zum Ausflaggen.
Ein mittelständisches Unternehmen aus der Textilbranche muß in Deutschland mit 18,65 Pfennig/ Kilowattstunde rund 6,8 Pfennig pro Kilowattstunde mehr als seine Konkurrenten in Frankreich, in der Schweiz, in Österreich oder in Italien bezahlen. Insgesamt entstehen diesem mittelständischen Beispielunternehmen dadurch Mehrkosten von 516 000 DM im Jahr. Dieser Betrag entspricht den Lohnkosten von etwa zehn Arbeitsplätzen. Unsere hohen Energiekosten verhindern also die Schaffung von Arbeitsplätzen.
Langfristig kalkulierbare und preiswerte Energie bekommen wir aber nur mit einem vernünftigen Energie-Mix. Bei einem derartigen Energie-Mix muß die Kernenergie, die heute mehr als 30 % des Stromes erzeugt, dauerhaft mit dabei sein. Dieser Konsens muß auch die Option für zumindest ein Kernkraftwerk der nächsten, noch sichereren Generation beinhalten, das in der Entwicklung von Siemens und Framatom schon sehr weit gediehen ist. In diesem Konsens muß eine langfristige und intelligente Finanzierung der Kohle vereinbart werden, und natürlich muß ein ganzer Datenkranz von Energiesparmaßnahmen und die Förderung von alternativen Energien darin mit formuliert sein.
Ich würde es sehr begrüßen, Herr Ministerpräsident, wenn Sie in diesen Fragen den von Ihnen ja besonders geliebten Kollegen aus Niedersachsen, Herrn Schröder, unterstützen könnten. Herr Schröder hat einige sehr konstruktive Vorschläge zum Energiekonsens gemacht. Nur, wir können den Konsens nicht mit Herrn Schröder alleine vereinbaren; wir müssen ihn durch die Zustimmung der gesamten SPD tragfähig machen. Da kann Herr Scharping seine Führungskraft und seine Zukunftsfähigkeit beweisen! Wir brauchen die ganze SPD, und der SPD-Vorsitzende ist aufgefordert, Ihre Reihen zusammenzuhalten.
({15})
Die Hand der Koalitionsparteien ist jedenfalls zu einem Energiekonsens ausgestreckt - im Sinne des Standortes Bundesrepublik Deutschland, damit die Energiekosten langfristig gesenkt werden können und dann stabil bleiben.
Eine Anmerkung zur Technologie. Der Bundeskanzler hat in besonders eingängigen Worten auf die Bedeutung von Forschung und Technik für den Standort Bundesrepublik Deutschland hingewiesen. Ich begrüße es ausdrücklich, daß der Bundeskanzler dabei einen Zusammenhang zwischen einer möglichen Aufstockung der Finanzmittel für die Forschung und der Neuordnung unserer Forschungslandschaft mit mehr Wettbewerb und mehr Effizienz hergestellt hat. Herr Lafontaine, er hat nicht gesagt, wir erhöhen einfach den Haushalt. Da haben Sie nicht richtig zugehört. Der Bundeskanzler hat gesagt, es bestehe ein Zusammenhang zwischen der Neuordnung und
der möglichen Ergänzung der Haushaltsansätze. Denn das, was in unserem Staat heute generell gilt, daß wir nämlich umbauen müssen, daß wir mit Kreativität bürokratische Strukturen überdenken müssen, muß auch im Bereich von Forschung und Technologie gelten.
In den heutigen Zeitungen können wir ja nachlesen, daß die Kollegen Lenz und Maaß den Vorschlag gemacht haben, einen Strategierat „Technik" einzurichten. Das könnte ein Ansatz zur besseren Koordination sein. Hier müssen wir weiter fortschreiten.
Mir scheint, daß mehr Geld zwar bedeutsam ist, aber nicht so bedeutsam wie ein forschungsfreundliches Klima, das der Bundeskanzler hier auch angesprochen hat. Um das Klima für die Technik wieder zu verbessern, brauchen wir sichtbare Zeichen des technologischen Fortschrittswillens in unserem Lande. Wir brauchen nicht nur für unsere Kinder und Jugendlichen herzeigbare, greifbare, faszinierende Objekte technischen Fortschritts - und das nicht nur im Bereich der Unterhaltungselektronik. Wir brauchen sie auch für unseren Export.
Wie, meine Damen und Herren, wollen wir technologische Errungenschaften in ferne Länder exportieren, wenn wir diese auf eigenem Boden nicht realisiert haben? Es nützt nichts, meine Damen und Herren von der Opposition, wenn es auf der einen Seite in der neuesten Fassung des Strategie-Papiers von Herrn Lafontaine - der Arbeitsgruppe Wirtschaft und Finanzen -, das dem Parteivorstand am 11. dieses Monats vorgelegt wurde, heißt - ich zitiere -:
Der Erfindergeist unserer Techniker und Ingenieure begründete den Aufstieg unserer Volkswirtschaft. Die Umsetzung der Forschungsergebnisse muß wesentlich beschleunigt werden.
({16})
wenn Sie aber auf der anderen Seite die technologische Entwicklung in vielen Bereichen systematisch behindern.
({17})
Es sind doch nicht nur die GRÜNEN und die radikalen Linken, sondern es ist auch die SPD, die es mitzuverantworten hat, daß wir eine gigantische volkswirtschaftliche Verschwendung betreiben durch ein ganzes Arsenal von Milliarden teuren Technologie-Ruinen.
({18})
Herr Kollege, der Kollege Kubatschka möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ich möchte fortfahren. - Kalkar ist fertig und dient hauptsächlich der Beschäftigung von Hausmeistern und Sicherheitspersonal. Der Hochtemperaturreaktor Hamm-Uentrop wurde nach wenigen Jahren stillgelegt, weil sich die SPD-Regierung in Nordrhein-Westfalen weigerte, zur Stillegungsvorsorge angemessen beizutragen.
Jetzt ist auch Hanau blockiert. In Hanau sind 1 650 Personen beschäftigt - Sie reden hier ja ständig von Arbeitsplätzen, Herr Lafontaine -, davon 1 050 im
Bereich Uran, 600 im Bereich der MOX-Brennelemente-Fertigung. Die Demonstrationen der Bergleute werden täglich in der Öffentlichkeit ausführlich dargestellt. Als 700 Angehörige der Hanauer Firmen Anfang Oktober in Bonn demonstrierten, war das Fernsehen nicht dabei, und auch Sie haben das offenbar nicht zur Kenntnis genommen.
Derartige Technologieruinen, die durch austiegsorientiertes Verwaltungshandeln erzeugt wurden, sind nicht nur volkswirtschaftliche Verschwendung, sondern auch ein Zeichen technologischer Rückwärtsgewandtheit und signalisieren eher ein Nein zur Zukunft des Standortes Deutschland als ein beherztes Ja.
({0})
Ein weiteres Symbol für eine positive Entwicklung des Technologiestandortes Bundesrepublik Deutschland ist die Magnetschnellbahn Transrapid. Ich habe heute mit Freude gehört, daß der Bundeskanzler den Transrapid als ein Beispiel dafür genannt hat, daß wir anspruchsvolle Technologie in diesem Land bauen und betreiben können und diese Technologieprojekte auch auf den Weltmärkten anbieten und verkaufen können. Der Bund hat bisher immerhin 1,7 Milliarden DM in die Entwicklung von Transrapid hineingesteckt.
Experten schätzen, daß wir in dieser Technologie einen Vorsprung gegenüber Konkurrenten von etwa fünf Jahren haben. Aber der Vorsprung schmilzt, auch hier. Schon oft mußten wir miterleben, daß wir infolge zögernder Umsetzung aus unseren technologischen Fortschritten keine Arbeitsplätze und keinen volkswirtschaftlichen Gewinn geschlagen haben. Dies sollte uns nicht auch beim Transrapid passieren.
({1})
Ich bin der Auffassung, daß der Transrapid fertig entwickelt und auf einer Referenzstrecke in Deutschland eingesetzt werden muß. Es gibt auch entsprechende Untersuchungsergebnisse.
Wenn der Bundeskanzler in seiner Erklärung sagt, „privates Engagement und Kapital werden daher zur ,Schlüsselfrage' für die Realisierung dieses Projekts", so hat er unsere volle Unterstützung. Wir hoffen, daß die Wirtschaft bald mit einem wirklich akzeptablen Angebot an die Bundesregierung herantritt.
Nur würde ich ergänzen, Herr Bundeskanzler: Auch die Politik muß in dieser Frage noch deutlicher sagen, daß sie dieses Projekt will.
({2})
Der Transrapid darf weder an zu geringem privaten Engagement und Kapital noch an zu geringem Engagement und zu geringer Kreativität in manchen Amtsstuben in Bonn scheitern. Er darf auch nicht - etwa auf der Referenzstrecke Hamburg-Berlin - an lokalen Querelen und Schwierigkeiten scheitern. Denn das wäre ein klassisches Beispiel für mangelnde Standortqualität, wenn ein nationales technologisches Großprojekt an einem Millimeterstreit etwa in den Vororten Bergedorf oder Spandau scheitern würde.
Die Zeit drängt in dieser Frage. Die Wirtschaft ist beim Projekt Transrapid ebenso wie die Politik gefordert.
Das gleiche gilt für ein drittes Element: Luft- und Raumfahrt. Der Beschäftigungsstand der deutschen Luft- und Raumfahrt ist in der letzten Zeit, zwischen 1990 und 1992, um 17 % auf ca. 78 000 gesunken. Heute haben wir in den Zeitungen lesen können, daß die DASA bis Ende 1996 die Arbeitsplätze urn 16 000 reduzieren will. Daher ist es Unsinn, von Ihnen immer wieder vom „Luxus" der Raumfahrt zu hören. Wenn es sie nämlich nicht gäbe, würde das z. B. fernmeldetechnisch heißen: zurück in die elektronische Steinzeit.
({3})
Für die Übertragung von Telefongesprächen, Fernsehsendungen und für den Datenaustausch bliebe allein das Fernkabel als Übermittlungsträger. Aber die Welt läßt sich gar nicht so schnell verkabeln, wie der aktuelle Bedarf steigt.
Meine Damen und Herren, die Innovationspotentiale in der Luft- und Raumfahrt sind noch lange nicht ausgeschöpft. Wir müssen deshalb in diesem Land aufhören, Investitionen in die Luft- und Raumfahrt unsinnigerweise mit Kindergartenplätzen und Sozialeinrichtungen auf kommunaler Ebene zu verrechnen. Genau derartige Denk- und Verhaltensweisen sind es ja, die Politiker und Wirtschaftsbosse etwa im Fernen Osten oder in den USA dazu veranlassen, über die Deutschen und ihr rückwärtsgerichtetes Schrebergartendenken Witze zu machen.
Forschung und Entwicklung, Bildung und Wissenschaft sind auch in Zukunft der wichtigste Stützpfeiler unserer Volkswirtschaft, ({4})
so heißt es, Herr Lafontaine in Ihrem Papier vom 11. Oktober. Da klatschen Sie richtigerweise.
({5})
Aber diese Partei muß aus derartigen Programmsätzen endlich auch im Konkreten die Konsequenzen ziehen
({6})
und aufhören mit technologiefeindlichen Ausstiegsmentalitäten und Blockiergehabe.
Elisabeth Nölle-Neumann hat, liebe Kollegen, über Jahrzehnte hinweg mit ihrem Institut die Physiognomie der Bevölkerung beobachtet. Dabei ist aufgefallen, daß mit steigendem Wohlstand, mit größerer sozialer Sicherheit die Gesichter nicht freundlicher, sondern bitterer geworden sind. Der Mißgunst, Ärger und Neid signalisierende, nach unten gezogene Mundwinkel wurde nach den Untersuchungen dieses Instituts zum Kennzeichen wachsenden Wohlstands.
({7})
Das ist ein Kernproblem unseres Standortes. Für Aufbruch und Umbau brauchen wir eben nicht nur Kraft und Mut, sondern auch Optimismus.
Redezeit!
Wir werden die zukünftigen Herausforderungen nicht mit heruntergezogenen Mundwinkeln bestehen können, sondern wir brauchen die Freude am Gestalten.
({0})
Die Zukunft hält vor allem viele neue Chancen für uns bereit, wenn wir das vereinte Deutschland sehen, wenn wir den großen Binnenmarkt Europa sehen, wenn wir die offenen Zukunftsmärkte im Osten sehen. Für die Exportnation Bundesrepublik Deutschland, für den Fleiß und die Tatkraft dieses Volkes sind große Chancen vorhanden.
Wir sollten diesen Chancen mit Optimismus gegenübertreten. Der Bundeskanzler hat mit seiner Regierungserklärung heute einen wichtigen Beitrag zur Förderung dieses Optimismus geleistet.
({1})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Otto Graf Lambsdorff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der Herr Ministerpräsident des Saarlandes, der heute wohl mehr in seiner Eigenschaft als stellvertretender SPD-Vorsitzender zu uns gesprochen hat - ja, Sie bestätigen das, es steht nicht ganz so in der Geschäftsordnung, aber das macht nichts -, hat uns heute hier ja auch aus der Menükarte für den Parteivorstand der SPD berichtet.
Herr Lafontaine, über einiges davon kann man reden. Vieles davon ist rückwärtsgewandt, sind alterprobte schlechte Rezepte, Antworten wie so häufig bei Ihnen: einfach, klar, aber falsch.
({0})
Vor allem aber, meine Damen und Herren, es fehlt mir das Vorblatt: Kosten. Vielleicht machen Sie sich noch einmal daran, auszurechnen, was die Umsetzung dieser Veranstaltung kosten würde.
({1}) Zweitens, meine Damen und Herren.
({2})
- Auf die Einheit kommen wir auch noch zu sprechen, Herr Lafontaine. - Es wird eingeleitet mit dem Satz: Nach elf Jahren konservativer Bundesregierung fehlen in ganz Deutschland 6 Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze. - Und dann geht das so weiter.
Ich sage jetzt nicht zum Ausweichen, daß dies eine Situation ist, die Sie genausogut nach zehn Jahren sozialistischer Regierung in Frankreich sagen könnten, daß wir also Probleme haben, die wir in allen Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaft und darüber hinaus finden, keineswegs nur in Deutschland. Wir müssen uns schon mit dem beschäftigen - das ist völlig richtig -, was bei uns los ist, und versuchen, bei uns die Probleme zu lösen.
Aber wir dürfen auch den Blick für das, was gesamtwirtschaftlich über unsere Grenzen hinaus ansteht,
nicht verlieren; denn unsere Probleme resultieren ganz wesentlich aus den Veränderungen der weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Gegebenheiten und nicht aus irgendwelchen Fehlern, Unterlassungen oder Handlungen, die in Deutschland gemacht worden sind.
({3})
Wir wissen, meine Damen und Herren, daß wir uns im Herbst 1993 in Deutschland nach wie vor in einer schweren wirtschaftlichen Krise befinden. Wir machen uns auch gar nichts vor. Auch wenn die Anzeichen zunehmen, daß die wirtschaftliche Abwärtsentwicklung einen Tiefpunkt erreicht hat, so sind doch noch keine Anzeichen für einen beginnenden Aufschwung wirklich auszumachen. Es deutet wenig darauf hin, daß wir die konjunkturelle Talsohle alsbald durchschritten haben. Die meisten Wachstumsprognosen, auch die der Bundesregierung, werden wohl nach unten revidiert werden müssen.
Die wirtschaftliche Krise Deutschlands hat aber nicht nur konjunkturelle Ursachen. Dies ist kein normaler konjunktureller Abschwung. Da gibt es strukturelle Fehlentwicklungen. Steigender Staatsanteil, zu hohe Arbeitskosten, langwierige Planungs- und Genehmigungsverfahren und viele andere Rigiditäten sind zu einer gravierenden Belastung geworden. Sie werden verhindern, daß die Wachstumswirkungen eines weltwirtschaftlichen Aufschwungs, wenn er denn kommt, rasch und nachhaltig bei uns spürbar werden. Sie werden uns länger als nötig an die konjunkturelle Talsohle fesseln. Sie werden den neuen wirtschaftlichen Aufstieg mühsam und vielleicht sogar kurzatmig machen.
Wer heute gegen hohe Arbeitslosenzahlen rasch wirkende Medizin verspricht, der ist ein Scharlatan. Die Erfahrungen zeigen uns, daß ein hoher Sockel an struktureller Arbeitslosigkeit noch lange vorhanden sein wird und uns begleiten wird. Dies gilt keineswegs nur für Deutschland. Es gibt keine schnelle Antwort auf Rezession und strukturelle Defizite. Was wir brauchen, sind offene Märkte, Wettbewerb und Flexibilität. Das geht nicht zu Lasten der sozialen Belange; denn Beschäftigung bedeutet auch soziale Absicherung. Diesen Zusammenhang, Herr Lafontaine, sehen wir ebenso wie Sie.
Was wir tatsächlich brauchen, ist, die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen zu schaffen und die Nettokreditaufnahme zurückzuführen. Wenn wir damit mehr Wachstum erreichen, ist es keine Quadratur des Kreises, gleichzeitig Steuern und Abgaben senken zu wollen.
In dem Zusammenhang ein Wort zu den Klagen des Deutschen Städtetages. Selbstverständlich machen sich auch dort die finanziellen Engpässe bemerkbar. Aber ich finde es schon ein ziemlich tolles Stück, daß der sozialdemokratische Oberbürgermeister von Köln und Präsident des Deutschen Städtetages bei den Kürzungsüberlegungen als erstes Schulen, Kindergärten und Schwimmbäder ins Feld führt, anstatt daß er über die Verschönerungsbauten der Städte, über Straßenrückbau, über unterlassene Privatisierung, über übersetzte Verwaltungen spricht und vielleicht
auch einmal daran denkt, seine RWE-Aktien zu verkaufen.
({4})
Wirtschaft, Staat und Gesellschaft brauchen Deregulierung. Insbesondere auf den europäischen Arbeitsmärkten ist die Regulierungsdichte, wie wir alle wissen, weitaus höher als z. B. in den Vereinigten Staaten, aber in manchen unserer europäischen Nachbarländer auch niedriger als bei uns.
Die Geldpolitik muß stabilisiert werden. Es zeichnet sich Zinssenkungsspielraum ab. Die Produktivität muß gesteigert werden, damit sich Produktion im Hochlohnland Deutschland rentiert. Hier sind Investition, Innovation, Bildung und Ausbildung die richtigen Ansätze. Sie haben auch recht, Herr Lafontaine, wenn Sie von der Notwendigkeit berufsbegleitender Ausbildung sprechen. Um lebenslanges Lernen wird niemand herumkommen.
Das Wachstum der Lohnkosten muß begrenzt werden. Das ist selbstverständlich primär Aufgabe der Tarifpartner. Wer wie die IG Metall Lohnforderungen von 6 % für 1994 stellt, der hat immer noch nicht verstanden, daß nach fetten Jahren nun magere angesagt sind. So wird das nicht gehen.
({5})
Es ist wichtig, daß wir aus dem Verteilungsstreit herauskommen. Wir können auf Dauer nicht mehr verlangen, als wir zu produzieren bereit und in der Lage sind. Wer dauerhaft Wirtschaft und Staat überfordert, der riskiert eine Stabilisierungskrise. Deswegen, Herr Lafontaine, brauchen wir die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen und nicht steuer- oder kreditfinanzierte Ausgabenprogramme.
({6})
Vielleicht können Sie auch in diesem Zusammenhang etwas Nachhilfeunterricht - diesmal nicht Unterstützung - bei Karl Schiller anfordern.
Wirtschaftliche Tatsachen, meine Damen und Herren, und wirtschaftliche Kräfte können durch Politik auf Dauer nicht ausgehebelt werden. Die elementaren Gesetze der Ökonomie verhelfen sich so oder so zum Durchbruch. Die Politik tut sich schwer, die wirtschaftlichen Grundprinzipien anzuerkennen. Im wirtschaftlichen Handeln fehlt uns die Konsequenz, die wir mit Worten gerne einfordern.
Ein schlechtes Beispiel ist die Gentechnologie. Wir haben durch ein zu restriktives Gentechnikgesetz zukunftsträchtige Investitionen behindert. Der Kollege Lennartz - ich glaube, er ist nicht mehr im Raum - hat bei dem Stichwort der Forschungs- und Technologieentwicklung und -unterstützung, das der Bundeskanzler benutzt hat und das auch Sie aufgegriffen haben, sofort einen erregten Zwischenruf gemacht und gerufen, da müsse mehr geschehen. Ja, meine Damen und Herren, wenn auf diesem Gebiet mehr geschieht, dann dürfen Sie aber die Umsetzung
dessen, was erforscht und entwickelt wird, in Produktion und Anwendung nicht dauernd behindern.
({7})
Zur Energiepolitik. Nur in kleinsten Trippelschritten reduzieren wir die Subventionierung der deutschen Steinkohle und nehmen - jetzt hören Sie bitte zu, Herr Lafontaine - den Verlust energieabhängiger Arbeitsplätze in anderen Industrien damit in Kauf. Das ist nämlich die logische Konsequenz.
({8})
Im übrigen können Sie sich vielleicht einmal darum kümmern - auch Herr Thierse kann das tun -, was Ihre Parteigenossen in Potsdam getan haben. Ich finde es ein unerhörtes Ergebnis, daß im Stadtrat von Potsdam der Einsatz von Braunkohle für ein neues Kraftwerk mit der großen Mehrheit des Stadtrates niedergestimmt worden ist.
({9})
Wie sollen die denn eigentlich zur Braunkohleanwendung kommen? SPD und CDU gemeinsam, feine große Koalition, meine Damen und Herren!
({10})
- Wenn etwas richtig ist, Herr Gysi, wird es nicht dadurch falsch, daß Sie zufällig einmal mitstimmen.
Wir entziehen uns dem Thema friedliche Nutzung der Kernenergie, und wir entziehen uns damit auch der moralischen Verantwortung gegenüber dem Energiebedarf der Dritten Welt. Wir verbrämen die Absage an die Modernisierung des Wirtschaftsstandortes mit umweltpolitischen Argumenten.
Die Koalitionsverhandlungen in Hamburg zeigen, daß die GRÜNEN eben nicht bereit sind, wirtschaftsrelevante Projekte mitzutragen. - Im übrigen, Herr Faltlhauser, in Hessen ist es so, daß Herr Eichel bei Herrn Fischer erst einmal fragt, ob er überhaupt etwas sagen darf, nicht nur im energiepolitischen Bereich. - Herr Voscherau wird zeigen müssen, ob er seine Wahlversprechen einhält. Rot-grün - das zeigt sich auch bei diesen Verhandlungen - ist eine Bremse für die Wirtschaft und damit eine Bremse für die Beschäftigung.
Wir leisten uns das Trauerspiel von Postgutachten über die Postreform I zur Postreform II, mit der Folge, daß die Wettbewerber der Telekom Zukunftsmärkte besetzen und wir Beschäftigung bei Lieferanten und Betreibern verlieren.
Was Sie gesagt haben, Herr Lafontaine, zeigt, daß Sie das Problem nicht verstanden haben. Wir kommen nicht darum herum, auch im Bereich der Bundespost in den verschiedenen Untergliederungen jetzt Stellenabbau vorzunehmen. Aber wir kommen zu weiteren Arbeitsplätzen nur, wenn wir denjenigen Beschäftigung geben können, die bei den Betreibern, vor allen Dingen aber auch bei den Lieferanten leben. Das geht nur dann, wenn die Telekom eine vernünftige Kapitalausstattung hat, sich in der Welt betätigen
kann und nicht dahindümpelt, wie das jetzt der Fall ist.
({11}) Schönen Gruß an Herrn van Haaren!
Das Vermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit wollen wir einschränken; das hat die Koalition beschlossen. Aber die Regierung hat uns einen Entwurf vorgelegt, der so gut wie nichts ändert. So einfach wird das wohl nicht werden, Herr Bundesarbeitsminister. Hinter die Fichte lassen wir uns nicht führen.
Zum Ladenschluß, Herr Faltlhauser, gibt es einen Vorschlag des Bundesrates. Was sagen Sie - Kommentar von Ihnen -: Steht in dieser Legislaturperiode nicht mehr auf der Tagesordnung. Wann denn bitte? Wie der Umzug, im Jahr 2000? Alles hinausschieben?
Kleine Aktiengesellschaft, Umwandlungsrecht, europäische Aktiengesellschaft: Die Bundesjustizministerin bemüht sich, dringend notwendige Reformen umzusetzen. Sie scheitert schon mit dem Referentenentwurf an Mitbestimmungserweiterungsforderungen.
Planungs- und Genehmigungsverfahren hat der Herr Bundeskanzler erwähnt. Das Beispiel, das Sie genannt haben - ich bin da immer etwas rücksichtsloser - heißt: Meyer/Papenburg, und es handelt sich um einen Streit zwischen acht Aalfischern und 1 800 Beschäftigten der Werft. Deswegen geht es nicht weiter. In meinem eigenen Wahlkreis ist jetzt eine 1 km lange Umgehungsstraße nach 30jähriger Planungs-, Bau- und Gerichtszeit endlich in Betrieb genommen worden.
Bei der Dauer solcher Planungs- und Genehmigungsverfahren kommt ein ausländischer Investor überhaupt nicht mehr auf die absurde Idee, in Deutschland etwas anfangen zu wollen. Allein die Tatsache hindert ihn. Er fragt schon gar nicht mehr an; er liest das ja. Er kann das auch aus Regierungserklärungen hören. Nicht daß ich das kritisiere; das muß erwähnt werden.
Zur Arbeitsmarktpolitik: In Ostdeutschland haben wir mit der fehlerhaften Ausgestaltung von ABM und Beschäftigungsgesellschaften den ersten Arbeitsmarkt - fragen Sie die mittelständischen Unternehmen dort - unnötig beschädigt. Was hört man jetzt aus dem Bundeskanzleramt raunen, Herr Bundeskanzler: § 249h AFG auch für die alte Bundesrepublik? Wie das denn? Haben wir nichts vom zweiten Arbeitsmarkt des Herrn von Dohnanyi gelernt? Wollen wir die Funktionsfähigkeit des ersten Arbeitsmarktes auch hier weiter beschädigen? Mich erinnert das etwas an Churchill: Die Leute werden auf den richtigen Weg kommen, nachdem sie alle falschen ausprobiert haben.
Der Arbeitsmarkt darf nicht noch weiter reguliert werden. Sehen Sie sich bitte den Wust von Maßnahmen an, mit denen wir immer aus guten Absichten - das bestreiten wir nicht - Arbeitslosigkeit finanzieren oder verdeckte Arbeitslosigkeit weiter bemänteln: Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe, Arbeitslosengeld, Fortbildung und Umschulung, Frühverrentung, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Arbeitsförderung Ost nach § 249h und, um Klartext zu reden, die besonders angenehme Art des Erhalts von im Wettbewerb nicht überlebensfähigen Arbeitsplätzen in hochsubventionierten überkommenen Branchen.
Meine Damen und Herren, das ist ein Beschäftigungsprogramm für die Arbeitsverwaltung, aber wahrlich nicht für die Arbeitslosen.
({12})
Es werden neue Arbeitsplätze entstehen, z. B. im Telekommunikationsbereich oder über die Pflegeeinrichtungen bis hin zu den privaten Haushalten. Hören wir auf mit den steuerlichen Vorbehalten dagegen aus reinem Scheuklappendenken!
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. -
Sehr gut!)
- Herr Bundeskanzler, Sie sagen: Sehr gut. Ich bedanke mich. - Die Politik muß diese Entwicklung fördern. Zur Zeit behindert sie sie eher noch.
({0})
Sie haben eben über Arbeitszeitverlängerung diskutiert. Das war eine Diskussion zwischen dem Bundeskanzler und dem saarländischen Ministerpräsidenten. Du liebe Zeit, es geht darum, die Arbeitszeit flexibler zu gestalten, damit Arbeit von solchen Personen noch länger verrichtet werden kann, die man dafür braucht und die man sonst nicht hat. Daß solche, die im Überfluß vorhanden sind, auch kürzer arbeiten können, wenn sie bereit sind, die Einkommensdisparitäten in Kauf zu nehmen das müssen sie -, das ist doch völlig in Ordnung. Keiner stellt sich hin und sagt: Alle müssen länger arbeiten, auch die, für die wir keine Arbeitsplätze haben.
({1})
Aber es geht nicht an, daß der Ingenieur in einem Maschinenbauunternehmen nach 35 Stunden den Griffel fallen läßt, obwohl man ihn gerne 45 Stunden arbeiten lassen würde, damit er weiter konstruiert. Dessen Arbeit kann nicht von einem Dritten fortgesetzt werden. Das können Sie nicht mit dem Hilfsarbeiter, dem ungelernten Arbeiter vergleichen. Wie kann man eine solche unsinnige Diskussion führen!
({2})
Meine Damen und Herren, das Rexrodt-Papier zum Standort Deutschland ist gut. Ich sage gezielt, Herr Bundeskanzler - ich weiß, was ich sage -: das Rexrodt-Papier.
Herr Kollege Graf Lambsdorff, der Kollege Seifert würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön, immer.
Herr Lambsdorff, ich danke Ihnen, daß Sie mir „immer" Zwischenfragen beantworten. Das war schon einmal nicht der Fall,
Bei mir?
Ja, bei Ihnen.
Sie sagten, daß Sie für die Flexibilität der Arbeitszeit sind. Aber sagen Sie bitte: Wie wollen Sie den Menschen, die verkürzt arbeiten, soziale Sicherheit geben? Oder wollen Sie sie unter der Sozialversicherungsmarge beschäftigen? Darum geht es doch. Das Problem ist, daß die Menschen zwar ihr Leben lang arbeiten, am Ende aber keine Rente bekommen, z. B. wenn sie nur 18 Stunden arbeiten.
Jedermann, auch der, der kürzer arbeitet, Herr Kollege, arbeitet auf der Grundlage von Tarifverträgen und nichts anderem. Dabei soll es selbstverständlich bleiben. Ich verlange von niemandem, daß er unter Tarif arbeitet.
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- Darum geht es doch. Wer auf Tarifbasis arbeitet, hat seinen Lohnanspruch. Auf diesem Lohnanspruch basieren seine Beitragsverpflichtungen und später seine Rentenzahlungen.
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Meine Damen und Herren, ich sagte, das RexrodtPapier ist gut. Aber ich sage auch: Die Vorlage der Bundesregierung ist nicht so gut, weil einiges von dem ursprünglichen Konzept verwässert und abgeschwächt wurde. Auch Ihre heutige Rede, Herr Bundeskanzler, war gut. Aber wann wird entschieden? Wann werden die Deregulierungsvorschläge des Kabinettsbeschlusses umgehend verwirklicht?
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In dieser Legislaturperiode? Ihre Regierung, Herr Bundeskanzler, hat dafür die volle Unterstützung der F.D.P.-Fraktion. Tun Sie es bitte! Wehren Sie sich bitte dagegen, daß sich die Ressorts vom Fachreferenten bis zum Minister Grabenkämpfe liefern, die alles auf die lange Bank schieben!
({3})
Wir brauchen nicht dauernd neue Arbeitsgruppen. Wir brauchen Entscheidungen. Wir brauchen Tatkraft und nicht nur Wortgewalt.
Herr Faltlhauser hat den Vorgang schon erwähnt; der stellvertretende Parteivorsitzende der SPD hat ihn füglich nicht erwähnt: Gestern hat Karl Schiller dem stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine bestätigt, daß seine Ansichten zur Lohnentwicklung in Ostdeutschland dem marktwirtschaftlichen Einmaleins entsprechen. So ist es. Heute war davon nichts zu hören. Vielleicht hat bei diesem freundlichen Hinweis auch geholfen, Herr Lafontaine, daß Sie Karl Schiller seinerzeit wieder in die SPD aufgenommen haben. In Hamburg wollten sie ihn nicht haben. Das stimmt doch, Herr Klose? Dann haben Sie es im Saarland getan.
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Uns stört aber, Herr Lafontaine, daß sie die Zusammenhänge zwischen Beschäftigung, Produktion und
Arbeitskosten offenbar nur für Ostdeutschland gelten lassen wollen. Ist das immer noch Ihre gesamtdeutsche Einäugigkeit? Gewiß, die Lücke in Ostdeutschland ist viel größer. Aber sie besteht auch in der alten Bundesrepublik. Gehen Sie bitte ins Saarland vor die Kumpel bei Saarberg und Saarstahl, und sagen Sie denen die gleichen Erkenntnisse. Sie haben ja recht mit den Erkenntnissen.
Verheerend waren allerdings, meine Damen und Herren, die Reaktionen aus der SPD, angeführt von Ihnen, Herr Thierse. Da argumentierten alle SPD-Landesvorsitzenden in Ostdeutschland nicht zur Sache, sondern nur zu den Wahlaussichten Ihrer Partei. Wenn wir so diskutieren, werden wir die ökonomischen Dinge bei uns nicht in Ordnung bringen.
({5})
Ich habe mich schon gewundert, daß ein Mann wie Manfred Stolpe wirklich alle Contenance verloren hat. Er nennt Lafontaine einen Wahlhelfer von Kohl und fordert seine Entfernung aus dem Schattenkabinett des Herrn Scharping. Nun taugt das Schattenkabinett zwar nicht viel, aber darf der Schattenwirtschaftsminister nicht einmal offenkundige Fakten aussprechen? Wenn das so geht, wird die Diskussion nicht beflügelt werden.
Lassen Sie mich hier, Herr Lafontaine, bitte einen Exkurs machen. Es hat keinen Sinn, die alten Geschichten wieder aufzuwärmen. Wir bleiben bei der Überzeugung, daß die Entscheidung „Eigentum vor Rückgabe" richtig ist. Jetzt den Religionsstreit weiter fortzusetzen bringt überhaupt nichts mehr; umgedreht werden kann er nicht mehr; die Folgen wären ganz verheerend. Aber Ihr Satz: dieses Vermögen hätte für den Aufbau in Ostdeutschland eingesetzt werden müssen, heißt übersetzt: Was die DDR ihren Bürgern gestohlen hat, soll ihnen jetzt noch einmal gestohlen und nicht zurückgegeben werden.
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Das zeigt Ihr gebrochenes Verhältnis zum privaten Eigentum. Da sind Sie die sozialistischen Eierschalen noch nicht ganz los.
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Überhöhte Arbeitskosten - das wissen wir - gefährden Arbeitsplätze. Aber hüten wir uns bitte vor Einäugigkeit. Zurückhaltung bei Löhnen und Lohnzusatzkosten allein löst das Beschäftigungsproblem nicht, nirgendwo, an keiner Stelle. Sie brauchen sich nur die Zahlen anzusehen: Der durchschnittliche Monatsverdienst liegt bei uns in Deutschland bei 1 800 ECU und in der Tschechei bei 140 ECU. Das reguliert sich nicht allein durch Lohnzurückhaltung.
Wir brauchen erheblich produktivere Arbeit auf den alten Märkten und neue Arbeit auf ganz neuen Märkten, auf Märkten, die es heute noch gar nicht gibt. Solche Märkte entstehen nicht durch die Politik. Ich weiß, daß ich mich hier wiederhole; ich habe es schon in der letzten Debatte gesagt. Ich sage es
trotzdem noch einmal: Politiker haben sehr begrenzte Möglichkeiten, Arbeitsplätze zu schaffen, und sehr viele Möglichkeiten, Arbeitsplätze zu ruinieren.
({8})
Privatisierung unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft ist nötig, weit über Lufthansa und Telekom hinaus. Kostendenken, das es beim Staat nicht gibt und das auch den hypertrophen Verwaltungen unserer großen Konzerne so schwerfällt, ist nötig. Nur der schlanke Staat, das schlanke Unternehmen, geringere Gemeinkosten und die Qualifizierung der Menschen können die für ein Hochlohnland ausreichende Produktivität entwickeln.
Freie Märkte wachsen von sich aus und nicht durch den Staat. Ich kenne Ihr Argument: Das darf man nicht dem Markt überlassen. Dem Staat haben wir diese Probleme schon viel zu lange überlassen. Wenn wir weiter den öffentlichen Sektor aufblähen, werden wir noch längere und höhere Arbeitslosigkeit haben. Zur Privatisierung unserer Leistungsgesellschaft gibt es keine andere Lösung.
Umdenken ist schwer. Wir müssen begreifen, meine Damen und Herren, daß der Standort Deutschland geographisch zwar der gleiche ist wie vor 20 Jahren, aber ökonomisch ist nichts mehr gleich.
Herr Kollege, Sie sind weit über die Zeit.
Hier steht: noch eine Minute, ich bitte um Entschuldigung; ich richte mich nach Ihrer eigenen Angabe.
Wir bewältigen die Risiken, wir nutzen die Chancen, wenn wir die weltweiten Veränderungen begreifen, aber auch nur dann. Vielleicht sichern wir dann die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Aber, meine Damen und Herren, wir sprechen von Zukunftssicherung. Sichern kann man nur etwas, was man zuvor erreicht und gewonnen hat. Darum geht es jetzt.
Vielen Dank.
({0})
Entschuldigung, Graf Lambsdorff. Ich habe mich geirrt. Sie haben auf die Sekunde genau mit Ihrer Redezeit geschlossen.
({0}) Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der heutigen Debatte soll es ja, wie wir zum Schluß noch einmal gehört haben, um die Zukunftssicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland gehen. Mir fehlt zunächst einmal die europäische Dimension.
Eine der wichtigsten Voraussetzungen wäre doch ein energischer Kampf um eine Angleichung steuerlicher, sozialer und ökologischer Standards zumindest in Europa. Davon kann aber keine Rede sein. Im Gegenteil, die Bundesregierung benutzt niedrigere Löhne, niedrigere Steuern und niedrigere ökologische Standards sowie längere Arbeitszeiten in einigen
anderen Ländern, um in der Bundesrepublik Schritt für Schritt Sozialabbau, realen Lohnabbau, Arbeitszeitverlängerung und Senkung ökologischer Standards durchzusetzen und vor allem das Bewußtsein für eine solche Politik zu entwickeln.
An dem Begriff „Zukunftssicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland" stört mich schon, daß so getan wird, als ob es darum ginge, die bisherige Wirtschaftskraft in der Bundesrepublik zu erhalten. Wenn ich in den Osten Deutschlands schaue, frage ich mich aber: Welchen Wirtschaftsstandort wollen Sie dort eigentlich sichern? Es gibt dort keinen mehr. Er ist durch die Bundesregierung mit Hilfe der Treuhandanstalt vernichtet worden. Die Folge sind umfangreiche Transferleistungen von West nach Ost, um einen sozialen Mindeststandard zu sichern. Durch solche Transfers werden die Ostdeutschen gedemütigt und wird gleichzeitig die Stimmung gegen sie im Westen geschürt. Die Ostdeutschen wollen nicht zu Bettlerinnen und Bettlern degradiert werden. Sie wollen eine Chance haben, im Rahmen von Investitionen an einer Aufbau- und Wirtschaftstätigkeit teilzunehmen, und verlangen dann allerdings gleichen Lohn für gleiche Arbeit; das ist doch wohl nur recht und billig und im übrigen Verfassungsgrundsatz.
({0})
Kurzum, im Osten geht es nicht um die Sicherung des Wirtschaftsstandorts, sondern um dessen Aufbau. Von einer solchen investiven Wirtschaftspolitik ist die Bundesregierung in den neuen Bundesländern meilenweit entfernt.
Wie sieht die scheinbar zwingende Logik der Bundesregierung und auch dessen, was Graf Lambsdorff gesagt hat, aus? Die Gewinne der Unternehmen von heute sind angeblich die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen. Logische Schlußfolgerung: Die Steuern für Unternehmen und Vermögende und die Produktionskosten müssen gesenkt werden. Die Kosten der Produktion senkt man am leichtesten, indem man die Lohn- und Lohnnebenkosten senkt. Andererseits will und soll der Staat wirtschaftsfördernd eingreifen. Das kann er nur, wenn er mehr Geld zur Verfügung hat. Wenn sich aber aus der Logik der Bundesregierung ergibt, daß sie Steuern nicht erhöhen darf, dann kann sie zu mehr Geld scheinbar nur kommen, wenn sie staatliche Sozialleistungen senkt. Damit diese Logik untermauert wird, wird die Bundesregierung nicht müde, zu behaupten, daß es in Deutschland ohnehin die höchsten Steuern, Löhne und Lohnnebenkosten, die kürzeste Arbeitszeit, die längsten Urlaubszeiten, die kürzesten Maschinenlaufzeiten und die höchsten Sozialausgaben gebe; auch das haben wir uns vom Bundeskanzler heute wieder angehört.
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Nur verschweigt die Bundesregierung dabei vieles. Ihre scheinbar einleuchtende Logik läßt sich leicht widerlegen. Zunächst einmal bedeuten mehr Gewinne keinesfalls mehr Investitionen. Von 1980 bis 1992 sind die privaten Nettogewinne in den alten Bundesländern von 240 auf 570 Milliarden DM ange15678
stiegen. Die Nettoinvestitionen stiegen in dieser Zeit aber nur von 125 auf 192 Milliarden DM.
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Das heißt, daß der Großteil der zusätzlichen Nettogewinne keinesfalls für Investitionen verwendet wurde. Dazu paßt auch die Tatsache, daß sich das sogenannte vagabundierende Kapital der Unternehmen nun auf ca. 700 Milliarden DM beläuft, ermöglicht durch entsprechende Steuergeschenke der Bundesregierung. Nichts davon wird für Investitionen eingesetzt. Das Grundgesetz kennt sogar Möglichkeiten, auf dieses Kapital im Interesse des Wirtschaftsaufbaus zurückzugreifen. Diese Bundesregierung ist allerdings die letzte, die von entsprechenden Möglichkeiten Gebrauch machen würde. Eher greift sie den Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfängern in die Taschen. In der Bundesrepublik gibt es nicht zuwenig Geld; es wird nur ungerecht verteilt.
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Mit den Tatsachen hält auch der zweite logische Schluß der Bundesregierung nicht mit, daß nämlich höhere Investitionen automatisch die Schaffung von mehr Arbeitsplätzen bedeuten. Von 1970 bis 1992 stieg die Produktivität in der Bundesrepublik um 85 %, die Produktion um 70 %, aber die Zahl der Arbeitsplätze nur um 10 %. Das heißt, Produktivitäts- und selbst Produktionszuwachs bedeuten keinesfalls automatisch Zuwachs an Arbeitsplätzen. Im Gegenteil; daß es überhaupt noch einen Anstieg der Zahl der Arbeitsplätze um 10 % in diesem Zeitraum gab, lag allein an der Arbeitszeitverkürzung und der Urlaubsverlängerung.
Nun zum Argument der zu hohen Lohn- und Lohnnebenkosten. Zunächst einmal wird immer so getan, als ob die Löhne Geschenke der Unternehmerinnen und Unternehmer an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seien. Man wird aber doch noch darauf hinweisen dürfen, daß es die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind, die die Werte durch Arbeit schaffen, aus denen Gewinne, Löhne, Lohnnebenkosten und Steuern bezahlt werden.
({4})
Mit anderen Worten, bei den Löhnen geht es ausschließlich darum, welchen Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an den Werten erhalten, die sie selbst schaffen. Auch hier beweist die Statistik, daß es eine klare Fehlentwicklung bei der Einkommensverteilung in der Bundesrepublik von 1980 bis 1992 gab. Während nämlich die Nettoeinkünfte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Zeitraum lediglich um 47,5 % anstiegen, erhöhten sich die Nettogewinne um 132,1 %. Das heißt, daß der Anteil der Löhne und Gehälter am Gesamteinkommen von über 70 % inzwischen auf 67 % und damit auf das Niveau der 60er Jahre gesunken ist.
Festzustellen bleibt also, daß der Anteil der Löhne im Rahmen der Gesamteinkommen in der Bundesrepublik sinkt, die Gewinne wesentlich schneller steigen als die Löhne und deshalb alle Vorwürfe gegenüber Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, sie
seien maßlos und lebten über ihre Verhältnisse, zynisch sind.
Überhaupt muß man die Frage stellen, weshalb die Bundesregierung immer nur nach unten sieht, d. h. auf die Höhe der Sozialhilfe, der Arbeitslosenunterstützung und der Arbeitslosenhilfe und der Löhne der abhängig Beschäftigten sowie auf deren Arbeits- und Urlaubszeiten. Weshalb schauen Sie sich nicht nach oben um, was z. B. das Management in diesem Land verdient? Vielleicht sind dort die Einkünfte zu hoch, vielleicht ist deren Urlaub zu lang oder deren Arbeitszeit zu kurz. Ihr Blick ist immer nur gegen die sozial Schwachen und die sozial Schwächeren gerichtet, nie gegen die Gutverdienenden und schon gar nicht gegen die Vermögenden.
Wenn Sie, Herr Oskar Lafontaine, mit gewisser Rückendeckung durch den SPD-Vorsitzenden eine langsamere Angleichung der Löhne und Gehälter im Osten fordern - und das heute etwas verklärt wieder getan haben -, so bedeutet das, daß führende SPD-Politiker auf diese Politik und diese Demagogie der Bundesregierung eingeschwenkt sind. Mit der ursprünglich sozialdemokratischen Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit hat dies nichts mehr zu tun.
Es ist einfach vermessen, den Ostdeutschen mindestens Westniveau bei Kosten und Preisen zu verordnen, ihnen aber gleichzeitig bei gleichwertiger geleisteter Arbeit die entsprechenden Löhne und Renten zu verweigern.
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Zum Teil sind die Preise im Osten heute schon höher.
Nun zu den internationalen Vergleichen, die die Bundesregierung zur Rechtfertigung ihrer Politik anstellt. In all ihren Berechnungen unterschlägt sie, daß die Produktivität in der Bundesrepublik höher ist als in anderen Ländern und daß das selbstverständlich auch andere Löhne zur Folge hat.
Aber auch ohne Berücksichtigung dieses Faktors stimmen die Vergleiche nicht. Bei den Lohnstückkosten nimmt die Bundesrepublik im Rahmen der OECD-Länder lediglich einen Mittelplatz ein, keinesfalls den Spitzenplatz. Die jüngste Steigerung ist ausschließlich durch die Aufwertung der D-Mark begründet. Das gilt auch für den Lohnnebenkostenvergleich.
Nun zu den Steuern, weil immer wieder behauptet wird, sie seien fast die höchsten in der Welt und belasteten die Wirtschaft völlig unzulässig. Bei ihrer Steuerreform 1990 hat die Koalition den Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer und die Körperschaftsteuer gesenkt. Das Ergebnis ist, daß der Staat jährlich Mindereinnahmen von 27 Milliarden DM hat, die von jenen, die die 27 Milliarden DM einsparten, weder zum Aufbau der Wirtschaft noch zur Schaffung von Arbeitsplätzen genutzt wurden.
Sie haben den Solidarzuschlag von 7,5 % auf die Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer abgeschafft und damit auf ca. 11 Milliarden DM an jährlichen Staatseinnahmen verzichtet. In diese Vergünstigung kamen u. a. der Bundeskanzler, der BundesfiDr. Gregor Gysi
nanzminister und ich. Ich möchte bestreiten, daß z. B. wir drei das Mehrgeld, das wir nun behalten können, für Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen ausgeben.
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Maximal haben wir unser Sparguthaben erhöht. Davon haben vielleicht wir etwas, mit Sicherheit aber nicht der Staat und schon gar nicht die sozial Schwachen, die Lohnabhängigen und die Arbeitslosen in dieser Gesellschaft.
Falsch ist auch die Behauptung, daß die Einkommensteuer in der Bundesrepublik im Vergleich mit anderen Ländern überdurchschnittlich sei. Bei der Körperschaftsteuer liegt die Bundesrepublik zwar formal an der Spitze, durch die zahlreichen Abschreibungsmöglichkeiten im Vergleich zu den anderen OECD-Ländern aber am niedrigsten. Das heißt, daß in den USA, in Großbritannien, in Frankreich, in Japan usw. effektiv höhere Körperschaftsteuern gezahlt werden als in der Bundesrepublik.
Noch trauriger sieht es bei den Ertragsteuern aus. Die großen Konzerne haben sich faktisch aus der Finanzierung der Bundesrepublik verabschiedet. Zahlte z. B. Daimler-Benz noch 1989 Ertragsteuern in Höhe von 2 Milliarden DM, so lag dieser Betrag 1992 bei null DM. Die großen Konzerne haben sehr gute Möglichkeiten, mit sämtlichen Steuertricks zu operieren. Daraus resultiert, daß die Bundesrepublik faktisch nur noch vom Mittelstand sowie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern finanziert wird.
In Anbetracht der Massenarbeitslosigkeit sind die Vorstellungen der Bundesregierung zur Verlängerung der Arbeitszeit - zumindest bei bestimmten Gruppen - und zur Verkürzung des Urlaubs geradezu abenteuerlich. Schon jetzt werden immer mehr Menschen in Frührente und Vorruhestand geschickt; Kurzarbeit wird immer häufiger angeordnet.
Würden sich Ihre Vorstellungen durchsetzen, dann sichern Sie nicht den Wirtschaftsstandort Deutschland, sondern Sie provozieren eine immer größere Massenarbeitslosigkeit mit allen sozialen und psychischen Folgen, die das für die Betroffenen und ihre Familien hat.
Ihre wahren Motive nennen Sie nicht. Nach dem Wegfall der DDR geht die Bundesregierung davon aus, Schritt für Schritt die Kompromisse der letzten 40 Jahre bei der Lohnentwicklung und den Sozialleistungen rückgängig machen zu können.
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Sie wollen den Unternehmen u. a. dadurch größere Gewinne zuschanzen, daß Sie die Kraft der Gewerkschaft reduzieren; deshalb die permanenten Versuche, in die Tarifautonomie einzugreifen. Die kürzlich hier beschlossene Änderung des Lohnfortzahlungsgesetzes hinsichtlich der Lohnreduzierung an gesetzlichen Feiertagen ist nur ein Beispiel dafür. Die Angriffe mit Karenztagen und auf die Feiertage sind uns allen noch gut in Erinnerung.
Sie leugnen die einfache Tatsache, daß sichere und relativ hohe Löhne, Sozialstaatlichkeit und hohe ökologische Standards auch positive Wirtschaftsfaktoren sind. Deshalb floß viel ausländisches Kapital nach
Deutschland und gibt es keine wirklich nennenswerte Kapitalflucht aus Deutschland. Denn solche Standards sichern qualifizierte und motivierte Belegschaften und führen zu geringer Fluktuation der Arbeitskräfte, zu relativ wenig Streiks usw.
Wenn Ihre Logik stimmen würde, müßte ja der größte Wirtschaftsboom in den Ländern stattfinden, in denen es die niedrigsten Löhne, die niedrigsten Lohnnebenkosten, die längste Arbeitszeit, den kürzesten Urlaub und die geringsten Sozialleistungen gibt. Ein Blick nach Süd- und Osteuropa, nach Lateinamerika, in bestimmte asiatische Länder oder gar nach Afrika widerlegt diese These auf schmerzliche Art und Weise. Unser Ziel muß der Sozial- und Ökologieaufbau dort und nicht der Sozial- und Ökologieabbau hier sein.
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Ist es denn so schwer zu begreifen, daß Sozialkürzungen und reale Lohnkürzungen unmittelbar zur Reduzierung der Nachfrage, damit zur Reduzierung des Umsatzes im Handel und im Dienstleistungsbereich und dadurch notgedrungen auch zum Produktionsrückgang und zum Abbau von Arbeitsplätzen führen?
Wenn Sie jeder Sozialhilfeempfängerin und jedem Sozialhilfeempfänger es sind inzwischen über drei Millionen in der Bundesrepublik Deutschland - monatlich nur 10 DM nehmen, konsumieren diese Menschen real für über 30 Millionen DM weniger. Wenn Sie - ich bleibe bei meinem Beispiel von vorhin - dem Bundeskanzler, dem Bundesfinanzminister und mir jeweils 100 DM wegnehmen, konsumieren wir keine Mark weniger; maximal sparen wir weniger. Das heißt, daß die Politik des Sozial- und Lohnabbaus in höchstem Maße unwirtschaftlich ist und zum Rückgang der Produktion und damit zum Arbeitsplatzabbau führen wird. Geradezu dramatisch werden für die Betroffenen und die Wirtschaft die Folgen der in der Geschichte der Bundesrepublik einmaligen Kürzung der staatlichen Sozialleistungen um 20 Milliarden DM ausfallen, die morgen in diesem Bundestag für 1994 beschlossen werden soll.
Es genügt ein Blick in die Geschichte, um zu wissen, was mit Ihrer Politik angerichtet wird. Herr Brüning, der Reichskanzler Anfang der 30er Jahre, war ein Vertreter genau einer solchen Politik. Die Ergebnisse sind bekannt.
Verhängnisvoll ist auch Ihr Umgang mit Kommunen, die Sie finanziell und rechtlich strangulieren mit dem Ergebnis, daß auch diese nicht mehr investieren können. Ich befürchte, daß der Aufschrei der Kommunen nicht gehört wird.
Eine vernünftige Alternative zu dieser Wirtschaftspolitik wäre durchaus möglich. Dabei kann auch an die Entlastung von Unternehmen, insbesondere von mittelständischen Unternehmen, gedacht werden, allerdings nur von solchen, die tatsächlich investieren und Arbeitsplätze sichern bzw. schaffen.
Fangen Sie doch endlich an, mit Steuern wirklich zu steuern! Es gäbe die Möglichkeit, Spekulationsgewinne und andere Gewinne dann stärker abzuschöpfen, wenn sie nicht für arbeitsplatzschaffende Investi15680
tionen eingesetzt werden. Es gäbe umgekehrt die Möglichkeit, Steuervergünstigungen dort vorzunehmen, wo wirklich Arbeitsplätze in Ost und West geschaffen werden.
Warum unterstützen Sie die BASF, die Arbeitsplätze in Bischofferode vernichten will, und nicht den Mittelständler Peine, der Arbeitsplätze in Bischofferode erhalten und schaffen will? Sinnvoll - mit den gleichen Ergebnissen - wäre eine Investitionshilfeabgabe.
Wir können uns eine Ergänzungsabgabe für Besserverdienende, die Abschaffung des ungerechten Ehegattensplittings und einen höheren Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer leisten. Wir haben in der Bundesrepublik überflüssigerweise 97 Milliardäre und über 200 000 Einkommensmillionäre, die wir wesentlich stärker besteuern könnten.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist beendet.
Aber statt dessen wird hier der Klassenkampf von oben geführt. Tatsache ist, daß dann, wenn die Bundesregierung ihre Politik so weiter betreibt wie bisher, der Wirtschaftsstandort Deutschland einen Schaden nehmen wird, den wir alle und die künftigen Generationen teuer zu bezahlen haben werden.
({0})
Ich erteile dem Abgeordneten Werner Schulz das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fragt man Politiker und Wirtschaftsvertreter in Südkorea, einem prosperierenden Land, das der Herr Bundeskanzler erst unlängst besucht hat, was sie tun würden, käme ganz plötzlich die Chance der Einheit des Landes, dann hört man: „Wir haben aus der deutschen Einheit gelernt. " - Eine Tatsache, die man von der Bundesregierung nicht unbedingt behaupten kann.
Die Koreaner jedenfalls würden die Einheit schrittweise angehen, die Wirtschaftsbasis im Norden erhalten, ausbauen, verstärkt Investitionen ins Land holen, die Infrastruktur erweitern und modernisieren, also alles tun, was zu einer leistungsfähigen Volkswirtschaft führt. Dort fürchtet man sich nicht vor gezielter und vom Staat initiierter Industriepolitik. Sie gehört geradezu zum Erfolgsgeheimnis. In Deutschland hat man diese Chance zerredet, anstatt sie zu nutzen.
Die Debatte über den fehlenden Bauplan zum Standort Deutschland kommt drei Jahre zu spät. Sie kommt nicht freiwillig, sondern sie kommt unter Krisendruck zustande. Sie wird mit dem Ausbleiben des wirtschaftlichen Aufschwungs Ost und West immer drängender, immer hektischer und nimmt immer bizarrere Züge an. Daran hat die Bundesregierung nicht unerheblichen Anteil.
Auch der Herr Bundeskanzler hat heute mit seiner Regierungserklärung nicht gerade zur Klärung beigetragen. Es war, Herr Faltlhauser, keine programmatische Rede. Der Elan war eher von gähnender Anstekkungskraft. Es ist einfach nicht sein Thema, war festzustellen. Ich glaube, in Fragen der Wirtschaftspolitik ist selbst der Bundespräsident der weitsichtigere Politiker. Aber auch das soll sich ja bald nach Kohlscher Machart ändern.
Welches sind die Probleme dieses Landes, dieses Standortes? Vor allem, daß es noch immer nicht einen Wirtschaftsstandort Deutschland gibt, sondern zwei, einen westlichen, dessen struktruelle Defizite in der Rezession ans Tageslicht kommen, und einen östlichen, der sich trotz mancher positiver Entwicklung weiterhin im industriellen Niedergang befindet und der zusätzlich zum längst nicht verarbeiteten Währungsschock unter dem Zusammenbruch seiner angestammten Märkte im Osten leidet, natürlich auch unter der Weltrezession, die den Eintritt in die so dringend benötigten neuen Märkte im Westen doppelt erschwert.
Die Probleme dieses Landes bündeln sich in der Tatsache, daß die Wirtschaft den wichtigsten Produktionsfaktor, die Motivation, die Schaffenskraft und den Ideenreichtum von Millionen Menschen brachliegen läßt. Die Massenarbeitslosigkeit ist nicht nur eine soziale Tragödie, sie ist zugleich eine ungeheure Verschwendung einer für die Wirtschaftskraft entscheidenden Ressource.
Dieser Standort krankt daran, daß die Verantwortlichen in Staat und Wirtschaft in ihrer großen Mehrheit die ökologischen und sozialen Anforderungen an das Wirtschaften von morgen nicht annehmen, sondern diese Anforderungen nach Möglichkeit verdrängen. Sie versäumen es zielbewußt, die ökologische Umgestaltung der Wirtschaft in Angriff zu nehmen, und das zu einem Zeitpunkt, wo dies die Erlangung von Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit bedeutet. Wer heute die Wirtschaft auf Umweltverträglichkeit umstellt, hat die Chance, zusätzlich zur ökologischen Dividende enorme Wettbewerbsvorteile auf den Weltmärkten zu erlangen. Nur wer heute die Fragen von morgen stellt, hat morgen die Produkte auf die Nachfragen der anderen.
Die Probleme dieses Standortes werden von einer Regierung verschlimmert, die es nicht wagt, dem Volk die Wahrheit über die Belastungen zuzumuten, die sie ihm zuzumuten gedenkt, und von einem Finanzminister, der es fertigbringt, zur gleichen Zeit die Abgabenbelastung der Bürger und die Verschuldung des öffentlichen Gesamthaushalts auf Rekordhöhen zu treiben, der zusätzlich massiven Sozialabbau betreibt und dennoch kein Geld in der Kasse hat. Auch die Regierungsqualität ist ein Standortfaktor. Doch um diesen steht es denkbar schlecht.
Es ist schon merkwürdig, zu erleben, wie sich die Diskussion um den Wirtschaftsstandort auf zwei ebenso einfache wie irreführende Fragen zuspitzt. Erstens sind die Löhne zu hoch, zweitens leben wir über unsere Verhältnisse. Unabhängig wie man zu diesen Fragen steht, ob man sie mit einerseits und andererseits, mit Ja oder mit Nein beantworten möchte, es sind und es bleiben die falschen Fragen.
Werner Schulz ({0})
Natürlich sind Unternehmen in der Rezession bestrebt, alle nur erdenklichen Kosten zu senken, auch die Personalkosten. Doch nichts rechtfertigt die Behauptung, die deutschen Lohnkosten seien im internationalen Vergleich zu hoch.
Anders ist es mit dem Tempo der Lohnangleichung im Osten. Dort hat der schnelle Anstieg einige Unternehmen vor kaum lösbare Probleme gestellt. So allerdings, wie es sich Oskar Lafontaine ursprünglich vorgestellt hat - er hat es heute einigermaßen zurechtgerückt -, kann man es nicht machen. Es ist schon mehr Phantasie gefragt; vor allen Dingen muß man mit der Problemnennung auch Lösungsansätze erwähnen.
Dieser Knall-und-Fall-Währungsunionsschock hat die Tarifparteien in eine Zwickmühle manövriert. Wir als kleine Partei haben zumindest Teillösungen vorgeschlagen, z. B. die Einführung einer degressiven Lohnsubvention für Betriebe, die die Lohnangleichung kurzfristig nicht verkraften können, oder den Gedanken der Investivlöhne. Dies sind Elemente und Instrumente, welche die notwendige Lohnangleichung erleichtern können.
Was aber hat die Bundesregierung anzubieten, um dem wirklichen Problem des Standorts Deutschland zu begegnen? Folgt man den Vorschlägen des Wirtschaftsministers, so heißen die Zauberworte Deregulierung, Sozialabbau, Umweltabbau, Abbau von demokratischer Bürgerbeteiligung, Kostensenkung durch den Rückzug des Staates aus der Wirtschaft.
Doch, meine Damen und Herren, einen schlanken Staat erreichen wir nicht durch soziale Abführmittel. Damit helfen Sie den Millionen von Arbeitslosen kein Stück weiter, auf Dauer auch nicht der Wirtschaft. Die Wirtschaft klagt zwar lautstark über eine angeblich zu hohe Regelungsdichte, sie profitiert aber von den vergleichsweise hohen Standards in Deutschland.
Ohne verbindliche Rahmensetzung, ohne Unterstützung durch den Staat werden die Unternehmen weder den ökologischen Umbau bewältigen noch die Erhaltung bestehender und die Schaffung neuer Arbeitsplätze erreichen. Beides jedoch ist unverzichtbar und steht in unmittelbarem Zusammenhang.
({1})
Anreize für einen beschleunigten ökologischen Strukturwandel muß eine Forschungs- und Technologiepolitik bieten, die die Entwicklung neuer, umweltangepaßter Produkte und Technologien bis zu deren Markteinführung intensiv fördert. Noch ist Deutschland ein Kompetenzstandort. Bei gekürzten und zudem falsch eingesetzten Forschungsmitteln wird das aber nicht von Dauer sein. Wir müssen von den Sonnenuntergangstechnologien abkommen. Notwendig ist die Abkehr von risikoreichen, an Großstrukturen orientierten Technologien und ein Ende der Begünstigung weniger Großunternehmen. Die Forschungs- und Technologiepolitik muß viel stärker auf die innovativen kleinen und mittleren Unternehmen ausgerichtet werden. Besondere Bedeutung kommt der Erhaltung und dem Wiederaufbau industrienaher Forschung in den neuen Bundesländern zu, deren Kräfteverlust in den vergangenen Jahren mehr als bedrohlich ist.
Schließlich steht eine ökologische Infrastruktur, namentlich Verkehrs- und Energiewende, auf der Tagesordnung. Gerade die Beschränkung des Autoverkehrs, die Stärkung des schienengebundenen Verkehrs, der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs werden zu massiver Beschleunigung des Strukturwandels führen. Wenn das, meine Damen und Herren, zum Verlust von Arbeitsplätzen in den Automobilunternehmen führt, dann sind dafür nicht diejenigen verantwortlich zu machen, die notwendige Entwicklungen in Gang setzen, sondern die Manager dieser Unternehmen, die das Potential ihrer Unternehmen nicht für sinnvolle und erfolgversprechende Aufgaben einzusetzen bereit sind.
Die Arbeitsplatzbilanz des ökologischen Umbaus kann und muß positiv sein. Der Strukturwandel muß so gestaltet werden, daß die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft gewahrt und sogar noch verbessert wird und gleichzeitig die Produkte dem weltweiten, unausweichlichen ökologischen Wandel entsprechen. Daneben bleibt eine Politik der Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen dringend erforderlich. Notwendig sind und bleiben die Sanierung der noch in Treuhandbesitz befindlichen Industrieunternehmen und ihre Weiterführung in öffentlicher Regie in Beteiligungsgesellschaften, Staatsunternehmen, Managerholdings.
Dem gleichen Ziel dient unsere Initiative zur Aufbringung einer Investitionshilfeabgabe der westdeutschen Wirtschaft für die Sanierung und den Neuaufbau der gewerblichen Wirtschaft in den neuen Bundesländern. Wer nicht im Osten investiert, soll seinen Beitrag für den Aufbau Ost auf andere Weise leisten. So werden auch die Trittbrettfahrer der Wiedervereinigung unter den westdeutschen Unternehmen in die patriotische Pflicht genommen.
Hinzukommen müssen verbesserte Präferenzen für ostdeutsche Produkte, EG-konform ausgedrückt: für Produkte aus Regionen mit sehr hoher Arbeitslosigkeit, was im Ergebnis auf dasselbe hinausläuft. Zumindest bei der öffentlichen Beschaffung, aber auch bei der Förderung von Investitionen mit öffentlichen Mitteln können wirksame Präferenzregeln ostdeutschen Produkten zu einer Chance verhelfen.
Die Diskussion über die Arbeitszeitverkürzung muß aufgegriffen werden. Die wahnwitzige Forderung nach genereller Verlängerung der Arbeitszeiten führt in ein Desaster und erkauft kurzfristige Kostensenkungen durch eine weitere Verschärfung der Probleme auf dem Arbeitsmarkt.
Herr Kollege Schulz, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Gut, Herr Präsident; ich komme zum Ende. Ich hätte noch viele Ideen und praktikable Vorstellungen anzubieten. Aber vielleicht ist auch das ein Kennzeichen des Standorts Deutschland, daß die neuen Ideen beschränkt werden, während die alten Vorstellungen
Werner Schulz ({0})
hier endlose Redezeit zum Schwafeln eingeräumt bekommen.
({1})
Herr Kollege Schulz, das ist eine höchst unzulässige Bemerkung. Sie werden sich daran gewöhnen müssen, daß in einer Demokratie die Bürger entscheiden, wie viele Abgeordnete sie in ein Parlament schicken. Sie bekommen über Ihren Anteil an diesem Parlament hinaus Redezeit.
({0})
Und bitte: Keine weitere Kritik an der Amtsführung des Präsidenten!
So werden wir aus dem Reformstau nie herausfinden, Herr Präsident.
({0})
Ich erteile das Wort dem Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Erwin Teufel.
Ministerpräsident Erwin Teufel ({0}) ({1}):
({2})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Krise, in der wir uns befinden, ist eine Konjunkturkrise und eine Strukturkrise. Niemand kann heute sagen, wann wir aus der Konjunkturkrise herauskommen. Wichtige Indikatoren deuten darauf hin, daß der Abschwung gebremst ist. Aber selbst wenn die Konjunktur wieder anzieht, haben wir noch lange mit Strukturproblemen und vor allem mit einer hohen Arbeitslosigkeit zu tun.
Die Strukturkrise ist erstens eine Kostenkrise, und sie ist zweitens, zumindest partiell, auch eine Technologiekrise.
Die deutsche Wirtschaft steht in der Gefahr, zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben zu werden; zwischen dem Mühlstein Niedriglohnländer auf der einen Seite und dem Mühlstein Hochtechnologieländer - wie USA und Japan - auf der anderen Seite.
Um diese Gefahr zu bannen, empfiehlt die badenwürttembergische Zukunftskommission „Wirtschaft 2000" eine Doppelstrategie. Erstens müssen wir die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft wieder herstellen, und zweitens müssen wir konsequenter in neue Technologien, in neue industrielle Felder vorstoßen.
({3})
Wir werden diese doppelte Aufgabe nur meistern, wenn wir Besitzstände jeder Art und auch geistige Verkrustungen auf den Prüfstand stellen. Was haben wir falsch gemacht? Welche Veränderungen brauchen wir, um die Zukunft des Standorts Deutschland zu sichern?
Wir Politiker müssen uns sagen lassen, daß wir in den 80er Jahren trotz einer hervorragenden Konjunktur in Bund, Ländern und Gemeinden weiter Schulden gemacht haben. Heute ist uns allen klar: Der Staat muß sparen; auf allen Ebenen und in allen Bereichen. Ausgaben müssen gekürzt, Leistungen eingeschränkt werden. Neue Ausgaben sind nur möglich, wenn an anderer Stelle eingespart wird. Wir brauchen eine neue Bescheidenheit des Staates,
({4})
eine weitsichtige Bescheidenheit, um mit den Worten meines Landsmanns Martin Heidegger zu sprechen.
Zur neuen Bescheidenheit des Staates gehört auch, daß er sich immer wieder selbstkritisch fragt, auf welche Aufgaben er verzichten kann und welche Aufgaben durch Private übernommen werden können. Aufgabenabbau ermöglicht dann auch Stellenabbau. Durch Personaleinsparungen haben wir mehr Geld für Zukunftsinvestitionen zur Verfügung.
Zu einem bescheidenen Staat gehört, daß er seine eigenen Gesetze und Verordnungen unter dem Gesichtspunkt überprüft, ob sie unbedingt notwendig sind oder ob sie in der Praxis eher zu einer Gängelung der Bürger und zu einer Gängelung der Wirtschaft führen.
({5})
Wir brauchen auch eine „Gesetzesfolgenabschätzung". Sie ist so wichtig wie eine Technikfolgenabschätzung.
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Meine Damen und Herren, die zügige Genehmigung von Investitionsvorhaben wird immer stärker zu einem wichtigen Standortfaktor. Derzeit ist unser Anlagengenehmigungsrecht ein Investitionshemmnis ersten Ranges.
({7})
Unsere Gesetze räumen den betroffenen und den nichtbetroffenen Anliegern mehr Rechte ein als den Investoren.
({8})
Ich bezweifle, daß wir uns weiterhin den Luxus jahrelanger Gerichtsverfahren durch mehrere Tatsacheninstanzen bei Vorhaben leisten können, die für das Gemeinwohl und für neue Arbeitsplätze von großer Bedeutung sind.
({9}) Dies verlangt das Grundgesetz nicht.
„Auch die Unternehmen müssen sich an die eigene Brust klopfen", hat der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages, Hans Peter Stihl, selbstkritisch festgestellt und dann ausgeführt:
Manche von uns haben zu lange den Konjunkturaufschwung als sanftes Ruhekissen betrachtet,
kein ausreichendes Kostenmanagement betrieMinisterpräsident Erwin Teufel ({10})
ben und dadurch Fett angesetzt, den Markt nicht genug beobachtet oder in der Produktpolitik die Weichen nicht richtig gestellt.
Trotzdem bin ich überzeugt: Die deutschen Unternehmen werden aus der jetzigen Wirtschaftskrise leistungsfähiger hervorgehen. Denn sie machen große und erfolgreiche Anstrengungen, um Kosten einzusparen und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Aber klar ist auch, daß diese Kostensenkungen der Unternehmen zu einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit führen. Hier liegt die zentrale Aufgabe für alle, die am Wirtschaftsprozeß beteiligt sind. Arbeitsplätze sind nicht alles, aber ohne Arbeitsplätze ist alles andere nichts.
({11})
Gefordert sind auch die Tarifpartner. Sie müssen sich vorhalten lassen, daß sie noch Anfang der 90er Jahre meinten, mehr verteilen zu können, als erwirtschaftet wurde. Die Realität ist: Wir arbeiten zu kurz, zu wenig flexibel, und wir produzieren zu teuer. Wir haben sehr hohe Lohn- und Lohnnebenkosten und werden sie bei aller Anstrengung nicht nennenswert senken können. Die Lohnschere zu anderen Ländern darf sich aber nicht weiter öffnen. Deswegen sind reale Lohnsteigerungen in den nächsten Jahren nicht zu verkraften.
Nicht zuletzt wird von allen Bürgerinnen und Bürgern viel Einsicht und Verständnis für den notwendigen Strukturwandel und für die unverzichtbaren Leistungen zum Aufbau der neuen Bundesländer verlangt. Abgabenerhöhungen, höhere Steuern und Kürzungen von staatlichen Leistungen müssen von den Bürgern erst noch verkraftet werden. Das ist für viele nicht leicht. Die Bürger müssen sich deshalb darauf verlassen können, daß es bei den Belastungen gerecht zugeht. Darüber läßt sich im Einzelfall sicher streiten. Aber wer die Kürzungen staatlicher Leistungen pauschal als Sozialabbau abqualifiziert, macht es sich zu leicht. Wer hohe Mehrausgaben beschließen will, wie bei der Pflegeversicherung, aber nicht zu einer vollen Entlastung der Wirtschaft an anderer Stelle bereit ist, handelt in dieser Zeit verantwortungslos.
({12})
Populismus und Ablehnung jeglicher Einsparungen werden der schwierigen Situation unseres Landes nicht gerecht. Opfer, die wir von den Bürgern verlangen müssen, sind dann gerechtfertigt, wenn sie der Stärkung unserer wirtschaftlichen Basis und der Sicherung von Arbeitsplätzen dienen.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf die Forderungen des saarländischen Kollegen Oskar Lafontaine eingehen, die Einkommen in den neuen Bundesländern sollten nicht mit der bisher vorgesehenen Geschwindigkeit an das Westniveau angepaßt werden. Er hat sich damit massive Kritik zugezogen. Für mich ist dies kein Anlaß zur Schadenfreude. Ich bedaure, daß er durch die Art und Weise der Diskussion die Chance verringert hat, dieses brisante Thema nüchtern und in Ruhe zu erörtern.
({13})
Die heftige Kritik an dieser Äußerung kann nicht von dem Sachverhalt ablenken, daß sich Lohnerhöhungen grundsätzlich am Produktivitätszuwachs orientieren müssen. Tun sie es nicht, muß die Rechnung an anderer Stelle bezahlt werden: entweder durch Inflation oder durch staatliche Transferleistungen und vor allem durch den Verlust von Arbeitsplätzen. Das eine wie das andere ist auf Dauer nicht zu verantworten. Ökonomische Gesetze können nicht durch Beschlüsse des SPD-Präsidiums außer Kraft gesetzt werden.
({14})
Herr Kollege Lafontaine, mit besonderer Aufmerksamkeit habe ich Ihren Vorschlag zum Investivlohn gehört. Vor 25 Jahren hat in diesem Haus Erwin Häussler, hat Thomas Ruf, haben andere einen Investivlohn vorgeschlagen und ein konkretes Konzept erarbeitet.
({15})
Nicht ein Appell an die Union ist zu diesem Thema notwendig, sondern eine Werbung bei den Tarifpartnern, vor allem bei den Gewerkschaften, die bisher Investivlöhne verhindert haben.
({16})
Die Menschen in den neuen Bundesländern haben einen Anspruch darauf, daß man ihnen keine falschen Hoffnungen macht, die dann um so bitterer enttäuscht werden.
({17})
Sie wollen guten Lohn für gute Arbeit und keine Spenden. Sie haben einen Anspruch darauf, daß wir alles tun, damit in den neuen Bundesländern neue, international wettbewerbsfähige Arbeitsplätze entstehen. Die Frage, ob im Interesse dieses Ziels nicht auch eine langsamere Angleichung der Löhne an das Westniveau vertretbar ist, halte ich für berechtigt.
Wir alle, im Westen wie im Osten, müssen aus dem Schneckenhaus unserer Status-quo-Mentalität heraus und müssen uns den globalen Herausforderungen, die von außen auf uns zukommen, auf die wir keinen Einfluß haben, stellen.
({18})
Die Bundesregierung hat den erforderlichen Mut zu unbequemen Entscheidungen bewiesen. Von den Maßnahmen zur Verbesserung der Standortbedingungen nenne ich nur beispielhaft das Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramm, das Standortsicherungsgesetz, das neue Arbeitszeitgesetz, die Bahnreform, die Postreform. Das alles sind wichtige Entscheidungen und richtige Projekte. Jetzt müssen sie durchgesetzt werden, denn unsere Konkurrenten auf den Weltmärkten lassen uns nur wenig Zeit. Hier können sich Länderregierungen ebenso wenig der gesamtstaatlichen Verantwortung entziehen wie die unterschiedlichen Mehrheiten von Bundestag und Bundesrat.
Alle bereits realisierten und noch geplanten Maßnahmen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft sind nur die halbe Antwort auf die
Ministerpräsident Erwin Teufel ({19}) Frage, wie wir aus der Krise herauskommen und wie wir vorhandene Arbeitsplätze sichern und neue schaffen. Auch der Bericht der Bundesregierung zur Zukunftssicherung des Standortes Deutschland gibt nur eine halbe Antwort, denn er geht auf die Technologiekrise kaum ein.
({20})
Die Strukturkrise - ich sage es noch einmal - ist aber nicht nur eine Kostenkrise; sie ist auch, zumindest partiell, eine Technologiekrise.
Man muß die Technologiekrise gewiß differenziert betrachten. In den großen klassischen Industrien gehörten oder gehören wir nach wie vor zur Spitzengruppe der Volkswirtschaften: im Automobilbau, dem Anlagenbau, dem Maschinenbau, in der Elektrotechnik, in der Umwelttechnik, der chemischen Industrie.
In den wichtigen Zukunftstechnologien, die die Entwicklung der Wirtschaft entscheidend bestimmen und die Grundlage für neue Industriezweige sein werden, ist Deutschland nur noch in wenigen Bereichen an führender Stelle, nämlich in der Telekommunikation und in der Industrieautomatisierung. In den meisten anderen Zukunftstechnologien sind wir zweitklassig geworden. Ich nenne wichtige Felder der Informationstechnik, etwa die Halbleiter- und Chipfertigung, die Computerfertigung, die Unterhaltungselektronik, Teilbereiche der Bio- und Gentechnologie, Teilbereiche von neuen Werkstoffen. In diesen Bereichen haben Japan und teilweise die USA hohe Weltmarktanteile, bis zu 90 %, und sie haben einen mehrjährigen Vorsprung.
Wenn Deutschland in diesen Schlüssel- und Querschnittstechnologien den Anschluß verpaßt, werden wir nicht genügend neue Arbeitsplätze schaffen können, um den beschriebenen Wegfall von Arbeitsplätzen ausgleichen zu können. Neue Technologien schaffen nicht nur neue Arbeitsplätze in der Produktion, sondern auch bei den hochwertigen Dienstleistungen.
Wir müssen viel konsequenter in technologische Zukunftsbereiche vorstoßen, in denen wir einen Rückstand haben, in denen wir aber gleichzeitig leistungsfähige Forschungseinrichtungen haben. Unsere Schwäche liegt ja nicht in der Grundlagenforschung, sondern unsere Schwäche liegt in der zu langsamen oder überhaupt versäumten Umsetzung von Forschungsergebnissen in neue, wettbewerbsfähige Produkte.
({21})
Deshalb haben wir in Baden-Württemberg mehr als 150 Technologietransferzentren geschaffen, die mit großem Erfolg insbesondere der mittelständischen Wirtschaft die neuesten Forschungsergebnisse für die Produktentwicklung und neue Produktionsverfahren vermitteln. Ich nenne vier Beispiele für erfolgversprechende Zukunftstechnologien:
Erstens. Wir brauchen in Deutschland und in Europa eine wettbewerbsfähige Informationstechnik- und Mikroelektronikindustrie. Sie weist von
allen Industriebranchen das größte Wachstum auf. Europa hat auf diesem Gebiet das größte Außenhandelsdefizit. Unsere Zukunftsstrategie muß heißen: Kooperation zwischen der öffentlichen Mikroelektronikforschung und einer privaten Mikroelektronikfertigung, die auf die Bedürfnisse der mittelständischen Anwenderindustrie ausgerichtet ist.
Zweitens. Kommunikationsindustrie. Die deutsche Telekom sollte möglichst schnell ein Breitbandkommunikationsnetz aufbauen. Forschung und Industrie sind gleichermaßen auf diese verbesserten Kommunikationsmöglichkeiten und auf eine gegenseitige Vernetzung angewiesen.
Drittens. Wir müssen in der Bio- und Gentechnik aufholen; denn sie gehört zu den wachstumsstärksten Zukunftsindustrien. Deshalb begrüße ich die Novellierung des Gentechnikgesetzes durch den Deutschen Bundestag, sehe aber die Gefahr, daß selbst diese relativ bescheidene Reform im Bundesrat noch verwässert wird.
Wir haben in Deutschland an Universitäten und Forschungsinstituten Spitzenleistungen in der Molekularbiologie und in der Gentechnik. Aber uns nutzt die beste Forschung nichts, wenn keine Umsetzung in Produkte in unserem eigenen Land erfolgt.
({22})
Während wir in Deutschland über Gefahren diskutieren, Ängste pflegen und Existenzgründer verschrekken, gibt es in den USA bereits weit mehr als 1 000 gen- und biotechnologische Produktionsanlagen.
Die Technikfeindlichkeit in Deutschland ist ein negativer Standortfaktor. Wir müssen sie durch eine vorurteilslose öffentliche Diskussion überwinden.
Viertens. Verkehrs- und Umwelttechnologie. Intelligente neue Computersysteme zur Verkehrslenkung müssen zu einem Exportschlager unserer Wirtschaft werden. Der Bundesverkehrsminister hat zu Recht 6 Milliarden DM aus dem Bundesverkehrswegeplan zur Förderung intelligenter Verkehrssysteme auf der Straße, Schiene und Schiffahrt vorgesehen. Staat und Industrie müssen jetzt die Chancen ergreifen, die damit verbunden sind.
Weltweit hohe Wachstumspotentiale sehe ich auch im Bereich moderner Umwelttechnologien, bei denen Deutschland heute noch führend ist. Auch dies ist ein Wachstumsmarkt, auf dem neue Arbeitsplätze entstehen.
Meine Damen und Herren, wenn wir auf dem Gebiet der Hochtechnologien vorne bleiben und Rückstände aufholen, dann brauchen wir zweierlei. Wir brauchen ausreichende Mittel für die Forschung. Gerade in Zeiten knapper Kassen dürfen wir die Forschung nicht vernachlässigen; denn Forschung legt die Grundlagen für die Arbeitsplätze von morgen.
({23})
Deshalb habe ich die Kürzung der Forschungsförderung im Bundeshaushalt nicht verstanden.
({24})
Ministerpräsident Erwin Teufel ({25})
Ich danke daher dem Bundeskanzler für seine Ausführungen in der heutigen Debatte.
Forschung und Entwicklung, ein Spitzenplatz bei Hochtechnologien und der Einstieg in neue zukunftsträchtige Bereiche kosten sehr viel Geld. Da können wir nicht gleichzeitig auch noch Arbeitsplätze in Wirtschaftsbereichen subventionieren, die international nicht mehr wettbewerbsfähig sind.
({26})
Beides übersteigt unsere Kraft und unsere finanziellen Möglichkeiten. Deshalb ist wirklich nicht einzusehen, daß wir bisher immer noch allein für die Kohle jährlich fast 10 Milliarden DM ausgegeben haben und in Zukunft 7 Milliarden DM Erhaltungssubventionen zahlen sollen.
({27})
Meine Damen und Herren, zu welchen Folgen diese Politik führt, möchte ich am Beispiel baden-württembergischer Energieversorgungsunternehmen deutlich machen. Die Energieversorgung Schwaben muß die hochsubventionierte deutsche Steinkohle, die 284 DM je Tonne gekostet hat, zum Weltmarktpreis von 75 DM je Tonne verkaufen. Wir sind Kohle-Exportland, weil wir keine Lagerkapazitäten mehr haben und weil wir am eigenen Bedarf vorbei deutsche Steinkohle beziehen müssen. Das Badenwerk produziert, um Kohle zu verbrauchen, nicht benötigten Strom, der dann zu Billigstpreisen in die Schweiz exportiert wird. Wer will eine solche Politik noch verantworten?
({28})
Wir haben in Deutschland die mit Abstand höchsten Strompreise Europas. Wir haben in Baden-Württemberg die höchsten Strompreise Deutschlands. Wir zahlen in Baden-Württemberg jetzt schon 1 Milliarde DM Kohlepfennig im Jahr. Dies ist ein negativer Standortfaktor für Deutschland und für Baden-Württemberg.
({29})
Warum kürzen wir nicht baldmöglichst die Kohleförderung um 20 % und setzen das eingesparte Geld stattdessen für die Förderung zukunftsträchtiger Technologien ein?
({30})
Herr Ministerpräsident, Sie haben ja, wie Sie wissen, nach der Verfassung unbeschränkte Redezeit. Gleichwohl ist in sechs Sekunden die Redezeit abgelaufen, die vereinbart ist.
Aber jetzt möchte der Kollege Conradi noch eine Zwischenfrage stellen.
({0})
Das wird von der Redezeit abgezogen.
Ministerpräsident Erwin Teufel ({1}): Bitte sehr, Herr Kollege Conradi.
Herr Ministerpräsident, könnten die von Ihnen zu Recht beklagten hohen Energiepreise in Baden-Württemberg etwas damit zu tun haben, daß die Landesregierung Baden-Württemberg in früheren Jahren sehr entschieden den Einstieg in die Kernenergie betrieben hat und jetzt auf einmal Überkapazität hat entgegen ihren Ankündigungen, das Licht gehe aus?
Ministerpräsident Erwin Teufel ({0}): Herr Kollege Conradi, das ist nicht wahr. Es ist zwar wahr, daß die Landesregierung von BadenWürttemberg unter dem SPD-Wirtschaftsminister Veit erstmals den Einstieg in die Kernenergie betrieben hat;
({1})
aber nicht die Kernenergie ist unsere teure Energie, sondern die Kohle, wie ich gerade an einem konkreten Beispiel bewiesen habe.
({2})
Meine Damen und Herren, zu dem Argument, an der Kohleförderung hingen rund 100 000 Arbeitsplätze, möchte ich bemerken, daß im Lande BadenWürttemberg alleine in der Metallindustrie in den letzten zwei Jahren 140 000 Arbeitsplätze abgebaut wurden.
({3})
Wenn unseren Unternehmern und Arbeitnehmern diese Folgen des Strukturwandels zugemutet werden, so muß dies im Prinzip auch für andere Länder und Branchen gelten.
({4})
Diese ökonomische Wahrheit sollten Sie, Herr Kollege Lafontaine, auch akzeptieren und mit uns umsetzen.
({5})
Natürlich sehe ich die Probleme in Nordrhein-Westfalen und im Saarland. Um ihre spezifischen Strukturprobleme zu lösen, soll ihnen weiter Geld zur Verfügung gestellt werden, aber vor allem für neue und zukunftsträchtige Arbeitsplätze, zeitlich begrenzt und degressiv gestaffelt.
({6})
Wenn wir unseren Rückstand bei den neuen Technologien aufholen wollen - das ist der zweite Punkt -, brauchen wir neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft, Politik und Wissenschaft. Wir brauchen eine bessere Verzahnung von Forschungs-, Technologie-, Wirtschafts- und Strukturpolitik. Wir haben viele Milliarden für die Erforschung modernster Technologien ausgegeben. Wenn sie dann anwendungsreif sind, stellen wir sie häufig genug ins Industriemuseum. Ich nenne nur beispielhaft den Schnellen Brüter, das hochauflösende Fernsehen, ich nenne die Magnetschwebebahn.
Erfreulicherweise gibt es auch positive Beispiele. Ich nenne den Airbus, ich nenne auch die ARIANE
Ministerpräsident Erwin Teufel ({7})
und die europäische Raketen- und Satellitentechnik.
In anderen Ländern funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Forschung, Politik und Wirtschaft auf dem Gebiet der Hochtechnologien jedenfalls erheblich besser als bei uns. Daraus müssen wir Folgerungen ziehen. Deshalb trete ich dafür ein, auf Bundesebene einen Sachverständigenrat für die Begutachtung der technologischen Entwicklung einzurichten. In den USA, dem klassischen Land der Marktwirtschaft, wird ganz selbstverständlich mit exakt einem solchen Beratungsgremium gearbeitet. Dieser Technologierat, den unsere Kommission „Wirtschaft 2000" vorschlägt, soll die Bundesregierung ressortübergreifend bei der Entwicklung einer zukunftsorientierten Wirtschafts- und Technologiepolitik beraten, eine öffentliche Diskussion über Zukunftstechnologien anstoßen - dringend nötig in unserem technikfeindlichen Land - und dadurch zu einer Bewußtseinsänderung beitragen.
({8})
Meine Damen und Herren, einen letzten Punkt möchte ich aus Zeitgründen nur noch kurz ansprechen. Wir exportieren - erfreulicherweise - fast 70 % in den Bereich der Europäischen Gemeinschaft und in den Europäischen Wirtschaftsraum. Wir haben die Hälfte an Export in die Vereinigten Staaten verloren. Wir haben nur einen sehr geringen Anteil - 7 %, 9 % - in Ostasien und in Südostasien, wo die Musik spielt und wo wir noch Wachstumsraten in zweistelliger Größenordnung haben.
Ich begrüße deshalb ganz außerordentlich das Asien-Konzept der Bundesregierung.
({9})
Es muß jetzt umgesetzt werden und darf auch nicht an finanziellen Gründen scheitern. Ich begrüße, daß sich die deutschen Botschaften anders als vor fünf oder zehn Jahren nun nicht zu schade dafür sind, aktiv Wirtschaftsförderung für unser Land zu betreiben. Wir müssen stärker Fuß fassen.
({10})
Unsere Regierung, die fast singulär für freien Welthandel eintritt, muß auf voller Gegenseitigkeit bestehen. Die deutsche Automobilindustrie hat beispielsweise völlig zu Recht darauf hingewiesen, daß im letzten Jahr aus Korea 33 282 Kraftfahrzeuge nach Deutschland importiert worden sind und ganze 367 deutsche Pkws nach Korea hineingelassen worden sind. Auch an diesen Stellen muß dringend angesetzt werden.
({11})
Meine Damen und Herren, im Chinesischen gibt es für „Krise" und „Chance" dasselbe Schriftzeichen. Wir haben es in der Hand, ob wir die Chancen der Krise nutzen. Sie liegen nicht zuletzt in neuen Technologien und auch in neuen Märkten, die wir erschließen müssen.
({12})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Thierse.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vorweg muß ich sagen, daß ich richtig gerührt bin, wie besorgt, liebe Kollegen von der CDU, Sie um meine Redezeit waren. Ich hoffe, Sie sind auch am Schluß der Rede noch der Meinung, daß diese Besorgnis berechtigt war.
Zur Sache. Der Standortbericht der Bundesregierung ist ein Dokument des Scheiterns. Er dokumentiert, daß sich selbst nach Meinung der dafür verantwortlichen Regierung unsere Wirtschaft in einem jammervollen Zustand befindet.
({0})
Den Menschen in Ost- und in Westdeutschland kann man vor allem eine wichtige Konsequenz aus dem Standortbericht nicht oft genug sagen: Nicht die Einheit ist die Ursache unserer gesamtwirtschaftlichen Probleme. Nichts, aber auch rein gar nichts hat die wachsende Arbeitslosigkeit an der Ruhr, in Schweinfurt oder Sindelfingen mit den Folgen der Einheit zu tun. Sie ist hausgemacht.
({1})
Die Ursachen liegen weiter zurück als nur drei Jahre. Sie haben mit dem Zustand zu tun, in dem sich die Gesellschaft und Wirtschaft unter einer konservativ-liberalen Regierung befinden. Die Wirtschaft hat eine dienende Funktion. Die wirtschaftliche Leistungskraft kann immer nur so gut sein, wie die Verfassung der Gesellschaft ist, die die Leistung erbringen soll.
Herr Kollege Thierse, der Kollege Schäuble würde gerne eine Frage stellen.
Bitte schön.
Herr Kollege Thierse, da Sie gerade von der Einheit gesprochen haben, von der Sie gesagt haben, daß sie nicht schuld an unseren Problemen sei Wolfgang Thierse ({0}): An diesen!
- an diesen Problemen -, würde ich Sie gerne fragen, ob Sie unter „Einheit" das verstehen, was der Ministerpräsident des Saarlandes hier als Einheit definiert hat, der ausweislich des Protokolls gesagt hat: „Ich habe unter ,Einheit' verstanden, daß alle Menschen in Ost und West die Möglichkeit haben, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und Arbeit zu finden", oder ob Sie nicht mit mir der Meinung sind, daß „Einheit" etwas mehr als nur die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben war.
({0})
Herr Kollege Schäuble, ich bin gerne bereit zu sagen, daß Arbeit zu haben und auf dieser Basis am Leben dieser gemeinsamen Nation voll teilnehmen zu können, an dem politischen, an dem kulturellen Leben, die Freiheiten zu genießen, die wir DDR-Bürger errungen haben, für mich allerdings zentraler Punkt dieser Einheit ist.
({0})
Herr Bundeskanzler, Sie haben eine Generalinventur der deutschen Gesellschaft gefordert. Deren Ergebnis ist - das muß man nun allerdings sagen -: Wir sind staatlich vereinigt, aber sozial und auch emotional gespalten. Die Verfassung unserer Gesellschaft ist schlecht. Sie ist geprägt von vielfältigen Spaltungen, vom Gegeneinander, von Zukunftsängsten, von Verteilungskämpfen. Das ist ganz wesentlich einem Mangel an politischer Führung geschuldet, Führung als Verläßlichkeit, wie sie Helmut Schmidt einmal praktiziert hat. Das Gegenteil ist heute der Fall.
Wenn es Anzeichen für eine geistig-moralische Wende gibt, dann allerdings höchst gefährliche. Das Vertrauen in die Gestaltungsfähigkeit, ja den Gestaltungswillen von Politik geht verloren. Partikularegoismen feiern fröhliche Urständ. Wohlstandschauvinismus ist anzutreffen. Die Ungerechtigkeit ist gewachsen, Entsolidarisierung nimmt zu. Eine Mehrheit der Bevölkerung verliert das Gefühl, daß sich ihre Leistung wirklich lohnt. Der ökonomische Attentismus der Regierenden führt zu gesellschaftspolitischer Stagnation, zu Perspektivlosigkeit der Regierten.
Elf Jahre lang hat sich diese Regierung nicht darum gekümmert, daß wir eine Gesellschaft sind und bleiben müssen, in der sich Geben und Nehmen die Waage halten,
({1})
in der Gerechtigkeit und Zusammengehörigkeit, in der sozialer Friede gepflegt werden müssen, auch weil sozialer Friede eine Produktivkraft ist.
({2})
Es ist eine armselige Propaganda, jetzt plötzlich im Nationalgefühl das Heil zu suchen. Nicht durch das Hissen vieler schwarz-rot-goldener Fahnen und den nationalistischen Appell an die Identität wird die Bereitschaft zu neuer Anstrengung geweckt - die Zeiten sind in Deutschland hoffentlich vorbei, daß dies so einfach funktioniert -, sondern durch Gerechtigkeit, sozialen Frieden und eine am Ergebnis statt an einer reinen Lehre orientierten Wirtschaftspolitik.
({3})
Nur mit Symbolen anstelle von Taten geben sich die Wähler nicht zufrieden. So dumm sind die Menschen auch in Ostdeutschland nicht, um das nicht zu bemerken.
Nicht einmal die ungeheure Begebenheit der deutschen Vereinigung wurde genutzt, um den schon fast lethargischen Zustand in unserem Lande zu ändern. Die Chance, die sich 1989/90 für eine Mobilisierung eines innovativen Neuanfangs bot, Sie haben sie
ausgeschlagen. Eine Verwaltungsreform, eine Überprüfung des Bildungssystems, ein neues wirtschaftspolitisches Konzept hätten begonnen werden können.
Die gewachsenen strukturellen Probleme Westdeutschlands brechen nun auf. Ohne den kurzen, aber heftigen Einheitsboom wären sie drei Jahre früher schon viel deutlicher geworden. Jetzt aber wird die Überwindung der Arbeitslosigkeit im Westen genauso zu einem Teil der Herausforderung, gleiche Lebensverhältnisse in Deutschland zu schaffen, wie die Lösung der ostdeutschen Probleme selbstverständlich der andere Teil der Herausforderung ist.
Die Analyse der Ursachen der ökonomischen Probleme verbietet es, die Menschen in Ost- und Westdeutschland weiter gegeneinander auszuspielen. Das ist zerstörerisch, es ist auch sachlich falsch.
({4})
Ich will ausdrücklich sagen - das ist meine Grundüberzeugung, die ich seit drei Jahren immer wiederhole -: Die ostdeutschen Probleme sind nur gesamtdeutsch zu lösen oder gar nicht.
({5})
Dies sage ich auch adressiert an Ostseparatistenparteiungen, die auf schäbige Weise ein gefährliches Spiel mit ostdeutschen Enttäuschungen treiben.
({6})
Aber ich füge hinzu: Ostdeutsche Probleme zu lösen ist, weil ein Gewinn für Gesamtdeutschland, auch ein Gewinn für die Westdeutschen.
({7})
Ich kann deshalb nur an diejenigen appellieren, die die Einheit seit drei Jahren immer nur als Belastung und Gefährdung und Kostenfaktor diskutieren: Hören Sie auf damit!
({8})
Von Flensburg bis Passau, von Saarbrücken bis Greifswald sollten wir endlich begreifen: Wir haben eine große Aufgabe, aber nur gemeinsam können wir die wirtschaftliche Modernisierung und einen Neuanfang in Ostdeutschland schaffen.
({9})
In egoistischen Verteilungskämpfen um vermeintliche oder tatsächliche Besitzstände zwischen Ost und West werden wir scheitern. Nötig ist eine andere Politik. In der DDR haben wir uns 40 Jahre lang auf bessere Zeiten vertrösten lassen müssen. Der oft langweiligen, entmutigenden und entsagungsvollen Gegenwart wurde die Verheißung einer leuchtenden Zukunft entgegengestellt: Morgen werde es besser gehen.
Und heute? Die blühenden Landschaften kommen eben später, sagt der Parteivorsitzende der CDU. Herzlichen Dank, Herr Bundeskanzler, diese Melodie
kennen wir schon zur Genüge. Damit ist es nicht getan.
Die Männer und Frauen in Ostdeutschland wollen weder Versprechungen noch Vertröstungen auf bessere Zeiten. Was sie wollen, ist Arbeit und die für sie angemessene Bezahlung.
({10})
Sie wollen für sich selber sorgen und zum gesamtdeutschen Wohlstand ihren eigenen Beitrag leisten. Sie wollen einen Lohn, mit dem sie auskommen in einer Welt, in der zu leben fast genauso teuer ist wie in Westdeutschland.
({11})
Niemand muß den Ostdeutschen heute noch erklären, daß der Zusammenhang zwischen Löhnen und Produktivität nicht vollständig zerstört werden darf. Sie wissen, daß das nicht funktionieren würde, und akzeptieren erheblich niedrigere Tariflöhne. Vergessen Sie doch nicht, daß die Tarifabschlüsse für Ostdeutschland unter der politischen Vorgabe eines einheitlichen Marktes und sich immer weiter angleichender Preisstrukturen erfolgten. In diesem Rahmen entscheiden die Menschen, ob Unternehmer oder Arbeitnehmer, mit ihren Organisationen selbst, welche Bezahlung angemessen ist.
Die Tarifautonomie ist ein kostbares Gut dieser Gesellschaft, und daran lassen wir nicht rütteln. Die Höhe der Löhne richtet sich aber nicht nur nach der Produktivität. Die Tarifpolitik war auch immer eine Politik, die den Menschen ermöglichen wollte, in ihrem Lebensumfeld zu bleiben. Deshalb darf die Angleichung der Lebensverhältnisse als Ziel nicht aufgegeben werden. Sie bedeutet nicht bloß, daß Preise und Einkommen im Osten an die des Westens angeglichen werden. Es geht eben vielmehr um Lebenschancen, um die Würde der Menschen schlechthin.
Vielleicht schauen Sie auf der Regierungsbank einmal im Grundgesetz, aber auch in Ihrem eigenen Parteiprogramm nach, welchen Rang dort die Menschenwürde hat. Diesen Rang muß sie auch wieder in der politischen und gesellschaftlichen Realität erhalten.
(
Das brauchen Sie uns nicht zu sagen, Herr Thierse, uns nicht!)
Dem muß auch die Wirtschaft dienen. Dafür lohnt sich jede Anstrengung.
Wenn ich von den Lebensverhältnissen rede, will ich ausdrücklich hinzufügen - ich hoffe, das ist unstrittig -: Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen, eine Zukunft in Arbeit ist Kern der Lebensverhältnisse und ihrer Angleichung.
({0})
Angleichung der Lebensverhältnisse darf doch nicht
heißen, daß wir uns in der Arbeitslosigkeit vereinigen.
Ich will nur darauf hinweisen, daß die Arbeitslosigkeit
im Westen Deutschlands im Moment schneller wächst als im Osten, wo sie viel höher ist.
Wenn Kern der Lebensverhältnisse ist, Arbeit zu haben und Arbeit zu bekommen, dann ist auch klar, daß die Anstrengung um Arbeitsplätze, um die Zukunft in Arbeit, das vorrangige Ziel von Politik schlechthin ist.
({1})
Dann ist auch klar, daß demgegenüber alle anderen Ziele unausweichlich nachrangige sind, auch was das Tempo und die konkreten Schritte der Einkommensangleichung angeht. Das ist selbstverständlich.
Ich will als ostdeutscher Politiker ausdrücklich sagen: Wenn wir Ostdeutschen, weil es nicht anders geht, zustimmend den Westdeutschen zumuten, zur Bewältigung der wirtschaftlichen Krise und auch der Probleme des Aufbaus im Osten mit Einkommenseinbußen fertig zu werden, dann bin ich auch bereit, meinen ostdeutschen Landsleuten zu sagen, daß unser Beitrag wahrscheinlich darin besteht, Geduld zu entwickeln.
({2})
- Entschuldigen Sie, das ist nun kein sehr origineller Zwischenruf. In diesem Punkt stimme ich mit Oskar Lafontaine überein, wie Sie vielleicht nicht bemerkt haben.
({3})
Wenn wir den Westdeutschen Einbußen zumuten, dann können wir Ostdeutschen uns unseren solidarischen Beitrag, Geduld aufzubringen, auch selber zumuten. Das gibt es ja jetzt schon: Wir haben differenzierte Lohnangleichungsprozesse. Es gibt eine Verlangsamung des Prozesses. Dies ist akzeptierte Realität der Ostdeutschen. Wir, Ost- und Westdeutsche, haben uns dann allerdings eine andere Art von Solidarität zuzumuten, nämlich die Solidarität derer, die Arbeit haben, mit denen, die keine Arbeit haben.
({4})
Wir müssen also eine breite gesellschaftliche Debatte darüber führen, wie wir die zu knappe Arbeit gerechter unter denen verteilen, die Arbeit haben wollen. Dies scheint mir eines der zentralen Themen auch unter der Überschrift Standort Deutschland zu sein.
Würde die Arbeit auf gerechte Weise verteilt, gewönnen alle: die einen mehr Zeit für die Entfaltung anderer Wesenszüge als die von Arbeitskräften und Konsumenten, die anderen könnten damit ihr gesellschaftliches Ausgeschlossensein überwinden.
({5})
- Es ist schon interessant, daß Sie, lieber CDU-Kollege, sofort immer an den Staat und an ein Amt denken. Ich habe über eine große gesellschaftliche Debatte über gerechtere Verteilung von zu knapper Arbeit gesprochen und nicht vom Dirigieren.
({6})
Sie wissen doch auch - oder wissen Sie das nicht? -, daß Massenarbeitslosigkeit Armut bedeutet. Angesichts unseres Bruttosozialprodukts und des vorhandenen privaten Geldvermögens von fast 3 000 Milliarden DM, wie die Bundesbank mitteilte, ist es unerträglich, daß wir uns wachsende Armut und Altersarmut leisten. Eine Gesellschaft, die sich so verhält, versagt vor ihren eigenen Möglichkeiten und Ansprüchen.
Die Sicherung der Renten für alle in Ost und West nach denselben Kriterien ist ein wesentlicher Beitrag zum Schutz der Menschenwürde im Alter.
({7})
Ich bin stolz auf den nicht ganz unwesentlichen Beitrag, den die SPD zum Renten-Überleitungsgesetz leisten konnte.
({8})
Die gleiche Würde und die gleiche Freiheit, das sind gesellschaftliche Ziele. Sie zu erreichen fällt bei einem hohen Bruttosozialprodukt viel leichter als bei einem niedrigen.
Das Gebiet der ehemaligen DDR liegt um 40 % unter dem durchschnittlichen Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt der Europäischen Gemeinschaft und ist damit nicht nur die ärmste Region in Westeuropa, sondern unter den armen Regionen auch noch die größte zusammenhängende Region. Betroffen sind knapp 16 Millionen Menschen. Diese Menschen sind in den letzten Jahren Zumutungen ausgesetzt worden, die niemand ermessen kann, der das nicht selbst erlebt hat.
Für die Kohle- und Stahlarbeiter in Nordrhein-Westfalen und an der Saar ist ihre drohende oder schon eingetretene Arbeitslosigkeit aber genauso schlimm wie für jeden Ostdeutschen. Ich bin mir sicher, jeder möchte einen aus eigener Kraft gesicherten Arbeitsplatz und nicht einen, den er nur auf Kosten eines Nachbarn - egal, ob Tscheche oder Westdeutscher - erhalten kann.
Aber in Ostdeutschland gingen nicht Hunderttausende von Arbeitsplätzen, sondern vier Millionen verloren. Diese Entwicklung ist noch nicht zu Ende. Sie wird in der veröffentlichten Meinung weitgehend mit Schulterzucken hingenommen. Bei diesen Zahlen aber schlägt Quantität gesellschaftspolitisch in Qualität um.
Wie lautet die Antwort der Bundesregierung auf diese Entwicklung? Sie antwortet mit einer Kürzung und Befristung der Leistungen für Arbeitslose. Den Ostdeutschen gibt sie noch mit auf den Weg: Da es dort so viele Doppelverdiener gebe, trete ein Absinken des Familieneinkommens unter die Sozialhilfegrenze meistens nicht ein, solange nur ein Familienmitglied arbeitslos werde. - So Bundesfinanzminister Waigel vor dem Bundesrat am 24. September.
({9})
Wenn das die Perspektive für Ostdeutschland ist, so ist sie an Zynismus kaum zu überbieten.
({10})
Wer so redet, hat die Dramatik der Lage nicht begriffen und legitimiert ein Armenhaus Ostdeutschland. Die Regierung verlagert die Verantwortung für die Bewältigung gesellschaftlich verursachter Not in die private Sphäre der betroffenen Familien. Vom Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland bleibt da nicht so sehr viel übrig. Ich halte dies immer für die falsche Antwort.
Schlaglichtartig wird klar, was mit Deregulierung gemeint ist. Semantisch verspricht der Begriff mehr Eigenverantwortung und mehr Freiheit, aber im Ergebnis wird daraus größere soziale Not. Es ist auch wirtschafts- und gesellschaftspolitisch Unsinn, den Staat aus dem wirtschaftlichen Geschehen zurückzuziehen.
Haben wir denn aus den ersten Monaten und Jahren der deutschen Einheit nichts gelernt? Beweist nicht gerade der Transformationsprozeß in Ostdeutschland Tag für Tag aufs neue, daß wir ohne staatliche Aktivität die neuartigen Probleme niemals in den Griff bekommen? Der Markt kann diese Probleme nicht allein lösen.
Herr Kollege Thierse, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gallus?
Ja.
Herr Kollege Thierse, ich habe viel Verständnis für die Nöte unserer Menschen im Osten. Aber möchten Sie nicht wenigstens zugeben, daß wir uns bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft bemühen zu helfen?
In drei Jahren sind 500 Milliarden DM von West nach Ost transferiert worden, und die Rentenanpassung vollzieht sich in hohem Tempo. Bei einer Inanspruchnahme von 1,97 Renten pro Familie im Osten und von 1,2 im Westen sind die Renteneinkommen pro Familie heute im Osten bei den 80 %, die dort erreicht worden sind, teilweise schon höher als im Westen. Das muß doch auch von Ihnen als Leistung dieser Bundesregierung anerkannt werden.
({0})
Ich bin gern zu Dankbarkeit bereit. Aber dann will ich die Dankbarkeit auch richtig adressieren: an die Versicherungszahler im Westen,
({0})
an jene, die die Rentenversicherungsbeiträge gezahlt haben, von denen im Osten Deutschlands die Renten bezahlt werden. Dazu bin ich gerne bereit.
Ich werde noch auf den Punkt zurückkommen, daß die außerordentlichen Finanztransferleistungen, die zu einem guten Teil von den Steuerzahlern erbracht werden, künftig effektiver und mehr für die Schaffung von Arbeitsplätzen eingesetzt werden sollten, mehr für Investitionen und weniger für Konsumtion. Das ist wieder ein Punkt, an dem ich mit Oskar Lafontaine übereinstimme. Öffentlich habe ich das immer so gesagt. Das ist gar nicht der Streitpunkt.
Nur: Wenn Sie von mir Dankbarkeit verlangen
({1})
- oder Anerkennung -, dann zwingen Sie mich zu einer kleinen polemischen Nebenbemerkung, die ich nicht machen wollte. Dann müssen wir gelegentlich auch darüber reden, was in den ersten drei Jahren der deutschen Einigung an Umverteilung von Ost nach West stattgefunden hat: Arbeitskräfte, Arbeitsplätze, Gewinne.
({2})
Damit die Dankbarkeit auch wechselseitig ist, müßten wir dann ebenso über den Boom reden, der bei der westdeutschen Wirtschaft durch die Einheit erzeugt worden ist.
Überall in kapitalistischen Staaten, meine Damen und Herren, bestimmt die Politik in hohem Maße darüber mit, welche Art von Wirtschaft an welchem Ort gewünscht und aussichtsreich sein soll. Wir brauchen eine Wirtschaftspolitik, die verläßliche Rahmenbedingungen schafft.
({3})
- Die Bezeichnung ist etwas älter. Ich halte sie noch nicht für ganz veraltet.
({4})
Durchdachte politische Vorgaben, die nicht alle paar Monate geändert werden müssen, sind nötig. Das erleichtert den notwendigen Konsens zwischen Wirtschaft, Gewerkschaften, Wissenschaft und den anderen, die am Wirtschaftsleben unmittelbar beteiligt sind. Die Scharniere zwischen Wirtschaftsentwicklung und Ausbildung, zwischen Forschung und Produktentwicklung müssen wiederhergestellt werden. Das entläßt die Industrie nicht aus ihrer Verantwortung. Unternehmerische Verantwortung muß wahrgenommen werden. Das geschieht nicht, wenn auf die Entwicklung zukunftsfähiger Produkte verzichtet wird, weil die staatliche Förderung nicht hoch genug erschien. So etwas soll vorgekommen sein. Das ist die unheilvolle Subventionsmentalität, von der öffentlich gesprochen werden muß. So etwas richtet mehr Schaden an als aller Mißbrauch sozialer Leistungen zusammen. Die Arbeitslosen bezahlen für diese Art unternehmerischer Verantwortungslosigkeit die Rechnung.
Die Entwicklung und Markteinführung neuer Produkte und verbesserter Produktionsverfahren ist Aufgabe des Managements. Was denn sonst? Es ist sinnvoll, wenn der Staat sie dabei unterstützt. Aber das kann nicht die Bedingung dafür sein, daß unsere Wirtschaftsführer ihre Hausaufgaben machen.
({5})
Es ist ein schlimmer Fehler - darüber ist heute schon mehrfach gesprochen worden -, daß Forschungs- und Technologiepolitik vom Zentrum, wo sie hingehört, an den Rand der Politik gedrängt worden ist. Es gibt nahezu keine unabhängige Forschungseinrichtung in Westdeutschland, die nicht ganz oder überwiegend von öffentlicher Förderung lebt. Vor diesem Hingergrund ist die Politik, Forschungs- und Entwicklungsabteilungen ostdeutscher Betriebe auszugründen und auf den freien Markt zu entlassen, ein wesentlicher Grund für den Niedergang der ostdeutschen Forschungslandschaft. Von 75 000 Beschäftigten in der Industrieforschung Ende 1989 in der DDR sind vor einem Dreivierteljahr noch 15 000 übrig gewesen. Der Abbau weiterer 9 000 Stellen wurde bis Ende 1993 allgemein prognostiziert.
Forschung und Entwicklung gehören zum Kern produktiver Entwicklung. Wer diesen Bereich so kaputtsaniert, dem kann die Absicht zur Erhaltung industrieller Kerne, zur Standortsicherung und Zukunftsorientierung einfach nicht mehr geglaubt werden.
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Sie wissen, daß bereits 1991 ein großes Stück Deindustrialisierung in Ostdeutschland stattgefunden hatte. Auf der Basis dieses Jahres 1991 hat Brandenburg bis heute etwa 61 % an Industriearbeitsplätzen verloren, Mecklenburg-Vorpommern 47 %, Sachsen-Anhalt 50 %, Sachsen 59 % und Thüringen sogar 69 %.
Von ca. 4 Millionen Industriearbeitsplätzen in Ostdeutschland sind gerade mal 700 000 übriggeblieben. Das macht den qualitativen Unterschied zwischen West- und Ostdeutschland aus: Während es im Westen um Konjunktur- und Strukturpolitik zur Anpassung der Wirtschaft an neue internationale Wettbewerbsbedingungen geht, einer Wirtschaft, die doch fraglos auf hohem Niveau funktioniert, geht es in Ostdeutschland heute um den Neuaufbau eines produktiven Sektors, um Neuindustrialisierung.
Das bedeutet: Wir brauchen massive Markthilfe für die ostdeutschen Produktionsbetriebe. Wir müssen ihnen Zeit kaufen, um die verlorenen Märkte zurückzuerobern und andere gewinnen zu können. Wir wollen den Betrieben befristete und degressive Hilfen, z. B. Lohnkostenzuschüsse, geben, um diesen Zeitgewinn zu erreichen.
Wir können es uns einfach nicht mehr leisten, die restlichen Produktionsstätten in den neuen Ländern auch noch abzuwickeln. In viel zuvielen Regionen dort ist bereits alles verschwunden. Ein Neuaufbau aber ist wesentlich schwieriger, langwieriger und auch nicht so aussichtsreich wie der Versuch, um bestehende Produktionsstätten herum zusätzliche Betriebe anzusiedeln oder die bestehenden allmählich wieder auszuweiten.
Vor diesem Hintergrund sage ich meinen ostdeutschen Landsleuten in aller Deutlichkeit: Niemand, auch nicht die SPD, kann die Versprechungen einhalten, die Bundeskanzler Kohl 1990 gegeben hat. Sie waren damals Illusion, und sie sind es nach drei Jahren seiner Wirtschaftspolitik erst recht.
({7})
Ich empfinde es als skandalöse Perfidie, wenn eine Wochenzeitung mit der Frage aufmacht „Können wir uns den Osten noch leisten?"
({8})
Wir müssen ihn uns leisten. Er ist ein Teil Deutschlands wie Ruhr und Saar. Niemand fragt aber: Können wir uns die Saar oder die Ruhr noch leisten? Was wäre das auch für eine Frage, als ob man Menschen, die jahrzehntelang ihre Arbeit geleistet haben, nun einfach abschaffen könnte! Mich widert diese journalistische Fehlleistung an.
({9})
Müssen wir Ostdeutsche uns immer wieder sagen lassen, daß wir in Deutschland eine Minderheit sind und folglich auch nur Minderheitenforderungen stellen dürfen?
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- Ich adressiere doch nicht an Sie.
(
Aber Sie reden so, als täten Sie es!)
- Nein, Herr Bundeskanzler, ich kann nichts dafür, wenn Sie sich an der falschen Stelle getroffen fühlen. Ich habe den Vorwurf an eine bestimmte Zeitschrift adressiert, die seit drei Wochen öffentlich Meinung macht.
Herr Kollege, würden Sie dann bitte zum Schluß kommen.
Ich komme sofort zum Schluß.
Ich meinte „Die Woche"; ich wollte nur nicht auch noch Reklame machen.
Wir wollen uns diesen Osten leisten können, und wir wollen - das sage ich als Ostdeutscher - nicht Tag für Tag erleben, daß wir als Minderheiten angesehen werden, die auch nur Minderheitenforderungen zu stellen haben.
Es kann keineswegs als politischer Anspruch genügen, daß sich die Menschen bescheiden müssen. Den Männern und Frauen in Ostdeutschland geht es längst nicht mehr um höhere Löhne um jeden Preis. Wo immer ich mit ihnen rede - ich tue das ziemlich oft - stimmen sie mir zu, daß das wichtigste Ziel Arbeit ist. Dem ordnet sich alles andere unter.
Ganz Deutschland wird davon profitieren, wenn es gelingt, den Ostdeutschen Arbeit im Sinne Oskar Lafontaines zu geben, der sagt: Wir müssen die Chance des industriellen Neuanfangs in Ostdeutschland dafür nutzen, dort eine hochleistungsfähige und innovative Industriestruktur aufzubauen, die in der Welt ihresgleichen sucht. Das ist uns nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland gelungen, das muß uns jetzt in Ostdeutschland gelingen. Mit Freude werden sich die Ostdeutschen, nein, die Deutschen insgesamt, daran beteiligen, denke ich.
({0})
Das Wort hat nun Herr Bundesminister Rexrodt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wir über den Standort Deutschland sprechen, dann geht es nicht um einen abstrakten Begriff, sondern es geht um Menschen, und es geht um die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen. Es geht um die Erhaltung unseres Wohlstands, und es geht um den Sozialstaat Deutschland.
Um Arbeitsplätze und Wohlstand zu schaffen, müssen drei Dinge gewährleistet sein - diese müssen, Herr Thierse, im Osten und im Westen gleichermaßen gewährleistet sein -: Erstens. Unsere Produkte müssen auf internationalen Märkten wettbewerbsfähig bleiben oder wettbewerbsfähig werden. Zweitens. Deutschland muß ein attraktiver Investitionsstandort bleiben. Drittens. Wir müssen die Leistungsfähigkeit und die Dynamik unserer Unternehmen, ihre innere Stärke, ihre Performance, festigen.
Wenn ich von der Wettbewerbsfähigkeit der Produkte spreche, dann geht es sicherlich um technische Standards, um Forschung und Innovation, um Qualität und Lieferbedingungen, aber es geht auch um Kosten. Ich sage: auch um Kosten, denn Kosten sind in dieser Diskussion für viele ein Reizwort.
({0})
Aber es geht neben anderem um diese Kosten. Es geht vornehmlich sicherlich um Lohnkosten und Lohnzusatzkosten, aber nicht nur um diese, sondern auch um Steuern und Abgaben, um Kosten der Administration, der Regulierung, um Energiekosten und vieles andere mehr.
Wenn ich den Investitionsstandort Deutschland anspreche, dann geht es neben den Kosten um unsere Infrastruktur, um unsere Ausbildungsstandards, um unser Verhältnis zur Technik, um unsere Konsensfähigkeit, und dies immer im Verhältnis zu konkurrierenden Standorten, von denen es in der Welt immer mehr gibt.
Wenn ich vom Investitionsstandort Deutschland spreche, dann müssen wir uns auch bewußt sein, daß dieser Standort im Osten und im Westen noch unterschiedliche Bedingungen aufweist. Herr Thierse, es hört sich zunächst überzeugend an und ist einsichtig, wenn Sie sagen, Sie akzeptierten, daß eine Beziehung zwischen Löhnen bzw. Gehältern und Produktivität gegeben sein muß, aber dies könne nicht alles sein, sondern es komme darauf an, den Menschen Arbeit zu geben, den Menschen ihre Würde zu belassen und den Menschen eine Perspektive zu geben.
Das ist alles richtig. Aber beides in praktischer Politik zu verbinden ist ein schwieriges Unterfangen. Da muß man klare und harte ökonomische Entscheidungen treffen, da muß man Perspektiven vorlegen, und da muß man auch, wie Sie es selbst sagen, Geduld haben. Es geht nicht so schnell - wir haben uns alle getäuscht -, wie wir erwartet haben. Dafür gibt es verschiedene Gründe, hausgemachte Gründe und Gründe, die von außen kommen.
Ich wäre sehr froh, wenn den Menschen auch und gerade im Osten unseres Landes deutlich würde, daß in der Standortdiskussion, die wir heute führen, eben nicht abstrakte Begriffe diskutiert werden, sondern daß es darum geht, die Grundlagen und Vorausset15692
zungen dafür zu schaffen, daß die Angleichung und Anpassung schnell vorankommt, und daß wir die Grundlagen dafür erwirtschaften wollen, um die Transfers, die auf absehbare Zeit noch notwendig sind, zu erwirtschaften. Daran führt kein Weg vorbei.
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Den dritten Punkt, den ich ansprechen möchte und der für Ost und West gleichermaßen gilt, ist die Stärke der Wirtschaft, ihre innere Kraft, ihre innere Dynamik. Sie entscheidet darüber, ob Beschäftigungsmöglichkeiten erhalten und geschaffen werden können. Unser Standortbericht und unser Programm zur Zukunftssicherung des Standortes Deutschland ist langfristig angelegt, eröffnet aber auch Spielräume, mit denen wir die Rezession und die aktuellen Probleme im Osten Deutschlands kurzfristig überwinden wollen.
Daß wir mit unserer Politik vorankommen, sehen Sie auch daran, daß die konjunkturelle Entwicklung, daß die Zinsentwicklung auf den Weltmärkten eine Entscheidung in Richtung auf eine Entlastung der Wirtschaft erlaubt, die Schritt für Schritt schon vorgeprägt ist und die die Bundesbank heute noch einmal mit großer Entschiedenheit und Deutlichkeit getroffen hat, nämlich eine Senkung des Diskontsatzes von 6,25 % auf 5,75 % und des Lombardsatzes ebenfalls um ein halbes Prozent.
Das sind wichtige, entscheidende Schritte, die wir machen, um aktuelle Probleme zu lösen und damit auch langfristig voranzukommen.
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Meine Damen und Herren, wir sind uns, was die Analyse der Probleme im Westen und im Osten angeht, erstaunlich ähnlich, auch mit Teilen der Opposition. Wir sind uns sogar ähnlich in vielen Maßnahmen der Therapie, wenn man das Wortgeklingel wegläßt und die unterschiedlichen Grundpositionen durchschimmern.
Meine Damen und Herren, Sie von der Opposition sind in Ihrer Analyse und Ihren Handlungsvorschlägen ein geschlossenes Konzept schuldig geblieben. In entscheidenden Grundfragen sind Sie gespalten und nicht handlungsfähig. Forsche Sprüche können darüber nicht hinwegtäuschen.
Ihr Ansatz ist resignativ. Sie setzen beispielsweise auf eine Abwertung der D-Mark. Ich sage: Nur mit Vertrauen in die D-Mark mobilisieren wir Kapital und stärken wir die Investitionsbereitschaft. Sie wollen die Arbeitslosigkeit mit pauschalen Arbeitszeitverkürzungen bekämpfen. Das Gegenteil ist richtig: Wenn es Schwierigkeiten gibt, muß man länger arbeiten oder weniger arbeiten, dann aber nicht bei vollem Lohnausgleich.
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Resignativ ist auch eine Politik, die glaubt, unsere Beschäftigungsprobleme nachhaltig über eine Ausweitung des subventionierten Arbeitsmarktes lösen zu können. Hier gibt es Teil- und Übergangslösungen, die aber jeweils auf ihre Gefahren untersucht werden müssen. Wir sind dabei im übrigen auch für unkonventionelle, aber durchdachte Maßnahmen offen, jedoch nicht für Aktionismus oder solche Maßnahmen, die nichts bringen, sondern nur aus politischer Opportunität geboten zu sein scheinen.
Wer wollte leugnen, daß wir arbeitsmarktpolitische Maßnahmen brauchen, gerade im Osten? Wer wollte in Abrede stellen, daß die Grundidee, lieber für Arbeit als für Arbeitslosigkeit zu bezahlen, richtig ist? Unser Einfallsreichtum - darum geht es mir - darf nicht haltmachen vor einer Kreativität, die sich auf mehr richtet als den subventionierten Arbeitsmarkt. Ich habe den Eindruck, daß diese Diskussion unumgänglich und wichtig ist, daß sie die Probleme aber nicht löst, sondern nur verschiebt und allenfalls das eine oder andere überbrücken kann.
Das eigentliche Dilemma unserer wirtschaftlichen Lage besteht darin, daß wir auf dem ersten Arbeitsmarkt Beschäftigungschancen verbauen, statt sie zu ergreifen. Da werden Beschäftigungsmöglichkeiten verbaut, weil Arbeit zu teuer geworden ist, nicht zuletzt im Verhältnis zum Faktor Kapital. Die westdeutschen Lohnstückkosten sind in den letzten drei Jahren durchschnittlich um 4 % gestiegen. Das ist im internationalen Vergleich entschieden zuviel; wir liegen in der Spitzengruppe.
Von der diesbezüglichen Situation in den neuen Bundesländern möchte ich hier erst gar nicht sprechen; da liegen die Zahlen deutlich höher.
Die Tarifpartner müssen sich der Frage stellen, welchen Weg sie gehen wollen. Eine durchschlagende Verbesserung am Arbeitsmarkt kann es nicht geben, wenn die Tarifpartner in Ost und West nicht bereit sind, dem enger gewordenen Verteilungsspielraum sowie der Vorbelastung aus den vergangenen Jahren Rechnung zu tragen.
Was wir dringend brauchen, ist eine stärkere Lohndifferenzierung nach Regionen, nach Branchen und nach Betrieben, die sich dann jeweils an der Produktivität orientiert. Die bestehenden Spielräume sind nicht ausreichend ausgelastet. Die ökonomische Wirklichkeit ist gekennzeichnet durch eine lähmende Uniformität am Arbeitsmarkt.
In diesem Zusammenhang greife ich gern das auch von Ihnen, Herr Lafontaine, genannte Stichwort „Investivlohn" auf. Der Investivlohn ist ein wichtiges und wirksames Element, um im Tarifbereich zu Lösungen und Entscheidungen zu kommen, die auf der einen Seite den volkswirtschaftlichen Gegebenheiten - beispielsweise einer Rezessionsphase - gerecht werden sowie auf der anderen Seite den Interessen der Arbeitnehmer und den Interessen der Unternehmen gleichermaßen Rechnung tragen. Wir haben den Investivlohn, der bereits in den 60er Jahren eine nicht unwichtige Rolle spielte, über Jahrzehnte hinweg hintangestellt und nicht ausreichend berücksichtigt. Ich möchte diese Diskussion und auch die praktischen Vorschläge, die den Investivlohn betreffen, gern aufgreifen und in die Diskussion darüber eintreten.
Ich bin dankbar für Ihre deutlichen Worte, Herr Lafontaine, die Sie mit Blick auf die Entwicklung im Osten Deutschlands gefunden haben. Die Reaktion in Ihrer eigenen Partei hat gezeigt, wie schwer sie ökonomische Wahrheiten verkraften kann und wie
sehr die Partei in ihrem Urteil über entscheidende wirtschaftspolitische Fragen gespalten ist, wie sehr sie in diesen Fragen schlingert.
Da habe ich schon mehr Respekt vor Gewerkschaftsführern, die schon vor der Eröffnung von Tarifverhandlungen ihren Mitgliedern erklären, daß in dieser schwierigen wirtschaftlichen Lage Einbußen bei Realeinkommen möglicherweise nicht auszuschließen sind.
Ich möchte hier klar sagen: Die Löhne sind nicht allein für unsere derzeitigen Probleme verantwortlich. Mehr und bessere Beschäftigungsmöglichkeiten werden heute in Deutschland auch deshalb verbaut, weil wir der Leistungsfähigkeit und der Dynamik unserer Wirtschaft zu viele Bremsklötze und Hindernisse in den Weg legen. Starre und restriktive Regulierungen haben sich zu Investitionshemmnissen ersten Ranges entwickelt. Arbeit läßt sich nicht mehr effizient genug organisieren.
Wir brauchen mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt. Dazu ist vieles gesagt worden. Es gibt auch heute schon Möglichkeiten, dies zu schaffen. Die vorhandenen Möglichkeiten müssen genutzt werden, andere müssen hinzukommen. Meine Damen und Herren, die zügige Verabschiedung des neuen Arbeitszeitgesetzes ohne Abstriche wäre daher ein erster wichtiger Schritt.
Vorankommen müssen wir auch in anderen Feldern, bei der Straffung und Entschlackung von Genehmigungsverfahren, bei der Veräußerung öffentlichen Beteiligungsbesitzes und bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch Private. Hierher gehört u. a. auch das Thema Postreform. Wir müssen die Telekom von den Fesseln befreien, die sie hindern, auf aussichtsreichen Auslandsmärkten tätig zu werden, wo sich die Konkurrenten bereits tummeln.
Ich füge hinzu: Wir können nicht dabei stehenbleiben, immer nur Deregulierung zu fordern. Dies ist heute auf allen Seiten üblich geworden. Das ist zunächst nichts als eine leere Worthülse. Die Bundesregierung wird konkret benennen, wo weitere Vereinfachungen in Gesetzen, Verordnungen und Verwaltungsverfahren über das hinaus, was schon getan worden ist, vorzunehmen sind, insbesondere im Ordnungsrecht, das überzogen ist, und beispielsweise im Umweltschutz, wo wir marktwirtschaftliche Prinzipien einführen müssen. Aber - das sage ich mit Nachdruck - Deregulierung ist nicht nur eine Aufgabe der Bundesregierung, sie ist eine Aufgabe aller Parlamente, der Länder und der Gemeinden. Sie alle sind gefordert.
({4})
Meine Damen und Herren, es werden auch Beschäftigungsmöglichkeiten verbaut, weil das Sozialsystem und der Umfang mancher Sozialleistung die Leistungsfähigkeit unserer Marktwirtschaft überfordern. Beitragssätze für die Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung von zusammen bald über 40 % des abgabepflichtigen Bruttoarbeitsentgeltes sprechen eine eindeutige Sprache. Die Entlastung der Bundesanstalt von bestimmten arbeitsmarktpolitischen Aufgaben ist dabei ein richtiger Schritt in die richtige
Richtung. Sie allein löst das Problem aber nicht. Prinzipielle und frühzeitige Lösungen sind angesagt. Die Bundesregierung verpflichtet sich im Standortbericht zu derartigen Konzeptionen.
Wer in diesem Zusammenhang von Kahlschlag oder Gefährdung des Sozialstaates spricht, weiß nicht, wovon er redet. Er handelt politisch verantwortungslos. Wir wollen den Sozialstaat nicht demontieren. Wir wollen den Sozialstaat sichern.
({5})
Was wir jetzt mit 1,5 % des Sozialetats machen, ist nicht mehr als eine Korrektur von Wildwuchs und Mißbrauch. Wir sagen in diesem Zusammenhang: Wer den Sozialstaat auch für kommende Generationen erhalten will, der muß vor allem die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft, in der das Sozialprodukt erwirtschaftet wird, erhalten.
Beschäftigungsmöglichkeiten werden auch durch Steuerlasten verbaut, die den Unternehmen Leistungs- und Investitionsanreize nehmen. Die Bundesregierung wird noch in dieser Legislaturperiode ihr Konzept für eine Steuerreform vorlegen. Wir wollen die Senkung der Spitzensteuersätze, Herr Lafontaine, aber auch im unteren Bereich zusätzliche Freiräume. Wir wollen die Rückführung der Gewerbesteuer, und wir wollen eine Vereinfachung des Steuersystems.
Und wir wollen europaweit darüber nachdenken, warm wir aufkommensneutral eine CO2-Energiesteuer einführen können und damit auch einen Schritt in Richtung Umgestaltung hin zu einem ökologisch orientierten Steuersystem in einigen Bereichen vornehmen können.
({6})
- „Aufkommensneutral", das ist von mir gesagt worden. Es muß in jedem Fall mit Aufkommensneutralität einhergehen. Mehr noch: Wir müssen insgesamt zu einer Entlastung der Bürger und der Wirtschaft kommen.
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Beschäftigungsmöglichkeiten werden auch verbaut, wenn Technik und Forschung, Entwicklung und Innovation weiterhin ins gesellschaftliche Abseits gestellt werden. Dazu ist heute schon viel gesagt worden. Ich stimme in vielem Herrn Ministerpräsidenten Teufel zu, in einigem nicht. Beispielsweise bin ich nicht der Auffassung, daß wir in der Mehrzahl der Technologiebereiche in Deutschland nur zweitklassig seien. Das ist nicht richtig. Wir sind in einigen Bereichen zurückgefallen, auch zweitklassig geworden, in anderen sind wir spitze.
Aber wir sind gefährdet. Wir sind gefährdet deshalb, weil sich eine Technikskepsis breitgemacht hat und weil die Akzeptanz von ingenieurwissenschaftlichen Leistungen, von Forschung und Technologie, die jahrzehntelang in unserem Volk verwurzelt waren, nicht mehr vorhanden ist. Wir müssen Forschungsförderung machen, und wir müssen diese Akzeptanz wieder herbeiführen.
Dazu müssen wir auch einen Dialog führen: Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Hier ist der Staat gefordert. Wir wollen die Verantwortlichkeiten nicht verschieben. Das ist Voraussetzung dafür. Aber in diesem Bereich ist eine sinnvolle Forschungspolitik oder, wenn Sie es so nennen wollen, eine Forschungs- und Industriepolitik durchaus gefragt.
Lassen Sie mich zuletzt auf den Energiebereich hinweisen, in dem es darauf ankommt, nun endlich einen Konsens zu finden, der mit einem sinnvollen Energiemix aller Energieträger verbunden ist und der auch der Kernenergie eine Chance gibt, zumindest in dem Sinne, daß die Option darauf offenbleibt. Wenn wir in der Kernenergie vorschnell Fehler machen, dann werden wir aus einem weiteren Technologiebereich, der Zukunftscharakter hat, aussteigen. Wir werden etwas tun, was wir noch bereuen werden, auch unter ökologischen Aspekten.
({8})
Da kann man zwar anderer Meinung sein - das ist ja über Jahrzehnte diskutiert worden - aber es paßt nicht zusammen, auf der einen Seite den Verlust von Arbeitsplätzen zu beklagen und auf der anderen Seite dafür einzutreten, daß wir aus Zukunftstechnologien aussteigen. Das verträgt sich nicht miteinander, meine Damen und Herren.
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Ich möchte Ihnen noch eines sagen: Wir reden über die Probleme am Standort Deutschland. Das ist gut, das ist richtig, diese Diskussion ist unverzichtbar, sie erfolgt sogar sehr spät. Aber wir wollen den Standort Deutschland auch nicht miesmachen. Noch ist Deutschland ein guter Standort, ein Standort mit guter Infrastruktur, mit geographisch hervorragender Lage, mit einem guten Ausbildungsstandard der Menschen, einer hohen Motivation der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber, mit immer noch hohem Forschungs- und Entwicklungspotential, mit immer noch gesunden, wenn auch gefährdeten Unternehmen in einer guten Mischung zwischen großen, mittleren und kleinen Unternehmen, ein Land mit hoher Exportfähigkeit, ein Land mit einer Bundesregierung, mit einer Koalition, die die Weichen richtig stellt, die die Themen nicht nur beschreibt, sondern auch handelt, leider aber mit einer Opposition, die in sich gespalten und unfähig zu überzeugenden Konzepten ist. Wenn einer den Versuch macht, ein Konzept vorzulegen, dann wird er von Leuten aus den eigenen Reihen in den Orkus geredet. Das ist eine gute Opposition!
Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat heute morgen schon gesagt: Die Zukunftsgestaltung des Standorts Deutschland ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie kann nicht von Staat und Politik allein bewältigt werden; sie ist auch Aufgabe aller gesellschaftlichen Gruppen und jedes einzelnen Bürgers.
Wir nehmen deshalb einen intensiven Dialog auf. Ich werde beispielsweise Anfang März zu einem Forum über die Zukunftssicherung des Standorts Deutschland einladen und dies mit zahlreichen
Gesprächen mit allen gesellschaftlichen Gruppen, mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern, mit Gewerkschaften und Verbänden, mit Forschungseinrichtungen, mit Verbrauchern, Kirchen und anderen mehr, vorbereiten.
Die Themen des Zukunftsberichtes sind die Themen, die über die Leistungsfähigkeit unseres Landes in den nächsten Jahren und Jahrzehnten bestimmen. Wir haben nicht nur Punkte aufgeschrieben und Analysen betrieben, sondern wir haben auch die Handlungsfelder vorgezeichnet und treffen jeden Tag Entscheidungen.
Wir können das nicht allein tun. Ich möchte alle gesellschaftlichen Gruppen auffordern, das Ihre dazu beizutragen. In diesem Land sind riesige Reserven, im Osten und im Westen. Es kommt darauf an, sie zu mobilisieren. Dann werden wir es allemal und auch bald schaffen.
({10})
Danke.
({11})
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält Graf Lambsdorff.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen - leider ist der baden-württembergische Ministerpräsident nicht mehr hier -, zu erklären, daß man - jedenfalls aus meiner Sicht - zwar über einiges, was er hier vorgetragen hat, sehr wohl diskutieren kann und muß, daß man aber auch die Grenzen beachten muß, innerhalb deren staatliche Politik tätig werden kann. Ich glaube, wenn Herr Teufel an das Wirken seines Amtsvorgängers denkt und einmal nachsieht, wie diese Förderungen am Ende ausgegangen sind, wird auch er zu dem Ergebnis kommen, das hier große Zurückhaltung angesagt ist.
Zwei Punkte scheinen mir sehr wichtig zu sein.
Erstens. Wer entscheidet, welche Industrien Zukunftschancen haben: eine Landesregierung, eine Bundesregierung, Ministerialräte, Gewerkschaftsfunktionäre?
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- Er hat das mit keinem Wort gesagt; Sie haben nicht zugehört. Er denkt überhaupt nicht in solchen Kategorien.
Zweitens. Es darf nicht dazu kommen, daß die Entscheidungen einerseits und die Haftung für Entscheidungen andererseits auseinanderfallen; denn wenn der Staat Entscheidungen trifft oder massiv beeinflußt, wird er für das Fehlgehen dieser Entscheidung nicht haften.
Das sind Punkte, über die man, wie ich meine, mit dem Ministerpräsidenten diskutieren sollte.
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Nun erhält der Kollege Dr. Klaus-Dieter Feige das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Die Bewahrung der Schöpfung ist eine immer dringlicher werdende Aufgabe. " Dieses Zeugnis hat sich die Bundesregierung am Ende der Ära Kohl selbst ausgestellt, nachzulesen im Standortbericht. Zehn Jahre Kohl-Politik - und der Wirtschaftsstandort Deutschland ist im Eimer. Zehn Jahre KohlPolitik - und von einer Umweltpolitik, die diesen Namen verdient, ist nichts, aber auch gar nichts zu sehen.
Seit Beginn dieser Wahlperiode hat die Bundesregierung den umweltpolitischen Stillstand zu ihrem Markenzeichen gemacht. Mehr noch, seit Ende 1991 wurde ein umweltpolitisches Rollback eingeleitet.
Vier Grundzüge kennzeichnen die Politik dieser Regierung.
Erstens: Deregulierung. Wie erfolgt sie? - Das Ordnungsrecht wird völlig planlos abgeschafft. Die angekündigten marktwirtschaftlichen Instrumente wie die Abfallabgabe oder die nationale Energie-
bzw. CO2-Steuer dagegen sind in der Versenkung verschwunden. - Man kann nicht ewig nur darüber nachdenken. - Diese Regierung betreibt einen ordnungspolitischen Kahlschlag ohne Sinn und Verstand. Das habe ich in Anlehnung an Herrn Rexrodt wirklich verantwortungsbewußt gesagt, gerade deshalb, weil man das nicht mehr einfach nur totschweigen darf.
Zweitens: Privatisierung. Von der Müllabfuhr bis zu den Bahnen, praktisch alles und jedes soll privatisiert werden. Ein Konzept, das zu einer tatsächlichen Entlastung der öffentlichen Hand führt, ist dabei aber nicht ersichtlich.
Drittens: Beschleunigung von Genehmigungsverfahren. Wider besseres Wissen werden die Mitwirkungsrechte der Menschen als Ursache für lange Verfahren hingestellt. Diese Regierung hat nichts unversucht gelassen, um diese Beteiligungsrechte abzuschaffen.
Viertens: Wirtschaftswachstum. Wer meint, Umweltschutz ließe sich nur aus einem zusätzlichen, undifferenzierten Wirtschaftswachstum finanzieren, der hat rein gar nichts, aber auch gar nichts begriffen. Dies hat doch zur Folge, daß die Umweltzerstörungen den Umweltreparaturmaßnahmen immer schneller vorauseilen. Herr Biedenkopf wird das dem Kanzler sicher viel deutlicher erklären können, aber der Kanzler ist offensichtlich ob der Äpfel der Erkenntnisse der Opposition frühzeitig aus seinem Kanzlerparadies davongeeilt.
Der Bundeskanzler selbst hat in seiner Rede zweimal das Duale System Deutschland hochgelobt. Ich glaube, das ist mit ein Symptom dafür, daß es um dieses Duale System noch viel schlimmer betellt sein muß, als wir schon wissen.
Es wird seit Töpfer niemanden in diesem Land verwundern, daß eine Umweltverträglichkeitsprüfung der Politik dieser Bundesregierung zu einem niederschmetternden Ergebnis kommt. Aber beinahe noch schlimmer ist, daß die Politik der christlichliberalen Koalition auch einer Wirtschaftsverträglichkeitsprüfung nicht standhält.
Meine Damen und Herren, allenthalben ist von einer Verschlechterung der Standortbedingungen in Deutschland die Rede. Jeder zeigt mit dem Finger auf den anderen, aber keiner packt sich an die eigene Nase. Fossile Großunternehmen, die den notwendigen Strukturwandel verschlafen haben, sehen die Ursache für die Misere bei der Politik, aber gleichzeitig erhoffen sie sich von dieser eine Verbesserung. Die Bundesregierung jammert über mangelnde Investitionen der Unternehmen und vergißt dabei, daß sie seit Jahren die falschen Signale für den wirtschaftlichen Strukturwandel setzt. Es reicht nicht, Weichen zu stellen; man muß sie auch in die vernünftige Richtung stellen.
Die Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer hat in einer kürzlich veröffentlichen Schrift das politische Können als wesentlichen Standortfaktor bezeichnet. - Dies überhaupt in Erwägung zu ziehen haben Sie von der Koalition natürlich vermieden. - Da heißt es:
Wo die regierenden Politiker die Bevölkerung über die Realitäten hinwegzutäuschen suchen und durch schlechte, auf Kosten der Zukunft geschlossene Kompromisse die Lage verschlimmern, muß die Politikverdrossenheit wachsen. Die seit 1989 entstandene Glaubwürdigkeitslücke kann nur durch den Mut zur Aufrichtigkeit ... wieder geschlossen werden.
Das muß sich die Regierung Kohl hinter die Ohren schreiben lassen, aber nicht etwa von uns, sondern von einem Unternehmerverband. Dieser stellt weiter fest, daß auch gute Institutionen Politikermut und Politikerkönnen nicht ersetzen können, denn am Ende komme alles auf die Beschaffenheit des politischen Personals an.
Am Ende der Regierung Kohl fehlt es beinahe an allem: an Mut, an Aufrichtigkeit, an Sachverstand, ganz zu schweigen von der politischen Qualität der Regierungsriege.
Meine Damen und Herren, die Standortkrise in Deutschland hat auch wirtschaftliche Ursachen, und auch die verfehlte Einheitspolitik ist eine Ursache des staatlichen Finanzdebakels.
Die eigentliche Ursache für diese Standortdebatte ist aber ein fatales Zusammentreffen von politischem Versagen und kurzsichtigen unternehmerischen Entscheidungen. Anders ausgedrückt: Die Debatte über die Kostenbelastung der Unternehmen ist nichts anderes als ein Indiz für den Verlust von Innovationsvorsprüngen. In vielen Branchen - etwa in der Chemie oder in der Automobilindustrie - wurde der notwendige Strukturwandel eben nicht eingeleitet. Die Wirtschaftslandschaft in Deutschland scheint sich allmählich in eine Art Sauriergehege à la Jurassic Park zu verwandeln. Viele große Konzerne haben offenbar die Reproduktionsfähigkeit und damit die Fähigkeit zur Weiterentwicklung verloren und beklagen nur noch ihr selbstverschuldetes Aussterben.
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„Dabei stellt aber eine Krise auch immer eine Chance dar, aber nur für die Mutigen, die sich über die Natur der Herausforderungen im klaren sind", schreibt die Arbeitsgemeinschaft der Selbständigen Unternehmer. - Herr Gallus, da sollten Sie sich vielleicht erst einmal selbst sachkundig machen,
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dann könnten Sie sich hier auch kompetent äußern.
Und damit kommen wir zum Kern der Sache: Weder die Bundesregierung noch große Teile der Industrie haben die Herausforderung des ausgehenden 20. Jahrhunderts tatsächlich begriffen. Sie besteht nämlich darin, den Weg weg von der verschwenderischen Wirtschaftsweise der freien Marktwirtschaft zu finden und hin zu einer Wirtschaft der Nachhaltigkeit zu kommen. Nur die Volkswirtschaften, die dies frühzeitig erkennen und die frühzeitig darauf Antworten finden, werden im kommenden Jahrhundert noch konkurrenzfähig sein. Nur eine ressourcen- und energiesparende Produktions- und Konsumweise, nur abfallarme und langlebige Produkte können das Überleben der deutschen Volkswirtschaft sichern.
Japan kann nicht in allen Bereichen als Vorbild hingestellt werden. Aber mit dem Programm „New Earth 21", durch das die Energieversorgung binnen weniger Jahrzehnte auf regenerative Energieträger umgestellt werden wird, haben wir ein Beispiel für eine innovative und den ökologischen und ökonomischen Herausforderungen angemessene Wirtschaftspolitik.
Ihre Sackgasse der Atomenergie wird uns weltweit zurückwerfen. Wer hat Ihnen, Herr Rexrodt, aufgeschrieben, daß Atomenergie eine Zukunftstechnologie ist, wo wir uns doch gerade von ihr verabschieden?
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Die Umstellung auf eine hocheffiziente Energieversorgung, auf erneuerbare Energien und auf die Ausnutzung der immensen Energieeinsparpotentiale schafft zudem, und zwar auch kurzfristig, einen Ausgleich für Arbeitsplätze, die durch ungenügende Unternehmensentscheidungen wegfallen.
Es gibt weitere Beispiele. Nehmen wir die Chemieindustrie. Wir brauchen einen Umbau der chemischen Industrie. Dabei geht es einerseits um ein Mehr an Chemiedienstleistungen; andererseits wird eine tatsächliche Sicherung des Produktionsstandortes Deutschland nur noch auf der Basis der Nutzung natürlicher, erneuerbarer Ressourcen erfolgen können. Dazu bedarf es aber der Intelligenz und der Kreativität der Unternehmen, einer staatlichen Rahmensetzung, etwa bei der Forschungs- und Technologiepolitik, und eines breiten gesellschaftlichen und sozialen Konsens, aber keines Diktats.
In vielen Teilen der Industrie ist von einem frischen Wind nichts, aber auch gar nichts zu spüren. Wenn man z. B. die Veranstaltung des BDI am Dienstag in
Bonn beobachtet hat, fühlt man sich an eine Horrorpicture-Show erinnert.
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Am gleichen Tag vollführt das Bundeskabinett einen Eiertanz in Sachen deutsche Steinkohle. Solche Veranstaltungen und eine solche Politik sind die Ursachen für die Krise des Standorts Deutschland. - Herr Kollege Gallus, das ist keine Beschimpfung, sondern das Hinhalten eines Spiegels.
Doch es gibt auch Silberstreifen am Horizont. Der Bundesverband Junger Unternehmer - BJU - hat kürzlich gemeinsam mit dem BUND ein Plädoyer für eine ökologisch orientierte Soziale Marktwirtschaft veröffentlicht. Wir haben sehr aufmerksam zur Kenntnis genommen, daß eine große Übereinstimmung zwischen den Positionen des BJU und von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN besteht. Auch wir sind der Auffassung, daß ein grundlegendes Umdenken notwendig ist. Auch wir sagen, daß Tatenlosigkeit in Sachen Umweltschutz die bestehenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten verschärft und zu einer weiteren Erhöhung des Potentials an Folgekosten führt. Insbesondere wird diese Tatenlosigkeit in Ostdeutschland die Chance des Aufbaus langfristig ökologisch verträglicher Strukturen verhindern.
Wir sehen auch eine grundsätzliche Übereinstimmung in einer der zentralen Aufgaben, die zur Weiterentwicklung unseres Wirtschaftssystems notwendig sind, nämlich der Einleitung einer ökologischen Steuerreform.
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Wenn der BJU fordert, die Leistungsbesteuerung zugunsten einer Besteuerung der Umweltnutzung zu reduzieren, dann können wir dem nur zustimmen. Wenn umweltschädliches Verhalten, Ressourcenverbrauch und Energieeinsatz teuer sind, dann kann Arbeitskraft billiger werden; dann können die so dringend notwendigen, sinnvollen Dauerarbeitsplätze geschaffen werden.
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Meine Damen und Herren, ich sage zum Abschluß: Wir wollen Klarheit, wir wollen Berechenbarkeit, und wir wollen eine Regierungspolitik, die für die Menschen in unserem Lande nachvollziehbar ist. Wir wollen eine ökologisch orientierte Wirtschaftspolitik, weil wir nur so den Herausforderungen des kommenden Jahrhunderts umwelt- und sozialverträglich gerecht werden können. Angesichts dieser Tatsache bleibt uns als BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gar nichts anderes übrig, als im kommenden Jahr Regierungsverantwortung in Bonn zu übernehmen:
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für eine klare und überzeugende Politik der ökologischen Verantwortung, zur Schaffung von Selbstvertrauen bei den Menschen und für eine tatsächliche Gesundung des Wirtschaftsstandorts Deutschland in Ost und in West.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Verbesserung der Standort- und Wettbewerbsbedingungen für unsere Wirtschaft ist eine Daueraufgabe. Sie beginnt nicht erst heute mit dieser Debatte. Auch stehen wir damit in der Welt nicht allein. Alle Industriestaaten - Franzosen, Japaner, Amerikaner - haben ähnliche Herausforderungen.
Wir erleben - dies wurde schon mehrfach betont - einen weltweiten Strukturwandel und eine besondere wirtschaftliche Dynamik in Südostasien, die es uns nicht erlauben, den Rest der Welt etwa nur als bequemen Absatzmarkt für unsere Produkte zu betrachten. Der Konkurrenzdruck und die Notwendigkeit zur ständigen Innovation haben zugenommen. Wir müssen flexibler werden und im Ausland besser vermarkten. Dies bedeutet Chance und Herausforderung zugleich. Wir können die anstehenden Aufgaben allerdings nur dann bewältigen, wenn wir nicht der Gefahr von Grabenkriegen und Verteilungskämpfen unterliegen.
Herr Kollege Thierse hat in seinem Diskussionsbeitrag den Standortbericht ein Dokument des Scheiterns genannt. Das sehe ich ganz anders,
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denn die Koalition hat die anstehenden Herausforderungen, die in dieser Debatte beschrieben wurden, klar erkannt. Sie hat auch in den vergangenen zehn Jahren eine überaus erfolgreiche Wirtschaftspolitik betrieben. Wir haben von einer marktwirtschaftlichen Wachstumspolitik nicht nur gesprochen, sondern wir haben sie auch umgesetzt. Niemand kann bestreiten, daß wir über 3 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen haben.
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daß wir Wachstumsraten hatten, die für unsere Wettbewerber vorbildlich waren, und daß die deutsche Wiedervereinigung ein wichtiger politischer Erfolg war, der jetzt zusätzlich zur Bewältigung der Strukturkrise unsere ganzen volkswirtschaftlichen Kräfte beansprucht.
Aber - dies wurde auch betont - die Wirtschaft in den neuen Bundesländern wächst wieder, und die D-Mark hat diese schwierige Phase ohne große Turbulenzen überstanden. Bundesminister Rexrodt hat zu Recht darauf hingewiesen, daß die Stärke der D-Mark uns allen, nicht zuletzt auch den Verbrauchern, nützt und daß wir darauf stolz sein können.
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Mit einer Abwertung, mit einer schwachen D-Mark würden sich unsere Probleme noch vervielfachen. Dies wäre sicherlich der falsche Ansatz.
In der Weltkonjunktur befinden wir uns in einer schwierigen strukturellen Phase, und es ist jetzt notwendig, die entsprechenden Weichenstellungen vorzunehmen. Eine neue Dynamik muß entfaltet werden, und die Wachstumsmärkte müssen erschlossen werden. Der notwendige Strukturwandel gerade auch in den neuen Bundesländern muß in vielen traditionellen Industrien konsequent vorangetrieben werden. Beispiele wurden genannt; sie finden sich in Hülle und Fülle. Ich stimme auch hier dem Wirtschaftsminister zu, daß bei allen Schwächen unserer Struktur trotzdem unsere Stärken, wenn wir sie nur gezielt weiterentwickeln, überwiegen.
Beispielsweise finde ich unseren Weg, moderne Datenautobahnen, moderne Verkehrssysteme - Stichwort: Transrapid - umzusetzen, richtig. Hier können wir internationale Maßstäbe setzen; hier können wir Wettbewerbsvorteile aufbauen, denn Ministerpräsident Teufel hat natürlich recht, daß wir nur mit modernen Zukunftstechnologien und einer modernen Infrastruktur die Arbeitsplätze der Zukunft erhalten und neue schaffen können.
Wenn wir an diese Aufgabe mutig herangehen, bewältigen wir unsere größte Aufgabe: die Überwindung der hohen Arbeitslosigkeit, im Osten wie im Westen gleichermaßen.
({3})
Dies geht, meine Damen und Herren, aber nur über steigende Investitionen. Dies geht auch nur durch Befreiung von Regelungsdichte, und dies geht nur über mehr Deregulierung.
Es geht mit Sicherheit nicht, wenn wir nur Besitzstände wahren, wenn wir nur über Verteilung diskutieren. Es geht nur, wenn wir moderne Technologien anwenden und auch im Markt verkaufen. Gerade die Vermarktung neuer Produkte ist derzeit eine der Schwächen, aber diese Schwäche ist erkannt. Sie wird - mit Unterstützung von Politik, Wirtschaft und Verbänden - auch in den Wachstumsregionen überwunden werden. Die Unternehmen - dies kann die Politik nicht leisten - müssen vorhandene Rationalisierungspotentiale ausschöpfen.
Ein Fehler der letzten Jahre - man kann nicht oft genug darauf hinweisen - war die Arbeitszeitverkürzung über alle Regionen und über alle Sektoren hinweg.
({4})
Die gerade von der SPD immer wieder vertretene Idee, daß eine rigorose Arbeitszeitsverkürzung wettbewerbsfähige, neue Arbeitsplätze bei uns schaffe, ist im Grundsatz falsch.
({5})
Der Starrsinn auf Ihrer Seite trägt mit zu den Wettbewerbsnachteilen unserer Unternehmen gegenüber Konkurrenten an anderen Standorten bei.
Ich freue mich, daß der wirtschaftspolitische Vordenker der SPD, Oskar Lafontaine, der ja von Kritik in dieser Woche nicht verschont wurde, dies in seinem neuen Wirtschaftspapier erkannt und öffentlich
bekundet hat. Ich glaube allerdings nicht, daß sein Konzept in der SPD realisiert werden kann.
({6})
Die Diskussion heute und in anderen Gremien zeigt doch sehr deutlich, daß ökonomisch richtige Erkenntnisse zu haben eine Sache ist, diese dann aber auch umzusetzen bei Ihnen, meine Damen und Herren in der SPD, eine viel schwierigere ist.
({7})
Lohnerhöhungen müssen durch Produktivität zuvor erarbeitet werden - eine Binsenwahrheit. Trotzdem wird immer wieder dagegen verstoßen. Dabei sind es immer die Schwächsten, es sind die unteren Einkommensschichten, die im Zuge von Rationalisierungsmaßnahmen durch Maschinen ersetzt werden. Das Erzwingen immer höherer Mindestlöhne ist eine gefährliche Politik gegen die Interessen der Arbeitssuchenden.
({8})
Deshalb hoffe ich und appelliere an die Tarifpartner, daß wir endlich auch zu Einstiegstarifen in den Tarifverträgen kommen, um auch den Arbeitslosen eine Chance zu geben.
({9})
Andere Länder, unsere Wettbewerber, sind in diesen Punkten schon sehr viel weiter. Ich hoffe aber, daß die Not auch zu neuen Einsichten führt.
Gleichzeitig müssen Arbeits- und Maschinenlaufzeiten entkoppelt und flexibler gestaltet werden. Es wurde mit Recht darauf hingewiesen, daß das neue Arbeitszeitgesetz der Bundesregierung ein richtiger Schritt ist, auf dem weiter aufgebaut werden kann.
Man kann sagen, daß der Staat, nicht nur der Bund, es versäumt hat, in ausreichendem Maße die Privatisierung und Deregulierung konsequenter als bisher voranzutreiben. Leidtragende sind im internationalen Wettbewerb letztlich wir selbst.
Es ist auch an der Zeit, das Subsidiaritätsprinzip neu zu interpretieren. Es kann nicht mehr darum gehen, Aufgaben auf der niedrigsten staatlichen Ebene anzusiedeln, sondern es muß darum gehen, daß diese Aufgaben, die von Privaten besser erledigt werden können, gemäß entsprechenden Vorschriften in der Haushaltsordnung dann auch von diesen Privaten ausgeführt werden.
Vielleicht gibt es bei dem Abbau der Regelungsdichte und der Genehmigungspraxis - ein Thema, das alle meine Vorredner angesprochen haben - doch einmal einen parteiübergreifenden Konsens. Der Beitrag des Kollegen von den GRÜNEN hat mich da allerdings nicht sehr ermutigt.
({10})
- Sie haben zwar sehr oft die Arbeitsgemeinschaft
Selbständiger Unternehmer zitiert, deren Vizepräsident ich bin, aber Sie haben natürlich in diesem Fall
die Dinge, die ich an anderer Stelle des öfteren zum Arbeitsmarkt sowie zum Wachstums- und Investitionsstandort Deutschland betont habe, nicht zitiert.
({11})
Ich kann dies bei dieser kurzen Redezeit nicht nachholen. Ich schicke Ihnen aber gerne die Broschüre der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer
({12})
zur Schaffung besserer Bedingungen für Investitionen am Industriestandort Deutschland zu.
({13})
Die weltwirtschaftliche Abschwungphase, meine Damen und Herren, hat etwa drei Jahre angedauert. Wir haben derzeit eine gewisse Stabilisierung erreicht. Auch ausgesprochene Zweckpessimisten können nicht mehr übersehen, daß es Sektoren und Branchen in der Wirtschaft gibt, die langsam wieder in Fahrt kommen. „Die Konjunktur wird besser", so die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" heute im Wirtschaftsteil.
Meine Damen und Herren, ich kann keinen Aufschwung herbeireden. Das kann niemand hier in diesem Hause.
({14})
Aber die Anzeichen für eine Belebung kann man nicht übersehen. Sie verdichten sich bei Forschungsinstituten, in den Berichten der Banken und der Unternehmen oder in den Analysen in den Zeitungen.
Ich freue mich, daß diese verbesserten Geschäftserwartungen, die verbesserten statistischen Zahlen, vor allem in den neuen Bundesländern, uns Zeichen der Hoffnung geben. Wir haben immerhin beim Auftragseingang Juli 1992/Juli 1993 in den neuen Bundesländern in der Industrie ein Plus von 15 %, beim verarbeitenden Gewerbe von 25 % und im Bauhauptgewerbe von 36 %. Ich hoffe, daß zeitversetzt der Aufwärtstrend auch zu Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt führt.
Meine Damen und Herren, die Börse war schon immer ein guter Indikator für die weitere wirtschaftliche Entwicklung. Die Kurse unserer Aktien sind zuletzt beinahe täglich gestiegen, seit Jahresbeginn insgesamt um mehr als 25 %. Viele internationale Anleger sind wieder an den deutschen Markt zurückgekehrt. Sie nehmen das voraus, was wir mit unserem Standortbericht realisieren wollen, nämlich Zuversicht und Mut sowie Vertrauen in die Dynamik und die Zukunft der deutschen Wirtschaft und in die Stabilität unserer Währung.
Dies ist letztendlich ein Erfolg der Sparbemühungen und der Bemühungen um die Konsolidierung unserer Staatsfinanzen, nachdem die Finanzlage durch vielerlei Dinge, insbesondere durch die politisch gewollte Wiedervereinigung, angespannt war. Nach den Anstrengungen durch die Wiedervereinigung müssen wir in den nächsten Jahren sowohl in der Abgaben- als auch in der Steuerquote wieder zurückgehen. Von daher ist das Konsolidierungs- und
Wachstumspaket ein entscheidender Schritt, der zur Belebung der Wirtschaft beitragen kann.
Ich komme zum Schluß.
({15})
Für die Exportnation Deutschland ist es lebenswichtig, daß die Uruguay-Runde, daß die GATT-Verhandlungen zu einem Erfolg führen.
({16})
Wir hoffen, daß unsere Gespräche, daß die Verhandlungen von Regierung und Abgeordneten-Kollegen mit unseren französischen Freunden und mit anderen Partnern dazu führen, daß wir noch bis zum 15. Dezember, also bis zum Ablauf der Frist des „fast track", zu Ergebnissen kommen. Wenn sich der Welthandel dynamisch entwickelt - es gibt auch hier positive Zeichen des Aufschwungs -, dann schaffen wir den Aufschwung wesentlich besser. Wir werden zu den Nutznießern gehören, wenn wir hinsichtlich des Welthandelsabkommens ein positives Ergebnis erreichen. Gleichzeitig meine ich, daß die gemeinsamen Anstrengungen von Politik, Wirtschaft und Verbänden, wieder auf einen dauerhaften Wachstumspfad zurückzufinden, dann von Erfolg gekrönt sind, wenn das, was richtigerweise in dem Standortbericht enthalten ist, Zug um Zug verwirklicht wird. Ich hoffe, daß sich die Opposition unseren besseren Einsichten nicht verschließt.
({17})
Nun hat der Kollege Siegmar Mosdorf das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Haungs, Sie haben Optimismus hier verbreiten wollen. Nach dem Optimismus wurde gestern auch DIHT-Präsident Stihl gefragt, und zwar in bezug auf Wirtschaftsminister Rexrodt. Er hat geantwortet, es gebe in der Bundesrepublik Deutschland 83 Industrie- und Handelskammern; unter ihrem Dach seien annähernd 3 Millionen Unternehmen organisiert, die ihre Kammern über ihre wirtschaftliche Entwicklung informierten; nach ihren Berichten lasse sich keine Trendwende in der wirtschaftlichen Entwicklung feststellen; von einer Entwarnung könne nicht die Rede sein, im Gegenteil. Wenn Sie jubilieren, weil der DAX wieder steigt, so wissen Sie ja auch wie ich, daß die Börsenphilosophie lautet: Buy on bad news. Wenn das ein Signal ist, das Ihnen schon ausreicht, mir reicht es nicht aus.
Die hundertseitige Fleißarbeit der Beamten des Wirtschaftsministeriums zur Beschreibung des Standortes Deutschland erweckt den Eindruck, als sei diese Regierung erst gestern angetreten.
({0})
Aber eigentlich ist sie doch seit elf Jahren im Amt!
({1})
Deshalb ist dies eine dramatische Negativbilanz dieser Regierung.
({2})
Standortdiskussionen hat es in Deutschland in den 70er und 80er Jahren immer wieder gegeben.
({3})
Aber jeder, der glaubt, daß die jetzige Standortdiskussion eine billige Tarifdiskussion sei, täuscht sich. Es geht wirklich um fundamental neue Fragen. Deutschland steht vor fundamental neuen Herausforderungen. Ich teile die Auffassung von Herrn Biedenkopf, daß Deutschland auch ohne die Vereinigung vor ähnlichen Problemen stünde. Die deutsche Vereinigung hat zunächst unsere Hochkonjunktur und damit die Inkubationszeit der Krise verlängert.
({4})
Die Krise geht sehr tief, und wir müssen uns mit ihr ernsthaft auseinandersetzen. Wenn Sie den Vergleich zu 1980 ziehen, als wir alle gemeinsam noch sagen konnten, daß wir ein „Modell Deutschland" haben, das weltweit ökonomisch hervorragend da dasteht ({5})
- Ich rede von 1980. Aber wenn man das von 1980 sagen konnte - damals haben auch Sie das gesagt -, so hat sich die Situation seitdem erheblich verändert. Vor wenigen Tagen hat die „Herald Tribune" eine große Investitionsstudie mit der Überschrift versehen: „Anywhere but Germany". Es ist nicht nur eine amerikanische Sichtweise, die hier zum Ausdruck kommt, sondern es gibt wirklich dramatische Unterschiede zwischen 1980 und dem heutigen Zustand. Das drückt sich nicht nur in den Wirtschaftsdaten aus, das drückt sich auch am Arbeitsmarkt aus. Es drückt sich auch darin aus, wie sich die Armutsentwicklung in Deutschland weiter zugespitzt hat; das darf man nicht vergessen.
Deutschland hat im letzten Jahrzehnt ökonomische und technologische Vorsprünge verloren. Ich glaube, daß es so etwas wie ein Gesetz des bremsenden Vorsprungs gegeben hat. Wir hatten eine Spitzenstellung. Wir haben dann in unseren Anstrengungen nachgelassen und sind deshalb zurückgefallen. Darum ist es jetzt, wenn wir nicht zweitklassig werden wollen, wichtig, daß wir endlich die Weichen für das 21. Jahrhundert stellen.
Ich bedaure sehr, daß der Wirtschaftsminister aus dem Standortbericht leider nur verteilungspolitische Debatten ableitet.
({6})
Ich halte eine Verkürzung der Standortdiskussion auf die Verteilungsfrage für verkehrt, weil sie nur polarisiert, statt zusammenzubringen und Zukunftskräfte wirklich zu mobilisieren.
({7})
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß wir in einer tiefen Investitions-, Innovations-, aber auch in
einer Kostenkrise stecken, über die wir reden und nachdenken müssen und aus der wir auch Schlußfolgerungen ziehen müssen. Das gilt für die Außenwirtschaftspolitik, bei der es eigentlich nicht angeht, daß man den Ländern alles überläßt. Herr Teufel hat zu Recht darauf hingewiesen. Sie sehen an der Kritik von Herrn Teufel am Zustand und an der Arbeit der Bundesregierung, daß sozialdemokratische Regierungsbeteiligung in Baden-Württemberg ganz guttut. Dieter Spöri hat ihm eine ganze Menge geholfen.
({8})
Aber es geht nicht an, daß man die ganzen Fragen der Außenwirtschaft, z. B. wie wir unseren mittelständischen Unternehmen helfen, auf wichtigen Wachstumsmärkten präsent zu sein - ich rede von Yokohama, ich rede von Singapur, ich rede von den Dingen, die wir dort aufbauen, von Handels- und Servicehäusern -, den Ländern überläßt. NordrheinWestfalen und Baden-Württemberg unternehmen hier Anstrengungen. Aber eigentlich ist es die ureigenste Aufgabe des Bundeswirtschaftsministers, außenwirtschaftlich endlich Aktivitäten zu entfalten. Da gibt es riesige Versäumnisse, weil wir uns noch immer auf „good old Europe" konzentrieren und nicht auf die großen Wachstumsmärkte von morgen. Da hat die Bundesregierung erhebliche Versäumnisse zu verantworten.
Meine Damen und Herren, wir haben nicht die Vorteile mancher anderer Länder, was Rohstoffe, was Energie und was geographische Lage angeht. Wir sind, wie man mit einem Fachwort sagt, ein Schumpeter-Standort. Wir leben von dem, was unsere Menschen können. Wir leben von der Tüchtigkeit und dem Know-how der Menschen. Deshalb ist Forschungs- und Technologiepolitik besonders wichtig.
({9})
Edzard Reuter, Heinrich von Pierer, Olaf Henkel, Berthold Leibinger, alle, wie sie da sind, haben keinerlei Verständnis dafür, daß diese Bundesregierung in den letzten sechs Jahren den Forschungsetat um glatte 30 % real gesenkt hat. Auch wir haben kein Verständnis dafür.
({10})
Es reicht auch nicht, daß sich der Bundeskanzler heute morgen darüber beklagt hat, daß es 22 Jahre gedauert hat, bis eine Fakultät an einer Universität wieder zustande gekommen ist. Auch darüber können wir uns beklagen. Aber wenn jetzt z. B. die Hochschulinvestitionen gedeckelt werden und mir unser baden-württembergischer Wissenschaftsminister sagt, das sei deshalb so schlimm, weil er sogar Kompletärmittel hätte, um Hochschulen zu bauen, dann ist das ein Führungsversagen der Bundesregierung, das uns weiter zurückwerfen wird.
({11})
Meine Damen und Herren, das gleiche gilt für die Frage: Wie geht es auf dem Sektor der Arbeitsorganisation weiter? Wenn man von Kostenkrise redet, dann muß man vor allen Dingen diese Frage ansprechen. Sie wissen genauso gut wie ich, daß z. B. Nokia
nicht deshalb von Singapur nach Bochum zurückgekommen ist, weil die Lohnkosten ein riesiger Faktor wären und sie jetzt mit Billiglöhnen arbeiteten. Das ist nicht der Punkt. Nokia produziert in Bochum jetzt mit einer guten, modernen Fertigung. Was früher 16 000 Menschen gemacht haben, machen jetzt 1 600. Mit Spitzenlöhnen machen sie das; aber der Lohnkostenanteil macht nur noch 8 % aus. Das heißt, es geht um andere Fragen.
Sie wissen, daß es bei den Gewerkschaften - ich nenne Walter Riester; ich nenne aber auch Karl Feuerstein, den Betriebsratsvorsitzenden von Daimler-Benz - enorme Anstrengungen gibt, über neue Arbeitsorganisationsformen nachzudenken. An diesen Beispielen zeigt sich, daß moderne Gewerkschaften, die bereit sind, auch an der Arbeitsorganisation mitzuwirken, und die wettbewerbsfähige Arbeitsplätze erhalten wollen, ebenfalls ein positiver Standortfaktor sind, den wir nicht in die Ecke stellen, sondern positiv herausstellen sollten.
({12})
Meine Damen und Herren, der Bundespräsident hat gestern abend in Rostock eine Diskussion aufgenommen, die seit einigen Monaten in Fachkreisen geführt wird, nämlich ob wir nicht so etwas wie einen „Wettbewerbs- und Technologierat" brauchen. Wir kennen die Diskussionen über den Sachverständigenrat und die Monopolkommission, über all die Gremien und Instrumente nach dem Stabilitäts- und Wachstums-Gesetz aus den 60er Jahren, die eigentlich von einer nationalen Volkswirtschaft ausgegangen sind. Das ist heute nicht mehr so der Fall. Wir brauchen dringend ein Instrument, mit dem wir über die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft nachdenken können.
Deshalb möchte ich den Vorschlag ausdrücklich begrüßen, einen „Wettbewerbs- und Technologierat" zu schaffen. Ich kann Sie nur auffordern, diesem Vorschlag beizutreten und mitzuhelfen, damit wir regelmäßig eine sachliche Grundlage haben und nicht nur über Konjunkturfragen reden, sondern auch über Fragen, die die Wettbewerbsfähigkeit insgesamt betreffen.
Meine Damen und Herren, es gibt natürlich auch Führungsmängel in der Wirtschaft. Das ist überhaupt keine Frage. Wenn man sich das heute ansieht, daß sich jeder Unternehmer geradezu in einen großen Wettlauf einreiht, wer die meisten Arbeitsplätze abbaut, dann hat man das Gefühl, als wenn die Unternehmer ihren eigenen Job nicht wirklich aktiv wahrnehmen. Ich habe sowieso das Gefühl, daß wir heute mehr Buddenbrooks der dritten Generation als Boschs der ersten Generation bei den Unternehmern haben; denn eigentlich sollten sie etwas gestalten, etwas unternehmen, was voranbringt.
({13})
Aber wir müssen dabei natürlich auch helfen.
Wenn z. B. - das betrifft vor allen Dingen die kleinen und mittleren Betriebe - in diesem Jahr die
Fördermittel der industriellen Gemeinschaftsforschung von 200 auf 163 Millionen um 23 % gekürzt werden, dann hilft man den kleinen und mittleren Betrieben nicht, sondern dann blockiert man sie eher. Deshalb muß man in diesem Bereich besondere Anstrengungen unternehmen und endlich wieder Existenzgründungen fördern.
({14})
Meine Damen und Herren, ein wichtiger Standortfaktor ist auch, daß es gerecht und fair zugeht. Die Menschen haben nicht das Gefühl, daß es in Deutschland gerecht zugeht.
Philip Rosenthal hat mir gerade geschrieben, daß von 1982 bis 1992 die Einkommen der Deutschen nach Steuern um 52 %, die der Kapitalbesitzer aber um 121,4 % gestiegen sind. Dies ist eine Bilanz auch Ihrer Politik. Sie haben in den 80er Jahren, statt auf Investitionen zu setzen, statt Mittel zu mobilisieren, im Grunde gesagt: Wir brauchen eine Umverteilung von unten nach oben. Daß dies aber in den privaten Konsum statt in die Investitionen geht, war eine Fehlverteilung von Mitteln, die wir heute teuer bezahlen müssen. Auch das muß kritisiert werden!
({15})
Nur wenn wir diese Punkte und andere angehen und versuchen, Weichen für die Zukunft zu stellen, haben wir eine Chance, einen Spitzenplatz zu behalten.
Ich habe mich manchmal, wenn ich an die Regierungserklärung von Kohl denke, an die Rolle von Bush erinnert, die er ein Jahr vor seiner angestrebten Wiederwahl gespielt hat. Sie können sich erinnern, er ist damals im Januar nach Japan gefahren und hat darum gebeten, daß man doch bitte nicht so viele japanische Autos nach Amerika schickt. Die Japaner haben hinter seinem Rücken ein bißchen gefeixt. Und dann hat er auch noch im Tennis gegen den japanischen Tenno 6 : 3, 6: 3 verloren und kam als Verlierer nach Hause.
Ich hatte die große Sorge, daß der japanische Kaiser, als er hier war, den Bundeskanzler auffordert, auch mit ihm Tennis zu spielen. Das wäre natürlich ein Debakel geworden.
({16})
Der englische Komponist Benjamin Britten hat einmal gesagt: „Lernen ist wie Rudern gegen den Strom. Sobald man aufhört, treibt man zurück."
Der Kanzler hat seine Verdienste bei der staatlichen Vereinigung. Aber er wird auch in die Geschichte als der Kanzler eingehen, der dazu beigetragen hat, daß Deutschland Vorsprünge verloren und seinen Spitzenplatz in der Weltwirtschaft eingebüßt hat. Wir Sozialdemokraten werden Sie in Zukunft in der Wirtschaftspolitik noch mehr fordern. Das verspreche ich Ihnen, weil es um die Zukunft unseres Landes und um die Schaffung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze geht.
({17})
Als nächste spricht Frau Kollegin Dr. Margret Funke-SchmittRink.
Frau Präsidentin! Meine Herren! Meine Damen! Die Bildungspolitik von heute bestimmt das Gesicht der Gesellschaft und der Wirtschaft von morgen. Die Qualität unseres Bildungssystems entscheidet, wie wir die Zukunft unseres Landes meistern.
Und wie sieht diese Qualität aus? Um es überspitzt mit dem früheren Vorsitzenden des Wissenschaftsrates zu sagen: Unser Hochschulsystem ist verrottet. Und ich füge hinzu: Die duale Ausbildung ist in der Krise.
Angesichts von mehr als 1,8 Millionen Studenten bei 850 000 Studienplätzen stehen die Hochschulen, wenn man es genau betrachtet, vor dem Ruin. Die Erfüllung der dreifachen Aufgabe der Hochschulen, nämlich Forschung, Lehre und Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses, ist nicht mehr überall gewährleistet. Diese Entwicklung darf nicht weitergehen.
Wir stehen vor folgender Alternative: Man kann den Mangel weiter verwalten. Dies wäre ein Krisenmanagement, mit dem kurzfristig und mittelfristig eine unserer wichtigsten Ressourcen aufs Spiel gesetzt würde. Oder wir stellen jetzt die Weichen für grundlegende Reformen, um die Leistungsfähigkeit der Hochschulen zu sichern.
({0})
Liberale wollen diese prinzipielle Erneuerung der staatlichen Hochschulpolitik im Interesse der einzelnen Menschen, aber auch im Interesse der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit. Ein bloßer Ausbau der Kapazitäten der Hochschulen löst das Problem nicht. Er scheidet auch angesichts der finanzpolitischen Engpässe aus. Es müssen endlich die seit langem von der F.D.P. geforderten Strukturmaßnahmen in Angriff genommen werden.
Drei zentrale Forderungen:
Erstens. Die Universitäten müssen in ihrem Lehrangebot und in der Organisation des Studiums stärker differenzieren, und zwar zwischen einer wissenschaftsbezogenen beruflichen Ausbildung und einem forschungsorientierten Graduiertenstudium.
({1})
Zweitens. Eine berufsorientierte kürzere Universitätsausbildung muß weiterhin ein eigenständiges Profil gegenüber den Fachhochschulstudiengängen aufweisen. Allerdings sollen die Übergänge zwischen praxisorientierter Fachhochschulausbildung und wissenschaftlicher Universitätsausbildung erleichtert werden.
Drittens. Das Universitätsstudium darf nicht von der Forschung abgekoppelt werden. Da die Grundlagenforschung sich heute weitgehend an den Universitäten und an den staatlichen Forschungseinrichtungen abspielt, muß dafür gesorgt werden, daß die Hochschulen nicht weiter in ihren Ausbildungsverpflichtungen ertrinken.
Ein kurzer Exkurs: Was allerdings die angewandte Forschung angeht, so sind es gerade die Klein- und Mittelbetriebe, in denen bahnbrechende Verbesserungen entwickelt werden, obwohl die meisten Forschungssubventionen gerade an die Großbetriebe gehen. Deshalb sagt die F.D.P.: Eine gute Forschungspolitik ist eine gute Mittelstandspolitik.
({2})
Die Hochschulen müssen den Weg aus der starren Administration in einen dynamischen Wettbewerb gehen. Das heißt Strukturreformen, die auf Innovation und Effizienz abzielen. Das heißt Einführung von Wettbewerbselementen, Einführung von finanziellen Anreizmechanismen sowie Einführung von privatwirtschaftlichen Führungs- und Managementtechniken im Hochschulbereich.
({3})
Dies sind Grundvoraussetzungen für eine Verkürzung der Studienzeit, für eine Straffung und Praxisorientierung der Studien- und Prüfungsordnungen und für eine höhere Effizienz und Qualität in Lehre und Forschung.
Meine Herren, meine Damen, wir müssen endlich ein effizientes Hochschulmanagement etablieren, das mit Hilfe betriebswirtschaftlicher Allokations- und Kontrollmechanismen das Verhalten der Hochschulen näher an das Management privater Wirtschaftsunternehmen rückt.
({4})
Die Instrumente für mehr Wettbewerb sind vor allem Finanz- und Verwaltungsautonomie. Das hat ja heute auch schon der Bundeskanzler gesagt.
({5})
- Doch, es ist in diesem Fall ganz richtig.
Dazu gehören neben Globalhaushalten in allen Hochschulen auch grundlegende Veränderungen des öffentlichen Dienstes und des Hochschulrechts sowie die leistungsbezogene Mittelvergabe.
Die Entwicklung an den Hochschulen ist ein europäisches, nicht nur ein deutsches Problem. Überall befindet sich das Hochschulwesen nach einer starken Expansion in einer Phase des Wandels. Je schneller wir in Deutschland den Wandel vollziehen, desto eher schlagen wir daraus Kapital im Wettbewerb. Die Forderung nach mehr und immer mehr Geld für die Hochschulen greift zu kurz. Es erhebt sich überhaupt die Frage, ob das Hochschulsystem in seiner jetzigen Auslegung nicht längst an die Grenzen der öffentlichen Finanzierbarkeit gestoßen ist.
Als Grundlage der modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft muß in gleichem Maß und gleichwertig die berufliche Ausbildung gestärkt werden.
({6})
Deutschland braucht eine Facharbeiterelite als Rückgrat der Wirtschaft. Deshalb muß neben dem allgemeinbildenden Bildungsweg ein gleichwertiger berufsbildender Weg mit Optionen bis zur Hochschule verstärkt gefördert werden.
({7})
1992 gab es 500 000 junge Menschen mit Facharbeiter-, Gesellen- und Gehilfenbrief und 150 000 Hochschulabsolventen. Das Verhältnis war also 3:1. Bevor in fünf Jahren womöglich ein Geselle einem Hochschulabsolventen, eine Gesellin einer Hochschulabsolventin gegenübersteht, scheint doch die Frage berechtigt, ob Lehrlinge nicht viel zu teuer sind.
Das Bundesinstitut für Berufsbildung bestätigt diese Vermutung. Man müsse zwei Lehrlinge ausbilden - nach Schätzungen je 150 000 DM -, um einen im Betrieb zu halten. Ein FH-Absolvent bzw. eine -Absolventin sei billiger, koste nämlich mit Trainee-Programm nur 30 000 DM.
Einem solchen Trend im Lehrstellenmarkt - sollte es denn einer sein - müssen wir energisch entgegentreten. Denn es muß unser aller Ziel sein, mehr Jugendliche für duale Ausbildung zu gewinnen.
Konzeptionelle Ansätze sind erstens Gleichwertigkeit des Berufsschulabschlusses mit dem Realschulabschluß, zweitens fachgebundene Hochschulreife, ermöglicht durch einen vergleichbaren Fortbildungsabschluß wie Meister und Techniker, drittens Hochschulzugang ohne Abitur auf Grund von Zusatzqualifikationen.
Fazit: Nur mit einem vielgliedrigen Ausbildungs- und Weiterbildungssystem können wir den Wirtschaftsstandort Deutschland sichern. Aus der gegenwärtigen Krise des dualen Systems kommen wir aber nur heraus, wenn Jugendliche und Eltern von Industrie, Handel und Handwerk überzeugt werden, nicht nur im Hochschulstudium die allein seligmachende Lebensplanung zu sehen.
Die Wirtschaft muß mit gezielten Aus- und Weiterbildungsgängen ihr Image verändern und in bezug auf Einkommen, Prestige und Aufstiegsmöglichkeiten wirkliche Berufsperspektiven bieten, die als Alternativen zum Studium von jungen Leuten angenommen werden.
Auch im öffentlichen Dienst dürfen Beförderungen nicht weiter an formalen Kriterien, sondern müssen an Leistung und Bewährung orientiert werden. Das A13-Syndrom muß in der akademischen wie in der beruflichen Ausbildung verschwinden.
Vielen Dank.
({8})
Nun spricht der Kollege Bernd Henn.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde es schon phantastisch, zu erleben, wie in einem Land, in dem wir zehn Jahre lang Umverteilung von unten nach oben hinter uns haben, in dem die Reichen in der Tat reicher geworden sind, in dem gleichzeitig Massenarbeitslosigkeit und Sozialhilfebedürftigkeit steigen, durch
diese Standortdebatte eine Stimmung aufgebaut werden soll - ich denke, leider auch mit Erfolg -, die nach noch größeren Opfern ruft, ausgerechnet zu Lasten jener, die in der Vergangenheit bereits Federn lassen mußten.
Ich glaube deshalb, man kann die Fakten nicht oft genug nennen: Da haben sich in Westdeutschland in den letzten zehn Jahren die Gewinne real verdoppelt, während die Löhne fast stagniert haben. Da fällt der Anteil der Arbeitnehmereinkommen am Volkseinkommen auf einen Stand wie in der Adenauer-Ära. Da wird von der Bundesbank bekanntgemacht, daß die Produktionsunternehmen über 600 Milliarden DM an liquiden Mitteln verfügen. Da gehen westdeutsche Konzerne und Banken Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre auf Einkaufstour und übernehmen eine Vielzahl von Unternehmen im westlichen Ausland, darunter Brocken, die fünf, sechs und mehr Milliarden DM kosten.
In dieser Situation, nachdem es zehn Jahre lang für das obere Drittel in der Gesellschaft phantastisch gelaufen ist, setzt die Regierung in der aktuellen Konjunktur- und Wachstumskrise weiter voll auf Angriff, Angriff auf den Sozialstaat, Angriff auf die Tarifautonomie. Sie fordern mehrjährige Reallohnverluste für die Arbeitnehmer, attackieren Urlaubsregelungen, Urlaubsgeld und Arbeitszeit der deutschen Arbeitnehmer. Das ist eine so gewaltige Dreistigkeit, daß man sie in gewisser Weise fast schon wieder bewundern muß.
Ich glaube aber andererseits, daß die Regierung Kohl keine andere Chance hat, als auf diesem Weg weiterzumarschieren, wenn sie politisch überleben will. Denn wer dieses Land elf Jahre lang regiert hat und die Weichen dabei so falsch gestellt hat - in der Technologiepolitik, durch die Vernachlässigung der modernen Wachstumsindustrien, mit der selbstverschuldeten Einengung der Finanzspielräume des Staates, weil das Geld durch Steuergeschenke an die Unternehmer verschleudert wurde und weil die aus dem Anschluß der DDR zu bewältigenden Probleme so falsch angepackt wurden -, wer also die Sache so vermasselt hat, der kann die Flucht nur nach vorne antreten. Wer blühende Landschaften versprochen, aber Industriewüsten geschaffen hat,
({0})
der muß so vorgehen, der kann gar nicht anders, als Entlastungsangriffe zum Ablenken von dem eigenen Versagen zu fahren.
Da attackiert der Kanzler z. B. auf seiner Japanreise die angeblich faul und bequem gewordenen deutschen Arbeitnehmer. Heute hörten wir von ihm das Wort vom „kollektiven Freizeitpark Deutschland", und er meinte nicht die 5 Millionen Arbeitslosen. Ich will zu dem Unsinn der geforderten Arbeitszeitverlängerung bei fünf Millionen fehlenden Arbeitsplätzen nichts hinzufügen. Dazu ist in der Debatte schon einiges gesagt worden.
Aber nehmen wir z. B. die vom Kanzler geforderte Verlängerung der Lebensarbeitszeit, weil ihm das durchschnittliche Rentenzugangsalter von 59 Jahren zu niedrig erscheint. Ich meine, man könnte in der Tat
etwas tim, damit das Rentenzugangsalter höher ist. Nur müßte man sich dann darum kümmern, wie die Arbeitsbedingungen in den Betrieben aussehen; dann müßte man über Arbeitsschutzgesetze und anderes reden. Dann hätten wir nicht den derzeitigen Zustand,
({1})
daß fast die Hälfte aller Rentenzugänge auf Frühinvalidität bzw. Berufsunfähigkeit beruhen, Frau Kollegin. Ich glaube, der Kanzler weiß nicht - Sie vielleicht auch nicht -, wie es wirklich um Streß, um Arbeitshetze, um körperliche und nervliche Belastung im Arbeitsleben bestellt ist. Wer das nicht weiß, kann fordern, daß wir eine Arbeitszeitverlängerung brauchen.
({2})
- Ich habe noch gute Erfahrungen, Herr Hinsken. Aber Ihnen gestehe ich das auch zu. Ich kenne Ihre Berufsentwicklung und nehme an, daß Sie wissen, wovon Sie reden, wenn Sie davon sprechen.
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Ein weiteres Beispiel für die ständigen Ablenkungsmanöver. Da wird von zu kurzen Maschinenlaufzeiten in Deutschland gesprochen. Ich glaube, es sind im Durchschnitt 53 Stunden. Aber vielleicht sagt die Regierung einmal etwas dazu, was auch heute schon gesetzlich und tariflich möglich und zulässig ist. Die Tatsache ist die, daß die Unternehmen die Spielräume überhaupt nicht ausschöpfen. Warum auch, wenn die Nachfrage so ist, wie sie zur Zeit ist?
Ein letztes Beispiel. Der Kanzler hat heute geklagt, daß sich der ICE in Südkorea nicht verkaufen läßt, weil angeblich zu wenig Betriebserfahrung damit in Deutschland vorliegt. Schade, daß der Kanzler nicht mitbekommen hat, wie gestern im Wirtschaftsausschuß über die katastrophale Präsentation des ICE durch die Firma Siemens in Ostasien gelästert wurde. Es wurde kein gutes Haar an dem Weltkonzern gelassen. Er hat offensichtlich auch noch den falschen Politiker, einen General, in Südkorea geschmiert, der jetzt wegen Korruption im Gefängnis sitzt. Auch so kann man Verkaufschancen im Ausland vertun.
Man könnte die Beispiele fortsetzen. Es läuft immer wieder auf dasselbe hinaus: Diejenigen, die die Sache vermasselt haben, suchen Schuldige, denen sie den Schwarzen Peter anhängen können. Weil sich das mit den 40 Jahren SED-Herrschaft so langsam verbraucht und sicher auch nicht mehr so stimmt, wird die alte Schlachtordnung aufgebaut, die wir schon 1974/75 hatten und auch in der Krise 1981/82, die da heißt: Standortdebatte kontra Arbeitnehmer und Gewerkschaften.
Ich hoffe sehr, daß die Arbeitnehmer dieses Spiel durchschauen und sich nicht bange machen lassen, auch nicht in der anstehenden Tarifauseinandersetzung bei Metall. Heute ist schon von „zu hohen Forderungen" gesprochen worden. Ich denke, die 6 %, die die IG Metall beschlossen hat, werden es am
Ende nicht werden. Aber der Inflationsausgleich ist gerechtfertigt und ist auch etwas, was in diesem Land verkraftbar ist und notwendig für die, die es brauchen.
({4})
Das Wort hat nun der Kollege Ernst Hinsken.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich erspare mir, näher auf Ihre Ausführungen, Herr Henn, einzugehen.
({0})
Aber als Kommunist hätten Sie es dringend nötig, einmal ein Seminar zu besuchen, das sich speziell mit marktwirtschaftlichen Zusammenhängen beschäftigt,
({1})
um genau zu wissen, worauf es ankommt. Das wäre dringend erforderlich. Aber ich bezweifle auch hier, daß das gegebenenfalls wirken würde.
({2})
In einem Kommentar des „Straubinger Tagblatts/ Landshuter Zeitung" schrieb vor wenigen Tagen Dr. Hans Götzl u. a.:
Zweifelsohne hat die gegenwärtige Krise den Blick geschärft, und es lohnt sich, den berühmten Professor Binse wieder einmal zu Wort kommen zu lassen: Ein Arbeitsplatz entsteht, wenn ein Unternehmen Güter oder Dienste wettbewerbsfähig produziert, bei deren Fertigung Arbeitnehmer ihr Einkommen am Markt verdienen können. Sind die Kosten dieses Arbeitsplatzes zu hoch, wird auf die Einstellung verzichtet oder entlassen. Das geschieht nicht aus Kaltschnäuzigkeit, sondern weil das Unternehmen seine Existenz und die verbleibenden Arbeitsplätze retten muß.
({3})
Wie recht hat doch der Professor Binse! Um bei ihm zu bleiben: Es ist doch eine Binsenweisheit, daß nur verteilt werden kann, was vorher erwirtschaftet wurde, oder daß wir in den letzten Jahren über unsere Verhältnisse gelebt haben und in Zukunft kürzertreten müssen bzw. daß wir unser Anspruchsdenken zurückschrauben müssen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ganz Europa muß den Gürtel enger schnallen, hieß es jüngst in einer großen deutschen Zeitung. Auf uns bezogen heißt das u. a.: Man kann nicht die kürzesten Arbeitszeiten, den längsten Urlaub, die besten Sozial- und Umweltstandards haben und sich gleichzeitig den
Luxus leisten, nicht mehr wettbewerbsfähige Arbeitsplätze mit Milliarden von DM zu subventionieren.
({4})
Man kann nicht Technologien wie die Biotechnologie oder die Kernenergie mit dumpfer Technikfeindlichkeit bekämpfen und sich wundern, daß Investitionen nicht in Deutschland, sondern in anderen Ländern stattfinden.
({5})
Wir müssen uns endlich wieder bewußt werden, daß die wirtschaftlichen Probleme offenbar machen, daß wir unsere Systeme überfordern: das Sozialsystem, das Tarifsystem, das Rechtssystem und das staatliche Einnahmesystem. Ich warne uns alle davor, die Augen vor diesen Realitäten zu schließen. Wer immer ein soziales Gewissen für sich in Anspruch nimmt, muß jetzt dafür sorgen, daß dem Sozialstaat nicht die wirtschaftliche Basis genommen wird.
({6})
Diese Basis befindet sich heute im breiten Mittelstand, der sich vor neue Herausforderungen gestellt sieht. Ich denke hier nicht nur an die völlig neue Situation, die sich im Grenzgebiet zur tschechischen Republik ergibt, wo man sich unmittelbar mit niedrigeren Löhnen konfrontiert sieht. Hier liegen die neuen Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen und bei denen es gilt, hellwach zu sein.
Zudem darf nicht sein, daß der Weg in die ZweiKlassen-Gesellschaft weitergegangen wird, in der die einen nach der 35-Stunden-Woche schreien und die anderen - wie ein Großteil der Mittelständler - das Doppelte und mehr arbeiten müssen, damit sie überhaupt noch über die Runden kommen.
({7})
Noch ein Wort zum Mittelstand: Kürzlich fragte ich einen Unternehmer, was ihn am meisten belaste. Er nannte drei Dinge.
Erstens: die hohe Sozialbelastung. Hier handelt die Bundesregierung; der Umbau ist schon im Gange.
Zweitens: die hohe Steuerbelastung.
({8})
Hier haben wir bereits über das Standortsicherungsgesetz etwas getan.
Drittens: die hohe Bürokratiebelastung. Hier sind wir gefordert. Wir müssen dringend handeln. Das wurde auch seitens unseres Bundeskanzlers heute bei der Regierungserklärung zum Ausdruck gebracht.
Meine Damen und Herren, im Bonner „GeneralAnzeiger" von gestern lese ich im Kommentar: „Lafontaine setzt bei seinen Parteigenossen Einsichten in wirtschaftspolitische Zusammenhänge voraus, die viele nur rudimentär besitzen."
Meine Damen und Herren Kollegen von der SPD, dies ist ein wahrer Satz, der auch erklärt, warum Sie in der heutigen Debatte immer an der falschen Stelle
klatschen. Doch auch die Erkenntnisfähigkeit von Herrn Lafontaine ist begrenzt.
({9})
Die Widersprüche in der Wirtschaftspolitik bleiben doch nach wie vor bestehen. Erstens. Sie von der SPD behaupten, Sie seien für Investitionen, aber Ihr Programm spricht von Energiesteuern, von Arbeitsmarktabgaben und von Investitionslenkung.
Zweitens. Sie von der SPD behaupten, Sie seien für die Senkung der Lohnnebenkosten, aber Sie leisten seit Monaten erbitterten Widerstand gegen die notwendige Kompensation bei der Pflegefallabsicherung.
Drittens. Sie von der SPD behaupten, Sie seien für Subventionsabbau, aber Sie verweigern eine vernünftige Lösung bei Bergbau und Stahl und machen im Ruhrgebiet Stimmung mit dem Ziel, Subventionen zu erhalten.
Viertens. Sie von der SPD behaupten, Sie seien für Ökologie, aber Sie machen gegen die umweltschonende friedliche Nutzung der Kernkraft Front, während in anderen Staaten längst erkannt wurde, daß nur durch sie die Klimaproblematik gelöst werden kann.
({10})
Fünftens. Sie von der SPD behaupten, Sie seien für die Entlastung des Faktors Arbeit, aber Sie reden weiteren Verkürzungen der Arbeitszeit das Wort und leisten damit einer unglaublichen Ressourcenverschwendung an gut ausgebildeten und qualifizierten Facharbeitern Vorschub.
Sechstens. Sie von der SPD behaupten, Sie seien für das beste Berufsbildungssystem, aber Sie betreiben seit Jahren eine Bildungspolitik, die auf Nivellierung und Leistungsfeindlichkeit ausgerichtet ist.
({11})
Sie von der SPD behaupten, Sie seien für wettbewerbsfähige Arbeitsplätze, aber Sie propagieren den öffentlich geförderten zweiten Arbeitsmarkt als Lösung aller Beschäftigungsprobleme.
Achtens. Sie von der SPD behaupten, Sie seien für Zukunftsförderung, für Innovation, aber Sie fördern eine dumpfe Zukunftsangst durch Ihren Widerstand bei der Gentechnologie und, wie gesagt, bei der Kernenergie.
Neuntens. Sie von der SPD behaupten, alles zu tun, daß der Wirtschaftsstandort Deutschland wieder gefestigt wird, aber Sie sperren sich gegen eine Verlängerung der Maschinenlaufzeiten.
({12})
- Herr Rappe, ich verstehe, daß Sie das aufregt. Sie sind einer der vernünftigen Leute in der SPD-Fraktion, aber leider Gottes sind es zuwenig vernünftige Leute.
Zehntens. Sie von der SPD behaupten, etwas von Wirtschaft zu verstehen, aber Sie propagieren ein
Programm, das der Sozialen Marktwirtschaft den Garaus macht.
({13})
Meine Damen und Herren, ich verstehe die Welt nicht mehr. Umdenken heißt das Gebot der Stunde. Alle sind gefordert: die Unternehmer, die durch neue Produkte wettbewerbsfähig bleiben und sich neue Absatzmärkte erschließen müssen, die Gewerkschaften, die einsehen sollten, daß der überzüchtete Sozialstaat wirkliche Solidarität gefährdet, der Staat, der seinen vermeintlichen Finanzbedarf drosseln sollte. Wer meint, den Leistungsträgern in der Gesellschaft immer höhere Abgaben aufbürden zu können, höhlt das System der Sozialen Marktwirtschaft aus.
({14})
Sorgen wir alle dafür, daß wieder Aufbruchstimmung erzeugt wird, dann wird mir nicht bange, die Gegenwart und auch die Zukunft zu meistern.
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen nicht vorenthalten, daß ich heuer die Möglichkeit hatte, im Schwarzwald Urlaub zu machen.
({15})
- Ich bedanke mich für das, was Kollege Gallus sagt. Es war auch sehr schön. - Unter anderem habe ich den Dom in St. Blasien besichtigt.
({16})
Am Eingangsportal dieses eindrucksvollen Bauwerks war u. a. ein Leitspruch zu lesen, der mich sehr beeindruckt hat. Unter dem Titel, daß die Menschen in drei Gruppen einzuteilen sind, heißt es dort: erstens die wenigen, die dafür sorgen, daß etwas geschieht, zweitens die vielen, die zuschauen, wie etwas geschieht, und drittens die überwiegende Mehrheit, die keine Ahnung hat, was überhaupt geschieht. Auch wir Politiker sollten selbstkritisch an unsere Brust klopfen. Auch wir sind gemeint. Von uns wird erwartet, daß etwas geschieht. Jetzt ist wieder die Zeit gekommen, sich dessen zu erinnern und nachzuahmen, was vor über vier Jahrzehnten unsere Väter und Großväter geleistet und getan haben. Sie schrien nicht nach dem Staat, sondern krempelten die Ärmel hoch und schufen die Grundlage für die Entwicklung unseres Sozialstaats, um den wir von allen Seiten beneidet werden. Das, was damals an Aufbruchstimmung erzeugt wurde, sollte auch in der Gegenwart und für die Zukunft gelten. Wenn wir das beherzigen, ist mir nicht bange, daß wir die großen Probleme, die momentan vor uns liegen, bewältigen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({17})
Nun spricht Kollege Ulrich Briefs.
Es tut mir fast leid, daß ich nach dieser weihevollen Rede jetzt in eine ganz andere Kerbe hauen muß.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Standortdebatte mutet in weiten Bereichen wie eine Geisterdebatte an. Objektive Anzeichen für einen Standortverfall bzw. eine massive Modernitätslücke in Deutschland gibt es nicht oder kaum. Der verstärkte Zug deutschen Produktivkapitals ins Ausland z. B. findet seit 20 Jahren statt. Seit dieser Zeit exportiert Deutschland mehr Kapital, als ausländische Anleger hier anlegen. Das ist einfach ein Fakt. Bei den Lohnstückkostensteigerungen liegt die Bundesrepublik in den letzten zehn Jahren unter dem europäischen Durchschnitt. Der Standort Deutschland ist nach wie vor Exportweltmeister. Die Exporterfolge belegen wie auch die deshalb so starke D-Mark, daß deutsche Produkte und Fabriken nach wie vor modem sind.
Nein, die Ursachen für die inzwischen riesigen ökonomischen Schwierigkeiten dieses Landes sind in erster Linie auf das komplette Versagen dieser Bundesregierung und dieser Koalition beim Managen des deutsch-deutschen Einigungsprozesses zurückzuführen. Sie sind in zweiter Linie auf die mit dem Versagen der Bundesregierung bei der Wiedervereinigung zusammenhängende Verschuldungsorgie zurückzuführen.
Sie sind in dritter Linie zurückzuführen auf eine ganze Palette falscher Maßnahmen zur Anpassung an die dadurch geschaffenen Bedingungen: Umverteilung von unten nach oben, Sozialabbau, Abbau von ökologisch notwendigen Mitsprache- und Kontrollrechten, unbedachte Deregulierung, perspektivlose Privatisierung, die vielfältigen sonstigen Vorstöße zu einer neokonservativen Wende, geradezu zurück ins gesellschaftspolitische Mittelalter.
Insbesondere der Sozialabbau ist nicht nur unsozial und ökonomisch kontraproduktiv; er hat geradezu - ich sage das nach den gestrigen Äußerungen von Regierungssprecher Vogel sehr bewußt - terroristische Qualitäten. Wenn Presseprecher Vogel die Verbrennung von Strohpuppen mit dem Schild „Rexrodt" durch Bergarbeiter als „terroristische Handlungen" bezeichnet, so ist man zumindest versucht zu sagen, diese Bundesregierung, diese Koalition verhalten sich geradezu wie Sozialterroristen. Die wiederholten Sozialleistungskürzungen bei den Ärmsten der Armen müssen bei diesen Betroffenen inzwischen doch tatsächlich wie Terror wirken.
Vom „Freizeitpark Bundesrepublik" zu reden - angesichts etwa 7 Millionen fehlender Arbeitsplätze - ist geradezu Zynismus. Man kann nur hoffen, daß dieser Zynismus vor dem Fall kommt. Von Arbeitszeitverlängerung zu reden ist dabei exakt das Gegenteil von dem, was notwendig ist. Als wesentliches, bei weitem nicht als alleiniges Mittel zur Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten sind Arbeitszeitverkürzungen notwendig.
({0})
Als Gewerkschafter weiß man, was es an innergewerkschaftlichem Umdenken, z. B. in der IG Medien, bedeutet, wenn bei einem durchschnittlichen Arbeitnehmer-Nettomonatsverdienst - bundesweit auf alle Arbeitnehmer bezogen - von ca. 2 500 DM auf den vollen Lohnausgleich verzichtet wird. Herr Hinsken, das sollten Sie sich zu Gemüte führen.
Vorwärtsweisend in diesem Zusammenhang ist insbesondere das Konzept der Arbeitszeitverkürzung in der Arbeitszeit, wie es hier in einem Grundzug vom Ministerpräsidenten des Saarlandes angesprochen wurde. Arbeitszeitverkürzung in der Arbeitszeit heißt Nutzung durch neue Technologien und immer kapitalintensivere Produktion und auch Verwaltung freigemachter Arbeitszeit für Streßabbau, für Weiterbildung - das hatte der Ministerpräsident des Saarlandes angesprochen ({1})
- das paßt Ihnen nicht, Herr Gallus, das weiß ich - und für demokratische Information sowie für Mitbestimmung am Arbeitsplatz und im Betrieb.
Wir haben dieses Konzept in den Gewerkschaften in den 80er Jahren entwickelt und propagiert, damals als Antwort auf die gegenüber heute vergleichsweise glimpfliche Arbeitslosigkeit. Diese Politik der qualitativen Arbeitszeitverkürzungen ist aktueller denn je. Sie schafft zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten. Sie ist eine der ganz modernen Antworten auf die wirtschaftlichen und sozialen Probleme in diesem Land.
Katastrophal im Sinne des Wortes - das wurde bereits mehrfach angesprochen - sind die Kürzungen in den Zukunftsetats des BMFT und des BMBW. Dagegen bleibt der Rüstungsetat trotz ersatzlosen Wegfalls des traditionellen Feindes im Osten fast auf der alten Höhe des Kalten Krieges. Das ist übrigens die bemerkenswerteste Leistung des politischen Managements dieser Bundesregierung: weiter Hochrüstung zu betreiben, obwohl kein Feind mehr da ist. Man muß sich überlegen, welcher Widersinn das ist, wenn man bedenkt, daß auf der anderen Seite in dringend notwendigen Fällen, in Zukunftsbereichen gekürzt wird.
Wie will diese Bundesregierung moderne Produktionen in den fünf neuen Ländern schaffen, nachdem sie die Industrieforschung in diesen Ländern von 70 000 auf gerade noch 15 000 Stellen hat schrumpfen lassen?
({2})
Alte und neue Militärstandorte im Osten sind doch kein Ersatz; sie sind wirklich nicht sonderlich innovativ.
Konzeptionslos, ohne die notwendigen Ansätze einer Industriepolitik in Ost und West ist die Politik dieser Bundesregierung. Das Standortsicherungspapier ist kein Ersatz für ein fehlendes Konzept. Es zieht noch nicht einmal die Lehre aus den Folgen und dem Scheitern der Politik von Reagan und Thatcher in vergleichbaren Ländern. Das Standortsicherungspapier dieser Bundesregierung ist ein Kotau vor einem seit j eher eigentlich überholten marktwirtschaftlichen Dogmatismus. Die Marktwirtschaft bedarf sehr kluger Rahmenregelungen und auch gewisser intelligent steuernder Konzepte, eben die der Industriepolitik. Nur mit diesen Stützen kann sie ihre Hauptfunktion, das flexible und vorausschauende Abtasten von Bedarf und Bedürfnissen, erfüllen.
Diese Bundesregierung verhält sich indes so, daß einem ein Wort von Karl Kraus abgewandelt in den Sinn kommen muß: Sie wird durch Erfahrung dumm. Was bleibt, ist ein Standortsicherungspapier, das den Vorwand für einen geradezu flächendeckenden Sozialabbau, ich habe es so genannt: Sozialterror, liefert.
Diese Bundesregierung setzt eben nicht an den vielfältigen Entwicklungen an, die die Arbeitsplätze immer teurer und rarer machen und die unter anderem die Personal- und die Personalnebenkosten zum nachrangigen Faktor gemacht haben. Die Spatzen pfeifen es doch in den Betrieben von den Dächern: Das Hauptproblem sind die kapital- und technologiebedingten Fixkosten und sonstige Gemeinkosten und längst nicht mehr die Personalkosten. Doch statt an den Hauptkostenblöcken mit sinnvollen Modernisierungsmaßnahmen anzusetzen, verfährt diese Bundesregierung nach dem Motto, die Reichen noch reicher zu machen in der Hoffnung, daß die so Begünstigten ihr die Probleme abnehmen. Es wird höchste Zeit, daß dieser verhängnisvollen Politik Einhalt geboten wird. Ich glaube, diese Aufgabe stellt sich insbesondere in den zahlreichen Auseinandersetzungen des nächsten Jahres.
Frau Präsidentin, ich danke Ihnen.
Herr Kollege Dr. Briefs, ich weise Sie darauf hin, daß - auch wenn Sie es geschickt formuliert haben - ein Ausdruck wie
- ich gebe es sinngemäß wieder - „die Mitglieder der Bundesregierung verhalten sich wie Sozialterroristen" nicht parlamentarisch ist. Dies ist kein Ordnungsruf, sondern ein Hinweis darauf, sich einer anderen Sprache zu bedienen.
({0})
- So ist es, Herr Kollege Lambinus.
Nun kommt als nächster der Kollege Erich Maaß zu Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte ausschließlich auf das Thema Forschungs- und Technologiepolitik eingehen. Nach dem Debattenverlauf heute morgen muß ich auf folgendes hinweisen: Ich bin sehr dankbar und froh darüber, daß auch der Herr Bundeskanzler auf die Forschungs- und Technologiepolitik als ein Kernstück hingewiesen hat und seine Zusage erneuert hat, im Rahmen der Haushaltsberatungen für den Haushalt Forschung und Technik zusätzliche Mittel zur Verfügung stellen zu wollen.
Meine Damen und Herren, ich rufe an dieser Stelle auf: Wir brauchen jetzt in dieser Republik eine Forschungs- und Technologieoffensive. Gerade in einer Phase der strukturellen Rezession müssen wir zusehen, daß wir uns antizyklisch verhalten und daß wir jetzt mit Forschung und Technologie Investitionen tätigen, damit die Arbeitsplätze in der Zukunft für die nächste Generation gesichert werden.
({0})
- Wissen Sie, lieber Kollege von der SPD, ich würde mich freuen, wenn noch ein paar Kollegen von Ihnen mehr hier im Saal wären.
({1})
- Sie auch, das glaube ich sogar.
Ich habe heute schon mehrfach gehört, daß gesagt worden ist: Warum handeln Sie nicht? Das sind pauschale Schuldzuweisungen gewesen. Wir haben den Mut dazu, heute festzustellen, daß wir Strukturen verändern müssen. Wir sind auch bereit dazu.
({2})
Bei Ihnen ist doch das Versagen der Opposition sichtbar. Sie müßten uns doch als knackige Opposition zeigen und sagen, wo Sie hinmarschieren wollen. Aber das bleibt leider aus.
({3})
Deshalb sagen wir, wo wir verkrustete Strukturen aufbrechen wollen. Dies mußte einmal gesagt werden. Ich habe genug Zeit.
Ein weiterer Punkt: Die Kollegen, die Forschungspolitiker der Union, haben gestern ein 22-PunkteProgramm veröffentlicht. Dies haben wir mit Bedacht getan, weil wir nicht lamentieren, sondern deutlich zeigen wollen, wo strukturelle Veränderungen vorzunehmen sind. Ich möchte hier einmal auf einige Punkte eingehen und dabei nicht irgendwelche Interpretationsirritationen aufkommen lassen.
Stichwort „Strategierat Technik 21. Jahrhundert": Ich habe in der Debatte heute morgen gemerkt, daß auch Herr Ministerpräsident Teufel hier völlig gleich mit uns liegt. Ich könnte mir vorstellen, daß es hier sehr viele Sympathisanten gibt, die uns auf diesem Weg unterstützen. Dies soll kein staatlicher Dirigismus sein. Es soll auch keine Anmaßung dergestalt sein, daß der Staat vorgibt, was zukünftig zu tun ist und wo Wachstumsfelder sind. Wir müssen endlich den Versuch unternehmen, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik an einen Tisch zu bekommen und dann zusammen einmal folgendes zu definieren:
Erstens. Es besteht Einigkeit darüber, daß wir an dem hohen Wert der Grundlagenforschung in dieser Republik weiter festhalten wollen.
Zweitens. Wir müssen sagen, wo unsere Stärken und unsere Schwächen liegen. Bei den Schwächen müssen wir den Mut haben, sie entweder zu beheben oder die Problemfelder abzustreifen. Wenn wir unsere Stärken definieren können, müssen wir zusehen, daß wir gemeinsam konzertiert auf diese Stärken hinarbeiten.
Warum sollte es uns nicht gelingen, hier ein nationales Ziel für Wachstumsfelder zu definieren, die uns die Wertschöpfungspotentiale in den nächsten Jahrzehnten garantieren?
({4})
Ähnlich machen es die Japaner, ähnlich machen es die Amerikaner. Wir wollen kein MITI. Hier können wir klar feststellen: Wenn wir Wissenschaft, Wirtschaft und Politik an einem Tisch haben, dann können wir alle Beteiligten mit in die Verantwortung nehmen.
Erich Maaß ({5})
Dann kann sich auch keiner aus der Verantwortung stehlen. Die Politik sollte hier eine Moderatorenfunktion übernehmen und sollte zusammenführen und diese nationalen Ziele für eine künftige Wirtschaftspolitik mit definieren. Das ist meine Bitte.
Ich bin gar nicht so unfroh darüber, denn in einem Nebensatz habe ich vorhin, wenn ich den Herrn Wirtschaftsminister richtig verstanden habe, gehört, daß er sehr keusch und zurückhaltend das Wort Industriepolitik in den Mund genommen hat. Ich will keine Industriepolitik. Aber ich glaube, wir müssen Instrumentarien haben, die uns die Möglichkeit geben, hohes Potential an Wissenschaft und Forschung möglichst schnell in den Markt zu bringen.
({6})
Das kann die Forschungspolitik nicht. Dazu brauchen wir wirtschaftspolitisches Instrumentarium und wirtschaftspolitische Unterstützung. Das ist ein Defizit, das in dieser Republik immer größer wird.
Ich möchte auf einen weiteren Punkt eingehen. Ich sehe es mit Bekümmernis - und das teilen viele Kollegen -, daß wir durch den Zuschnitt der Bundesressorts zu stark in diesen Ressorts argumentieren und denken. Wir brauchen eine stärkere Verzahnung der Ressorts untereinander. Forschungspolitik, Forschungsergebnisse, flankiert durch wirtschaftspolitische Maßnahmen, helfen uns, Wertschöpfung zu schaffen. Dasselbe gilt für Forschungspolitik und Bildungspolitik, Forschungspolitik und auch Finanz- und Steuerpolitik.
({7})
Ich freue mich, daß diese Interessengleichheit bei Herrn Rexrodt vorhanden ist. Lassen Sie uns gemeinsam auf diesem Weg weiter voranschreiten.
Deshalb auch die Forderung von uns: So wie Wirtschaftspolitik Psychologie ist, ist auch Forschungs- und Technologiepolitik Psychologie. Deshalb die Bitte, diesen Strategierat hoch anzusiedeln. Der Bundeskanzler sollte sich das auf die Fahnen schreiben und sollte die unterschiedlichen Kombattanten hier an einen Tisch holen.
({8})
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, was, glaube ich, reformbedürftig ist und was korrigiert werden muß. Stichwort Europa. Wir können nicht mehr isoliert arbeiten, sondern wir wollen in einem vereinten Europa marktstrategisch arbeiten. Ich stelle mit Sorge fest, daß wir die personelle Ausstattung unterhalb der Kommissare noch verbessern, deutlich verbessern müssen. Es nutzt nichts, daß wir Programme der EG auf den Tisch bekommen und dann eine Reaktionszeit von sechs oder acht Wochen haben. Da laufen auch unsere Freunde und unsere Unternehmen in der heimischen Wirtschaft gegen die Wand.
Wir müssen viel früher in den Gestaltungs- und Definitionsprozeß europäischer Programme mit eingebunden sein, um unsere nationalen heimischen Interessen frühzeitig mit unterzubringen. Hier brauchen wir eine Verstärkung sowohl in Brüssel als aber auch im Bundesministerium für Forschung und Technologie.
Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen möchte, ist das Stichwort Technikakzeptanz. Es ist mittlerweile Mode geworden, daß wir uns stundenlang über Chancen und Risiken moderner Technik unterhalten. Manchmal habe ich den Eindruck, daß wir nur noch über Risiken diskutieren und die Chancen dabei auf der Strecke bleiben.
Ich bitte hier dringend - ich mache hier keine Schuldzuweisungen -: Die vernünftigen Köpfe in allen Fraktionen müssen auf diesem Weg endlich mal voranschreiten und müssen deutlich machen, wo die Chancen neuer Technologien liegen.
Ich richte hier einen weiteren Appell an die Bundesratsseite. Leider ist dort niemand mehr anwesend. Ich sehe hier auch eine Aufgabe für unsere Kultusminister. Wir müssen wieder offensiv in die Schulen hineingehen und müssen dort die Angst und die Sorge vor neuen Techniken nehmen. Wir müssen dort aufklären.
Hier appelliere ich an unsere Medien, denen auch eine Verantwortung zukommt. Es ist zwar wunderschön, wenn man mit Horrorszenarien die Auflagen steigern kann. Es nutzt uns aber insgesamt nicht, wenn wir mit so einer Politik weiter arbeiten.
({9})
Ich habe noch drei Minuten. Dann kann ich noch einige Sachen loswerden. Bei diesem 22-PunktePaket, das wir gestern präsentiert haben, haben wir keine Angst gehabt, auch einige Problemfelder mal anzusprechen, von denen wir wissen, daß wir uns da in den nächsten Monaten streiten müssen.
Wir haben das Stiftungswesen reformiert. Wir haben hier die Möglichkeit, an erhebliche Mengen Geld aus Stiftungen heranzukommen. Warum gelingt es uns nicht, ähnlich wie die Amerikaner dieses tun, das Stiftungswesen stärker zu mobilisieren, damit wir zusätzlichen Schub und zusätzliche Investitionen auch gerade im Bereich der Forschung und Technologie in Gang setzen? Ein Punkt, über den man mal nachdenken muß, wo wir initiativ werden sollten.
Weiter sehe ich nicht ein - diese Auffassung teilen viele Kollegen -, daß wir den Begriff der Militärforschung als unkeusch aus der öffentlichen Diskussion herausgelassen haben. Wenn wir in diesem Bereich erhebliche Investitionen in Forschungsaufwendungen getätigt haben, dann sollten wir heute die Möglichkeit besitzen, auch auf dieses Know-how zurückgreifen zu können und Techniken, Verfahren und Produkte, die der Markt braucht und die hier entwikkelt worden sind, umzusetzen. Ich appelliere an dieser Stelle, daß eine stärkere Öffnung erfolgt.
({10})
- Der zivile Markt, lieber Herr Kollege. Es wäre doch hirnrissig, wenn wir dieses vorhandene Know-how brachliegen ließen, aber zusätzliche Gelder in Forschungsvorhaben investieren müßten, die wir schon getätigt haben.
Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel ansprechen, Stichwort: Hochschulen. Warum greifen wir nicht die Forderung der Hochschulrektorenkonferenz auf? Diese lautet: Wir wollen ein Pilotvorhaben bei 20 oder 30 Lehrstühlen in dieser Republik installieren. Die
Erich Maaß ({11})
Herren Professoren sollen ihren Lehrauftrag acht Monate vollziehen, dann die Möglichkeit haben, sich vier Monate lang als Unternehmer zu engagieren. Was sie dort einnehmen, soll in ihre Institute zurückfließen.
Wir machen das Gegenteil: Landesmittel werden, wenn Drittmittel von Professoren eingeworben sind, gekürzt. Das ist kontraproduktiv. Hier ist ein Anreiz zu schaffen, um Know-how, Technologietransfer mobilisieren zu können.
Ich könnte noch einige Punkte nennen, merke aber, daß meine Zeit abgelaufen ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zum Abschluß noch eine Bitte. Bei aller politischen Widersprüchlichkeit müssen wir uns auf eines konzentrieren: Wie schaffen wir es, uns mit allen Beteiligten in dieser Republik künftig mit Forschungs- und Technologiepolitik auf Wachstumsfelder zu begeben, die hohe Wertschöpfungen garantieren? Wenn uns das gelingt, dann stabilisieren wir den Wirtschaftsstandort Bundesrepublik Deutschland. Das ist unsere Herausforderung; wir müssen diese Chance begreifen.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Krause ({0}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Je leerer der Saal, um so besser wurden die Reden. Herr Hinsken als Bäckermeister hat heute wohl die beste Rede gehalten.
Kostenkrise - mit diesem Wort konnte man bisher die Debatte überschreiben. Ich sage, die Kostenkrise ist eine Folge des Freihandels; korrekt muß es heißen: Kosten-Konkurrenz-Krise.
Herr Hinsken, Sie sagten sehr richtig, die Mittelständler arbeiteten sich tot, auch die Bauern. Sie müssen viele, viele Stunden auch nach dem üblichen Feierabend arbeiten, um sich gegenüber der Billigkonkurrenz überhaupt behaupten zu können. Unsere Bauern arbeiten, gerechnet mit nur 80 Wochenarbeitsstunden, für 3,60 DM netto die Stunde - KostenKonkurrenz-Krise!
Sie haben Ludwig Erhard erwähnt. Es gab drei Dinge, die in den 50er Jahren anders waren: Erstens, jeder fleißige Deutsche konnte fleißig arbeiten, weil, zweitens, die politischen Rahmenbedingungen gut waren. Drittens aber gab es keine Billigkonkurrenz durch offene Grenzen; das kam hinzu.
({0})
- Richtig.
In Mitteldeutschland würden die 4,5 Millionen Menschen, die ihre Arbeit verloren haben, gern wieder arbeiten, wenn sie Absatz hätten. Die Frage also, die ich betrachten will, ist: Welche branchenspezifische Wirtschaftspolitik muß erfolgen? Welche Fragen müssen beantwortet werden?
Erstens. Welche Industrien sollen erhalten oder, in Mitteldeutschland, wiedererrichtet werden? Der Wirtschaftsstandort Mitteldeutschland basiert wesentlich auf der Qualifikation, der Erfahrung seiner Menschen.
({1})
Wenn wir all das, was wir essen, womit wir uns kleiden, Autos und Elektronik, aus dem Ausland billig hereinlassen, wo sollen dann unsere höchstqualifizierten Frauen Europas, unsere mitteldeutschen Frauen, ihr Geld verdienen?
Zweitens. Für welchen Markt wollen wir produzieren, wenn wir wieder produzieren? Das heißt: Welche Preise müssen unterboten werden? Das ist die konkrete Frage.
Drittens. Welche Konkurrenten müssen von welchem Markt ferngehalten oder - wie in Mitteldeutschland - wieder verdrängt werden?
({2})
140 Milliarden DM Einfuhr, 13 Milliarden DM Ausfuhr, letzter Wirtschaftsbericht, Statistisches Jahrbuch!
({3})
Viertens. Bei gleichem Zugang zu weltweiter Technologie muß die Frage beantwortet werden: Wie wollen wir, wenn die Billiglohnländer schneller sind, neue Technologien in Produktion überzuführen, wie wir heute gehört haben, die Produktion aus Billiglohnländern noch unterbieten, wenn sie die Technologie haben, die wir erst ein halbes Jahr oder ein Jahr später aufstellen?
Fünftens. Wie lange und bis zu welcher Schmerzgrenze sollen in Deutschland Subventionen gezahlt werden und warum? Subventionen belasten immer die anderen Bereiche der Wirtschaft oder die Kaufkraft insgesamt. Warum soll das Auto für die Bahn bezahlen, warum der Bäcker für den Fleischer? Das versteht auf Dauer niemand mehr. Mit Freihandel und Subventionen kommen wir also an eine Grenze.
Sechstens. Was ist die politische Priorität einer Regierung? In Mitteldeutschland könnte man sagen: internationalen Handelskonzernen durch Import anderswo produzierter Waren maximale Gewinne zu geben. Das ist der Status praesens in Mitteldeutschland.
Mein Konzept ist ein anderes, und da sind wir uns wahrscheinlich auch im Ziel einig: Arbeit für alle, die in Deutschland arbeiten wollen. Aber das geht nur unter zwei Voraussetzungen: entweder billiger zu produzieren - und das ist bei gleicher Technologie und hohen Löhnen schlicht und einfach nicht möglich -, oder wir brauchen mit derselben Moral oder Unmoral, wie die EG dies tut, wie Amerika dies tut, wie Japan dies tut, Außenschutz.
({4})
Wir müssen also von dem Gebot „Freihandel über alles" wieder wegkommen. Früher war es die füh15710
Dr. Rudolf Karl Krause ({5})
rende Rolle der Arbeiterklasse, jetzt ist es dieser parareligiös hochgehaltene Freihandel.
({6})
- Der parareligiös hochgehaltene Freihandel.
({7})
- Siebentens. Wir müssen, wenn wir von GATT reden, ehrlicherweise fragen: Wenn GATT kommt, welche neuen Produkte kommen dann auf den deutschen Markt? Welche Kosten werden dann die preisbestimmenden Kosten sein? Und wie wollen wir entweder diese Kosten unterbieten oder, wenn das nicht geht, wie wollen wir uns vor dem Import dieser Produkte schützen?
({8})
- Die DDR war eine Kuh, die gemolken wurde, bis die Flocken kamen. Aber man hat das Euter drangelassen und es nicht abgeschnitten, was heute passiert.
({9})
Die Forderung muß sein: Was in Deutschland durch deutsche Männer und deutsche Frauen erzeugt werden kann, muß auch hier absetzbar sein. Natürlich ist die deutsche Regierung dem Wohl des deutschen Volkes verpflichtet. Wer denn sonst? Doch nicht etwa die Briefmarkensammler!
({10})
Wer will, daß Arbeit in Deutschland absetzbar ist, muß entweder billiger produzieren, oder er braucht einen wirksamen Außenschutz. Ich möchte alle, die über GATT reden, doch darum bitten, dann auch ehrlich zu sagen, was mit welcher Branche passieren wird. Für jede einzelne Branche sollten wir ein ehrliches Wirtschaftskonzept haben.
Herr Abgeordneter Dr. Krause, Ihre Redezeit ist überschritten.
Gut.
- Ich danke für die Aufmerksamkeit. - Wir müssen unseren Bürgern, vor allem den arbeitslosen Frauen in Mitteldeutschland sagen: Mit diesem Konzept werdet ihr dann wieder Arbeit haben. Ansonsten wird es 1994 ein Debakel geben, wogegen Hamburg ein Kinderspiel war.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Peter Harald Rauen das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das war nicht ganz einfach zu ertragen. Ich bin der Meinung
- um nur soviel dazu zu sagen -: Das Unterteilen in Ost und West halte ich für einen ausgemachten Schwachsinn. Wir sind ein Staat; wir sitzen in einem Boot. Wenn dieses Boot leckgeschlagen wird, gehen wir alle unter oder wir rudern gemeinsam nach
vorn!
({0})
Wirtschaftsstandort Deutschland: Das ist heute ein anderes Thema als noch vor 10 oder 20 Jahren. In den letzten vier Jahren hat sich unsere wirtschaftliche Umwelt grundlegend und dauerhaft verändert. Diese Strukturbrüche haben wir kaum wahrgenommen, geschweige denn die notwendigen Konsequenzen erkannt oder gar gezogen.
Ich frage: Was ist anders geworden? Nach dem Zerreißen des Eisernen Vorhangs stehen plötzlich vor unserer Haustür Abermillionen vergleichsweise gut ausgebildeter Arbeitskräfte, die zu einem Fünftel, einem Zehntel oder gar einem Zwanzigstel der hiesigen Lohnkosten arbeiten.
({1})
Zum zweiten ist Europa bereits weitaus stärker fortgeschritten, als wir dies auf den ersten Blick wahrhaben wollen. Die Kräfte des Wettbewerbs sind stärker als Politik und Bürokratie.
Betrachten wir zu dieser Entwicklung einmal einige Fakten. Ein Maschinenbauunternehmen X hat in Deutschland Personalkosten von jährlich 106 000 DM pro Mitarbeiter, in Frankreich von 78 000 DM und in Polen von 15 000 DM. Eine Grundchemikalie wird von einer deutschen Firma zu knapp 3 DM pro Kilogramm angeboten; dieselbe Chemikalie wird von einem tschechischen Unternehmen zu 17 Pfennig offeriert.
({2})
Kodak verlegt die Überholung von Großkopierern in die Tschechei. Audi baut ein Motorenwerk in Ungarn. In den Führungsetagen der deutschen Industrie werden Managementfehler der letzten Jahre korrigiert und lohnintensive Produktion in das östliche Ausland verlagert.
({3})
Eine große westdeutsche Spedition arbeitet jetzt vom Standort Luxemburg aus und erzielt damit eine Kosteneinsparung von 21 %. Die Kfz-Mechanikerstunde kostet in Deutschland 58 DM, in Luxemburg 40 DM und in Belgien sogar nur 34 DM.
Meine Damen und Herren, der europäische Binnenmarkt macht nicht nur den Waren, sondern auch den Dienstleistungen Beine. Genau hier liegt der fundamentale Unterschied zu der bisherigen Konkurrenz mit weit entfernten Billiglohnländern. Man kann die Kopierer- oder Maschinenwartung oder Speditionsleistungen nicht von Asien aus erbringen, wohl aber aus direkt benachbarten Regionen. Das Problem trifft nicht nur Deutschland allein, sondern alle Länder mit hohem Lohn- und Sozialniveau.
Von 1986 bis 1992 - man höre hier genau zu - haben ausländische Firmen in Deutschland lediglich 20 Milliarden investiert,
({4})
in Großbritannien das Siebenfache dieses Betrages,
({5})
in Amerika sogar das Vierzehnfache.
({6})
Das ist für die Arbeitsplätze in Deutschland eine dramatische Entwicklung.
Unter Außerachtlassung aller anderen Standortfaktoren, die ebenfalls wichtig sind, möchte ich mich auf Grund der kurzen Zeit jedoch eingehend nur mit dem Standortfaktor Lohnkosten auseinandersetzen.
In letzter Zeit begegnet mir immer häufiger die Aussage - auch heute kam sie -, daß die Deutschen über ihre Verhältnisse lebten und dies nun korrigiert werden müsse.
({7})
Stimmt dies wirklich? Gilt das etwa für den Facharbeiter, der bei 21,70 DM Stundenlohn im Monat 3 670 DM brutto verdient, davon als Verheirateter mit 2 Kindern netto 2 723 DM und als Unverheirateter 2 292 DM ausbezahlt bekommt? Wohl kaum. Das ist die Situation von Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland. Oder gilt das für den Rentner, der nach 45 Versicherungsjahren eine Rente von 1 680 DM im Monat bekommt? Oder gilt das für Hunderttausende von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die trotz täglicher Arbeit monatlich nicht mehr als 1 500 DM netto ausgezahlt bekommen? Oder für den Handwerksmeister, der nach jahrzehntelanger, härtester Arbeit feststellt, daß es ihm immer noch nicht gelungen ist, ein Polster an Eigenkapital anzusammeln? Oder gilt es für den mittelständischen Unternehmer, der demnächst monatlich mehr Lohnsteuer und mehr Beiträge an die Kassen abführt, als er seinen 90 Mitarbeitern netto ausbezahlt? Das heißt, wir sind an einem Punkt, an dem die Mitarbeiter besser die Abzüge ausbezahlt bekämen.
({8})
Der einzelne hat viel eher das Gefühl, daß ihn der Staat mit Steuern und Abgaben überfordert, als daß er persönlich über seine Verhältnisse lebte. Vom Bruttolohn des Durchschnittsverdieners gehen heute schon im Schnitt 48 % für indirekte und direkte Steuern sowie für Sozialabgaben ab.
Die Gesamtsteuerlast einer Kapitalgesellschaft in Deutschland ist 1993 mit 66,2 % mit Abstand die höchste im Vergleich aller westlichen Industrienationen, und dennoch: hohe Haushaltsdefizite, eine enorm hohe Staatsquote. Die hohen Stückkosten bei uns sind 1992 die höchsten im Vergleich aller westlichen Industrieländer. Viel zu wenig beachtet wird jedoch die Tatsache, daß trotz der weltweit höchsten Lohnkosten bei uns die deutschen Arbeitnehmer mit ihren Nettoeinkommen auf die siebte bis achte Stelle im Vergleich zwischen den westeuropäischen Industrieländern zurückgefallen sind.
Man muß deutlich sagen: Die deutschen Arbeitnehmer kosten brutto zuviel und verdienen netto zuwenig.
({9})
Die Tatsache, daß ein Facharbeiter fünfeinhalb bis sechseinhalb Stunden arbeiten muß, um von seinem
Nettolohn die Kosten für eine Lohnstunde bezahlen zu können, macht schlagartig klar, warum in Deutschland 5 Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze fehlen, Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung immer mehr um sich greifen. Es ist in Deutschland genügend Arbeit da, aber nicht mehr genügend Arbeit zu bezahlbaren Preisen.
({10})
Die Beitragssätze für Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung unter Berücksichtigung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall haben sich in den letzten 40 Jahren mehr als verdoppelt - bei gleichzeitig immer kürzeren Arbeitszeiten und damit immer höherem Lohnanteil für Soziallöhne, also für Urlaub, Feiertage, Krankentage und Ausfalltage. Die Summe der Sozialleistungen in Deutschland haben 1992 - man höre hier ganz genau zu - mit 72,54 %, gemessen an der Bruttolohn- und -gehaltssumme, eine historische Höchstmarke erreicht.
Nach der Wiedervereinigung ist das Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland um 15 % niedriger als in der alten Bundesrepublik. Wir leisten uns jedoch ein Sozialbudget, als hätte es diesen Vorgang nicht gegeben.
Die demographische Entwicklung ist hinreichend bekannt. Im Jahr 2040 kommt auf einen Beitragszahler ein Rentner. Meine Damen und Herren, die Zeit drängt. Der soziale Umbau muß schnell und durchgreifend erfolgen, weil die Rentner des Jahres 2040 in diesem Jahr aus der Schule kommen und ihre Lehre beginnen.
Auch der Staat kann nicht mehr verteilen, als vorher erarbeitet worden ist. Ich bin eigentlich sicher, daß die überwiegende Mehrzahl der Menschen in Deutschland diese einfache Grundregel beherrscht. Ich bin überzeugt, daß wir in Zukunft nicht weniger, sondern mehr arbeiten müssen. Mit 30 Jahren von der Universität und mit 54 Jahren in den Vorruhestand - das hält keine Volkswirtschaft dieser Welt aus.
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Wer arbeitet, muß deutlich mehr haben als der, der nicht arbeitet und den Sozialstaat in Anspruch nimmt. Im Rahmen unserer sozialen Sicherungssysteme müssen wir weg von der Vollkaskomentalität und hin zur Verantwortungsgesellschaft!
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Die Lohnzusatzkosten müssen deutlich sinken. Je schneller die Politik die Kraft findet, die fundamentalen Veränderungen anzunehmen und neue wenn auch unbequeme Wege in der Politik zu gehen, um so eher wird es erreichbar sein, daß der Wirtschaftsstandort Deutschland auch in Zukunft den Menschen, die arbeiten wollen, auch die Möglichkeit bietet, arbeiten zu können.
Ich bedanke mich recht herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Ortwin Lowack das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was zur Sicherung oder Verbesserung des Standorts Deutschland notwendig wäre, ist völlig klar. Es erstaunt sogar, was die Regierungskoalition im einzelnen dazu vorschlägt. Nur, die Politik ist viel zu verkrustet und viel zu unbeweglich, um das auch wirklich durchzusetzen.
Am besten macht es doch Helmut Kohl, indem er sich in jede Veranstaltung, die er hat, am Anfang hinstellt und sagt, wir wollen doch keine Schuldzuweisungen vornehmen, so daß alles schön schweigsam ist und damit verdeckt wird, daß ihn als den verantwortlichen Mann an der Spitze der Politik das Hauptverschulden trifft.
Natürlich brauchen wir eine große Leistung der gesamten Gesellschaft. Wir brauchen ein Umdenken in den Betrieben, wir müssen weg davon kommen, daß Rationalisierung immer nur Abbau von Arbeitsplätzen bedeutet, wobei diese Philosophie oft genug von den Banken leider vorgeschrieben wird. Wir brauchen ein Abrücken von dieser Rückzugsmentalität. Der Betrieb müßte vielmehr daran orientiert sein, was er an guten Kräften hat, welche Kräfte er anwerben und wie er sie optimal einsetzen und weiterbilden kann, um über eine qualitative Verbesserung seiner Produkte Märkte wiederzugewinnen.
Natürlich brauchen wir ein Umdenken bei den Arbeitnehmern, die ständig zur Weiter- und Ausbildung, die bei uns in Deutschland an der Spitze stehen müssen, bereit sein müssen, aber wir brauchen auch eine stärkere Identitifizierung mit dem Betrieb.
Wir brauchen natürlich ein Umdenken bei den Gewerkschaften, die betriebsorientierter denken müssen - das ist das Erfolgsrezept Japans gewesen - und die vor allem auch gute Ausbildung anbieten müssen, nicht nur Ausbildung, in der Ideologien vermittelt werden.
Natürlich brauchen wir ein Umdenken bei der Verwaltung, denn der Verwaltungsmann, der nach außen zeigt, daß er engagiert und gut und schnell entscheidet, kann motivieren und wird immer dazu beitragen, daß sich in einer Kommune Betriebe besser entwickeln können.
Aber, das Entscheidende ist doch, daß wir vor allem eine andere Politik brauchen. Meine liebe Kolleginnen und Kollegen, die Rezession, die erschreckende Leistungsbilanz, die erschreckende Übertragungsbilanz, die Arbeitslosigkeit, die Inflation, die hohe Verbrechensrate und der Mangel an Identifizierung mit diesem Staat sind doch in erster Linie Ergebnisse einer verfehlten Politik, nicht aber verfehlter Menschen. Wenn die Guten in einem Staat permanent den Eindruck haben, sie werden bestraft, und es werden die Schlechten belohnt, darf man sich nicht wundern, wenn die Guten überwiegend auch schlecht sein wollen, einfach weil das eine Überlebensfrage ist.
Wenn wir in der Forschung kürzen, an der Zukunft - der Kollege Erich Maaß hat doch völlig recht: egal, in welchem der Etats das geschieht -, dann schneiden wir uns in das eigene Fleisch, weil wir nicht in der
Lage sind, dann wirklich an der Spitze der Industrienation mitziehen zu können. Es fehlt die ordnende Hand, die auch einmal dazwischenhält, wenn im Verteidigungshaushalt der Forschungsetat gekürzt, von 1,8 Milliarden DM auf 250 Millionen DM heruntergefahren wird und wir dann risikieren müssen, daß 10 000 bis 16 000 hochqualifizierte Arbeitsplätze, wie beispielsweise jetzt bei der DASA, verlorengehen.
Der Wust von Gesetzen und Verordnungen mit zahllosen Formelkompromissen aus diesem Parlament, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist auch nicht dazu angetan, diesen Staat attraktiver zu machen. Wenn dann noch dazukommt, daß der Staat mit den Steuergeldern nicht ordnungsgemäß umgeht, braucht man sich über die Probleme mit der Standortsicherung nicht zu wundern.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Unionsfraktion, Sie haben genau in dieser Woche wieder den Sündenfall begangen. Sie haben ein Datum für den Umzug nach Berlin festgesetzt, ohne auch nur irgendwelche Anhaltspunkte zu geben, wie das Ganze finanziert, wann das Ganze finanziert werden soll und mit welcher Zukunftsbelastung wir tatsächlich rechnen müssen.
Es gibt einen weiteren Bereich, das ist der der Europäischen Gemeinschaft. Ein weiterer Sündenfall! Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist doch ein Witz, daß man das strukturschwächste Gebiet in Europa überhaupt, die neuen Bundesländer, die 50 % weniger Produktivität haben als beispielsweise Griechenland, mit Strukturmitteln der Europäischen Gemeinschaft in Höhe von 27 Milliarden DM in sechs Jahren ausstattet, aber nur deshalb, weil die Deutschen gleichzeitig in diese Kasse 93,3 Milliarden DM aus Steuermitteln einbezahlen. Es kann doch nicht wahr sein, daß wir in der Zwischenzeit über Adhäsionsfonds weit über die Produktivität, die ja Grundlage sein sollte, in die Kasse einbezahlen, und nun keine Kontrolle mehr darüber haben, was mit dem Geld geschieht.
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Der Bundeskanzler verlangt eine Generalinventur der deutschen Gesellschaft. Ich möchte ironisch fragen: Möchte er seinen Scherbenhaufen auch noch registriert haben? Er ist doch gerade für die fehlende Motivation verantwortlich. Er fordert zwar eine neue Motivation in Deutschland, aber er ist doch gerade verantwortlich für die Demotivierung. Für die Politikverdrossenheit ist er draußen das Symbol. Die dringend notwendige Aufbruchstimmung, die wir brauchen, geht von diesem Bundeskanzler und seinen Paladinen, manchmal auch in der Opposition, sicher nicht aus.
Da lobt der Bundeskanzler die Bundesbank gerade noch als Hort der Stabilität, so wörtlich, aber mit Maastricht gibt er sie wieder auf, und er beseitigt mit der D-Mark das wichtigste verbleibende Identifizierungsmerkmal der Deutschen überhaupt.
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Dann beruft er sich in dieser Debatte auf die Konvergenzkriterien. Die Konvergenzkriterien hat
das Kanzleramt doch gar nicht gewollt. Die sind ihm von der Bundesbank aufgedrückt worden. Die Konvergenzkriterien hätten doch beim Datum 1. Januar 1999 überhaupt keine Rolle gespielt, weil wir mit einer Mehrheitsentscheidung des Europäischen Rates jeden deutschen Einspruch, auch des Parlaments, hätten mühelos aushebeln können. Erst durch das Bundesverfassungsgericht ist das unmöglich geworden. Das muß man doch einmal ansprechen.
Wer heute bei den Familien kürzt, wie Sie dies morgen wieder beschließen wollen, vergreift sich an der Zukunft. Wo wollen wir denn die Motivation zu einem zukunftsbewußten Denken herbekommen, wenn wir nichts auslassen, was unsere Zukunft in Frage stellt?
Wir brauchen eine grundsätzliche demokratische Erneuerung von Staat und Gesellschaft. Das ist richtig. Wir brauchen aber auch eine neue - ich sage das ganz offen und bitte, nicht mißverstanden zu werden - nationale Motivation.
Herr Abgeordneter Lowack, ich hatte Ihnen bereits kleine Signale gegeben. Wenn Sie dies berücksichtigten, wäre das ganz nett.
Herr Präsident, ich bin schon bei meinem letzten Satz angelangt und bitte nur, diesen in parlamentarisch angemessener Weise zu Ende führen zu dürfen. - Weder Europa noch die Welt lösen unsere Probleme. Ich frage nur: Wo ist die Generation von mutigen jungen Politikern, die den Mut haben, auch einmal gegen den eigenen Kanzler und seine Unfähigkeit, die Probleme zu lösen, zu opponieren und zu sagen, wo es in Zukunft langgeht?
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Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Friedhelm Ost.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Zukunftssicherung des Standortes Deutschland ist ein nicht ganz junges Thema. Es ist aber in dieser Zeit so brisant und so aktuell wie nie zuvor. Eine überregionale Zeitung schrieb jüngst unter der Überschrift „Angst vor der Wahrheit" in einem Beitrag zu diesem Thema, in der Diskussion um den Standort Deutschland werde feige am Thema vorbeigeredet. Dabei geht es in der Tat - ich bedaure das relativ geringe Interesse hier, vor allem auch von denen, die darüber diskutieren - um Sein oder Nichtsein von Betrieben und Arbeitsplätzen.
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Wenn hier - ich sage das einmal vorab - einige die Reduzierung eines Sozialbudgets von 1 000 Milliarden DM - also in Höhe von einer Billion DM - und darüber
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um 1,5 % - und zwar unter völlig veränderten Bedingungen - kritisieren, dann haben sie in der Tat nicht
begriffen, was notwendig ist, um diesen Standort zu
sichern, um auf Dauer die Arbeitsplätze derer zu sichern, die Gott sei Dank noch Arbeit haben.
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Auf die Arbeitskosten ist zu Recht hingewiesen worden. Hierbei kommt es natürlich auf die Lohnstückkosten und auf die Produktivität an. Die Produktivität können wir nur durch Investitionen erhöhen, auch durch all Ihre guten Vorschläge, die ich teilweise unterstütze und die ja auch der saarländische Ministerpräsident hier eingebracht hat: daß wir die Arbeitszeit flexibilisieren müssen und daß wir im Hinblick auf Arbeitszeiten neue Modelle entwickeln müssen, wie dies auch der Bundeskanzler gesagt hat. Am Ende kommt es wirklich auf die Lohnstückkosten durch gesteigerte Arbeitsproduktivität an.
Wer über das japanische Wunder oder über die japanische Herausforderung spricht, muß eben feststellen: In den japanischen Betrieben, insbesondere in den Betrieben, die mit unseren Betrieben in Konkurrenz stehen, sind die Lohnstückkosten um 30 % bis 40 % niedriger. Oder, umgekehrt gesagt: Diese Betriebe bieten 20 %, 30 % und teilweise 40 % billiger an.
Arbeitsplätze sind nur dann dauerhaft, wenn sie rentabel sind. Es geht darum, daß auf diesen Arbeitsplätzen die Einkommen wirklich verdient werden. Wo dies nicht geschieht, sind die Arbeitsplätze unsicher. Das war ja offenbar sogar bei einigen sozialdemokratischen Zeitungen so: Als das Geld nicht mehr hereinkam, konnten sie auf Dauer selbst aus der Parteikasse nicht mehr subventioniert werden.
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Deshalb sollten wir uns hier schnell zu einem Konsens durchringen.
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- Besticht! Lieber Herr Kollege Duve, ich weiß, daß Sie von Wirtschaft nicht viel verstehen, daß Sie mir aber hier folgen können.
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Ich bin der Meinung, daß wir alles tun müssen, was zur Deregulierung beiträgt. Die Überprüfung liebgewordener Besitzstände gehört vor allem dazu. Dies gilt für alle Bereiche. Da gibt es sehr große Verbandsinteressen, bis in die Wirtschaft hinein, die in großen Analysen und in Papieren eine Reduzierung der Deregulierung fordert.
Es geht auch darum, öffentliche, staatliche Beteiligung zu privatisieren und darüber hinauszugehen, nämlich ebenfalls staatliche Dienstleistungen privat erledigen zu lassen. Damit schaffen wir neue Märkte. Wir schaffen auch die Chance für neue Unternehmer und die Chance für andere neue Arbeitsplätze. Gott sei Dank gibt es auch sozialdemokratische Oberbürgermeister, die allerdings erst in die Pleite geraten mußten - wie in Offenbach -, um dann umzudenken und sozusagen den öffentlichen Dienst, den Apparat der Stadtverwaltung, auf Wettbewerb zu trimmen.
Herr Abgeordneter Ost, der Abgeordnete Büttner möchte Ihnen eine Frage stellen. Sind Sie bereit, diese zu beantworten?
Nein, ich möchte jetzt meine Rede fortsetzen.
Nicht? - Okay.
Ich glaube, höchste Priorität - das sage ich vor allem dem Bundeskanzler und auch dem Wirtschaftsminister - hat im Moment, daß wir die GATT-Uruguay-Runde erfolgreich abschließen. Wenn diese Uruguay-Runde scheitert, dann, sage ich, schlittern wir nicht nur in Deutschland, aber vor allem in Deutschland, in die sehr gefährliche Situation, daß wir viele Arbeitsplätze verlieren und viele Unternehmen eine völlig andere, globale Strategie einschlagen müssen. Viele nationale Bremsen müssen gelockert und unsinnige Blockaden auf gegeben werden.
Ich sage Ihnen dazu auch: Bei all den Dingen, die wir zu Recht immer wieder diskutieren - was können wir in den neuen Bundesländern zur Entwicklung von mehr wirtschaftlicher Dynamik und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze machen? -, ist der Staat durchweg der schlechteste Unternehmer.
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Wir brauchen mehr neue Unternehmer, und wir sollten sie auch ermutigen. Wenn hier nach wie vor klassenkämpferische Töne, mit Neidkomplexen beladen, aus der Politik
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in Richtung Unternehmerschaft erklingen, dann kann ich Sie nur ermuntern, selbst Unternehmer zu werden, um einmal zu sehen, welches Risiko und welche Probleme man in der Tat auf sich nehmen muß.
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Ich glaube in der Tat, Mut zu Selbständigkeit, zu eigenem Risiko, zu Wagnis ist ganz wichtig, und dies sollten wir alle wirklich unterstützen. Nein, Sie verstehen von moderner Wirtschaftspolitik eben nichts. Das zeigen Ihre Äußerungen.
Ich glaube auch, daß Sie mit Ihren Konjunkturprogrammen keinen Erfolg haben. Sie haben das doch schon seit 20 Jahren gesungen. Karl Schiller sagt es Ihnen doch, er hat es ja versucht, ohne Erfolg: Mit Deficit-spending Konjunkturprogramme des Staates anzukurbeln, das gibt nur ein Strohfeuer.
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Wir haben doch schon das größte Konjunkturprogramm in der modernen Wirtschaftsgeschichte Deutschlands.
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- Sie müssen einmal sehen: Bei Ihnen regnet das Geld vom Himmel, wenn Sie ein Deficit-spendingProgramm machen. Im Grunde sind Sie sehr widersprüchlich; bei Ihrem wirtschaftspolitischen Programm bekommen wir das ja jeden Tag serviert. Sie benehmen sich wie eine Laokoon-Gruppe, jeden Tag aufs neue Live, aber im Freistilringen und nicht im griechisch-römischen Stil.
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Hören Sie doch endlich mit der Jammerei auf! Schauen Sie sich die Umfragen an! 71 % der Menschen in den neuen Bundesländern sind mit ihrer Situation sehr zufrieden. Hier in Westdeutschland sind es über 80 %. Diese Jammerei bringt uns doch nicht weiter - dies ist zu Recht gesagt worden -, etwa bezüglich der Kernenergie. Sozusagen aus Angst vor dem Tode begehen Sie Selbstmord, wie Sören Kierkegaard es gesagt hat.
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- Fahren Sie doch einmal durch die Welt! Ihre Kollegen sind doch bei einer Delegationsreise des Wirtschaftsausschusses in Japan dabeigewesen. Japan verdoppelt die Kernkraftkapazitäten bis Anfang des Jahres 2000. Das heißt doch, wir könnten da einsteigen. Aber wenn wir hier aus der Technologie aussteigen, können wir damit nicht mehr weltweit einsteigen. Wir haben genug High-Tech-Ruinen im eigenen Land. Wir haben Forschungs- und Entwicklungsergebnisse nicht schnell genug genutzt, weil wir auch hier Hemmnisse aufgebaut haben, teilweise aus ideologischer Überlegung.
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Wir haben große Chancen mit superschnellen Transportsystemen. Vorhin ist zu Recht Transrapid genannt worden.
Sehr geehrter Herr Abgeordneter Büttner, wenn Sie mehr reden als der Redner, dann ist das nicht mehr ein angemessenes Verhältnis.
Besten Dank, Herr Präsident. Ich glaube, wir können zusammen singen; aber zusammen reden müßten wir einüben. Aber es ist ja in Ihrer Partei so, daß Sie in der Tat immer gegeneinander anreden.
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- Sie machen doch das Theater jeden Tag aufs neue.
- Und da hier das Licht aufblinkt, sage ich Ihnen: Hören Sie doch endlich mit dem Theater auf! Einigen Sie sich auf das, was Sie wollen, sonst versteht Sie draußen keiner. Selbst Ihre Mitglieder hätten bei den hohen Beiträgen eine geschlossenere Wirtschaftspolitik der SPD verdient.
Vielen herzlichen Dank.
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Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Freimut Duve das Wort.
Herr Kollege Ost, Sie haben in flammenden Worten deutlich zu machen versucht, daß die Sozialdemokratie nichts, Sie aber alles von Wirtschaftspolitik verstünden, und Sie haben gleichzeitig deutlich zu machen versucht, daß für die wirtschaftspolitische Situation, in die das Land geraten ist, anscheinend die Sozialdemokraten verantwortlich sind.
Seit 20 Jahren ist Ihr Bündnispartner, Ihr Koalitionspartner F.D.P. für die Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland verantwortlich. Seit 20 Jahren hat es keinen sozialdemokratischen Wirtschaftsminister gegeben.
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Es hat davor einen gegeben, den Sie eben sehr lobend hervorgehoben haben, nämlich Karl Schiller.
Da Sie mich persönlilch angegriffen und zutiefst beleidigt haben, indem Sie behauptet haben, ich verstünde nichts von Wirtschaftspolitik, werde ich Ihnen jetzt sagen, daß ich in der ehrenvollen Position des Bürochefs des Nachfolgers von Karl Schiller drei Jahre in der Hamburger Wirtschaftsbehörde mit dafür gesorgt habe, daß die Infrastrukturreform der Freien und Hansestadt Hamburg in den 60er Jahren in einer Weise getätigt worden ist, die uns heute in eine gute Situation gebracht hat.
({1})
Da war kein Wirtschaftsjournalist Ost je dabei.
Dann will ich Ihnen ein zweites sagen: Ich gehöre wahrscheinlich zu den wenigen Leuten hier im Hause, die über 20 Jahre per Namen für ein oder zwei Produkte auf dem Markt verantwortlich waren. Auch das - weil Sie eben gesagt haben, wir sollten Unternehmer werden - findet man leider im Parlament immer weniger und leider auch in Ihrer Fraktion sehr wenig.
Und Philip Rosenthal ist ein Sozialdemokrat. Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({2})
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende dieser Debatte.
Wir kommen zu den Überweisungen. Zur Erinnerung: Es handelt sich um den Tagesordnungspunkt 3 b bis 3 d und 3 h sowie um den Zusatzpunkt 2.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/5620, 12/5362, 12/5671, 12/5389 und 12/5901 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung zu Tagesordnungspunkt 3 e. Die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Anpassung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes liegt Ihnen auf Drucksache 12/5653 vor. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/1572 abzulehnen. Wer dieser Empfehlung des Ausschusses, den Antrag abzulehnen, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt gegen diese Ausschußempfehlung? - Dann ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung zu Tagesordnungspunkt 3 f. Die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Abwendung der Rezession liegt Ihnen auf Drucksache 12/5654 vor. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/4453 abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung, den Antrag abzulehnen, zu? - Wer stimmt dagegen? - Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung zu Tagesordnungspunkt 3 g. Die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste zum Jahreswirtschaftsbericht 1993 liegt auf Drucksache 12/5655 vor. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 12/4462 abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung zu folgen gedenkt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der SPD, CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Meine Damen und Herren, ich rufe den Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Fragestunde
- Drucksache 12/5904 Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung steht uns Staatsminister Bernd Schmidbauer zur Verfügung.
Ich rufe zunächst die Frage 51 der Abgeordneten Frau Thea Bock auf:
Welchen Inhalts waren die Konsultationen zwischen dem für die iranischen Geheimdienste zuständigen Minister Ali Fallahian und dem Staatsminister Bernd Schmidbauer sowie dem Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Dr. Eckart Wertebach, und dem Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes, Konrad Porzner?
Herr Staatsminister, Sie haben das Wort.
Frau Kollegin Bock, ich darf zu Ihrer Frage über den Inhalt der Konsultationen zwischen den Iranern, dem Präsidenten des BfV und dem Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes folgendes sagen.
Zuerst eine Nebenbemerkung. Es gab keine Gespräche mit dem Präsidenten des BND.
Mit dem Präsidenten des BfV gab es Gespräche allgemeiner Art über internationalen Terrorismus und über Fragen des internationalen Drogen- und Rauschgifthandels. Näheres - das gilt auch für meine Gespräche - wurde der PKK gestern in einer, wie ich denke, sehr ausführlichen Art und Weise auf Anfragen der PKK-Mitglieder auf unseren Wunsch hin mitgeteilt. Bei dieser Information ging es im Detail um diese Gespräche und ihre Inhalte.
Ich will Ihnen auf Ihre Frage mitteilen, daß die Gespräche, die ich geführt habe, vorwiegend humanitären Charakter hatten. In ihnen wurden sowohl die
Interessen deutscher Staatsbürger im Iran als auch die Interessen von Bürgern anderer Staaten wahrgenommen. Dies war Hauptgegenstand und Hauptbestandteil der Gespräche, die an diesem einen Tag, nicht an mehreren Tagen, stattgefunden haben.
Im übrigen biete ich Ihnen persönlich eine direkte Information über diese Gespräche an. Ich fühle mich nicht in der Lage, Fragen zu Details dieser Gespräche, zumal sie in zwei Fällen nicht abgeschlossen sind, in der heutigen Fragestunde zu beantworten. Die Information wurde aber Ihren Kollegen in der Parlamentarischen Kontrollkommission vollinhaltlich gegeben.
Frau Abgeordnete, haben Sie eine Zusatzfrage? - Bitte schön.
Herr Staatsminister, wann sind diese Gespräche verabredet worden? Welchen zeitlichen Vorlauf gab es?
Wenn Sie Ihre Frage präzisieren, will ich darauf eingehen.
Man trifft sich ja nicht ohne einen Telefonanruf. Ich wollte einfach einmal wissen, wann dieses Treffen verabredet worden ist. Ist das Monate oder Tage her?
Nein, dieses Treffen wurde vor relativ kurzer Zeit vereinbart. Das hängt mit den Themen, die Gegenstand der Gespräche waren, zusammen.
Ansonsten nehme ich das Angebot des persönlichen Gesprächs an.
Ich biete es Ihnen direkt im Anschluß an.
Sie dürfen noch eine Zusatzfrage stellen, Frau Abgeordnete.
Ich habe keine Zusatzfrage mehr.
Herr Abgeordneter Duve hat eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, die iranische Regierung hat den Besuch ihres Informationsministers und Chefs des iranischen Geheimdienstes in Deutschland bewertet. Sie kennen wahrscheinlich die Bewertung, die besagt, daß eine besonders gute Zusammenarbeit auch in dem geheimdienstlichen Bereich erfolgen soll. Teilen Sie die Bewertung dieses Besuchs bei Ihnen durch die iranische Regierung?
Ich teile weder die Bewertung, die Sie zitieren, noch die Bewertungen von Partnerländern, die zu diesem Besuch abgegeben wurden.
Es werden keine weiteren Zusatzfragen gestellt.
Ich komme zur Frage 52 der Abgeordneten Thea Bock:
Hat die Bundesregierung versucht, über Herrn Ali Fallahian Einfluß auf die Teheraner Führung auszuüben, den Mordbefehl gegen den britischen Schriftsteller Salman Rushdie aufzuheben?
Frau Kollegin, die Bundesregierung hat diese Forderung wiederholt gegenüber der Führung des Iran erhoben. Sie wissen, daß die Bundesregierung in dieser Frage eindeutig Stellung bezogen hat und diese Dinge auf das schärfste verurteilt.
Hinsichtlich des Anschlags auf den norwegischen Verleger - wenn ich das erwähnen darf - gilt das gleiche, obwohl die Ermittlungen in diesem Fall nicht abgeschlossen sind. Aber die Bundesregierung wird sich auch in diesem Zusammenhang in ähnlicher Weise äußern und diese Vorgänge wie alle anderen Terroranschläge auf unserem Boden oder anderswo auf das schärfste verurteilen.
Es gibt hier überhaupt kein Versprechen. Ich komme nachher im Zusammenhang mit der Frage des Kollegen Duve noch einmal auf solche Ereignisse zurück.
Zusatzfrage, bitte sehr, Frau Abgeordnete.
Herr Staatsminister, Sie haben gesagt, daß Sie das Thema Salman Rushdie deutlich angesprochen hätten. Mich interessiert aber auch einmal, wie die andere Seite darauf reagiert hat. Denn es kann nicht angehen, daß hier im Bundestag Beschlüsse gefaßt werden, die den Aufruf zum Mord an Salman Rushdie deutlich verurteilen, dann Treffen stattfinden und die eine Seite mehr oder weniger deutlich das Thema anspricht.
Mich interessiert: Was ist bei diesem Gespräch herausgekommen? Was haben z. B. die Vertreter des Irans zu dieser Angelegenheit gesagt?
Ich hatte Ihnen vorhin gesagt, daß ich zum Gespräch selber keinen Kommentar hier abgebe. Ich hatte Ihnen eben die Stellungnahme der Bundesregierung zu dem Fall Rushdie mitgeteilt. Ich kann Ihnen jetzt nicht mitteilen, welche Gespräche in diesem Rahmen, der von Ihnen angesprochen wurde, geführt werden.
Ich habe allgemein gesagt, daß überhaupt kein Zweifel besteht, wie die Bundesregierung zu dieser Situation um Herrn Rushdie steht und welche Stellungnahme die Bundesregierung in der Vergangenheit dazu abgegeben hat. Ich sage noch einmal: schärfste Verurteilung solcher Dinge, die sich um Terroranschläge und solche Vorkommnisse im Zusammenhang mit Verlegern und ähnliche Personen drehen.
Ich bin sogar weitergegangen und habe noch den norwegischen Verleger erwähnt, der die Schriften Salman Rushdies verlegt hat. Hier gibt es überhaupt kein Vertun, überhaupt keine Schwierigkeiten, das Thema in dieser Klarheit auch denen gegenüber anzusprechen, denen gegenüber das angesprochen werden muß.
Ich bin sicher, daß neben solchen Gesprächen sowohl Vertreter des Bundestages als auch Vertreter der Bundesregierung dies in aller Deutlichkeit so angesprochen haben.
Herr Abgeordneter Duve, bitte.
Herr Staatsminister, Sie sind nicht der Außenminister. Die Haltung der Bundesrepublik zu dem Mordbefehl gegen Rushdie stand hier nicht in Frage und wird von niemandem in Zweifel gezogen; sie ist bekannt.
Vielmehr ist gefragt worden - ich wiederhole das -: Wem gegenüber in der iranischen Regierung - ich formuliere das jetzt etwas anders - ist diese Aufforderung zur Rücknahme des Mordbefehls geäußert worden? - Daß die Bundesregierung der geäußerten Meinung ist, spielt überhaupt keine Rolle; das wissen wir.
Herr Duve, ich kann mich jetzt bei Ihrer sehr detailliert vorgetragenen Frage nur auf meine Gespräche beziehen. Ich selber habe Vertreter des Außenministeriums, auch einen entsprechenden Minister dieses Ministeriums auf diese Problematik hingewiesen, aber nicht bei diesem Gespräch, sondern in vorangegangenen Gesprächen, sowohl in Teheran als auch auf dem Boden eines anderen Staates.
Sie können sicher sein, daß dieses Thema von uns nie ausgelassen wurde und von uns in aller Deutlichkeit, wie ich das eben für die Bundesregierung als allgemeine Stellungnahme ausgeführt habe, im einzelnen vertreten wurde. Ich kann jetzt nicht für andere Mitglieder der Bundesregierung Stellung beziehen. Aber Sie wissen, daß auch andere Mitglieder der Bundesregierung diese Position iranischen Regierungsvertretern gegenüber bezogen haben.
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- Sie haben sie ja bekommen, Herr Kollege.
({1})
Herr Abgeordneter Duve, ich weiß nicht, ob ich meine Neutralitätspflicht verletze, aber ich möchte Sie jetzt insoweit beruhigen, als ich in meiner Funktion als amtierender Präsident gegenüber den Vertretern des iranischen Parlaments in dieser Frage die Meinung des ganzen Hauses mit der gebührenden Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht habe. Ich möchte das auch für das Protokoll hier noch einmal festgehalten haben, weil ich weiß, daß das die einstimmige Meinung des ganzen Hauses ist.
({0})
Meine Damen und Herren, es ist schriftliche Beantwortung der Fragen 53 und 54 des Abgeordneten Norbert Gansel erbeten worden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich komme nun zu Frage 55 des Abgeordneten Freimut Duve:
Hat der offizielle Besuch des Chefs des iranischen Geheimdienstes, Ali Fallahian, in Deutschland im Zusammenhang gestanden mit Ermittlungen in der Mordsache „Mykonos'?
Herr Staatsminister, Sie haben das Wort.
Ich darf ergänzen, daß die Delegation des Parlaments auch von uns empfangen wurde und dort dieselbe Position noch einmal nachdrücklich koordiniert vertreten wurde. Das gilt nicht nur für diese Delegation, sondern für all die Delegationen, die offizielle Gäste des Deutschen Bundestages waren.
Herr Kollege Duve, auf Ihre Frage 55 antworte ich: Nein.
Zusatzfrage.
({0})
Ihr Gesprächspartner hat das Thema „Mykonos" in seiner Presseerklärung angesprochen. Deshalb frage ich Sie, warum Sie es Ihrerseits nicht angesprochen haben.
Herr Kollege Duve, ich sage zu diesem Fall ausnahmsweise auch etwas aus dem Gesprächsinhalt. Für uns ist das kein Verhandlungsgegenstand. Das ist ein Verfahren durch den Generalbundesanwalt, bei dem es meiner Meinung nach um die Frage geht: Wer hat zu welchem Zeitpunkt welche Terroranschläge gegen oppositionelle Iraner auf unserem Boden durchgeführt? Mir geht es darum, daß die Täter nicht nur verhaftet, sondern auch verurteilt werden. Am Ende des Urteils kann die entsprechende Bilanz gezogen werden.
Ich sage das in dieser Klarheit, damit keine Mißverständnisse aufkommen können. Ich sage Ihnen dazu auch, daß Ihre Kollegen in der Parlamentarischen Kontrollkomission sehr dezidierte Auskunft auch auf Detailfragen in diesem Zusammenhang bekommen haben, z. B. der Kollege Struck.
Es darf kein Vertun geben: Wer Terroranschläge auf unserem Boden ausführt, muß dafür mit der Härte des Gesetzes zur Rechenschaft gezogen werden, unabhängig davon, woher er kommt. Uns interessiert sehr genau, wer hinter den Attentaten steht und zur Rechenschaft gezogen werden muß. Hier gibt es für uns überhaupt keinen Spielraum. Es wird nie Gespräche geben, entsprechend zu verfahren.
Ich verweise auf den Parallelfall eines Haftfalles in der Bundesrepublik Deutschland, wo im Zusammenhang mit einer Geiselbefreiung zweier deutscher Staatsbürger genau diese Zusagen nicht gemacht werden. Es wird streng darauf geachtet, daß das entsprechende Urteil vollzogen wird, ohne daß es zu Verhandlungsmassen in diesem Zusammenhang kommt. Jeder muß wissen: Mit der Bundesrepublik Deutschland wird es keinen solchen Deal geben.
Zusatzfrage zur Frage 55.
Herr Staatsminister, genau zugehört: Können Sie heute ausschließen, daß die Bundesregierung der Bundesrepublik oder einer ihrer
Dienste Hinweise darauf hatten oder haben können, daß Ihr Gesprächspartner in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den von Ihnen eben sehr richtig geschilderten Terror- und Gewaltakten auf unserem Boden gestanden hat? Können Sie ausschließen, daß es solche Erkenntnisse im Bereich unserer Dienste oder der Bundesregierung gibt?
In diesem Zusammenhang kann überhaupt nichts ausgeschlossen werden. Ich kann mich nur auf das beziehen, was mir zur Kenntnis gebracht wird. Mir wurde nichts zur Kenntnis gebracht, was auf solche Dinge hindeutet. Es gibt spezielle Fragen, die in diesem Zusammenhang gestern ausführlich erörtert wurden. Wenn Sie präzisieren oder wenn Sie eine Zusatzfrage haben, bin ich gern bereit, jetzt und hier darauf einzugehen.
Herr Staatsminister, die Überlegung bestimmter Ämter, deren Aufsicht Ihnen übertragen worden ist, ob Ihr Gesprächspartner eine der auftraggebenden Personen ist, die zum Mord an den Menschen in Berlin geführt haben, steht im Raum. Sie haben eben ausweichend geantwortet. Ich stelle die Frage nochmals: Gab es bei irgendeinem der Dienste irgendeinen Hinweis, daß es sich bei dieser Person um eine Person handelt, die möglicherweise in einer Auftragslinie mit dem erfüllten Terroranschlag und mit dem Mord steht?
Die Dienste, die mir zugeordnet sind, haben mir keine solchen Hinweise gegeben.
Ich will Ihnen mit einer anderen Antwort beweisen, daß das sehr unlogisch wäre. Es war - das sage ich bewußt auch in der Öffentlichkeit - einer der Dienste, der dazu beigetragen hat, daß es zu diesen Haftfällen gekommen ist. Es wäre unlogisch, dann das Umgekehrte anzunehmen. Ich will das in aller Deutlichkeit sagen.
Wir haben das größte Interesse, daß in diesem Zusammenhang alle Hintergründe aufgeklärt werden. Wir haben selber dazu beigetragen, daß wir überhaupt in der Lage sind, jemanden in diesem Zusammenhang vor Gericht zu stellen.
Wir kommen zur Frage 56 des Abgeordneten Freimut Duve:
Sind bei den Gesprächen zwischen Staatsminister Bernd Schmidbauer und Minister Ali Fallahian der iranische Mordbefehl gegen den Schriftsteller Salman Rushdie und die beleidigende Erhöhung des Terrorgeldes durch Teheran für dessen Ermordung im Anschluß an seine Gespräche mit Bonner Abgeordneten und Vertretern der Bundesregierung zur Sprache gekommen?
Ich darf hier, Herr Kollege Duve, da die Frage den gleichen Gegenstand hat wie die Frage 52 der Frau Kollegin Bock, auf die gegebene Antwort verweisen. Ich gebe Ihnen damit aber gleichzeitig die Chance zu Zusatzfragen.
Herr Staatsminister, hätten Sie in Ihrer Eigenschaft als Abgeordneter des Deutschen Bundestages Verständnis dafür, wenn ich jetzt meine
Verwunderung darüber zum Ausdruck bringe, daß Sie, selber Chef von Geheimdiensten in einem demokratischen Gemeinwesen, bei einem Gespräch mit dem obersten Chef der iranischen Geheimdienste die Frage des Mordbefehls gegen Rushdie nicht erörtert haben?
Ich habe dafür kein Verständnis, wenn Sie das annehmen. Sie müssen davon ausgehen - das sagte ich bereits eingangs -, daß dieses Thema, auch der Fall Rushdie, nicht nur einmal, sondern mehrfach von mir angesprochen wurde.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, Sie haben ausführlich versucht, Antwort zu geben. Ich stelle noch einmal die Frage: Können Sie heute ausschließen, daß es Verdachtshinweise dafür gab, daß Ihr Gesprächspartner im Zusammenhang mit den vor uns stehenden Mykonos-Prozessen steht?
Das kann ich nicht ausschließen, Herr Kollege Duve.
Danke. Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Ich bedanke mich bei Staatsminister Schmidbauer.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns die Parlamentarische Staatssekretärin Michaela Geiger zur Verfügung.
Ich rufe zunächst die Frage 29 des Abgeordneten Hans Wallow auf:
Welcher medizinischen Art und welchen Umfanges sind die gesundheitlichen ({0}) Beschwerden der Bundeswehrsoldaten des UNOSOM II-Kontingents, die in Belet Uen stationiert sind?
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.
Von den Soldaten des deutschen Unterstützungsverbandes in Somalia werden wöchentlich im Durchschnitt 100 ärztlich und 20 zahnärztlich behandelt. Die Station mit 30 verfügbaren Betten ist durchschnittlich mit acht deutschen Soldaten belegt.
Chirurgisch und orthopädisch werden fast ausschließlich Bagatellverletzungen, entstanden im Dienstbetrieb, behandelt. Schwerwiegend waren eine Wirbelsäulenverletzung nach einem Freifaller-Fallschirmsprung und zwei Bandscheibenvorfälle.
Internistisch werden vorwiegend unspezifische Durchfallerkrankungen, unspezifische Atemwegserkrankungen und Herz-Kreislauf-Störungen behandelt.
Hautärztlich werden krankhafte Hautveränderungen behandelt.
Im Fachgebiet Neurologie und Psychiatrie sind nur einzelne Fälle aufgetreten. Wichtig ist: Die ErkranParl. Staatssekretärin Michaela Geiger
kungshäufigkeit liegt insgesamt unter der in den Heimatstandorten.
Ihre Zusatzfrage, Herr Wallow.
Frau Staatssekretärin, wie viele Soldaten mußten aus gesundheitlichen oder mentalen Problemen - einige sollen durchgedreht haben - abgelöst werden?
Insgesamt wurden bisher 38 Soldaten aus gesundheitlichen Gründen nach Deutschland heimgeflogen. Lebensgefahr bestand in keinem einzigen Fall.
Eine weitere Zusatzfrage.
Gab es im Zusammenhang mit den mentalen Schwierigkeiten disziplinarische Probleme innerhalb des Lagers?
Das ist mir nicht bekannt, Herr Abgeordneter Wallow. Ich bin jedoch gern bereit, Ihnen das schriftlich nachzureichen.
Wir kommen damit zur Frage 30 des Abgeordneten Wallow:
Welche konkreten Tätigkeiten, nach Art und Umfang aufgelistet, hat das deutsche UNOSOM II-Kontingent bisher in Somalia durchgeführt?
Bei der Tätigkeit des deutschen Unterstützungsverbandes in Belet Uen ist zwischen logistischen Leistungen und humanitärer Hilfe im Rahmen freier Kapazitäten zu unterscheiden.
Die logistischen Leistungen für UNOSOM-II-Verbände umfassen Transport- und Umschlagtätigkeiten. An Transportleistungen wurden bisher 148 439 Straßenkilometer und 222 Flugstunden erbracht. Umgeschlagen wurden ca. 5 000 Tonnen Material, ca. 7 700 m3 Brauchwasser und ca. 870 m3 Betriebsstoffe. Zudem wurden bisher knapp 300 Soldaten anderer UNOSOM-II-Verbände in unserem Hospital behandelt.
Im Bereich humanitärer Hilfe für die somalische Bevölkerung wurden bisher fast 3 000 Somalis ambulant und 156 stationär behandelt. 113 somalische Patienten wurden operiert. Hinzu kommt die tägliche Mithilfe bei der Versorgung von 50 bis 60 stationären Patienten des örtlichen Krankenhauses.
Weitere wesentliche humanitäre Unterstützungsleistungen sind das Wiederherstellen bzw. Bohren von Brunnen, der Aufbau von Schulen, die Ausstattung und Verteilung von Schulmöbeln, Lehr- und Lernmitteln, Büromaterialien, die Wasserausgabe und Wassertransport - bisher 1 100 m3 -, Verteilung von Lebensmitteln, die Ausgabe von Betriebsstoffen und der Ausbau von Straßen. Die Soldaten des deutschen Unterstützungsverbandes haben durch ihr Engagement im Bereich der humanitären Hilfe das Vertrauen und die Anerkennung der somalischen Bevölkerung im Raum von Belet Uen gewonnen.
Zusatzfrage. Bitte sehr, Herr Abgeordneter Wallow.
Frau Staatssekretärin, nachdem gestern der von Herrn Rühe angekündigte Rückmarsch vom Kabinett gestoppt worden ist: Von wann bis wann erledigt das Kontingent die Hauptaufgabe, nämlich die Unterstützung der indischen Soldaten?
Herr Abgeordneter, dies ist der Inhalt einer späteren Frage. Ich würde das, wenn Sie gestatten, dann gleich mitbehandeln.
Einverstanden?
Muß ich das einfach gestatten? ich würde es ganz gern hören. Ich stehe unter Termindruck.
Sie können das auch doppelt ablaufen lassen.
Ich kann natürlich gern die Frage von Herrn Bindig beantworten.
Ich mache folgenden Vorschlag. Sie beantworten die spätere Frage, und ich gebe Ihnen, Herr Kollege Wallow, zu dieser Frage die beiden Zusatzfragen.
Ich habe noch eine Zusatzfrage. Gibt es eine durch das Verteidigungsministerium erstellte Kosten-Nutzen-Analyse, also eine Gegenüberstellung dessen, was an Hauptaufgaben und Nebenaufgaben geleistet worden ist, und den Kosten?
Ich kann Ihnen nur die bisherigen Kosten für das Engagement der Bundeswehr in Somalia nennen; ich kann sie Ihnen aber nicht genau aufschlüsseln. Die bisherigen Kosten der Beteiligung der Bundeswehr am Einsatz der Vereinten Nationen in Somalia belaufen sich auf ca. 215 Millionen DM.
Zusatzfrage des Abgeordneten Koppelin.
Frau Staatssekretärin, können Sie meine Information bestätigen, daß zur Unterstützung der deutschen Soldaten zusätzlich BGS-Angehörige nach Somalia sollen?
Das kann ich Ihnen so jetzt nicht bestätigen.
Wären Sie bereit, mir das schriftlich zukommen zu lassen?
Das tue ich gerne.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kubatschka zu der Frage 30 des Abgeordneten Wallow.
Ich beziehe mich jetzt auf den humanitären und nicht auf den militärischen Bereich. Ist die Bundeswehr für diese Tätigkeit ausgebildet? Was noch wichtiger ist - bei gutem Willen, von dem ich überzeugt bin, läßt sich vieles machen -: Hat die Bundeswehr das technische Gerät und das Material, um diese Tätigkeiten zu erledigen? Hat sie ökologische Beurteilungen ihrer Tätigkeiten vorgenommen? Hält das eingesetzte Material, z. B. Pumpen, die dortigen Umweltbedingungen aus?
Herr Abgeordneter Kubatschka, daß unsere Soldaten in Belet Uen einen so großen Anklang bei der Bevölkerung finden, sagt Ihnen eigentlich schon, daß sie gut ausgerüstet sind und daß sie die ihnen gestellten Aufgaben hervorragend erledigen. Wenn ein Mensch Wasser braucht, dann ist dies das erste, was man erfüllen muß. Selbstverständlich werden wir, wo immer das möglich ist, auch die ökologischen Gegebenheiten berücksichtigen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Bindig zu der Frage des Abgeordneten Wallow. Bitte schön.
Können Sie bestätigen, daß ein Großteil der Leistungen, die Sie hier bei Transporten, Flügen und Wasser aufgezählt haben, dazu dient, die eigenen Soldaten zu versorgen, und daß dies deshalb keine Leistungen sind, die für andere erbracht werden, sondern der Selbstversorgung dienen?
Herr Abgeordneter Bindig, selbstverständlich können wir unsere Soldaten nicht verdursten lassen. Wir müssen auch sie versorgen. Ich glaube, das ist ganz normal. Darüber hinaus werden italienische Soldaten und eben auch die Bevölkerung versorgt. Es ist also durchaus sinnvoll, was wir machen.
Wir kommen zur Frage 31 des Abgeordneten Bindig, bei der der Abgeordnete Wallow sozusagen eine zusätzliche Zusatzfrage hat:
Wie viele indische Soldaten werden mit Stichtag 15. Oktober 1993 im Raum Belet Uen in Somalia tatsächlich vom deutschen Unterstützungsverband „logistisch versorgt", und worin genau besteht diese logistische Unterstützungsleistung?
Nach der bisherigen Planung der Vereinten Nationen soll im Raum Belet Uen ein indisches Kontingent in Brigadestärke eingesetzt und vom deutschen Unterstützungsverband logistisch versorgt werden. In Belet Uen befindet sich erst ein indisches Vorkommando.
Im übrigen versorgt der deutsche Unterstützungsverband logistisch auch die im Raum Belet Uen eingesetzten Truppenteile Italiens in einer Gesamtstärke von ca. 500 Soldaten. Die logistische Unterstützung sieht u. a. vor: die Verteilung von Wasser, Betriebsstoff und allgemeinen Versorgungsgütern, Wassergewinnung, Lagerung von Verpflegung, Wasser und Betriebsstoff mit einer Bevorratungshöhe von ca. 30 Tagen, Bereitstellung von Pionierleistungen zum Unterhalt von Versorgungsstraßen, Feldflugplätzen und Versorgungspunkten für den eigenen Gebrauch.
Die Versorgung der indischen Kräfte wird weiter vorbereitet, so daß die Unterstützung des indischen Truppenteils unmittelbar nach dessen Eintreffen aufgenommen werden kann.
Eine Zusatzfrage?
Soll ich die zweite Frage des Abgeordneten Bindig vielleicht auch gleich beantworten, weil sie damit im Zusammenhang steht?
Nein, bitte nicht.
Der Kern meiner Frage ist gewesen: Wie viele indische Soldaten haben sich am 15. Oktober im Raum Belet Uen aufgehalten? Ich darf Sie bitten, diese Frage präzise zu beantworten. Sie haben das vermischt und „insgesamt" gesagt und haben die Italiener genannt.
Am 15. Oktober hat sich im Raum Belet Uen ein Vorkommando von drei indischen Soldaten aufgehalten.
Nun kommt Ihre Zusatzfrage, Herr Bindig.
Können wir dann hier gemeinsam feststellen, daß sich 1 700 deutsche Soldaten seit Monaten vor Ort aufhalten, um drei indische Soldaten zu unterstützen? Denn das ist ihr Auftrag.
({0})
Das können Sie nicht feststellen, weil unsere Soldaten - das habe ich Ihnen bereits ausführlich vorgetragen - sehr viele humanitäre Leistungen vollbracht haben. Sie haben die Italiener versorgt und eine Menge von sinnvollen Tätigkeiten erfüllt.
({0})
Sie haben jetzt noch eine Zusatzfrage zu dieser Frage?
Ich verzichte.
Dann hat der Kollege Wallow das Wort. - Bitte schön.
Frau Staatssekretärin, sicherlich sind nicht nur wir Parlamentarier irritiert, sondern auch die Soldaten, wenn Herr Minister Rühe den Rückmarsch verkündet, das Kabinett aber sagt: Rückmarsch stopp! Im Hinblick auf die zu lösende Hauptaufgabe frage ich: Wann findet die denn statt? Ich bitte um exakte Daten: von, bis.
Herr Wallow, wie Sie wissen, befinden wir uns in einem Projekt der UNO, UNOSOM II, an dem ca. 30 Nationen mitarbeiten. Wir sind natürlich auch abhängig von
den Entscheidungen der UN und von den Entscheidungen unserer Partnernationen, die dort mitarbeiten.
Herr Abgeordneter Wallow, Sie dürfen, weil ich das eben zugesagt habe und das in einem Zusammenhang stand, noch eine Frage stellen. Ich möchte aber darauf hinweisen, daß Ihre letzte Zusatzfrage zur Not in den Zusammenhang mit der Frage 32 zu bringen ist, aber nicht in den Zusammenhang mit der Frage 31. Das heißt, ich bitte Sie, bei Ihrer nächsten Zusatzfrage doch sehr darauf zu achten, daß der notwendige Zusammenhang hergestellt wird.
Bei Frage 31?
Wir sind bei der Frage 31.
Herr Präsident, ich hatte die Zusatzfrage im Zusammenhang mit der Frage 30 gestellt, weil diese Frage im Zusammenhang mit der Frage 31 beantwortet worden ist.
Darüber will ich mit Ihnen jetzt nicht streiten.
Vielleicht könnte ich alles zusammen beantworten?
Das machen wir. Zuvor muß ich fragen, wer noch Zusatzfragen stellen möchte.
Herr Abgeordneter Kubatschka, zur Frage 31.
Frau Staatssekretärin, ursprünglich sollte eine indische Brigade mit 4 500 Soldaten versorgt werden. Jetzt wissen wir: Es sind drei Soldaten. Da dieser Auftrag also nicht mehr vorhanden ist - drei Soldaten mit einem so großen Kontingent zu versorgen scheint nämlich ein sehr überdimensionierter Auftrag zu sein -, frage ich: Hat sich damit jetzt eigentlich nicht die Geschäftsgrundlage - das ist Originalton des Verteidigungsministers - verändert?
Herr Abgeordneter Kubatschka, die Inder werden kommen. Sie verspäten sich nur. In welcher Anzahl sie kommen werden, wird noch festgelegt. Es wird diskutiert, weil sich die Belgier und die Franzosen vermutlich aus dem südlichen Bereich zurückziehen. Die Inder werden aber kommen.
Herr Abgeordneter Gilges.
Frau Parlamentarische Staatssekretärin, Sie haben uns mitgeteilt, daß das Unterstützungskommando bis jetzt Kosten in einer Größenordnung von 250 Millionen DM verursacht hat. Wäre es nicht sinnvoller gewesen, die logistische Unterstützung von drei indischen Soldaten über Zivilkräfte zu organisieren und zu finanzieren, die weitaus weniger gekostet hätten? Haben Sie das einmal gegengerechnet? Wenn dies z. B. das Technische Hilfswerk gemacht hätte, wären Sie dann nicht mit 25 Millionen DM, also einem Zehntel des Betrages, ausgekommen?
Herr Abgeordneter, Sie wissen genau, daß wir mit einer indischen Brigade rechnen und uns darauf vorbereiten müssen. Das haben unsere Soldaten getan. In der Zwischenzeit, die als Wartezeit entstand, haben sie sinnvolle humanitäre Aufgaben erfüllt. Ich glaube, hieran kann niemand Kritik üben.
Wir kommen nunmehr zur Frage 32 des Abgeordneten Bindig:
Kann die Bundesregierung angeben, welche Gesamtzahl von indischen Soldaten nach den Planungen von UNOSOM II nunmehr überhaupt noch nach Belet Uen kommen sollen, und denkt die Bundesregierung darüber nach, das deutsche Unterstützungskontingent dem wirklichen Bedarf an Unterstützungsleistungen anzupassen?
Herr Abgeordneter Bindig, das geltende UNO-Mandat für Somalia läuft Ende Oktober dieses Jahres aus. Die Bundesregierung erwartet daher in den nächsten Wochen einen neuen Beschluß der Vereinten Nationen. Sie wird ihre eigenen Entscheidungen unverzüglich danach in engster Abstimmung mit den Vereinten Nationen treffen. In diesem Zusammenhang wird sie weitere Konsultationen mit den Partnern und Verbündeten führen, die ebenfalls Truppen in Somalia unterhalten.
Die Bundesregierung steht mit den Regierungen dieser Länder einschließlich der indischen Regierung und mit den Vereinten Nationen in laufendem Kontakt. In dem Prozeß der ständigen Abstimmung überprüft die Bundesregierung alle Optionen, d. h. auch Art und Umfang der weiteren deutschen Beteiligung an UNOSOM II.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Bindig.
Mit dem Hinweis darauf, daß Sie auch diese Frage nicht so beantwortet haben, wie ich sie gestellt habe, frage ich jetzt noch einmal, was hier steht, nämlich mit welcher Gesamtzahl von indischen Soldaten man nach der Planung von UNOSOM II nunmehr im Raum Belet Uen rechnet.
Dies wird die UNO festlegen.
Heißt das, daß die Bundesregierung derzeit keinerlei konkrete Informationen darüber hat, wie viele indische Soldaten nach Belet Uen kommen werden?
Die Bundesregierung steht in engen Konsultationen mit der UN und auch mit der indischen Regierung. Sobald dies endgültig feststeht, werden wir unsere Entscheidungen treffen.
({0})
Herr Abgeordneter Wallow.
Frau Staatssekretärin, halten Sie dieses System, derartige Investitionen in Menschen, Geld und Material ohne Planungsdaten und -zeiten vorzunehmen, für die Zukunft wirklich für effizient?
Herr Wallow, wir führen einen Auftrag der UN aus. Er ist uns zugeteilt worden. Wir sind im Verbund mit anderen Staaten. Ich glaube, es steht uns nicht zu, zu richten oder zu entscheiden, daß wir als einzige aus diesem Projekt aussteigen.
({0})
Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Schulte.
Frau Staatssekretärin, wie erklären Sie sich dann, wenn Sie noch nicht wissen, wie viele indische Soldaten nach Belet Uen kommen, daß der Bundesverteidigungsminister bereits erklärt hat, daß dort etwa 400 bis 500 Soldaten in Zukunft keinen Dienst mehr tun werden, weil dem ursprünglichen Auftrag der Unterstützung der indischen Brigade nicht mehr gefolgt werden kann?
Das hat er nie so gesagt. Die Inder werden ja kommen.
({0})
Es ist nur noch nicht ganz sicher, in welcher Stärke. Außerdem muß der Verteidigungsminister immer für alle Eventualitäten planen. Er muß sich natürlich Gedanken darüber machen, wie viele Soldaten er für den nächsten Einsatz ausbilden läßt. Insofern sind die Überlegungen des Verteidigungsministers durchaus angebracht.
Abgeordneter Fritz ({0}).
Frau Staatssekretärin, können Sie nach den sehr kleinlichen Nachfragen der Kollegen aus der SPD bestätigen, daß in Somalia noch vor einem Jahr Zehntausende von Menschen verhungert und Tausende durch die Gewalt der marodierenden Banden ums Leben gekommen sind und daß dies jetzt nicht mehr der Fall ist?
Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Frage und bin etwas erstaunt über die Fragen, die mir heute gestellt werden. Gerade die SPD hat gegen die rein humanitären Einsätze nie etwas einzuwenden gehabt.
({0})
Bevor ich dem Abgeordneten Gilges die Möglichkeit einer Fragestellung gebe, muß ich Sie, Herr Abgeordneter Fritz, darauf aufmerksam machen, daß erstens Dreiecksfragen in einer Fragestunde nicht zugelassen sind
und zweitens, Herr Abgeordneter Fritz, der direkte Zusammenhang zur ursprünglichen Frage nur schwer herzustellen ist.
({0})
Nachdem ich das festgestellt habe, gebe ich nun dem Abgeordneten Gilges, verbunden mit der Aufforderung, nicht den gleichen Fehler zu begehen, die Möglichkeit, eine Frage zu stellen.
Frau Parlamentarische Staatssekretärin, ich kann Ihnen bestätigen, daß wir Sozialdemokraten immer dafür eingetreten sind, daß humanitäre Maßnahmen weltweit, auch in Somalia, stattfinden. Die Frage ist deswegen nicht der humanitäre Einsatz, sondern ob er durch die Bundeswehr erfolgen muß, ob nicht besser das Technische Hilfswerk oder andere Organisationen in der Bundesrepublik, die in der Welt humanitär tätig sind, mit effizienteren Mitteln dort eingesetzt werden könnten, so daß deswegen die Kosten von 250 Millionen DM in diesem Jahr für die Menschen dort sinnvoller eingesetzt gewesen wären.
Meine Frage lautet folgendermaßen: Wenn nun die Inder - über drei hinaus - nicht kommen
({0})
- Entschuldigung, Frau Kollegin, das ist immer noch mit Fragezeichen verbunden -, was passiert denn dann, was macht dann die Bundesregierung mit ihrem Unterstützungskommando?
Herr Abgeordneter, zu Ihrer Vorbemerkung möchte ich folgendes sagen: Sie wissen, daß durchaus schon Nichtregierungsorganisationen und Entwicklungshelfer in Somalia waren, daß sie dort aber ihre Arbeit beenden mußten, weil sie im Kriegszustand nicht helfen können. Unsere Soldaten haben die Arbeiten fortgeführt und haben den Menschen ganz konkret geholfen, und zwar beim Überleben geholfen. Insofern glaube ich, daß die Anwesenheit unserer Soldaten absolut sinnvoll ist.
({0})
Was Sie als zweites gesagt haben, ist eine reine Hypothese, die ich nicht bestätigen kann.
Nun gebe ich auch dem Abgeordneten Koppelin die Möglichkeit, eine Zusatzfrage zu stellen. Danach rufe ich die Frage 33 auf.
Frau Staatssekretärin, es wurde schon mehrmals erwähnt, daß der Auftrag, den wir mit unseren deutschen Soldaten dort in Somalia ausführen, nur bis Ende Oktober geht und dann verlängert werden müßte. Können Sie mir erklären, wieso Minister Rühe in der Lage ist, zu sagen, daß unsere deutschen Soldaten bis März/April dort bleiben? Teilen Sie meine Auffassung, die auch die Auffassung der F.D.P. ist, daß es dazu natürlich eines erneuten Beschlusses der parlamentarischen Gremien bedarf, bevor der Minister das erklären kann?
Sie brauchen die Frage nicht zu beantworten; sie steht nicht in direktem Zusammenhang zur Frage 32.
Michaela Geiger, Pari. Staatssekretärin: Gut, dann beantworte ich sie nicht.
({0})
Die Fragen sind hier von hinten und von vorne, von links und rechts gestellt worden. Herr Kubatschka, Sie müßten auch daran denken, daß die Möglichkeit bestehen muß, auch Ihre Frage in der Restzeit noch zu beantworten.
Ich rufe die Frage 33 des Abgeordneten Koppelin auf:
Sind Hubschrauber der ehemaligen NVA ({0}) von anderen Staaten getestet worden, und zu welchen Ergebnissen führten diese Tests?
Herr Abgeordneter Koppelin, die Bundeswehr hat den USA nur vier Hubschrauber der ehemaligen NVA, nämlich zwei Mi 14 Haze und zwei Mi 24 Hind, zu Testzwekken überlassen. Tests von anderen Staaten sind der Bundesregierung nicht bekannt.
Ein Bericht über die von der Bundesrepublik Deutschland den USA überlassenen Abgriffshubschrauber vom Typ Mi 24 Hind liegt dem Bundesministerium der Verteidigung nicht vor. Hier gibt es, wie von dem Kollegen Bernd Wilz am 13. Oktober 1993 bereits dem Verteidigungsausschuß schriftlich mitgeteilt wurde, lediglich einen Bericht zur Technik und technischen Leistungsfähigkeit der Exportversion dieses Angriffshubschraubers.
Die in diesem Bericht behandelte Hubschrauberversion war in der ehemaligen NVA nicht eingeführt. Die Überlassung diese Berichtes erfolgte im Rahmen des trilateralen Dole-Abkommens zur Zusammenarbeit bei der Auswertung fremden Wehrmaterials.
Die im Jahre 1991 durch die Bundeswehr den USA übergebenen zwei Hubschrauber des Typs Mi 14 Haze wurden zur technisch-wissenschaftlichen Auswertung überlassen. Die Auswertung wird seitens der USA voraussichtlich noch in diesem Jahr abgeschlossen. Auswerteberichte liegen dem Bundesministerium der Verteidigung derzeit für diesen Hubschraubertyp noch nicht vor.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Koppelin. Bitte schön.
Frau Staatssekretärin, können Sie mir dann erklären, warum Minister Rühe kurzfristig eine Arbeitsgruppe zu diesem Thema noch einmal einberufen hat, obwohl dieses Thema im Verteidigungsministerium angeblich längst abgehakt war?
Dazu kann ich Ihnen folgendes mitteilen: Die Nutzung der Mi 24 Hind war Gegenstand einer umfänglichen Untersuchung zwischen dem 3. Oktober 1991 und dem 25. Mai 1992. Der Bundesminister der Verteidigung hat
danach entschieden, diesen Hubschraubertyp nicht in die Nutzung zu nehmen. Dies geschah auf Vorschlag des Heeres und des Generalinspekteurs, insbesondere vor dem Hintergrund, daß für diesen Hubschraubertyp zum damaligen Zeitpunkt kein Bedarf erkannt wurde und die Nutzung der Maschine in der Bundeswehr erhebliche strukturelle, organisatorische und finanzielle Belastungen bedeutet hätte.
Angesichts der fortgesetzten Diskussion aber hat der Inspekteur des Heeres Anfang September 1993 vorgeschlagen, den gesamten Sachverhalt hinsichtlich der damaligen Entscheidungsgrundlage noch einmal zu überprüfen. Dem hat der Bundesminister der Verteidigung zugestimmt. Die Überprüfung ist abgeschlossen. Der Bericht liegt derzeit der Leitung des BMVg zur Bewertung vor; das Ergebnis wird Ihnen danach bekanntgegeben werden.
Ich bitte Sie also, abzuwarten, bis dieser Bericht weitergegeben werden kann.
Eine weitere Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, da als Wert für die Hubschrauber der Betrag von 2 Milliarden DM genannt wurde, trifft es dann zu, daß wir, wenn wir den Hubschrauber nicht nutzen der Hubschrauber fällt ja unter das Kriegswaffenkontrollgesetz -, ihn vernichten und damit noch einmal Geld zur Verfügung stellen müßten, um diese 2 Milliarden DM zu beseitigen?
Herr Abgeordneter Koppelin, es wird dies alles noch einmal überprüft. Selbstverständlich werden auch diese finanziellen Gesichtspunkte in die Prüfung einbezogen.
Frau Staatssekretärin, ich möchte mich bei Ihnen bedanken.
Ich möchte dem Hause mitteilen, daß der Geschäftsbereich des Bundesministers für Gesundheit nicht aufgerufen wird, weil die Abgeordneten Ulrich Heinrich und Uta Würfel um schriftliche Beantwortung der Fragen 37, 38 und 39 gebeten haben. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Entsprechendes trifft für den Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr zu. Hier haben die Abgeordneten Simon Wittmann, Gernot Erler und Dr. Egon Jüttner um schriftliche Beantwortung der Fragen 40, 41, 42 und 43 gebeten. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Daher können wir nun zu dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit kommen. Hier steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek zur Verfügung.
Ich rufe Frage 44 des Abgeordneten Georg Gallus auf:
Ist sich die Bundesregierung sicher, daß importierte Säugetiere, Vögel, Fische und Reptilien bei ihrem Eintreffen in der Bundesrepublik Deutschland einer ausreichenden Kontrolle hinsichtlich des Arten- und des Tierschutzes unterzogen werden?
Herr Kollege Gallus, bei der Einfuhr von Tieren aus Nicht-EG-Ländern erfolgt eine Kontrolle unter Artenschutzgesichtspunkten insoweit, als die Tierarten unter die Schutzbestimmung des Washingtoner Artenschutzübereinkommens und somit unter die Verordnung zur Anwendung des Übereinkommens über den internationalen Handel mit gefährdeten Arten, freilebenden Tieren und Pflanzen in der Europäischen Gemeinschaft oder unter die Bundesartenschutzverordnung fallen.
Durch die Umorganisation der Zollverwaltung im Zuge des Inkrafttretens des EG-Binnenmarktes ab 1. Januar 1993 und die hierdurch bedingte Versetzung von Personal an die Außengrenzen der EG ist die Kontrolldichte vor allem an den großen Flughäfen verbessert worden. Im Rahmen dieser Kontrollen werden auch Tierschutzaspekte berücksichtigt.
Bei Tieren, die nicht dem Artenschutz unterliegen, wird eine Importkontrolle nur unter Tierschutzgesichtspunkten vorgenommen. Rechtsgrundlage hierfür ist das Tierschutzgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 17. Februar 1993. Den für die Durchführung des Tierschutzgesetzes zuständigen Ländern stehen für die tierschutzrechtliche Beurteilung von Tieren bei der Einfuhr zahlreiche Gutachten zur Verfügung. Darüber hinaus steht es den nach Landesrecht zuständigen Behörden frei, im Bedarfsfall weitere Sachverständigenmeinungen heranzuziehen. Zur Vereinheitlichung des Verwaltungsvollzuges wurde die Vorgehensweise der Länder in BundLänder-Besprechungen koordiniert.
Zusatzfrage des Abgeordneten Gallus.
Herr Staatssekretär, es ist doch so, wie es meine Frage beinhaltet, daß in der Vergangenheit über eine gewisse Zeit hin artenschutzmäßig nicht einwandfrei kontrolliert worden ist. Deshalb meine Frage: Kann man jetzt davon ausgehen, daß diese Mängel restlos behoben sind? Es hat ja keinen Wert, daß die ganze Welt weiterhin ausgeräubert wird und die Kontrollen in Frankfurt und anderen Großflughäfen nur mangelhaft stattfinden.
Den ersten Teil Ihrer Frage kann ich eindeutig mit Ja beantworten. Die Kontrollen haben sich verbessert.
Zum zweiten müssen Sie, Herr Kollege Gallus, aber auch beachten, daß es noch sehr große Defizite bei der Ausformulierung des Artenschutzes selber gibt. Hier bedarf es noch enormer Anstrengungen - die Bundesregierung ist hier initiativ -, vor allem auch die Verordnung in der Europäischen Gemeinschaft im Sinne einer Verdichtung der Bestimmung von zu schützenden wildlebenden Tieren - das war ja Ihre Frage - weiterzuentwickeln.
({0})
Keine weitere Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 48 des Abgeordneten Klaus Harries auf:
Ist die Bundesregierung bereit, um Genehmigungsverfahren zu verkürzen, in der Verwaltungsvorschrift „Umweltverträglichkeitsprüfung" unbedeutende Ausbaumaßnahmen von der Prüfungspflicht auszunehmen?
Herr Kollege Harries, grundsätzlich erfaßt das UVP-Gesetz nur die Vorhabentypen, bei denen mit erheblichen Umweltauswirkungen zu rechnen ist, z. B. nur bestimmte emissionsschutzrechtliche, genehmigungsbedürftige Anlagen oder Bundesfernstraßen, nicht jedoch andere Straßen.
Dagegen werden im Bereich des Gewässerausbaus alle planfeststellungsbedürftigen Ausbauten erfaßt, wozu im Einzelfall auch unbedeutende Ausbaumaßnahmen gehören können. Eine Änderung der Rechtslage ist nur durch Gesetz oder Rechtsverordnung möglich, nicht durch die von Ihnen genannte Verwaltungsvorschrift.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie nach den Ausführungen, die heute der Bundeskanzler zum Standort Deutschland und in diesem Zusammenhang zur Notwendigkeit der Verkürzung von Genehmigungsverfahren gemacht hat, bereit, der Bundesregierung vorzuschlagen, daß auch unbedeutende, nicht relevante Gewässer gegebenenfalls durch eine Verordnung von der UV-Prüfung ausgenommen werden?
Herr Kollege Harries, es gibt bereits eine Initiative des Bundesrates, die sich voll mit der Interessenlage der Bundesregierung deckt. Der Anhaltspunkt ist eine Novellierung des § 31 des Wasserhaushaltsgesetzes.
Weitere Zusatzfrage.
Wann kann damit gerechnet werden, Herr Staatssekretär, daß die Verwaltungsvorschriften, die ja Aussagen über Straßen machen, wie Sie gesagt haben, verabschiedet und veröffentlicht werden?
Herr Kollege Harries, ich muß Sie noch einmal darauf aufmerksam machen, daß hier nicht die Änderung einer Verwaltungsvorschrift der gangbare Weg ist, sondern die Änderung des § 31 des Wasserhaushaltsgesetzes. Dann folgen die Änderungen des Anhangs zum UVP-Gesetz, in dem die Bundeswasserstraßen, auf die Sie hier abheben, genannt sind.
Herr Präsident, da hier meines Erachtens ein Mißverständnis vorliegt und meine Frage nicht beantwortet ist: Darf ich nachhaken?
Sie spekulieren auf meine Großzügigkeit. Ja; okay.
Ich bedanke mich. - Herr Staatssekretär, meine Frage ging konkret und
gezielt dahin, wann mit der Verabschiedung der Verwaltungsvorschriften gerechnet werden kann.
Herr Kollege Harries, Sie kennen den Gang der Verabschiedung der Verwaltungsvorschrift. Ich rechne nicht damit - um Ihnen das konkret zu sagen -, daß wir hier in kürzester Zeit zu einer Verabschiedung kommen. Sie kennen auch die Verhandlungslage im Umweltausschuß. Deshalb ist die Bundesratsinitiative zu begrüßen, über den anderen Weg eine Änderung herbeizuführen.
Bevor ich die Fragen des Abgeordneten Kubatschka aufrufe, möchte ich der guten Ordnung halber für das Protokoll noch feststellen, daß die Fragen 45 und 46 der Abgeordneten Siegrun Klemmer und die Frage 47 der Abgeordneten Monika Ganseforth auf deren Wunsch schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen nunmehr zur Frage 49 des Abgeordneten Horst Kubatschka:
Welche rechtlichen Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus Vorgängen, daß wegen der Kompetenzstreitigkeiten von Entsorgern asbest- oder sonstwie verseuchte Gegenstände in Güterzügen auf lange Sicht unentsorgt auf Bahnhöfen stehen, wie das beispielsweise auf dem Bahnhof Pfeffenhausen bei Landshut mit einem Güterzug mit nicht einwandfrei verpackten 1 100 asbesthaltigen Nachtspeicheröfen der Fall ist?
Herr Kollege Kubatschka, die für den Vollzug des Abfallrechts zuständigen Behörden verfügen über ausreichende rechtliche Instrumente, um die umweltverträgliche Entsorgung von Abfällen sicherzustellen. Neben den ordnungsrechtlichen Eingriffsbefugnissen sowie Zulassungs- und Genehmigungspflichten nach dem Abfallgesetz, die alle an der Entsorgung Beteiligten betreffen, ist vor allem der Entsorgungs- und Verwertungsnachweis nach der Abfall- und ReststoffÜberwachungsverordnung zu nennen. Mittels dieses obligatorisch oder fakultativ zu erbringenden Nachweises hat der Erzeuger bereits vor Verbringung zu belegen, daß der gesamte Entsorgungs- oder Verwertungsweg gesichert ist. Die Anwendung dieser Instrumente im Einzelfall obliegt den für den Vollzug zuständigen Landesbehörden.
Darüber hinaus sieht der Entwurf eines Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes der Bundesregierung in Umsetzung der Abfallrichtlinien der Europäischen Gemeinschaft vor, daß neben Reststoffen alle verwertbaren Sekundärrohstoffe der abfallrechtlichen Überwachung bei Bedarf unterworfen werden können, um derartige Probleme noch effizienter ausschließen zu können.
Zusatzfrage. Bitte schön, Herr Abgeordneter Kubatschka.
Herr Staatssekretär, das war nach meiner Meinung eine Antwort aus der Theorie. Wie schaut die Praxis aus? Wir haben Entsorgungsgegenstände, z. B. asbesthaltige Elektroöfen. Sie befinden sich in Waggons der Deutschen Bundesbahn im Landkreis A. Der Unternehmer, der dafür kassiert hat, sitzt im Landkreis B, und derjenige, der
den Auftrag angenommen hat, der Subunternehmer, ist im Landkreis C. Die beladenen Waggons befinden sich im Landkreis B. Wer ist jetzt für die Entsorgung zuständig? Die Bundesbahn, einer der genannten Landkreise, derjenige, der das Geld kassiert hat - das ist nämlich geschehen -, oder derjenige, der den Auftrag angenommen hat?
Herr Kollege Kubatschka, Sie beschreiben hier einen juristisch und tatsächlich sehr komplizierten Sachverhalt. Ich kann mich zunächst nur auf meine Antwort beschränken, daß es beim Vollzug des Abfallrechtes auch bei einem so komplizierten Tatbestand - obwohl das aus Ihrer Frage nicht hervorgeht, nehme ich einmal an, daß hier ein Unternehmer sehr geschickt seine Rechnung zwischen Abfall und Wirtschaftsgut hereingeholt hat - in der Verantwortung der Abfallbehörden des Landes bleibt, diesen zugegebenermaßen im Inland - im Unterschied zu dem ja breiten Bereich illegaler Abfallexporte - komplizierten Fall zu lösen.
Sind Sie bereit, diesem konkreten Fall nachzugehen?
Herr Kubatschka, das haben wir bereits getan. Ein Ergebnis liegt allerdings noch nicht vor. Es ist natürlich selbstverständlich, daß Sie darüber unterrichtet werden.
Danke.
Wir kommen zur Beantwortung der Frage 50 des Abgeordneten Horst Kubatschka:
Wie beurteilt die Bundesregierung den Einschluß des stillgelegten Kernkraftwerkes in Lubmin bei Greifswald im Vergleich zu Abbau und Zwischenlagerung aus umweltpolitischen und sicherheitstechnischen Erwägungen, und wie sollen die entstehenden Kosten jeweils zwischen Bund, Land und Betreiber aufgeteilt werden?
Herr Kollege Kubatschka, nach § 7 Abs. 3 des Atomgesetzes sind der sichere Einschluß eines endgültig stillgelegten Kernkraftwerkes oder der Abbau der Anlage oder von Anlagenteilen möglich. Für die Reaktoren des Kernkraftwerkes Greifswald wurde bei der zuständigen Genehmigungsbehörde, dem Umweltministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern, im März 1993 von der Energiewerke Nord GmbH Antrag auf Stillegung und Abbau der Anlage gestellt. Auf Grund der in der Bundesrepublik Deutschland und auch international vorliegenden Erfahrungen mit der Stillegung von Kernkraftwerken können sowohl der sichere Einschluß als auch der direkte Abbau der Anlage prinzipiell sicher und ohne unzulässige Strahlenbelastung des Personals realisiert werden.
Die Kosten des sicheren Einschlusses bzw. des Abbaus der Anlage sind grundsätzlich von der Energiewerke Nord GmbH als Betreiberin und Antragstellerin, die im hundertprozentigen Eigentum der Treuhandanstalt steht, zu tragen.
Eine Zusatzfrage, bitte sehr.
Herr Staatssekretär, es besteht die Möglichkeit sowohl des sicheren Einschlusses als auch des Abrisses. Wir haben kein Endlager für diese Produkte. Ich frage Sie daher: Wäre es nicht vernünftiger, die Kernkraftwerke stehenzulassen, bis man ein Endlager hat, wo dieses Material entsorgt werden kann, so daß nicht erneut Zwischenlager gebaut werden müssen? Durch den Bau der Zwischenlager bekommen wir weiteres Material, das belastet ist.
({0})
Herr Kollege Kubatschka, Sie wissen, daß zur Zeit parallel zu dem Antragsverfahren auf Genehmigung der Stilllegung ein Genehmigungsverfahren zur Errichtung eines Zwischenlagers für die Kernbrennstäbe des Kernkraftwerkes Greifswald und des Kernkraftwerkes Rheinsberg - was einer Vereinbarung zwischen den beiden Bundesländern entspricht - im Umweltministerium durchgeführt wird. Da das Land Mecklenburg-Vorpommern für den Bund in dieser Frage Auftragshandelnder ist, obliegt es der Entscheidung dieses Landes, die entsprechende Genehmigung zu erteilen oder nicht zu erteilen. Liegt diese Genehmigung nicht auf der Linie des Atomgesetzes, muß der Bund entsprechend aktiv werden.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Eine Frage zu den Kosten. Der Besitzer ist letzten Endes die Treuhand und damit wir. Gibt es keine Möglichkeit, eine Lösung ähnlich der Finanzbeteiligung beim Kernkraftwerk Niederaichbach anzustreben, die so aussieht, daß die Treuhandanstalt die Anlage dem Staat übergibt und der Staat sich die Kosten mit der Industrie teilt?
Herr Kollege Kubatschka, da ich nicht davon ausgehe, daß sich die Eigentumsverhältnisse der Energiewerke Nord GmbH ändern werden, gehe ich davon aus, daß die Treuhandanstalt die Stillegung zu 100 % gemäß § 7 Abs. 3 des Atomgesetzes finanzieren muß.
Danke schön, Herr Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes auf. Hier steht uns Herr Staatsminister Schäfer zur Verfügung.
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen kurz die Geschäftslage bekanntgeben. Die Aktuelle Stunde wird voraussichtlich um 16.45 Uhr beginnen. Das ist für diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die an der Aktuellen Stunde teilnehmen wollen und die die Debatte am Fernsehschirm verfolgen, von Bedeutung.
Ich rufe nunmehr die Frage 57 des Abgeordneten Ortwin Lowack auf:
Was spricht gegen die Aufnahme der Republik China in die Vereinten Nationen, nachdem ein entsprechender Antrag von mehreren Mitgliedsländern vorliegt und das Kommuniqué über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China vom Oktober 1972 keine Exklusivität der offiziellen Beziehungen zur Volksrepublik vorsieht?
Herr Staatsminister, Sie haben das Wort.
Herr Kollege, die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat in ihrer Resolution 2758 vom 25. Oktober 1971 entschieden, daß die Volksrepublik China den Platz Chinas in der UNO sowie im Weltsicherheitsrat einnehmen sollte. Damit endete die Periode, während der die Regierung der Republik China ganz China in den Vereinten Nationen vertrat. Es handelte sich dabei nicht um ein Problem der Mitgliedschaft, sondern der Vertretungsberechtigung des Gründungsmitgliedes China. Diese Entscheidung war folgerichtig, wenn man davon ausgeht, daß China weiterhin ein einziger, ungeteilter Staat ist, wie dies auch die Regierungen in Peking und Taipeh beide vertreten.
Die Bundesregierung betrachtet die Regierung der Volksrepublik China als die einzig legitime Regierung Chinas. Sie hat deshalb stets eine Ein-China-Politik verfolgt. Da Peking und Taipeh ebenfalls eine EinChina-Politik vertreten, stellt sich die Frage der Anerkennung eines zweiten chinesischen Staates in der UNO nicht.
Eine Zusatzfrage, bitte schon.
Herr Staatsminister, ist der Bundesregierung bekannt - und würde sie eventuell daraus andere Folgerungen ziehen, als sie sie bisher für die Politik gezogen hat -, daß die offizielle Stellungnahme der Regierung auf Taiwan heute darauf hinausläuft, daß man nicht ganz China vertritt, sondern daß es vergleichbar zur deutschen Teilung ein China, aber zwei Staaten gibt, die sich organisiert haben, ein kommunistisches Regime in Peking und das Land, das bisher nie kommunistisch gewesen war und heute demokratisch organisiert ist, die Republik China auf Taiwan?
Herr Kollege, der Bundesregierung ist sehr genau bekannt, wie sich die sogenannte Republik China versteht, nämlich die Inselrepublik Taiwan, und wie sich Festlandchina mit mehr als 1 Milliarde Einwohnern versteht.
Die Situation ist nicht von der Bundesregierung abhängig, sondern von den Auffassungen der Chinesen, daß es trotz dieser Teilung, die man nicht mit unserer Teilung vergleichen kann, ein China gibt, in dem alle Chinesen ihren Platz haben. Wir können schlecht voraussagen, wie die weitere Entwicklung zwischen den Regierungen in Taipeh und Peking verläuft. Es gibt ja Annäherungen, und wir hoffen alle, daß eines Tages hier auch Lösungen gefunden werden können, die im Interesse eines einheitlichen Chinas liegen.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte sehr, Herr Lowack.
Herr Staatsminister, warum erscheint eigentlich der Antrag Taiwans auf
Aufnahme in die Vereinten Nationen und der Name Taiwan nicht einmal im Asien-Konzept der Bundesregierung, das gerade vorgestellt wurde, obwohl die Republik China auf Taiwan über die größten Devisenreserven der Welt verfügt, der zwölftgrößte Handelsstaat der Erde ist und das größe Infrastruktur- und Umweltschutzprogramm in der Geschichte Eurasiens beschlossen hat?
Herr Kollege, ich finde Ihre sehr freundlichen Worte zur Regierung in Taipeh verständlich - Sie sind ja der Vorsitzende der Parlamentariergruppe, die sich speziell mit diesem Bereich beschäftigt -, aber ich muß Ihnen ganz klar sagen: Aus allen Gesprächen, die wir in den Ausschüssen geführt haben, ergibt sich, daß es nicht so ist, als existierte Taipeh überhaupt nicht für die Bundesregierung.
Es ist diplomatisch nicht anerkannt, - kann auch gar nicht anerkannt werden; ebensowenig von den Vereinten Nationen -, aber es ist ein Wirtschaftsfaktor; das leugnet hier niemand. In unserer AsienKonzeption spielt Taipeh eine Rolle. Sie wissen, daß es eine Reihe von Maßnahmen gibt, die auch die Handelsbeziehungen zu Taipeh verstärken, verbessern werden. Hier gibt es ja eine ganze Reihe von Initiativen aus dem Deutschen Bundestag. Wir werden ja in den nächsten Wochen bei einer Asiendebatte Gelegenheit haben, sehr ausführlich auch auf diesen Punkt zurückzukommen.
Zu dieser Frage liegen keine weiteren Wünsche vor, so daß ich die Frage 58 des Abgeordneten Konrad Gilges aufrufen kann:
Kann die Bundesregierung bestätigen, daß Deutschland bei den Vereinten Nationen noch Beitragsrückstände in Höhe von mehreren Millionen DM hat, die z. T. aus unbezahlten Pflichtbeiträgen der früheren DDR stammen, und wenn ja, wann plant die Bundesregierung, diese zu begleichen?
Herr Kollege, die Bundesregierung hat die Pflichtbeiträge der Bundesrepublik Deutschland zum regulären Haushalt und zu den friedenserhaltenden Maßnahmen der Vereinten Nationen, soweit sie uns bisher in Rechnung gestellt wurden, vollständig bezahlt. Die Bundesregierung hat bei den Vereinten Nationen keine Außenstände.
Es ist aber richtig, daß die ehemalige DDR bei den friedenserhaltenden Maßnahmen in Palästina und Libanon Schulden in Höhe von insgesamt 17,2 Millionen US-Dollar hinterlassen hat. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß sie rechtlich nicht verpflichtet ist, die DDR-Altschulden zu begleichen. Sie hat sich jedoch bereit erklärt, die Beitragsrückstände ohne Anerkennung einer Rechtsverpflichtung durch freiwillige Beiträge in mehreren Zahlungen abzubauen. In den Übersichten der Vereinten Nationen ergibt sich die hierüber mit den UN getroffene Vereinbarung aus einer Fußnote.
Die DDR-Altschulden belaufen sich zur Zeit noch auf 14,45 Millionen US-Dollar. Im Haushaltsjahr 1994 sind für die Abtragung der DDR-Altschulden 600 000 US-Dollar seitens der Bundesregierung vorgesehen.
Herr Abgeordneter Gilges, die Fragestunde dauert noch
wenige Sekunden. Sie können sich auch die weitere Frage beantworten lassen und dann eventuell noch eine Zusatzfrage stellen. - Okay.
Dann rufe ich die Frage 59 des Abgeordneten Konrad Gilges auf:
Ist es zutreffend, daß die Bundesrepublik Deutschland ihre Pflichtbeiträge zur Finanzierung des Haushaltes und der friedenserhaltenden Maßnahmen der VN in zwei Halbjahrestranchen überweist, und wenn ja, gedenkt die Bundesregierung diese Zahlungsart zu ändern, da durch sie regelmäßig das Fälligkeitsdatum von Zahlungen überschritten wird?
Herr Kollege, die Zahlungen zum regulären Haushalt erfolgen in zwei Raten auf Wunsch des Bundesministers der Finanzen im Interesse einer wirtschaftlichen Verwendung von Steuergeldern vor allem mit dem Ziel, eine Vorfinanzierung anderer UN-Mitglieder, die ihre Beiträge wesentlich später als wir entrichten, zu vermindern.
Die Bundesregierung ist bereit, eine Überprüfung der Zahlung unserer Pflichtbeiträge zum regulären Haushalt in zwei Jahresraten vorzunehmen, wenn sich eine entsprechende Praxis auch bei den übrigen Mitgliedern der Vereinten Nationen und unseren europäischen Partnern durchsetzt.
Beiträge zu friedenserhaltenden Maßnahmen werden unmittelbar nach Rechnungsstellung unter Berücksichtigung der haushaltsrechtlichen Erfordernisse beglichen.
Ich lasse jetzt noch eine Frage zu, obwohl die Zeit überschritten ist. Bitte schön.
Herr Staatsminister, finden Sie es nicht ein bißchen kleinlich, wenn die Bundesregierung 250 Millionen DM für den humanitären Einsatz und die logistischen Aufgaben in Somalia einsetzt, aber nicht bereit ist, die Schulden der ehemaligen DDR zu begleichen - was ihr ohne weiteres möglich wäre -, weil das dazu führt, daß natürlich die Liquidität, die ja bei der UNO ohne Zweifel latent gefährdet ist, dadurch noch erschwert wird?
Herr Kollege, ich darf Sie darauf hinweisen, daß die hohen Aus- und Rückstände bei den Vereinten Nationen nicht durch die kleinen Rückstände der ehemaligen DDR hervorgerufen worden sind, sondern daß sowohl die Vereinigten Staaten von Amerika als auch die Russische Föderation zu den Hauptschuldnern gehören. Deren Zahlungen in Milliardenhöhe würden die UNO liquide machen.
Aber ich darf Ihnen, weil mich eine Ihrer Kolleginnen, die dem Haushaltsausschuß angehört, freundlich anlächelt - Frau Kollegin Schulte., ich verstehe Ihr Lächeln auch als Hinweis an Ihren Kollegen Gilges -, dazu sagen, daß es dem Deutschen Bundestag und den Vertretern im Haushaltsausschuß von der Opposition und den Regierungsparteien absolut freigestellt ist, dem Bundesfinanzminister zu sagen: Wir möchten im Haushalt, daß die Schulden, die wir zurückzuzahlen haben, nicht in mehreren Jahresraten, sondern in einer Jahresrate gezahlt werden. Es ist die vornehmste Aufgabe des Parlamentes, die Regierung zu drängen.
Staatsminister Helmut Schafer
Ich kann nur sagen: Auf Grund der Haushaltssituation, die Sie alle kennen, gehen wir den Weg der Ratenzahlung. Aber es steht im Benehmen des Haushaltsausschusses, das zu ändern.
Die Fragen 60 und 61 des Kollegen Dr. Klaus Kübler werden auf diesen Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit ist die Fragestunde beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 a bis i und den Zusatzpunkt 6a bis d auf:
15 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Tierzuchtgesetzes
- Drucksache 12/5741 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({0})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung des Mißbrauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts ({1})
- Drucksache 12/5764 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({2})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll Nr. 2 vom 13. November 1992 zu den Protokollen vom 20. Dezember 1961 über die Errichtung der Internationalen Kommissionen zum Schutz der Mosel und der Saar gegen Verunreinigung und dem ergänzenden Protokoll vom 22. März 1990 zu diesen beiden Protokollen
- Drucksache 12/5446 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Verkehr
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Statistiken im Handwerk ({4})
- Drucksache 12/5833 Überweisungsvorschlag :
Ausschuß für Wirtschaft ({5}) Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 1994 ({6})
- Drucksache 12/5842 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({7})
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Gewerbeordnung und sonstiger gewerberechtlicher Vorschriften
- Drucksache 12/5826 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({8})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der agrarsozialen Sicherung ({9})
- Drucksache 12/5889 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({10}) Finanzausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christoph Matschie, Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland am „Fonds zur Entwicklung der eingeborenen Völker Lateinamerikas und der Karibik"
- Drucksache 12/5739 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit ({11})
Auswärtiger Ausschuß
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christoph Matschie, Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Unterstützung der indigenen Völker bei der Verabschiedung der „Allgemeinen Erklärung über die Rechte eingeborener Völker" in der kommenden 48. Sitzungsperiode der Generalversammlung der Vereinten Nationen
- Drucksache 12/5740
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit ({0})
Auswärtiger Ausschuß
ZP 6 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Errichtung einer Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus
- Drucksache 12/5916 -Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({1})
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung, anderer handwerksrechtlicher Vorschriften und des Berufsbildungsgesetzes
- Drucksache 12/5918 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({2}) Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Bildung und Wissenschaft EG-Ausschuß
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
. Strafrechtsänderungsgesetzes - Abgeordnetenbestechung
- Drucksache 12/5927 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({3})
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
d) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Schornsteinfegergesetzes
- Drucksache 12/5928 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({4}) Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Bildung und Wissenschaft EG-Ausschuß
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Gesetzentwurf zur Änderung der Gewerbeordnung auf Drucksache 12/5826 - das ist der Tagesordnungspunkt 15f - soll zusätzlich an den Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Heilung des Erwerbs von Wohnungseigentum
- Drucksache 12/3961 ({5}) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({6})
- Drucksache 12/5843 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Eckhart Pick Dr. Bertold Reinartz
b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 23. Februar 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Mexikanischen Staaten zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 12/5194 - ({7})
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({8})
- Drucksache 12/5898 -
Berichterstattung: Abgeordneter Hermann Rind
c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. Juli 1992 zur Änderung des Abkommens vom 4. Oktober 1954 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Osterreich zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern
- Drucksache 12/4567 - ({9})
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({10})
- Drucksache 12/5910 -
Berichterstattung: Abgeordneter Claus Jäger
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({11}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 12/5911 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Pützhofen Dr. Wolfgang Weng ({12}) Hinrich Kuessner
d) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({13}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushalts- und Wirtschaftsführung 1993;
hier: Einwilligung in eine überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 06 46 Titel 712 01 ({14})
- Drucksachen 12/5577, 12/5743 Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Deres
Dr. Wolfgang Weng ({15}) Rudolf Purps
e) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({16}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Außerplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 23 02 Titel 866 08 - Sonderhilfe Georgien
- Drucksachen 12/5547, 12/5787 Berichterstattung:
Abgeordnete Rudolf Purps
Adolf Roth ({17})
Dr. Wolfgang Weng ({18})
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 118 zu Petitionen - Drucksache 12/5799 -
g) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 119 zu Petitionen
- Drucksache 12/5800 -
h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 120 zu Petitionen
- Drucksache 12/5801 -
i) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 121 zu Petitionen
- Drucksache 12/5802 Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Wir kommen zunächst - Tagesordnungspunkt 16a - zur Einzelberatung und Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Gesetzentwurf zur Heilung des Erwerbs von Wohnungseigentum; Drucksachen 12/3961 und 12/5843. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der SPD-Fraktion ist der Gesetzentwurf damit in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf als Ganzem zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der SPD-Fraktion ist der Gesetzentwurf angenommen worden.
Wir kommen - Tagesordnungspunkt 16b - zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Vertragsgesetzentwurf zum Doppelbesteuerungsabkommen mit den Vereinigten Mexikanischen Staaten; Drucksachen 12/5194 und 12/5898.
Bei diesen internationalen Verträgen entfällt die zweite Lesung, so daß wir zur Schlußabstimmung kommen. Wer dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? -Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung - Tagesordnungspunkt 16c - über den von der Bundesregierung eingebrachten Vertragsgesetzentwurf zum Doppelbesteuerungsabkommen mit der Republik Österreich; Drucksache 12/4567. Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/5910, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen?
- Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Wir kommen - Tagesordnungspunkt 16 d - zur Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu einer überplanmäßigen Ausgabe für Baumaßnahmen der Deutschen Bibliothek in Frankfurt; Drucksachen 12/5577 und 12/5743. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen?
- Damit ist die Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 16e: Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu einer außerplanmäßigen Ausgabe für die Sonderhilfe Georgien; Drucksachen 12/5547 und 12/5787. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen?
({23})
- Dann darf ich davon ausgehen, daß die SPD-Fraktion der Beschlußempfehlung zugestimmt hat, Frau Geschäftsführerin? Bei Georgien unterstelle ich das.
({24})
Somit kann ich feststellen, daß diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen worden ist.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 16f bis 16i: Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 12/5799 bis 12/5802. Dies sind die Sammelübersichten 118 bis 121. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Beschlußempfehlungen sind einstimmig angenommen.
Meine Damen und Herren, interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Agrarsozialreformgesetzes 1995 zu erweitern. Dieser Gesetzentwurf soll jetzt ohne Debatte behandelt werden. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall.
Damit rufe ich folgenden Zusatzpunkt der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der agrarVizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
sozialen Sicherung ({25})
- Drucksache 12/5700 -
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({26})
- Drucksache 12/5924 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Hans Joachim Fuchtel
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({27}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 12/5934 Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Diller Hans-Gerd Strube
Ina Albowitz
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den vom Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung in „Änderung des Gesetzes zur Neuregelung der Altershilfe für Landwirte" umbenannten Entwurf; Drucksache 12/5924. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? -- Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünschen, sich zu erheben. - Die Frage nach Nein-Stimmen und Enthaltungen erübrigt sich, weil, wenn ich das richtig gesehen habe, alle dem Gesetzentwurf in dritter Beratung zugestimmt haben.
Unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/5924 empfiehlt der Ausschuß, die Beratungen zu den Art. 1 bis 6 und 8 bis 44 auf der Grundlage eines inhaltsgleichen Regierungsentwurfs, der Ihnen auf Drucksache 12/5889 vorliegt, durchzuführen. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltungen der SPD-Fraktion ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Meine Damen und Herren, auf Antrag der SPD-Fraktion rufe ich nunmehr den Zusatzpunkt Aktuelle Stunde auf:
Haltung der Bundesregierung zu den Auswirkungen ihrer Finanzpolitik auf die Sozialpläne, insbesondere der Stahlindustrie
Die Fraktion der SPD hat diese Aktuelle Stunde beantragt.
Zunächst erteile ich dem Abgeordneten HansEberhard Urbaniak das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben diese Aktuelle Stunde beantragt, weil der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und der Haushaltsausschuß in der Zwischenzeit zwei Kernpunkte geregelt haben, die für die Schaffung und für die Erhaltung von Sozialplänen wichtig sind. Das Arbeitslosengeld soll nunmehr
reduziert und die Arbeitslosenhilfe gekappt werden. In den Fällen, in denen Arbeitnehmer freigesetzt werden, erschwert dies in gewerblichen Betrieben die Handhabung von Sozialplänen gemäß des Betriebsverfassungsgesetzes, aber es zerstört auch die Politik hinsichtlich der Sozialpläne in den Stahlbetrieben überhaupt.
Dies ist ein ungeheuerlicher Vorgang; denn die Sozialdemokraten haben dem Deutschen Bundestag am 3. März 1993 einen Antrag vorgelegt, die Stahlkrise und die sozialen Folgen aufzugreifen und zu regeln. Die Koalition und die Regierung haben nichts getan, obwohl sie darüber unterrichtet waren.
({0})
Wir haben am 16. Mai 1993 von Herrn Bangemann,
({1})
dem Vizepräsidenten der EG-Kommission, eine Darlegung über die soziale Flankierung bekommen. Das Ergebnis der Ministerrunde - Herr Rexrodt war dabei, mein lieber Herr Kollege - sei, sich darauf zu einigen, die Restrukturierung bis zum 31. Dezember 1995 vorzunehmen. Am 30. September 1993 meldete die Bundesregierung der EG-Kommission 37 000 Freisetzungen von Stahlarbeitern in der Bundesrepublik Deutschland - die alle sozial flankiert werden müssen; das ist ja auch unsere Meinung -, weil wir sonst die Existenz dieses Zweiges, dieser wichtigen Branche nicht erhalten können. Aber, bitte schön, das Ganze sozial flankiert zur Befriedung der freiwerdenden Belegschaften, damit wir keinen sozialen Sprengstoff bekommen.
Sie zerstören aber gleichzeitig die Voraussetzung für den Abschluß und für die Weitergeltung von Sozialplänen, obwohl die Bundesregierung uns mit ihrer Zustimmung gestattet hat, Arbeitnehmer auch vor dem 55. Lebensjahr freizusetzen. Sollen sie denn jetzt - wenn das nicht mehr ausreicht, was Sie gemacht haben - wieder einen Einstellungsanspruch haben, obwohl die Arbeitsplätze bereits stillgelegt sind? Wissen Sie eigentlich, in welch eine Situation Sie die Stahlarbeiter bringen? Darum sagen wir Ihnen: Dies darf nicht passieren.
Wir haben alle Möglichkeiten genutzt. Der Haushaltsausschuß hat das alles eine Woche ausgesetzt. Wir haben Sie gebeten, Ihr Vorhaben noch einmal gründlich zu prüfen und mit uns die Ausnahmegenehmigung, die wir schon zusammen geschaffen hatten - § 128a des Arbeitsförderungsgesetzes -, als Teil der sozialen Flankierung bis zum 31. Dezember 1995 gelten zu lassen, damit wir die Restrukturierung erreichen und die gesunden Grundlagen für die Stahlindustrie erhalten können. Dies alles ist jetzt in Frage gestellt.
Wir haben umfassende Arbeitsniederlegungen an allen Stahlstandorten in der Bundesrepublik. Das war nicht nötig. Das haben Sie zu verantworten. Die Leute sind verunsichert.
({2})
Alle sind bereit - IG Metall, Betriebsräte, Unternehmer, EG-Kommission -, diese Dinge vernünftig abzuwickeln.
Meine Damen und Herren, die eigentliche Auseinandersetzung kommt ja noch. Denn Fernand Braun, der Koordinator in Brüssel, hat uns erklärt, die Reduzierung um 29 Millionen t Rohstahl und 19 Millionen t Walzstahl werde im nächsten Monat bekanntgegeben. Dann wissen die Belegschaften, daß die sozialen Bedingungen für das Ausscheiden wie bisher durch die Bundesregierung zerstört worden sind. Dies kann doch überhaupt keiner mehr aushalten. Die jungen Arbeitnehmer werden herausgehen; die älteren sind ja geschützt. Auch das kann nicht Sinn Ihrer Politik sein.
Helfen Sie also mit, die Zeit zu nutzen und eine gute soziale Flankierung zustande zu bekommen, damit wir das in anständiger Weise erledigen können! Unsere Männer im Stahl haben dies verdient.
({3})
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Franz Romer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen!. Meine Herren! Herr Kollege Urbaniak, Sie haben das alles natürlich sehr einseitig dargestellt.
({0})
Zugegeben, es ist nicht leicht, als Arbeitnehmervertreter zu begründen, warum es bei der geplanten zeitlichen Begrenzung der Arbeitslosenhilfe keine Ausnahmeregelungen geben darf, auch wenn dies die Einhaltung der Sozialpläne vor allem in der Eisen- und Stahlindustrie erschwert. Aber es gibt wichtige Gründe dafür, eine Sonderregelung für die Stahlarbeitnehmer abzulehnen.
Wenn wir bei einem umfassenden Sparpaket, das bei allen schmerzhaften Auswirkungen die einzige Sanierungsmöglichkeit bietet,
({1})
wieder sofort beginnen, Ausnahmen einzubauen, werden unsere Sparbemühungen unglaubwürdig.
({2})
Manche Kollegen mögen sich ja daran gewöhnt haben, daß die Bürger politikverdrossen werden, weil sie den Aussagen der Politiker nicht mehr trauen wollen.
({3})
Ich nicht. Es nutzt nichts, aus Angst vor Reaktionen der Bürger die getroffenen Maßnahmen sofort wieder zu verwässern.
({4})
Denn die Bürger sind sehr wohl bereit, ein breitangelegtes und alle betreffendes Sparpaket mitzutragen. Was sie nicht wollen, sind groß angekündigte einschneidende Maßnahmen, in die dann so viele Ausnahmeregelungen eingebaut werden, daß das ganze
Paket nachher nichts mehr wert ist. Und genau das würde passieren, wenn wir jetzt eine Sonderregelung hinsichtlich der Sozialpläne in der Stahlindustrie einführen.
Als Mitglied dieses Parlaments, das ja ein Sparpaket schnüren soll, welches im Positiven wie im Negativen alle Bürger einbezieht, frage ich mich, warum es überhaupt Ausnahmeregelungen für die Stahlarbeiter geben soll.
({5})
- Herr Urbaniak, ich werde darauf kommen. - Da werden zwei Gründe genannt. Da wird einmal gesagt, daß soziale Sonderregelungen dieser Art der Dank sein sollen für den großen Anteil der Montanindustrie am Wiederaufbau Deutschlands. Als Begründung für eine Besserstellung der Stahlarbeiter gegenüber anderen Arbeitnehmern überzeugt mich dies heute nicht mehr.
({6})
Denn wer heute 52 Jahre alt ist und als 15jähriger in diesem Wirtschaftsbereich angefangen hat, tat dies im Jahre 1956. Warum sollte er im stärkeren Maße am Wiederaufbau Deutschlands beteiligt gewesen sein als ein gleichaltriger Arbeitnehmer in der Metall- oder Autoindustrie?
Auch der zweite Grund der Sonderregelung in der Montanindustrie stimmt spätestens seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Monostruktur gibt es nicht nur im Montanbereich. Auch in den anderen betroffenen Gebieten belastet der Wegfall vieler Arbeitsplätze den sozialen Frieden.
Übrigens halte ich es für durchaus erlaubt, den politischen Führern des am meisten betroffenen Bundeslandes die Frage zu stellen, warum sie immer noch alle geplanten Sparmaßnahmen mit dem Argument Monostruktur abschmettern. Schwarze Fahnen an der Ruhr, das gab es schon vor 25 Jahren. Ich kann kaum glauben, daß sich seitdem an der Struktur dieses Gebietes nichts geändert haben soll.
({7})
Oder sollte die SPD ihre Hausaufgaben derart vernachlässigt haben?
({8})
Wie dem auch sei, im vereinigten Deutschland müssen viele liebgewordene Gewohnheiten aufgegeben werden. Statt also Sonderrechten nachzujammern, kann es für die Betroffenen nur eines geben: sich flexibel auf die neuen Begebenheiten einzustellen.
({9})
Daher sollten die Tarifparteien gemeinsames Handeln nicht nur im Schulterschluß mit der Verweigerung gegenüber der Regierung und Sparplänen zeigen. Denn Sozialpläne kann man auch weiterentwikkeln, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern.
Daher mein Appell an die Tarifparteien: Die Gewerkschaften sollten nicht jammern und klagen, sondern neue Vereinbarungen anstreben.
({10})
Und die Arbeitgeber sollten die geänderten Rahmenbedingungen nicht zum Vorwand nehmen, aus den Sozialplänen auszusteigen.
Vielleicht ein Gedanke noch zum Schluß - oder besser: eine Anregung zum Überlegen -: Warum führen wir nicht eine flexiblere Altersgrenze für die Rente ein? Viele würden vielleicht eine sichere, wenn auch geringere Rente schon mit 57 oder 58 Jahren akzeptieren.
Herr Kollege Romer, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Wie gesagt, nur eine Anregung zum Überlegen.
Ich bedanke mich.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gisela Babel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der von der SPD-Fraktion beantragten Aktuellen Stunde zur Auswirkung des 1. SKWPG auf Sozialpläne geht es im Grunde um die Frage, in welcher Art und Weise die öffentliche Hand den tiefgreifenden Strukturwandel flankieren soll.
Es ist gängige Praxis, daß Sozialpläne, die zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ausgehandelt werden, die zeitlich unbegrenzte Zahlung von Arbeitslosenhilfe zur Voraussetzung haben. Aber es ist erklärter Wille der Koalition, den Bezug der Arbeitslosenhilfe künftig zu begrenzen. Es ist keine Versicherungsleistung - wie vielfach fälschlich angenommen -, sondern ein Bundeszuschuß. Seine Streichung ist haushaltspolitisch begründet, aber auch sozialpolitisch vertretbar, wenn der Anreiz, Arbeit aufzunehmen, verstärkt werden soll.
Ich verhehle nicht, daß ich den hiermit verbundenen Abstieg vieler Menschen in die Sozialhilfe und die Belastung der Kommunen als ein großes Problem ansehe. Allerdings ist eine der Arbeitslosenhilfe vergleichbare unbefristete staatliche Unterstützung in anderen europäischen Ländern weitgehend unbekannt.
Zuzugeben ist, daß Sozialpläne auch Vertrauenstatbestände schaffen. Dem haben wir durch die Änderung entsprochen, daß 55jährige Arbeitnehmer aus der begrenzenden Regelung herausgenommen werden sollen, allerdings nicht nur die in Sozialplänen abgesicherten, sondern alle, auch die nicht mit einem Sozialplan bedachten Arbeitnehmer.
({0})
Ein Sozialplan ist ein zweischneidiges Schwert. Es kommen gar nicht alle Arbeitnehmer in den Genuß solcher Sozialpläne. Die Möglichkeit, solche Pläne
abzuschließen, haben ausschließlich Großunternehmen, während kleine und mittlere Unternehmen gar nicht über die notwendigen finanziellen Mittel verfügen, um solche Sozialpläne mit der Belegschaft zu vereinbaren.
({1})
Das führt zu einer Ungleichbehandlung der Arbeitnehmer. Die in kleinen und mittleren Betrieben Beschäftigten müssen entlassen werden und sind allein auf die Lohnersatzleistungen nach dem AFG angewiesen. Beschäftigte bei größeren Unternehmen können dagegen ganz gelassen in die Zukunft blikken, mit einem Sozialplan in der Tasche.
({2})
Mit der Förderung des vielgepriesenen Mittelstandes, die wir alle wollen - von der wir jedenfalls sagen, daß wir sie alle wollen -, hat die Sozialplanregelung jedenfalls nichts zu tun.
Zweifellos haben Sozialpläne in der Vergangenheit in vielen Fällen einen sozialverträglichen Strukturwandel begünstigt. Zum anderen hat aber gerade die Arbeitslosenhilfe durch die Konstruktion der Sozialpläne eine völlig neue Funktion bekommen, die ihr ursprünglich nicht zugedacht war. Die Arbeitslosenhilfe, meine Damen und Herren, ist gerade für den über 50jährigen zu einem Mittel der Frühverrentung geworden. Für Unternehmen ist es eine bequeme Art und Weise, sich älterer Arbeitnehmer zu entledigen, die, einmal abgeschoben, keine oder wenig Chancen mehr haben, sich einen Arbeitsplatz auf dem regulären Arbeitsmarkt zu suchen. Wir reden immer von längerer Lebensarbeitszeit, wir reden immer von einem Hinausschieben der Regelaltersrente, aber auf der anderen Seite müssen wir feststellen, daß immer mehr Menschen immer früher aus dem aktiven Erwerbsleben ausscheiden.
({3})
- Die in Sozialplänen Verhafteten haben auch keinen Arbeitsplatz, Herr Urbaniak. 50jährige, die einmal ihren Arbeitsplatz verloren haben, sollen also nicht mehr einsatzfähig und nicht mehr zu gebrauchen sein. Während Spitzenfunktionen in der Wirtschaft gerade von Frauen und Männern in den 50ern besetzt werden, gelten Arbeitnehmer auf niedrigerer Ebene als nicht mehr verwendbar.
Dieser Trend zur Frühverrentung ist inzwischen zu einer echten Belastung der sozialen Sicherungssysteme in der Bundesrepublik geworden. Dieser Tatsache haben die bisherige Regelung und die Praxis der Sozialpläne unweigerlich Vorschub geleistet. Vielleicht ist es möglich, durch die vorgesehene Änderung diesem Trend zu begegnen.
Meine Damen und Herren, noch ein Wort zur Lex Stahl. Man kann über das Prinzip durchaus noch streiten. Aber über eines kann man sicherlich nicht streiten, daß man nämlich nicht für eine einzige Branche eine solche Vorzugsregelung einführen soll.
({4})
Es ist sicher richtig, daß die Stahlindustrie vom Strukturwandel hart betroffen ist. Dies gilt aber auch für viele andere Bereiche. Fast alle Branchen machen eine tiefgreifende Rezession durch und müssen sich einem Strukturwandel stellen, der Rationalisierung, Umstrukturierung und Entlassungen notwendig macht. Ich denke an die Textilindustrie oder den Maschinenbau. Mit welchem Grund könnte man dort versagen, was Sie für die Stahlindustrie fordern, daß nämlich auch in diesem Bereich 52jährige aus der Begrenzung des Arbeitslosenhilfenbezugs herausgenommen werden sollen? Sie wissen genau, daß wir dann das Sparziel wiederum verfehlen würden.
Frau Kollegin Babel, die fünf Minuten sind um.
Letzter Satz: Dies würde die Menschen, die in anderen Branchen von Entlassungen bedroht sind, in völlig ungerechtfertigter Weise benachteiligen.
Ich bedanke mich, meine Damen und Herren.
({0})
Kollege Bernd Henn, Sie haben das Wort.
Ich hatte mich zwar nicht angemeldet -
Dann hat Ihre Gruppe Sie angemeldet.
Das muß ein Versehen sein. Ich dachte, das entscheide ich noch selber.
({0})
Es besteht hier kein Redezwang.
Aber ich will doch ein paar Bemerkungen machen, wenn ich schon dazu aufgefordert werde. Warum auch nicht?
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Entscheidende ist natürlich die Tatsache, daß die Begrenzung der Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre ökonomisch, finanzpolitisch überhaupt nichts bringt. Sie bedeutet eigentlich nur, daß man von einer Tasche in die andere Tasche schaufelt, zugunsten des Bundes, der entlastet wird, und zwar zu Lasten der Kommunen. Von daher ist es Unsinn, daß dies von der Regierung in dieser Weise durchgeführt wird.
({0})
Ich denke, daß den Stahlarbeitern, die in der Vergangenheit vielleicht in besonderer Weise von solchen Regelungen profitiert haben, weil sie in der Tat mittlerweile mit 52, 53 Jahren ausscheiden, in der jetzigen Situation praktisch bereits abgesprochene Sozialpläne genommen werden. Das heißt, Absprachen, die mit den Unternehmen und mit den Betriebsräten bereits getroffen wurden, werden praktisch von der Bundesregierung durch ihre Planung, morgen diese gesetzliche Grundlage zu schaffen, außer Kraft gesetzt.
Ich muß ehrlich gestehen, ich bin im Prinzip kein so großer Freund von Sozialplänen.
({1})
- So ist das. Es ist klar: Jeder Sozialplanfall bedeutet zunächst auch einen entfallenen Arbeitsplatz.
Wichtiger wäre es, die Regionen, in denen Branchen in Strukturkrisen geraten, rechtzeitig so umzustrukturieren, daß Sozialpläne nicht notwendig werden. Aber wir wissen, daß das in der Praxis nicht passiert. Bei dieser Politik der Bundesregierung geschieht eher das Gegenteil.
Man sollte deshalb die Sozialplanpolitik auch unter dem Aspekt betrachten, daß hier eine Anpassungszeit für Umstrukturierung gewährt wird.
Ich weiß nicht, was es noch wert ist, daß in den Revieren seit den 50er Jahren Hunderttausende von Arbeitsplätzen in einer derart friedlichen Weise verlorengegangen und abgebaut worden sind, die nur mit Hilfe der Sozialpläne, die im Bergbau und in der Stahlindustrie aufgestellt worden sind, möglich war.
Ich weiß nicht, was dieser soziale Frieden Ihnen überhaupt noch bedeutet. Ich habe nach Ihrer Rede, Frau Kollegin Babel, den Eindruck, daß das überhaupt nichts mehr bedeutet. Das finde ich wirklich schlimm.
({2})
Ich will noch auf einen anderen Punkt hinweisen - das ist vorhin in einem Zwischenruf schon deutlich geworden -: Wie können Sie an die Gleichbehandlung appellieren und sagen, es darf keine Vorzugsbehandlung der Stahlarbeiter geben, da doch gerade mit den Stimmen der Regierungskoalition - ich glaube, es ist ein halbes Jahr her - ein Gesetz verabschiedet worden ist, das den Offizieren der Bundeswehr erlaubt, mit 48 Jahren nach Hause zu gehen? Für andere Dienstgrade gilt das, glaube ich, ab 55 Jahren.
({3})
- Einen goldenen Handschlag.
Ich denke, wenn man diese Dinge miteinander vergleicht, ist es durchaus angemessen zu sagen: Wir bleiben bei der bisherigen Regelung; Arbeitslosenhilfe wird weiterhin auf Dauer gewährt, weil eine andere Regelung finanzpolitisch ohnehin nichts bringt, sondern nur die Kommunen belastet. Dann können wir auf anständige Art und Weise ältere Menschen in den Branchen, in denen Umstrukturierungen stattfinden, nach Hause gehen lassen. Ich glaube, dieses System hat sich in der Vergangenheit in der Bundesrepublik außerordentlich bewährt.
({4})
Ich hoffe, der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für
Vizepräsident Hans Klein
Arbeit und Sozialordnung, unser Kollege Horst Günther, kommt nicht ebenfalls unerwartet ans Rednerpult.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich will diese Aktuelle Stunde nutzen, um noch einmal auf die außerordentlich angespannte wirtschaftliche Situation in der Bundesrepublik Deutschland hinzuweisen,
({0})
auch darauf, daß die wirtschaftliche Entwicklung im Jahre 1993 erheblich schwächer verlaufen ist, als wir das alle -ich glaube, das sagen zu können - erwartet haben.
Diese Entwicklung hat durchgreifende Konsequenzen auch für die öffentlichen Haushalte; übrigens nicht nur für den Bundeshaushalt, sondern, wie wir zunehmend feststellen, auch für die Haushalte der Länder und Gemeinden. Deshalb gibt es zu mutigen und konsequenten Einsparungen keine Alternative. Denn nur eine strikte Sparpolitik kann das Fundament zur Konsolidierung der Finanzen und zur Stärkung des notwendigen Wirtschaftswachstums liefern.
Die Bundesregierung hat daher am 13. Juli 1993 die Eckwerte für ein Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramm beschlossen, das den Bundeshaushalt mit rund 21 Milliarden DM im Jahre 1994 entlasten wird. Morgen wird dieses Programm hier im Plenum beraten.
Die vorgesehenen Einschnitte sind zum Teil schmerzhaft, aber, wie ich glaube, unvermeidlich. Wir müssen sparen, um die Kosten zu senken. Denn würden wir die Kosten in die Höhe treiben, würden wir unsere Arbeitsplätze gefährden.
({1})
Wir müssen sparen, um die Neuverschuldung zu begrenzen und damit die Inflation zu bekämpfen. Denn die Inflation frißt das Geld aller Bürger, insbesondere aber das der kleinen Leute auf.
Ich will dazu ein Beispiel nennen. Die Steigerung der Inflationsrate um lediglich 1 % führt bei einem Arbeitslosen mit zwei Kindern zu einem Kaufkraftverlust von monatlich 21,60 DM in den alten Bundesländern oder 17,60 DM in den neuen Bundesländern.
({2})
Deshalb ist es notwendig, die Inflationsrate nicht noch weiter steigen zu lassen. Das geht nur, wenn gespart wird, meine Damen und Herren,
({3})
und nicht durch eine weitere Neuverschuldung.
({4})
Deshalb erweisen diejenigen den Arbeitslosen, den Rentnern und den Sozialhilfeempfängern einen Bärendienst, die die Notwendigkeit von Sparmaßnahmen abstreiten und statt dessen die Neuverschuldung erhöhen wollen.
({5})
Nach geltendem Recht ist der Anspruch auf Arbeitslosenhilfe zeitlich unbefristet. Das bedeutet, daß im Einzelfall durch eine Beschäftigung während 150 Kalendertagen, also fünf Monaten, ein Anspruch auf Arbeitslosenhilfe bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres erworben werden kann.
Der Bund, meine Damen und Herren, kann für diesen Personenkreis keine Einstandspflicht bis zur Rente haben. Arbeitslosenhilfe kann keine quasi vorgezogene Ersatzrente sein. Die Befristung ist sachlich und rechtlich gerechtfertigt. Denn der Anspruch auf Arbeitslosenhilfe unterliegt nicht dem Eigentumsschutz nach Art. 14 des Grundgesetzes, da die Arbeitslosenhilfe im Gegensatz zum Arbeitslosengeld nicht aus den Beiträgen der Bundesanstalt für Arbeit, sondern aus Steuermitteln des Bundes finanziert wird.
({6})
Natürlich werden auch künftig die Arbeitslosen ohne Anspruch auf Arbeitslosenhilfe die kostenlosen Vermittlungs- und Beratungsdienste der Bundesanstalt für Arbeit nutzen können.
({7})
- Wenn Sie sich darüber aufregen, dann nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß das inzwischen von einigen bestritten wird.
({8})
Deshalb habe ich das noch einmal deutlich gesagt.
({9})
Wir haben übrigens in einer besonderen Übergangsregelung alle Arbeitslosen von der Befristung der Arbeitslosenhilfe ausgenommen, die vor dem 1. Januar 1994 das 55. Lebensjahr vollenden. Damit haben wir auch besonders an die laufenden Sozialpläne gedacht.
Eine weitergehende Ausnahme von der Befristung der Arbeitslosenhilfe über die 55er Regelung hinaus ist durch besondere Übergangsregelungen für jüngere „Sozialpläner" in den Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie nicht finanzierbar und ordnungspolitisch auch bedenklich. Denn seit Mitte 1992 bis Mitte 1993 sind in Deutschland rund 739 000 industrielle Arbeitsplätze abgebaut worden, allein 138 000 im Maschinenbau und 173 000 in der Elektrotechnik und in der Automobilbranche.
({10})
Dem stehen 24 000 verlorengegangene Arbeitsplätze
in der Eisen- und Stahlindustrie gegenüber. Dabei
waren die Arbeitnehmer aus dem Montanbereich deutlich besser gesichert als ihre Kollegen aus anderen Branchen. Ich begrüße dies ausdrücklich.
Ich will auch noch auf etwas hinweisen, meine Damen und Herren, weil es offensichtlich unter Datenschutz steht: Vor nicht langer Zeit haben wir eine Sonderregelung zu § 128a des Arbeitsförderungsgesetzes für die Stahlindustrie beschlossen.
Zusätzlich haben wir die EGKS-Mittel von 6 000 DM auf 9 000 DM pro Sozialfall und den Beteiligungssatz bei den Sozialplankosten der Unternehmen von 50 % auf 60 % erhöht, was noch einmal 4 000 DM ausmacht. Das wird offensichtlich immer verschwiegen. Das sind Leistungen, die diese Bundesregierung zusammen mit dem Europarat und dem Europäischen Parlament für die Stahlindustrie bereits erbracht hat. Das kann niemand bestreiten, Herr Urbaniak.
({11})
Es ist daher keine Rechtfertigung dafür erkennbar, daß die ohnehin besser sozial abgesicherten Arbeitnehmer aus dem Eisen- und Stahlbereich nunmehr nochmals gegenüber anderen zu bevorzugen sind.
({12})
Die Finanzlage des Bundes läßt im übrigen die für eine besondere Übergangsregelung der Mitarbeiter der Eisen- und Stahlindustrie erforderlichen Mehrausgaben von 1 Milliarde DM über Jahre hinaus nicht zu. Die Bundesregierung, Herr Kollege Urbaniak, zerstört die Sozialpläne nicht, sondern sie fordert dazu auf, eine neue Sozialplangestaltung vorzunehmen und die Unternehmen mehr zur Kasse zu bitten. Das ist unsere Forderung am heutigen Tag.
({13})
Außer den Montanregionen - nehmen Sie das bitte zur Kenntnis - sind auch andere Gebiete monostrukturiert. Deshalb könnte eine Ausnahme von der Befristung der Arbeitslosenhilfe unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung wohl nicht nur auf die Arbeitnehmer der Eisen- und Stahlindustrie beschränkt werden, was noch mehr Geld kosten würde. Darauf will ich nur hinweisen.
In den Sozialplänen der Eisen- und Stahlindustrie wird häufig ein bestimmter Prozentsatz des zuletzt verdienten Arbeitsentgelts unter Anrechnung der Arbeitslosenhilfe garantiert. Dabei gehen die Sozialpläne von einem im wesentlichen unveränderten Fortbestand des Rechts der Arbeitslosenhilfe aus.
Bereits 1986 hat das Bundessozialgericht zum Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz entschieden, daß der Bezieher von Arbeitslosenhilfe mit Eingriffen des Gesetzgebers in den Bestand des Anspruchs rechnen muß.
Das Bundessozialgericht hat aber auch festgehalten, daß die Arbeitslosenhilfe Elemente einer Fürsorgeleistung enthalte, so daß bei Fortfall dieses
Anspruchs das den Bedürftigen zustehende Recht auf Sozialhilfeleistungen grundsätzlich einen angemessenen Ausgleich gewährleistet.
Außerdem hat die Eisen- und Stahlindustrie in der Zeit nach der Herstellung der deutschen Einheit Gewinne gemacht, die nur teilweise wieder für den sozialverträglichen Abbau der Produktionskapazitäten eingesetzt werden müssen. Auch das ist eine Wahrheit, meine Damen und Herren.
Deswegen appelliere ich an die Unternehmer: Nehmen Sie jetzt in dieser Situation Ihre Fürsorgepflicht für Ihre Mitarbeiter ernst! Schieben Sie nicht Ihre Verantwortung und damit die Kosten erneut in die Sozialkassen und nach Bonn!
Die Steuerzahler und die Beitragszahler auch in der Rentenversicherung trifft für die Wirtschaftsentwicklung der Eisen- und Stahlindustrie keine Schuld. Gleichwohl leisten sie nach wie vor Erhebliches für diese Branche.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat der Kollege Hans Koschnick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dies ist eine ungewöhnliche Sitzung für mich: Ich höre die Aufforderung der Bundesregierung an die Stahlunternehmer, mehr für ihre Arbeitnehmer zu tun, weil sie selbst vor Jahren nicht genügend gespart und zurückgelegt und abgebaut haben.
Ich komme aus einer Region, in der wir mit Mühe und Not ein Stahlwerk gerettet haben, nein, dabei sind, es zu retten. Ich weiß, welche Finanzmittel es in diesen Bereichen gibt. Ich muß nicht von Bremen sprechen, nicht von Klöckner. Ich könnte von Krupp und Hoesch sprechen. Ich habe die schreckliche Erinnerung an die Stahlwerke der Maxhütte. Der eine oder andere Betrieb in Salzgitter mag ein bißchen besser dastehen, auch Thyssen mag ein bißchen besser dastehen.
Insgesamt ist es eine ausgesprochen miese Position, daß jetzt die Bundesregierung sagt: Ihr Unternehmer könnt ja zahlen, wir können ruhig kürzen.
({0})
Ich verteidige hier nicht die Unternehmer. Ich frage hier: Kennen Sie wirklich die Finanzlage unserer Stahlwirtschaft? Wissen Sie, was getan worden ist? Wissen Sie auch, daß diese Stahlwirtschaft in den Zeiten, als sie hochprofitabel war, auch entsprechende Beiträge nach Brüssel abgeführt hat, um dort den Fonds aufzubauen, damit wir in späteren Zeiten noch Umstrukturierungsmaßnahmen durchführen können?
Es ist doch nicht so, daß die Unternehmer nur in ihre Tasche gewirtschaftet haben. Aber gut, es ist ganz schön, wenn ein Sozi auch einmal für die Unternehmer spricht.
Wissen Sie, was mir in der ganzen Debatte auffällt? Ich wollte eigentlich mehr von den Stahlkumpeln
sprechen, aber das machen meine Kollegen gleich noch. Herr Kollege, Sie haben aus der Betriebsratssicht gesagt, es sei alles okay. Ich habe noch gut in Erinnerung, was Ihr Bayern mir bei der Maxhütte gesagt habt. Da klang das ganz anders.
Ich schaue mir die F.D.P. an. Da wird ganz freimütig gesagt: Wir brauchen einen Anreiz zur Aufnahme von Arbeit; deswegen muß die Bezugszeit bei der Sozialhilfe gekürzt werden. Bei heute 7 Millionen Arbeitslosen reden Sie vom Anreiz zur Arbeit! Ein Großteil der Menschen möchte arbeiten, wenn es für sie eine Chance gäbe zu arbeiten.
({1})
Mit dieser Begründung für die Kürzung der öffentlichen Fördermittel wird versucht, die Arbeitslosen als faule Menschen abzustempeln. Ich sage Ihnen: Viele, viele Menschen wären froh, wenn sie arbeiten könnten.
({2})
Es ist richtig: Sozialpläne gibt es überwiegend in großen Industrieunternehmen. Das kann gar nicht bestritten werden. Kleine Unternehmen können sie manchmal nicht finanzieren; sie versuchen, einen anderen Weg zu gehen. Aber es kann doch nicht richtig sein zu sagen: Weil die kleinen Unternehmen Sozialpläne nicht finanzieren können, müssen alle weniger haben. Was ist das für eine Vorstellung vom Sozialstaat? Statt dessen müßten wir gemeinsam versuchen, die Menschen durch ein Netz sozialer Maßnahmen abzusichern, abzufedern, und wir sollten ihnen nach dem Einbruch ihrer Lebenschancen, den sie als Arbeitslose erfahren haben, nicht noch zusätzliche Lasten aufbürden.
({3})
Sie selbst sagen als Vertreterin der F.D.P., daß ältere Arbeitnehmer heute keine Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt haben. Dies gilt aber nicht erst ab 55 Jahren, nicht erst ab 52 Jahren. In anderen Bereichen werden Frauen und Männer heute nicht mehr eingestellt, wenn sie 45 Jahre alt sind. Hier liegen Aufgabenfelder für die Sozialpolitik, die wir gemeinsam angehen müssen.
({4})
- Das ist gut! Die Freien Demokraten sagen, das liegt an den Tarifen, daß sie hinterher zuviel verdienen.
({5})
Bei den nächsten Wahlkämpfen reden wir draußen einmal darüber, ob Ihr Argument richtig ist, daß jemand, der ein Leben lang gearbeitet hat, am Ende weniger als in der Mitte seines Lebens haben muß.
({6})
- Das ist nicht die Frage. Darf ich Ihnen sagen, was wir erleben? Sie verschieben die Kostenbelastung, von der Sie sprechen, auf die Gemeinden. Sie erwarten im gleichen Zeitpunkt - ich habe die Worte von Graf Lambsdorff noch im Ohr -, daß die Gemeinden mehr für die Umstrukturierung der Wirtschaft vor Ort unternehmen. Sie nehmen den Gemeinden aber die letzten Chancen, Mittel freizumachen, um umstrukturieren zu können. Das kann doch nicht vernünftig sein.
({7})
Dann sagt mir die Bundesregierung: Eines können Sie sich sicher sein, die kostenlose Arbeitsvermittlung und Beratung findet weiter statt. Bitte, Herr Staatssekretär, kommen Sie einmal zu mir nach Bremen, kommen Sie nach Bremerhaven, gehen Sie nach Wilhelmshaven, gehen Sie meinetwegen auch nach Bayern in die Oberpfalz, und sagen Sie den Leuten einmal: Das, was wir euch anbieten, ist eine kostenlose Beratung für Arbeitsplätze, die nicht vorhanden sind. Auch dies darf nicht wahr sein.
Ich wollte mich nicht aufregen, aber ich sage Ihnen: Diese Art von Argumenten, die Sie vorgebracht haben, beweist mir, daß Sie auf einem ganz anderen Dampfer sind: Sie wollen eine andere Republik. Sie wollen die Sozialstaatsposition dieser Republik auflösen zugunsten einer Position, wie sie sich aus der gegenwärtigen Situation ergibt.
({8})
Darüber werden wir reden, Jahr für Jahr, Tag für Tag. Ich will keine andere Republik. Ich möchte das, was wir gemeinsam - ich sage: gemeinsam - erarbeitet haben, erhalten, damit die Menschen mit einem gewissen Maß an sozialer Sicherheit schwere Lasten mittragen können, die durch Strukturkrisen und Konjunkturkrisen unter Umständen eintreten.
({9})
Herr Kollege Dr. Peter Ramsauer, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramm der Bundesregierung kann, wenn es wenigstens annähernd das notwendige Ausmaß an Einsparungen herbeiführen will, am sozialen Bereich nun einmal nicht vorbeigehen. Um die Größenordnungen noch einmal ins Gedächtnis zu rufen: Die Summe der gesamten Sozialtransfers beträgt jährlich etwa 1 000 Milliarden DM. Davon werden durch die Sparmaßnahmen der Bundesregierung ganze 15 Milliarden DM eingespart. Das ist auf gar keinen Fall, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, der soziale Kahlschlag, von dem Sie immer sprechen. Angesichts des Specks, den unser gesamtes Sozialsystem in den vielen guten Jahren in Deutschland angesetzt hat, ist dies ein eher kümmerlicher Beitrag zu unseren gemeinsamen und unverzichtbaren Anstrengungen, wieder zu einem soliden Ausgleich
zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik zurückzukehren.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesen Bereich des Abspeckens gehört es auch, wenn nun durch das Erste Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms eine Befristung der Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre vorgesehen wird; dies ist nur recht und billig. Denn auch von einem Sozialstaat, Herr Kollege Koschnick, kann nicht erwartet werden, daß er für den betroffenen Personenkreis nach nur fünf Monaten Tätigkeit eine lebenslange Einstandspflicht haben soll.
Wir wollen keine andere Republik; aber wir wollen einen Wirtschafts- und Sozialstaat, der auf einen vernünftigen Ausgleich hinwirken kann zwischen dem, was erwirtschaftet wird, und dem, was verteilt wird. Sie können es einfach nicht lassen, mehr verteilen zu wollen, als erwirtschaftet wird. Das muß man Ihnen leider Gottes immer wieder ins Gedächtnis rufen.
Ich glaube auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß mit den nun vorgesehenen Übergangsregelungen die neue Befristung hinreichend abgefedert wird, indem beispielsweise alle Arbeitslosen, die vor dem 1. Januar 1994 das 55. Lebensjahr vollendet haben, von der Befristung der Arbeitslosenhilfe ausgenommen werden.
Meine Damen und Herren, weitere Ausnahmeregelungen halte ich schon wegen der finanziellen Auswirkungen für inakzeptabel. Besondere Übergangsregelungen für Arbeitnehmer der Eisen- und Stahlindustrie, wie sie gefordert worden sind, würden über die Jahre hinweg rund 1 Milliarde DM zusätzlich erfordern. Dies paßt schon finanzpolitisch nicht in die Landschaft. Die Kosten für die jetzt vorgesehenen Übergangsregelungen sind ohnehin bereits üppig. Für die etwa 25 000 begünstigten Arbeitnehmer fallen sie ab 1997 an und haben beispielsweise im Jahr 1998 eine Höhe von 305 Millionen DM, im Jahre 1999 von 365 Millionen DM und im Jahre 2000 von 235 Millionen DM.
Ich halte eine Sonderbehandlung der von Arbeitslosigkeit Betroffenen in der Stahlindustrie auch ordnungspolitisch für nicht mehr zu rechtfertigen. Was sollen sich eigentlich arbeitslos gewordene Mitbürgerinnen und Mitbürger in anderen vom Strukturwandel gebeutelten Wirtschaftsbereichen denken, die keine solchen Bevorzugungen erfahren?
({1})
Da frage ich auch die vielen Gewerkschaftsfunktionäre, die auf der SPD-Bank sitzen: Was sollen die sich eigentlich denken? Ich meine hier beispielsweise die rund 138 000 Menschen im Maschinenbau oder die 89 000 in der Elektrotechnik, die 84 000 in der Autoindustrie und die 39 000 im Bergbau, die von Mitte 1992 bis Mitte 1993 arbeitslos geworden sind.
({2})
- Herr Kollege Urbaniak, da nützt Ihre ganze Aufregung nichts. Sie als Gewerkschaftsfunktionär sollten
gegenüber den Arbeitnehmern, die Sie zu vertreten vorgeben, Gleichheit in der Behandlung walten lassen und nicht die eine Gruppe von Arbeitslosen viel besserstellen als die anderen Arbeitslosen.
({3})
Meine Damen und Herren, nicht nur mit Blick auf diese Arbeitslosen lehne ich weitere Sonderrollen für den Stahlbereich ab, sondern auch deshalb, weil die Gründe für jahrzehntelange Sonderregelungen für den Stahlbereich irgendwann als alte Zöpfe abgeschnitten werden müssen. Einige Vorredner haben bereits darauf hingewiesen.
Lassen Sie mich als bayerischer Abgeordneter aber auch noch auf die besonders schwierige Situation der verbliebenen bayerischen Stahlindustrie eingehen. Ich habe vollkommen Verständnis für die Ängste und Besorgnisse, die insbesondere die beabsichtigte Befristung der Arbeitslosenhilfe bei vielen Sozialplänern der Maxhütte in der Oberpfalz auslöst. Diese Befürchtungen sind aber nur teilweise begründet.
({4})
Herr Kollege Ramsauer, bitte noch einen Schlußsatz.
Ich möchte schließen mit der klaren Feststellung, daß die vorgesehene Befristung der Arbeitslosenhilfe gerechtfertigt ist. An ihr führt auch für die Stahlindustrie kein Weg vorbei.
Ich bedanke mich.
({0})
Das Wort hat der Kollege Helmut Wieczorek.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das, was ich mitgebracht habe, ist nicht etwa eine vorbereitete Rede, sondern es ist eine Resolution des Rates der gemeinsamen Heimatstadt von Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Günther und von mir, die mich vor einer Stunde erreicht hat. Es ist eine Resolution, die der Rat gefaßt hat, zwar nicht im Hinblick auf diese Diskussion, die aber dennoch für diese Diskussion sehr wichtig ist, eine Resolution, in der er sich dagegen wehrt, daß der Bund zu Lasten der Gemeinden Kosten verschiebt. Alles das, was wir hier heute nicht beschließen, hat gleichzeitig Auswirkungen auf die Städte und Gemeinden dieser Region.
Meine Damen und Herren, als wir vor kurzem im Haushaltsausschuß versucht haben, noch einmal eine Veränderung herbeizuführen, habe ich schon gemerkt, daß wir auf großes Unverständnis stoßen, das dadurch begründet ist, daß man von den Dingen selbst zu wenig weiß. Das muß ich auch Ihnen allen, die Sie hier heute für die Koalition geredet haben, wirklich ins
Helmut Wieczorek ({0})
Stammbuch schreiben: Sie wissen nicht, wovon Sie reden.
({1})
- Ich weiß es, und ich bin auch bereit, es sogar Ihnen zu sagen, obwohl ich weiß, daß es bei Ihnen wenig nützt, Herr Kollege.
({2})
Es ist bezeichnend, daß zu diesem wichtigen Thema hier kein Mensch aus der Nordrhein-WestfalenClique, weder von der F.D.P. noch von der CDU, gesprochen hat.
({3})
Keiner hat auch nur annähernd den Dialekt gesprochen, den ich hier spreche, der für die Stahlindustrie typisch ist. Herr Günther hat für die Regierung gesprochen, er hat nicht für die Koalition gesprochen. Alle betreffenden Kollegen aus den Reihen der Koalition haben bei diesem Thema gekniffen, weil sie gesagt haben, es sei schädlich, hierüber zu reden.
({4})
Wir reden hier doch schlicht und einfach über einen wirklichen Sondertatbestand, der - Herr Romer, wenn Sie einen Moment zuhören, werden Sie es vielleicht verstehen - aus einem besonderen Kündigungsschutz gewachsen ist. Es gibt in der Eisen- und Stahlindustrie - ob wir das wollen oder nicht - eine Regelung, nach der 50jährige, die 15 Jahre einem Unternehmen angehören, nicht kündbar sind. Ein Sozialplan ist in diesem Fall nichts anderes als das Abkaufen der Unkündbarkeit gegen Zahlung von Geld in einem Anpassungszeitraum. Dies ist eine Situation, die dazu führt, daß jüngere Leute, die wir doch in den Unternehmen brauchen, in den Unternehmen auch bleiben können.
({5})
Was wir jetzt tun müssen, ist schlicht und einfach: Ich muß die 53jährigen im Betrieb behalten und dafür den 36jährigen deutschen Familienvater mit einem oder zwei Kindern entlassen. Ich muß dafür - das ist in der Sozialauswahl richtig so - dem türkischen Mitarbeiter den Arbeitsplatz erhalten. Darum geht es hier! Es geht darum, daß wir hier einen vernünftigen Ausgleich schaffen.
Es geht darum, daß wir hier die soziale Flankierung für einen Tatbestand schaffen, den uns der Bundeswirtschaftsminister eingebrockt hat.
({6})
Wenn der Bundeswirtschaftsminister, Herr Kollege, es
geschafft hätte, daß sich die Stahlbranche so am Markt
behaupten könnte, wie sie es könnte, wenn die
anderen Subventionen nicht fließen würden, hätten wir mit diesen Problemen heute keine Sorge mehr.
({7})
Herr Rexrodt kann sich hier hinstellen und sagen, was er will. Wenn er unserem Wirtschaftszweig nicht die Möglichkeit gibt, sich wettbewerbsfähig zu verhalten, muß er mit den Folgen leben.
({8})
Darum geht es hier. Diese Dinge werden hier nicht angesprochen, sondern mit „Blabla" zugedeckt.
Wenn Sie es fertigbringen, daß wir in Europa eine Situation vorfinden, in der wir nicht gegen die Finanzminister der anderen Staaten anproduzieren müssen, haben wir keine Sorgen mit Sozialplänen. Was Sie hier tun, ist nichts anderes als eine Verlagerung der Kosten zu Lasten der Gemeinden.
Meine Heimatstadt, eine Stadt mit 500 000 Einwohnern, hat 240 Millionen DM nur für Sozialhilfe aufzuwenden. Was wir jetzt zusätzlich aufzuwenden haben, werden noch einmal etwa 10 % sein. Gleichzeitig muß diese Stadt in diesem Jahr über 50 Millionen DM einsparen oder ihre Ausgaben reduzieren. - Ob es noch ein Sparen ist, lasse ich einmal dahingestellt. - Sie muß ihre Kosten um 50 Millionen DM reduzieren, um mit den Folgen Ihrer Politik hier in Bonn fertigzuwerden. Diese Dinge haben Sie erst noch alle vor sich. Sie handeln nach dem Grundsatz: Wir müssen sparen, egal, was es kostet. - Aber das nicht mit uns!
({9})
Das Wort hat der Kollege Jochen Feilcke.
({0})
Herr Urbaniak, ich will mich bemühen, eine vernünftige Rede zu halten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir dabei so zuhörten, wie ich Ihnen bei Ihren unsachlichen Reden zu Berlin zugehört habe.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Anlaß ist wirklich eine sehr ernster. Ich finde, es gibt selten einen so triftigen Grund für eine Aktuelle Stunde wie heute. Ich habe mich allerdings über den Beitrag von Herrn Kollegen Wieczorek sehr gewundert. Wenn es sich wirklich nur um die Frage der Kostenverschiebung handelte, dann wären die sozialen Tränen von Herrn Urbaniak soziale Krokodilstränen gewesen. Denn dem Arbeitnehmer ist es doch egal, von welcher Stelle er sein Geld bekommt,
({1}) wenn er es denn bekommt.
Ich habe den Eindruck, daß Sie hier ein Thema suchen, um einen sogenannten heißen Herbst zu
inszenieren. Es ist ja auch kein Zufall, daß heute „spontan" die Arbeit niedergelegt wird.
({2})
Verzeihung, Herr Kollege Feilcke! Ich wollte dem Kollegen Stiegler nur sagen, daß in der bayerischen Verfassung steht, daß niemand seiner Herkunft wegen diskriminiert werden darf.
Aber, Herr Präsident, auch nicht begünstigt.
Meine Damen und Herren von der SPD, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sollten wirklich nicht den Versuch unternehmen, die berechtigten Sorgen der Arbeitnehmer zu instrumentalisieren. Sie sollten nicht den Versuch unternehmen, so etwas wie einen heißen Herbst zu inszenieren. Ich glaube, das Thema eignet sich dafür nicht.
({0})
- Liebe Hamburgerin, ich finde, Sie sollten hier nicht so blasierte Zwischenrufe machen.
({1})
Sie sollten sich mit uns gemeinsam darum bemühen, die Landesregierung des Saarlandes und die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen an einen Tisch zu bringen, damit sie gemeinsam mit den Tarifvertragsparteien zu neuen Konzeptionen bei der Ausgestaltung von Sozialplänen kommen.
Ich sage ausdrücklich: Ich finde, wir stehen vor einer schwierigen Situation, vor einer fast unlösbaren Situation: Auf der einen Seite geht es um die ordnungspolitisch zweifelsohne saubere Lösung, auf der anderen Seite aber eben auch um die Entlastung des Bundeshaushalts und darum, daß die betroffenen Arbeitnehmer nicht zu kurz kommen, im Gegenteil, daß ihnen geholfen wird, was jedenfalls wir Sozialpolitiker auf unsere Fahnen geschrieben haben. Es darf doch nicht sein, daß jemand nach 35 Jahren harter Arbeit am Ende in der Sozialhilfe landet, was niemand will.
({2})
Erlauben Sie mir eine persönliche Anmerkung dazu.
({3})
- Also, ich kann Ihnen wirklich ein Geheimnis verraten: Es ist sehr viel besser, auf das, was ich sage, einzugehen, als permanent dazwischenzureden. Versuchen Sie doch, eine Minute aufmerksam zu sein und mir zuzuhören! Ich will doch wirklich den Versuch machen, zu argumentieren. Ich weiß nicht, warum Sie eine Aktuelle Stunde ansetzen, die Sie nur dazu benutzen wollen, hier zu krakeelen. Versuchen Sie doch einmal, zuzuhören.
({4})
Ich bin der Auffassung, man sollte mindestens darüber nachdenken, ob nicht auch der Arbeitslosenhilfeanspruch gestaffelt werden kann, in welcher Weise auch immer. Auf jeden Fall könnte das Ergebnis am Ende sein, daß jemand, der ein gewisses Lebensalter erreicht hat, eben nicht automatisch nach einer gewissen Zeit herausfällt. Auf jeden Fall aber
kann die Arbeitslosenhilfe ansonsten nicht an jemanden weitergezahlt werden, der ganz eindeutig der Vermittlung nicht mehr zur Verfügung steht. Es ist ja eine Erfahrung, die jeder von uns macht, daß die Vermittelbarkeit von Arbeitnehmern im Laufe der Jahre abnimmt, daß im Laufe des Berufslebens, des Erwerbslebens die Chancen leider unterschiedlich sind und am Ende zweifelsohne schlechter werden.
Es sollte auch in Zukunft mit dem Instrument von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe gearbeitet werden, und Sozialpläne sollten sich auch in Zukunft darauf stützen können, nur eben nicht lebenslang.
Es darf auch keine Besserstellung der Stahlindustrie gegenüber anderen Industriezweigen geben, andere Kollegen haben schon darauf hingewiesen. Denn das wäre doch nichts anderes als eine Vergesellschaftung der Umstrukturierungskosten. Wenn alle in Deutschland sparen und oft erhebliche Opfer bringen, dann kann eine solche Privatisierung der Gewinne und Vergesellschaftung der Verluste, wie Sie sonst sagen, nicht geduldet, nicht hingenommen und übrigens auch nicht finanziert werden.
Meine Damen und Herren, die Tarifautonomie, die insbesondere von den Gewerkschaften und von der SPD wie ein Heiligenbild getragen wird, sollte auch dann gelten, wenn es darum geht, in eigener Verantwortung zu handeln - dies heißt im übrigen auch: auf eigene Rechnung -, also auch dann, wenn der Staat als stiller Teilhaber nicht mehr dabeisein kann.
Es darf doch nicht länger möglich sein, daß die Steuern der Allgemeinheit eine feste und unbefristete Größe in der Personalpolitik der Unternehmen darstellen. Ich finde, meine Damen und Herren, wir sollten hier den Versuch unternehmen, zu einer sachlichen Lösung des Problems zu kommen. Niemand von uns sollte dem anderen unterstellen, daß er mit der Arbeitslosigkeit operiere.
Ich bitte Sie von der Opposition, die Sie dieses Thema zu Recht auf die Tagesordnung gebracht haben, bei Ihrer Argumentation zu bedenken, daß auch die Kolleginnen und Kollegen von der Koalition alles andere wollen, als daß in Deutschland soziale Kälte einzieht.
Vielen Dank.
({5})
Der Kollege Hans Büttner hat das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch die letzte Rede, die von Herrn Feilcke, zeigt, so leid es mir tut, wenig Verständnis für die Menschen, die in diesem Land zwar arbeiten wollen, aber arbeitslos werden, keinen Arbeitsplatz mehr bekommen und damit aus dieser Gesellschaft ausgegrenzt werden.
({0})
Heute früh haben wir in einer längeren Debatte vom Bundeskanzler und von Vertretern aus Ihren Reihen gehört, daß wir in diesem Land einen Strukturwandel
Hans Büttner ({1})
brauchen. Angesichts dieses Strukturwandels, den wir brauchen, kündigt die Stahlindustrie - das ist gestern bekanntgeworden - einen Abbau von 37 000 Stellen an. Die DASA hat gestern einen Stellenabbau in Höhe von 16 000 angekündigt, die Automobilindustrie einen von mehr als 100 000. Und in dieser Zeit verabschiedet sich der Staat durch die Begrenzung der Arbeitslosenhilfe von einem sozialverträglichen Strukturwandel in diesem Lande.
({2})
Ich sage mit aller Deutlichkeit: Solche Sozialverträge wie im Stahlbereich gibt es auch in anderen Bereichen.
({3})
- Die gibt es in der Mineralölindustrie, auch in Bauunternehmen und anderen Bereichen.
({4})
Ich kann sie Ihnen aufzählen. Auch da sind unter 55jährige vorhanden. Sie müssen sich einmal umsehen, wenn Sie darüber reden wollen.
({5})
Der Stahlbereich aber ist deswegen ein herausragender Bereich, weil er - aus gutem Grund - auch mit EG-Mitteln flankiert wird. Es ist irrsinnig, daß diese Regierung die Sozialplanmöglichkeiten kaputtmacht und damit gleichzeitig darauf verzichtet, dafür aus dem EG-Bereich Gelder zurückzubekommen. Das, was man hier auf den Tisch gelegt bekommt, ist ein irrsinniges Handeln.
({6})
Schlimm ist vor allem, daß Koalition, Regierung und alle, die Sie hier geredet haben, nicht davor zurückscheuen, in bestehende Verträge und Sozialpläne rückwirkend einzugreifen und damit einen erheblichen Vertrauensbruch zu begehen.
Ich will das am Beispiel der Maihütte, die hier schon angesprochen wurde, darstellen - ich darf aus einem Schreiben zitieren, das mir die Sozialplaner zugeschickt haben -: Die vorliegende Beschlußvorlage der Regierungskoalition sieht vor, die Betroffenen in zwei Klassen zu teilen: in die über 55jährigen, die, wie geplant und vertraglich zugesichert, bis zur Erreichung des Rentenalters Arbeitslosenhilfe erhalten, und in die jüngeren - ca. 600 - Kollegen, die entsprechend der Vorstellung der Bundesregierung in die Sozialhilfe fallen, obwohl sie die gleiche Vertragstreue erwarten wie ihre älteren Kollegen.
Ich sage Ihnen, woher es kommt, daß Sie so leichtfertig über Verträge hinweggehen. Sie haben nämlich ein ganz gestörtes Verhältnis zu den Eigentumsrechten der Arbeitnehmer. Anders nämlich ist Ihre Aussage, im Sozialbereich stünde eine Verteilungsmasse von 1 Billion DM zur Verfügung, nicht zu interpretieren.
({7})
Die Versicherungsbeiträge von Arbeitnehmern in der Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung sind nicht Verfügungsmasse dieser Regierung und ihrer Politik.
({8})
Sehr geehrte Damen und Herren, diese Kürzung der Arbeitslosenhilfe und des Arbeitslosengeldes - meine Kollegen haben schon darauf hingewiesen - ist nach den Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in der Tat nichts anderes als eine Verlagerung der Kosten auf die Kommunen, denen Sie damit jede weitere strukturelle Begleitung von Umstrukturierung und Strukturreform in der Wirtschaft unmöglich machen. Eine solche Idiotie ist mir in einer wirtschaftspolitischen Debatte noch selten vorgekommen, vor allem von Leuten, die vorgeben, sie würden etwas von Strukturwandel verstehen. Von daher wundert es mich nicht, daß sich keiner Ihrer Kollegen aus Nordrhein-Westfalen in diese Debatte traut. Diese Kollegen wissen nämlich, daß dort in den letzten 30 Jahren Strukturwandel sozialverträglich vonstatten gehen konnte, und sie haben anscheinend noch so viel Verantwortung, daß sie verhindern wollen, daß dieser Staat bei 7 Millionen Arbeitslosen an die Wand gefahren wird, wie Sie das mit Ihrer Politik betreiben.
({9})
Herr Kollege Büttner, einen Moment! Engagement, Leidenschaft und auch Lautstärke gehören zu unserem parlamentarischen Geschäft. Aber in der Wortwahl sollten wir vielleicht doch etwas zurückhaltender sein.
Okay, ich nehme das Wort „Idiotie" zurück
Okay.
- und ersetze es durch „Unfähigkeit".
({0})
Sehr geehrte Damen und Herren, das Schlimme an dieser Situation ist weiter, daß die Bundesregierung anscheinend ihren eigenen Aussagen in den Ausschüssen nicht folgt. Gestern hat Herr Ammermüller im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zumindest darauf hingewiesen, daß eine Ausweitung der Fortzahlung der Arbeitslosenhilfe auf bis zu 52jährige, die in dieser schwierigen Phase des Strukturwandels mit Sicherheit nicht nur bei Stahl, sondern auch in anderen Bereichen notwendig und möglich wäre, 600 Millionen DM zusätzlich kosten würde, 200 Millionen DM mehr als die von Ihnen jetzt beschlossene Ergänzung auf bis zu 55jährige. Wenn Sie dafür kein Geld haben, aber vorher mit uns zusammen beschlossen haben, daß Sie 1,5 Milliarden DM mehr für die agrarsoziale Sicherung ausgeben, dann frage ich mich, wie Sie sich draußen im Lande vor die Arbeitnehmer hinstellen und sagen wollen: Dafür ist kein Geld da. Wissen Sie, was Sie tun? Sie wollen durch Spalten in dieser
Hans Büttner ({1})
Gesellschaft dafür sorgen, daß die Gesellschaft gegen die Wand gefahren wird.
({2})
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Hermann Bachmaier, Wolfgang Roth, Ernst Schwanhold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Rüstungsexport-Kontrollpolitik
- Drucksachen 12/3229, 12/4241 Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.
({0})
- Darf ich um gewogene Aufmerksamkeit - auch im liberalen Kreis - bitten!
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Kollege Hermann Bachmaier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es kommt nicht von ungefähr, daß sich die Bundesrepublik in den zurückliegenden Jahren zu einem der größten Rüstungsexporteure der Welt entwickelt hat. Nach den vom unabhängigen Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI veröffentlichten Zahlen betrug das Rüstungsexportvolumen der Bundesrepublik Deutschland im vergangenen Jahr rund 3,1 Milliarden DM. Damit liegen wir an der Spitze aller europäischen Staaten und weit vor so klassischen Rüstungsexportländem wie Frankreich oder Großbritannien.
Beunruhigend ist dabei, daß die Bundesrepublik ganz offensichtlich auch eine immer größere Rolle als Exporteur konventioneller Waffen spielt und damit auch wirtschaftlich immer abhängiger von der Rüstungsproduktion wird.
Die Jahre der konservativ-liberalen Regierung sind - dies muß man leider feststellen - auch eine Zeit der Rüstungsexportskandale: Waren es in der zweiten Hälfte der 80er Jahre und in den beginnenden 90er Jahren vor allem die ans Licht gekommenen kriminellen Rüstungsexporte, so sind es heute die zunehmenden legalen Ausfuhren von Rüstungsgütern, insbesondere die Exportaktivitäten der Bundesregierung selbst, die uns immer größere Sorge bereiten. Dazu kommen noch die schwierigen Probleme, die sich im Rahmen der angestrebten Vereinheitlichung des europäischen Rüstungsexportkontrollrechtes ergeben. Darüber hinaus gibt es immer wieder Versuche von Politik und Wirtschaft, den Kontrollstandard aufzuweichen, der nach der Hochrüstung des Irak durch deutsche Firmen mühsam erreicht werden konnte.
Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch daran, daß sich die Bundesregierung trotz vielfältiger Hinweise auf illegale Rüstungsexportaktivitäten lange Zeit taub gestellt und alle Verbesserungsvorschläge in den 80er Jahren in den Wind geschlagen hat. Allzulange wollte sie keine Konsequenzen aus der Tatsache ziehen, daß es für kriminelle Waffenschieber und Rüstungsexporteure in der Bundesrepublik ein leichtes war, an den Behörden vorbei Exportverbote zu unterlaufen und vor allem Massenvernichtungstechnologien in Staaten zu exportieren, die damit nichts Gutes im Schilde geführt haben. Weder die illegale deutsche Mithilfe beim Bau der pakistanischen Atombombe noch der kriminelle Export einer Giftgasfabrik nach Libyen haben bewirkt, daß unsere laschen Gesetze und unsere damals fast nicht vorhandene Exportkontrolle nachhaltig verbessert worden wären. Überführte Täter wie der smarte Herr Hippenstiel-Imhausen konnten ihre millionenschweren Gewinne in Sicherheit bringen und hatten lediglich eine unangemessen niedrige Freiheitsstrafe zu erwarten.
Erst nachdem während und nach dem Golfkrieg immer deutlicher wurde, daß es vorwiegend deutsche Exporteure waren, die Saddam Hussein mit den gefährlichsten Massenvernichtungstechnologien ausgerüstet hatten, waren CDU/CSU und F.D.P. bereit, endlich zu handeln und wirksamere Maßnahmen gegen die Händler des Todes zu ergreifen.
({0})
- Doch, so ist es gewesen. Herr Beckmann, Sie wissen das sogar noch besser als andere. ({1})
So haben heute endlich diejenigen, die noch immer illegal Waffen und Rüstungsgüter verschieben, mit wesentlich höheren Strafen zu rechnen. Auch wurde nach dem unverantwortlichen Schlendrian der 80er Jahre - dabei bleibe ich - die Genehmigungs- und Kontrolldichte erst in den letzten Jahren verbessert. Allerdings haben nach wie vor diejenigen, die sich mit ihren skrupellosen Geschäften vor und während des Golfkrieges eine goldene Nase verdient haben, noch immer mit äußerst geringen Strafen zu rechnen, denn auf sie kommen nach wie vor in den häufigsten Fällen lediglich die alten und völlig unzureichenden Strafvorschriften zur Anwendung.
Herr Kollege Bachmaier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Ja.
Bitte sehr.
Herr Kollege, da Sie vorhin, gleich in der Einleitung Ihrer Rede, davon sprachen, daß wir an der dritten Stelle der Rüstungsexporteure in der Welt seien - was ich nicht bestreite -, darf ich Sie in diesem Zusammenhang fragen, ob Sie mir Auskunft geben können, ob wir
dann, wenn wir, wie der Ministerpräsident von Niedersachsen es gewollt hätte - wogegen ich übrigens nichts gehabt hätte -, U-Boote nach Taiwan geliefert hätten, an die zweite Stelle gerückt wären.
Wir sind ohnehin fast an der zweiten Stelle. SIPRI geht davon aus, daß wir dann, wenn die Daten der früheren UdSSR, auf das heutige Rußland bezogen, richtig gerechnet werden, bereits an zweiter Stelle liegen. Dessenungeachtet habe ich nie einen Hehl daraus gemacht, Herr Koppelin, daß ich und meine Fraktion die Ansicht des niedersächsischen Ministerpräsidenten nie geteilt haben, und dies haben wir auch mit aller Deutlichkeit gesagt.
({0})
Hätten Sie, meine Damen und Herren der Regierungskoalition, nicht so lange gezögert und rechtzeitig die überfälligen Konsequenzen gezogen, dann wäre manche der kriminellen Machenschaften verhindert worden. Wie dicht allerdings das im vergangenen Jahr neu geknüpfte Netz verschärfter Genehmigungs- und Kontrollpflichten ist -lange genug hat es ja gedauert -, wird sich erfahrungsgemäß erst zu einem späteren Zeitpunkt zeigen, wenn übersehen werden kann, ob und in welchem Umfang sich Umgehungspraktiken in den einschlägigen Kreisen entwikkelt und herumgesprochen haben.
Neben internationalen Kooperationsprojekten bieten vor allem auch die mittlerweile weggefallenen Grenzkontrollen in Europa die Möglichkeit, die bei uns geschaffenen Exportbeschränkungen zu unterlaufen. Wenn man bedenkt, daß - wie dies ja die Bundesregierung in der Antwort auf unsere Große Anfrage bestätigt hat - ca. 70 % aller Rüstungsvorhaben im Rahmen von Kooperationsvereinbarungen vor allem auch mit anderen Staaten durchgeführt werden, dann kann man erahnen, welche ungeheuren Möglichkeiten sich daraus für den Export von Rüstungsgütern ergeben, auch wenn diese Exporte nach deutschem Recht nicht gewollt sind.
Vor allem in diesem Bereich müssen dringend auch die vom April 1982 stammenden „Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern" nachgebessert werden, um derartige Umgehungsmöglichkeiten des deutschen Genehmigungs- und Kontrollrechts zu unterbinden. Wir benötigen dringend ein einheitliches europäisches Rüstungsexportkontrollrecht und auch eine einheitliche europäische Genehmigungs- und Kontrollpraxis. Darüber sind wir uns einig.
Keinesfalls aber meine Damen und Herren, können wir es hinnehmen, daß auf dem Wege über einheitliche europäische Richtwerte der mittlerweile erreichte bundesrepublikanische Standard schon wieder zur Disposition gestellt wird, obwohl es an diesem Standard, wie wir immer wieder betont haben, noch sehr, sehr viel zu verbessern gilt.
({1})
- Lesen Sie es genau nach oder hören Sie genau hin; dann werden Sie merken, daß hierin kein Widerspruch steckt.
Die bitteren Erfahrungen in den zurückliegenden Jahren, vor allem der Export der Giftgastfabrik nach Libyen - darauf muß ich immer wieder hinweisen, weil daraus zunächst keine hinreichenden Konsequenzen gezogen wurden - und die mit massiver deutscher Beteiligung erfolgte Hochrüstung des Iraks, sollten uns Mahnung genug sein, in Zukunft alles daran zu setzen, legale wie illegale Rüstungsexporte mit allen erdenklichen Mitteln einzuschränken bzw. ganz zu verhindern.
Der wirtschaftliche Exporterfolg Japans zeigt doch, daß ein modernes Industrieland es nicht nötig hat, ja, daß es seiner Entwicklung buchstäblich im Wege stehen kann, sich von der Rüstungsindustrie und dem Export von Rüstungsgütern wirtschaftliches Wohlergehen zu erhoffen.
({2})
Wie viele Beispiele zeigen, ist eher das Gegenteil der Fall. Deshalb ist auch die deutsche Exportindustrie, insbesondere im Bereich des Maschinen- und Anlagenbaus, gut beraten, wenn sie konstruktiv daran mitwirkt, daß sogenannte Dual-use-Güter nicht in die falschen Hände kommen und - wie im Irak und andernorts geschehen - zum Aufbau von Massenvernichtungstechnologien genutzt werden.
Meine Damen und Herren, unerträglich ist es, daß die Bundesregierung nach wie vor, wie die von SIPRI veröffentlichten Daten und viele Einzelbeispiele zeigen, eine expansive Rüstungsexportpolitik betreibt. Die Bundesregierung schert es offensichtlich wenig, ob sie eine Fabrik für Kampfstiefel nach Birma, Kriegsschiffe nach Indonesien und massenhaft NVA-Material in die Türkei liefert. Wie man weiß, sind dies Länder, denen bei der Einhaltung der Menschenrechte ein äußerst zweifelhafter Ruf anhaftet.
Viele Beispiele des legalen Rüstungsexports belegen, daß die Bundesregierung zwar die Kontrollmechanismen gegen illegale Rüstungsexporte verschärft hat - dies ist unbestritten; ob sie wirksam sind, wird sich, wie gesagt, noch zeigen -, aber selbst mit denkbar schlechtestem Beispiel vorangeht, wenn es gilt, Rüstungsexporte einzuschränken.
Ich habe bei den vielen Diskussionen im Bundestag über immer neue Rüstungsexportskandale schon mehrfach darauf hingewiesen, daß den kriminellen Rüstungsexporteuren nur dann wirksam das Handwerk gelegt werden kann, wenn die Bundesregierung endlich auch den legalen Rüstungsexport einschränkt. Das Gegenteil aber ist leider der Fall.
({3})
Legale und illegale Rüstungsexporte sind - darüber sollten wir uns doch einig sein - nur die jeweils andere Seite derselben Medaille.
Ein erster und unseres Erachtens sehr wirksamer Schritt wäre es, wenn endlich, wie wir Sozialdemokraten dies in unserem heutigen Antrag - übrigens zum wiederholten Male - fordern, ein weitgehendes
Rüstungsexportverbot im Grundgesetz verankert werden würde.
Einig sollten wir uns auch darin sein, für Rüstungsexporte keinerlei öffentliche Mittel, auch keine Hermes-Bürgschaften, zur Verfügung zu stellen.
({4})
Es müßte auch eine ganz selbstverständliche Pflicht der Bundesregierung und des Bundestages sein, auf der Basis eines von der Bundesregierung alljährlich vorzulegenden umfassenden Rüstungsexportberichts alle Fragen zu diskutieren und die notwendigen Schlußfolgerungen zu ziehen, die sich aus der jeweils neuesten Entwicklung der illegalen und der legalen Rüstungsexportaktivitäten des Vorjahres ergeben. Es geht nicht an, meine Damen und Herren, daß wir diese grundlegenden Probleme immer nur dann erörtern, wenn wieder ein spektakulärer Skandal das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat;
({5})
denn dann ist es ja meistens schon zu spät, wie wir an den Fällen, die ich geschildert habe, ja deutlich genug erleben konnten.
Unser Ziel muß es sein, dem Wohlergehen der Menschen dienende Güter zu exportieren, nicht aber Waffen und Rüstungstechnologien, die letztlich nur Unheil bringen und uns mittelbar oder unmittelbar in kriegerische Auseinandersetzungen verstricken.
Dies ist ein Gebot für die Bundesrepublik, die sich weiß Gott auf anderem Wege international Ansehen erwerben könnte, statt immer wieder erneut in Krisengebiete Waffen zu liefern,
({6})
wie dies auch die Beispiele gezeigt haben, die ich hier geschildert habe.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Herr Kollege Peter Kittelmann, Sie haben das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bachmaier, Sie haben wieder ein Beispiel gegeben, wie man Statistiken, obwohl man sehr viel mehr darüber weiß, hier so darstellt, daß ein falscher Eindruck entsteht. Aber da wir das bei Ihnen gewohnt sind, brauche ich das nicht zu vertiefen.
({0})
- Richtig. Aber Sie wissen, was in diesen Daten alles enthalten ist, nämlich NVA-Material und vieles andere mehr.
({1})
Wirksame staatliche Kontrollen des Exports von Rüstungsgütern und Produkten, die zur Waffenherstellung genutzt werden, sind ein Prüfstein glaubwürdiger Friedens- und Sicherheitspolitik. Ich glaube, dem kommt die Bundesregierung nach; denn darin sind wir alle - die Koalition und auch die Opposition - uns einig.
Nicht zufällig allerdings debattieren wir gerade heute über die deutsche Rüstungsexportkontrollpolitik im Zusammenhang mit der Diskussion über den Wirtschaftsstandort Deutschland, die heute stattgefunden hat. Wir wissen: Deutschland ist in besonderer Weise ein exportabhängiges Land. Besonders der Außenhandel leidet gegenwärtig unter der anhaltenden weltweiten Rezession und auch unter besonderen Problemen, die wir speziell in Deutschland haben.
Von Januar bis Mai dieses Jahres sanken die Ausfuhren im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 40 Milliarden DM. Der Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels befürchtet auf Grund der nachlassenden Konjunktur und der schlechten Standortbedingungen den Verlust von 250 000 bis 270 000 Arbeitsplätzen. - Vielleicht sollte Herr Bachmaier einmal einen Beratungsvertrag dort abschließen, denn er hat ja wohl die Lösung. - Jüngstes alarmierendes Beispiel ist die DASA. Das ist die Lage.
Was ist zu tun? Auch in der SPD-Opposition hat sich mittlerweile die Einsicht durchgesetzt, wenn auch nicht bei allen, daß die Sicherung von Arbeitsplätzen und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit etwas mit Wettbewerbsfähigkeit deutscher Industrie, mit Führungsrollen in Forschung und Technologie zu tun hat. Auch die SPD fordert natürlich die Erhaltung und die Stärkung des Standorts Deutschland als Grundlage von Wachstum und Wohlstand für alle.
Gleichwohl suggeriert die SPD in ihrer Großen Anfrage an die Bundesregierung, die Rüstungsexportkontrollpolitik der Bundesrepublik sei unzureichend und müsse noch weiter verschärft werden. Wie paßt das zusammen?
Das bestehende deutsche Rüstungsexportkontrollregime gehört unbestritten zu den schärfsten und effektivsten in der Welt.
({2})
Deutschland hat von Anfang an auf die Herstellung und den Besitz von A-, B- und C-Waffen verzichtet, den Nichtverbreitungsvertrag für Kernwaffen sowie die internationale Konvention zur Ächtung von biologischen Waffen ratifiziert und sich als bisher einziger Staat der Welt internationalen Überprüfungen hinsichtlich der Herstellung von chemischen Waffen vor Ort unterworfen.
Nach der verbrecherischen Beteiligung deutscher Firmen am Bau der Giftgasfabrik in Libyen hat die Bundesregierung seit 1989 das System der deutschen
Exportkontrollen in mehreren Schritten rigoros reformiert und verschärft. - Wenn man Sie hört, könnte man glauben, dies sei alles nicht geschehen, Herr Bachmaier. - Damit hat sie nicht zuletzt auch einem starken internationalen Anliegen Rechnung getragen. Das war gut so, und das war beispielhaft.
({3})
Leider war die Vorbildwirkung gerade bei vielen ebenfalls exportorientierten Staaten, die vorher laut „Haltet den Dieb! " gerufen haben, nur sehr gering.
({4})
Wer kann bestreiten, daß staatliche Gebote und Verbote beim Export in einer offenen Marktwirtschaft unmittelbare Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit und auf den Erhalt von Arbeitsplätzen haben? Dabei ist weniger der Bereich problematisch, der unter das Kriegswaffenkontrollgesetz fällt, als vielmehr der nahezu unübersehbare Bereich jener Produkte, die sowohl militärisch wie zivil genutzt werden können. Darüber haben Sie sich fast gar nicht ausgelassen, Hen Bachmaier. Fließdrückmaschinen, Pflanzenschutzmittel, bestimmte Stähle, sogar Lastkraftwagen können plötzlich zu einem Exportrisiko und zu einem Unsicherheitsfaktor für die Unternehmen werden. Gerade in diesem heiklen Bereich der sogenannten Dual-use-Produkte kommt es darauf an, Wettbewerbsnachteile zu vermeiden. Dazu gehört zunächst, daß bürokratische, lange und unberechenbare Genehmigungsverfahren und Kontrollhürden soweit wie möglich vermieden werden. Die von der Bundesregierung hierzu getroffenen Maßnahmen tragen diesem Anliegen Rechnung. Ich will hier nur auf die spürbare Verbesserung der personellen Ausstattung des Bundesausfuhramtes von 70 auf 392 Stellen hinweisen. 80 % der Genehmigungsanträge werden schnell entschieden, und zwar, wie ich erfahren habe, innerhalb von 48 Stunden. Über die restlichen 20 % müssen wir uns noch mit der Regierung unterhalten. Wir wollen wissen, welche das sind und warum sie so lange dauern.
Aber wer kann leugnen, daß die Ausgestaltung der Rüstungsexportkontrollen gleichwohl unmittelbare und mittelbare Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen hat? So wird insbesondere auch die Kooperationsfähigkeit deutscher Firmen beeinflußt, wenn sich z. B. ausländische Firmen von Kooperationen mit deutschen Partnern abschrecken lassen oder staatliche Behörden Firmen anweisen, Deutschland wegen seiner Gesetze als Lieferanten gewünschter Produkte zu meiden.
Dies trifft gerade auf den Bereich der Hochtechnologien zu, der für Deutschland besonders wichtig ist. Auch das haben Sie nicht erwähnt, Herr Bachmaier. So führen z. B. Frankreich und England inzwischen wichtige Zukunftsprogramme im Rahmen der Rüstungskooperation bereits ohne Beteiligung deutscher Unternehmen durch, um Unsicherheiten beim späteren Absatz dieser Produkte auszuschließen. Dies könnte man ja noch hinnehmen, wenn nicht internationale Kooperationsfähigkeit für viele Firmen eine wichtige Existenzvoraussetzung wäre, um die notwendigen industriellen und produktionstechnischen
Fertigkeiten zu erhalten. Diese gesamtwirtschaftlich schädlichen Auswirkungen einer isolierten Exportkontrollpolitik beklagen im übrigen nicht nur die Unternehmen, sondern immer stärker auch die Gewerkschaften und die Arbeitnehmer und im übrigen vor Ort insbesondere auch die SPD.
({5})
Angesichts der engen Verflechtung der Weltwirtschaft gibt es aus diesem Dilemma nur einen Ausweg: Rüstungsexportkontrollpolitik muß zu einem gemeinsamen Anliegen aller exportierenden Länder und damit internationalisiert werden. Nationale Anstrengungen allein bleiben letztlich wirkungslos.
Herr Kollege Kittelmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bachmaier?
Bitte.
Herr Kittelmann, ist Ihnen bekannt, daß Japan praktisch überhaupt keinen Rüstungsexport betreibt, und ist Ihnen auch bekannt, daß Japan daraus überhaupt keine Wettbewerbsnachteile zieht, sondern daß das Gegenteil der Fall ist, wie man an den ständig steigenden Exportbilanzen der Japaner sehen kann?
({0})
Herr Bachmaier, jede Zwischenfrage birgt das Risiko, daß sie, kurz aus dem Zusammenhang gerissen, Tatsachen verschweigt. Japan hat in ganz bestimmten Bereichen High-techIndustrie, bei der die deutsche und die europäische Industrie die 70er Jahre verschlafen haben. Das gilt vor allem für die Jahre, in denen Sie regierten. Die Folgen davon bekommen wir heute noch zu spüren.
({0})
Besonders dringlich ist eine abgestimmte und harmonisierte Rüstungsexportkontrollpolitik im gemeinsamen Binnenmarkt, der seit dem 1. Januar 1993 in Kraft ist. Auch für sensible Güter führt der Binnenmarkt zu einem Raum ohne Grenzen mit unkontrolliertem Warenverkehr. Hier stellt sich besonders die Frage der Endverbleibskontrolle. Im Verhältnis zu Drittstaaten muß ein einheitliches Ausfuhrverfahren gefunden werden, das aber bis heute noch nicht abschließend erarbeitet ist. Diese einheitlichen Ausfuhrvorschriften und -kontrollen sollten am besten dem hohen deutschen Standard entsprechen. Darauf arbeitet die Regierung hin, und das ist auch der Wunsch von uns allen.
Aber wir dürfen die Augen nicht vor der Wirklichkeit verschließen, daß bei unseren EG-Partnern dazu keine große Neigung besteht. Seit der Realisierung des Binnenmarktes ist es der Bundesregierung nicht gelungen, ihre Vorstellung von einer europaweiten einheitlichen Ausfuhrregelung auf hohem Niveau durchzusetzen. Diesem Anliegen stehen vitale, insbesondere von Frankreich und Großbritannien geäu15746
ßerte Interessen gegenüber, deren rüstungsexportfreundliche Vorschriften den Handel mit derartigen Gütern zu einem wichtigen Posten in der Außenhandelsbilanz machen.
Wir mögen diesen nationalen Egoismus bedauern, aber gerade in Zeiten wirtschaftlicher Rezession ist kaum damit zu rechnen, daß sich an dieser Haltung der Partner jetzt etwas ändert. Um es klar zu sagen: Die Durchsetzung der hohen deutschen Exportkontrollstandards erscheint zur Zeit sehr unwahrscheinlich. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß gegenwärtig das Harmonisierungsdefizit, diese Lücke im Binnenmarkt, zu spürbaren Wettbewerbsnachteilen für die deutsche Industrie führt. Das kann doch auch an der SPD bei den vielen Gesprächen mit der Wirtschaft nicht vorbeigehen.
Der Entwurf einer EG-Verordnung zur Harmonisierung der Ausfuhrkontrollen enthält nach dem bisherigen Stand der Verhandlungen noch zuviel an Umgehungsmöglichkeiten und an Unverbindlichkeiten, ist aber ein wichtiger Schritt, um diese Wettbewerbsnachteile zu verringern. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt die Bemühungen auf der EG-Ebene deshalb ausdrücklich. Herr Staatssekretär, wir fordern die Bundesregierung auf, in ihren Anstrengungen bezüglich einer raschen Einigung auf hohem Niveau nicht nachzulassen.
Noch ist es zu früh, den Verordnungsentwurf abschließend zu beurteilen, da noch nicht absehbar ist, ob und mit welchem Inhalt er in Kraft treten wird. Entscheidend ist, daß das Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit effektiver Rüstungsexportkontrollen und den Regeln des Binnenmarktes so rasch wie möglich aufgelöst wird. Deshalb müssen wir alle bereits heute darüber nachdenken, wie wir uns verhalten, wenn die Harmonisierungsverordnung den deutschen Wünschen nicht entsprechen sollte. Soll dann Deutschland etwa nicht zustimmen und sich auf Grund seiner eigenen strengen Regelung in der Gemeinschaft isolieren, oder sollte es seine eigenen Standards modifizieren?
Der Antwort auf diese Fragen können wir nicht ausweichen. Sie muß in jedem Fall so ausfallen, daß eine gemeinsame europäische Regelung gefunden wird. Ohne eine Einigung auf europäischer Ebene sind wir Deutschen allerdings die Verlierer. Das will ich hier ausdrücklich betonen. Die rasche Vereinheitlichung der Ausfuhrregelungen in Europa ist eine vordringliche Aufgabe für die Gemeinschaft.
Ich meine, es ist auch im Interesse der SPD-Opposition, frühzeitig und gemeinsam mit uns nach einem Weg zu suchen, der sowohl der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland und Europa wie auch der notwendigen verantwortlichen effektiven Rüstungsexportkontrolle Rechnung trägt. Öffentliche Schuldzuweisungen, wie wir sie eben wieder gehört haben und wie sie immer wiederholt und dadurch doch nicht wahrer werden, und Verdächtigungen, wie sie in der Vergangenheit laut geworden sind, werden der Bedeutung dieses Problems nicht gerecht.
Nur mit Sensibilität und Verzicht auf Heuchelei auf allen Seiten läßt sich in dieser Frage der Rüstungsexportkontrolle im gemeinsamen Binnenmarkt und in
der Europäischen Union eine sachgerechte Lösung erreichen. Das ist nicht nur ein Problem der Europäischen Gemeinschaft. Es ist ein Problem vieler Länder. Deswegen hat die Bundesregierung auf unseren Wunsch auch bei den G-7-Spitzengesprächen immer wieder darauf hingewiesen, daß wir hier Lösungen finden müssen, die weit über den europäischen Rahmen hinausgehen. In diesem Sinne wünsche ich der Bundesregierung viel Erfolg bei den nächsten Verhandlungen. Wir stehen auf ihrer Seite.
Schönen Dank.
({1})
Das Wort hat unser Kollege Klaus Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die F.D.P.-Fraktion bekennt sich ausdrücklich zu den 1982 formulierten politischen Grundsätzen für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern. Ich denke, daß diese Grundsätze einen breiten politischen Konsens in Deutschland darstellen, ohne den auch eine verantwortungsvolle Rüstungskontrollpolitik nicht durchsetzbar ist.
Meine Damen und Herren, die im internationalen Bereich weitgehende Selbstbindung Deutschlands hat wahrhaftig gute Gründe und ist darüber hinaus ja auch kein Selbstzweck. Der gute Ruf der deutschen Wirtschaft insgesamt und die beträchtlichen Erfolge im Export der Vergangenheit gründen sich auch auf diese politischen Rahmenbedingungen. Wir wissen, wie sehr die deutsche Wirtschaft gerade auch während des Irak-Iran-Krieges bezüglich ihrer Exportnotwendigkeiten und -möglichkeiten in Verbindung mit Kriegswaffenexporten angegangen worden ist.
Nun sind in den letzten Jahren - darauf ist hingewiesen worden - die Rüstungsexportvorschriften deutlich verschärft worden. Die Bundesregierung ist deswegen - das möchte ich auch einmal als Kompliment ausdrücken, Herr Staatssekretär - ein verläßlicher Garant dafür, daß dieser gute Ruf von politischer Seite nicht gefährdet wird. Er darf aber auch nicht von einzelnen Firmen beschädigt werden, die sich über diese Exportverbote einfach rücksichtslos hinwegsetzen.
({0})
Dabei bin ich bei der Notwendigkeit funktionierender Kontrollsysteme. Die sind - wie auch die entsprechenden Strafsanktionen - auf der Grundlage der politischen Grundsätze seit 1982 deutlich verbessert und verschärft worden. Vorwürfe gegen die Bundesregierung, Herr Kollege Bachmaier, sie habe hier nachlässig gehandelt, gehen absolut ins Leere. Die hierfür berufenen staatlichen Strafverfolgungsorgane haben in den vergangenen Jahren stets die hundertprozentige Unterstützung der Bundesregierung erhalten. Ich weiß aus eigenem Handeln, wovon ich spreche. Also bedarf es hier nicht wirklich fehlgesteuerter Anklagen.
Das Bundesausfuhramt und das Bundeskriminalamt haben die notwendigen rechtlichen Rahmen für eine effiziente Kontrolle erhalten. Es ist zu hoffen
- und hier appelliere ich auch an die Bundesregierung -, daß der Personalbestand bald vervollständigt wird. Es ist viel getan worden; die Zahlen sind eben schon von Herrn Kollegen Kittelmann dargelegt worden.
Allerdings - und das muß man auch hervorheben - ist es trotz dieser Verschärfung gelungen, die Genehmigungsfristen zu verkürzen, ohne die Kontrollen aufzuweichen. In diesem Punkt hatte die deutsche Exportwirtschaft ja immer große Bedenken.
Hier gilt mein Kompliment auch noch einmal dem Bundesausfuhramt unter seinem neuen Präsidenten. Hier haben sich die Beamten einmal nicht bürokratisch verhalten, sondern ihren ganzen Einsatz zugunsten unserer Exportwirtschaft gezeigt. Ich halte das für einen ganz besonderen Fortschritt der letzten Jahre auf diesem Feld.
Die fortwährenden Bemühungen der Bundesregierung um Angleichung der Exportvorschriften auf internationaler Ebene haben leider nicht zu den erhofften Erfolgen geführt. Wir alle wissen und wollen unterstreichen, daß sich die Bundesregierung, daß sich insbesondere der Außenminister und der Wirtschaftsminister bei den Vereinten Nationen und auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft ständig bemüht haben, die deutschen Standards dort auch zu den entsprechenden internationalen Standards werden zu lassen. Jedoch bestand bei unseren Partnerländern sowohl in der Gemeinschaft wie auch in den Vereinten Nationen wenig Interesse, den deutschen Standards gerecht zu werden.
({1})
Allerdings ist die zu erwartende erhöhte Transparenz im Transfer von Rüstungsgütern durch das Register bei den Vereinten Nationen hervorzuheben.
Was nun die weitere Entwicklung angeht, so denke ich, gibt der neue handelspolitische Kurs der USA Anlaß zur Hoffnung, daß hierdurch die Dinge in Bewegung geraten. Das sage ich allerdings mit aller Vorsicht, denn die Erfahrungen veranlassen mich zu einer gewissen Skepsis.
Auch das Rüstungsexportverhalten unserer Nachbarn mag uns noch erhebliche Sorgen bereiten. Auch dort ist zu hoffen, daß im Zuge der Liberalisierung der COCOM-Regeln die Regierungen dieser Staaten auch zu Zugeständnissen bereit sein werden, durch den Aufbau funktionierender Exportkontrollsysteme insbesondere dafür zu sorgen, daß ein Abfluß von Dual-use-Waren westlicher Herkunft in kritische Drittländer weitgehend ausgeschlossen wird. Waffenexporte sind ja heute für ehemalige COCOM-Länder oft die einzige Exportmöglichkeit, und die Moral geht dabei flöten. Ich will hier den Satz von Brecht nicht zitieren.
Innerhalb der Europäischen Gemeinschaft steht der entscheidende Durchbruch hinsichtlich der Harmonisierung der Exportvorschriften noch aus. Auch hier drängen wir unsere Partnerländer. Ich habe das erwähnt. Allerdings sträuben sie sich, und - ich will es offen aussprechen - sie denken nicht im Traum daran, sich uns in dieser Beziehung anzupassen.
Eine Lösung, die eine Übereinstimmung auf niedrigerem Niveau mit sich bringt, ist für Deutschland allerdings nicht akzeptabel. Ich fordere Sie auf, Herr Kollege Bachmaier, auch mit Ihren sozialistischen Freunden in der Sozialistischen Internationale zu sprechen, damit sie hier entsprechend mitwirken. Bei den Franzosen war es ja absolut erfolglos, wie wir wissen.
Herr Kollege Beckmann, Sie sind schon ein gutes Stück über Ihre Zeit.
Meine Fraktion gibt mir noch eine Minute, wie mir der Geschäftsführer eben freundlicherweise versichert hat.
({0})
Die Bundesregierung sollte, von meiner Fraktion mit aller Kraft unterstützt, dieses dicke Brett auf internationaler Ebene weiter bohren.
Lassen Sie mich abschließend, weil der Kollege Bachmaier dies für die antragstellende SPD-Fraktion erwähnt hat, noch einen Blick auf das Volumen deutscher Rüstungsexporte im internationalen Vergleich tun - nur zur Versachlichung der Diskussion. Die Horrorgemälde, die Herr Bachmaier hier gemalt hat, versperren uns ein bißchen den klaren Blick auf die Realitäten.
Die Wahrheit ist - hier zitiere ich eine internationale Institution -: Nach dem Congressional Research Service, Bericht für den Kongreß der Vereinigten Staaten über Lieferung konventioneller Waffen an die Dritte Welt - hier sind ganz besonders sensible Belange betroffen - nahm Deutschland von 1985 bis 1992 den sechsten Platz unter den Waffenexportnationen ein. Das absolute Volumen von 100 Millionen US-Dollar deutscher Ausfuhren in die Dritte Welt stellt - das will ich betonen - weniger als 1 % dessen dar, was von den fünf ständigen Mitgliedern im UN-Sicherheitsrat im gleichen Zeitraum an Kriegswaffen exportiert wurde.
Damit, meine Damen und Herren, soll die politische Bedeutung von Rüstungsexporten in Deutschland nicht relativiert werden, wohl aber die Äußerungen von Kritikern der Bundesregierung, diese betreibe und fördere eine Expansion deutscher Rüstungsexporte.
Aus denselben Gründen, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, lehnt meine Fraktion den SPD-Antrag ab.
Vielen Dank.
({1})
Die Stunde ist spät; wir wollen einander noch ertragen. Ursprünglich waren für diesen Beitrag acht Minuten angemeldet, dann haben wir ihn auf fünf reduziert, und jetzt waren es wieder acht. Das geht dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär von seiner Redezeit ab.
Als nächster Rednerin erteile ich unserer Kollegin Dr. Ruth Fuchs das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Bericht zur Rüstungsexportkontrollpolitik der Bundesregierung begegnen uns Argumente, die schon seit Jahren immer wieder gebetsmühlenartig vorgetragen werden: Die Bundesregierung empfinde eine besondere Verantwortung für eine restriktive Rüstungsexportpolitik, habe weltweit mit die besten Rüstungsexportgesetze und wolle auch in Zukunft die seit Jahren praktizierte strenge Exportpolitik weiterführen.
Würde man nur die deklaratorische Seite kennen, müßte man zu der Schlußfolgerung kommen, daß Deutschland seine Waffenexporte fast eingestellt hat. Doch was uns da als grundlegende Reform der Exportkontrolle verkauft wird, hat nicht verhindert, daß die Bundesrepublik im vergangenen Jahr zum größten Exporteur konventioneller Großwaffensysteme
({0})
in Europa geworden ist.
({1})
41 % aller Waffenausfuhren aus EG-Ländern dürfen nach SIPRI-Angaben auf dem Konto der Bundesrepublik verbucht werden. Sie ist damit bei Großwaffensystemen seit 1991 auf dem dritten Platz in der Welt angelangt.
Dabei - das wissen wir alle hier im Haus - stellt der Export von Großwaffen nur einen Bruchteil des gesamten rüstungsrelevanten Exports dar. Selten werden heute noch komplette Großwaffensysteme verkauft. Aber Kleinwaffen, Technologietransfer und Dual-use-Produkte sind in diesen Statistiken ebensowenig wiederzufinden wie der Exportanteil in Kooperationsprojekten und der interne Transfer multinationaler Rüstungsindustrien.
Während die Bundesrepublik 1990 regierungsoffiziell 1,5 Milliarden DM durch genehmigte Waffenexporte eingenommen hat, betrug der Anteil der sensiblen Technologien mit 20,6 Milliarden DM mehr als das 13fache und 1989 sogar als das 30fache. Daran erkennt man nur einen Ausschnitt der Dimension, die der sensible Bereich des rüstungsrelevanten Technologieexportes hat.
({2})
Die Art der Anwendung der Gesetze hat somit in der Vergangenheit nicht verhindert, daß Deutschland am Export von tödlichen Rüstungskomponenten beteiligt war.
Frau Kollegin Fuchs, der Kollege Gallus würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, daß aus der DDR zum Zeitpunkt des Falls der Mauer noch Schiffsladungen von Waffen in afrikanische Länder unterwegs waren? Deshalb ist es nicht gerade fair, wenn wir als das Land, das sich in dieser Beziehung am restriktivsten verhält, von Ihnen im nachhinein so dargestellt werden, als ob wir am meisten in die andere Richtung gehen würden.
Erstens würde ich Ihnen empfehlen, daß Sie sich bevor Sie mir Vorwürfe über die Politik der DDR machen, einmal die Mühe machen, sich mit meiner persönlichen Biographie zu beschäftigen.
Zweitens meine Antwort: Natürlich ist mir das bekannt. Aber ich dachte, ich lebe jetzt in der Bundesrepublik Deutschland. Ich wüßte nicht, warum ich da nicht auch diese Kritik anbringen kann. Das ist Vergangenheit, und jetzt bin ich hier. Ich bin genauso gewählt wie Sie und habe genauso wie Sie das Recht, hier meine Meinung darzubringen. - Ich hoffe, das reicht.
({0})
Meines Erachtens wird auch mit den jetzigen Gesetzen die Absicht bleiben, über den Rüstungsexport sogenannte vitale Interessen der Bundesrepublik wahrzunehmen. Denn die Bundesregierung hat immer deutlich gemacht, daß mit den Gesetzen nur den illegalen Exporteuren das Handwerk gelegt werden soll.
Die Differenzierung zwischen nicht genehmigungspflichtigen, genehmigungsfähigen und illegalen Rüstungsexporten kommt aber einer selektiven Erlaubnis zum Waffeneinsatz gegen Menschen gleich; denn die legal gelieferten Waffen sind nicht weniger menschenverachtend als die illegalen.
Die Tatsache, daß fast alle deutschen Rüstungsexporte von der Bundesregierung genehmigte Lieferungen sind, zeigt uns, wie großzügig man die vorhandenen Instrumentarien der Exportkontrolle nutzt. Obwohl die Bundesregierung weiß und öffentlich auch immer wieder beteuert, daß Krieg und Gewalt keine Mittel der Politik sind, unterstützt sie die Rüstungsbestrebungen anderer Länder.
Aber es gibt unserer Auffassung nach in der heutigen Welt keine friedenstiftenden Rüstungsexporte. So muß der Eindruck entstehen, daß die Bundesregierung im Einvernehmen mit der Rüstungsindustrie kein wirkliches Interesse daran hat, die bestehenden Gesetze mit aller Konsequenz restriktiv zu nutzen. Die ökonomischen und politischen Interessen wiegen schwerer als die Gefahr einer weltweiten Kriegsvorbereitung.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal auf einige bekannte Beispiele verweisen. Die Türkei wird großzügig mit deutschen Waffen beliefert, obwohl alle wissen, daß mit deren Hilfe gröbste Menschenrechtsverletzungen einschließlich der Ermordung von Kurden stattfinden. Die türkische Regierung droht offiziell mit einer Militärintervention in Armenien, aber die deutschen Rüstungsexporte reißen nicht ab.
Das indonesische Regime erhält 39 NVA-Schiffe - Sie sehen also, hier wird sogar mit ehemaligem DDR-Material noch ein Geschäft gemacht -({1})
- ja, aber warum dann unbedingt dahin? -, obwohl alle Welt weiß, mit welcher brutalen Gewalt oppositionelle Kräfte dort verfolgt und ermordet werden. Menschenrechtsgruppen berichten über die Entdekkung neuer Massengräber in Indonesien. Aber die Bundesrepublik unterzeichnet fast zeitgleich Verträge über deutsche Rüstungsexporte.
({2})
Eine solche Politik schadet nicht nur den von den Waffen bedrohten Menschen, sie schadet auch dem weltweiten Ansehen der Bundesrepublik. Man kann nicht andere Staaten mit Rüstungsgütern versorgen und sich hinterher darüber wundern, daß sie auch tatsächlich eingesetzt werden.
Besonders zynisch wird das Ganze, wenn heute Waffen geliefert werden und morgen deutsche Soldaten zur Konflikteindämmung eingesetzt werden sollen. Rüstungsexporte sollten verfassungsrechtlich verboten werden.
({3})
Bis zu einer solchen Regelung erwarten wir von der Bundesregierung ein Moratorium für deutsche Rüstungsexporte und eine effektive öffentliche Aufklärung über die bisherigen Rüstungs- und rüstungsrelevanten Exporte.
Auf internationaler Ebene muß sich die Bundesregierung deutlicher als bisher dafür einsetzen, daß der Export von Rüstungsgütern international geächtet und sogar verboten wird.
Meine Damen und Herren, wir brauchen eine Zäsur in der deutschen Rüstungsexportpolitik.
({4})
Sie darf nicht länger von ökonomischen und politischen Motiven geprägt sein.
Wir fordern die Bundesregierung auf, ihr Bekenntnis zur deutschen Verantwortung ohne Abstriche in eine wirklich restriktive Rüstungspolitik umzusetzen. - Ich habe nicht gewußt, daß es so schwer ist, in diesem Staat als Pazifist auch Anerkennung zu finden.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({5})
Meine Damen und Herren, der Kollege Poppe, der für die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf der Rednerliste stand, gibt seine Rede zu Protokoll. *) Besteht damit Einverständnis? - Dies ist offensichtlich der Fall.
*) Anlage 2
Dann erteile ich das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft, unserem Kollegen Heinrich Kolb.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße die Gelegenheit, heute noch einmal an dieser Stelle die Position der Bundesregierung zur Kontrollpolitik bei Rüstungsexporten erläutern zu können.
Bevor ich dies tue, will ich noch auf eines deutlich hinweisen: Es ist hier zumindest in den Ausführungen des Kollegen Bachmaier der Eindruck entstanden, die Bundesregierung würde möglicherweise billigend eine Wachstumsstrategie im Bereich der konventionellen Rüstungsexporte verfolgen. Davon, Herr Bachmaier, kann jetzt wirklich keine Rede sein. Der Gesamtanteil der Rüstungsexporte oder der Exporte von Kriegswaffen an den deutschen Gesamtexporten betrug 1990 0,29 %, 1991 0,62 %, 1992 0,39%. Der Trend ist also eindeutig wieder rückläufig. Ich denke, auch das ist ganz wichtig zu wissen.
Herr Kollege Bachmaier, ich hätte verstanden, wenn Sie bis zum 14. Februar 1992 hier eine solche Rede, wie heute von Ihnen gehört, gehalten hätten. Aber es ist doch spätestens seit diesem Zeitpunkt einiges Neues in Kraft getreten. Wir haben nach den deutschen Erfahrungen mit illegalen Rüstungsexporten - Stichwort: Rabda - hier doch das gesamte System der Exportkontrollen einer grundsätzlichen Reform unterzogen. Ich nenne die Stichworte: drastisch angehobene Strafen und Sanktionen für Exportkontrollverstöße, dann die vorbeugenden Überwachungsmöglichkeiten zur rechtzeitigen Aufdeckung und Verhinderung illegaler Exporte und zusätzliche Genehmigungspflichten, vor allem für zivil und militärisch nutzbare Güter, also die Dual-use-Güter. Wir haben doch, Herr Kollege Bachmaier, das hier zusammen beraten. Insofern haben Sie doch auch hiervon Kenntnis.
Wir haben überdies - und das ist hier schon gewürdigt worden ({0})
- SIPRI ist aus 1992, aber der Kollege Beckmann hat schon den Congressional Research Service zitiert, der zu ganz anderen Ergebnissen kommt. Bei SIPRI wissen Sie auch, daß es bestimmte Unwägbarkeiten gibt, einfach von der statistischen Methode, die hier zugrunde liegt. Ich bitte also, das zu relativieren.
Ich will auch noch darauf hinweisen, daß wir die für die Exportkontrolle - im Wirtschaftsausschuß habe ich das schon einmal erläutert, Herr Bachmaier - zuständigen Behörden erheblich ausgebaut haben. Es wurde darauf hingewiesen, daß die Ausfuhrgenehmigungen beim zuständigen Bundesausfuhramt konzentriert sind, dessen Aufbau weitgehend abgeschlossen ist. Es ist natürlich schwierig, hier qualifiziertes Personal zu finden, das die technische und juristische Subsumtion tatsächlich auch angemessen erfüllen kann. Aber wir sind guter Dinge, daß wir auch hier weiterhin die Kontrollen dauernd verkürzen können.
Mit diesen Reformschritten ist aber das Thema Exportkontrolle bei weitem nicht ad acta gelegt. Im Gegenteil. Die Bundesregierung kämpft - man kann hier wirklich sagen: kämpft - seit einiger Zeit in verschiedenen internationalen Gremien für eine möglichst breit gefächterte Harmonisierung der Exportkontrollsysteme. Wir müssen sehen, daß wir letztlich die Probleme nur auf einer internationalen Ebene in den Griff bekommen. Hier gibt es zur Zeit ein besonders schwieriges Diskussionsfeld bei den aktuellen Beratungen in Brüssel - Stichwort: Harmonisierung der Exportkontrollen für Dual-use-Waren. Der bisherige Verhandlungsstand wird in der Wirtschaft kritisch kommentiert. Man sollte aber nicht übersehen, daß wir bereits einen wichtigen Reformschritt gegangen sind. Der Warenverkehr innerhalb des Binnenmarktes ist im Vorgriff auf die EG-Verordnung zur Harmonisierung der Exportkontrollen für Dual-useWaren bereits jetzt unter gewissen Voraussetzungen erleichtert.
Es bleibt die schwierige Aufgabe, die Kontrollregeln für die Ausfuhr aus der Europäischen Gemeinschaft heraus auf einen guten Kontrollstandard festzuschreiben, weil sich hier die Mitgliedstaaten zum Teil sehr unterschiedliche nationale Kontrollsysteme gegeben haben. Leider - ich sage: leider - gibt es bei den zwölf Mitgliedstaaten der Gemeinschaft bisher keine, zumindest in den wesentlichen Grundzügen gleichgerichtete Ausfuhrkontrollpolitik für Kriegswaffen und Rüstungsgüter. Diese fehlende Gemeinsamkeit schlägt auch auf die Harmonisierung der Kontrollen für Dual-use-Waren im konventionellen Rüstungsbereich durch. Vor diesem Hintergrund - ich sage das hier ganz deutlich - kann es nach Auffassung der Bundesregierung nicht im Interesse der deutschen Politik liegen, durch Abstriche von Kernpunkten unserer Ausfuhrkontrollen einseitige Vorleistungen zu erbringen, ohne daß von anderer Seite die Bereitschaft erkennbar wird, in konstruktiver Weise auch auf die deutschen Vorstellungen einzugehen.
({1})
Nun machen die Verhandlungen in Brüssel aber auch deutlich, daß es nicht möglich sein wird, die Zustimmung der übrigen EG-Mitgliedstaaten zu einer verbindlichen EG-Regelung zu erhalten, so wie wir sie aus exportkontrollpolitischen Gründen für geboten halten. Wenn die Grenzen der Zustimmungsbereitschaft der übrigen europäischen Partner in den nächsten Wochen endgültig ausgelotet sein werden, wird die Bundesregierung in dem Spannungsfeld zwischen europäischem Binnenmarkt einerseits und unseren Vorstellungen über ein gutes Exportkontrollsystem andererseits etwaige Konsequenzen für ihr nationales Kontrollrecht überprüfen müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, welche weiteren Aufgaben liegen noch vor uns? Ich möchte hier drei Bereiche nennen. Es geht einmal um eine gemeinsame europäische Rüstungsexportkontrolle auch bei Kriegswaffen. Wir befürworten weiterhin eine möglichst weitgehende EG-Harmonisierung in diesem Bereich. Dabei - der Kollege Beckmann hat das schon erwähnt - bilden die „Politischen Grundsätze
für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern" von 1982 eine nach wie vor gültige Leitlinie auch aus der Sicht der Bundesregierung. Die Grundsätze haben sich nach Überzeugung der Bundesregierung insgesamt bewährt.
Wir müssen die internationalen Nicht-Verbreitungsregime im nuklearen Bereich, bei der australischen Gruppe, im TCR - um auch dieses Stichwort zu nennen - bestärken.
Es kommt darauf an, die bereits begonnene grundlegende Neuorientierung des COCOM weiter fortzuführen. Schon jetzt ist die Anzahl der durch COCOM kontrollierten Industriegüter um etwa ein Drittel gekürzt. Auch bei den Zielländern wurden erste Erleichterungen eingeführt. Vor wenigen Tagen erst konnte bei einem Treffen der wichtigsten COCOMLieferländer in Paris eine weitgehende Liberalisierung moderner Telekommunikationstechniken erreicht werden. Damit eröffnen sich für die deutsche Telekommunikationsindustrie in wichtigen Bereichen, wie z. B. der Glasfaserübertragungstechnik und bei Mobilfunksystemen, in wichtigen Zukunftsmärkten, insbesondere in Rußland, Weißrußland, der Ukraine, erhebliche Exportmöglichkeiten.
Entscheidend für diesen Durchbruch ist die von Präsident Clinton Ende September verkündete neue Exportpolitik. Schwerpunkte dieser Politik sind eine erhebliche Liberalisierung der US-Kontrollen von Hochtechnologieexporten, insbesondere für Computer und Telekommunikation, und gleichzeitig verstärkte Anstrengungen mit dem Ziel der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen.
Ich darf sagen: Dieser Ansatz deckt sich auch und ausdrücklich mit der Politik der Bundesregierung. Endziel der Bundesregierung bleibt die völlige Aufhebung der COCOM-Restriktionen für alle reformwilligen Länder, als Zwischenschritt aber eine weitere Reduzierung der Kontrollisten.
Meine Damen und Herren, ich möchte heute abschließend an Sie, und zwar an die Vertreter aller Fraktionen und auch der Gruppen hier im Hause, appellieren, die Bundesregierung auch künftig darin zu unterstützen, im internationalen Bereich auf den erwähnten Exportkontrollfeldern Harmonisierungsfortschritte zu erreichen.
Ich danke dem Kollegen Kittelmann, der dies hier ganz ausdrücklich auch getan hat, ebenso wie dem Kollegen Beckmann. Wir sollten diese Fortschritte auch dann zu erreichen versuchen, selbst wenn wir dazu Kompromisse in Erwägung ziehen müssen. Wie auch immer, für die Beratungen in Brüssel oder im COCOM ist eine breite parlamentarische Unterstützung unabdingbar und ausgesprochen wünschenswert.
Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, es ist zwar nicht üblich, aber wenn jemand nach so langer schwerer Krankheit zum erstenmal, jedenfalls vom Präsidiumspult aus, wieder gesichtet wird, dann sollten wir ihn mit Freuden
Vizepräsident Hans Klein
begrüßen. - Albert Pfuhl, ich freue mich, daß Du wieder unter uns bist.
({0})
Ich erteile der Kollegin Dr. Elke Leonhard-Schmid das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Wirtschaft der Bundesrepublik ist exportorientiert, daher muß jeder gesetzliche Eingriff in den freien Handel sorgfältig überlegt sein.
({0})
Mit Recht schränkt daher das Außenwirtschaftsgesetz in § 7 den freien Handel nur in den Fällen ein, die die Beziehungen der Bundesrepublik zu anderen Ländern stören würden.
Der Handel mit Waffen hat neben seinen kommerziellen Interessen erhebliche außen- und sicherheitspolitische Wirkungen, die als Schatten oder Schuld auf uns alle zurückfallen, wenn Despoten ihre Kriegsgelüste wieder einmal mit Hilfe deutscher Waffensysteme erfüllen.
Meine Damen und Herren, der Wert der für die Ausfuhr genehmigungspflichtigen Waren ist von Jahr zu Jahr stark schwankend, verzeichnet aber insgesamt in den letzten zehn Jahren einen stetigen Anstieg. Man kann sagen, daß es sich im Schnitt bei etwa 5 % der deutschen Ausfuhren um rüstungs- und militärrelevante Güter handelt. Seit 1986 ist zu beobachten, daß die Statistiken einen steten Rückgang der weltweit getätigten Rüstungsexporte verzeichnen, im Gegensatz zu der steigenden Zahl der Genehmigungsverfahren in diesem Zeitraum bei uns. Dies ist das Ergebnis eines Strukturwandels bei den Empfängerländern für deutsche Rüstungsgüter, auf den die Bundesregierung nicht reagiert hat. Während bis in die 70er Jahre die Dritte Welt und vor allem Schwellenländer Waffen für ihre Sicherheitspolitik im Ausland eingekauft haben, stehen heute vor allem Produktionsanlagen und Werkzeugmaschinen auf der Wunschliste der Einkäufer.
Meine Damen und Herren, machen wir uns endlich bewußt: Die Dritte Welt produziert ihre eigenen Waffen auf Maschinen der Industriestaaten. Dies schlägt sich auch in der Statistik nieder. Die Rüstungsimporte der Entwicklungsländer gingen seit 1986 deutlich zurück. Sie betrugen 1986 24 Milliarden Dollar, 1989 nur noch 18 Milliarden Dollar und sind 1990 auf 11,8 Milliarden Dollar gesunken. Bis heute haben sich die Waffeneinfuhren der Entwicklungsländer nochmals nahezu halbiert. Aufkommende Freude hierüber wird jedoch dadurch getrübt, daß die Verteidigungsausgaben der Entwicklungsländer in diesem Zeitraum annähernd gleichblieben, etwa 200 Milliarden Dollar pro Jahr.
Dieser Strukturwandel des Rüstungsexports bedeutet, daß die Dual-use-Waren mit ihrem Anteil von etwa 5 % der gesamten deutschen Ausfuhren geeignet sind, im Empfängerland einen tragenden Beitrag zum Aufbau einer eigenständigen Rüstungsindustrie zu leisten. Durch diese Entwicklung ist ein Industriebereich in das Raster der Rüstungsexportkontrolle geraten, der vermeintlich nichts mit Krieg und Kriegswaffenkontrolle zu tun hat: die Werkzeugmaschinen- und Anlagenindustrie. Die Politik und die Gesetzgebung müssen dieser Entwicklung folgen. Für den Fall des Irak kommt diese Erkenntnis freilich zu spät. Saddam Hussein hat sich vor allem aus der Bundesrepublik mit Dual-use-Waren ausgestattet, um embargounabhängig zu werden. Darauf konnte er seine verhängnisvolle und menschenverachtende Expansionspolitik aufbauen. Gerade vorgestern begann der bislang größte Prozeß gegen deutsche Unternehmer. Die Angeklagten: Schreibtischtäter und Handlungsreisende in Sachen Tod.
Die deutsche Praxis der Exportgenehmigung für Rüstungsgüter ist eindeutig restriktiv. Ich behaupte, die deutsche Industrie würde mehr Rüstungsgüter exportieren, wenn sie es denn dürfte.
({1})
Die Verantwortung dafür, was im Rüstungsexportbereich geht und was nicht geht, trägt allein die Bundesregierung. Sie ist auf Grund des Aufbaus unseres Ausfuhrrechts alleiniger Herr über die Trennungslinie zwischen dem legalen und dem illegalen Rüstungsexport. Den legalen Rüstungsexport benutzt die Bundesregierung ungeachtet der außenpolitischen und humanitären Folgen, die durch unsere Rüstungsgüter entstehen, immer noch als Beschäftigungsinstrument. Im illegalen Bereich hat sie ein politisches Klima geschaffen, in dem die Exporteure des Todes mit einem augenzwinkernden Wegsehen rechnen dürfen.
Gegenwärtig zeichnen sich drei Strategien der deutschen Rüstungsindustrie zur Umgehung der Exportbeschränkung ab:
Erstens. Umgehung von Genehmigungsverfahren durch die Lieferung von Einzelteilen.
Zweitens. Lizenzvergabe und Mithilfe beim Aufbau einer eigenen Rüstungsindustrie im Empfängerland.
Drittens. Kooperation mit einem ausländischen Rüstungskonzern, der seinerseits die Vermarktung der gemeinsamen Güter betreibt.
Meine Damen und Herren, diese Entwicklung verdeutlicht, daß die herkömmliche Rüstungsexportkontrolle den Anforderungen, die man natürlicherweise an eine Kontrolle stellen muß, nicht genügt. Dies liegt aber nur zum Teil an den Kontrolleuren, sprich: den Organen der Bundesregierung. Der Strukturwandel im Rüstungsgeschäft verschärft ein immer größer werdendes Problem der Exportkontrolle, nämlich ihre grundsätzlich unzureichende Systematik. Die Rüstungsexportkontrolle, die - wie wir immer wieder sehen - versagt, muß deshalb reformiert werden.
Meine Damen und Herren, daher möchte ich an dieser Stelle anregen, daß wir uns über ein neues System der Exportkontrolle verständigen. Ziel sollte es sein, daß wir von der Ausfuhrkontrolle der Waren wegkommen hin zu einer Anwendungskontrolle der Waren im Empfängerland.
In der Länderliste H sind die sensitiven Länder benannt, die eigene Massenvernichtungsprogramme entwickeln, als Umschlagplätze des Waffenhandels bekannt sind oder über das Verteidigungsziel hinaus aufrüsten. Diese Liste sollte in einem neuen Kontrollsystem eine zentrale Stellung in der Exportkontrolle erhalten. Diesen Ländern soll die Bundesregierung Verträge zur Förderung der zivilen technologischen Zusammenarbeit anbieten.
Auf dieser Grundlage könnte ein neues politisches Klima geschaffen werden. Ich bin davon überzeugt, daß wir in ein Zeitalter einmünden, in dem die Beziehungen der Völker untereinander und vor allem die Lösung ihrer Konflikte immer mehr durch Zusammenarbeit geprägt sein werden. Wirtschaftliche Zusammenarbeit beseitigt Konfliktpotentiale.
Frau Kollegin.
Herr Präsident, ich sehe das rote Licht.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend bemerken: Ich bin davon überzeugt, daß nur der zum Partner werden kann, der Hilfe zur Entwicklung leistet, und nicht der, der Hilfe zur militärischen Gewalt leistet, indem er Rüstungsexporte genehmigt.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat unser Kollege Erich Fritz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gegensatz zwischen Herrn Bachmaier und Frau Leonhard-Schmid ist es wert, glaube ich, bei Gelegenheit ausführlicher darüber zu sprechen.
Wir haben hier zwei Vertreter der SPD-Fraktion gehört: der eine statisch an der bisherigen Position der SPD festhaltend, dabei das eigene Licht unter den Scheffel stellend - denn 1992 hat die SPD an der Verbesserung des Außenwirtschaftsgesetzes intensiv mitgearbeitet, und es gab bis auf wenige Punkte eine weitgehende Übereinstimmung -, und Sie, Frau Leonhard-Schmid, die gerade Bewegung gezeigt hat, also dynamisch an dieses Thema herangeht, in der Erkenntnis, daß sich die Welt auch in diesem Problem dramatisch verändert hat und daß wir - wie auch in vielen anderen Bereichen - all das, was wir geregelt zu haben meinten, jetzt gar nicht mehr richtig fassen können.
Wir diskutieren über die Antwort der Bundesregierung auf die große Anfrage der SPD. Ich meine, daß das, was hier vorgelegt worden ist, eindrucksvoll beweist, wie sich die Bundesregierung auf den Feldern der Rüstungsexport-Kontrollpolitik, des Waffenexports, bei Dual-use sowie bei der Frage der Verbreitung von ABC-Waffen in vielfacher Weise engagiert hat, international eine gute Rolle gespielt hat, als Mitglied der G 7 versucht hat, das zu tun, was wir wirklich brauchen, nämlich eine internationale Abstimmung, einen Gleichklang in dieser Politik, so
daß wir auf diese Weise doch zu einer Verbesserung gekommen sind, auch wenn wir nicht das erreicht haben, was wir gern wollen, nämlich eine wirklich einheitliche Rüstungsexport-Kontrollpolitik in der Europäischen Gemeinschaft und, wenn es geht, darüber hinaus.
Die Reform des Außenwirtschaftsgesetzes 1992 und seither verstärkte Bemühungen um eine bessere internationale Abstimmung sind insgesamt erfolgreich auf dem Weg, wenn auch noch nicht am Ziel angekommen. Was seither geschehen ist, zeigt den Willen, alles zu tun, um aus den Millionen Ausfuhrvorgängen, die es jedes Jahr in der Bundesrepublik gibt, die empfindlichen Waren herauszufinden und ihren Export zu verhindern, ohne gleichzeitig die Freiheit des Außenhandels einzuschränken und mehr als unbedingt nötig zu stören.
Präventive Überwachung, hohe Sanktionen bei Verstößen, ein transparenter Katalog von Beschränkungen, Eingriffsmöglichkeiten bei Verdacht auf militärische Verwendung von Gütern, der Katalog im Dual-use-Bereich - all dies kann jetzt wirkungsvoll eingesetzt werden und wird auch wirkungsvoll eingesetzt. Zur Umsetzung dieser Vorstellungen hat die Bundesregierung nach der Verschärfung des Rechts schnell gehandelt. Sie hat das Bundesausfuhramt aufgebaut sowie Möglichkeiten des Zollkriminalamtes und des Zollfahndungsdienstes erweitert und verschärft. Damit haben wir das dichteste Kontrollnetz, das es in einem europäischen Land überhaupt gibt.
({0})
Gleichzeitig stellen wir allerdings fest, daß wir damit auch Erschwernisse für die Exporteure geschaffen haben, die sich auf dem Markt negativ bemerkbar machen. Es wird also darum gehen, das Instrument so sicher, aber auch so praktikabel wie möglich zu gestalten. Die Bundesregierung hat bei ihren internationalen Bemühungen um eine Vereinheitlichung die Aufgaben ernst genommen, hat sich eingesetzt und hat auch erreicht, daß das Register bei den Vereinten Nationen eingerichtet wird, so daß zum ersten Mal überhaupt international über diese Frage Transparenz entsteht.
({1})
Das Schlimmste ist - was Sie, Frau Leonhard-Schmid, gerade mit Recht angesprochen haben - die Aufrüstung der Dritten Welt, wobei ich Ihnen nicht ganz recht gebe mit Ihrer Analyse. Denn die Veränderung im Verhalten ist nur zu einem geringen Teil auf das zurückzuführen, was Sie gesagt haben. Das andere sind die Finanznöte und die tatsächlich bereits bestehende Überrüstung dieser Länder, die zum Teil mit den Systemen, die sie jetzt noch kaufen können, gar nichts mehr anfangen können.
Seit dem Inkrafttreten des Binnenmarktes gibt es bei den Dual-use-Waren ein großes Gefälle in der Überwachung solcher Exporte. Das kann auf Dauer in Europa für den Aufbau einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nicht förderlich sein. Wenn mittlerweile auch bei einigen Teilen eine Verbesserung eingetreten ist, so fehlen doch in entscheidenden
Punkten noch die Ansätze für eine Harmonisierung. Wir können diese Harmonisierung auch nur zu einem geringeren Teil erwarten, weil die Einstellung zur Frage der Rüstungsexporte in unseren Partnerländern zum Teil völlig anders ist als bei uns, weil sie auch historisch andere Erfahrungen gemacht haben als wir.
Wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, ob die deutsche Wirtschaft bei der Art, nach der wir jetzt vorgehen, überhaupt in der Lage ist, auf Dauer im Rüstungsbereich kooperationsfähig zu sein. Das ist eine wichtige Frage, der wir genauso nachgehen müssen wie der, die Sie gerade gestellt haben. Wenn wir eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wollen, müssen wir das, was daraus folgt, nämlich Rüstung für den eigenen Bereich und den NATO-Bereich, daraus entwickeln.
Was wir heute haben, ist etwas anderes. Wir haben eine Überkapazität im Rüstungsbereich, was dazu führt, daß manche Partnerländer heute die Produktion eher davon abhängig machen, was im Ausland zu verkaufen ist, was zu exportieren ist, als zu überprüfen, ob sie in die Konzeption einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik Westeuropas paßt. Das ist eine Herausforderung. Deshalb muß der Maastrichter Vertrag in diesem Punkt möglichst schnell umgesetzt werden, damit wir verläßliche Kriterien für die Entwicklung einer gemeinsamen Rüstungswirtschaft in Europa und eine abgestimmte, arbeitsteilige, kooperationsfähige Form der Zusammenarbeit finden, die dann auch erst eine gemeinsame Außenhandelskontrolle, eine gemeinsame Rüstungsexportkontrolle ermöglicht.
Die Entwicklung in diesem Bereich ist dramatisch. Sie wissen, daß die Fertigungskapazitäten in der deutschen wehrtechnischen Industrie um 60 % zurückgegangen sind, daß aber trotz aller Aufmerksamkeit, die heute abzubauende Arbeitsplätze in der Öffentlichkeit genießen, sehr wenig die Rede davon ist. Offensichtlich gibt es unterschiedliche Einschätzungen. Wir müssen uns auch darum kümmern.
Meine Damen und Herren, wir tun gut daran, uns in nächster Zukunft diesem Thema wieder zu widmen. Die deutsche Rüstungsexportpolitik darf keine Kehrtwendung machen. Sie muß sich aber den Anforderungen, die aus dem Binnenmarkt und aus den veränderten Rahmenbedingungen entstanden sind, stellen. Das heißt, daß wir auch nicht so tun können, als ob das, was wir einmal erfunden haben, das Alleinseligmachende für Europa sein könnte. Wenn wir gemeinsame Regelungen erreichen wollen, müssen wir vielmehr auch bereit sein, kooperativ mit den anderen westeuropäischen Ländern neue Formen zu finden.
Wir haben darüber hinaus eine Aufgabe, die noch niemand in ihren Dimensionen überhaupt erfassen kann. Das ist die Frage, wie wir in solche Systeme in Zukunft die Länder des ehemaligen Warschauer Paktes einbeziehen. Denn wir wissen doch, daß gerade dort, wo jeder noch funktionierende Arbeitsplatz unheimlich viel wert ist, die Gefahr am größten ist, daß auf Grund der Notwendigkeit, überhaupt industrielle Strukturen zu erhalten, dann Rüstung verkauft wird.
Darf ich noch einen Satz, Herr Präsident, zum Antrag der SPD-Fraktion sagen? Wir lehnen ihn ab, das ist, glaube ich klar, und zwar aus guten Gründen. Es macht keinen Sinn, die Arbeit der Verfassungskommission abzuschließen und dann bei jeder Gelegenheit, heute zum Thema Rüstungsexport, das Faß wieder aufzumachen und so zu tun, als könnte man dann Grundgesetzänderungen beliebig bei irgendwelchen Sachthemen wieder neu anfangen.
Herr Kollege, das waren schon viele Sätze.
Sie haben recht, Herr Präsident, ich habe vergessen, die Kommas richtig zu setzen.
Der zweite Punkt wird abgelehnt, weil wir die beste Information in diesem Bereich haben, die es in einem Industrieland überhaupt gibt. Es ist wirklich transparent. Jeder kann sehen, was an Informationen in der Regierung da ist. Deshalb haben wir gar keinen Grund, diesem Antrag zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen Georg Gallus.
Herr Präsident! Obwohl der Antragsteller, der Kollege Bachmaier, bereits weggegangen ist, möchte ich trotzdem zu den Ausführungen von Frau Kollegin Leonhard-Schmid ein paar Worte sagen. Mir geht es vor allen Dingen um den Dualuse-Bereich.
Meine Damen und Herren Kollegen, so wie die Lage in unserer Maschinenbauindustrie ist, sind wir heute in einer Situation, daß andere Staaten in Europa damit Propaganda machen, daß sie, wenn unsere Maschinenbauindustrie eine Maschine in einen demokratischen Staat auf der Welt verkaufen will, sagen: Die kriegen ja gar keine Genehmigung für eine Rundschleifmaschine oder eine CNC-Maschine.
Man muß einmal sehen, um was es hier überhaupt geht. Es ist überhaupt keine Frage, daß wir bei der Rüstungspolitik restriktiv sind. Aber wir können doch letzten Endes nicht die letzte Verantwortung für das übernehmen, was in unserem Land geschieht, wenn die anderen Staaten Europas dann an unsere Stelle treten. Wir werden lange warten müssen, bis die übrigen europäischen Staaten sich auf unseren Standard begeben.
Deswegen bin ich konsequent dafür, daß wir eine einheitliche europäische Lösung finden. Wenn dann nicht 100 % von dem erreicht sind, was wir wollen, dann müssen wir uns mit 90 % zufriedengeben. Aber so eine Wettbewerbsverzerrung, wie wir sie heute im Dual-use-Bereich haben, können wir uns nicht weiter leisten, wenn wir nicht laufend weiter Arbeitslose zeugen wollen.
({0})
({1})
Meine Damen und Herren, wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/5925. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltungen einiger Mitglieder der PDS/Linke Liste ist der Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 und Zusatzpunkt 4 auf:
5. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Berufe in der Physiotherapie
({0})
- Drucksache 12/5887 -Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({1}) Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
ZP4 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Neuordnung der Berufe in der Physiotherapie
- Drucksache 12/5912 -Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({2})
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer halben Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Darm können wir die Debatte eröffnen.
Zunächst einmal hat die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Dr. Sabine Bergmann-Pohl das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heute vorliegende Gesetzentwurf ist der nunmehr dritte Versuch, das inzwischen 35 Jahre alte Gesetz über die Berufe des Masseurs, des Masseurs und medizinischen Bademeisters sowie des Krankengymnasten durch eine umfassende Neuordnung abzulösen.
Seit Jahren ist diese Neuordnung in der Diskussion. In den letzten Jahren sind bereits zwei Gesetzentwürfe an unüberwindbaren Gegensätzen der Berufsgruppen und an der strikten Ablehnung der Integration des praktischen Anerkennungsjahres in den Lehrgang an den Schulen von seiten privater Schulträger gescheitert.
Jetzt, beim dritten Anlauf, sind diese Gegensätze endlich überwunden. Nach wiederum mehrjähriger Verhandlung mit den beteiligten Berufskreisen, insbesondere mit den Masseuren und Krankengymnasten, beruht der heutige Gesetzentwurf auf einem ausdrücklichen Konsens der Spitzenverbände der Masseure und Krankengymnasten.
Aus regionalen Gruppierungen einiger Masseurverbände und vor allem aus dem Bereich einzelner Masseurpraxen gibt es noch immer einen gewissen Widerspruch. Allen, die noch immer massiv gegen dieses Gesetz mobil machen wollen, sage ich mit aller
Deutlichkeit: Der vorliegende Gesetzentwurf ist weder ein Berufsstatus- noch ein Berufschancengesetz. Es ist auch kein Gesetz, mit dem etwa bestimmte Regelungen des Gesundheitsstrukturgesetzes außer Kraft gesetzt werden können.
Es ist vielmehr ein Berufszulassungs- und Ausbildungsgesetz.
({0})
Es betrifft diejenigen, die sich künftig für die Berufe des Masseurs und medizinischen Bademeisters oder des Physiotherapeuten qualifizieren wollen. Sie alle brauchen eine an die Entwicklung angepaßte, qualitativ hochwertige Aus- und Weiterbildung, damit sie dem schärfer werdenden Konkurrenzkampf innerhalb des europäischen Wirtschaftsraumes besser gewachsen sind und um den gestiegenen Anforderungen in der Physiotherapie Rechnung zu tragen.
Die künftigen gesetzlichen Regelungen sehen zwei Berufe in der Physiotherapie vor: den Masseur und medizinischen Bademeister sowie den Physiotherapeuten, bisher den Krankengymnasten. Mit dem Gesetz wird hinsichtlich beider Berufe Rechtseinheit im Bereich der Ausbildung und Zulassung in ganz Deutschland hergestellt. Bisher galten in den neuen Ländern die Regelungen der ehemaligen DDR fort.
Durch die Umsetzung zweier Richtlinien der EG sowie des Vertrages von Porto vom 2. Mai 1992 über die Schaffung eines einheitlichen europäischen Wirtschaftsraumes werden die Voraussetzungen für die Anerkennung dieser Berufe innerhalb der EG und der EFTA geschaffen.
Gleichzeitig erteilt der Gesetzentwurf der Forderung der SPD und der Masseure nach einem Einheitsberuf eine klare Absage, und das aus gutem Grund. Denn beide Berufe haben traditionell unterschiedliche Tätigkeitsfelder. Deshalb sollen beide Berufe gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Zwar überlappen sich diese Tätigkeiten teilweise in ihren Randzonen - das ist ja kein Novum -; in ihren Kernbereichen jedoch stellen sie differenzierte Anforderungen an den jeweiligen Beruf. Deshalb kann es keinen Einheitsberuf geben.
Die Ausbildungen werden in beiden Berufen erheblich verbessert: Beim Beruf des Masseurs und medizinischen Bademeisters bleibt es bei der Gesamtausbildungszeit von zweieinhalb Jahren. Sie wird jedoch grundlegend neu strukturiert: Der bisher einjährige Lehrgang wird auf zwei Jahre ausgedehnt. Die praktische Anerkennungszeit wird künftig nur noch ein halbes Jahr betragen.
Die Ausbildung zum Beruf des Pysiotherapeuten wird künftig einheitlich drei Jahre dauern. Das bisherige praktische Anerkennungsjahr, das außerhalb der Verantwortung der Schulen und außerhalb jeder Qualitätskontrolle stattfand, entfällt und wird in den dreijährigen Lehrgang integriert. Dieser umfaßt gleichermaßen Unterricht und praktische Ausbildung. Einer Verschulung der Ausbildung wird damit entgegengewirkt. Am Ende steht die staatliche Prüfung zum Physiotherapeuten. Der Vorentwurf einer AusbilParl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl
dungs- und Prüfungsverordnung wird dem federführenden Ausschuß mit vorgelegt werden, Frau Steen.
({1})
Masseure und medizinische Bademeister erhalten eine faire Chance, unter medizinisch vertretbaren Bedingungen zusätzlich die Qualifikation zum Physiotherapeuten zu erwerben. Nach geltendem Recht werden einem Masseur, der zusätzlich Krankengymnast werden will, auf die dreijährige Ausbildung zum Krankengymnasten gerade sechs Monate angerechnet. Nach dem heute vorliegenden Gesetzentwurf muß ein Masseur und medizinischer Bademeister, der Physiotherapeut werden will, noch maximal zwölf bzw. neun Monate Ausbildung absolvieren, die auch mit 1 400 bzw. 1 050 Stunden in Teilzeitform abgeleistet werden können. Am Ende steht - wie bisher auch - die staatliche Prüfung.
Diese unter fachlichen Gesichtspunkten an sich schon großzügige Regelung genügt indessen zahlreichen Masseuren keineswegs. Sie wollen die Zusatzqualifikation zum „Sonderangebot", nämlich nur mit einer dreimonatigen Zusatzqualifikation. Damit aber, meine Damen und Herren, wäre weder den Patienten noch den Masseuren und medizinischen Bademeistern selbst gedient. Nach Ansicht ärztlicher und krankengymnastischer Experten läge eine solche Minimalzusatzausbildung jenseits des medizinisch Verantwortbaren. Die notwendige fachliche Qualifikation bliebe dabei auf der Strecke. Deshalb hat die Bundesregierung einer entsprechenden Änderungsempfehlung des Bundesrates nicht zugestimmt.
Meine Damen und Herren, fast schon mit Regelmäßigkeit taucht bei allen Diskussionen über Gesetze zur Ausbildung und Zulassung für medizinische Fachberufe von seiten der SPD derselbe Vorwurf auf, wir sollten diese Dinge doch auf der Grundlage des Berufsbildungsgesetzes regeln.
({2})
Deshalb sage ich hier noch einmal: Ausbildungsrechtliche Regelungen für Heilberufe können auf der Grundlage des Berufsbildungsgesetzes gar nicht getroffen werden.
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Wesentliche Elemente, die auf der eigenständigen Regelungsgrundlage für Heilberufe nach Art. 74 Nr. 19 des Grundgesetzes möglich und unabdingbar sind, entziehen sich einer Regelung nach dem Berufsbildungsgesetz.
Es wäre sehr zu begrüßen, Frau Steen, wenn die SPD eine solche Hartnäckigkeit zeigen würde, wenn es um Regelungen über die Ausbildung von Ausbildern, um Schulgeldfreiheit an privaten Schulen und um Qualitätskriterien für die Schulen geht.
({4})
Denn hier liegt in den dafür zuständigen Ländern - und zur Zeit sind es ja in der Mehrzahl SPD-regierte Länder - vieles im argen.
Meine Damen und Herren, der Bund kann eben nur Rahmenbedingungen setzen. Das tun wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf.
({5})
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Helga Otto.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gleich mehrere Gründe veranlassen uns, heute hier im Parlament über ein Masseur- und Physiotherapeutengesetz zu beraten. Die Einheit Deutschlands steht für mich, die aus den neuen Bundesländern kommt, an erster Stelle, an zweiter der Europäische Binnenmarkt und die vom EG-Ministerrat beschlossene Ergänzungsrichtlinie über die Anerkennung beruflicher Bildungsabschlüsse und schließlich an dritter die Tatsache, daß die bestehenden Gesetze, welche die physikalische Therapie betreffen, durch moderne Auffassungen und Methoden in der physikalischen Behandlung von Krankheiten überholt sind.
Wie in beinahe allen Berufen werden die Anforderungen an die Betreffenden immer größer, der Ausbildungszeitraum verlängert sich, und die Anforderungen an die Qualität der zu erbringenden Leistungen werden immer höher. Das ist eigentlich kein Fehler, aber das verlangt auch von uns, daß wir innerhalb der Ausbildungsberufe Durchstiegsmöglichkeiten schaffen, damit jeder in dieser Gesellschaft auch sein berufliches Habitat finden kann.
({0})
Die Voraussetzungen für vergleichbare Leistungen innerhalb einer Berufsgruppe werden durch eine vergleichbare Ausbildung, durch qualifizierte Lehrer, vergleichbar gute Rahmenbedingungen und eine staatliche Abschlußprüfung geschaffen. Danach wird es immer noch Unterschiede geben, die den fairen und gesunden Wettkampf der Physiotherapeuten und Masseure und medizinischen Bademeister ausmachen.
Mir ist natürlich bekannt, daß sich der Verband Physikalische Therapie, Sektion Blinde und Sehbehinderte, für einen Einheitsberuf „Physiotherapeut/ Physiotherapeutin" ausgesprochen hat. Wir haben die über 20jährige Erfahrung der Elisabeth-DickeSchule in Chemnitz bei der Ausbildung blinder und sehbehinderter Physiotherapeuten für unsere Entscheidung, doch zwei Berufe in der physikalischen Therapie auszubilden, mitbedacht.
Entschuldigen Sie, daß ich mir die Freiheit nehme, hier im Parlament einmal darüber zu spötteln, daß man in Mainz Pilotprojekte über Dinge erfindet, die wir schon 20 Jahre in Chemnitz praktizieren, nämlich die Ausbildung von blinden und sehbehinderten Physiotherapeuten, die sich überall sehen lassen können. Das erinnert mich sehr an die angeblich völlig neue Idee, mit welcher in Berlin-Buch die Zentralinstitute für Molekularbiologie, Krebs- und Herz-KreislaufForschung samt Kliniken zum Max-Delbrück-Centrum umgestaltet wurden. Die Verbindung von Grundlagenforschung und klinischer Forschung war in Berlin-Buch schon lange eine Tatsache, ähnlich auch in Bad Elster.
Es wird in Mainz von „Schrittmachern" und „völlig neuen Ideen" geredet, und es werden ordentlich Fördermittel kassiert - gleich zweimal, weil es so gut geklappt hat -, und hier sind dann auch die neuen Sachverständigen für die Bundesregierung zu suchen.
Nun, unsere Erfahrungen in Chemnitz waren, daß die Ausbildung zum Physiotherapeuten für Blinde die Ausnahme darstellt, weil bestimmte Anforderungen an die Leistung nicht erbracht werden können. Das sind z. B. die Säuglings- und Gruppengymnastik, weil die visuelle Kontrolle der Ergebnisse nicht so klappt. Die Elektrotherapie ist dank neuer Geräte jetzt auch von Blinden gut ausführbar. Schließlich wollen wir den Mädchen und Jungen mit Hauptschulabschluß den Weg in einen nichtärztlichen Heilberuf freihalten.
Nicht zuletzt schließen wir uns den Empfehlungen des Bundesgesundheitsrates und der Länder an. Deshalb haben wir den Beruf des Masseurs und medizinischen Bademeisters neben den des Physiotherapeuten/Physiotherapeutin befürwortet. Wünschenswert wäre allerdings, daß die Ausbildung so erfolgt, daß auch Masseure und medizinische Bademeister eine Ausbildung in Bewegungstherapie erhalten, denn rein passive Leistungen werden heute selten verordnet. Der Patient soll aktiv in die Therapie einbezogen werden und Restfunktionen schulen. Auch müßte man sonst ernstlich um die wirtschaftliche Existenz von reinen Massagepraxen fürchten. Das wollen wir nicht.
Ähnliches gilt allerdings für die Ausbildung der Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten, die aus unserer Sicht zu wenig passive Techniken erlernen. Es kommt häufig vor, daß erst beides zusammen zum Ziel führt. Ich freue mich, daß in diesem Gesetzentwurf gute Erfahrungen aus den neuen Bundesländern eingeflossen sind, wenn auch nicht alle.
({1})
Die besondere Ausbildung von Medizinpädagogen hatte erhebliche Vorteile für die Weitergabe von Wissen. Die dreijährige Ausbildung der Physiotherapeuten der ehemaligen DDR deckt sich mit den Anforderungen, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung nach der EWG-Richtlinie 89/48 vom 24. Januar 1989 verlangt.
Auch das Absolvieren eines praktischen Teiles der Berufsausbildung in geeigneten Ausbildungsstellen soll stattfinden. Etwas schizophren muß es unseren Physiotherapeuten allerdings vorkommen, daß sie mit dem Einigungsvertrag zu Krankengymnasten degradiert wurden und nun nach den Übergangsvorschriften wieder gnädig die Erlaubnis bekommen, sich Physiotherapeut oder Physiotherapeutin zu nennen.
({2})
Die Verlängerung der Ausbildung geht allein bei der Massage mit dem Löwenanteil von 12 Millionen DM und bei der Physiotherapie mit 20 Millionen DM ungerechterweise wieder einmal zu Lasten der Schülerinnen und Schüler. Die Zahlung von Schulgeld sollte bald der Vergangenheit angehören. Es wäre zu begrüßen, wenn die Bundesregierung zusammen mit
den Ländern eine entsprechende Regelung finden könnte.
Zur Überleitung der alten Berufe Masseur/Masseurin und Krankengymnast in die neuen Berufe Masseur und Krankengymnast und Physiotherapeut/Physiotherapeutin sollten Nachqualifizierungen angestrebt werden, da Defizite im jeweiligen anderen Tätigkeitsbereich bestehen. Bei umfangreicher Berufserfahrung kann das unseres Erachtens auch eine obligatorische Ergänzungsprüfung leisten. Ich hoffe allerdings nicht, daß jemand auf die Idee kommt, diese auch von den Physiotherapeuten der ehemaligen DDR zu verlangen, die, wie bereits erwähnt, eine dreijährige qualifizierte Ausbildung auf theoretischem und praktischem Gebiete erhalten haben.
Für Umschüler aus nicht verwandten Berufen sollte allerdings das volle Ausbildungsprogramm im Interesse der Qualitätssicherung gefordert werden. Auch die Ausbildung Sehender, Sehbehinderter und Blinder sollte in Zukunft mehr gemeinsam erfolgen, damit die Integration Behinderter in die Gesellschaft endlich eine Selbstverständlichkeit wird,
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Dieter Thomae das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gibt drei Gründe, warum wir ein solches Gesetz jetzt auf den Tisch legen.
Erstens. Wir wollen den gestiegenen Anforderungen gerecht werden; denn in den letzten 35 Jahren hat sich in diesem gesundheitlichen Bereich einiges verändert.
Zweitens. Darüber hinaus wollen wir das deutsche Recht den gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften für die Anerkennung der Diplome und Prüfungszeugnisse innerhalb der Europäischen Gemeinschaft anpassen.
Meine Damen und Herren, es gibt einen weiteren Grund. Das wurde schon von Frau Dr. Otto gesagt. Die Ausbildungsregelungen in der früheren DDR veranlassen uns ebenfalls, eine Übereinstimmung herbeizuführen.
Es ist lange sehr umstritten gewesen: Sollen wir tatsächlich zwei neue Berufsbilder - Physiotherapeuten sowie Masseur und medizinischer Bademeister - bilden, oder sollen wir das in einem Beruf ermöglichen?
Die Koalition hat sich dazu entschieden, zwei Berufe zu schaffen, vor allen Dingen mit einem entscheidenden Argument: Wir wollen die Aufstiegsmöglichkeiten und die Einstiegsmöglichkeiten sichern, damit auch unterschiedliche Ausbildungsvoraussetzungen die Chance geben, im Laufe des Lebens Aufstiege zu schaffen. Das ist der entscheidende Grund.
In vielen Gesprächen mit den Beteiligten sowie mit Verbandsvertretern wurde sehr intensiv gerade darüber diskutiert: Wie soll die Weiterbildung und Fortbildung für den Bereich Masseur erfolgen? Es wurde darüber gesprochen und sowohl mit den Verbänden auf der Seite der Krankengymnasten als auch denen auf der Seite der Masseure vereinbart: 18 Monate oder Teilzeit 2 100 Stunden. Die Zeit kann auf 12 Monate bzw. 1 400 Stunden verkürzt werden, wenn mindestens fünfjährige Berufstätigkeit in diesem Bereich vorliegt. Sie kann sich nochmals um 3 Monate verkürzen, wenn weitere Qualifikationen durch Fort- und Weiterbildung vorliegen.
Aber, meine Damen und Herren, bei der Gesetzgebung müssen wir sehr darauf achten, daß die Qualifikationen von verschiedenen Institutionen anerkannt werden. Es kann nicht sein, daß nur Qualifikationen von einer Institution bei der Ermäßigung anerkannt werden.
({0})
Meine Damen und Herren, der Bundesrat hat den Vorschlag gemacht, diese Qualifikationszeit, also die Aufstiegszeit, nochmals zu verkürzen. Man kann über alles reden; aber die Qualifikationsmerkmale sollten wir nicht noch mehr absenken.
({1})
Was wir tun müssen, ist, die Lerninhalte von diesen beiden Bereichen genau abzugleichen und festzustellen, was hier und dort gelehrt worden ist. Erst dann, meine Damen und Herren, können wir das endgültige Tableau und die Anforderungsmerkmale für diesen Beruf festlegen.
Was mich noch besonders bewegt, ist die Frage: Wie sehen die Kosten für die Fort- und Weiterbildung aus? Die Masseure, die diese Stunden nachholen wollen, müssen einen bestimmten Betrag für die Fort- und Weiterbildung aufbringen. Das bedeutet teilweise sicherlich auch den Ausstieg aus dem Erwerbsleben für diese Zeit. Für diese Fort- und Weiterbildung müssen wir vernünftige Kosten festlegen.
Meine Damen und Herren, das Ziel unserer Fraktion ist, ein neues Berufsbild zu schaffen. Ziel ist aber auch, echte Zugangschancen für alle zu schaffen, damit dieser Beruf in Europa eine Zukunft hat und überall anerkannt werden kann.
Danke schön.
({2})
Nunmehr erteile ich der Abgeordneten Frau Dr. Ursula Fischer das Wort.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Entwurf steht in einer Reihe von gesetzlichen Neuregelungen, mit denen die Ausbildung in verschiedenen nichtärztlichen Heilberufen entsprechend weiterführender Entwicklungen in der Medizin verbessert und verlängert, Anpassungen an das EG-Recht vorgenommen und gleiches Recht in den alten und neuen Bundesländern hergestellt werden soll. Diesen
Grundintentionen des Gesetzes kann zugestimmt werden.
Als Besonderheit ist festzuhalten, daß an Stelle der alten Berufsbezeichnung „Krankengymnast" jetzt generell die bisher nur in den neuen Bundesländern gebräuchliche Benennung ,,Physiotherapeut" eingeführt wird. Man ist geneigt zu sagen: Es geschehen noch Zeichen und Wunder.
Dieser Vorgang ist ja auch dann erstaunlich, wenn es sich nur um einen äußerst kleinen und politisch unbedeutenden Ausschnitt aus der Vereinigungswirklichkeit handelt. Aber selbst hier wachsen natürlich die Bäume der Ostdeutschen nicht in den Himmel. Es bleibt bei der bloßen Ersetzung der Berufsbezeichnung.
Echte inhaltliche Veränderungen zugunsten des hohen Ausbildungsstandards, wie er sich in der DDR im Zusammenhang mit der an den Universitäten etablierten medizinisch-wissenschaftlichen Disziplin und Facharztrichtung „Physiotherapie" entwickelt hatte, werden damit nicht verbunden.
Im einzelnen ist einzufordern, daß im Rahmen der Übergangsvorschriften - das betrifft den § 16 - auch ausdrücklich festgehalten wird, das Physiotherapeuten, die ihren Beruf nach dem Recht der DDR erworben haben, auch künftig zur Weiterführung ihrer Berufsbezeichnung berechtigt sind. Eine solche, die Klarheit erhöhende Aussage fehlt bisher.
Den in § 18 - offensichtlich aus arbeitsmarktpolitischen Erwägungen - vorgesehenen extrem verkürzten Umschulungszeiten auch für Absolventen nichtmedizinischer Ausbildungsberufe kann ich nicht zustimmen. Das ist mit dem formulierten Ausbildungsziel und dem erhöhten Berufsanspruch nicht mehr vereinbar. Selbst die Verkürzung der Umschulungszeit für Masseure und medizinische Bademeister zum Physiotherapeuten erscheint für eine Gleichwertigkeit der Ausbildung unglaubwürdig und ist wohl nur aus der gegenwärtigen Situation der Berufsgruppe ableitbar.
({0})
Routinearbeit im tagtäglichen Behandlungsspektrum und Erfahrung im Umgang mit Patienten kann eben nur teilweise als Ersatz für eine kontinuierliche Ausbildung angesehen werden.
Im übrigen muß auch angesichts der Behandlung dieses Gesetzes für zwei weitere medizinische Einzelberufe erneut kritisch festgehalten werden: Die Bundesregierung setzt ihre Linie fort, notwendige Änderungen in der medizinisch-beruflichen Bildung immer nur am Einzelproblem und auch dort nur unvollständig vorzunehmen.
({1})
- Das ist richtig. Das haben wir gestern in der Anhörung gehört.
({2})
Die bereits im Zusammenhang mit dem Heilberufsänderungsgesetz und auch bei der gestrigen Sachverständigenanhörung dazu angesprochenen grundsätzlichen Mängel und Strukturfehler der medizinischen Bildung werden bisher auch hier - im Gegensatz zum Antrag der SPD-Fraktion - nicht einmal im Ansatz angegangen.
Auch ich bin der Meinung, daß gründlich geprüft werden sollte, inwieweit die existentiellen Sorgen dieser Berufsgruppe doch noch einmal zu weiterführenden Überlegungen Anlaß geben müssen. Die vorgesehene Anhörung wird sicher zu weiteren Verbesserungen führen. Das wünsche ich uns jedenfalls.
({3})
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Sigrun Löwisch.
Frau Bergmann-Pohl, es war richtig: Das ist der dritte Anlauf, sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, den wir nehmen, um die Berufe der Physiotherapeuten in einem neuen Gesetz zu regeln, und es sollte wirklich auch der letzte Anlauf sein. Ich wünsche mir das jedenfalls.
({0})
- Für dieses Jahrhundert.
Wir stehen jetzt unter dem Zwang - Gott sei Dank, das ist ein schönes Ergebnis der Einheit -, die Rechtseinheit zwischen den alten und neuen Bundesländern herzustellen und diesen Beruf auch EG-fest zu machen. Bei der neuen Gestaltung dieses Gesetzes müssen wir natürlich auch die wirtschaftliche Lage, in die die Krankengymnasten, aber vor allem die Masseure durch die notwendigen Einsparungen des GSG geraten sind, vor Augen haben.
Aber sie haben vorrangig nun erst einmal nichts mit diesem Gesetz zu tun. Die Diskussionen über die Auswirkungen des GSG dürfen uns bei diesem Gesetz nicht die Feder führen. Aber insbesondere die Masseure stellen vor diesem Hintergrund die Frage, ob ihr Beruf Zukunft hat.
Wir verstehen diese Fragen sehr gut und meinen, daß die Erweiterung der Ausbildung der Masseure und medizinischen Bademeister um ein Jahr diesen ein besseres Rüstzeug für die auf Grund der medizinischen Entwicklung gestiegenen Anforderungen gibt und den vorher schon angesehenen Beruf noch weiter stärkt.
({1})
Ganz bewußt halten wir diesen qualifizierten Beruf
nach wie vor auch für tüchtige Hauptschüler offen.
Grundsätzlich finde ich, wir machen einen Fehler,
wenn wir immer mehr wirklich tüchtigen Hauptschülern Berufszugänge verwehren.
({2})
Der Weg in diese zwei eigenständigen Berufe der Physiotherapie mit den verschiedenen, aber sich überlappenden Ausbildungen und mit den verschiedenen Aufgaben, die sich wiederum überschneiden, bietet nach Meinung der CDU/CSU-Fraktion sowohl für die Masseure und medizinischen Bademeister wie auch für die Physiotherapeuten Zukunft. Allerdings muß man diesen Weg auch klar vorzeichnen. Meine Fraktion wird Vorgaben machen, bei denen die Beteiligten am Ende auch wissen, was gemeint ist. Unklar ist aber meiner Ansicht nach der Antrag der SPD.
({3})
- Ich werde Ihnen gleich sagen, warum da einiges unklar ist. - Dort werden die Berufe der Masseure und der medizinischen Bademeister und der Krankengymnasten zuerst einmal zu einem „großen Physiotherapeuten" - so steht es wortwörtlich im Antrag - zusammengeführt. Für uns ist die Frage: Signalisiert der Begriff „großer Phyiotherapeut", daß es auch einen „kleinen Physiotherapeuten" gibt? Wir halten nichts von einer Aufteilung in groß und klein. Wir finden, beide Berufe sind gleich wichtig.
Die SPD-Fraktion sagt in ihrem Antrag etwas sehr Interessantes. Sie sagt dort, Hauptschulabsolventen müßten beides werden können, Physiotherapeut und Masseur.
({4})
- Halt, lieber Herr Thomae, wir fordern das so ja nicht, sondern wir meinen den Durchstieg.
({5})
Die SPD-Fraktion fordert das auf direktem Wege. Gleichzeitig fordert sie aber, daß den Anforderungen der EG-Richtlinie über die Anerkennung beruflicher Bildungsabschlüsse entsprochen werden soll.
({6})
- Ja, das widerspricht sich. Das ist ja nun das dritte ähnliche Gesetz, das wir in Fahrt bringen. Wir wissen inzwischen alle, daß medizinische Fachheilberufe in der EG nur anerkannt werden, wenn für sie a) ein mittlerer Bildungsabschluß und b) eine mindestens dreijährige Berufsausbildung erforderlich sind. Wie will also die SPD den „großen Physiotherapeuten" mit Hauptschulabschluß, aber EG-anerkannt schaffen? Das ist mir noch nicht ganz klar. Wir schlagen vor, die Ausbildung der zukünftigen Physiotherapeuten auf drei Jahre zu verlängern und einen mittleren Bildungsabschluß zur Voraussetzung zu machen.
Frau Kollegin, der Abgeordnete Klaus Kirschner möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja. - Herr Kirschner, bitte schön.
Bitte sehr.
Frau Kollegin, ist Ihnen vielleicht klar, daß wir, wenn wir sagen, wir möchten auch für Hauptschüler die Möglichkeit schaffen, den Abschluß als Physiotherapeut zu erreichen, und in diesem Zusammenhang auf die EG-Anerkennung hinweisen, damit meinen, daß es für Hauptschüler Abschlüsse gibt, die dem mittleren Abschluß gleichwertig sind? Würden Sie das bitte zur Kenntnis nehmen?
Dann würde ich Ihnen, lieber Herr Kirschner, aber raten, Ihren Antrag anders zu formulieren; denn darin steht als Hauptpunkt:
3. Zugang zur Ausbildung: Für die Ausbildung zum Physiotherapeuten/zur Physiotherapeutin sowie für die Ausbildung zum Masseur und medizinischen Bademeister/Masseurin und medizinischen Bademeisterin ist der Zugang mit Hauptschulabschluß ... zu ermöglichen.
Das ist nicht das, was Sie hier sagen. Sie sagen nicht: Nur über den Durchstieg wird dies ermöglicht. Für Sie ist es zunächst einmal eine grundsätzliche Ausgangsvoraussetzung. Sie wissen: Wenn wir das so in das Gesetz hineinschreiben würden, dann würde das von der EG nicht anerkannt werden. Deswegen möchte ich Sie bitten, Ihren Antrag noch einmal zu überdenken.
({0})
- Ich habe ihn ja gerade vorgelesen.
({1})
Ich möchte jetzt fortfahren. Ich war bei der Frage, warum wir die Ausbildung der Physiotherapeuten auf drei Jahre verlängert sehen wollen. Es gibt noch andere Gründe als das EG-fest-Machen. Wir wissen - wer sich um diese Dinge kümmert, weiß das inzwischen -, daß wir schon den heutigen Lehrstoff kaum in diese zweijährige Ausbildungszeit pressen können.
Aber - das ist noch wichtiger - daß die Ausbildung der Physiotherapeuten verlängert wird, liegt im Interesse der Patienten. Diese Patienten haben wir bei der Verabschiedung des Gesetzentwurfs vor Augen. Denn wir wissen einerseits - damit können Sie sicher wieder einverstanden sein -, daß wir mit physikalischer und Bewegungstherapie auf sanfte Art, also ohne die chemische Keule, heilen und lindern können. Das ist positiv, und das muß verstärkt werden. Andererseits muß natürlich sorgfältigst gearbeitet werden, um keinen Schaden anzurichten. Denn wir wissen auch - darin sind wir uns wieder einig, denke ich -, daß eine falsch angewandte physikalische oder Bewegungstherapie anstatt zu der gewünschten Heilung und zum gewünschten Erfolg zu einer Schädigung führen kann.
({2})
- Es gibt auch physikalische Keulen. Aber im Grunde ist es so: Wenn man keine Tabletten schluckt, sondern Bäder oder Massagen nimmt oder eine Bewegungstherapie macht, dann ist das in der Regel harmloser.
({3})
Eine umfassende Ausbildung ist unserer Meinung nach der beste Patientenschutz.
Die Möglichkeit für Masseure - auch diese Möglichkeit sehen wir ja vor -, durch zusätzliche Ausbildung Physiotherapeut zu werden, ist, wie sie jetzt geplant ist, natürlich nicht so einfach, da neben zusätzlichen Fächern vor allem die Bewegungstherapie mit all ihren medizinischen Facetten erlernt werden muß. Bisher mußten Masseure, wie wir schon gehört haben, die sich zu Krankengymnasten weiter qualifziert haben, einen zusätzlichen Lehrgang von 18 Monaten absolvieren. Nach dem neuen Gesetz sollen für schon tätige Masseure nur noch zwölf bzw. neun Monate notwendig sein. Also kann man auch in Teilzeitform mit 1 400 oder 1 050 Stunden diese Nachqualifikation erwerben.
Wir wissen sehr genau: An diesem Punkt scheiden sich die Geister. Einerseits dauert den Masseuren diese Übergangsausbildung zu lange. Sie fordern eine Verkürzung auf drei bis sechs Monate. Andererseits wird z. B. von Fachärzten die vorgesehene Umstiegszeit von neun bis zwölf Monaten als zu kurz angesehen. Sie sagen, das sei schon über der Schmerzgrenze.
Sicher ist eines: Wir Politiker müssen mithelfen, daß der Umstieg der Masseure zum Physiotherapeuten als Umschulungsmaßnahme gefördert wird. Ich denke, daß er nicht so teuer ist wie z. B. die Fortbildungen jetzt.
Herr Präsident, jetzt muß ich einmal fragen: Haben Sie die Zeit für die Beantwortung der Zwischenfrage angerechnet?
Nein, ich habe selbstverständlich die Uhr angehalten.
Ich würde aber bitten, daß Sie zum Ende kommen. An sich bin ich nicht kleinlich; aber, Frau Kollegin, nach der jetzigen Gefechtslage wird das Plenum bis 0.15 Uhr tagen. Wir müssen ein bißchen auf die Zeit achten; denn das ist für alle fast nicht mehr zumutbar.
Diesem Wunsch, sehr geehrter Herr Präsident, will ich mich gerne beugen. Sie wissen ja, die allermeisten Kollegen sagen dann: Jetzt noch ein letzter Satz. Dieser letzte Satz hat dann ungefähr zehn Kommas. Aber ich mache das nicht, sondern ich möchte Ihnen heute eine Freude bereiten und sofort Schluß machen.
Vielen Dank.
({0})
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache.
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf den Drucksachen 12/5887 und 12/5912 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Andere Vorschläge werden nicht gemacht. Dann ist das also als beschlossen festzustellen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 sowie den Zusatzpunkt 5 auf:
6. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 12/5890 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({0}) Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Psychotherapeutische Versorgung gesetzlich Krankenversicherter und Zugang zu den Berufen des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten
- Drucksache 12/5913 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({1}) Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Hierzu ist vom Ältestenrat eine Debattenzeit von einer Stunde vorgeschlagen worden. Das Haus ist hoffentlich damit einverstanden. - Das ist der Fall.
Meine Damen und Herren, zunächst einmal möchte ich die Genehmigung einholen, daß ich eine Rede des Abgeordneten Ortwin Lowack zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll nehmen kann*). Mit Rücksicht auf die eben gemachte Bemerkung nehme ich an, daß es dazu keine Einwendungen gibt. - Das ist offensichtlich der Fall. Dann darf ich auch dies als beschlossen feststellen.
Ich eröffne die Debatte. Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Dr. Bergmann-Pohl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem neugeplanten Psychotherapeutengesetz setzen wir ein Vorhaben um, das bereits seit einem ersten Entwurf aus dem Jahre 1978 in der Diskussion ist.
Es geht bei dem von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf des Gesetzes über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sowie zur Änderung des Fünften Buches des Sozialgesetzbuchs um eine umfassende Regelung für die genannten neuen Heilberufe sowie um Regelungen über ihre sozialversicherungsrechtliche Stellung.
Durch die beabsichtigte Neuregelung wird die Mitwirkung Psychologischer Psychotherapeuten an
*) Anlage 3
der ärztlichen Behandlung auf eine neue, gesetzlich verankerte Stufe gehoben. Diplompsychologen spielen künftig eine anerkannte und wichtige Rolle im Feld eigenverantwortlicher Heilbehandlung.
({0})
Das Psychotherapeutengesetz erfüllt einen langgehegten Wunsch der Psychotherapeuten: die Zulassung zur Versorgung von Patienten im System der gesetzlichen Krankenversicherung.
({1})
Ich danke der Koalition dafür, daß sie da kräftig mitgeholfen hat.
Zugelassen wird jeder Psychologische Psychotherapeut sowie jeder Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, der die entsprechenden Qualifikationsanforderungen erfüllt. Eine Zulassungsbeschränkung wie bei den Ärzten ist nicht vorgesehen.
Meine Damen und Herren, diese umfassende Öffnung des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung für diese Berufe kann jedoch natürlich nicht ohne flankierende Maßnahmen erfolgen. Das Gesundheitsstrukturgesetz hat von allen Beteiligten große Opfer gefordert, um die Lage der gesetzlichen Krankenversicherung zu stabilisieren.
In dieser Situation muß auch die auf die Krankenversicherung zukommende Mehrbelastung durch die nichtärztlichen Psychotherapeuten als neue Leistungserbringer begrenzt werden. Deshalb wird es an den Eckpunkten des Gesetzentwurfes - der Budgetierung und der 25%igen Zuzahlung - keine Abstriche geben können. Allen, die diese flankierenden Maßnahmen aufbrechen wollen, sage ich ganz deutlich: Wer Maximalforderungen durchsetzen will, wird am Ende mit leeren Händen dastehen.
({2})
Ich glaube, damit ist niemandem gedient, am wenigsten den Psychologischen Psychotherapeuten und den Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten.
({3})
- Also, Herr Kirschner, ich glaube, das muß auch im Sinne Ihres Handelns sein, denn Sie waren ja am Entwurf des GSG beteiligt. Ich denke, daß Sie da keine anderen Wünsche haben.
({4})
- Alle Beteiligten, auch Sie, Herr Kirschner.
Meine Damen und Herren, das Ausgabenbudget für das Jahr 1996 läßt hinreichend Spielraum für eine Ausdehnung der psychotherapeutischen Leistungen, indem das Ausgabenvolumen für nichtärztliche Psychotherapeuten von ca. 1 % der vertragsärztlichen Gesamtvergütung 1996 maximal um 25 % erhöht werden kann.
In den Folgejahren wächst das Budget entsprechend der Entwicklung der Grundlohnsumme. Dies, meine Damen und Herren, ist keine besondere Härte für die nichtärztlichen Psychotherapeuten. Denn auch die Vergütungsvereinbarungen der Vertragsärzte
müssen ab 1996 weiterhin den Grundsatz der Beitragsstabilität und damit die Entwicklung der Grundlohnsumme beachten.
({5})
- Dann können Sie auch einmal klatschen, Herr Kirschner.
({6})
Das Budget für die nichtärztlichen Psychotherapeuten kann zudem auch in den Folgejahren auf bis zu 1,25 % der vertragsärztlichen Gesamtvergütung ausgeweitet werden, wenn die Zahl der abgerechneten Leistungen gegenüber dem Vorjahr angestiegen ist. Das Budget ist damit so bemessen, daß es sowohl die bisherigen Ausgaben für die im Delegationsverfahren arbeitenden nichtärztlichen Psychotherapeuten erfaßt als auch die geschätzten Ausgaben für bisherige Leistungen im Kostenerstattungsverfahren.
Diese Ausgabenbegrenzung für psychotherapeutische Leistungen der neuen Leistungserbringer ist ebenso unverzichtbar wie die im Gesetzentwurf vorgesehene Kostenerstattung und die Selbstbeteiligung bei Inanspruchnahme psychotherapeutischer Behandlung.
Bereits in der bisherigen Praxis - ich verweise auf die Regelung der Techniker-Krankenkasse - nimmt das Prinzip der Kostenerstattung breiten Raum ein. Die Zuzahlung sieht eine 25 %ige Beteiligung der Versicherten für psychotherapeutische Leistungen sowohl der Psychologischen Psychotherapeuten als auch der Ärtze vor. Nur eine solche spürbare Zuzahlung, meine Damen und Herren, kann sicherstellen, daß eine Beschränkung auf wirklich notwendige Behandlungen erfolgt.
Aber durch Härtefallregelungen ist gewährleistet, daß niemand aus finanziellen Gründen auf eine psychotherapeutische Behandlung verzichten muß. Kinder und Jugendliche haben z. B. Anspruch auf volle Kostenübernahme durch die Krankenkasse.
({7})
Insbesondere sozial Schwache und chronisch Kranke werden durch die Sozialklausel vollständig von der Zuzahlung befreit.
({8})
Für Versicherte, die nicht unter die Sozialklausel fallen, ist eine gleitende Härtefallregelung vorgesehen. Danach steigt die Belastungsgrenze entsprechend dem Bruttoeinkommen bis zum Erreichen der vollen Selbstbeteiligung.
Hinsichtlich der Inanspruchnahme der Psychotherapie durch Ehefrauen ohne eigenes Einkommen gilt, daß die Härtefallregelung auf das gesamte Familieneinkommen und die entsprechend der Familiengröße erhöhten Einkommensgrenzen abstellt.
Es steht außer Zweifel, daß die vorgesehene Zuzahlungsregelung einerseits finanzpolitisch unverzichtbar ist, andererseits aber unzumutbare Belastungen der Versicherten vermeidet. Sie berücksichtigt auch,
daß Versicherte bei Arzneimitteln und im Krankenhaus ebenfalls zuzahlen müssen.
Ich sage hier noch einmal mit aller Deutlichkeit: Eine gesetzliche Regelung ohne wirksame Ausgabenbegrenzung - und dies schließt die vorgesehene Zuzahlung ein - ist nicht vertretbar; denn ein Verzicht auf diese Regelungen würde zwangsläufig zu einer finanziellen Überbelastung der gesetzlichen Krankenversicherung, einer Überforderung der Beitragszahler und einer Steigerung der Lohnnebenkosten führen.
({9})
- Das sind wir immer, Herr Thomae, und Sie sind ja beteiligt.
Meine Damen und Herren, bei den kontroversen Diskussionen über das geplante Psychotherapeutengesetz kommt meiner Meinung nach das Wesentliche der Regelungen zu kurz. Im Mittelpunkt stehen die Qualifikation der Psychotherapeuten und die Qualität der psychotherapeutischen Versorgung. Der Patientenschutz und die Qualitätsfrage sind entscheidende Ansatzpunkte. Denn wir müssen alles dafür tun, daß wissenschaftlich anerkannte Psychotherapie wirksam von Scharlatanerie abgegrenzt wird.
({10})
Sie alle werden mir zustimmen, daß den Praktiken verschiedener Psycho-Sekten entgegengewirkt werden muß und daß nicht jede Tätigkeit, die sich Psychotherapie nennt, ein Gütesiegel verdient.
Deshalb wird im berufsrechtlichen Teil des Gesetzentwurfs Psychotherapie als jede mittels wissenschaftlich anerkannter Verfahren vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung und Linderung von psychischen Störungen mit Krankheitswert definiert. Damit wird gesetzlich eine verläßliche wissenschaftliche Basis für die neuen Berufe festgeschrieben.
Der Gesetzentwurf schreibt ferner eine mindestens dreijährige ganztätige oder mindestens fünfjährige berufsbegleitende, mit Bestehen einer staatlichen Prüfung abschließende Zusatzausbildung in der Psychotherapie bzw. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie zwingend vor.
Die nach Qualitätsgesichtspunkten strukturierte Ausbildung nach dem Hochschulabschluß ist unverzichtbar. Auch die Bedeutung des psychiatrischen Jahres im Rahmen der Ausbildung kann nicht in Zweifel gezogen werden. Die Qualität der Ausbildung für die neuen Berufe ist zum Schutz der Patienten von entscheidender Bedeutung. Deshalb werden Ausbildungs- und Prüfungsordnungen für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, die das Bundesministerium für Gesundheit erarbeitet, dem Qualitätsgedanken Vorrang geben.
Qualitätsgesichtspunkte müssen auch im Rahmen der Übergangsregelung besonders berücksichtigt werden. Die Übergangsbestimmungen fordern deshalb eine Zusatzausbildung von mindestens drei Jahren. Diese Voraussetzungen sind erforderlich, um zum einen eine hohe fachliche Qualität der nichtärztlichen
Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl psychotherapeutischen Behandler zu gewährleisten und andererseits zu vermeiden, daß durch die Zulassung einer Vielzahl weiterer Behandler die Finanzierbarkeit unmöglich gemacht wird.
Meine Damen und Herren, für die bereits heute psychotherapeutisch tätigen Diplompsychologen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten gibt es weitreichende Übergangsbestimmungen. Diese stellen insgesamt sicher, daß die, die qualifiziert sind, die Berufsbezeichnung „Psychologischer Psychotherapeut" bzw. „Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut" führen können.
Auch für Angestellte und beamtete Psychologen haben wir ausreichende und gute Übergangsvorschriften.
Meine Damen und Herren, nicht alle Qualitätsanforderungen an die psychotherapeutische Behandlung werden im Gesetz ausdrücklich normiert. Wie in anderen Leistungsbereichen der gesetzlichen Krankenversicherung überläßt der Gesetzgeber dies auch bei der psychotherapeutischen Behandlung im Detail der Selbstverwaltung.
IN erster Linie ist dies Aufgabe des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen, der um drei Vertreter der Psychologischen Psychotherapeuten mit beratender Stimme erweitert wird. Bereits bisher hat der Bundesausschuß zur Sicherung einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Psychotherapie Richtlinien aufgestellt.
Meine Damen und Herren, der Präsident blinkt hier rot.
({11})
Ich hätte noch viel zu diesem Gesetz zu sagen, weil es ein sehr umfangreiches Gesetz ist. Aber da ich noch einige Redner nach mir habe, denke ich, daß sie diese Lücken ausfüllen werden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Ich bin sehr dankbar, daß sie meinen Wink richtig verstanden haben.
Das Wort erteile ich nunmehr dem Abgeordneten Horst Schmidbauer ({0}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben drei starke Trümpfe in der Hand, wenn wir in die Gesetzesberatung eintreten. Wir haben also eine starke Position.
Unser Trumpf 1 ist: Wir haben die Menschen, die Patientinnen und Patienten, hinter uns. Für sie überwinden wir die Unterversorgung, für sie überwinden wir die Zweiklassenstruktur in der Psychotherapie.
Unser Trumpf 2: Wir haben die Menschen hinter uns, die ihrem Beruf neue Inhalte geben wollen und den Schutz vor Scharlatanen brauchen. Für sie schaffen wir eine gleichberechtigte Ebene mit den Ärzten, für sie schaffen wir die längst überfällige berufsrechtliche Regelung.
Unser Trumpf 3: Wir haben fast alle Bundesländer hinter uns. Wir haben unsere Zielsetzung mit den SPD-regierten Ländern abgestimmt; wir haben eine gemeinsame Linie.
Wir wollen aber nicht verkennen, meine Damen und Herren von der Koalition, daß Sie sich in großen Sprüngen auf die SPD-Position zubewegt haben. Uns ist nicht verborgen geblieben, daß der Referentenentwurf vom 24. Mai 1993 in sich unausgewogen, widersprüchlich und deshalb von kurzer Lebensdauer war. Seine kurze Lebensdauer von knapp acht Wochen zeigt, daß die Kritik der Betroffenen, der Verbände und nicht zuletzt der Länder zu wesentlichen Änderungen des Entwurfs geführt hat.
Wir haben aber nicht nur diese von mir genannten drei Trümpfe in der Hand. Wir bieten mit dem von uns vorgelegten Antrag auch eine Lösung bei der Finanzierung an. Mit unserem Lösungsvorschlag überwinden wir die antiquitierte Budgetierung, die kein geeignetes Mittel zur dauerhaften Ausgabenstabilität ist. Damit überwinden wir aber auch den Zentralismus und schaffen regionale Lösungen. Damit kommen wir auch den Psychotherapeuten und den Kassen entgegen und schaffen die Grundlage direkter Vertragsverhandlungen.
({0})
Damit ersparen wir der Psychiatrie die Übertragung überkommener Strukturen, die KV und Kammer. Also, eine klare Finanzierungsregelung ist notwendig.
({1})
- Ja, lieber Kollege, genau darauf wollen wir hinaus, nämlich auf Vorstellungen, die sicherlich auch die Zustimmung von Ihnen finden müßten. Denn ich denke, wenn Sie an einer strukturellen und einer zukunftsorientierten Lösung interessiert sind, dann müßten wir alle miteinander aus dem GSG gelernt haben: Wir brauchen nicht Kostendämpfung, weil Kostendämpfung nicht langfristig, sondern nur kurzfristig wirkt, und wir brauchen Strukturen, die eine langfristige Regelung der Aufgaben garantieren.
({2}))
Unser Vorschlag ist deshalb: Wir schaffen die zentralen Regelungen auf Bundesebene, z. B. die gleichen Honorare. Der Bedarf wird dann auf Länderebene von den Kassen direkt mit den Psychotherapeuten geregelt. Im Rahmen eines Wettbewerbs können wir uns aber auch vorstellen, daß es einen unterschiedlichen Bedarf der einzelnen Kassenarten gibt.
Lassen sie mich grundsätzlich feststellen:
Erstens. Psychotherapeutische Arbeit ist die selbständige Ausübung der Heilkunde. Dieser von den Gerichten bestätigte Sachverhalt muß im berufsrechtlichen Teil des Gesetzes verbindlich festgeschrieben werden.
Zweitens. Die aus den Verbänden kommende Formel: „Psychotherapie ist ärztliche und psychologischpsychotherapeutische Behandlung" findet auch unsere Unterstützung.
Horst Schmidbauer ({3})
Drittens. Gleiches gleicht für den Indikationenkatalog. Entweder findet eine Ergänzung um die Indikation „Störungen, Psychosen und psychosomatischer Erkrankungen" statt, oder man verzichtet auf eine abschließende Aufzählung von Einzelindikationen. Dem neige ich persönlich mehr zu, denn damit könnten wir für eine neue Entwicklung offenbleiben.
({4})
- Richtig! Deswegen sage ich: Unsere Abstimmung ist da.
Viertens. Eine logische Forderung nach unserem Selbstverständnis ist die Approbation. Abschluß der Ausbildung und berufsrechtliche Zulassungen sind wie bei den Ärzten durch Approbation zu regeln.
Fünftens. Dazu gehört auch: Wir wollen ein berufspolitisch klares Gesetz, das auch den angestellten Psychotherapeuten die Berufsbezeichnung garantiert und ihnen eine echte Chance bietet.
Sechstens. Psychisch kranke Patientinnen und Patienten sind auch heute noch vielfältigen gesellschaftlichen Benachteiligungen ausgesetzt. Psychische Erkrankungen führen aber nicht nur zu erheblichem Leid für die Betroffenen. Es kommt dabei im großen Umfang zu sozialen Folgeschäden, Invalidität und Frühverrentungen.
Siebtens. Es ist wohl unstrittig: Mit dem Psychotherapeutengesetz muß die ambulante Psychotherapie grundlegend und patientenorientiert neu geregelt werden. Patientinnen und Patienten müssen einen unmittelbaren Zugang zum psychologischen Psychotherapeuten erhalten und einen Psychotherapeuten oder eine Psychotherapeutin ihres Vertrauens wählen können.
Achtens. Die Unter- und Fehlversorgung im ambulanten Bereich muß überwunden werden. Vergessen wir doch nicht, meine Damen und Herren: Wir haben 1 151 Millionen DM jährlich. Das ist der Betrag, den wir jährlich für Psychopharmaka ausgeben. Wir sagen, das ist zuviel, das ist viel zu viel. Vergessen wir nicht: Nach dem Gutachten, das die Bundesregierung in Auftrag gegeben hat, heißt es: Die behandlungsbedürftigen Menschen mit psychischen oder psychosomatischen Erkrankungen irren durchschnittlich sieben Jahre durch den medizinisch-industriellen Komplex, bevor sie adäquat diagnostiziert und behandelt werden.
({5})
- Das können Sie im Gutachten lesen. Das ist für jeden zugänglich. Ich habe es nicht in Auftrag gegeben. Das hat die Bundesregierung in Auftrag gegeben.
Vergessen wir nicht: Viele tausend Menschen werden dadurch zu chronifizierten Patientinnen und Patienten.
({6})
- Der liebe Gott wird Ihnen gleich etwas anderes sagen. Der sagt nämlich in Form des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, daß im Jahr 1990 27 134 Patienten wegen psychischer Erkrankungen vorzeitig verrentet wurden. 1991 waren es 29 624 Menschen. Ich glaube, der liebe Gott wird Ihnen einreden, daß das eine besorgniserregende Zahl ist.
Neuntens. Hinzu kommt: Gerade chronisch psychisch kranke Menschen verfügen zumeist nur über ein geringes Einkommen. Deshalb lehnt die SPD in Bund und Ländern einhellig ohne Wenn und Aber jede Selbstbeteiligung ab. Ich will auch gleich dazusagen: Ein Schachern über Prozentsätze - erst 40 %, jetzt 25 %, morgen vielleicht 10 % - auf dem Rücken der Patientinnen und Patienten wird es mit der SPD nicht geben. Ca. 1 250 DM müßte der Patient nach Ihren Vorstellungen an Selbstbeteiligungskosten aufwenden. Beim Analytiker sind es über 5 000 DM. Da finden Sie keine Zustimmung.
({7})
- Sie können es nachrechnen. Ich habe mit 25 DM gerechnet, einem Stundensatz von 100 DM. Damit kommen wir in eine Größenordnung hinein, wo Sie - auch von außen - keine Zustimmung mehr finden werden.
({8})
Sie erleben, daß selbst die Technikerkrankenkasse, die dies bisher praktizieren mußte, diese Selbstbeteiligungsregelung ablehnt.
Es ist eine Schande, wenn man nicht aus sachlichen, sondern aus rein ideologischen Gründen den Einstieg in eine Selbstbeteiligung ausgerechnet bei den psychisch kranken Menschen versucht.
({9})
- Ich sage, wir wollen keinen Einstieg in die ambulante Versorgung, schon gar nicht auf dem Rücken psychisch kranker Menschen. Wenn Sie es machen wollen, dann machen Sie es! Mit uns nicht!
Zehntens. Aus den Verbänden höre ich schon Vorwürfe in Richtung SPD: Ihr könnt doch das Gesetz nicht an der Frage der Selbstbeteiligung scheitern lassen. Ich denke, das eigene Selbstverständnis und die Grundsätze der Psychotherapeuten verbieten eine solch opportunistische Haltung. Selbst wenn die Koalition das Gesetz an der Selbstbeteiligung scheitern läßt, ist meines Erachtens nichts verloren. Vergessen wir doch nicht: Die Koalition will dieses Gesetz erst in zwei Jahren in Kraft setzen.
Im Herbst 1994 gibt es jedoch eine andere parlamentarische Mehrheit. Ich verspreche Ihnen: Wir schaffen das Gesetz spätestens im Frühjahr 1995 und nicht erst im Januar 1996. Nach 15jähriger Diskussion erwarten die Menschen vom Gesetzgeber keine Prinzipienreiterei, sondern Taten. Lassen Sie die Taten folgen.
({10})
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Bruno Menzel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, wir sind am Ende einer 15jährigen Odyssee angelangt, denn
vor etwa so vielen Jahren wurde der erste Referentenentwurf im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit erarbeitet.
({0})
Seit dieser Zeit stand ein Berufsgesetz für die Psychotherapeuten auf der politischen Tagesordnung. Ich denke, Herr Knaape, es spricht für die gesundheitspolitische Handlungsfähigkeit dieser Koalition, daß es nun endlich gelungen ist, die parlamentarischen Beratungen aufzunehmen.
({1})
- Ich dachte, ich bekäme auch von Ihnen Beifall. Das wäre doch einmal schön gewesen.
Was erreichen wir mit diesem Gesetz? Der Beruf des Psychologischen Psychotherapeuten bzw. der des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten wird auf eine verbindliche gesetzliche Grundlage gestellt und als eigener Heilberuf etabliert. Die psychotherapeutische Tätigkeit auf der Grundlage des Heilpraktikergesetzes wird ab 1996 Gott sei Dank der Vergangenheit angehören.
({2})
Das Gesetz umfaßt auch die in der ehemaligen DDR ausgebildeten Fachpsychologen in der Medizin. Die psychotherapeutische Versorgung der Bevölkerung soll auf qualitativ hohem Niveau gewährleistet werden. Der berufsrechtliche Teil wird dementsprechend um einen sozialrechtlichen Teil ergänzt, der die Erbringung von Psychotherapien in der gesetzlichen Krankenversicherung regelt.
Trotz der grundsätzlichen Billigung des Gesetzentwurfs in Kreisen der psychotherapeutischen und psychologischen sowie ärztlichen Fachverbände wird an bestimmten Regelungen immer wieder Kritik geübt, nicht zuletzt vom Bundesrat. Lassen Sie mich auf einige dieser Punkte eingehen.
Zunächst, Herr Schmidbauer, haben Sie sich in Ihrer Rede lange mit der Frage der 25 %igen Selbstbeteiligung befaßt. Diese wird immer wieder als unsozial und gegenüber den psychisch Erkrankten diskriminierend bezeichnet. Es war aber auf Grund der Eingliederung der psychotherapeutischen Behandlungen in die gesetzliche Krankenversicherung - das ist ein ganz wesentlicher Teil - notwendig, von Anfang an sicherzustellen, daß es nicht zu einer unwirtschaftlichen Inanspruchnahme psychotherapeutischer Leistungen kommt.
Eine Beteiligung der Patienten an den Kosten - das wissen auch Sie - ist nach unserer Auffassung hierzu ein geeignetes Mittel. Außerdem ist bekannt, daß sich die F.D.P. seit langem für mehr Eigenverantwortlichkeit der Leistungsempfänger im Gesundheitswesen ausspricht,
({3})
um auf diesem Wege den Solidargedanken der
gesetzlichen Krankenversicherung wieder stärker ins
Bewußtsein der Versicherten zu rücken und somit
einer Mengenausweitung vorzubeugen, die aus medizinischen Gründen allein sicherlich nicht zu verantworten ist.
Unser langfristiges Ziel ist dabei - auch das möchte ich betonen - die generelle Einführung des Systems der Kostenerstattung mit Selbstbeteiligung in allen Bereichen des Gesundheitswesens. Mit der Einführung einer Selbstbeteiligungsregelung in der Psychotherapie zum Januar 1996 ist auf diesem Weg ein wichtiger Schritt getan worden. Die F.D.P. hofft, zu diesem Zeitpunkt auch ihr anderes Ziel erreicht zu haben. Damit ist eine Diskriminierung von somalischer und psychischer Erkrankung wohl nicht mehr gegeben.
({4})
Die vorgesehenen Härtefallregelungen - Herr Schmidbauer, auch das haben Sie vergessen zu sagen - sorgen im übrigen dafür, daß niemand im Zuge der psychotherapeutischen Behandlung über Gebühr belastet wird. Das vergessen Sie bei Ihren Rechnungen immer sehr wohlweislich vorzutragen.
Mit der Budgetierung, dem zweiten Instrument zur Kostenbegrenzung, tun wir uns allerdings - das muß ich ehrlich sagen - sehr schwer. Aber solange kein reines Kostenerstattungssystem, verbunden mit einer Selbstbeteiligungskomponente, installiert ist, kann angesichts der allgemeinen Kostensituation im Bereich der GKV - die ist Ihnen genausogut bekannt wie uns, Herr Schmidbauer - auf solche Maßnahmen noch nicht verzichtet werden. Immerhin ist das Budget auf drei Jahre befristet. Über die Festsetzung der Höhe muß allerdings noch einmal nachgedacht werden.
({5})
- Bitte sehr.
Bitte schön, Herr Abgeordneter Kirschner.
Herr Kollege Dr. Menzel, mich würde interessieren, was Sie mit der Kostenerstattung eigentlich bezwecken wollen. Wollen Sie zu mehr Wirtschaftlichkeit kommen, oder sollen die Patienten mehr bezahlen? Diese Frage sollten Sie hier einmal beantworten.
Zum zweiten. Meinen Sie nicht, wenn Sie mit diesem Gesetz die Diskriminierung zwischen psychisch Kranken und somatisch Kranken beseitigen wollen, daß Sie von vornherein gar keine Diskriminierung schaffen sollten, indem Sie bei psychisch Kranken keine Selbstbeteiligung einführen?
Lassen Sie mich mit der zweiten Frage anfangen. Ich habe Ihnen gesagt, daß wir nicht eine Diskriminierung schaffen, sondern daß man denjenigen, die befürchten, es könnte eine Diskriminierung sein, diese Befürchtung nach dem, was ich eben ausgeführt habe, daß das erst 1996 in Kraft tritt, nehmen kann.
Punkt zwei. Herr Kirschner, wir haben uns schon oft darüber unterhalten. Sie kennen dazu unsere Meinung. Natürlich wollen wir mehr Wirtschaftlichkeit. Das muß man erreichen, indem man jenen, die LeiDr. Bruno Menzel
stungen in Anspruch nehmen, verständlich macht, was für Kosten dadurch für die Solidargemeinschaft enstehen. Es ist nicht so, daß das von irgend jemandem bezahlt wird, vielmehr müssen alle, die in diese Solidarkasse einzahlen, die Kosten gemeinsam tragen.
({0})
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Aber natürlich.
({0})
- Jetzt ist, glaube ich, Herr Kirschner dabei, zu fragen, Herr Schmidbauer, Sie hatten vorhin Gelegenheit.
Herr Kollege Dr. Menzel, wenn Sie mit Kostenerstattung mehr Wirtschaftlichkeit erreichen wollen: Kennen Sie eigentlich den Modellversuch, den die IKK Mettmann durchgeführt hat, bei dem man zu dem Ergebnis kam, daß Kostenerstattung letzten Endes zu mehr Ausgaben geführt hat?
Lieber Herr Kollege Kirschner, Sie wissen genauso gut wie ich, daß es mit Modellversuchen immer so eine Sache ist. Ich meine, es kommt darauf an, in welcher Ausdehnung, in welcher Größe und unter welchen Intentionen man Modellversuche anlegt. Ein einziger Modellversuch, den Sie hier anführen, kann mich noch nicht überzeugen, daß dieses Konzept nicht zum Erfolg führt.
({0})
Meine Damen und Herren, ein anderes Problem rankt sich um die Übergangsbestimmungen für die Psychologen, die bereits heute als Psychotherapeuten tätig sind. Der Gesetzgeber stand vor der Aufgabe, einen vernünftigen Ausgleich zwischen den berechtigten Interessen der Psychotherapeuten und der Sicherung der psychotherapeutischen Versorgungsqualität zu schaffen.
Dies betrifft die gegenwärtig schon im Delegationsverfahren tätigen Psychotherapeuten, die angestellten bzw. die beamteten sowie die Psychotherapeuten, die im Rahmen der Regelung der Techniker-Krankenkasse tätig sind. Es wird beispielsweise befürchtet, daß es durch die Zulassung bisher bereits tätiger und nicht ausschließlich die Richtlinien-Psychotherapie praktizierender Psychotherapeuten zu Qualitätseinbußen kommen werde. Meines Erachtens ist diese Sorge unbegründet. Die Übergangsregelungen setzen für diese Berufsgruppe eine analog der Ausbildungsdauer künftiger Psychologischer Psychotherapeuten ebenfalls achtjährige Ausbildung voraus. Zudem müssen sie fünf Jahre an der Versorgung Versicherter mitgewirkt haben. Damit, meine ich, sind ausreichend hohe Qualifikationsmerkmale gewährleistet.
Andererseits hat der Bundesrat einen in meinen Augen durchaus überlegenswerten Vorschlag hinsichtlich der Zulassungskriterien für die erwähnten Psychotherapeuten gemacht. Nicht nur die Dauer der Tätigkeit, sondern auch die Zahl und Art der behandelten Fälle sollen für die Beurteilung herangezogen werden. Ich möchte noch einen Schritt weitergehen und die Frage in den Raum stellen, ob es nicht sinnvoller wäre, ausschließlich Qualifikationsmerkmale an Stelle einer statischen Tätigkeitsdauer als Zulassungsanforderung zuzulassen.
({1})
- Das finde ich schön.
Der Gesetzentwurf in seiner vorliegenden Fassung sieht darüber hinaus einen Katalog von Indikationen vor, die psychotherapeutisch behandelbar sind. Völlig zu Recht wird von einigen Verbänden angemerkt, daß einige Erkrankungen in dieser Liste fehlen; Herr Schmidbauer, Sie sehen, wir haben auch einmal Gemeinsamkeiten. Dies gilt insbesondere für die Psychosen, aber auch für die psychosomatischen Erkrankungen. Vor dem Hintergrund einer qualitativ hochwertigen Versorgung stellt sich daher die Frage, ob der Indikationskatalog nicht ausgeweitet bzw. ob auf eine solche Festlegung in einem Gesetz nicht ganz verzichtet werden sollte. Eine gesetzliche Definition von Krankheitsformen birgt - so meine ich jedenfalls - zudem das Problem, daß auf neue Erkenntnisse nur recht unflexibel reagiert werden kann, weil dies zwangsläufig immer eine Änderung des Gesetzes bedeuten würde.
({2})
Aus diesem Grunde begrüße ich die Gegenäußerung der Bundesregierung zum Vorschlag des Bundesrates. Soweit ich davon Kenntnis habe, wird wahrscheinlich dem stattgegeben werden, was der Bundesrat erwartet.
Ich möchte noch etwas anderes erwähnen, weil auch Sie, Herr Schmidbauer, das angesprochen haben. Wir haben in diesem Gesetzentwurf festgelegt, daß wir vom Delegationsverfahren zum Kooperationsverfahren kommen. Sie erwarten mit Recht, daß Gesetze so gemacht werden, daß dabei ein Höchstmaß an Sicherheit für die Beteiligten gegeben ist. Herr Schmidbauer, es dürfte doch klar sein, daß jemand, der sich der Psychotherapie zu unterziehen gedenkt, die Sicherheit haben muß, daß keine somatischen Grunderkrankungen vorhanden sind. Dann, denke ich, ist doch dieser Schritt von der Delegation zur Kooperation, den wir jetzt getan haben, mit der ersten Sitzung beim Psychotherapeuten und dann die zusätzliche Absicherung, daß keine somatischen Grunderkrankungen vorhanden sind - ({3})
- Mein lieber Herr Knaape, wir können uns über die
Frage unterhalten, ob eine Stunde ausreicht. Wir
können uns aber nicht über die Frage unterhalten, daß
eine somatische Abklärung in jedem Falle erfolgen muß.
({4})
Das ist der Grundgedanke, der dahintersteckt. Versuchen Sie nicht, es zu verwässern! Geben Sie doch zu, daß diese Regelung, die wir jetzt getroffen haben, ein Riesenschritt vorwärts ist gegenüber dem, was wir bisher gehabt haben. Das ist die entscheidende Frage.
({5})
Ich denke jedenfalls, daß der vorliegende Gesetzentwurf unter Berücksichtigung der sicherlich noch zu erwartenden Änderungen auf Grund der Stellungnahme des Bundesrates eine gute Grundlage für die psychotherapeutische Arbeit sein wird und einen gewaltigen Fortschritt gegenüber dem bedeutet, was wir heute haben.
Herr Schmidbauer, auch das muß ich Ihnen noch sagen: Wenn der erste Referentenentwurf anders aussieht als der zweite und wenn vielleicht sogar durch die Anhörung, die wir durchführen, weitere Gesichtspunkte in dieses Gesetz kommen sollten, dann halte ich das für eine außerordentlich gute Tatsache. Denn sonst wären diese Veranstaltungen völlig sinnlos; dann könnten wir sie uns sparen und sagen: So, wie wir es beschließen, so wird es gemacht. Genau das wollen wir nicht. An dieser guten Sitte wollen wir auch in Zukunft festhalten.
({6})
Nun hat die Abgeordnete Frau Dr. Ursula Fischer das Wort.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Seit langem wissen Politik und Fachwelt, daß ein Psychotherapeutengesetz fehlt. Obwohl der überwiegende Teil der psychotherapeutischen Versorgung der Bevölkerung von speziell ausgebildeten Psychologen geleistet wird, gibt es keinen gesetzlichen Schutz ihrer Berufsbezeichnung und keine verbindlich geregelten Ausbildungs- und Qualitätsstandards.
So ist der Psychologische Psychotherapeut bis heute kein staatlich anerkannter, auf sicherer Grundlage stehender Heilberuf. Die Gesetzeslage hinkt damit weit hinter der wissenschaftlichen und der praktischen Entwicklung her.
Die Folgen sind einerseits ein teilweise wild wuchernder, obskurer Psychomarkt mit allen damit einhergehenden Risiken für die hilfesuchenden Menschen. Andererseits kann der Bedarf nach fachgerechter psychotherapeutischer Behandlung keineswegs abgedeckt werden. Insbesondere reicht die Zahl der kassenrechtlich zugelassenen Psychologen bei weitern nicht aus.
Das bedeutet, daß die bestehende psychotherapeutische Unterversorgung vor allem eine Benachteiligung der Kassenpatienten darstellt und daß es bis heute keine gleichen Zugangschancen zur Psychotherapie gibt. Zwangsläufig kommt das, was an Versorgung geschieht, oft zu spät oder wird mit inadäquaten Mitteln geleistet. Weitere Folgen sind lange Wartezeiten, ganz und gar unterbleibende Behandlungen oder die Begünstigung von Medikamentenmißbrauch und anderen Suchtgefahren.
Ich denke, dieser Ist-Zustand ist nicht gerade schmeichelhaft für das Gesundheitswesen eines hochentwickelten Landes.
({0})
Insofern kann das Vorhaben, ein Gesetz zu verabschieden, mit dem endlich elementare Voraussetzungen für eine qualifizierte psychotherapeutische Versorgung geschaffen werden sollen, nur begrüßt werden. Leider zeigt sich bei näherer Betrachtung, daß es trotz zwischenzeitlich bereits vorgenommener Verbesserungen, die wir sehr anerkennen, noch immer schwerwiegende Mängel, besser gesagt: grundlegende Konstruktionsfehler, gibt.
({1})
Mehr noch: Es besteht sogar Anlaß zu der Befürchtung, daß es nicht zur notwendigen Verbesserung, sondern ganz im Gegenteil zu schwerwiegenden Einschränkungen der psychotherapeutischen Versorgung der Bevölkerung kommen wird.
({2})
Der wohl größte Pferdefuß der vorliegenden Regelung ist zweifellos die vorgesehene Selbstbeteiligung der Patienten an den Therapiekosten in Höhe von sage und schreibe 25 %. Wenn man weiß, wie lange eine psychotherapeutische Behandlung zum Teil dauert, weiß man auch, was das bedeutet.
Dies wird unvermeidlich zu erheblichen Abschrekkungseffekten bei den Patienten führen und bedeutet eine drastische Schlechterstellung der Psychotherapie im Vergleich mit anderen Behandlungsformen.
Wir lehnen als PDS/Linke Liste Zuzahlungen grundsätzlich ab, da sie allein den Kranken treffen, der damit bekanntlich doppelt gestraft wird. Dies muß um so mehr im sensiblen Bereich der Psychotherapie gelten, wo es zugleich auf eine weitere Diskriminierung psychisch kranker Menschen hinausläuft.
Allerdings werden die nicht so gut betuchten Kassenpatienten auch in Zukunft dafür Sorge tragen, daß die Umsätze der Pharmaindustrie wenigstens bei den Psychopharmaka weiter stimmen. Psychotherapie dagegen wird zu einer Luxusleistung, die, wie es scheint, eine willkommene Vorreiterrolle auf dem ohnehin vorgesehenen Weg in die Mehr-KlassenMedizin einnehmen soll.
Ganz offensichtlich soll es hier erneut um einen generellen Einstieg in die erheblich ausgeweitete Selbstbeteiligung der Patienten im Rahmen ihrer gesundheitlichen Versorgung gehen
({3})
- gut, daß Sie das zugeben -, und das an einer Stelle, wo man vielleicht erwartet, daß die Gegenwehr nicht ganz so groß ist.
Demgegenüber muß der Grundsatz gelten, daß Versicherte auch im Fall einer Psychotherapie Anspruch auf volle Kostenübernahme nach dem Sachleistungsprinzip haben, und zwar unabhängig davon, ob sie von einem ärztlichen oder einem psychologischen Psychotherapeuten behandelt werden.
Unübersehbar ist auch, daß das Gesetz nichts kosten soll. Das ist für mich ein geradezu groteskes Beispiel für Sparen an der falschen Stelle. Schließlich geht es hier um eine für viele Patienten ursächlichere und adäquatere Heilbehandlung, mit der nicht zuletzt auch Arzneimittelkosten überflüssig werden. Letztlich geht es aber um die Frage, welche Art von Heilkunde wir haben wollen: noch mehr einseitige Apparatemedizin oder ein therapeutisches Spektrum, das auch die modernen Möglichkeiten der Behandlung seelischer Störungen mit Hilfe psychologischer Intervention einschließt, und zwar gleichrangig und nichtdiskriminiert.
Aus diesen Gründen halten wir die Festschreibung eines Honorarbudgets speziell für Psychotherapie für einen verhängnisvollen Fehler. Mit dem Gesetz soll qualifizierter Psychotherapie der Weg geebnet werden. In Wirklichkeit wird sie von vornherein in ein eng begrenztes Korsett gesteckt.
Ein weiterer grundlegender Konstruktionsfehler des vorliegenden Gesetzentwurfs besteht darin, daß er den psychologischen Psychotherapeuten nicht wirklich - wie eigentlich angekündigt - in die Situation eines neuen, gleichberechtigten akademischen Heilberufs bringt, eines Heilberufs, der in enger Kooperation mit den Ärzten - einer Kooperation, die aus der eigenen fachlichen Entscheidung und Kompetenz erwächst - die psychisch kranken Menschen versorgt.
Dem stehen noch immer die zwanghaft vorgeschriebene ärztliche Bestätigung jeder der vom Psychologischen Psychotherapeuten gestellten Therapieindikation, aber auch die fehlende gleichberechtigte Beteiligung an den Gremien der Selbstverwaltung entgegen. Damit wird auch künftig das Verhältnis zwischen beiden Berufen durch Oberaufsicht des einen über den anderen gekennzeichnet sein.
Wir halten dies nicht nur für unbegründet und unzumutbar, sondern darüber hinaus auch für kontraproduktiv. Wenn Abhängigkeitsverhältnisse derart festgeschrieben werden, wird sich unvoreingenommene, Doppelarbeit und Kosten sparende Kooperation nur schwerlich einstellen können. Viel wahrscheinlicher ist dagegen, daß eine unheilvolle Konkurrenz zwischen beiden Berufen gefördert wird.
Frau Abgeordnete, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zum Schluß kommen würden.
Ich komme zum letzten Satz. - Diese Konkurrenz aber geht nach allen Erfahrungen immer zu Lasten der Patienten und der Qualität der gesundheitlichen Versorgung der Menschen dieses Landes.
({0})
Herr Dr. Menzel, ich bitte um Verständnis; wir sind im gesamten Zeitablauf so weit zurück, daß es schon unerträglich ist. Das Wort hat nun die Abgeordnete Christina Schenk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die behauptete Absicht des Entwurfs, die berufsrechtliche Absicherung der Tätigkeit des psychologischen Psychotherapeuten sowie des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten zu gewährleisten, ist ausdrücklich zu begrüßen. Die internationale wissenschaftliche Anerkennung der psychologischen Psychotherapie wie auch ihre hohe gesellschaftliche Akzeptanz und vor allem der zunehmende Bedarf an dieser Therapieform begründen eine sehr dringliche Aufforderung an den Gesetzgeber, den hervorragenden gesundheitspolitischen Beitrag, der gerade durch die psychologische Psychotherapie geleistet wird, adäquat zu würdigen und vor allem die Versorgung der Bevölkerung mit diesen bewährten heilberuflichen Leistungen sicherzustellen.
Trotz erfreulicher Verbesserungen enthält der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung Punkte, die im Widerspruch zu den eben genannten Erfordernissen stehen.
Wegen der gebotenen Kürze will ich mich auf einige zentrale Aspekte beschränken.
Der Anspruch des Entwurfs ist es, zwei eigenständige Heilberufe zu schaffen. Abgesehen von der strittigen Frage, ob die vorgesehene Zweiteilung überhaupt in dieser Form sinnvoll ist, muß festgestellt werden, daß die Eigenständigkeit der Psychologischen Psychotherapeuten de facto nicht gewährleistet wird.
So bleibt nach wie vor eine beträchtliche Abhängigkeit im Verhältnis zu den Ärzten bestehen, da z. B. der Arzt die Indikation zur Psychotherapie stellt. Hier handelt es sich in der Praxis nicht nur um den notwendigen Ausschluß somatischer Erkrankungen, sondern vor allem um die grundsätzliche Frage nach der Indikation einer psychotherapeutischen oder einer pharmakologischen Behandlung. Auf Grund der erheblichen Tragweite dieser Entscheidungen muß im Interesse der Betroffenen sichergestellt werden, daß diese nur von entsprechend qualifizierten Fachleuten getroffen werden.
Der Gesetzentwurf räumt der Frage der Qualifikation bzw. Qualitätssicherung zu Recht eine zentrale Rolle ein. Allerdings darf diese notwendige Sorgfalt nicht dazu führen, national wie international seit Jahren anerkannte Ausbildungen und Therapieverfahren nachhaltig auszugrenzen. Der Regierungsentwurf ist in dieser Hinsicht nicht nur konservativ, sondern anachronistisch. So wird z. B. die erhebliche praktische Bedeutung der Gesprächspsychotherapie und anderer inzwischen etablierter Verfahren indirekt negiert, indem der Gesetzentwurf lediglich zwei Therapierichtungen als wissenschaftlich anerkannt benennt.
Der nächste Punkt: Die geplante Budgetierung ist völlig realitätsfern und folgt blind der Logik des Gesundheitsstrukturgesetzes. Die zweifelhaften
„Wirtschaftlichkeitserwägungen" nach Art des GSG greifen überhaupt nicht, weil eben keine kostentreibenden Verordnungen zu erwarten sind. Im Gegenteil: Mit einer wirksamen Psychotherapie könnte die wachsende Arzneimittelabhängigkeit aktiv bekämpft werden. Darüber hinaus sind die Leistungen grundsätzlich zeitgebunden - es gibt Stundenhonorare -, und die Behandlungslänge wird grundsätzlich gutachterlich überprüft. Die vorgesehene Budgetierung ist insofern sachlich völlig verfehlt und daher abzulehnen.
Abschließend möchte ich zu der geplanten Selbstbeteiligung der Patientinnen und Patienten mit 25 % der Behandlungskosten etwas sagen. Dieses Vorhaben ist aus unserer Sicht verfassungsrechtlich zumindest bedenklich und verletzt in eklatanter Weise den 1967 sozialgerichtlich bestätigten Grundsatz der Gleichbehandlung von körperlicher und seelischer Krankheit. Es ist schon aus diesem Grund abzulehnen.
Die geplante Zuzahlung entspricht, je nach Frequenz der Sitzungen, einer Belastung von bis zu knapp 4 000 DM pro Jahr. In den neuen Bundesländern, wo derzeit zwei Drittel der Bevölkerung von sozialstaatlichen Transferleistungen leben, würde die ohnehin stets vorhandene Hemmschwelle, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, mit der Kostenfrage zusätzlich verstärkt und somit zu einer nahezu unüberwindlichen Barriere werden. Aber auch in den alten Bundesländern wäre der Abschreckungseffekt durchschlagend.
Darüber hinaus ist der Abbruch von Behandlungen aus Kostengründen vorprogrammiert, was den gesamten Therapieerfolg in Frage stellt. Hauptleidtragende sind wiederum schwerkranke Menschen mit längerem Behandlungsbedarf. Schließlich ist das Zuzahlungserfordernis für die große Zahl von Frauen, die in wirtschaftlicher Abhängigkeit von ihrem Partner leben, unzumutbar. So könnte der Partner aus vielfältigsten Gründen die Aufnahme oder Fortsetzung der Therapie verweigern.
Nach meiner Auffassung liegt daher gerade im Hinblick auf die Zuzahlungen der Eindruck nahe, daß die Bundesregierung nicht in erster Linie die Absicht verfolgt, die psychotherapeutische Behandlung auf eine solide rechtliche Grundlage zu stellen, sondern diese eher zusätzlich zu behindern.
({0})
Fachleute - in der Praxis tätige psychologische Psychotherapeuten - haben bis jetzt in großer Zahl ihre Auffassung zum vorliegenden Entwurf geäußert. Bemerkenswert für mich ist dabei die nahezu einhellige Übereinstimmung in der Benennung seiner Schwachpunkte. Ich meine, daß die nun folgenden parlamentarischen Beratungen diese Kritik von kompetenter Seite berücksichtigen müssen, wenn der Anspruch, tatsächlich ein Psychotherapeutengesetz zu schaffen, das diese Bezeichnung verdient, eingelöst werden soll.
({1})
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Wolfgang Lohmann ({0}).
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dem Gesetzentwurf würde es sicher wenig dienen, wenn der größte Teil der Argumente, die den Inhalt betreffen, die auch in ausgezeichneter Weise von der Frau Staatssekretärin und von anderen Vertretern, vor allen Dingen aus der Koalition, genannt worden sind, hier wiederholt würde.
Eingedenk Ihrer milden Rüge, daß wir weit hinter der Zeit sind, werde ich versuchen, mit Sicherheit unter der Zeit zu bleiben, die mir eingeräumt ist.
Der Dank des Hauses ist Ihnen gewiß.
({0})
Ich beschränke mich auf einige Schwerpunkte, die ich kurz ansprechen möchte. Wenn ich Herr Professor Pfaff von der SPD-Fraktion wäre, würde ich sagen: Ich möchte erstens noch etwas über den eigenständigen Heilberuf sagen, zweitens werde ich zur Frage der Budgetierung übergehen, drittens werde ich das Thema der Zuzahlung aufgreifen und viertens einen Blick in die Zukunft werfen. - Man kann auch einmal etwas von der SPD lernen.
Meine Damen und Herren, es ist nach über 15jähriger Diskussion - das ist schon mehrfach gesagt worden - nun endlich gelungen, mit diesem Gesetzentwurf etwas auf den Weg zu bringen, was zu einem eigenständigen Heilberuf der Psychotherapeuten hinführen soll.
Herr Schmidbauer, ich hätte mich gefreut, wenn Sie gesagt hätten, was aus Ihrem Antrag, den ich dabei habe, hervorgeht - das haben Sie natürlich weggelassen -, daß Sie nämlich das Ziel des von der Bundesregierung vorgelegten Entwurfes grundsätzlich begrüßen. Sie hätten darunter schreiben sollen: Wir danken hiermit der Regierungskoalition, daß sie nun das wahrmacht, was uns nie gelungen ist - vor 15 Jahren waren Sie ja in der Regierung, die F.D.P. zwar auch, aber immerhin -, nämlich daß sie endlich Nägel mit Köpfen macht, wie man so schön in Westfalen sagt.
Meine Damen und Herren, die Eigenständigkeit schlägt sich erstens im berufsrechtlichen Teil, zweitens auch im leistungsrechtlichen Teil nieder. Sie haben vielfach schon gehört, daß erstens zwischen der Ausbildung, zweitens dem Abschluß und drittens dem Inhalt der Tätigkeiten sauber getrennt wird.
Im leistungsrechtlichen Teil geht es, was die Ansprüche vor allen Dingen derjenigen anbelangt, die bisher Psychotherapie betrieben haben, darum, daß nach diesem neuen Gesetz sowohl vom Berufsrechtlichen als auch vom Leistungsrechtlichen her weiterhin die Tätigkeit als Psychotherapeut und als Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut, der sich im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung in dieser Erstattung befindet, ausgeübt werden kann.
Wolfgang Lohmann ({0})
Nun ist in der Vergangenheit oft darüber diskutiert worden, daß sich die Eigenständigkeit auch in einer Abschaffung des Delegationsprinzips dokumentieren müßte; auch ich sehe das so. Nun ist es so geschehen. Ich sage bei dieser Gelegenheit auch, daß diese oder jene Formulierung in anderen Bereichen noch nicht voll dem gerecht wird, was eigentlich durch die Abschaffung des Delegationsprinzips und den Weg hin zum Kooperationsprinzip deutlich geworden ist.
Herr Dr. Menzel, wenn Sie mir diese kleine kritische Bemerkung erlauben - das ist verständlich, da Sie Mediziner sind -: Sie haben von der somatischen Abklärung gesprochen. Dies muß sicherlich sein. Aber ich bin nach wie vor im Zweifel, ob der Arzt im zweiten Anlauf auch die Indikation zur Psychotherapie feststellen muß. Im weiteren Verfahren sollte man vielleicht doch noch einmal darüber sprechen.
Zweiter Punkt: das eigene Budget. Nur durch die Tatsache, daß neben dem ärztlichen Budget ein eigenes Budget geschaffen wird, kann letztlich von einer Eigenständigkeit die Rede sein. Wenn die ärztliche Bevormundung abgeschafft werden soll, muß sich das auch in diesem Budget niederschlagen. Ich glaube, daß dies nicht so sehr Inhalt der Kritik ist.
In der Hauptsache geht es um die Frage der jährlichen Bindung des Budgets an feste Größenordnungen. Auch hier ist es so, daß noch über die Fristigkeit der Bindung gesprochen werden muß. Daß aber ein Budget über mehrere Jahre festgelegt werden muß, dürfte jedoch nicht zweifelhaft sein. Wie wollen Sie - in diesem Fall, Herr Kirschner, greife ich unsere gemeinsame Arbeit am GSG auf - anderen, denen wir eine mehrjährige Bindung des Budgets nur mit Steigerungsraten im Rahmen der Grundlohnsummen oder sogar ohne Steigerungsraten zugemutet haben, klarmachen, daß Sie hier ein neues Gesetz schaffen, dort aber für die weitere Entwicklung Tür und Tor öffnen? Deswegen muß es das mindeste sein, daß man auch hier sagt: Eine Bindung auf drei Jahre muß auf jeden Fall erfolgen. Dann muß über die weitere Entwicklung geredet werden.
({1})
Dies veranlaßt den Abgeordneten Klaus Kirschner zu einer Zwischenfrage.
Ich weiß, daß es auf meine Redezeit nicht angerechnet wird. Es kostet uns aber Gesamtzeit. Das muß er wissen.
Lieber Herr Kollege Dr. Thomae, wenn ich so direkt angesprochen werde, möchte ich einiges richtigstellen. Ich denke, das gehört dazu.
Ich habe schon einiges rot angestrichen!
Sehr schön. Rot ist sowieso eine gute Farbe.
Abgesehen davon aber ist Ihnen doch sicherlich aufgefallen, daß wir der Selbstverwaltung der Kassen in der Frage bedarfsgerechter Vertragsgestaltung ganz eindeutig den Vorrang lassen. Das bedeutet nicht das, was Sie hier in den Raum stellen, daß wir Tür und Tor öffnen. Was die Kostenentwicklung angeht, teilen wir völlig Ihre Auffassung. Wir aber schlagen bedarfsgerechte Vertragsregelungen vor, die die Kassen im Rahmen ihrer Hoheit selbst zu regeln haben.
Das habe ich gelesen. Wir sind aber, was diesen bedarfsgerechten Teil anlangt, anderer Auffassung. Das wissen Sie auch aus anderen Diskussionen. Die Auffassungen werden wohl unterschiedlich bleiben. Das ist sehr in der Nähe von Einkaufsmodellen und ähnlichem. Vor allem wirft das auch verfassungsrechtliche Fragen auf, wo wir nicht mitziehen wollen.
Ich darf den dritten Teil ansprechen, um auch in dieser kurzen Zeit zu bleiben: Zuzahlung. Meine Damen und Herren, das ist ein Reizwort und wird immer wieder - wie auch heute - hart kritisiert. Ich sage jetzt einmal: Für mich ist - nicht im Gegensatz, aber in etwas modifizierter Form zur F.D.P. - die Frage der Zuzahlung in diesem Bereich nicht in erster Linie eine Frage von Steuerung oder Mitheranziehung des Patienten, sondern gerade hier geht es um wichtige, auch therapeutische Fragen.
Da Sie, Herr Schmidbauer, mir das sicherlich nicht abnehmen werden, möchte ich Ihnen einige Ausführungen zitieren, die ich in diesem Zusammenhang vor einiger Zeit zu meinen Unterlagen genommen habe. Alexander Mitscherlich hat schon gesagt, und zwar war das 1953 - ich kann Ihnen die genaue Fundstelle geben, wenn Sie sie interessiert; Mitscherlich ist für Sie ja sicherlich ein Mensch, dem Sie allerhand in positivem Sinne zutrauen -, daß ein von Einkommensverhältnissen des Patienten abhängiger eigener Betrag als therapeutisch unerläßlich anzusehen sei, um das Gefühl der Eigenverantwortung des Patienten zu stärken und der Verdinglichung des Menschen entgegenzuwirken.
({0})
Das hat nichts mit Steuerung zu tun.
Als nächstes will ich auf das Jahr 1950 zurückgreifen. Dort ist von Herrn Kemper gesagt worden, daß man bei einer Untersuchung die ungünstigen Auswirkungen der vollständigen Finanzierung der Psychotherapie durch die Krankenversicherung habe prüfen können. Die in großer Zahl statistisch erhobenen Belege seien so eindrucksvoll gewesen - und jetzt kommt es -, daß wir trotz des Sträubens der Versicherungsträger darauf bestehen mußten, daß der Patient neben dem Kassenbetrag selbst mit einem, wenn auch im Einzelfall noch so geringen Eigenbetrag an der Bezahlung mitbeteiligt wurde.
({1})
Eine Untersuchung bei Psychoanalytikern im Jahre 1974 hat ergeben, daß 80 % der Psychoanalytiker gesagt haben, daß die volle Kostenübernahme zu besonderen Problemen führe und daß es ihnen lieber
Wolfgang Lohmann ({2})
sei, wenn eine Eigenbeteiligung auf Grund der therapeutischen Notwendigkeiten erfolge.
({3})
Und schließlich, weil Sie etwas ganz Neues haben wollen: 1993 hat Frau von Goldacker-Pohlmann in der Mitgliederzeitschrift der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung festgestellt, es müßte angestrebt werden, daß für Psychotherapien grundsätzlich ein Teil des Honorars von den Versicherungen gezahlt werde, während der andere Teil von Anfang an vom Patienten selber aufgebracht werden müßte.
({4})
Ich schließe mich diesen Forderungen an. Sie sind zum Teil umstritten. Auch in Fachkreisen wird es unterschiedlich gesehen. Wir sollten uns also nicht dauernd vorhalten, daß wir mit der Zuzahlung ein furchtbares Marterinstrument aus der Tasche gezogen hätten. Vielmehr können wir aus vernünftigen Gründen, die einmal Steuerungs- und Finanzgründe sein können, in diesem Falle aber auch therapeutische Gründe sein können, darauf nicht verzichten.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmidbauer?
Ja; natürlich.
Herr Kollege, wenn gerade bei den Analytikern der Behandlungsrahmen so aussieht, daß es Größenordnungen von über 5 000 DM für die einzelne Patientin und den einzelnen Patienten sind, halten Sie es dann für angemessen, zu dem Effekt zu kommen, den Sie eben zitiert haben?
Mit diesem Schlag-tot-Argument, indem Sie gleich von 5 000 DM sprechen, kann man natürlich abschrecken. Wir müssen uns in der Ausschußberatung einmal darüber unterhalten, wie Sie die Rechnung zusammengestellt haben, welche Stundenzahl der Psychotherapie Sie unterstellen und zu welchen Ergebnissen Sie kommen.
({0})
Es kann in Maximalfällen so sein. Dann sagen Sie aber bitte dazu - das ist schon mehrfach gesagt worden -, daß die Regelungen der Sozialklausel und andere Regelungen dazu führen werden, daß die von Ihnen so gern angeführten finanziell Minderbemittelten nicht so sehr zur Kasse gebeten werden, weil bei diesen die Zuzahlung ja entfällt.
Lassen Sie eine weitere Zusatzfrage zu?
Ich wollte sie uns allen ersparen. Aber bitte.
Die Zeit wird Ihnen nicht angerechnet.
Mir geht es um die Gesamtrechnung. Wir gehen ja von einem Stundensatz von 100 DM aus. Sie sprechen von 25 Selbstbeteiligung; das macht nach Adam Riese 25 DM. Bei den Analytikern muß man eine durchschnittliche Behandlungszeitdauer von 250 Stunden ansetzen. Dann, denke ich, können Sie selbst nachrechnen, auf welche Dimension Sie kommen. Es stellt sich für mich die Frage: Wird denn diese Dimension von Ihnen noch als eine sozial gerechte Regelung in einer solidarischen Krankenversicherung angesehen?
Nach meiner Erkenntnis ist, zumindest was die Krankenkassenerstattung anbelangt, eine durchschnittliche Behandlungsdauer von 250 Stunden völlig aus der Luft gegriffen.
({0})
- Das kann ich jetzt im Moment nicht beurteilen. Jedenfalls können auch Sie nicht bestreiten, daß in der TK-Regelung, wie allgemein bekannt, ja auch entsprechende Zuzahlungen bisher Praxis gewesen sind. Es sind dort keine in der Psychotherapie notwendigen Dinge unterlassen worden.
Der Gesetzentwurf wird im Rahmen einer öffentlichen Anhörung im weiteren parlamentarischen Verfahren noch einmal einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Natürlich ist kein Entwurf, Frau Staatssekretärin, so gut, daß er vielleicht nicht noch verbessert werden könnte.
({1})
Ich nenne Stichworte wie Psychotherapie als Teil der ärztlichen Leistung - darüber muß sicherlich gesprochen werden -, Indikationskatalog - darüber, meine ich, muß ebenfalls noch gesprochen werden, weil das Stichwort der Psychosen ja von großer Bedeutung ist - und die Erstellung der Psychotherapierichtlinien, also die Beteiligung der Psychologen an ihrer Erstellung. Ob da eine Beratung ausreicht, ist durchaus zweifelhaft. Die Frage der Budgetierung haben wir schon angesprochen.
Das Gesetz soll am 1. Januar 1996 in Kraft treten. Es liegt an uns, die Beratungen zügig abzuwickeln, damit wir zeitlich nicht unter Druck kommen, wie das sonst oft der Fall ist.
Danke schön.
({2})
Als letzter Redner spricht der Abgeordnete Dr. Hans-Hinrich Knaape.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Entwurf eines Gesetzes des Psychologischen PsychotherapeuDr. Hans-Hinrich Knaape
ten und des Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten ist kein Ruhmesblatt für die verflossene - man kann auch sagen: gescheiterte - Gesundheitspolitik der Regierungskoalition und ihres derzeitigen Gesundheitsministers.
Ich will Ihnen das begründen: erstens weil das Gesetz seit Jahren dringend notwendig war, aber jetzt erst vorgelegt wurde und ständig verzögert wurde;
({0})
zweitens weil das Gesetz die völlige Gleichstellung der psychisch Kranken mit den somatisch Kranken nicht vollzieht;
({1})
drittens weil berufsrechtlich und versicherungsrechtlich krasse Fehlentscheidungen festgeschrieben werden sollen; viertens weil im Gesetz wohl Formulierungen auf Drängen eines Teils der Koalition aufgenommen worden sind, die zu Lasten einer Absenkung der fachlichen Qualität und der Befähigung zur psychologischen Psychotherapie gehen und letztlich wohl nur potentielle Wähler befriedigen sollen.
({2})
Daß hier ein Gesetz vorgelegt wird, das im parlamentarischen Verfahrensweg deutlichen Korrekturen unterworfen werden muß, geht allein daraus hervor, daß die Bundesregierung in ihrer Erwiderung auf 28 Stellungnahmen und Änderungsvorschläge des Bundesrates 18 grundsätzlich zustimmt, sechs nochmals überprüfen wird und lediglich vier Änderungen widerspricht und ablehnt.
({3})
- Dann sehen Sie einmal, daß Sie nicht sehr gut gearbeitet haben.
Dies ist doch wohl ein deutliches Zeichen dafür, daß Bundesminister Seehofer, der in den letzten Tagen so forsch handelnd auftritt, sein Ministerium nicht voll im Griff hat. Eine Vorwärtsverteidigungsstrategie wäre auch hier zu beziehen, da Mängel offensichtlich sind. Dem Minister wäre zu raten, den Stil der letzten Tage auch auf dieses Gesetz anzuwenden. Er kann dabei ruhig den Anschein wahren, es wären seine Positionen, wenn er die der Sozialdemokraten übernimmt. Die Sachkundigen werden den Unterschied sowieso sehen, und über diesen Kreis hinaus wird dieses Gesetz in der Diskussion keine Ausstrahlung haben, wohl aber Auswirkungen in der Behandlung von neurotisch und psychisch Kranken. Es hat also eine enorme medizinpolitische Bedeutung.
Herr Knaape, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Menzel?
Ja.
Bitte.
Habe ich Sie recht verstanden, daß Sie erstaunt darüber sind, daß Vorschläge des Bundesrates von der Bundesregierung in die Tat umgesetzt werden?
Ja.
Dann möchte ich Sie fragen: Warum werden nach Ihrer Meinung eigentlich Gesetze sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat beraten? Denn der Blickwinkel für ein solches Gesetz muß ja wohl etwas unterschiedlich sein, je nachdem, ob man die Bundesebene oder die Landesebene betrachtet. Oder ist das nicht so?
Ich war deshalb verwundert, weil bei den bisherigen Gesetzen, die wir im Gesundheitsausschuß beraten haben, immer das Gegenteil eingetreten ist.
({0})
- Ja, das mußten Sie ja auch aus verständlichen Gründen.
({1})
- Sicher, aber Sie müssen auch ergänzend zur Kenntnis nehmen, daß es günstiger gewesen wäre, diese Änderungsvorschläge vorher in diesen Gesetzentwurf einzuarbeiten, denn sie sind offensichtlich.
({2})
Ziel der SPD-Fraktion ist, einen hohen Standard der psychologischen psychotherapeutischen Behandlung und eine qualitätsorientierte Ausbildung zu sichern und zu verbessern, dies gestützt auf wissenschaftlich anerkannte Verfahren der Psychotherapie. Diesen Ansprüchen genügt das Gesetz nicht, wenn die Mängel innerhalb der parlamentarischen Beratung nicht behoben werden. Kommen Sie dieser Aufforderung nicht nach, werden wir dieses Gesetz ablehnen.
Unter anderem stehen wir im berufsrechtlichen Teil für folgende Änderungen ein. Erstens. Wir wollen die Approbation der Psychologischen Psychotherapeuten, ihre volle Berufserlaubnis im Heilberuf. Wir lehnen die fadenscheinige Begründung zur Ablehnung der Approbation ab, da diese auch heute schon für die approbierten Ärzte ohne Weiterbildung nicht zutrifft.
Zweitens. Die Psychotherapie muß den psychopathologischen und vor allem entwicklungspsychologischen Besonderheiten des Kindes- und Jugendalters angepaßt sein und kann sich nicht an starren Altersgrenzen orientieren. Der Zustand der Patienten entscheidet, mit welchen Therapiemethoden bei welcher Berufserfahrung des Therapeuten behandelt werden muß.
Drittens. Mit der Aufzählung, weiche psychischen Störungen Krankheitswert haben, stimmen wir überein. Ob sie durch Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendtherapeuten psychotherapie15772
fähig sind, bedarf einer schärferen Formulierung und eines erkennbar logischen Aufbaus.
Viertens. Die Formulierung einer Ausbildungsdauer für die Psychotherapeuten ganztägig über drei Jahre bzw. berufsbegleitend über fünf Jahre ohne Angabe der Ausbildungsstandards und die Präzisierung, was wo und wie in welcher Zeit ausgebildet werden soll, ist uns zu allgemein gehalten. Wiederholt haben wir schon darauf hingewiesen, daß das Gesundheitsministerium bei entsprechenden Gesetzentwürfen auch die Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen vorlegen möchte. Bisher sind uns diese nicht zugestellt worden. Wir verkennen nicht, daß sie letztlich in die Kompetenz der Länder gehören, aber sie sind notwendig, damit wir uns vertretbare Meinungen bilden können.
Fünftens. Sicher ist zu klären, wer die durchgehende praktische Ausbildung über ein Jahr in der Pychiatrie bzw. über sechs Monate in einer psychotherapeutischen Einrichtung finanziert. Wichtiger erscheint uns aber, was in dieser Zeit erlernt werden soll und welche Anforderungen an die ausbildenden Einrichtungen und an ihre Mitarbeiter zu stellen sind.
Sechstens. Es bedarf der Klarstellung, welche Kenntnisse in wissenschaftlich anerkannten psychotherapeutischen Verfahren zu erwerben sind: eingehende Kenntnisse, wie im Gesetzentwurf geschrieben, oder Grundkenntnisse, wie wir meinen, und dies auch nicht nur insbesondere in der tiefenpsychologisch-analytischen Psychotherapie und der Verhaltenstherapie, sondern auch in anderen wissenschaftlich anerkannten psychotherapeutischen Verfahren. Es würde die Wiedervereinigung konterkarieren, wenn z. B. nur die beiden erwähnten Verfahren anerkannt würden, aber die Gesprächspsychotherapie, die in den neuen Bundesländern erfolgreich betrieben wird, wie auch andere Verfahren nicht anerkannt werden.
({3})
- Wir stimmen überein; sehen Sie, das hätten Sie gleich hineinschreiben sollen.
Herr Dr. Menzel möchte erneut eine Zwischenfrage stellen.
Herr Kollege Knaape, sind Sie der Meinung, daß es wirklich Aufgabe des Gesetzgebers ist, in dieser doch relativ großen Vielfalt von möglichen Therapieangeboten in der Psychotherapie festzulegen, welches denn nun die Methoden sind, die tatsächlich dem Patienten guttun? Wäre es nicht viel sinnvoller, die Möglichkeit offenzulassen, daß die Fachverbände in Gemeinsamkeit mit den ärztlichen Verbänden nach ihrem Sachverstand, der mit Sicherheit größer sein wird als der der Parlamentarier, festlegen, welche fundierten Methoden in der Zukunft bei der Behandlung von psychisch Kranken zur Anwendung kommen?
Herr Menzel, ich kann Ihnen sagen: Da stimmen wir völlig überein. Insofern sollten auch diese beiden genannten - die
tiefenpsychologisch-analytische und die Verhaltenstherapie - herausgenommen und die Formulierung allgemein gehalten werden.
Ich darf wieder fortfahren. Siebtens. In den Übergangsvorschriften sind Mindesttätigkeitszeiten genannt, die von den Psychologen nachzuweisen sind. Diese Zeiten sagen nichts aus, wenn die Qualität und der Inhalt der Tätigkeit nicht einbezogen werden. Hier bedarf es einer Präzisierung.
Achtens. Ebenso ist dies erforderlich bei der dreijährigen psychotherapeutischen Zusatzausbildung für Bewerber, die im Berufsleben stehen, da unklar ist, wie diese Personen sie erwerben sollen.
Neuntens. Wenn es bei angestellten Psychotherapeuten einer mindestens achtjährigen Tätigkeit im Beruf bedarf, ohne daß die Qualität, gemessen an den Behandlungsfällen, in dieser Zeit berücksichtigt wird, trifft dies die Sache nicht und ist abzulehnen.
Zehntens. Zu klären ist weiter, ob alle derzeitig am Delegationsverfahren teilnehmenden Psychologischen Psychotherapeuten den geforderten strengen Qualitätsvoraussetzungen genügen, wenn sie nach dem Gesetz die Möglichkeit erhalten sollen, innerhalb von drei bzw. fünf Jahren eine Ausbildung nachzuholen, ohne daß die Kenntnis der Ausbildungs- und Prüfungsordnung gegeben ist.
({0})
Zu einigen der aufgeführten Punkte hat die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme auf die Bundesratskritik ja schon positiv zustimmend geantwortet. Wir gehen deshalb davon aus - da stimmen wir wiederum mit Ihnen überein -, daß nach der Anhörung während der Beratung des Gesetzes im Ausschuß weitere Korrekturen möglich sind. Sie haben sie ja heute sogar signalisiert.
({1})
Es wird insofern von uns begrüßt, daß von der sonstigen Handlungsweise der Regierungskoalition - die Augen zu und durch, um das Ende der Legislaturperiode zu erreichen - abgewichen wird, egal, was die SPD-Opposition sagt.
({2})
- Ich weiß doch, daß es Ihnen Spaß macht.
({3})
- Dann haben wir Sie. Sie können als Unfallchirurg ja helfen.
Streiten wir uns parlamentarisch und korrigieren wir. Auf unserer Seite, auf der Seite der SPD, sind stichhaltige und zutreffende Argumente. Dies müssen
Sie zugeben, und Sie haben sie ja teilweise auch schon akzeptiert.
Ich danke Ihnen.
({4})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/5890 und 12/5913 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Punkt 7 a und b der Tagesordnung auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Jürgen Meyer ({0}), Günter Graf, Dr. Hans de With, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung und Massenkriminalität
- Drucksachen 12/3633, 12/5452 -
b) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zur Gründung von Europol
- Drucksache 12/4378 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({1}) Rechtsausschuß
EG-Ausschuß
Haushaltsausschuß
Zur Großen Anfrage liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Als erster wird in der Aussprache Professor Dr. Jürgen Meyer sprechen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kriminalität ist eine Erfahrung, die keiner Gesellschaft erspart bleibt. Die Kriminalitätsentwicklung sagt immer auch viel über den Zustand einer Gesellschaft aus. Aber es war einer der Irrtümer der marxistischen Kriminologie, daß die Entstehung kriminellen Verhaltens nur mit den Verhältnissen in einem bestimmten Gesellschaftssystem, nämlich im Kapitalismus, zu tun hätte. Sie hat zwar auch damit zu tun, aber die Behauptung von Friedrich Engels, es fielen - ich zitiere - „die Verbrechen gegen das Eigentum von selbst da weg, wo jeder erhält, was er zur Befriedigung seiner natürlichen und geistigen Triebe bedarf", ist durch die Wirklichkeit längst widerlegt worden.
Wer sich als Kriminologe mit den Ursachen und Erscheinungsformen von Straftaten befaßt, darf nicht nur Soziologe und auch nicht nur Jurist sein. Er muß sich auch um Grundkenntnisse in den Bezugswissenschaften wie Psychologie und Psychiatrie, Anthropologie und Kriminalpädagogik und nicht zuletzt Statistik bemühen. Es geht also um ein sehr komplexes Problem. Das hat allerdings noch keinen Stammtisch und noch keinen Wahlkämpfer daran gehindert, letzte Weisheiten über die Entwicklung der Kriminalität zu verkünden.
Mit ihrer Anfrage zum Thema „Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung und Massenkriminalität" hat die SPD-Fraktion drei Ziele verfolgt. Wir wollten erstens durch Erstellung eines Lagebildes zur Aufklärung über einen Kriminalitätsbereich beitragen, bei dem wir inzwischen statt von Alltagskriminalität richtiger von Massenkriminalität sprechen können.
Wir wollten zweitens die politische Diskussion auf die Tatsachen lenken, die vor allem für das dramatisch gesunkene Sicherheitsgefühl der Bevölkerung ursächlich sind. Deshalb haben wir zwischen der Massenkriminalität einerseits und der organisierten Kriminalität andererseits unterschieden. Die organisierte Kriminalität ist Gegenstand einer zweiten, bis heute leider noch nicht beantworteten Großen Anfrage. Um Geldwäsche oder gar den sogenannten großen Lauschangriff geht es heute also nicht.
Drittens wollten wir die Bundesregierung zur Vorlage überzeugender Lösungskonzepte veranlassen, mit denen die besorgniserregende Entwicklung gewiß nicht ganz rückgängig gemacht, aber doch gestoppt werden kann.
Vor allem dieses dritte Ziel hat die Bundesregierung in ihrer Antwort weit verfehlt. Die Antwort ist ein Dokument der Ratlosigkeit gegenüber den Herausforderungen, die mit der Gefährdung des inneren Friedens verbunden sind.
({0})
Das Lagebild ist im wesentlichen bekannt und wird von der Bundesregierung noch einmal bestätigt.
({1})
Herr Kollege Marschewski, damit Sie sich etwas beruhigen, will ich zunächst einmal feststellen: Die Bundesregierung rechnet zur Massenkriminalität - insoweit zutreffend - vor allem die Diebstahlsdelikte, von denen 1992 über 3,9 Millionen Fälle in der polizeilichen Kriminalstatistik erfaßt worden sind. Diese Delikte machen mehr als drei Fünftel, in den neuen Bundesländern sogar über zwei Drittel aller registrierten Straftaten aus. Das Bild sähe wesentlich besorgniserregender aus, wenn man insbesondere die Gewaltdelikte hinzufügte, die, obwohl massenhaft begangen, von der Bundesregierung nicht der Massenkriminalität zugerechnet werden.
Einzelne Zahlen zeigen die bedrohliche Tendenz: Die Zahl der Wohnungseinbrüche stieg in Westdeutschland von 1982 bis 1992 urn 43 %, von rund 129 000 auf rund 174 000. Die Aufklärungsquote sank von 24,9 % auf 14 %. Die Zahl der gestohlenen Kraft15774
Dr. Jürgen Meyer ({2})
fahrzeuge stieg allein von 1991 bis 1992, also in einem Jahr, um 30 %, von 89 000 auf 116 000.
({3})
Die Aufklärungsquote sank binnen eines Jahres von 28 % auf 24,5 %.
Tatopfer sind vielfach sozial Schwächere. Beim Handtaschenraub waren 55,6 % der Opfer ältere Menschen ab 60 Jahre. Ebenso besorgniserregend ist, daß bei sonstigem Straßenraub 14,9 % der Opfer Jugendliche, 8,9 % Heranwachsende und 8,7 % Kinder ab sechs Jahren waren.
Gestiegene Kriminalität, gesunkene Aufklärungsquoten und schwindendes Sicherheitsgefühl der Bevölkerung sind ein trauriges Ergebnis auch von über zehn Jahren konservativer Wendepolitik. Die Zahlen sprechen für sich.
({4})
Es gibt keinen Königsweg zur Lösung aller aktuellen Probleme, aber es gibt doch sehr konkrete und unter Fachleuten übrigens völlig unbestrittene Handlungsmöglichkeiten, mit denen man die besorgniserregende Entwicklung deutlich zurückdrängen könnte.
({5})
Aber dazu muß man eben handeln, statt sich im Ankündigen oder Aussitzen zu üben.
Ich nenne vier Beispiele. Obwohl längst bekannt ist, daß dem bedrohlich angestiegenen Diebstahl von Kraftfahrzeugen durch die Diebstahlssicherungen wirksam begegnet werden könnte - nun zitiere ich aus der Antwort der Bundesregierung -, „beabsichtigt" die Bundesregierung erst jetzt „Gespräche" über entsprechende Maßnahmen auf freiwilliger Basis mit den Verbänden der Automobilindustrie und der Versicherungswirtschaft zu führen. Das ist dasselbe Kooperationsmodell, das im Umweltschutz längst gescheitert ist. Die Leidtragenden sind die Kraftfahrer, deren Kasko- und Teilkaskoversicherungsbeiträge kürzlich massiv, teilweise um mehr als 30 % erhöht werden mußten. Sie sind Opfer der Untätigkeit der Bundesregierung angesichts des sprunghaften Anstiegs der Kraftfahrzeugdiebstähle.
Als zweites Beispiel nenne ich die Tatsache, daß die Bundesregierung ausweislich ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage für ein Aktionsprogramm gegen rechtsextremistisch motivierte und ausländerfeindliche Ausschreitungen jährlich lediglich 20 Millionen DM zur Verfügung stellt und den Einsatz dieser geringen Mittel groteskerweise - ich zitiere wieder -, „um die finanziellen Mittel nicht zu sehr zu streuen" , auf die neuen Bundesländer beschränken will. Hält die Bundesregierung eigentlich derartige Programme in Westdeutschland für überflüssig? Sie tut so, als ob es die Verbrechen in Mölln und Solingen nie gegeben hätte.
({6})
Ein weiteres Beispiel ist die Untätigkeit der Bundesregierung angesichts der durch Massenkriminalität verursachten und ausweislich ihrer eigenen Antwort deutlich gestiegenen Schäden. Bekanntlich könnte der Anreiz zur Begehung derartiger Straftaten durch eine konsequente Gewinnabschöpfung zurückgedrängt werden. Den Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion, der eine obligatorische Nebenstrafe der Gewinnabschöpfung vorsieht, hat man ohne nähere Begründung abgelehnt. Das Versprechen, das Recht des Verfalls und der Einziehung zu reformieren, hat die Bundesregierung bis zum heutigen Tage nicht eingelöst.
({7})
Die Folgen liegen auf der Hand. Jährlich werden mehr als 4 Millionen Straftaten gegen Eigentum und Vermögen registriert, aber nur gegen 30 bis 70 Verurteilte wird der Verfall von Vermögenswerten angeordnet.
Ich nenne ein viertes Beispiel. Nach der Antwort der Bundesregierung ist ein hoher Anteil von annähernd 30 % der Wohnungseinbrüche auf Beschaffungskriminalität zurückzuführen, in Ballungsräumen sogar deutlich mehr. Trotzdem gibt die Bundesregierung ihren ideologischen Widerstand gegen Substitutionsprogramme, die erwiesenermaßen Beschaffungskriminaltität deutlich zurückdrängen, immer noch nicht auf. Die Folgen werden in der Antwort der Bundesregierung deutlich dokumentiert. Bei den Wohnungseinbrüchen hat Deutschland eine traurige Spitzenstellung auf dem westeuropäischen Kontinent.
Herr Professor Meyer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege, da Sie so fröhlich dabei sind, Verantwortung zuzuweisen: Wer trifft denn eigentlich bei dem erweiterten Verfall oder bei dem Einzug von Vermögen die Entscheidung: der Richter oder die Bundesregierung?
({0})
Herr Kollege, diese Frage hätten Sie eigentlich selbst beantworten können.
({0})
Der Richter wendet die Gesetze an, und die Gesetze macht der Bundestag auf Grund von Initiativen in aller Regel der Bundesregierung. Die Bundesregierung hat eine solche Initiative angekündigt. Es ist völlig unstreitig, daß das Recht von Verfall und Einziehung reformierungsbedürftig ist.
({1})
Die Bundesregierung hat eine Zusage zu einer Initiative gemacht, aber bis heute nicht eingelöst. Das ist die Antwort.
({2})
Statt konkrete Handlungskonzepte anzubieten, flüchtet die Regierung in ihrer Antwort in ErklärungsDr. Jürgen Meyer ({3})
versuche, die dort, wo sie zutreffen, geradezu ein Offenbarungseid der Politik dieser Regierung sind. So wird ausdrücklich eingeräumt, daß Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und fehlende Zukunftsperspektiven unbestreitbar eine Ursache für den Anstieg der Kriminaltität sind. Im Programm der CDU, das sie auf ihrem Berliner Parteitag am 14. September 1993 verabschiedet hat, heißt es dazu unter Ziffer 9 - ich zitiere -:
Berufliche Ausbildungsdefizite und Arbeitslosigkeit können die Anfälligkeit gegenüber kriminellen Einflüssen erhöhen.
({4})
Die Förderung der beruflichen Bildung und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sind daher auch unter dem Gesichtspunkt der Kriminalitätsvorbeugung wichtig..
({5})
- Ja, meine werten Kollegen von der CDU, das ist völlig richtig.
({6})
Aber wenn man das liest, wird man doch fragen dürfen: Wer regiert eigentlich seit elf Jahren in der Bundesrepublik Deutschland? Wer trägt denn eigentlich die Verantwortung für die von der Bundesregierung nunmehr - wenn auch reichlich pauschal - selbst eingeräumten Mängel der Arbeits- und Sozialpolitik, der Bildungs- und Ausbildungspolitik und schließlich der Jugend- und Familienpolitik?
Aber es geht ja noch weiter. Die Bundesregierung erkennt in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage zutreffend, daß Kriminalität auch mit dem Wertesystem, das in der Gesellschaft gilt, engstens verbunden ist. Sie versucht, den Anstieg der Massenkriminalität auf einen gesamtgesellschaftlichen Werte- und Strukturwandel zurückzuführen. Unter Ziffer 7 des erwähnten Parteitagsbeschlusses der CDU heißt es zu diesem Thema - ich zitiere -:
Das Anwachsen der Massenkriminalität spiegelt einen gesellschaftlichen Wertewandel wider. Achtung vor Leib und Leben, fremdem Hab und Gut, Solidarität mit den Mitmenschen, Rechts- und Unrechtsbewußtsein haben abgenommen.
Völlig zutreffend. Aber sind derartige Erklärungen nicht auch ein Offenbarungseid einer Regierung und einer Regierungspartei, die vor elf Jahren mit der vollmundigen Verheißung angetreten sind, eine geistig-moralische Wende herbeizuführen?
({7})
Der Anstieg der Kriminalität allein in Westdeutschland von 4 Millionen auf mehr als 5 Milionen registrierte Straftaten, also um 25 % seit 1982, dokumentiert das Scheitern der Wendepolitik von
Diese Regierung muß sich fragen lassen, ob das von ihr so beredt beklagte Verblassen des Grundwertes Solidarität nicht mitverursacht wurde durch eine Politik der sozialen Kälte, aber auch durch den von Bundeskanzler Kohl unterlassenen Aufruf zur Solidarität, z. B. angesichts der ökonomischen Folgen der deutschen Wiedervereinigung, die der Bundeskanzler statt dessen in zurückliegenden Wahlkämpfen lieber beschönigt und geleugnet hat.
Die von dieser Regierung mit zu verantwortende zunehmende Verarmung, die völlig unzureichende Wohnungsbaupolitik, die erfolglose Arbeitsmarktpolitik und die Begünstigung rücksichtslosen individuellen Erfolgsstrebens gegenüber mitmenschlicher Solidarität fordern einen Preis, der sich auch und nicht zuletzt in der Kriminalitätsbelastung ausdrückt.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich auf ein weiteres Problemfeld eingehen, das eng mit der geschilderten Entwicklung zusammenhängt. Die Bundesregierung berichtet in ihrer Antwort über geradezu explodierende Umsatzzahlen des privaten Sicherheitsgewerbes. Dies ist einer der wenigen Wirt' schaftsbereiche, die gegenwärtig noch einen starken Boom haben. Der Umsatz im Bereich der Sicherheitsdienstleistungen ist nach der Auskunft der Bundesregierung allein in den beiden Jahren von 1990 bis 1992 von 2,4 auf 3,2 Milliarden DM gestiegen, also um 331/3%.
Hinzu kommen die Umsätze von Unternehmen, die im Bereich der Grundstücks-, Gebäude- und Schiffsbewachung tätig sind oder mechanische und elektronische Sicherheitseinrichtungen anbieten. Diese Unternehmen machen nach Angaben der Bundesregierung Umsätze in Höhe von etwa 10 Milliarden DM mit steigender Tendenz.
({1})
Seriösen Quellen ist zu entnehmen, daß die Anzahl privater Sicherheitsbediensteter mittlerweile die Zahl der Polizeibeamten übersteigt.
({2})
Sie, meine Damen und Herren, können mit uns durchaus über eine Aktivierung der Eigenverantwortung von Bürgerinnen und Bürgern beim Schutz der eigenen Rechtsgüter reden.
({3})
Allerdings - und ich hoffe, daß wir da auch übereinstimmen - darf dadurch niemals das Gewaltmonopol des Staates in Frage gestellt werden.
({4})
Es ist - und da sind wir uns hoffentlich auch einig - eine elementare Aufgabe des Staates, für die innere Sicherheit und damit auch den Grundrechtsschutz aller Bürger zu sorgen. Die geschilderte Entwicklung belegt, daß das Vertrauen der Bürger in die Erfüllung dieser Aufgaben durch den Staat sinkt. Nach Auffassung der SPD darf aber Sicherheit nicht zum Reichenprivileg werden. Ich hoffe, daß Sie uns auch darin zustimmen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, auf die notwendige Stärkung der Polizei wird mein Kollege
Dr. Jürgen Meyer ({5})
Günter Graf nachher näher eingehen. Ich will noch zwei andere Fragen ansprechen.
Statt in einer schwierigen Situation alle Anstrengungen zu verstärken, um die sozialen Ursachen von Kriminalität zurückzudrängen und die konkreten Handlungsmöglichkeiten zu nutzen, die ich eingangs erläutert habe, eröffnet die CDU eine Diskussion, die ich für außerordentlich gefährlich halte. Das altbekannte und immer wieder gescheiterte Rezept, auf schwere Straftaten mit neuen und immer schärferen Gesetzen zu reagieren, ohne die bestehenden Gesetze zunächst einmal auszuschöpfen, soll nunmehr der Kriminalität junger Menschen gelten.
({6})
Die CDU verlangt eine Verschärfung des Jugendstrafrechts.
({7})
Nach unserer Auffassung muß sehr gründlich geprüft werden - und ich denke, da wird auch in der Koalition wenigstens gestritten -, ob das Jugendstrafrecht Defizite hat und welche das gegebenenfalls sind. Schnellschüsse sind gerade in diesem Bereich kaum verantwortbar. Wir werden deshalb demnächst eine Große Anfrage zur aktuellen Situation der Jugendkriminalität, zu ihrer Bewertung und zu eventuellen Konsequenzen im Jugendstrafrecht vorlegen. Aufklärung und Nachdenken sind in diesem Bereich offenbar notwendig.
Auch aus unserer Sicht ist die Gewaltkriminalität junger Menschen ein Problem. Aber ehe wir in diesem Bereich noch mehr als bisher mit Strafrecht reagieren, sollten wir auch überlegen, ob nicht viele junge Menschen in unserem Land auch Opfer von Mängeln unseres Erziehungssystems, ja Opfer unseres eigenen Versagens in diesem Bereich sind.
Ich will noch eine Bemerkung zur sogenannten Ausländerkriminalität machen, über die sich der neue Innenminister zunehmend wenig verantwortlich äußert. Es ist richtig: Wir haben das Problem ein- und ausreisender Straftäter, darunter z. B. Drogenhändler. Insoweit kann man von importierter Kriminalität sprechen. Diese Täter sollen bekanntlich möglichst bei der Einreise abgefangen werden. Deshalb hat sich die Bundesregierung zu Ausgleichsmaßnahmen für Sicherheitsdefizite als Folge des Wegfalls der Kontrollen an den EG-Binnengrenzen verpflichtet.
Aber Herr Kanther bringt es bisher nicht fertig, die über 5 000 beim Bundesgrenzschutz vorgesehenen Planstellen zu besetzen. Da muß ja wohl gehandelt werden!
({8})
- Wir reden vom Bundesgrenzschutz, lieber Herr Kollege.
Es ist weiter richtig, daß es international operierende Straftäter gibt, die Schutz unter dem Dach des Asylrechts suchen. Deshalb ist vorgesehen, die zumeist offensichtlich unbegründeten Anträge dieser Beschuldigten vorzuziehen und sofort zu bescheiden. Zuständig ist das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge, für das der Innenminister verantwortlich ist.
Mein Kollege Wartenberg hat neulich darauf hingewiesen, daß ausweislich einer Stichprobe allein die Ausländerbehörde in Hannover - das zur Meldung durch die Länder, verehrter Kollege - das Bundesamt in 14 Fällen seit mehreren Monaten vergeblich an die Bearbeitung der Anträge potentieller Betäubungsmitteltäter erinnert.
Wann handelt die Bundesregierung? Warm sorgen Sie endlich dafür, daß die Ihnen unterstehende Behörde den Verwaltungsvorgang nach dem neuen § 36 Abs. 2 des Asylverfahrensgesetzes unverzüglich dem zuständigen Verwaltungsgericht zuleitet? Dieses soll binnen einer Woche über Eilanträge entscheiden können. Aber das Bundesamt braucht für die Verwendung der Akten meistens sechs Wochen, manchmal sogar zwei bis drei Monate.
Tun Sie also Ihre Pflicht, meine Damen und Herren in der Regierung, statt die von mir geschilderten Fälle als Einzelfälle herunterzureden! Tun Sie Ihre Pflicht, statt über Ausländerkriminalität zu räsonieren!
({9})
Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren, die SPD-Fraktion legt Ihnen einen Entschließungsantrag vor, mit dem wir die Bundesregierung zum Handeln auffordern. Sie finden dort eine Reihe sehr konkreter Forderungen, denen dieses Parlament seine Zustimmung eigentlich nicht versagen kann. Statt wie so oft in kurzatmigen gesetzgeberischen Aktionismus zu verfallen, sollte die Bundesregierung endlich ein Gesamtkonzept vorlegen, aus dem sich ergibt, wie sie den kriminalitätsverursachenden sozialen Mißständen entgegenwirken will, die insbesondere das weitere Ansteigen von Massenkriminalität begünstigen.
Ob die Bundesregierung zur Erarbeitung eines solchen Konzeptes in der Lage ist, muß angesichts der Antwort auf unsere Große Anfrage bezweifelt werden. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Kompetenz der Regierung im Bereich der inneren Sicherheit ist nicht zuletzt, wie wir alle wissen, durch die Ereignisse von Bad Kleinen schwer erschüttert. Es muß wiederhergestellt werden.
Herr Dr. Meyer, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich komme zum letzten Satz: Aber das und die Erarbeitung einer neuen und besseren Sicherheitspolitik wird wohl die Aufgabe einer neuen Bundesregierung sein.
Ich danke Ihnen.
({0})
Als nächster spricht der Abgeordnete Marschewski.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Große Anfrage der SPD zum Thema „Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung und Massenkriminalität" stellt den ebenso
durchsichtigen wie untauglichen Versuch dar, die Kriminalpolitik der Bundesregierung an den Pranger zu stellen. So ist in der Anfrage zu lesen:
Die gegenwärtige Sicherheits- und Kriminalpolitik der Bundesregierung trägt dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung schon lange nicht mehr Rechnung.
Dies ist zum ersten falsch. Zum zweiten stellt diese Behauptung eine Unverfrorenheit dar; denn für die Kriminalpolitik sind die Länder verantwortlich, und Sie haben in den meisten Ländern nun die Mehrheit. Zum dritten soll diese Behauptung offensichtlich verdecken, daß es bei der SPD an der gebotenen Kompetenz in Fragen der inneren Sicherheit fehlt.
({0})
Lassen Sie mich zunächst einmal klarstellen, inwieweit wir als Bundespolitiker, auf Bundesebene also, einen Beitrag zur inneren Sicherheit leisten können. Unsere Kompetenzen sind begrenzt. Nach der grundgesetzlichen Aufgabenverteilung ist die Polizei Sache der Länder. Dies gilt auch für die Gesetzgebung im Polizeirecht. Der Bund ist in eigener Verwaltung, das wissen Sie, nur zuständig für das Bundeskriminalamt und für den Bundesgrenzschutz. Wir haben eine Gesetzgebungskompetenz auf den Gebieten des Strafrechts und des Strafprozeßrechts.
Es ist daher nicht verwunderlich, sondern logisch zwingend, daß sich ein großer Teil der Vorschläge der Bundesregierung und der CDU/CSU-Fraktion zur Kriminalitätsbekämpfung auf Maßnahmen zur Verbesserung des gesetzlichen Instrumentariums bezieht.
Es ist demgegenüber unverständlich, wenn die SPD solche Mißstände im Bereich der inneren Sicherheit, die nur durch polizeiliche Maßnahmen behoben werden können, dem Bund anlastet, tragen doch vielmehr - ich sage das noch einmal - die SPD-regierten Bundesländer - das sind ja die meisten - hierfür die Verantwortung.
Herr Professor Meyer, was hat die SPD denn bei der Kriminalitätsbekämpfung zu bieten? Sie haben nach langem Zögern einen Leitantrag zum Bundesparteitag vorgelegt. Ich will Ihnen sagen, was in dem Leitantrag steht. Ihre Vorschläge sind: Straffreiheit für Sitzblockaden, Straffreiheit für Schwarzfahren, Straffreiheit für Haschbesitz.
({1})
Wollen Sie wirklich durch diese Maßnahmen Kriminalität bekämpfen?
({2})
Nun zur Verbesserung des von Ihnen genannten Instrumentariums: Der verdeckte Ermittler soll sich nicht der Szene gerecht verhalten dürfen, sagen Sie. Da er keine Straftat begehen darf, ist beispielsweise zu fragen: Wie soll ein verdeckter Ermittler im Rauschgiftgeschäft beteiligt sein, wenn es ihm verboten ist, sich milieubedingt zu verhalten? Wie soll er beispielsweise die Geldwäsche mitmachen, um dann die Täter zu überführen?
Ihr Programm, meine Damen und Herren, zum Lauschangriff - besser gesagt: zum Einsatz technischer Mittel in Gangsterwohnungen - ist kein gutes Programm, Herr Professor Meyer. Die haben mit 10: 9 Stimmen denkbar knapp folgendes entschieden: Bevor es möglich ist, einen Gangster zu überwachen, soll erstens eine Anordnung des Ministers da sein, soll zweitens eine parlamentarische Kommission dies bestätigen, soll drittens der Antrag an ein Kollegialgericht gesandt werden und viertens dieses Gericht entscheiden. In der Zeit sind bereits en masse Verbrechen begangen worden. Das ist doch keine Lösung der Probleme, die wir anstreben, meine Damen und Herren.
({3})
Wir wissen: Auch bei uns hat die Gewaltbereitschaft zugenommen. Das ist richtig. Viele Menschen sind betroffen. Mir macht Sorgen: Obwohl wir die höchste Richterdichte der Welt haben, obwohl wir in bezug auf die Strafverfolgungsorgane keinen Vergleich zu scheuen brauchen, sinkt das Vertrauen der Bevölkerung in diese Organe. Umfragen und Diskussionen belegen dies. Und wer nicht selbst betroffen ist - wir wissen dies -, bekommt über das Fernsehen die Szene Frankfurts oder anderer Städte geschildert. Dies ist sicherlich bedrohlich.
Wir legen nicht nur ein Paket vor, um Gesetze zu ändern, meine Damen und Herren von der SPD. Wir beschäftigen uns schon mit den Ursachen. Natürlich wissen wir, daß die Öffnung der Grenzen zur ehemaligen DDR und zu Osteuropa möglicherweise eine Rolle spielt. Natürlich wissen wir um die sozialen Probleme. Aber ich weiß auch, meine Damen und Herren, um den Verlust der Grundwerteübereinstimmung, der von den 70er Jahren ausgegangen ist. Die Folge ist doch offensichtlich: keine Achtung vor Leib und Leben, Gewalt gegen Ausländer, Sachbeschädigung wird als gerechtfertigt angesehen.
Meine Damen und Herren, es gelingt den wertbildenden Institutionen immer seltener, den Menschen eine Orientierung zu geben. Ich will Ihnen eines sagen - und da trifft Sie sicher die geistige Verantwortung mit -: Wer jahrelang einer mißverstandenen antiautoritären Erziehung das Wort geredet hat
({4})
und heute genervt wie hilflos vor den Folgen seines kindesverachtenden Manövers sitzt, hat zur Entwurzelung beigetragen und sich mitschuldig gemacht.
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Die 70er Jahre waren ein egoistischer Irrweg der totalen Selbstverwirklichung, der jugendlichen Rundumfreiheit. Das sind doch keine Begriffe, die wir als Christdemokraten gebraucht haben. Dies hat den Materialismus gefördert, dies hat den Nihilismus gefördert, hat zum Konsumdenken, zum Egoismus in hohem Maße beigetragen.
Wir denken über einen Weg zur Änderung nach. Natürlich muß eine gesellschaftliche Diskussion über
Ursachen und Wirkungen der Kriminalität geführt werden. Die Gewalt muß geächtet werden. Das Normgefüge muß akzeptiert werden.
Meine Damen und Herren, zu unserer Position: Wenn es um Recht geht, darf der Staat keinen Fingerbreit Boden aufgeben, sonst gibt es sich selbst auf. Es darf doch einfach nicht sein, daß der Ladendiebstahl, nur um Statistiken zu schönen, nicht länger als Straftat gilt, sondern als Ordnungswidrigkeit. Es darf doch einfach nicht sein, daß die Sachbeschädigung, daß die Nötigung, daß der Widerstand bei politischen Auseinandersetzungen nur noch selten bestraft wird, daß der Fahrraddiebstahl bei Kindern nur noch als Unartigkeit, daß das Beschmieren der Hauswände als Bagatelle gilt.
Meine Wertung ist - wenn Sie ehrlich sind, Herr Meyer, verstehen Sie sie -: Das traditionelle Rechtsbewußtsein ist im Laufe der letzten zwanzig Jahre - und dazu gehören Sie genauso - gleichsam von oben herunter abgeschafft worden. Es ist leider unmöglich, es auf die gleiche Art und Weise wieder zu schaffen, obwohl dies eigentlich zu den dringendsten Aufgaben der Gesellschaft gehört.
Wir brauchen Erziehung, wir brauchen Familie. Ich sage Ihnen: Jede Mark, die wir in die Familie stecken, sparen wir doppelt und dreifach im Kampf gegen Drogen und gegen Randale. Das ist sicherlich eine Erfahrung, die wir gemacht haben.
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Ein Zweites, das genauso wesentlich ist, ist die Medieneinwirkung. Allabendlich wird Gewalt über die Medien eingeübt: Raub, Erpressung. In einer Woche hat Norbert Geis dort 480 Morde gezählt. Es gibt das Machwerk „Wie kann ich einen Mordanschlag auf den Bundeskanzler verüben?" Die Damen und Herren des Fernsehens, die dies mitmachen, machen sich an der Verbreitung von Gewalt mitschuldig.
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Lassen Sie mich weitere Bereiche nennen, in denen unsere Rechtsordnung der Verbesserung bedarf. Es ist nicht richtig, wie es Herr Meyer gesagt hat, daß wir trennen können: auf der einen Seite organisierte Kriminalität und auf der anderen Seite Massenkriminalität. Das mag die Universität in Freiburg noch hergeben, Herr Professor Meyer, aber die Praxis ist leider anders. Diese Dinge hängen zusammen, und das wissen Sie.
Wir haben vor einer Woche Besuch in Bonn gehabt. Der Italiener Luciano Violante war bei uns im Innenausschuß. Er hat uns gesagt, wie wichtig es ist, mit rechtstaatlichen Mitteln der Kriminalität, insbesondere der Mafia, Grenzen zu setzen. Dazu gehört der Einsatz technischer Mittel in Gangsterwohnungen. Sie werden das hoffentlich auf Ihrem Parteitag beschließen.
Was mich zunächst stört, ist das Wort „Lauschangriff". Denn es geht bei der Überwachung von Gangsterwohnungen um den Schutz der Freiheit. Wir
wollen Verbrecherbossen das Handwerk legen, die skrupellos unsere Kinder in die Drogensucht treiben, die Mord ohne jede Regung bestellen. Diese Gangster müssen eigentlich über die Diskussionen lachen, die wir in Parlamenten und in der Öffentlichkeit über dieses Gesetzesvorhaben führen.
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Natürlich schützt die Verfassung die Privatsphäre - das ist keine Frage -, die Unverletzlichkeit der Wohnung und die Würde des Menschen. Sie schützt aber genauso Leib und Leben. Für mich ist die Gesundheit meiner Kinder und Ihrer Kinder, der Mitmenschen allemal wichtiger als jeder Quadratmeter meiner Wohnung. Ich halte dies für richtig.
Wir sind kein Bespitzelungsstaat. Ich habe Vertrauen zur Polizei, zur Staatsanwaltschaft und zu den Gerichten. Sie sind an Recht und Gesetz gebunden. Sie kennen die Erfolge gerade in Italien. Dort sind in der vergangenen Woche 200 Mafiosi verhaftet worden; das wissen Sie. Ist denn Italien, weil die AntiMafia-Gesetze beschlossen wurden, zum Polizeistaat degeneriert?
In Italien - ich kenne dieses Land - gibt es viel Freiheit, aber auch viel praktische Vernunft, von der die so effektiven Deutschen, so meine ich, lernen sollten.
Wir brauchen eine Verstärkung im Bereich des verdeckten Ermittlers. Wir brauchen den Zeugenschutz. Es nützt doch nichts, wenn wir Leute aus dem Bereich der organisierten Kriminalität vernehmen und diese Angst haben, das Gerichtsgebäude zu verlassen, weil sie um ihr Leben und um das Leben ihrer Familien und ihrer Kinder fürchten müssen. Wir brauchen die Kronzeugenregelung für die organisierte Kriminalität und andere Dinge.
Sie haben vorhin davon gesprochen, daß die Koalition ihre Pläne auf den Tisch legen soll. Wir werden das tun. Wir haben uns auf dem Petersberg getroffen. Sie wissen, daß wir im vorigen Jahr das Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität beschlossen haben. Dazu hat die SPD nein gesagt.
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Sie wissen, daß wir jetzt im Bundesrat das Geldwäschegesetz beschlossen haben und daß wir in dem Bereich sehr aktiv sind. Wir werden diese gesetzlichen Maßnahmen vervollkommnen. Herr Professor Meyer, hoffentlich teilen Sie meine Meinung, daß es richtig ist, daß wir die Körperverletzungs- und die Gewaltdelikte höher bestrafen als die Vermögensdelikte.
Uns ist doch der Satz bekannt: Spätes Recht ist halbes Recht. Wir denken darüber nach, die Verfahren erheblich zu beschleunigen. Es kann doch nicht sein, daß in Italien Personen, die in Fußballstadien randalieren, festgenommen und schnell verurteilt werden und ihre Strafe absitzen, während es in Deutschland ein halbes Jahr, ein Jahr oder noch länger dauert. Spätes Recht ist halbes Recht.
Wir haben die Möglichkeit und sind gesetzlich gehalten, im Wege der strategischen Kontrolle zur Abwehr eines möglichen Angriffs auf Deutschland über Fernsehsatelliten, über Richtmikrophone und
über ähnliche Dinge mitzuschneiden. Sie wissen, daß bei diesem Mitschneiden eine Menge an organisierter Kriminalität, an Proliferation, an Rauschgiftdelikten und an Prostitution von uns in Massen erkannt wird. Wir können mit diesem Material nichts machen. Es ist doch wohl richtig, darüber nachzudenken, daß wir dann dieses Vorfeld insbesondere im Ausland beobachten.
Ein Wort zu Europa. Es reicht sicherlich nicht aus, da national zu denken. Wir haben immer wieder gesagt: Europa soll ein Europa der Bürger sein und nicht ein Europa der Gangster. Deswegen haben wir heute noch dem Bundeskanzler vorgetragen - dies wird realisiert -, daß Europol seine Arbeit in kurzer Zeit voll aufnehmen, daß SIS seine Arbeit voll aufnehmen kann.
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Ich kann nicht einsehen, daß, wenn unsere Polizei Gangster nach Holland verfolgt, sie die Verfolgung nach zehn Kilometern abbrechen muß, weil wir nicht weiter verfolgen können, oder daß sie in Frankreich erst die nächste Telefonzelle, meinetwegen eine rote Telefonzelle, suchen und anrufen muß, um einen Gangster, der in Deutschland erkannt wurde, zu verfolgen. Das sind Dinge, über die wir reden müssen.
Auch im Bereich der Polizei - Herr Graf wird sich dazu äußern - wollen wir natürlich Verbesserungen erreichen. Mich stört, daß die Polizei weiterhin mit sicherheitsfremden Tätigkeiten, mit Gefangenentransporten, mit Geldtransporten, mit Objektschutz beschäftigt wird. Mich stört auch manches bei der Besoldung der Polizei.
Ich habe die herzliche Bitte, daß die Polizeipräsenz auf Straßen und Plätzen wieder verbessert wird, daß man auch wieder einmal zu Fuß Streife geht, weil das Verbrecher abschreckt und dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung entsprechend entgegenkommt.
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Sie wissen, ich habe vorgeschlagen - das ist leider auf Kritik der Polizeigewerkschaft gestoßen -, jungen Männern die Möglichkeit zu geben, bei der Polizei quasi ihren Wehrdienst abzuleisten. Auch darüber werden wir zu reden haben.
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Die innere Sicherheit ist der Union - Sie haben dies an dem engagierten Vortrag sicherlich bemerkt - ein besonderes Anliegen. Wir stehen Ihren Vorschlägen natürlich sehr offen gegenüber. Machen Sie mit, meine Damen und Herren von der SPD! Bitte verweigern Sie sich nicht so lange, wie Sie das leider beim Asylrecht getan haben.
({13})
Ich habe - das möchte ich zum Schluß sagen - einen schönen Satz gelesen: Der Rechtsstaat, hat jemand zu Recht gesagt, sei die größte Erfindung des Menschen. Bewahren wir gemeinsam diesen Rechtsstaat!
Herzlichen Dank.
({14})
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Burkhard Hirsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Reden meiner beiden Vorredner machen es mir eigentlich unmöglich, bei meinem Manuskript zu bleiben. Deswegen sage ich vorweg: Es gilt auch das geschriebene Wort.
Herr Kollege Meyer, wenn Sie Ihre Vorlesung vor Praktikern in den Landtagen von Nordrhein-Westfalen, Hessen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Saarland, Brandenburg und Rheinland-Pfalz gehalten hätten, dann hätten sie kreisrund die Augen aufgerissen, wie leicht Sie die Verantwortung von den sozialdemokratischen Innenministern dieser Länder wegschieben wollen.
({0})
Es ist nun einmal so, daß die Innenminister der Länder für den großen Teil gerade der Kriminalität, über die Sie hier reden wollen, nämlich die Alltagskriminalität, und deren Bekämpfung verantwortlich sind und niemand sonst. Sie müssen eines erkennen: Die Bevölkerung ist nicht nur über das Ansteigen dieser Alltagskriminalität beunruhigt, sondern sie ist genauso über die Tatsache beunruhigt, daß die Fraktionen und die Parteien diese Kriminalität als einen innenpolitischen Knüppel gegeneinander nutzen.
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Wir werden, lieber Herr Marschewski, über manches an anderer Stelle reden. Ich will hier ganz bewußt keine Wanzendiskussion beginnen. Aber ich möchte etwas zu Ihrer Formel „Wanzen in Gangsterwohnungen" sagen. Sie haben uns selber Gesetze gezeigt, lieber Herr Marschewski, nach denen Wanzen nach Ihren Vorstellungen in Wohnungen von Personen eingesetzt werden sollen, die nicht einmal verdächtig sind, eine Straftat begangen zu haben.
({2})
- Nein, Sie täuschen sich.
Alle Fraktionen haben Thesen zur inneren Sicherheit vorgelegt. Ich freue mich, daß unsere Partner und Sie unsere Thesen wie einen Steinbruch benutzt haben, denn eigentlich müßte es doch das Ziel sein, zu einer Zusammenarbeit auch über die Koalitionsgrenzen hinweg zu finden. Wir wollen keine Schuldzuweisungen, sondern wir wollen gemeinsame Lösungen.
Für Liberale ist es eine selbstverständliche Pflicht, den Bürger nach Kräften vor Straftaten zu schützen und Gefahren für die innere Sicherheit mit den Mitteln des Rechtsstaats wirksam zu bekämpfen. Der innere Frieden einer Gesellschaft beruht ebenso auf der Freiheitlichkeit der Rechtsordnung wie auf der Sicher15780
heit ihrer Bürger. Beides gehört untrennbar zusammen. Der innere Frieden beruht auf beiden Voraussetzungen.
Sie haben gesagt, das Wort „Massenkriminalität" sei richtig, nicht „Alltagskriminalität". Ich halte das für völlig falsch. Die Masse der Bevölkerung ist nicht kriminell, sondern gesetzestreu. Wer die Alltagskriminalität - zu über 65 % Diebstahl, Kraftfahrzeugdiebstähle, Wohnungseinbrüche; gut 80 % der Täter handeln übrigens allein - wirksam bekämpfen will, muß die Instrumente in Ordnung bringen. Polizei und Justiz müssen gründlich modernisiert, personell verstärkt und für eine bessere internationale Zusammenarbeit ausgerüstet werden. Dabei ist viel versäumt worden. Man muß dem Bürger ehrlich sagen, daß innere Sicherheit viel Geld kostet.
Wir haben seit Jahren vergeblich die Innenminister von Bund und Ländern aufgefordert, das gemeinsame Sicherheitsprogramm von 1974 fortzuschreiben. Das ist liegengeblieben. Es ist zum einen in Auseinandersetzungen zwischen sozialdemokratischen und konservativen Innenministern liegengeblieben, und es ist zum anderen im Kampf mit den Finanzministern aus finanziellen Gründen liegengeblieben. Wir halten es für ein elementares Versäumnis, daß das so liegengeblieben ist. Die Polizei ist den sich wandelnden Verhältnissen nicht angepaßt worden.
Die Tatsache, daß die Grenzen geöffnet wurden, daß sich die Altersstruktur der Polizei, ihre Ausrüstung, ihre Kommunikationsmittel, ihre Arbeitszeit, die beruflichen Möglichkeiten außerhalb des öffentlichen Dienstes, die Arbeitsbedingungen als Folge der Wiedervereinigung, aber auch die Art der Kriminalität, die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung, die Aufgabenstellung völlig verändert haben, ist nur punktuell und fallweise im Rahmen eng gesetzter finanzieller Grenzen behandelt worden. Diese Versäumnisse können kurzfristig nicht mehr ausgeglichen werden. Das muß in Ordnung gebracht werden.
Darum fordern wir die Innenminister von Bund und Ländern dringend auf, die Fortschreibung dieses Sicherheitsprogramms bis zum Jahresende vorzulegen und eine für Bund und Länder maßgebliche mehrjährige personelle und finanzielle Zielplanung für die Modernisierung und die personelle Ausstattung der deutschen Polizei zu beschließen.
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Dazu gehört erstens die erhebliche personelle Verstärkung und die Entlastung von polizeifremden Aufgaben.
Dazu gehört zweitens natürlich die Verstärkung der örtlichen Präsenz, Streifen- und Bezirksdienst, die für das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung und für die präventive Straftatenbekämpfung von erheblicher Bedeutung ist.
Dazu gehört drittens die drastische Verbesserung der Zusammenarbeit mit den Kommunen zur Verhütung örtlicher Kriminalität.
Dazu gehört viertens natürlich auch die Einstellung ausländischer Polizeibeamter, ohne die in bestimmten ethnischen Gruppen der Wohnbevölkerung überhaupt nicht mehr ermittelt werden kann.
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Dazu gehört fünftens die Reorganisation des Bundeskriminalamtes und auch die drastische Verbesserung der Tätigkeit der polizeilichen Beratungsstellen, um die Mithilfe der Bevölkerung zu erreichen und Kriminalitätsschwerpunkte abzubauen.
Das ist zu einem erheblichen Teil Aufgabe und Zuständigkeit der Länder. Die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern muß genauso drastisch verbessert werden wie die polizeiliche Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn in West und in Ost.
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Es ist eine Katastrophe, daß der Ausbau von Europol - schauen Sie im Haushalt nach, welche lächerlichen Beträge für das nächste Jahr für Europol veranschlagt sind - daran scheitert, daß sich die Länder nicht auf einen Standort von Europol einigen können. Daran liegt es. Das ist wirklich ein Trauerspiel.
Ohne diese Modernisierung können Sie in die Gesetze schreiben, was Sie wollen; es wird nichts ändern. Natürlich gehören dazu auch Folgeänderungen im Bereich der Justiz, über die mein Kollege Herr van Essen sprechen wird.
Bei allen Sorgen, die uns die Entwicklung bereitet, und bei aller Entschiedenheit, die Dinge nicht treiben zu lassen, muß man allerdings auch vor Übertreibungen warnen. Die Kriminalität in der Bundesrepublik hat sich nicht anders entwickelt als in allen anderen vergleichbaren Industriestaaten westlicher Prägung. Dabei liegt die Bundesrepublik im unteren Mittelfeld. Darum ist es voreilig, die Ursachen vordergründig alten innenpolitischen Feindbildern zuzuweisen. - Die 68er-Studentenbewegung, lieber Herr Marschewski, liegt ein Vierteljahrhundert zurück.
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Sie hat nicht nur viel Ärger und politische Arbeit, sondern auch notwendige Reformen bewirkt,
({7})
wenn ich nur an die Emanzipation der Frau denke.
Die Ursache liegt auch nicht in einer Konfliktpädagogik, die Konflikte nicht bejubelte, sondern die lehren wollte, wie man mit Konflikten gewaltfrei umgehen kann. Die Alltagskriminalität hat soziale und gesellschaftliche Ursachen, die in den großen Industriestaaten ähnlich sind und die von Polizei und Gesetzen nur in ihren Symptomen erreicht werden.
Gegen die außerordentliche materielle Wertschätzung unserer Gesellschaft hilft nach meiner Überzeugung auch keine Beschwörung der traditionellen Werte. Zu einer modernen Industriegesellschaft gehört ein hohes Maß an Anonymität und Mobilität des täglichen Lebens. Plastikgeld, intensive Werbung und Selbstbedienung sollen Versuchungen schaffen
und tun es. Neue Techniken und neue Probleme erzeugen auch neue Straftaten im Bereich der Computerkriminalität sowie der Wirtschafts- und Umweltkriminalität.
Für die Beseitigung solcher Ursachen - wenn wir sie denn beseitigen wollen - gibt es keinen einfachen, keinen schnellen und keinen billigen Weg. Der Bürger selbst verhält sich - was seine Sicherheit angeht - widersprüchlich. Er will nicht mit überzogenen Überwachungseingriffen belästigt werden, aber er fordert mehr Sicherheit ein, zu der auch mehr Überwachung, mehr Gesetze und mehr Kontrollen gehören. Sie treffen jeden Bürger und nicht nur den Täter. Wer mehr Kontrollen will, muß sich auch mehr überwachen lassen.
Der Rechtsstaat und unsere Verfassung sehen den Bürger grundsätzlich als rechtstreu an und nicht als ein potentielles Sicherheitsrisiko. Er ist Bürger und nicht mutmaßlicher Straftäter. Darum setzt der Rechtsstaat Grenzen staatlicher Eingriffsmöglichkeiten, die es geben muß und die auch bleiben müssen, wenn er ein Rechtsstaat bleiben soll. Diese Grenze muß sorgsam behütet werden, das sind die Grundwerte unserer Verfassung.
Alexis de Tocqueville hat 1835 geschrieben - mit diesem Zitat möchte ich schließen -:
Die Menschen, die von der Leidenschaft für materielle Güter erfaßt sind, entdecken gewöhnlich, wie die freiheitliche Bewegung den Wohlstand stört, bevor sie inne werden, wie die Freiheit ihnen diese verschafft ... Lange Zeit hält sie die Angst vor Anarchie fortwährend in Atem, und sie sind schnell bereit, die Freiheit der ersten Unordnung preiszugeben. Ein Volk, das von seiner Regierung nichts fordert als das Wahren der Ordnung, ist in seinem Innersten bereits Sklave, es ist Sklave seines Wohlergehens.
Ich finde, es lohnt sich sehr, darüber nachzudenken.
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Als nächste spricht die Abgeordnete Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist für mich immer wieder bemerkenswert, festzustellen, welche Ängste und Gefühle der Bevölkerung ernstgenommen werden, welche dagegen völlig vernachlässigt werden. Es wird lauthals über das sinkende Sicherheitsgefühl der Bevölkerung geredet, und es werden martialische Rezepte zur Abhilfe diskutiert. Große Einigkeit, die auch kräftig geschürt wird, besteht in der Behauptung, wachsende Kriminalität sei für das Sinken des Sicherheitsgefühls verantwortlich.
Umfragen und wissenschaftliche Untersuchungen mögen da das glatte Gegenteil ergeben oder das Bild erheblich differenzieren. Alles egal; die Angst vor Kriminalität soll die Leute umtreiben.
Man könnte sich getrost der Deutung des früheren Direktors des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes, Hans-Werner Hamacher, anschließen, der
schon 1981 freimütig feststellte - ich zitiere -, „daß die Kriminalstatistik zwar verfälschte Aussagen macht, aber über Jahre hinaus eben unverändert falsche, so daß man zumindest einen Trend daraus ablesen kann ... Problematisch wird es jedoch, wenn diese Statistiken, kaum daß ihre Erstellung abgeschlossen ist, zu einem Instrument politischer Interessen umfunktioniert werden" .
Exemplarisch dafür, wie wider besseres Wissen der Anschluß an die Parteienlinien gesucht und gefunden wird, ist die Präsentation der Zwischenergebnisse einer großangelegten Untersuchung zum Sicherheitsgefühl der älteren Menschen.
Vor allem - so die wesentlichen Zwischenergebnisse - fürchten sich die Älteren davor, Opfer eines Verkehrsunfalls zu werden oder von Umweltschäden betroffen zu sein. Dann folgen Probleme der Altersversorgung, der Verlust der Selbständigkeit, der Pflegenotstand usw.
Die Ministerin Rönsch schlußfolgert dagegen: „Wir alle wissen, daß die Angst, Opfer einer Straftat zu werden, bei vielen älteren Menschen groß ist. " Die „Zeit" vom 1. Oktober kommentiert diesen Vorgang so: „In Berichten der Medien über die Präsentation der Forschungsergebnisse hatte sich deren - entdramatisierende - Botschaft fast ins Gegenteil verkehrt: dramatische Angstgefühle, Gewaltzunahme, Strafverschärfung. "
Meine Damen und Herren, das ist meiner Meinung nach die Marke Asyldebatte, die wir hier schon einmal hatten. Jeder sachliche, differenzierende und entdramatisierende Zugang zu den Problemen soll versperrt und zugenagelt werden. Auf unverantwortliche Art und Weise werden da meines Erachtens die Parolen von steigener Kriminalität und wachsender Angst davor verbreitet, angebliche Tätergruppen als Sündenböcke präsentiert. Pauschale Forderungen nach mehr Polizei, Bundeswehr in den Polizeidienst und die Rückbesinnung auf Staatsautorität und Bürgerwehren als Allheilmittel runden das Angebot ab.
In einem wilden Rundumschlag stellt Innenminister Kanther die Eckpunkte des Regierungsprogramms der Öffentlichkeit vor:
({0})
Die Ursachen für Gewalt und Kriminalität seien nicht zuletzt in der Revolte der 68er-Generation zu suchen - Herr Marschewski, Sie haben das heute hier auch vorgebracht -, denn sie habe in einem erheblichen Maß den politischen und moralischen Grundkonsens beeinträchtigt, so Kanther.
Dem angeblich praktizierten Vorrang der Resozialisierung im Strafvollzug setzt er seine Auffassung entgegen, daß „die Feinde des Rechts spüren müssen, daß der Staat sich wehren kann". Wider besseres Wissen behauptet er pauschal das Ansteigen der Jugendkriminalität.
Die Justizministerin bezichtigt er der Kapitulation vor der Kriminalität, weil sie die Entkriminalisierung von Bagatelldelikten, z. B. Schwarzfahren, will.
Zu den Ursachen der ausländerfeindlichen Gewalttaten zählt er den „vor kurzem ungezügelten Asylbe15782
werberzustrom". Und: „Jeder Ausländer, der hier auch nur mit einem Gramm Rauschgift handelt, hat das Gastrecht unseres Landes verwirkt."
Die Herausnahme der Sparte „Ausländerkriminalität" aus der Kriminalstatistik bezeichnet der Innenminister als Beschönigung der Statistik.
Unverantwortlich ist dieses Gerede deshalb, weil es die Angst instrumentalisiert und hervorruft. Statt zu differenzieren, wird verallgemeinert. Statt zu entdramatisieren, wird die allgegenwärtige Bedrohung beschworen.
Keine Frage: Diese Eckpunkte der Regierungspolitik im Bereich innere Sicherheit werden in Republikanerkreisen sicherlich auf Zustimmung stoßen.
Nicht die Polizeiliche Kriminalstatistik darf Grundlage der Diskussion sein. Sie ist Arbeitsstatistik der Polizei - das sagt die Polizei im übrigen auch selber - und gibt keine Auskunft über die Entwicklung der Kriminalität. Sobald Anzeigeverhalten, Anzeigemotive und die Frage der Dunkelfelder herangezogen werden, sind die Aussagen der PKS unbrauchbar für die Erörterung von Ursachen und Lösungen. Die Änderung eines einzigen Paragraphen in den Diebstahlsversicherungen kann die PKS zu wilden Sprüngen verhelfen. Die Einrichtung von Sonderkommissionen oder Ermittlungsgruppen treibt die Produktion vom Tatverdächtigen statistisch in die Höhe. Ich nenne nur ein Beispiel: Fahrradsonderkommission in Hamburg.
Die sogenannte Ausländerkriminalität beispielsweise ist in weiten Teilen Ausdruck der vorurteilsbehafteten Ermittlungsarbeit der Polizei. Hierzu nur ein Beispiel: Die allgemeine Steigerungsrate bei polizeilich registrierten Straftaten ist in dem Zeitraum 1978 bis 1985 höher gewesen als zwischen 1985 und 1992. Selbstverständlich gilt das nur für die alten Bundesländer. In einzelnen Deliktbereichen, gerade der so definierten Massenkriminalität, unterliegt sie riesigen Schwankungen. Nirgendwo liegt der Zusammenhang zwischen sozialen Entwicklungen und gesellschaftlichen Umbrüchen einerseits sowie bestimmten Formen der Kriminalität andererseits so auf der Hand wie in den neuen Bundesländern. Dies als vorherrschenden Farbtupfer in das allgemeine Bedrohungsgemälde Kriminalität einzufügen ist meines Erachtens mehr als fahrlässig.
Im Mittelpunkt der Debatte heute müßten Entkriminalisierungskonzepte und Neukonzeptionen der Kriminalpolitik stehen, wie sie in ersten Ansätzen, z. B. in Niedersachsen, erarbeitet werden.
Frau Jelpke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch?
Ja.
Frau Kollegin, wenn Sie sich das Ansteigen der Ausländerkriminalität, das kaum ernsthaft angezweifelt werden kann, als ein rein statistisches Phänomen erklären - es ist zu einem Teil statistisch, aber eben nicht nur -, verbauen Sie sich damit nicht selber die Erkenntnis, daß wir die Integration von Ausländern drastisch verbessern müssen,
weil in der mangelnden Integration ein Teil der tatsächlich bestehenden Kriminalität zu erkennen ist?
Herr Kollege Hirsch, Sie wissen genau wie ich, daß Ausländer und Ausländerinnen, die straffällig werden, sowieso abgeschoben werden.
({0})
- Ich weiß, wie es in den Gefängnissen aussieht, und weiß, wie häufig ich angerufen werde, daß Ausländer wegen wirklich kleiner Straftaten abgeschoben werden.
Unabhängig davon aber halte ich die Tatsache, daß wir Ausländer in einer Extrastatistik erfassen, für diskriminierend. Sehen Sie sich an, wie die sozialen Schichten, die Delikte aussehen. Dann werden Sie feststellen, daß Ausländer und Deutsche im Grunde genommen gleich betroffen sind, gleiche Kriminalitätsentwicklungen aufweisen. Nicht zu vergessen, wir haben zweierlei Recht: für Ausländerinnen und Ausländer und für Deutsche.
Wenn Herr Kanther in die Kriminalitätsstatistik beispielsweise einbezieht, daß Leute illegal über die Grenze gekommen sind, dann wird das unwahrscheinlich hochgepuscht und damit - das ist der entscheidende Punkt - meiner Meinung nach auch Angst geschürt. Auch wird ein ganz bestimmtes Bild von Ausländern gezeichnet.
Grundsätzlich ist eben auch zu fragen - gerade hier müßte eine ernstgemeinte Auseinandersetzung um Kriminalität, Strafrecht, Sicherheitsgefühl und gesellschaftliche Maßnahmen ansetzen -, was verfolgt, bestraft und statistisch erfaßt wird.
Jeder Drogentote in der Bundesrepublik wird politisch und publizistisch zu heftigen Kampagnen gegen organisierte Kriminalität, Dealer, Ausländer und Werteverfall genutzt. Daß im Jahre 1990 vier Drogentoten im Sinne des BtmG 18 Tote pro Tag durch Alkohol gegenüberstanden, interessiert keinen.
({1})
Daß 193 gefährlichen bzw. schweren Körperverletzungen 1 214 Verletzte im Straßenverkehr gegenüberstanden, hindert niemanden, Massenkriminalität zum Wahlkampfschwerpunkt zu erklären und Bürgerwehren zur Hebung des Sicherheitsgefühls der Bürgerinnen und Bürger zu fordern.
Gerade im Drogenbereich ist es ein alter Hut, daß die Beschaffungskriminalität durch Entkriminalisierung oder Legalisierungskonzepte ausgetrocknet werden könnte und dadurch den tatsächlich Süchtigen ernsthafte, sozial abgesicherte Therapien angeboten werden könnten.
Versteckt gibt auch hier die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD einige Hinweise: z. B. im Deliktbereich Wohnungseinbruch 16,4 %, Diebstahl aus Kraftfahrzeugen 17,4 %, bei Handtaschenraub gar 31,7 %. Andere kommen zu noch höheren Zahlen: Die Hälfte der Autoeinbrüche,
ein Drittel der Wohnungseinbrüche seien Beschaffungskrüninalität.
Durch eine Drogenpolitik, die die Fiktion der drogenfreien Gesellschaft nicht repressiv durchsetzen will, wären Tote, Therapiekosten, Gerichts- und Haftkosten, Kosten für Sondereinheiten der Polizei, Schäden für potentielle Opfer und viel menschliches Elend einzusparen.
Schließlich ist erneut zu fragen, warum eigentlich diese bestimmte Form der Sucht oder des Konsums derart massiv kriminalisiert wird, während kollektive Besäufnisse und öffentliche Ansammlungen von Alkoholsüchtigen, z. B. das Oktoberfest in München, als Kulturereignisse angesehen und überhaupt nicht kritisiert werden.
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- Das kann man ja in jeder Zeitung nachlesen.
Aber auch dieser letzte Hinweis aufs Geld stört die Fans der Staatsautorität vermutlich nicht: Die Verschärfung des Strafniveaus gegenüber den etwa 15 000 jährlich verurteilten sogenannten Drogentätern um durchschnittlich ein Jahr würde zusätzliche Kosten von 1,5 Milliarden DM bringen und keinen einzigen Schritt vorwärts gegen die Drogensucht und Kriminalität.
Frau Jelpke, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ja, ich komme zum Schluß, nur noch ein Satz. - Herr Marschewski, ich dachte eigentlich, daß das Konzept von Innenminister Kanther das Neue sei. Ich bin sehr gespannt, was Sie jetzt noch an Verschärfung vorzubringen haben.
Danke.
({0})
Als nächster spricht der Parlamentarische Staatssekretär Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es kann nicht bestritten werden - und das ergibt sich auch aus der Antwort -: Das Bedürfnis nach Sicherheit gehört zu den grundlegenden Bedürfnissen menschlicher Existenz. Störung der Sicherheit bedeutet Einschränkung und Hemmung individueller Persönlichkeitsentwicklung. Die Sicherheit der Bürger ist in den letzten Monaten zu einem zentralen Thema der Diskussion im Lande geworden. Das merkt man, wenn man mit dem Bürger auf der Straße diskutiert. Der Bürger empfindet die Entwicklung der Kriminalität als seine persönliche Bedrohung.
Diese Sorgen sind angesichts des uns vorliegenden Zahlenmaterials mehr als verständlich. Der Gesamtumfang der 6,3 Millionen polizeilich registrierten Fälle im Jahre 1992 ist tatsächlich für uns alle bedrohlich. Die Erhöhung der registrierten Kriminalität um 9,6 % im Jahre 1992 allein in den alten Bundesländern einschließlich Gesamtberlins ist dramatisch, dramatisch nicht allein wegen der Prozentzahlen, dramatisch deshalb, weil sich hinter der so nüchternen Zahl natürlich auch Einzelschicksale verbergen, weil die Bürger Angst durchlebt haben.
Sorge und Angst der Bürger werden nicht dadurch weggewischt, daß der Anstieg der Kriminalität im wesentlichen auf das Anwachsen der Diebstahlkriminalität zurückzuführen ist. Ein Großteil ist natürlich auch Beschaffungskriminalität.
Dem Bürger das Gefühl der Sicherheit wiederzugeben sind wir alle hier in diesem Parlament aufgerufen. Was aber ist zu tun? Wir hören den Ruf nach dem „starken Staat". Das Gewaltmonopol des Staates wird eingefordert. Dem Staat wird vorgeworfen, von diesem Gewaltmonopol bei der Bekämpfung der Kriminalität nur zurückhaltend Gebrauch zu machen. Der Staat dürfe das Gewaltmonopol nicht nur besitzen, er müsse es auch aktiv ausüben. Die „Waffengleichheit", Herr Marschewski, zwischen Staat und Straf täter wird von einzelnen eingefordert.
In dieser Situation ist in erster Linie eine Beseitigung von Defiziten notwendig. Da sind wir sicherlich einig. Hier sind insbesondere der Ausbau und die Modernisierung unserer Polizei angesprochen. Ich brauche darauf nicht näher einzugehen, weil praktisch alle Vorredner die stärkere Präsenz der Polizei vor Ort gefordert haben. Von allen ist gefordert worden, daß die Polizei moderner ausgerüstet wird. Von allen ist gefordert worden, daß die rund 30 000 fehlenden Stellen für Polizeibeamte nicht nur eingefordert, sondern auch besetzt werden. Wir brauchen sicherlich auch eine bessere Bezahlung der Polizei.
Das alles kostet viel Geld. Aber das sind Investitionen in die Zukunft, die wir für richtig halten.
({0})
Was kann darüber hinaus für unsere Sicherheit vor Kriminalität - jetzt wird es auch für Sie, Herr Geis, besonders interessant; deswegen schaute ich Sie an - getan werden? Ich denke, wir haben nicht nur bestehende Gesetze, insbesondere im strafrechtlichen Bereich, konsequent anzuwenden, sondern wir haben uns auch Gedanken über eine neue Kriminalpolitik zu machen. Ich nenne hier das Stichwort Verbrechensverhütung.
({1})
Ihr muß ein größerer Stellenwert eingeräumt werden.
Die traditionelle Kriminalpolitik mit ihren Instrumenten der Strafgesetzgebung, der repressiven Verbrechensbekämpfung und auch der Sozialisierungs-
und Behandlungsbemühungen wird den bestehenden und weiter zu befürchtenden Entwicklungen in der Kriminalität kaum wirksam begegnen. Wir müssen neue Ansätze in einer gewandelten Welt finden.
Eine präventive Kriminalpolitik muß umfassend und gesellschaftspolitisch im weitesten Sinne ansetzen. Gefordert sind insbesondere Strategien zur Eindämmung der Kriminalität junger Menschen. Hier ist es nicht allein mit einem Appell an Erziehungsinstanzen getan. Das greift zu kurz. Familie und Schule sind häufig mit Problemen überlastet, die eine optimale Erziehung verhindern. Moral und Rechtsbewußtsein entstehen ja nicht allein durch Erziehungsmaßnahmen; hinzu muß die persönlich erlebte Erfahrung
kommen, durch eigene Leistung zur eigenen Existenzsicherung beitragen zu können sowie hinreichende Chancen für eine angemessene Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand zu haben. Nur so wird sich der junge Mensch selbst als wertvoll erleben können. Das heißt, wir müssen alles tun, um jungen Menschen die Mitwirkung an den gesellschaftlichen Aufgaben und die Teilhabe an dem erarbeiteten Sozialprodukt zu ermöglichen. Wir müssen uns also insbesondere um diejenigen jungen Menschen bemühen, die in ihrer persönlichen Entwicklung Defizite aufweisen und deren Integration in die Gesellschaft gefährdet ist.
Lassen Sie mich auch sagen: Manchmal ist in der Erziehung das Vorbild ganz wichtig.
({2})
- Weil noch Liebe dazugehört. - Auch wir Politiker haben Vorbildcharakter zu zeigen. Ich glaube, auch wir im Parlament sind dazu aufgefordert.
({3})
Präventionsstrategien sind in die Zukunft gerichtet und werden leider erst in der Zukunft greifen.
({4})
- Ich sagte: Sie werden erst in der Zukunft greifen. Natürlich greifen sie erst in der Zukunft.
({5})
Dem heutigen Sicherheitsbedürfnis müssen wir bereits heute Rechnung tragen.
Im Bereich des Rechtsextremismus befürworten wir die Ausdehnung der Strafbarkeit auf die Verwendung von Kennzeichen, die den in § 86 a StGB aufgeführten Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen zum Verwechseln ähnlich sind.
Wir sind ebenfalls für die Verschärfung der Strafdrohungen für schwere Körperverletzungen.
Auch im strafprozessualen Bereich werden mehrere Maßnahmen für eine effektive Bekämpfung der Kriminalität vorgeschlagen, so die Einrichtung eines zentralen staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregisters und der Wegfall der Regelvoraussetzung einer Vorverurteilung für die Anordnung von Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr bei besonders schweren Fällen des Landfriedensbruchs.
Unsere Vorstellungen zu zukünftigen Reaktionen des Staates auf sogenannte Bagatelldelikte hat die Bundesjustizministerin bereits am 17. September 1993 dargelegt. Es geht um eine Straffung und Beschleunigung der Verfahren, mit denen bestimmte Deliktsgruppen geahndet werden sollen, denn vor allem Ladendiebstahl, grundsätzlich aber auch Schwarzfahren müssen strafwürdiges Verhalten bleiben. Vorrangig ist, daß bei diesen Deliktsgruppen der Staat schnell, effektiv und möglichst einfach reagieren kann, ohne daß der Unrechtsgehalt der Tat in Frage gestellt wird.
Dies sei hier nur beispielhaft angeführt. Ob weitere gesetzgeberische Maßnahmen zu einer effektiven Bekämpfung der Kriminalität und damit zu einem wieder verstärkten Sicherheitsgefühl der Bevölkerung beitragen können, werden die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen sorgfältig prüfen.
Wichtig erscheint mir bei allem, daß wir die Sicherheitssorgen jedes einzelnen Bürgers ernst nehmen. Es kommt aber nicht auf unsere Gefühle an, sondern in erster Linie auf die Gefühle der Bürger.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Als nächster spricht der Kollege Norbert Geis.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Kriminalität wuchs in den letzten 25 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland um 140 Prozent, mit einem besonders steilen Anstieg seit 1989, insbesondere im Bereich der Massenkriminalität, aber auch im Bereich der Gewaltkriminalität. Die Bevölkerung - das ist wahr - ist tief beunruhigt.
Aber, Herr Meyer, deswegen der Bundesregierung anzulasten, sie hätte auf dem Weg zu diesem Ergebnis, das wir heute haben, nämlich eine steigende Massenkriminalität, Versäumnisse begangen - diese Behauptung ist falsch.
Sie haben es ja schon gehört: Die Kriminalität wird bei uns zuerst in den Bundesländern bekämpft. Dort sind die Polizeien, dort ist die Justiz, dort sind die Staatsanwaltschaften, und dort sind auch die Strafvollzugsbehörden, und die bekämpfen die Kriminalität an vorderster Stelle.
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- Sie wissen, daß die Bekämpfung von Kriminalität natürlich auch Prävention ist. Das ist ja letztendlich der Sinn der Bekämpfung, damit die Abschreckung überhaupt funktionieren kann. - Ich meine also, es ist in höchstem Maße ungerecht - und verstellt auch den Blick -, wie wir an dieses Problem herangehen. Daß wir es angehen müssen, darüber sind wir uns alle einig.
Der Bund hat dabei nicht allzu große Möglichkeiten. Er kann Gesetze erlassen, er kann Strafgesetze verschärfen, aber keiner soll sich- und da stimme ich mit Herrn Hirsch überein - Hoffnungen darauf machen, daß allein die Verschärfung von Gesetzen schon dazu führen würde, daß wir Kriminalität verhindern könnten.
Wir müssen vielmehr dafür sorgen, daß die Polizeien gut ausgestattet sind.
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Es muß verfolgt werden, es muß verurteilt werden, und es muß auch vollzogen werden.
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Dazu brauchen wir eine starke, gut ausgebaute Polizei. Wir müssen uns deshalb auch Gedanken darüber machen, ob wir nicht die Struktur unserer Polizei verändern, um diesen Beruf wirklich attraktiver zu machen.
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Das Ansehen eines Polizisten ist in unserer Bevölkerung in der Tat nicht sehr hoch. Wie oft hören wir das Wort „Bulle", ein verderbliches Wort. Es ist schon eine Art Brunnenvergiftung, weil damit ein ganzer Berufsstand in ein negatives Licht gestellt wird. Das müssen wir versuchen zu verhindern.
Wir müssen uns natürlich auch Gedanken darüber machen, ob wir nicht private Kräfte mit einsetzen, aber ich stimme mit Ihnen überein: Das Gewaltmonopol des Staates darf dabei nicht Schaden nehmen.
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Aber wenn man sich Gedanken darüber macht - wie beispielsweise in verschiedenen Bundesländern -, ob man nicht eine Sicherheitswacht einführt, wie wir das ja schon im Naturschutz und auch auf sozialem Gebiet haben warum soll dies nicht auch im Bereich der Sicherheit möglich sein? Ich denke an eine Sicherheitswacht, ehrenamtliche Helfer, die bereit sind, eine gewisse Präsenz auf Straßen, auf öffentlichen Plätzen zu gewährleisten, ausgestattet mit einem Funkgerät, die dann, wenn sich eine Straftat ereignet hat, sofort die Polizei rufen.
Das scheint mir durchaus eine Möglichkeit zu sein, die Polizei zu entlasten. Aber es kann - und da stimme ich mit Ihnen überein - nicht so sein, daß die Villenviertel ihre private Schutzpolizei haben. Dann wäre Sicherheit eine Frage des Geldes, und das wäre fatal.
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Das müssen wir auf jeden Fall vermeiden. Ich stimme mit Ihnen darin überein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wiederhole es: Das Strafrecht allein wird es dann nicht schaffen, wenn es nur im Gesetzbuch steht. Nun will ich überhaupt nicht bezweifeln, daß das Strafrecht natürlich schon an sich eine generalpräventive Kraft haben kann. Es ist wohl auch richtig, daß das Strafrecht in einer säkularisierten Welt eine normbildende Kraft in der Bevölkerung haben kann. Aber seine generalpräventive Wirkung kann das Strafrecht immer erst dann erzeugen, wenn im konkreten Einzelfall tatsächlich der Täter verfolgt, gefaßt und verurteilt wird und dann auch seine Strafe verbüßen muß.
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Deshalb müssen wir neben der Polizei auch die Justiz stärken.
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Auch das ist zunächst eine Aufgabe der Länder. Wir haben uns viele Gedanken darüber gemacht, wie wir die Justiz stärken können, und zwar in Form des Justizentlastungsgesetzes. Aber das ist eigentlich schon alles, was wir machen können.
Die Länder sind aufgerufen, die Justiz noch mehr zu stärken, und sei es dadurch, daß man einfach mehr Personal einstellt.
Sicherheit - Herr Hirsch, ich wiederhole das, was Sie gesagt haben - kostet Geld. Daran müssen wir uns gewöhnen. Aber wir müssen dieses Geld ausgeben, weil es um die Sicherheit unserer Bürger geht. Was wäre ein Staat ohne innere Sicherheit? Er wäre ein furchtbarer Staat. Es würde letztendlich das Faustrecht gelten. Das müssen wir, wie ich meine, verhindern.
Bei der Überlegung, was wir, der Bund, für die Justiz machen können, haben wir in den letzten Wochen vorgeschlagen, die Möglichkeiten der §§ 212 ff. StPO zu verbessern - also das beschleunigte Verfahren -, damit das Urteil der Straftat möglichst bald folgt. Wir haben ja oft eine sehr lange Frist zwischen Tat und Urteil. Manchmal sind es bei größeren Straftaten Jahre. Die Bevölkerung hat längst die Straftat vergessen. Der Täter hat sie längst verdrängt, und plötzlich steht er vor dem Hauptverfahren. Dies kann so nicht bleiben.
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Wir müssen also versuchen, bei Straftaten, bei denen es möglich ist, ein beschleunigtes Verfahren durchzuführen. Wir müssen uns auch ein wenig Gedanken darüber machen, daß in der Bundesrepublik Deutschland die Strafverfahren insgesamt zu lange dauern.
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Die Strafprozesse sind bei uns im Verhältnis zu anderen Staaten der EG exorbitant lang.
Auch da müssen wir uns natürlich Gedanken darüber machen, ob wir nicht doch an das Mittel herangehen, dem Verteidiger, der nur verschleppen will, die Möglichkeit zu nehmen, einen Beweisantrag über § 244 StPO zu stellen, wenn dies nur der Verschleppung dient. Wir haben das ja in einem Fall gemacht, nämlich dann, wenn es darum geht, einen ausländischen Zeugen zu holen. Aber in den anderen Möglichkeiten haben wir uns gegenüber dem Vorschlag des Bundesrats versagt. Hier müssen wir uns neue Gedanken machen.
Ein Wort noch zum Strafvollzug. Lieber Herr Meyer, wenn in Bayern, in Aschaffenburg, ein Drogendealer gefaßt wird, hat er Pech gehabt, denn er wird in Bayern viel, viel härter bestraft als 40 km weiter in Frankfurt, in Hessen.
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Wenn er schon in Bayern gefaßt worden ist und wenn er einer Verurteilung entgegengeht, tut er gut daran, seinen Wohnsitz ganz schnell nach Hessen zu verlegen, um dort alle Vorzüge eines lockeren Strafvollzugs zu haben.
Ich glaube, daß dies so nicht richtig sein kann. Ich merke das deshalb, weil ich aus dieser Gegend unmittelbar an der Grenze, aus Aschaffenburg, stamme. Wir wissen, daß es Sache von geschickten Anwälten ist, ihren Mandanten zu raten: Melden Sie Ihren Wohnsitz schnell in Hessen an. Es kommt nicht selten vor, daß sich bei Wirtschaftskriminalität der Täter, der einsitzen muß, morgens in seine dicke Limousine setzt, in sein Büro fährt und am Abend zurückkehrt, um im Knast zu übernachten.
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Das kann für den Täter jeweils gut sein. Das ist interessant für den Täter, der dem Strafvollzug entgegengeht. Aber es ist, wie ich meine, Gift für die Bevölkerung, weil die Bevölkerung so die Achtung vor dem Staat verliert. Der Staat selber verliert an Autorität. Dem müssen wir ebenfalls entgegentreten.
Man kann auch nicht die Zahl der Straftaten dadurch vermindern, daß man glaubt, in bestimmten Bereichen entkriminalisieren zu können. Ich meine die Diskussion um die Entkriminalisierung von Warenhausdiebstählen und Schwarzfahren zu Ordnungswidrigkeiten. Die Rechtsverletzungen würden dadurch zahlreicher werden, weil der Täter ja ein viel geringeres Risiko hätte. Wir haben Massendelikte und Massenkriminalität doch deshalb zu verzeichnen, weil die Täter nicht damit rechnen müssen, entdeckt zu werden. Immer noch richtet sich der Täter nicht so sehr nach der Strafnorm, die im abstrakten Gesetz steht, sondern bei seiner Handlung wohl mehr danach, welche Chance er hat, nicht entdeckt zu werden.
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Auch hier müssen wir meiner Meinung nach wieder sagen: Wir brauchen mehr Polizei, und wir brauchen schneller funktionierende Gerichte.
Ich meine, noch einen Punkt ansprechen zu sollen. Das ist die Gewaltkriminalität. Sie ist die schlimmste Art von Bedrohung. Hier ist die Bevölkerung am ehesten geneigt, zu sagen: Der Staat ist nicht mehr in der Lage, unsere Sicherheit zu gewährleisten. Ältere Menschen haben Angst, sich auf öffentliche Straßen und Plätze zu begeben, und das schon am hellichten Tag, weil sie Angst haben, daß ihnen irgendein jugendlicher Täter die Handtasche raubt. So geschieht es jedenfalls täglich in den Großstädten, ganz gleich in welcher Ecke der Republik.
Die Gewaltkriminalität ist ein Phänomen, das wir aber nicht verkürzt sehen dürfen. Vieles ist dazu schon gesagt worden. Als die Gewaltkriminalität gegen Ausländerheime ausgebrochen ist, haben wir dies vielleicht ein wenig verkürzt auf den Rechtsextremismus bezogen. Aber ich meine, dieser Rechtsextremismus war mehr Ventil als Anlaß. Morgen kann eine solche Gewaltkriminalität auch unter anderen Vorzeichen auftreten. Immer geht es jeweils um Gewalt. Wir müssen den Ursachen dieser Gewalt nachgehen.
Es ist wohl richtig - wie dies hier heute schon gesagt worden ist -, daß wir eine Schwächung gewachsener Gemeinschaften beklagen müssen.
50 % unserer Kinder wachsen nicht mehr in geordneten Familienverhältnissen auf, und die Statistik sagt uns, daß dies Rückwirkungen auf die Kriminalität hat. Natürlich hat nicht nur die Familie, sondern haben auch die Schulen, die Verbände, die Vereine an Bedeutung und damit auch an Integrationskraft verloren. Selbstverständlich - das ist schon von Herrn Marschewski gesagt worden - spielt dabei auch das Fernsehen und hier insbesondere das Privatfernsehen mit seinen Gewaltdarstellungen eine Rolle.
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In einer normalen Fernsehwoche werden dem Kind, das täglich etwa zwei Stunden Fernsehen konsumiert, werden dem jeweiligen Zuschauer etwa 500 Morde und Gewaltdelikte gezeigt. Es kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, daß dies Rückwirkungen auf die Seelen und Herzen der Kinder haben muß.
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- Ich will das freie Fernsehen damit gar nicht verabschieden.
Herr Kollege Geis, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Duve?
Nein, ich lasse keine Zwischenfrage zu.
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Das freie Fernsehen wollen wir damit gar nicht verabschieden; aber wir können es auch nicht nur bei Appellen belassen, sondern müssen uns schon - und da bitte ich auch um Ihre Mithilfe - Gedanken darüber machen, wie wir über bloße Appelle hinaus vielleicht zu gesetzlichen Regelungen kommen.
Aber die Gewaltkriminalität hat noch eine andere Seite. Ich meine, daß wir allzuoft die Hilflosigkeit des Staates feststellen und erleben müssen. Bei der Asyldebatte haben wir es an uns selbst erlebt, als wir nur auf Umwegen und auf Schleichwegen und manchmal nicht ohne Gefahr in unsere Büros kommen konnten. Diese Demonstrationen waren nicht gewaltfrei. Sie waren voller Gewalt, und es kam zweifellos nur deshalb zumeist nicht zu Körperverletzungen - manchen ist es ja auch passiert - weil wir dieser Gewalt ausgewichen sind. Sonst wäre es zweifellos dazu gekommen!
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Ich meine, daß wir auch dem Bundesverfassungsgericht einmal sagen müßten, daß es mit seinen Urteilen zur Sitzblockade der Friedensdemonstranten und zu Brokdorf der Polizei und den verfolgenden Behörden keinen Dienst erwiesen hat.
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Dadurch ist eine tiefe Verunsicherung entstanden. Wir müssen auch solche sich im Kleid angeblicher Gewaltlosigkeit zeigende Gewalt anprangern. Jedenfalls hat diese Gewalt, die bei der Asyldebatte ausgeübt worden ist, so daß das Parlament geradezu lächerlich gemacht worden ist, dem Rechtsbewußtsein der Bevölkerung mit Sicherheit geschadet.
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Ein letztes Wort: Wir müssen die organisierte Kriminalität bekämpfen; das ist gemeinsames Anliegen. Ich weiß, Herr Professor Meyer, daß wir da gar nicht weit auseinander sind. Es geht dabei um die Übernahme der Kronzeugenregelung, es geht um einen größeren Freiraum für den verdeckten Ermittler, und es geht schließlich - daran kommen wir nicht vorbei - auch um den Einsatz elektronischer Mittel in den Wohnungen von Tätern. Ich meine, wir sollten dies in aller Ruhe diskutieren und jetzt nicht allzu hochstilisieren. Mit dem Einsatz technischer Mittel allein werden wir die organisierte Kriminalität nicht bekämpfen können; das weiß jeder. Wir brauchen ein Gefüge von Maßnahmen; aber wir sollten uns dem nicht verschließen.
Ich danke Ihnen.
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Ich erteile dem Kollegen Günter Graf das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage „Sicherheitsbedürfnis und Massenkriminalität". Es würde mich reizen, zunächst einmal auf das einzugehen, was die Redner der Koalitionsfraktionen hier gesagt haben.
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Die moderaten Töne zumindest zum Schluß von Herrn Geis in bestimmten Dingen habe ich wohlwollend zur Kenntnis genommen.
Was Ihre Ausführungen zum Thema der Gewalt angeht, würde es mich reizen, darüber hier eine Diskussion zu beginnen; aber ich denke, das machen wir an anderer Stelle. Ich will nur auf eines hinweisen: Es hilft uns nicht weiter, immer wieder zu sagen, wir müßten uns mit dem Phänomen der Gewalt auseinandersetzen. Ich darf daran erinnern, daß die Bundesregierung die Gewaltkommission eingesetzt hat. Diese hat ein Gutachten mit 2 564 Seiten und 163 Lösungsansätzen vorgelegt, in dem die Ursachen und das, was zu tun ist, beschrieben werden. Wenn man anfinge, das alles abzuarbeiten, wären wir heute wahrscheinlich ein Stück weiter. Das ist der eine Punkt.
Was Sie, Herr Staatssekretär Funke, hier ausgeführt haben, hat weitestgehend die Zustimmung auch der Opposition, der SPD, gefunden. Ich muß hier nur an
noch etwas erinnern, und das geht in die Richtung des Kollegen Hirsch, geht aber auch in die Richtung des Kollegen Marschewski. Ich muß die Frage stellen: Wer ist eigentlich 13 Jahre in der Regierungsverantwortung, und welche Möglichkeiten hätte die Regierung wirklich gehabt, in diesen Bereichen etwas zu tun?
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Herr Marschewski, hier hilft es nicht viel weiter, sich darauf zu beschränken, immer darauf hinzuweisen, daß es Sache der Länder sei.
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Sie haben natürlich recht: Was die Polizei und die Kriminalitätsbekämpfung angeht, ist das Sache der Länder, aber eben nicht nur. Wir haben das Bundeskriminalamt, wir haben den Bundesgrenzschutz, wir haben den Verfassungsschutz, die alle in diesen Bereichen tätig sind.
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Ich wiederhole, Herr Kollege Marschewski, was der Kollege Hirsch gesagt hat: Wir haben es immer wieder beklagt, daß wir das Sicherheitsprogramm, das wir 1974 hatten, nicht fortgeschrieben und ergänzt haben. Dies ist zwingend notwendig. Insofern gibt es bei uns in diesem Punkt sicherlich eine volle Übereinstimmung. Nur, es muß jetzt daran gearbeitet und dann gehandelt werden. Ich will auch nicht verhehlen - weil das ein Gebot der Fairneß ist -, daß in den vergangenen Jahren die Länder sicherlich nicht entsprechend mitgewirkt haben. Aber ich bin guter Hoffnung, daß sich das in der nächsten Zeit vor dem Hintergrund der dramatisch ansteigenden Zahlen doch verbessern lassen wird.
Ich will mich nun aber auf mein Konzept konzentrieren, um nicht ganz davon abzuweichen und auf einige Dinge einzugehen.
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Wenn ich eben gesagt habe, Sie seien 13 Jahre in der Regierungsverantwortung, dann kann ich heute nur feststellen - nicht erst nach den traurigen und beschämenden Begleitumständen in Bad Kleinen -, daß die Bundesregierung in vielen Bereichen auf dem Gebiet der inneren Sicherheit versagt hat.
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Das hören Sie nicht gerne, das weiß ich. Aber Sie müssen sich diese Tatsachen schon einmal anhören.
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Es ist eine unumstößliche Tatsache, daß die Kriminalitätsentwicklung in den vergangenen Jahren in dramatischer Weise angestiegen ist. Es hilft auch nicht, Herr Hirsch, daß wir darauf hinweisen, daß wir in Europa noch immer einen guten Mittelplatz einnehmen. Jede Straftat mehr ist eine Straftat zuviel.
Auf die Zahlen will ich nicht weiter eingehen. Die hat mein Kollege Meyer hier dargestellt, und andere Redner haben auch darauf verwiesen. Aber was neben den reinen Zahlen beim erheblichen Anstieg der Kriminalität zu erwähnen ist, ist die Qualität der Straftaten. Die ist besorgniserregend! Wenn wir allein daran denken, daß bei den registrierten Straftaten eine ganz erhebliche Zunahme im Deliktbereich Straßenraub und Taschendiebstahl festzustellen ist - das waren im letzten Jahr in den alten Bundesländern etwa 25 % -, dann ist das eine andere Qualität, als wir sie in der Vergangenheit gekannt haben, und darauf muß reagiert werden.
Auch die Tatsache, daß die Sorge um die Sicherheit und die Furcht vor Kriminalität in der Bevölkerung gestiegen ist - etwa 90 % in den neuen Bundesländern fühlen sich, und wenn subjektiv, durch Kriminalität bedroht, und in den alten Ländern sind es immerhin noch weit mehr als 70 % -, haben wir zur Kenntnis zu nehmen, und wir haben entsprechend zu handeln.
Kolleginnen und Kollegen, dies ist eine Entwicklung, die in den letzten zehn Jahren im erschreckenden Maße angestiegen ist. Das subjektive und objektive Sicherheitsempfinden ist ohne Frage gestört. Immer mehr Bürger in diesem Land fühlen sich in ihren Lebensräumen eingeengt. Viele wagen tatsächlich nicht mehr, zu ganz bestimmten Zeiten ganz bestimmte Orte zu betreten, und wenn es auch nur ein subjektives Empfinden ist.
Ich habe schon einmal davon gesprochen: Bei mir in der Nachbarschaft, wo seit zehn Jahren in dem Ort, in dem ich lebe, auf der Straße zu dieser Zeit nichts passiert ist, haben dennoch - auch in meiner Nachbarschaft - inbesondere ältere Menschen, insbesondere junge Frauen Angst, zu dieser Zeit die Wohnung zu verlassen. Dies haben wir zur Kenntnis zu nehmen und Konsequenzen daraus zu ziehen; denn dies ist in der Tat auch eine Form von Einschränkung von Freiheit, mit der ein Bürger in unserer Gesellschaft lebt.
Insofern ist die Verhütung von Kriminalität eine ganz wesentliche Voraussetzung für die persönliche Selbstverwirklichung der Menschen in unserem Land.
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Es reicht nicht, wenn die Bundesregierung die Entwicklung der Massenkriminalität mit Sorge sieht, andererseits aber offenbar ihre bisherige gescheiterte Politik nahezu unverändert fortsetzen will.
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Die Bundesregierung versucht, mit dem Hinweis auf den gesamtgesellschaftlichen Werte- und Strukturwandel von eigener Verantwortung abzulenken.
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Die Vordergründigkeit und die Ungeeignetheit dieses Entlastungsversuches liegen auf der Hand. Es ist in erster Linie die von der Bundesregierung zu verantwortende Politik der sozialen Kälte, die maßgeblich
zu den Ursachen für viele gesellschaftliche Verfallserscheinungen beigetragen hat.
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- Ich weiß, das hört man nicht gern. Aber wenn Sie sich an die Debatte von heute morgen erinnern, so hat, glaube ich, der saarländische Ministerpräsident auch auf den Zusammenhang zwischen sozialer Not und Gewalt und Extremismus hingewiesen. Da waren die Widersprüche nicht so wie jetzt an dieser Stelle.
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Die bedrückend zunehmende Verarmung, die völlig unzureichende Wohnungsbaupolitik,
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die erfolglose Arbeitsmarktpolitik fordern einen hohen Preis, der sich unter anderem auch in der aufgezeigten Kriminalitätsbelastung darstellt.
Jetzt sage ich etwas zu den Medien. Der Kollege Marschewski hat sich ja in einem längeren Beitrag dazu geäußert.
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Wenn man heute beklagt, daß der Werteverfall über das Fernsehen mit transportiert wird, daß dadurch Gewalt begünstigt wird, dann haben Sie recht. Da stehen Sie nicht alleine. Das sehen wir genauso. Das stimmt.
Aber ich frage: Wer hat denn geradezu euphorisch auf die Privatisierung der Medien gesetzt? Wer hat denn den ruinösen Wettbewerb im Verachten von Wertvorstellungen überhaupt erst möglich gemacht?
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Wer den Vergleich zwischen der Situation vor der Privatisierung der Medien und heute zieht, der weiß, was sich in diesem Land in den letzten Jahren geändert hat.
Sie können sich heute nicht einfach davonstehlen, indem Sie in Sonntagsreden darüber hinwegtäuschen, daß dieses Thema in den letzten zehn Jahren von Ihnen in keiner Weise angegangen worden ist. Es reicht nicht aus, wenn Sie heute sagen: Wir müssen nach Möglichkeiten suchen, Einfluß zu nehmen.
In der damaligen Diskussion haben die Sozialdemokraten eine klare Position gehabt; sie haben davor gewarnt. Von Ihnen ist immer der Hinweis gekommen: Jeder Fernseher hat einen Knopf, mit dem man abschalten kann.
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Wir wissen um das Befinden der Bevölkerung, wir wissen um die Bequemlichkeit der Bevölkerung. Vor diesen Gefahren haben wir gewarnt. Sie haben sie nicht wahrhaben wollen. Deswegen: Sich heute beklagen ist gut; aber Sie müssen sich an Ihre eigenen Fehler in der Vergangenheit erinnern.
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Ich sage: Wir brauchen in der Bundesrepublik Deutschland eine neue Politik für die innere Sicherheit. Sie muß mit einer sozialen Prävention beginnen. Sie muß damit beginnen, daß die Gesellschaftspolitik den Weg in die Ellenbogengesellschaft in diesem Lande stoppt und vor allem die von mir bereits erwähnten sozialen Probleme, wie Obdachlosigkeit, überhöhte Mieten, Arbeitslosigkeit, neue Armut und vor allen Dingen Orientierungslosigkeit und Perspektivlosigkeit, gerade bei jungen Menschen, bekämpft.
Die nötige Kriminalitätsverhütung erfordert verstärkte Anstrengungen und neue Initiativen. Ich sage ganz bewußt „Kriminalitätsverhütung", meine Damen und Herren, denn die Prävention ist für uns Sozialdemokraten der entscheidende Ansatz bei der Kriminalitätsbekämpfung - nicht der Bereich der Strafverfolgung und der Polizei nach dem Motto: „Die Großen fängt man, die Kleinen läßt man laufen." Polizei und Strafgesetze können immer nur am Ende einer Kette stehen, wenn es darum geht, Kriminalität zu verhindern.
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Im übrigen hat der Innenminister kürzlich sein Sicherheitspaket '94 vorgelegt. Darin ist eine Reihe von Ansätzen enthalten, über die wir gemeinsam diskutieren werden und denen wir auch sicherlich in einzelnen Bereichen unsere Zustimmung nicht versagen werden.
Ich will auch noch etwas zum Thema Kraftfahrzeugdiebstahl sagen, das schon einmal angesprochen wurde. Ich erinnere daran, daß wir vor etwa einem dreiviertel Jahr einen Antrag eingebracht haben, in dem wir die Bundesregierung aufgefordert haben, die Kraftfahrzeugindustrie per Gesetz zu verpflichten, entsprechende Sicherungseinrichtungen einzubauen, die verhindern, daß das Kraftfahrzeug gestohlen wird, und bewirken, daß der Diebstahl an und aus Kraftfahrzeugen zumindest ganz wesentlich erschwert wird.
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Daß dies möglich ist, wissen wir heute. Da reicht es einfach nicht aus, mit Appellen an die deutsche Wirtschaft, an die Automobilindustrie heranzutreten und zu sagen: Nun bemüht euch mal! Wir haben gesehen, was Appelle nützen. Sie nützen so gut wie nichts. Deswegen sind ganz konsequente Gesetzgebungsmöglichkeiten auch vor dem Hintergrund der EG notwendig.
Es ist auch von der eigenverantwortlichen Beteiligung der Bürger an ihrem Schutz gesprochen worden. Das ist sicherlich legitim und auch notwendig. Insofern haben wir in dem Bereich keine Probleme. Wenn es allerdings darum geht - was man jüngst hören und lesen konnte -, daß der Selbstschutz u. a. in Form von Bürgerwehren eine Möglichkeit sein soll, dem Problem der Massenkriminalität zu begegnen, dann sage ich Ihnen: Das kann der Weg nicht sein. Da bin ich an einem Punkt, wo man über das staatliche Gewaltmonopol sprechen muß.
Alle hier in diesem Raume betonen immer und zu jeder Stunde: Das staatliche Gewaltmonopol darf nicht ausgehöhlt werden; es muß erhalten bleiben. Aber was hat sich denn in den letzten Jahren entwikkelt? Wir haben der Bundesregierung auch eine Anfrage zum staatlichen Gewaltmonopol vorgelegt. Die Antwort liegt zwischenzeitlich vor. Ich habe gerade heute den Agenturmeldungen eine ganz kurze Mitteilung entnommen, die ich zitieren will, damit wir sehen, was sich in dem Bereich entwickelt hat. dpa sagt heute:
Einer der größten Auftraggeber, der nach Verbandsangaben rund 142 000 Schwarze Sheriffs in Deutschland beschäftigt, ist der Staat. Allein die Bundeswehr hat 1992 Aufträge im Wert von einer Milliarde DM an die privaten Wach- und Sicherheitsdienste erteilt. Wo früher Soldaten Streife liefen, patrouillieren heute oft Mitarbeiter anderer Firmen.
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Ich erwähne das nur, um zu zeigen, wie sich das private Sicherheitsgewerbe allein bei den Bundesbehörden in den letzten Jahren entwickelt hat und welche Milliardenbeträge wir zwischenzeitlich ausgeben, um diese privaten Sicherheitsdienste mit staatlichen Geldern zu finanzieren. Ich will es nur angesprochen haben. Wir werden uns über dieses Thema sicherlich noch an anderer Stelle unterhalten müssen.
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Es ist auch gesagt worden - dankenswerterweise haben Sie, Herr Geis, den Hinweis gegeben -, es könne nicht angehen, daß in Villenvierteln Privatleute, die das Geld haben, Geld sammeln und Unternehmen beauftragen, die dann im Bezirk patrouillieren.
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- Ich stelle das nur fest. Es ist heute Realität.
Das hat irgendwo zur Folge, daß Sicherheit zu einem Privileg der Reichen wird. Sicherheit wird käuflich, und dies müssen wir im Keime ersticken. Das kann so nicht sein!
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- Nicht nur in Köln, auch in anderen Gebieten. Ich will gar nicht weiter danach fragen, wenn die Leute das Geld haben und das machen, weil sie Angst haben. Ich kann das ja nachvollziehen. Nur, das ist eine staatliche Aufgabe; darauf haben die Bürger einen Anspruch.
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Aber diesen Anspruch können sich jetzt nur diejenigen leisten, die das Geld haben. Der Bürger, der in
einem normalen Mietshaus wohnt, erfährt diesen
Schutz nicht, weil er sich den privaten Sicherheitsmann nicht kaufen kann. Das ist eine schlimme Entwicklung.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Marschewski?
Ja, bitte.
Herr Graf, ich stimme Ihnen in vielem zu. Da haben Sie recht, das ist keine Frage.
Aber sind Sie bereit, mit mir zum nordrhein-westfälischen Innenminister Schnoor zu gehen und ihm dies alles zu sagen bezüglich der Polizei, bezüglich des privaten Sicherungsgewerbes?
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Das ist immer das Problem, wenn man über Länder redet. Ich kann Ihnen nur sagen, Kollege Marschewski: Wir reden natürlich mit allen, insbesondere mit unseren Innenministern und Staatssekretären, um sie auch in diese Richtung zu bewegen. Daß es überall finanzielle Probleme gibt und daß nicht alles in den Ländern so glatt läuft, ist eine andere Sache.
Aber ich kann nur sagen: Wir hier im Deutschen Bundestag haben als Bund eine Aufgabe. Wir sind nicht für alles verantwortlich, was in den Ländern geschieht. Das sind Sie genausowenig, ganz gleich, wer wo regiert.
Gestatten Sie auch eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?
Ja, natürlich.
Herr Graf, stimmen Sie mit mir darin überein, daß die Kriminalitätsbekämpfung in erster Linie schon Sache der Länder ist, wenn Sie einmal bedenken, daß in den letzten 25 Jahren die Kriminalitätsrate in der Bundesrepublik Deutschland um 140 % angestiegen ist, während sie beispielsweise in Bayern - wenngleich auch hoch - „nur" um 78 % angestiegen ist?
Herr Kollege Geis, die bayerischen Verhältnisse waren immer besondere in unserem Land. Was die Rechtsstaatlichkeit und was „Law and order" angeht, haben die Bayern immer etwas anderes gemacht. Wie sich das letztlich gesellschaftspolitisch auswirkt, weiß ich nicht. Ich kann das nicht beurteilen. Ich bin auch zu selten in Bayern.
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Ich sehe nur, es ist ein Bundesland, und ich sehe die Entwicklung in den letzten Jahren. Ich sehe insbesondere die Entwicklung in den letzten 13 Jahren, seit wir diese Bundesregierung haben. Dafür stehe ich hier; dazu rede ich heute. Ich will mich nicht im einzelnen in die Länder hineindenken.
Ich habe Ihnen gesagt: Es gibt in den Ländern unterschiedliche Entwicklungen, die ich so nicht gutheiße, die ich gerne anders geregelt haben möchte. Aber das ist eine Aufgabe, mit den Ländern zu reden. Wir machen das in unserem Bereich, Sie werden es sicherlich in Ihrem Bereich tun. Da müssen wir einmal gucken, was am Ende dabei herauskommt.
Entscheidend ist eines, nämlich daß wir uns gemeinsam - ich wiederhole: gemeinsam! -, Bund und Länder, dieser Probleme annehmen. Es hilft uns nichts, gegenseitig Schuldzuweisungen zu tätigen;
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denn das bringt den Bürgern in diesem Lande überhaupt nichts.
Aber wir reden hier über Massenkriminalität, wir reden über Polizei. Wir wissen alle, daß die Flut der Akten gerade im Bereich der Massenkriminalität heute dazu führt, daß diese im Grunde genommen bei den Polizeibehörden mit einem ganz erheblichen Verwaltungsaufwand nur noch verwaltet werden. Wir wissen, daß die Gerichte damit belastet werden, die auch nur noch die Akten verwalten und ebenfalls einen ganz erheblichen Verwaltungsaufwand zu betreiben haben.
Deswegen ist es notwendig, daß wir, wenn wir über Polizei reden, auch den Justizbereich mit einbeziehen. Das ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Ich glaube, darin stimmen wir überein.
Das heißt - auch vor dem Hintergrund, daß sich die Polizeien in Richtung einer zweigeteilten Laufbahn entwickeln -, daß es natürlich unser aller Aufgabe sein muß, die Polizei von sachfremden Aufgaben freizustellen. Es kann künftig nicht sein, wenn das Konzept überall verwirklicht ist, daß hochqualifizierte Polizeibeamte mit einer dreijährigen Fachhochschulausbildung irgendwo einen Schützenfestumzug begleiten, daß sie die Parkuhren überwachen oder daß sie irgendwelche sonstigen Aufgaben wahrzunehmen haben, für die eine hohe Qualifikation nicht benötigt wird. Insofern müssen wir darüber nachdenken, was man da tun kann.
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Nur, dies gilt natürlich nicht nur für die Länder;
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denn wir sollten eines nicht übersehen: Wir haben 30 000 BGS-Beamte - sollten wir haben, wir haben sie nicht alle; uns fehlen ja 5 000 -; das gilt natürlich auch für die.
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- Herr Kollege Geis, das gilt auch für den Bundesgrenzschutz!
Jetzt will ich Ihnen einmal folgendes sagen - das hat etwas mit Glaubwürdigkeit zu tun -: Der Bundesinnenminister hat in seinem Sicherheitspaket, das er in der vorletzten Woche vorgestellt hat, ausgeführt: Die Polizei muß entlastet werden. Er hat sich mit der Länderpolizei beschäftigt. Ich habe das Papier von
vorne bis hinten, von hinten bis vorne gelesen und habe gedacht: Wo lesen wir etwas zur Bundespolizei, zum Bundesgrenzschutz? Dieser Bundesgrenzschutz findet in diesem Papier bezeichnenderweise mit keiner Silbe statt. Das ist der Bereich, wo Sie verantwortlich sind. Es fehlen 5 000 BGS-Beamte.
Kürzlich waren wir mit der Arbeitsgruppe im Bereich Zittau, Ebersbach, Neugersdorf. Just an dem Tage, als wir dort waren, ist in einem Wohnhaus in Spreewald am hellichten Tage der vierte Einbruch geschehen, nachdem zuvor schon achtmal erfolglos versucht worden war, in das gleiche Haus einzubrechen. Diese Situation trifft für alle Häuser in diesem Bereich zu. Der Grenzschutz und die Länderpolizei, die in dem Bereich verstärkt Anstrengungen unternommen haben, können natürlich nicht permanent alle zwei Meter irgendwo stehen. Da sind andere Maßnahmen notwendig. Nun bin ich einmal gespannt, wie ernsthaft die Bundesregierung damit umgeht. Ich habe dem Innenminister diese Situation mitgeteilt und habe gefordert: Wenn schon - wir wollen keine Wälle, keine Stacheldrähte und keine Mauern errichten -, dann muß man sich nach anderen Möglichkeiten umschauen. Wie kann man den Leuten helfen, da dieser Bereich in diesem DreiLänder-Eck extrem ist?
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- Ja, aber es tut sich nichts, Herr Staatssekretär Lintner. Als wir dort waren, haben uns die Leute gesagt, jetzt kommen schon wieder welche aus Bonn und gucken sich das an. Was passiert denn eigentlich? Wir sind es satt, immer die Besichtigungen zu erleben. Es muß gehandelt werden. Ich hoffe, daß Sie auf die Vorschläge, die wir Ihnen gemacht haben, eingehen, damit die Leute spüren, daß sich etwas bewegt.
Ich habe über die Freistellung gesprochen. Ich habe über die fehlenden Planstellen beim Bundesgrenzschutz gesprochen. Jetzt komme ich zu einem Thema, weil das auch angesprochen wurde, bei dem auch Glaubwürdigkeit gefragt ist. Wir alle betonen, es ist notwendig, die Polizei gerecht zu bewerten, die Polizei gerecht zu besolden. Wir stellen gleichermaßen fest, dieses ist nicht gegeben. Das Stichwort „zweigeteilte Laufbahn" habe ich genannt. Wenn wir heute wissen, daß die Länder - sicherlich unterschiedlich - mittlerweile im Bereich des gehobenen und höheren Dienstes bundesweit einen Anteil zwischen 20 und 24 % haben, und wenn wir wissen, daß der Bundesgrenzschutz als Bundespolizei einen Anteil von etwa 9 % erreicht, dann ist irgend etwas nicht in Ordnung, vor allen Dingen vor dem Hintergrund, daß wir im Jahre 1975 das Personalstrukturgesetz gemeinsam im Deutschen Bundestag - ich war noch nicht dabei - geschaffen haben. Darin haben wir uns verpflichtet, den Bundesgrenzschutz in seiner Stellenplanentwicklung dem der Länder in fünf Raten anzupassen. Die ersten drei Raten sind damals vollzogen worden, und dann kam der Stillstand. Heute hat sich die Schere, die damals schon bestand, weiter geöffnet. Ich sage nur, wenn wir es mit diesen Bekundungen, die wir alle abgeben, ernst meinen: Warum fordert man nicht - wie wir es gestern im Innenausschuß vorgeschlagen haben -, die Stellenpläne beim Bundesgrenzschutz zu verändern, damit der Anteil des gehobenen und höheren Dienstes wirklich entscheidend an den der Länder herankommt? Das wäre ehrliche Politik. Das wäre überzeugend. Aber leider versagt da die Regierungskoalition immer ihre Zustimmung.
Ich sehe, ich habe noch eine Minute Zeit, und ich muß zum Ende kommen. Ich denke, bei aller Polemik, die manchmal mit hineinspielt, ist eines deutlich geworden: Wenn wir es gemeinsam ernst wollen, und wir müssen es wollen, dann müssen wir sicherlich im Bereich der Polizei etwas verbessern. Ich will das noch einmal deutlich sagen. Über Gesetze können wir auch reden. Ich will in aller Deutlichkeit sagen - das wissen Sie genauso gut wie wir -: Das Entscheidende muß doch für uns alle sein, überhaupt erst einmal zu verhindern, daß es zu Kriminalität in unserem Lande in der Form kommt, wie sie sich entwickelt hat. Das heißt Ursachenbekämpfung. Deswegen sage ich noch einmal ganz deutlich: Hier geht es um Prävention. Hier geht es um eine soziale Politik, die den Interessen der Menschen gerecht wird, damit sie gar nicht erst in die Situation hineingelangen müssen, zum Teil zwangsläufig kriminell zu werden. Dieses muß die gemeinsame Aufgabe sein. Man darf das eine von dem anderen nicht trennen. Es verkürzt die Diskussion, wenn man nur auf Polizei und Gesetze abstellt.
Herr Kollege Graf, Sie sind ein großes Stück über Ihre Zeit.
Herr Präsident, Sie waren so großzügig, deswegen mache ich Schluß. - Ich bedanke mich bei allen für die Aufmerksamkeit.
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Die Tendenz, um diese Stunde besonders großzügig zu sein, schwächt sich ab. Wir haben noch für ungefähr zwei Stunden Stoff. Das ist die Geschäftslage.
Ich darf bei der Gelegenheit gleich sagen, daß die Kollegin Köppe ihren Redebeitrag zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll geben möchte.*) Ich habe die Zustimmung des Hauses dazu einzuholen. - Sie liegt offensichtlich vor. Ich bedanke mich.
Als nächster hat Herr Kollege Jörg van Essen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wissen es alle: Die innere Sicherheit ist das Thema, das den Bürgern nach den Fragen der Arbeitslosigkeit am zweithäufigsten auf den Nägeln brennt. Die Antworten der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD zeigen, daß diese Ängste in der Kriminalitätsentwicklung eine objektive Grundlage haben. Die Zahl der Raubüberfälle in der Öffentlichkeit ist z. B. von 1982 bis 1990 um über 50 % gestiegen.
Eine beunruhigende Zunahme ist auch im Bereich der Wohnungseinbrüche und der gefährlichen Körperverletzungen in der Öffentlichkeit zu beobachten.
*) Anlage 4
Das sind Deliktsarten, die die Menschen in besonderer Weise betreffen, weil sie sie in ihrer persönlichsten Sphäre zu Opfern macht. Da hilft es wenig, daß wir nach den ohnehin problematischen Vergleichen mit anderen Industriestaaten in vielen Kriminalitätsbereichen noch im Mittelfeld liegen.
Eine bloße Lagebeschreibung reicht nicht. Aber nicht bloßer Aktionismus und immer mehr Gesetze sind gefragt, sondern eine sorgfältige Analyse und gezielte Maßnahmen. Nach unserer Auffassung müssen dabei die Ursachenbekämpfung und die Vorbeugung den Vorrang haben.
({0})
Bei einer Fachtagung des Bundesministeriums des Innern am vergangenen Montag in Berlin ist für mich erneut deutlich geworden, daß die wichtigste Ursache für den allgemeinen Anstieg der Kriminalität im Verlust ethischer Maßstäbe liegt. Wertebildende und wertestabilisierende Einrichtungen wie die Kirchen, Schulen und Vereine haben auch durch eigenes Verschulden immer weniger Einfluß.
Die in diesen Institutionen Tätigen können häufig auch deshalb keine Maßstäbe mehr vermitteln, weil es ihnen selbst daran mangelt. Auch wir in der Politik können Fehlentwicklungen wenig beklagen, wenn wir nicht selbst die Ethik vorleben, die wir von unseren Bürgern erwarten. Eine stärkere Vermittlung ethischen Verhaltens ist daher nach meiner Auffassung die wichtigste Aufgabe, die beunruhigende Entwicklung im Bereich der inneren Sicherheit umzukehren.
Ich fand eine zweite Überlegung auf der schon erwähnten Tagung wichtig: Wir legen in diesen Tagen in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen den Grundstock für die Entwicklung der kommenden Jahre. Fehler, mangelndes Engagement heute und Einsparungen an der falschen Stelle werden ihre Antwort in Fehlhandlungen, kriminellen Handlungen von Heranwachsenden und jungen Erwachsenden in zehn oder fünfzehn Jahren finden.
Das mangelnde Sicherheitsgefühl der Bürger und ihre Ängste werden auch durch einen anderen Umstand begünstigt. Der Bürger hat zu Recht das Gefühl, daß uns bei der Bekämpfung von Fehlverhalten die Maßstäbe abhanden gekommen sind. Während kleine und kleinste Fehlhandlungen im Straßenverkehr mit immer höheren Bußgeldern und immer weiter ausgedehnten schweren Sanktionen, wie etwa dem Fahrverbot, geahndet werden, erweitern wir im Bereich des Kriminellen, also des stärkeren Unrechts, immer intensiver den Bereich der Folgenlosigkeit, etwa durch Einstellung gemäß § 153 StPO.
Über 200 000 Fälle gemäß § 153 StPO in den alten Bundesländern allein im Jahr 1992 sprechen eine deutliche Sprache. Während sich der Bürger im Bereich des kleinen und kleinsten Fehlverhaltens einer hohen Verfolgungsdichte durch eine Fülle von städtischen Angestellten, die ständig in der Innenstadt unterwegs sind, gegenübersieht, interessiert sich der Staat kaum für ihn, wenn er Opfer schweren Unrechts, etwa eines Wohnungseinbruchs oder eins Pkw-Diebstahls geworden ist.
({1})
Aufklärungsquoten beim Wohnungseinbruch von lediglich 14 % im Jahre 1992 in den alten Bundesländern und Berlin sprechen eine deutliche Sprache, daß Strafverfolgung in diesem Bereich praktisch nicht mehr stattfindet.
({2})
Mangelndes Vertrauen in die staatliche Strafverfolgung führt auch dazu, daß bei bestimmten Delikten fast automatisch von einer Anzeige abgesehen wird. Wir haben deshalb keinen Grund, durch eine Entkriminalisierung etwa des Diebstahls geringwertiger Sachen diese Tendenzen noch zu verstärken.
({3})
Wir müssen deshalb im Gegenteil überlegen, wie wir das Entdeckungsrisiko erhöhen und gleichzeitig Sanktionen der Tat auf dem Fuß folgen lassen können.
({4})
In geeigneten Fällen - die F.D.P. hat das vorgeschlagen - kann auch durch die Einführung einer kurzen Haft zur Sicherung einer schnell folgenden Hauptverhandlung etwas erreicht werden.
({5})
Aber der Staat darf in der Eindämmung der Massenkriminalität nicht allein stehen. Es ist hier schon mehrfach gesagt worden, und ich kann es nur noch einmal wiederholen: Es hat mich über die Jahre maßlos geärgert, daß sich die Radioindustrie lange geweigert hat, die in erheblichem Umfang gestohlenen Autoradios mit einer eindeutigen Kennung zu versehen. Es ist für mich erneut unerträglich, daß die Automobilindustrie zwar vielerlei Schnickschnack in die Autos einbaut, die der Bequemlichkeit dienen, etwa elektrisch einstellbare Außenspiegel, aber keinerlei Anstrengungen unternommen hat, durch geeignete Wegfahrsperren dem Diebstahl vorbeugend entgegenzuwirken.
({6})
Ich kenne die europarechtlichen Schwierigkeiten, aber ich bin der Meinung, daß der 30. August 1994 der letzte Zeitpunkt ist, ab welchem in die Fahrzeuge Wegfahrsperren eingebaut sein müssen.
Der Staat kann im Bereich der inneren Sicherheit keine Rundumversorgung zur Verfügung stellen, stellt das Positionspapier der F.D.P.-Fraktion zur inneren Sicherheit zutreffend fest. Der mündige Bürger schützt sich in erster Linie selbst. Aber der Massenkriminalität muß auch durch mehr Polizei auf der Straße begegnet werden. Sie gibt dem Bürger das Gefühl sichtbaren Schutzes. Für den Täter erhöht die Anwesenheit der Polizei das Risiko des Entdecktwerdens. Gerade dieses Risiko ist nach allen kriminologischen Untersuchungen dasjenige, das den Täter viel besser
als Strafandrohungen davon abhält, Straftaten zu begehen. Es kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Polizei auf der Straße macht sie für den Bürger und damit auch für präventive Maßnahmen ansprechbar.
Zum Schluß gebe ich eine persönliche Überlegung zu bedenken, die in meiner Fraktion noch nicht diskutiert ist. Ist es nicht vernünftig, sich wie beim Thema Asyl möglichst schnell mit der Opposition, mit den Ländern zusammenzusetzen und eine Lösung anzustreben?
({7})
Es würde allen demokratischen Parteien dienen, wenn wir uns gemeinsam als handlungsfähig erweisen würden.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, unser Kollege Eduard Lintner.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich greife gern ein Stichwort auf, das Kollege Graf geliefert hat, nämlich gegenseitige Schuldzuweisung zu vermeiden. Aber, Herr Kollege Graf, wenn man aufmerksam zugehört hat, so ist genau dies von Ihnen oder den Rednern Ihrer Fraktion den ganzen Abend nicht beachtet worden, denn Sie haben sich im wesentlichen darauf beschränkt, immer den Bund anklagend als jemand hinzustellen, der seine Hausaufgaben auf dem Sektor der inneren Sicherheit nicht gemacht hätte.
({0})
Herr Professor Meyer, Ihre Darlegungen waren besonders peinlich, weil Sie einschlägig fachlich qualifiziert sind und trotzdem hier so getan haben, als wüßten Sie nicht, daß die Hauptlast der Kriminalitätsbekämpfung in der Bundesrepublik Deutschland in der Tat bei den Ländern liegt.
Noch eines, Herr Kollege Graf, weil Sie ein Beispiel erwähnt haben, bei dem ich mich persönlich sehr engagiert habe, Ebersbach als Stichwort. Ich war dort und habe in der Tat mit allen Betroffenen gesprochen. Wir haben genau die Maßnahmen verabredet, die Sie hier einfordern, nämlich unorthodoxe, gar nicht so sehr im polizeilichen Bereich angesiedelte. Beispielsweise habe ich dafür gesorgt, daß schnell über 30 Funktelefone von der Telekom zu Konditionen wie für normale Anschlüsse zur Verfügung gestellt worden sind, einfach damit die Benachrichtigung der Polizei schneller erfolgen kann. Wir sind gerade dabei, bestimmte Übergänge durch Betonklötze zu blockieren, damit Kfz die Grenze nicht unkontrolliert, beispielsweise zum Abtransport von Diebesgut die Grenze überschreiten können. Gerade aus dieser Ecke habe ich vor drei Wochen einen Dankesbrief dafür bekommen, daß diese Maßnahmen die Situation in der Tat sehr, sehr verbessert hätten. Wir sind uns aber einig, daß angesichts der Situation, daß die bebauten Bereiche nur durch ein Rinnsal - die Spree
ist dort nur ein Rinnsal - wenige Meter getrennt sind, die Polizei natürlich nicht ständig überall sein kann, so daß Übergriffe dieser Art nicht völlig ausgeschlossen werden können. Aber ich bin froh, daß sich die Situation dort im Vergleich beispielsweise zu vor einem Jahr deutlich verbessert hat.
Meine Damen und Herren, es ist schon mehrfach festgestellt worden: Das Gefühl der Bedrohung ist keineswegs Ausdruck übertriebener Furchtsamkeit. Denn immerhin wurden 1992 für die Bundesrepublik Deutschland in der polizeilichen Kriminalstatistik fast 6,3 Millionen Straftaten registriert, was einem Anstieg von fast 10 % entspricht. Der Anstieg konzentriert sich gerade auf jene Kriminalitätsbereiche, die für das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung eine besondere Bedeutung haben, Stichwort „Diebstahlskriminalität" , beispielsweise Raubtaten. Dazu sind heute mehrfach konkrete Zahlen genannt worden; ich möchte darauf verweisen.
Diese Skizzierung der Lage gilt leider auch für dieses Jahr, denn es zeichnet sich keine Abschwächung der Kriminalitätssituation ab. Wir stehen im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung vor großen Herausforderungen. Wenn ich „wir" sage, sind das vor allem die Länder. Ich sage aber auch ganz bewußt „wir", denn eine der Ursachen liegt natürlich auch im gesamtgesellschaftlichen Wertewandel, dem eben nicht allein mit staatlichen Mitteln entgegengetreten werden kann.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch davor warnen, Stichworte wie z. B. „soziale Kälte" als Erklärung zu verwenden. So einfach, glaube ich, kann man es sich nicht machen. Denn bedenken Sie: Beispielsweise Frankfurt hat mit einer relativ geringen Zahl von Arbeitslosen mit die höchste, vielleicht sogar die höchste Kriminalitätsbelastung. Wenn Sie an die Situation der fünfziger Jahre zurückdenken, so war die Kriminalitätsbelastung im Vergleich zu heute geradezu gering, obwohl die soziale Situation der Menschen natürlich extrem schlecht war.
In diesem Zusammenhang muß man, glaube ich, andere Ursachen erwähnen; auch sie sind teilweise schon genannt worden: z. B. die Anonymisierung der Gesellschaft, das Auseinanderleben von Familien, der schwindende Einfluß wertebildender und wertestabilisierender Institutionen wie Schulen, Kirchen, Vereine usw.
({1})
Meine Damen und Herren, hier liegen Ursachen, die wir nur gemeinsam angehen können.
Die Aufgabe, diese Entwicklung zu korrigieren, kann nur bewältigt werden,
({2}) wenn sie von uns -
Nicht Sie sind gemeint, Herr Parlamentarischer Staatssekretär. Ich finde, da hinten ist ein ausgesprochenes Konferenzgestühl. - Bitte fahren Sie fort.
Vielleicht unterhalten sie sich
darüber, wie sie die Regierung in ihrem Kampf gegen die Kriminalität unterstützen können.
({0})
Meine Damen und Herren, die Aufgabe, diese Entwicklung zu korrigieren, kann nur bewältigt werden, wenn sie von allen gesellschaftlichen Kräften mitgetragen und unterstützt wird. Aber auch jeder einzelne ist gefordert, denn auch durch rechtstreues Verhalten in Verkennung der Tatsache, daß es sich um einen Rechtsbruch handelt, der verharmlosend als Bagatelle oder als Kavaliersdelikt abgetan wird, kann er ein falsches Beispiel geben.
Fatale Folgen, meine Damen und Herren, hat in diesem Zusammenhang - auch ich möchte darauf hinweisen, weil wir in der Tat höchst besorgt sind; der Kollege van Essen hat es bereits getan - nach unserer Auffassung die faktische Nichtkenntnisnahme von bestimmten Delikten mit angeblich geringer Schadenshöhe in einzelnen Ländern. Hier wird ein völlig falsches Signal der Harmlosigkeit und der Verniedlichung gesetzt.
({1})
- Das gilt auch für das Schwarzfahren, sehr wohl, Herr Kollege Geis.
Meine Damen und Herren, wir müssen aber auch einige Vorschriften ändern. Lassen Sie mich dafür einige Beispiele erwähnen:
Die Möglichkeiten zur Anwendung des beschleunigten Strafverfahrens nach § 212 StPO müssen ausgedehnt und erleichtert werden, insbesondere durch eine Erhöhung des zulässigen Strafrahmens, der bisher bekanntermaßen lediglich ein Jahr beträgt.
Die Bestimmungen zur Verhinderung der Prozeßverschleppung müssen verstärkt werden. Es kann nicht angehen, daß Beweisanträge mit verfahrenverzögernder Wirkung ganze Spruchkörper lahmlegen.
Schließlich bedarf es auch eines länderübergreifenden staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregisters zur besseren Koordinierung der Strafverfolgung.
Gerade die steigende Jugendkriminalität ruft bei vielen Bürgern besondere Besorgnis hervor. Damit Jugendliche erst gar nicht in die Gefahr geraten, straffällig zu werden, muß die Erziehungskraft der Familie und der Schule gestärkt werden.
({2})
Junge Menschen brauchen für ein demokratisches Zusammenleben Orientierungswissen und Wertvorstellungen, berufliche Chancen und sinnvolle Freizeitangebote, um sich in einer komplizierten und sich wandelnden Welt zurecht zu finden
({3})
und um die nötige innere Festigkeit zu gewinnen und Toleranz üben zu können.
Daneben gilt es nach unserer Auffassung auch, das Instrumentarium des Jugendstrafrechts den veränderten Verhältnissen anzupassen. Das Jugendgerichtsgesetz muß dahingehend überprüft werden, ob neben den vorrangig zu berücksichtigenden Erziehungsgedanken das Präventionsziel des Schutzes der Allgemeinheit vor Gewalttätern treten kann.
({4})
Dieser Gesichtspunkt muß sich in Gesetzesänderungen wiederfinden, die zu einer Beschränkung der Strafaussetzungsmöglichkeiten bei Heranwachsenden durch die stärkere Berücksichtigung der Neigung des Täters zu Gewalttaten und zur Aufnahme des Schutzgedankens führen.
({5})
Meine Damen und Herren, unangebracht erscheint es auch, wenn das Jugendstrafrecht auch in Zukunft so extensiv angewendet wird, wie es bislang der Fall ist.
({6})
Deshalb sollte die Regelung zur Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende so geändert werden, daß das Jugendgerichtsgesetz nur dann anwendbar ist, wenn der Täter zur Tatzeit nach seiner geistigen und sittlichen Entwicklung ausnahmsweise noch einem Jugendlichen gleichstand und eine erzieherische Einwirkung überhaupt noch möglich ist.
({7})
Im Kampf gegen die wachsende Kfz-Diebstahlskriminalität müssen - das betone ich ausdrücklich - sich auch Automobilindustrie und Versicherungswirtschaft ihrer Verantwortung bewußt sein, möglicherweise erst richtig bewußt werden.
({8})
Sicherungssysteme für Fahrzeuge können und müssen verbessert werden. Allerdings - das war vorhin mein Zwischenruf, Herr Graf -
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, die vereinbarte Redezeit ist schon ein gutes Stück überschritten.
({0})
Ich versuche, schnellstens zum Schluß zu kommen. Ich möchte nur den Gedanken noch zu Ende führen. - Wir müssen dabei natürlich auch darauf achten, daß wir uns innerhalb der EG bewegen, das heißt nationale Alleingänge eigentlich ausscheiden.
({0})
Lassen Sie mich darauf hinweisen, daß das Bundesinnenministerium ein Gespräch mit der Automobilindustrie und der Versicherungswirtschaft zur Bekämpfung dieser Art von Kfz-Kriminalität bereits auf den 19. November dieses Jahres terminiert hat. Sie sehen also, daß wir viele Ihrer Gedanken bereits in konkrete Arbeit umsetzen. Wir sind offenbar in mancherlei Hinsicht schneller, als die Opposition denkt.
({1})
Ich erteile dem Abg. Dr. Rudolf Krause ({0}) das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin sehr zufrieden mit dem Verlauf dieser Debatte. Wenn ich hämisch wäre, würde ich sagen, es reicht für 20 Flugblätter. Aber je leerer das Haus - das ist oft so -, um so inhaltsreicher und fairer sind die Debatten.
Unter Massenkriminalität sind nicht nur Diebstahl und Gewaltkriminalität zu fassen, sondern all das, was täglich massenhaft auftritt, also auch Raubdelikte, die - ich könnte von heute zitieren - Ausländerkriminalität, Rauschgiftkriminalität, Beschaffungskriminalität, die Alkoholkriminalität, die nicht vergessen werden sollte - am Hauptbahnhof Bonn sieht man es ständig -, und die organisierte Kriminalität.
Was aber die Bevölkerung am meisten beunruhigt, sind die Explosion der Gewaltkriminalität und auch die Zunahme der Gewaltkriminalität bei Jugendlichen und bei Kindern. Wir hatten 1992 - ich zitiere einen Antrag der PDS - 2 283 ausländerfeindliche Gewalttaten. Diese sind im Zusammenhang mit politischer Kriminalität zu sehen, die es zu bekämpfen gilt. Aber es sind 1,5 % von den 150 000 gesamten Gewaltdelikten gegen Personen. Alle Opfer haben nach dem Gleichheitsgrundsatz das gleiche Recht auf Opferschutz, das gleiche Recht auf Prävention.
Nun in eigener Sache: 11. 9., Ludwig Bauer in München, Unterkieferfraktur beim Wahlkampf zur OB-Wahl durch eine bekannte Türkenbande Jugendlicher. 1. 10., Dr. Jürgen Heidrich in Köln, ein älterer Herr vor einer angemeldeten Versammlung, Schädelverletzung durch vermummte Autonome. Schlimmster Fall: 14. 10., Gerd Amling, Dortmund, ein älterer Finanzbeamter, Schädelverletzung unter den Augen der Polizei. Bekannte meiner Freunde in der Polizei haben gesagt: Ihr müßt euch bei Herrn Schnoor bedanken: Wir dürfen nicht eingreifen.
Hausfriedensbruch, Besetzung eines fremden Grundstücks, Schädelverletzung unter den Augen der Polizei. Ich habe die Polizei gesehen, ich habe die Vermummten gesehen, und ich habe unsere Freunde dort gesehen.
Es darf auch nicht hingenommen werden, daß der notwendige Kampf gegen ausländerfeindliche Gewaltkriminalität ein gesellschaftliches Alibi ist, bei anderen Kriminalitätsarten wegzusehen, und ein Alibi ist für eine gewisse Tatenlosigkeit gegenüber der Kriminalitätsexplosion von 5,3 Millionen 1991 auf wahrscheinlich über sieben Millionen bis Ende dieses Jahres.
Was lehrt uns das? Herr Marschewski, Sie haben sehr richtig gesagt von diesem Skandal in den Medien, Mordanschlag auf den Kanzler. Ich zitiere Norbert Geis: Die Diffamierung der Polizisten als Bullen, was die linken Chaoten an die Wände schmieren - ich zitiere -: „Deutsche Polizisten - Mörder und Faschisten".
Wer das toleriert, wer auch das toleriert, was an Beleidigungen im Landtag von Stuttgart passiert ist, darf sich nicht wundern, wenn nicht nur Veranstaltungen von uns Republikanern, sondern auch CDU-Geschäftsstellen und auch wie hier bei der Asyldebatte, gewählte Abgeordnete Opfer organisierter Gewaltkriminalität werden.
Ich unterstreiche die Antwort der Bundesregierung zum Punkt 3.14, daß Gewalt kein Mittel der politischen Auseinandersetzung sein kann und sein darf. Aber ich sage wieder in eigener Sache: Das gilt auch für friedliche Versammlungen der Republikaner. Ich kenne Republikaner seit vier Monaten nur als Opfer von Gewalt.
Wer behauptet, es seien Schreibtischtäter der Gewalt, das ist zumindest frei erfunden, wenn nicht erstunken und erlogen. Ich möchte ganz vorsichtig daran erinnern, es gab auch in der Vergangenheit Gewalt - ich denke nur an die Inquisition -, politische Gewalt, für die es auch Schreibtischtäter gab. Man soll also vorsichtig sein, falsch Zeugnis zu reden. Da gilt das Wort: Was ich nicht will, das man mir tu, das füg' auch keinem anderen zu.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
- „Prost" schadet im Protokoll immer dem, der es sagt.
Herr Kollege Krause, solange es diesen Bundestag gibt, solange ich mich erinnern an - ich habe 1956 hier als Korrespondent über den Bundestag berichtet -, mußte jeder vierte oder fünfte immer, wenn er nach dem Wasserglas gegriffen hat, mit dem Zuruf „Prost" rechnen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir haben einen Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/5926 vorliegen. Wir haben einen Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/5953 vorliegen. Und wir haben die Vorlage auf Drucksache 12/4378, das ist die Entschließung des Europäischen Parlaments zur Gründung von Europol, vorliegen. Sind Sie in allen drei Fällen mit der Überweisung an die zuständigen Ausschüsse einverstanden? - Dies ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 100 zu Petitionen ({1})
- Drucksache 12/4824 theoretisch haben wir nach einem Beschluß des Ältestenrates eine halbe Stunde zur Verfügung. Wenn ich es richtig sehe, hat die Unionsfraktion keinen Redner gemeldet.
({2})
- Der Kollege Kampeter gibt zu Protokoll,*)
({3})
ebenso der Kollege Dr. Karlheinz Guttmacher*)
({4})
*) Anlage 5
Vizepräsident Hans Klein
und ebenso die Kollegin Dr. Barbara Höll.*)
({5})
Um das Wort gebeten aber hat - und bekommt erteilt - der Kollege Peter Conradi.
({6})
Der Herr Präsident gibt sich große Mühe, ein gleiches Maß an Beifall für seine Rede zu bekommen wie die Kolleginnen und Kollegen, die ihre Rede zu Protokoll gegeben haben.
Wir wollen hier zu später Stunde, fast zur Geisterstunde, über die Petition „Bürgerbegehren '92" reden, eine Petition, deren Petenten u. a. sämtliche Zahlungen an die Abgeordneten, die Minister, die Parteien, die Fraktionen und die Stiftungen um 5 % gekürzt wissen wollen, eine Petition, die alle Zuschüsse an Fraktionen, Parteien und Stiftungen von unabhängigen Kommissionen festsetzen lassen will, auch - so steht es wörtlich darin - alle Vergütungen, Entschädigungen und sonstigen Einkünfte von Abgeordneten. Dabei habe ich gestaunt und mich gefragt, wie eine unabhängige Kommission „sonstige Einkünfte" eines Abgeordneten, etwa Rechtsanwaltsoder Autorenhonorare, festsetzen will.
({0})
Die Petenten wollen, daß alle Aufsichtsratsposten, Beraterverträge und sonstigen Nebeneinkünfte veröffentlicht werden, daß Abgeordnetenbestechung strafbar wird,
({1})
daß Wahlkampfkostenerstattung nach tatsächlich erhaltenen Stimmen bemessen wird.
Initiatorin des „Bürgerbegehrens '92" ist die ehemalige Bundestagsabgeordnete, die Staatssekretärin a. D. und Staatsministerin a. D. Frau Dr. Hildegard Hamm-Brücher
({2})
und der Bund der Steuerzahler.
Die Petition hat immerhin 51 000 Unterschriften und ein sehr breites Echo in der deutschen Presse gefunden. Deswegen meine ich, wir sollten sie hier nicht einfach beerdigen, sondern ernsthaft diskutieren.
({3})
- Nein, Herr Kollege Dr. Hitschler, ich würde es gern zu Ende führen.
Wir nehmen die Petition ernst; sie ist ein Zeichen für das Syndrom der Politikverdrossenheit, für zunehmende Zweifel an den drei Ps: Parteien, Politiker und Parlamente. Das vierte P, die Presse, schürt diese Zweifel noch weiter.
Die Initiatoren machen ihre Verdrossenheit am Geld fest; das ist verständlich und beliebt. Wäre die
') Anlage 5
Politik überzeugender, wäre der Ärger über das Geld für die Politik möglicherweise geringer. Viele Menschen sind über die Regierungspolitik verärgert und enttäuscht
({4})
- lassen Sie mich den Satz noch zu Ende führen -, aber auch die Opposition im Bundestag könnte stärker und überzeugender sein.
({5})
Vieles wird hier gemeinsam verabschiedet. Die Bundesratsmehrheit zwingt zu Kompromissen. Rentenreform, Einheitsvertrag, Gesundheitskostenreform, Asylrecht, Solidarpakt, Maastricht: Was alles haben wir nicht gemeinsam in Kompromissen beschlossen! Manchmal frage ich mich, ob wir nicht zuviel gemeinsam beschließen; denn allmählich wird für die Wähler der Unterschied zwischen der politischen Mehrheit und der opponierenden Minderheit unkenntlich. Sie sagen: Die wollen eigentlich alle das gleiche; vor allem wollen sie unser Geld.
So sagt auch diese Petition. Deshalb wollen wir, daß über das Thema „Parteien, Parlamente und Politik" auch im Parlament einmal ernsthaft und gründlich geredet wird. Es ist erstaunlich: Jede Akademie redet darüber, die ganze Presse schreibt darüber, nur die Volksvertretung, dieses Haus, hält sich schamvoll zurück, über das Thema „Politikverdrossenheit" hier einmal eine ganztägige ernsthafte Debatte zu führen. Wir wissen doch: Gut sind wir bei den großen Debatten gewesen, ob es Berlin, der § 218 oder Maastricht war. Bei den großen Debatten hat sich dieses Haus doch in guter Weise gezeigt, während die vielen kleinen langweiligen Sachdebatten niemanden vom Stuhl reißen. Deswegen rege ich ernsthaft an, daß sich alle Fraktionen bemühen, einen Tag zu finden, an dem wir über dieses Syndrom reden.
({6})
Nun hat der Petitionsausschuß diese Petition sehr ernsthaft beraten. Die meisten Forderungen der Petenten sind inzwischen in Arbeit. Einige sind schon erfüllt: die Kürzung von Ministergehältern, das Einfrieren der Abgeordnetenentschädigung, die Einrichtung unabhängiger Kommissionen. Dabei habe ich mich gewundert, daß in der Petition steht - und unter ihr steht ja als erster Name der Name einer Staatsministerin -, unabhängige Kommissionen sollten die Abgeordnetenentschädigung und die Parteienzuschüsse festsetzen. Das kann ja wohl nicht sein. Nach unserer Verfassung kann nur das Parlament und nicht irgendeine Kommission Ausgaben festsetzen.
Wir haben eine gesetzliche Regelung der Fraktionsfinanzierung in Arbeit, die die Fraktionsfinanzierung transparenter machen soll. Wir sind am Parteiengesetz und werden künftig die Zuschüsse an die Parteien nach den erhaltenen Stimmen bemessen.
Die Veröffentlichung von Aufsichtsratsmandaten ist längst geregelt. Die Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung ist in Arbeit. Das meiste ist also schon erledigt oder in Arbeit.
Ob der 12. Bundestag noch das Thema Abgeordnetenentschädigung und -versorgung bewältigen wird, ist offen. Wir müßten uns dabei insbesondere auch mit den Doppelbezügen, vor allen Dingen den Versorgungsbezügen der Kolleginnen und Kollegen beschäftigen, die hier eine Zeitlang Abgeordnete und außerdem Staatssekretärin und Staatsministerin waren. Ich schlage vor, daß wir versuchen, das noch im 12. Bundestag zu packen. Denn sonst dauert es zwei Jahre. Es wäre gut, wir hätten dieses schwierige Thema vom Tisch.
Die Forderungen der Petenten sind also weithin erfüllt. Ob das ihre Verdrossenheit mildert, weiß ich nicht. Es wird vermutlich auch davon abhängen, ob die Presse etwas über die Erledigung der Petition berichtet. Ich habe da meine Zweifel. Die Presse hat zwar über die Petition ungeheuer breit berichtet. Nun sind wir gespannt, ob sie auch ebenso breit über das Ergebnis der Petition berichtet. Ich habe da Zweifel.
({7})
Zu Recht hat der Petitionsausschuß gesagt:
Die starke publizistische Auswertung der Petition seitens der Antragsteller nährt die Vermutung, daß damit andere &s die in der Petition vorgegebenen Ziele verfolgt werden sollen.
Abschließend ein Wort zu den Initiatoren. Der Bund der Steuerzahler kritisiert seit langer Zeit heftig die Ausgabenpolitik der öffentlichen Hände. Das ist sein gutes Recht, auch wenn gelegentlich der Eindruck entstehen könnte, der Bund der Steuerzahler wolle den „armen Staat" , den sich bekanntlich nur reiche Leute leisten können.
Wir haben erstaunt gelesen, daß die unabhängige Kommission zur Abgeordnetenfinanzierung, der ja die Präsidentin des Bundes der Steuerzahler angehört, uns eine Erhöhung unserer Gehälter um 30 % vorschlägt. Das steht in einem gewissen Widerspruch zu dieser Petition, die ja den Namen dieser Präsidentin mitträgt. Die Präsidentin des Bundes der Steuerzahler sollte diesen Widerspruch doch alsbald aufklären.
Wir wüßten auch gern, wer den Bund der Steuerzahler finanziert und wer dazugehört. Ich bemühe mich seit einem Jahr vergeblich, Mitglied des Bundes der Steuerzahler zu werden.
({8})
Das wird mir mit fadenscheinigen Begründungen verwehrt. Ich muß hier doch sagen: Wer so heftig die öffentlichen Hände, die Parteien und die Parlamente kritisiert, wie der Bund der Steuerzahler, sollte selber einmal offfenlegen, wie es bei ihm intern aussieht.
({9})
Wer einen Abgeordneten, der brav seine Steuern zahlt und seit 20 Jahren seine Einkommensteuererklärung offenlegt, nicht in diesen Bund der Steuerzahler aufnehmen will, muß sich fragen lassen, ob er etwas zu verbergen hat.
Zum Schluß ein Wort an unsere ehemalige Kollegin Frau Dr. Hamm-Brücher. Wie einige unserer Ehemaligen - und diese gibt es in allen Parteien - sucht sie das öffentliche Echo, indem sie das Parlament, dem sie einst angehört hat, öffentlich kritisiert. Das ist zwar nicht die feine englische Art; aber wir ertragen das. Ärgerlich wird es jedoch, wenn Frau Dr. HammBrücher öffentlich fordert:
In der Demokratie muß alles, was mit Geld zu tun hat, transparent sein.
Ich habe sie daraufhin höflich gebeten, diesem Prinzip zu folgen und offenzulegen, welche Versorgungsbezüge sie aus ihren verschiedenen öffentlichen Ämtern erhält. Darauf hat sie mir ausweichend geantwortet und mir dann durch ihren Anwalt einen Prozeß angedroht. Wenn sie mit dem Prozeß ernst macht, werde ich - das habe ich mir überlegt - den Kollegen Detlef Kleinert bitten, mich anwaltlich zu betreuen.
({10})
Bis dahin werde ich weiter erklären, daß Frau Dr. Hamm-Brücher nach meiner und anderer Fachleute sorgfältiger Berechnung aus ihren öffentlichen Ämtern und Mandaten derzeit eine kumulierte Altersversorgung von etwas mehr als 17 000 DM im Monat bekommt. Das steht ihr zu. Ich kritisiere das nicht. Ich stelle nur einen gewissen Widerspruch zu dieser Petition fest, über die wir reden und die unter dem Motto „Mehr Bescheidenheit in der Politik" läuft.
Wem fällt dazu nicht Heinrich Heine ein:
Ich kenne die Weise, ich kenne den Text, ich kenne die Herren
- hier müßte man sagen: die Damen Verfasser. Ich weiß, sie trinken heimlich Wein und predigen öffentlich Wasser.
Das schwerste in der Politik - so hat Erhard Eppler einmal gesagt - ist die Glaubwürdigkeit.
Die SPD-Fraktion dankt dem Petitionsausschuß für die sorgfältige Arbeit an dieser Petition. Wir stimmen der Empfehlung des Petitionsausschusses, die Petition sei nicht geeignet, in eine Gesetzesinitiative einzumünden, gerne zu.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die laufenden Nummern 70 bis 76 der Sammelübersicht 100? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die aufgerufenen Nummern sind angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 115 zu Petitionen
({1})
- Drucksache 12/5645 -
Vizepräsident Hans Klein
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist wiederum eine Beratungszeit von einer halben Stunde vorgesehen. Mir liegen die Manuskripte des Kollegen Konrad Weiß, der Kollegin Dr. Ruth Fuchs und der Kollegin Birgit Homburger mit der Bitte vor, sie zu Protokoll zu nehmen.*) Entspricht das Plenum dieser Bitte? - Das ist offensichtlich der Fall.
Ich erteile dem Kollegen Horst Peter das Wort.
Herr Präsident! Keine Angst, auch ich werde mein Manuskript zu Protokoll geben.** )
({0})
Allerdings muß ich mich im vorhinein bei dem Stenographischen Dienst des Deutschen Bundestages für meine Handschrift entschuldigen. Ich tue das hiermit und bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, Verständnis dafür zu haben, daß ich Ihren Händen zwar eine Entlastung zumute, Ihren Augen aber nicht.
Schönen Dank.
({1})
Nach dieser Ankündigung des Kollegen Horst Peter frage ich das Haus, ob es damit einverstanden ist, daß er seine Rede zu Protokoll gibt. - Das ist der Fall.
({0})
- Sie haben doch, Herr Koppelin, keine graphologischen Motive.
({1})
Damit kann ich die Aussprache schließen und zur Abstimmung kommen, und zwar zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/5917. Wer stimmt für den Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 12/5645? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 10: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({2}) zu dem Antrag der Gruppe der PDS/ Linke Liste
*) Anlage 6
**) Wird nachträglich zu Protokoll gegeben
Ausrufung der manifesten Krise für den Stahlmarkt in der Europäischen Gemeinschaft
- Drucksachen 12/4448, 12/5895 Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Weiermann
Auch hier ist eine halbe Stunde Debattenzeit vom Ältestenrat vorgeschlagen worden. Es liegt mir aber bis zum Augenblick nur eine Wortmeldung vor.
({3})
- Wer war das?
({4})
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile dem Kollegen Henn das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben zwar schon oft in diesem Jahr über Stahl diskutiert, aber die Krise ist nur schlimmer geworden, weil politisch buchstäblich nichts passiert ist. Ich denke, es wird Zeit, daß - wie die Kumpel sagen - Butter bei die Fische kommt.
Deswegen finde ich es gut, daß der Deutsche Bundestag sich nicht scheut, auch noch kurz vor Mitternacht die Sorgen der 200 000 Stahlarbeiter zu diskutieren. Andererseits ist diese Uhrzeit für diejenigen, über die wir heute diskutieren, ja keine ungewöhnliche Arbeitszeit.
({0})
Die Nachtschicht hat gerade vor zwei Stunden begonnen. Insofern können auch wir hier noch diskutieren.
Erfreulich ist, daß noch ein so großer Kreis von Abgeordneten dieser Debatte folgt. Ich freue mich ganz besonders, daß meine Gruppe heute Disziplin zeigt und noch zu fast 40 % anwesend ist.
({1})
Die PDS/Linke Liste hat bereits am 5. März dieses Jahres den heute zur Debatte stehenden Antrag eingebracht. Es ist ein - wie der Kollege Urbaniak in der ersten Lesung per Zwischenruf charakterisierte - schlichter Antrag; denn er enthält nur zwei Zielsetzungen.
Erstens. Die Bundesregierung soll in Brüssel auf Anwendung des Krisenmechanismus nach EGKS-Vertrag, Art. 58 und 61, drängen.
Zweitens. Die Bundesregierung soll eine nationale Stahlkonferenz mit dem Ziel abhalten, die verantwortlichen Kräfte zu einer gemeinsamen Linie auf nationaler Ebene zu bringen.
Wir sehen den notwendigen Gang der Dinge eben so, daß zuallererst über die ökonomische und politische Konzeption zur Bewältigung der Stahlkrise diskutiert und entschieden werden muß. Erst wenn diese Konzeption für die deutsche und die europäische Stahlindustrie auf dem Tisch liegt und wenn die
Schritte zur Umstrukturierung der Stahlindustrie festgelegt sind, kann man den zweiten Schritt tun und den regionalen und sozialpolitischen Flankenschutz konkretisieren. Also erst die große Linie festlegen: Wo soll künftig in welchen Größenordnungen produziert werden? Wo werden Kapazitäten aus dem Markt genommen? Wo werden subventionierte Investitionen genehmigt und wo nicht?
Wir wissen auch, daß es am bitteren Ende ohne Sozialpläne nicht abgehen wird. Aber deren Substanz und Finanzierbarkeit hängen auch davon ab, ob die Unternehmen bis dahin finanziell überhaupt noch in der Lage sein werden. Denn wenn die derzeitige Verlustsituation andauert, ist das sicher nicht so. Niemand wird ja wohl davon ausgehen, daß Sozialpläne ausschließlich aus Montanmitteln oder gar öffentlichen Mitteln von Bund und Ländern finanziert werden sollen.
Weil aber den deutschen Stahlunternehmen die Luft auszugehen droht, brauchen wir vordringlich Ruhe am Stahlmarkt, sozusagen eine Auszeit, eine Stabilisierung der Erlöse durch ein Mengen- und Preisgerüst, also Quotensystem und Mindestpreisregelung. Die Regulierung des Stahlmarkts könnte Zeit geben, die politische und ökonomische Konzeption für eine faire und ausgewogene Behandlung der Stahlregionen in Europa auszuarbeiten. Dafür wiederum ist eine im nationalen Rahmen abgestimmte Linie aller Verantwortlichen unerläßlich.
Ein klares Signal der Bundesregierung für diesen Weg wäre auch deshalb erforderlich, damit einige deutsche Stahlbosse aufhören, von einer Marktbereinigung im klassischen Sinne durch Konkurs oder massive Stillegungsmaßnahmen bei ihren deutschen Wettbewerbern zu träumen.
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- So ist es.
Notwendig wäre, die Verantwortlichen und die Betroffenen sowie die Unternehmer und die Gewerkschaften in Deutschland an den gemeinsamen Tisch zu holen, die Tür zuzuschließen und erst wieder zu öffnen, wenn weißer Rauch aufsteigt, der zeigt, daß man sich einig ist. Ich sehe bis heute keinen sachlichen Grund, der den Bundeswirtschaftsminister abhalten sollte, eine nationale Stahlkonferenz auf den Weg zu bringen.
Gegen unsere Forderung nach Ausrufung der manifesten Krise, nach Quotenregelung und Mindestpreisfestsetzung werden in der Hauptsache zwei Einwände geltend gemacht: erstens der prinzipielle Vorwurf, hier würde Planwirtschaft betrieben, und zweitens die Behauptung, die Sache habe von 1980 bis 1985 nicht funktioniert.
Beide Einwände sind nicht stichhaltig; denn es ist völlig müßig, über das Ausmaß an Staatsinterventionismus gerade in der Stahlindustrie zu streiten. Es ist doch wohl unbestritten, daß unsere Vorstellung, Mindestpreise zu fixieren, nichts Neues ist.
Preislisten gibt es bei der Hohen Behörde für Kohle und Stahl, seit Herr Schumann und Herr Adenauer den Vertrag unterschrieben haben.
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Seither kann von Marktwirtschaft nur noch sehr beschränkt gesprochen werden. Wir brauchen uns über diesen Vorgang also überhaupt nicht mehr aufzuregen. Die Preise auf einem Niveau zu halten ist doch die eigentliche Lösungsmöglichkeit für die Stahlindustrie. Wenn die Preise nicht auskömmlich sind, müssen die Finanzminister dauernd antreten, oder die Aktionäre oder die Unternehmen gehen pleite. Also müssen die Preise vernünftig sein. Ich weiß, daß an die Stahlverarbeiter gedacht werden muß. Die haben aber keinen Anspruch darauf, Vormaterial zu Preisen zu bekommen, bei denen teilweise die Finanzminister vorher bezahlt haben.
Ich möchte der Fairneß halber anmerken, daß die letzten acht Sätze, also alles, was die Mindestpreise betraf, ein wörtliches Zitat aus der Rede des Bundeswirtschaftsministers vom 28. Oktober 1982 waren. Der hieß damals Lambsdorff und hätte sicher auch schon höchst marktradikal reden dürfen; denn die Liberalen waren ja bereits vier Wochen vorher von den Sozialdemokraten in das Boot der Konservativen umgestiegen.
Mir kommt es auch merkwürdig vor, daß Regierung und Mehrheitsfraktionen dieses Bundestages so vehement gegen Marktregulierung wettern, während sie doch gleichzeitig das System der Produktionsquoten und Preisregulierung im Agrarbereich mit rund 25 Milliarden DM jährlich für direkte und indirekte Gemeinschafts- und innerstaatliche Subventionen stützen, also mit Mitteln der Steuerzahler und zu Lasten der Verbraucher einen großen Teilmarkt regulieren.
Ich will an dieser Stelle nicht bewerten, wem das im besonderen nützt, aber im Verhältnis zu dieser teuren und leider relativ dauerhaften Regulierung - ob sinnvoll oder nicht, sei dahingestellt - fordern wir lediglich eine vorübergehende Aussetzung des mörderischen Wettbewerbs der Industriegiganten bei Stahl, deren Schicksal ja zugleich das Schicksal von Tausenden von Arbeitnehmern und ganzen Regionen ist.
Nennen Sie das meinetwegen Planwirtschaft. Aber wenn Sie die im EGKS-Vertrag vorgesehenen Markteingriffe ablehnen, obwohl regional- und arbeitsmarktpolitische Erwägungen das gebieten würden, dann sind Ihnen allein die Folgen zuzurechnen.
Die Anlagen- und Produktionsstruktur, der Modernisierungsgrad und die Kostenstruktur der noch existierenden Werke in EG-Europa lassen sich durchaus vergleichen. Das hat die Subventionsrunde in den 80er Jahren bewirkt. Eine Ausnahme bildet lediglich das Eisenhüttenkombinat Ost. In der Stahlindustrie könnte also ein Kapazitätsabbau nach der Strategie des proportionalen Opfers bei Berücksichtigung der überproportionalen Anpassungslasten gefahren werden, die die deutsche Stahlindustrie im EG-Maßstab bereits getragen hat.
Wenn aber die unterschiedliche Finanzbasis der deutschen Wettbewerber den Ausschlag geben soll, wenn die deutsche Privatindustrie im Wettbewerb mit spanischen und italienischen Finanzministern feststellen soll, wo plattgemacht wird und wo nicht, dann heißt das Ergebnis regional- und arbeitsmarktpolitischer Kahlschlag in Teilen des Ruhrgebiets, an der Unterweser, in Ost-Brandenburg, an der Saar und in der Oberpfalz. Wir lehnen eine solche unverantwortliche Politik ab.
Der andere Einwand, das Quoten- und Preissystem von 1980 bis 1985 habe nicht funktioniert, wird vor allem an der Tatsache festgemacht, daß es einen Haufen Klagen gegeben habe, daß Unternehmen mit allerlei Tricks sowohl die Quoten überschritten als auch die Mindestpreise unterlaufen hätten. Ich bestreite ja nicht, daß es allerlei Merkwürdigkeiten gab. Da wurden sogenannte schwere Tonnen verkauft, oder es wurde V2A-Stahl zum Preis von Massenstahl abgegeben usw. Aber die Tatsache, daß es Regelverletzungen gab, rechtfertigt ja wohl nicht das Urteil, daß die Stahlmarktregulierung keine positiven Ergebnisse gehabt hätte. Wer solche Konsequenzen zieht, der müßte aber aus den Agrarsubventionsbetrügereien ganz schnell den Schluß ziehen, die Agrarmarktordnung abzuschaffen.
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- Darm machen Sie das einmal, bitte!
Ich möchte noch darauf hinweisen, daß auch das Wirtschaftsministerium, die Wirtschaftsvereinigung Eisen und Stahl und die europäische Kommission für freiwillige Vereinbarungen über Produktionsquoten und Preisabsprachen zwischen den Stahlunternehmen eintreten. Wir hatten das alles schon: Eurofer I, Eurofer II usw. Hier gilt, was dazu in der Begründung des SPD-Antrags gesagt wird:
Die Ausrufung der manifesten Krise ist notwendig, weil in einer durch Wettbewerb gekennzeichneten Wirtschaftsordnung freiwillige Vereinbarungen über Produktionsquoten und Preisabsprachen erfahrungsgemäß nicht greifen.
Es gibt nur eine wirkliche Schwierigkeit. Das ist die Festlegung eines einigermaßen gerechten Referenzzeitraumes für die Bestimmung der Quoten. Selbst Klöckner hat ja die Quoten Anfang der 80er Jahre nicht aus Jux und Dollerei überschritten, sondern weil mit der Festlegung des Bezugsjahres 1974 für die Quote die erst später realisierte Großinvestition für eine Warmbreitbandstraße nicht berücksichtigt wurde. Aber diese Schwierigkeiten sind überwindbar. Ich denke, hierin liegt auch eine Chance für die ostdeutschen Standorte. Wenn deren Quoten nur ein wenig an die Produktionsmengen vor dem Anschluß an die Bundesrepublik Deutschland heranreichen würden, so könnte es dort nur aufwärts gehen.
Wir sollten also dafür sorgen, daß die relative Marktposition der einzelnen Unternehmen bzw. Stahlindustrien der Länder der EG vorübergehend gesichert wird, daß bruchartige Verschiebungen verhindert werden. Daher bitten wir um Zustimmung zu unserem Antrag.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Ruprecht Vondran. - Herr Kollege Vondran, darf ich noch schnell eine Bemerkung zu dem Kollegen Urbaniak machen, der mich unter Hinweis darauf, daß die Uhr stehengeblieben ist, aufforderte, das als Hausherr in Ordnung zu bringen? - „Hausherr" kann man sagen, aber nicht „Hausmeister", Herr Urbaniak.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist spät; daher will ich mich darauf beschränken, ein paar Sätze zur Historie zu sagen, und den Rest meiner Rede über das, was zu geschehen hat, wenn Sie einverstanden sind, zu Protokoll geben.
Behördlich festgesetzte Quoten, kontrollierte Mindestpreise und Konferenzen: Diese Mittel empfiehlt die Gruppe PDS/Linke Liste zur Lösung der Stahlprobleme. Überraschen kann das nicht. Sie bewegt sich gewissermaßen in vertrauten Gewässern. Herr Kollege Henn, schon Wilhelm Busch wußte:
Und saß der Frosch auf goldnem Stuhl, er hupft zurück in seinen Pfuhl.
Früher, in alten DDR-Zeiten, war das Planungsvokabular geringfügig anders. Da agierte eine staatliche Planungskommission, erteilte eine Direktive, formulierte Aufgaben, ließ die Kollektive darüber diskutieren und machte den Betrieben dann staatliche Auflagen und wachte über die Planerfüllung. Die richtigen Austauschverhältnisse kontrollierte ein Amt für Preisbildung. Die so betriebene Staatswirtschaft hat Konkurs angemeldet. An den finanziellen Folgen tragen wir alle schwer. Das ist nicht gerade eine Empfehlung, künftig so weiterzumachen.
Doch nicht nur im Osten sind mit der Planwirtschaft schlechte Erfahrungen gemacht worden. Auch wir im Westen haben uns ja darin versucht. Auf französisches Drängen ist sie sogar Teil des Montan-Vertrages geworden. Für gute und sonnige Zeiten sorgt der Markt, für schlechte und trübe Tage der Plan. So das europäische Recht, die Art. 58 und 61, auf die sich der Antragsteller hier bezieht.
Wir haben das - ganz praktisch - in den Jahren 1980 und 1988 ausprobiert. Das Ergebnis war wahrlich nicht berauschend. Für kurze Zeit beruhigte sich der Markt,
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die Verteilungskämpfe fanden nicht mehr, Herr Kollege Urbaniak, bei den Kunden, sondern gewissermaßen in den Brüsseler Amtsstuben statt. Zugleich schwanden die Anpassungskräfte dieser Industrie.
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Am Ende ging das System vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg unter. Es war ein ruhmloses Ende. Tod durch Ertrinken in einer Flut von annähernd hundert Klagen - auch das nicht gerade eine Ermutigung, diese Versuchsreihe fortzusetzen.
Meine Damen und Herren, wer nach vorne schaut, wer eine durchgreifende Lösung will, muß die Funktionsfähigkeit des Marktes wiederherstellen. Was im einzelnen zu geschehen hat, das habe ich bereits an anderer Stelle vorgetragen und gebe ich jetzt hier zu Protokoll, damit man es nachlesen kann.*)
Ich bedanke mich sehr herzlich.
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Ist das Haus damit einverstanden, daß dieser Teil der Rede zu Protokoll gegeben wird?
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- Das ist so. Danke.
Ich erteile nun dem Kollegen Weiermann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich will nur wenige Bemerkungen machen, insbesondere weil ich heute morgen vor Ort im Revier die Empörung, die Sorgen und die
' Ängste der Menschen über die Entscheidung des Haushaltsausschusses am gestrigen Tag habe entgegennehmen können, nicht nur der Menschen, die kurz vor der Verabschiedung durch einen Sozialplan stehen. Das ist durch die Entscheidung des Haushaltsausschusses ja tangiert. Wenn die Mehrheit morgen möglicherweise entsprechend entscheidet - was ich nicht hoffe -, dann liegt auch durch das Plenum ein Befund vor, die Sozialpläne nicht mehr so wie in der Vergangenheit gestalten zu können.
Das bedeutet, daß junge Menschen - 19-, 20-, 21-und 22jährige -, die soeben, im September, die Ausbildung beendet haben, letztlich, weil Sozialpläne nicht mit finanziellen Inhalten durch die Unternehmen anläßlich der Politik der Bundesregierung in den letzten Jahren - ich nenne Subventionen außerhalb Deutschlands - gefüllt werden können, die Unternehmen verlassen müssen und arbeitslos werden, und zwar in einem Bereich, in dem schon heute 15 bis 16 % Arbeitslosigkeit herrschen, und gegenwärtig - ich hoffe, vorübergehend - keine Perspektiven haben.
Das wollte ich hier herüberbringen. Ich möchte an Sie appellieren, noch einmal darüber nachzudenken, ob morgen die Entscheidung wirklich in die Richtung gehen soll, Arbeitslosenhilfe zu kürzen und damit das Schicksal vieler junger Menschen vorzuzeichnen. Ich bitte Sie sehr inständig, darüber nachzudenken und morgen eine andere Entscheidung zu treffen als die Mehrheit des Haushaltsausschusses.
Der Rest meiner Rede geht zu Protokoll.*) Herzlichen Dank.
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Ich darf Ihre Zustimmung dazu einholen. - Sie ist erteilt.
Dann gebe ich dem Kollegen Klaus Beckmann das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ange-
*) Anlage 7
sichts der fortgeschrittenen Stunde und der Tatsache, daß wir die hier anstehende Problematik dieses Jahr schon mehrfach diskutiert haben, beziehe ich mich, um dem guten Beispiel meiner Kollegen in den letzten Stunden zu folgen, auf meine Debattenbeiträge vom 11. März und 29. September dieses Jahres. An der dort geäußerten Auffassung hat sich nichts geändert.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit
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Jetzt brauche ich noch Ihre Zustimmung dazu, daß der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft, unser Kollege Dr. Heinrich Kolb, seine Rede ebenfalls zu Protokoll geben kann.') - Die Zustimmung ist erteilt.
Nun bekommt Kollege Urbaniak noch kurz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Trotz der vorgeschrittenen Zeit: Wir sind uns darüber im klaren, daß die sozialdemokratische Fraktion weiterhin stahlhart das verfolgt, was sie mit ihrem Antrag, der noch zu diskutieren ist, beabsichtigt.
Die Situation in den Revieren ist eine brennende. Unterschätzen Sie nicht den Vertrauensverlust, den wir und insbesondere Sie erfahren würden. Das darf uns nicht passieren.
Es handelt sich um Menschen, die über Jahrzehnte ihre Pflicht voll erfüllt haben. Wenn die in die Sozialhilfe abgedriftet werden, dann kann man dies mit logischen Gesichtspunkten nicht mehr begleiten.
Ändern Sie also am morgigen Tage Ihre Haltung zur Arbeitslosenhilfe! Dazu fordere ich Sie noch einmal auf, damit uns nicht das passiert, was wir dann erwarten müßten. Tun Sie uns diesen Gefallen, erfüllen Sie uns diesen Wunsch, damit wir tatsächlich zu einem Konsens zurückkehren, den wir über Jahrzehnte zur Befriedung einer Strukturkrise erhalten haben; denn wir wollen sie gemeinsam bewältigen.
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Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 12/5895, den Antrag der PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/4448 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestags auf morgen, Freitag, 22. Oktober 1993, 9.00 Uhr- ein.
Die Sitzung ist geschlossen.