Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/21/1991

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: 1. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zur sozialen Lage der Menschen in den fünf neuen Bundesländern 2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Poppe, Vera Wollenberger und der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE: Zur aktuellen Situation der Kurden am 16. März 1991, dem 3. Jahrestag von Halabja - Drucksache 12/279 3. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Lage der Kurden nach dem Golfkrieg - Drucksache 12/282 4. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({0}): Sammelübersicht 8 zu Petitionen - Drucksache 12/260 5. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({1}): Sammelübersicht 9 zu Petitionen - Drucksache 12/261 - Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann können wir es so handhaben. Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 3 auf: Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 21. März 1983 über die Überstellung verurteilter Personen - Drucksache 12/194 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung des Übereinkommens vom 21. März 1983 über die Überstellung verurteilter Personen ({2}) - Drucksache 12/195 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Gesetzentwürfe der Bundesregierung an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie auch damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Siebter Sportbericht der Bundesregierung - Drucksache 11/8459 Überweisungsvorschlag: Sportausschuß ({3}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Ausschuß für Fremdenverkehr Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 90 Minuten vorgesehen. - Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister des Innern, Herr Dr. Schäuble.

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Siebten Sportbericht legt die Bundesregierung eine insgesamt erfolgreiche Bilanz der Sportförderung und Sportpolitik in den Jahren 1986 bis 1989 vor. Zugleich werden mit diesem Bericht auch aktuelle Entwicklungen und Zukunftsperspektiven aufgezeigt, die sich vor allem aus dem Zusammenschluß des Sports im vereinten Deutschland ergeben. Die Bilanz der Sportförderung der Bundesregierung kann sich sehen lassen, wie schon die Zahlen der Förderungsmittel ausweisen: Während im Haushalt des Bundesministers des Innern 1986 noch 94 Millionen DM für die Sportförderung zur Verfügung standen, waren es 1989 115 Millionen DM und 1990 bereits 133,5 Millionen DM. Dies bedeutet eine Steigerung von 43 % und damit eine weit überdurchschnittliche Steigerung im Vergleich zum Haushalt insgesamt und zum Haushalt des Bundesministeriums des Innern. Kernstück der Sportförderung der Bundesregierung ist auf Grund der Zuständigkeitsverteilung unseres Grundgesetzes die Förderung des Hochleistungssports. Die Bundesregierung bekennt sich zum Lei1066 stungssport. In einem freiheitlichen, der Menschenwürde verpflichteten Staat kommt aber nur ein Leistungssport in Betracht, bei dem der einzelne Sportler und seine Leistung im Mittelpunkt stehen. Der Sport muß dem Menschen dienen und nicht einem Kollektiv. Der Sport darf nicht als Mittel zur Erreichung ganz anderer Ziele mißbraucht werden. ({0}) Die Bundesregierung geht bei ihrer Förderung des Hochleistungssports von den Grundsätzen der Autonomie, der Unabhängigkeit des Sports, und der Subsidiarität aus. Das heißt, daß finanzielle Hilfen nur möglich sind, wenn und soweit die eigenen Kräfte und Mittel des Sports nicht ausreichen und der Ergänzung bedürfen. Unserer von Anfang an vertretenen Forderung, daß nur ein von Doping und anderen Manipulationen freier Spitzensport von Bundesseite finanziell unterstützt werden kann, kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Die Bundesregierung lehnt Manipulationen zur Leistungssteigerung, die unter Mißachtung der Gesundheit, der Menschenwürde und der Chancengleichheit erzielt werden, mit aller Entschiedenheit ab. ({1}) Was wir gerade in der jüngsten Vergangenheit über Doping im Sport hören und erfahren mußten, ist für mich - sicherlich auch für uns alle - Anlaß zu größter Sorge. Ich frage mich manchmal, ob diejenigen, die im Sport Verantwortung tragen, in der Vergangenheit zu gutgläubig gewesen sind oder ob sie diese Vorgänge einfach nicht zur Kenntnis genommen haben oder nicht zur Kenntnis nehmen wollten. Den Sportlern alleine kann man jedenfalls keine Vorwürfe machen. Sie sind nur das letzte Glied in der Kette der Handelnden. ({2}) Ich setze sehr auf die Arbeit der vom Deutschen Sportbund und vom Nationalen Olympischen Komitee eingesetzten unabhängigen Dopingkommission unter dem Vorsitz des Präsidenten des Bundessozialgerichtes, Professor Reiter. Die Kommission arbeitet sehr zügig. Ich erwarte mir von ihr Handlungskonzepte, die noch im Juni vorgestellt werden sollen. Ich gehe davon aus und erwarte, daß der Sport diese Vorschläge dann auch konsequent und ehrlich umsetzt. Mit allem Ernst sage ich: Wenn der Sport die Dopingproblematik nicht überzeugend angehen und lösen würde, könnte er auf den Staat als Partner und Förderer des Hochleistungssports nicht mehr rechnen. ({3}) Die Glaubwürdigkeit und die Attraktivität des Spitzensports hängen entscheidend von der Bewältigung dieses Problems ab. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will etwas ausführlicher auf die Probleme und Perspektiven eingehen, die sich aus dem Zusammenschluß des Sports im vereinten Deutschland ergeben. Es wird die wichtigste Aufgabe der nächsten Jahre sein, den Sport in den neuen Ländern an unser freiheitliches und föderales System anzupassen. Hierbei sind alle gefordert, die für den Sport Verantwortung tragen, vor allem der freie und unabhängige Sport sowie seine Organisationen selbst, aber natürlich auch die öffentliche Sportverwaltung von Bund, Ländern und Kommunen, auch die Medien und die Sponsoren aus der Wirtschaft. Der staatlich organisierte Sport in der früheren DDR unterschied sich grundlegend vom freien Sport in der Bundesrepublik Deutschland. Maßgeblich war eine zentralistische staatliche Kommandostruktur mit einseitiger Ausrichtung auf den Spitzensport. Alle Bemühungen des SED-Regimes waren darauf gerichtet, mittels internationaler Sporterfolge - koste es, was es wolle - der DDR Anerkennung in der Welt zu verschaffen. Der Breitensport wurde dagegen nur gefördert, soweit er der Nachwuchsgewinnung für den Spitzensport diente. Ansonsten wurde er ebenso wie der Behindertensport völlig vernachlässigt. Das Vereinswesen, eine Struktur von unabhängigen, selbständigen Vereinen, wurde vom SED-Regime zerschlagen, ehrenamtliches Engagement wurde weitgehend zum Erliegen gebracht. Was wir wollen, steht fest und ist wohl auch in diesem Hause kaum umstritten: Wir wollen einen Sport in den neuen Bundesländern, der unserem bewährten freiheitlichen System entspricht, einen gesunden Breitensport, der seine Basis in den Sportvereinen findet und der auf dem Prinzip der Ehrenamtlichkeit beruht. Ohne das ehrenamtliche Engagement von hunderttausenden Funktionären in den Vereinen und Sportverbänden wäre Sport in der Breite, wie wir es in der Bundesrepublik Deutschland gewohnt sind, organisatorisch überhaupt nicht zu bewältigen, auch nicht zu finanzieren. ({4}) Diese Debatte sollte deswegen auch Anlaß sein, alle denjenigen, die im Sport ehrenamtlich Verantwortung tragen und sich ehrenamtlich, also freiwillig, engagieren, Dank und Anerkennung auszusprechen. ({5}) Wir wollen auf dieser Grundlage den Spitzensport entwickeln, der seine Vorbildfunktion wiederum dem Breitensport zugute kommen läßt. Denn darin liegt für uns ein erheblicher Teil der Begründung, warum wir Spitzensport mit staatlichen Mitteln fördern. Wir wußten von Anfang an, daß unsere Vorhaben nicht zum Nulltarif zu bekommen sind, sondern erhebliche Finanzmittel erfordern. Um unsere verfassungsrechtliche Kompetenzverteilung nicht zu überschreiten, nach der Sportförderung im wesentlichen Sache der Bundesländer und nur die Förderung des Sports auf nationaler Ebene, des Spitzensports und der Fachverbände auf nationaler Ebene Sache des Bundes ist, muß der Bund dabei bleiben, auch in den neuen Bundesländern seine Förderung im wesentlichen auf den Spitzensport zu konzentrieren. Dabei wird diese Förderung in diesem Jahr und wohl auch . noch im nächsten Jahr nahe an eine Vollfinanzierung herankommen. Der Breitensport soll und muß von den neuen Bundesländern und aus dem Sport selbst heraus die erforderliche Unterstützung erhalten; das bleibt unverzichtbar. Die Entscheidung für eine Förderung des Spitzensports durch den Bund bedeutet nicht, daß damit etwa die Strukturen erhalten werden sollen, die das SEDRegime für den Spitzensport errichtet hatte. Es hat für uns nie einen Zweifel daran gegeben, daß der Spitzensport auch in den neuen Ländern nach den gleichen freiheitlichen und föderalen Strukturen organisiert sein muß, die für die Bundesrepublik Deutschland schon immer galten. Unsere Entscheidung, vom Leistungssport und von den großartigen Leistungen der Athleten der früheren DDR möglichst viel im vereinten Deutschland zu erhalten und weiterzuentwickeln, hat nichts mit Rosinenpickerei zu tun. Es war nie unser Ziel, in den internationalen Beziehungen sportliche Erfolge für unser staatliches Prestige einzusetzen. Wir haben in erster Linie immer die Athleten selbst und jetzt auch die Athleten im Osten Deutschlands im Auge gehabt, die viele Jahre hart trainiert haben, die nun vor dem Höhepunkt ihrer sportlichen Laufbahn stehen, die wir nicht enttäuschen wollen und die wir nicht enttäuschen dürfen. ({6}) Wenn ich auf den Spitzensport abstelle, so darf ich sagen, daß wir in der Zusammenführung des Sports im sich vereinenden Deutschland weiter als in vielen anderen Bereichen sind. Natürlich ist auch hier noch sehr viel zu leisten. In ihrer Verantwortung für den Spitzensport und ganz besonders für die Spitzenathleten ist es der Bundesregierung in erster Linie darauf angekommen, daß sich die Athleten aus den fünf neuen Ländern, weiter in ihrer gewohnten Umgebung vorbereiten konnten. Wir wollten eine Abwanderungswelle in den westlichen Teil Deutschlands verhindern. Dies ist bis heute bei allen Problemen und Risiken weitgehend gelungen. Dieser Erfolg ist darauf zurückzuführen, daß wir in erster Linie Mittel bereitgestellt haben für die Sicherung der Trainingseinrichtungen des Spitzensports in den neuen Ländern, für die Weiterbeschäftigung der für den Spitzensport notwendigen Trainer in diesen Einrichtungen, für die soziale Absicherung der Spitzenathleten auch in den neuen Ländern, für die wir der Stiftung Deutsche Sporthilfe in 1991 und 1992 je 20 Millionen DM zur Verfügung stellen wollen, durch den Aufbau der Struktur der Fachverbände in den neuen Bundesländern, für die wir den Spitzenverbänden aus den alten Ländern finanzielle Hilfe zur Verfügung stellen, und durch die Fortführung wichtiger sportwissenschaftlicher Einrichtungen. Der Bund leistet mit seiner Hilfe für den Spitzensport zugleich einen beachtlichen Beitrag zum Breitensport in den neuen Bundesländern; ich habe bereits die Strukturhilfen für die Spitzenfachverbände in einer Höhe von 15 Millionen DM genannt. Aber auch die erheblich über unseren Prozentsätzen in den alten Ländern liegende Förderung der Bundesleistungszentren und Olympiastützpunkte in den neuen Ländern bedeutet natürlich im Ergebnis eine Entlastung der neuen Länder und damit die Möglichkeit, zusätzliche Mittel für den Breitensport zur Verfügung zu stellen. Diese Hilfe für die Leistungszentren und Olympiastützpunkte fließt im übrigen auch in Sportzentren, die ihre Basis häufig in leistungsfähigen Vereinen haben. Sie belebt so auch unmittelbar den Breitensport. Wir unterstützen den Behindertensport in den neuen Bundesländern, auch soweit er Breitensport ist. Dazu gibt uns der Einigungsvertrag die rechtlichen Möglichkeiten. Hier war eine Anschubfinanzierung durch den Bund erforderlich, weil unter dem SED-Regime - auch das gehört zu den traurigen Kapiteln der Vergangenheit - im Bereich des Behindertensports überhaupt nichts getan wurde. Die eigenen Kräfte des Behindertensports sind gegenüber dem übrigen Breitensport in den neuen Ländern noch ungleich schwächer. Deswegen muß der Bund hier helfend einspringen, was er auch tut. Es ist das Ziel der Bundesregierung, allen Sportlern aus den alten wie aus den neuen Bundesländern eine faire Chance zu bieten, sich optimal auf die Olympischen Spiele 1992 vorbereiten zu können. Bis zu diesen Spielen im nächsten Jahr werden die aus den alten und neuen Ländern zusammengeführten Leistungskader weiter aufgestockt bleiben. Erst danach werden die Kadergrößen insgesamt auf ein auf Dauer angemessenes Maß zurückgeführt werden. Ich denke auch, daß dies eine gute zeitliche Dimension für die Vereinigung des Sports in Deutschland darstellt. Das gute Einvernehmen, das etwa bei der Hallenweltmeisterschaft in Sevilla am vorletzten Wochenende im gemeinsamen Team der deutschen Leichtathleten bestand, zeigt im übrigen, daß die Einheit Deutschlands zwischen den Sportlern bereits gut vorangekommen ist. Die Sportverbände haben die Vereinigung besser gelöst, als ich das insgesamt erwartet habe. Ich möchte auch dafür meinen Dank aussprechen. ({7}) Wir werden nach Abschluß der Olympischen Spiele 1992 zuammen mit dem Sport überprüfen, ob im größer gewordenen Deutschland eine weitere Konzentration der Leistungssportförderung sinnvoll und geboten ist. Möglicherweise können dadurch Mittel für eine noch intensivere Nachwuchsförderung freigemacht werden, ({8}) die mir im Interesse der Sportförderung dringend geboten zu sein scheint. ({9}) Zumal in den neuen Bundesländern gilt es, durch eine verstärkte Nachwuchsförderung die Entwicklung des Spitzensports kontinuierlich fortzuführen. ({10}) Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, mit diesen Grundsätzen der Sportförderung hat diese Bundesregierung und haben frühere Bundesregierungen seit vielen Jahren durch die Fraktionen dieses Hauses immer eine in der Sache weitgehend gemeinsame Unterstützung erfahren, für die ich mich bei dieser Gelegenheit bedanken möchte und die ich mir auch für die Zukunft erbitte. ({11})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Herr Schmidt ({0}).

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn es um den Sport geht, möchte man heute morgen eigentlich seine vorbereiteten Reden an die Seite packen und auf die Ereignisse des gestrigen Abends eingehen, den wir - so glaube ich - sicherlich alle in der Fernsehberichterstattung über das Europapokalspiel erlebt haben und der mit dem Spielabbruch in Dresden seinen traurigen Höhepunkt gefunden hat. Ich bin sicher, daß wir uns bedauerlicherweise mit solchen Symptomen in der nächsten Zeit viel häufiger beschäftigen müssen. Ich finde schon, wir dürfen und müssen die Gelegenheit nutzen, um darauf kurz einzugehen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß es soziale Ursachen sind, die zu dieser Gewalteskalation führen, und ich bin sicher, daß wir uns auch hier im Hause - es ist übrigens auch schon mehrfach geschehen - viel häufiger mit den Dingen auseinanderzusetzen hätten, dies bedauerlicherweise aber nicht in dem Maße tun, wie das nötig wäre. In Anlehnung an das, was wir in den letzten Monaten und Jahren auch aus der Entwicklung Deutschlands hinter uns haben, fordere ich zu dieser Angelegenheit einen Runden Tisch. Ich hoffe, daß wir bald darauf zurückkommen werden, die Ergebnisse der Gewaltkommission zu diesem Thema einmal ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Weil ich gestern abend auch ein wenig erschüttert war über die Berichterstattung, die wieder Gewalt als Reaktion von seiten des Staates als einziges Mittel in den Vordergrund gerückt hat, will ich Ihnen nur kurz sagen, was beispielsweise auch die Gewaltkommission in ihrem vierbändigen Gutachten dazu geschrieben hat: Im Verlaufe der letzten Jahre hat sich die Verantwortlichkeit für die Vorbeugung und Bekämpfung von Fangewalt fast ausschließlich auf die Polizei als staatliche Ordnungsinstanz verlagert. Diese Entwicklung ist nicht nur im Hinblick auf das geltende Subsidiaritätsprinzip zweifelhaft, das den Staat zur Zurückhaltung zwingt, sondern viel mehr müßten Sicherheitsmaßnahmen der Polizei, die eine Reihe unerwünschter Nebenwirkungen mit sich bringen können, auch in anderer Weise bewältigt werden. Das Einschreiten von Polizei kann gerade bei Jugendlichen ein Feindbild entstehen lassen, das zusätzlich belastend wirkt. Gestern waren 1 100 Polizeikräfte in Dresden eingesetzt, die das nicht geschafft haben, die vielleicht sogar zur Eskalation beigetragen haben. ({0}) Ich will einen anderen Aspekt nennen, der in dem Gutachten der Gewaltkommission genannt wird: Die Sportberichterstattung halte ich ebenfalls für überprüfungsbedürftig. Warum schaffen wir es nicht endlich, einen fairneßorientierten und gewaltfreien Sport zu übertragen? Damit könnten wir mit dafür sorgen, daß sich die Atmosphäre auch am Fernsehschirm verändert. Ich denke, daß wir alle gut daran tun, uns mit diesen Dingen sehr intensiv auseinanderzusetzen. Wenn ich das hier heute in den Vordergrund rücke, mag das ganz kurz gefaßt sein. Aber ich glaube schon, es geht nicht anders, als daß wir uns auch auf diese Weise erneut und viel intensiver mit den Dingen auseinandersetzen. Im Siebten Sportbericht, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat man von den umwälzenden Ereignissen in Deutschland immerhin schon Kenntnis genommen. Das ist sehr anerkennenswert. Damit zeichnet sich dieser Bericht gegenüber anderen Berichten dieser Tage aus. Ich bin auch sicher, daß wir uns ohnehin in den nächsten Monaten und Jahren immer wieder mit dem von Herrn Minister Schäuble mit Recht in den Vordergrund gerückten deutschen Einigungsprozeß und seiner Bewältigung befassen werden und auch befassen wollen. Dazu zählt sehr nachhaltig auch der Sport. Ich bin sicher - das gehört natürlich auch dazu -, daß der Sport in seiner Autonomie dazu sehr stark beitragen muß. Ich appelliere noch einmal von dieser Stelle aus - ich glaube, zum vierten oder fünften Mal - an die Ergebnisse des Kongresses „Menschen im Sport 2000", die der Deutsche Sportbund nach meiner Einschätzung immer noch nicht aus seiner autonomen Situation heraus in eine perspektivische Sportpolitik oder in Sportforderungen umgesetzt hat. Wir widmen uns bei der Bewältigung der Aufgaben, die uns in diesem Parlament gestellt sind, in erster Linie dem Spitzensport. Das ist richtig, aber das darf es nicht alleine sein. Abgesehen davon, daß wir hierzu kein geschriebenes Recht in der Verfassung haben, ist es unsere Aufgabe, den gesamtgesellschaftlichen Ansatz des Sports immer wieder in den Vordergrund zu rücken. Wer die soziale Untermauerung durch den Sport gerade in unserer Situation nicht erkennt und anerkennt, der, denke ich, versündigt sich ohnehin an der Zukunft und wird damit auch den gesellschaftspolitischen Anforderungen nicht gerecht, die in dieser Zeit im Zuge des deutschen Einigungsprozesses gestellt werden. Hier wird und muß der Sport eine wichtige Rolle spielen. Und hier werden wir uns auch immer wieder entsprechend betätigen müssen. In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich auch das Problem, warum wir uns im Zuge des Einigungsprozesses, insbesondere bei den sportpolitischen Themen, nicht mehr, als das der Fall gewesen ist, des Sachverstands der Sportwissenschaft bedient haben. Das Bundesinstitut für Sportwissenschaft beispielsweise ist für meine Begriffe viel zu unterentwickelt und führt ein viel zu kümmerliches Dasein und müßte eine viel bessere Funktion für uns alle, für die Sportpolitiker, aber auch für den Sport insgesamt, erlangen. Dies gilt um so mehr, wenn man berücksichtigt, daß mehrere Institute in der früheren DDR in einer AbWilhelm Schmidt ({1}) wicklungs- und Umorientierungsphase sind, die in diesem Zusammenhang vielleicht sehr gut genutzt werden könnte. Ich will auf die Frage des Dopings, weil Herr Minister Schäuble das schon angesprochen hat, nur kurz eingehen. Ich will daran erinnern - weil das auch Inhalt der Sportberichts ist - , daß gerade die SPD durch das Hearing, das wir 1987/1988 zu mehreren Fragen des Sports durchgeführt und auch hier im Hause durchgesetzt haben, immer wieder versucht hat, der Problematik des Dopings beizukommen. Wir waren uns da weitestgehend auch einig. Ich erinnere mich aber auch, wie gerade ich mit dem Vorstoß, Trainingskontrollen im Sport durchzuführen, immer wieder auf den erheblichen Widerstand der Bürokraten gestoßen bin. ({2}) - Beider, Herr Kollege Tillmann. Damals war der DSB nicht bereit - wir haben mit dem BAL gesprochen -, und auch das Innenministerium war damals nicht bereit zuzugestehen, daß es Doping-Kontrollen im Training geben müßte. Ich hörte immer wieder, das sei nicht möglich, das sei verfassungswidrig. ({3}) - Das ist eine Frage, deren Behandlung damals sehr unterentwickelt war, Herr Kollege Sauer. Deswegen war es gut, daß wir ihr mehr Beachtung gewidmet haben. Ich habe auch nicht gesagt, daß es unsere Erfindung war. Wichtig ist, daß wir in der Bundesrepublik damals nicht bereit gewesen sind, diese Dinge in einer Phase vorzunehmen, in der die Probleme schon erkennbar waren. Erst nach dem spektakulären Fall Ben Johnson hat man sich dieser Frage etwas intensiver zugewandt. Auch hier reklamiere ich die Verantwortung der Medien, meine Damen und Herren. Wo sind wir denn eigentlich, wenn der Obersünder Ben Johnson in diesen Tagen bei 100 000 Dollar pro Start durch unsere Fernsehsendungen spaziert und seinen Starrummel wieder entwickeln kann? ({4}) Ich denke, daß wir auch hier neue Verantwortung bei Fernsehräten reklamieren müssen. ({5}) Im Bereich des Kinderhochleistungssports hat sich die Szenerie entwickelt. Ich erinnere nur deshalb an das Stichwort, weil es in dem Entschließungsantrag zum Sechsten Sportbericht von uns gemeinsam mit in den Vordergrund gerückt worden ist. Ich denke, daß wir auch hier gerade an die Verantwortung der Sportverbände appellieren müssen, aufmerksam zu sein und vor allen Dingen die Startbeschränkungsmöglichkeiten international weiterzuentwickeln. Wenn ich jetzt schon zum zweiten oder dritten Mal von den Medien gesprochen habe, dann will ich auch darauf hinweisen, daß wir eine Entwicklung vor uns haben, die vielleicht auch auf die Sportfinanzierung einen erheblichen Einfluß nehmen müßte und könnte, nämlich im Zuge der Vermarktungsmöglichkeiten. Ich denke dabei an den bevorstehenden Vertrag zwischen den Fußballern und den Fernsehanstalten. Ich kann es mir - Herr Kollege Nelle, mit Verlaub - einfach nicht vorstellen, daß 500 Millionen DM vom Fußballbund allein verbraten werden sollten. Hier gliedert sich vielmehr alles das an, was ich vorhin gesagt habe, also auch eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung derjenigen, die mit solchen Riesensummen, zum Teil aus öffentlichen Kassen oder aus den Groschen der Fernsehzuschauer gespeist, versehen werden. ({6}) Dabei kann es nicht so sein, daß wir noch exorbitantere Spielergehälter oder andere Dinge damit finanzieren. ({7}) - Das Stichwort Nachwuchsarbeit ist sehr gut. Ich denke aber auch an das, was ich zu Beginn gesagt habe, nämlich an die Mitfinanzierung der Sicherheit, die im Zusammenhang mit Sportveranstaltungen in der Verantwortung der Vereine und Verbände gewährleistet werden soll, an die Mitfinanzierung von Fanprojekten, deren Wirkung wir ja, glaube ich, einvernehmlich als Prophylaxe durchaus sehr hoch einschätzen ({8}) - das ist völlig klar - , und natürlich auch an die Frage: Wie gehen wir beispielsweise mit einem Solidaritätsfonds gegenüber anderen Sportarten und vielleicht auch ganz speziell gegenüber dem Sport in Ostdeutschland um? Ich bin sicher, daß wir uns auch als Sportpolitiker noch entsprechend betätigen müssen, und weise deswegen darauf hin, daß es andererseits eine Sportvermarktungsabgabe geben könnte, über die man sich hier im Hause einmal unterhalten müßte. ({9}) Aber diese Provokation will ich dann auch gleich wieder beiseite stellen. Zum Thema Sport und Umwelt will ich nur stichwortartig sagen: Wir stehen vor wichtigen Entscheidungen. Ich bin sehr unmutig darüber, daß der Bundesrat bei seinen bisherigen Sitzungen noch nicht einmal die Sportanlagenlärmschutz-Verordnung, obwohl sie nur einen Teilbereich regeln sollte, verabschiedet hat, so daß wir deswegen hier noch großen Handlungsbedarf haben. Das, was uns hier immer ausgezeichnet hat, waren der Wille und die Möglichkeit zur Zusammenarbeit über Fraktionsgrenzen hinweg im Interesse des Sports. Dies sollte auch so bleiben; dies reklamiere ich insbesondere im Hinblick auf das Zusammenwachsen des vereinten Deutschland im Bereich des Sports: Ich denke, wenn wir dies beherzigen, kommen wir auch in der Sache voran. Wilhelm Schmidt ({10}) Vielen Dank. ({11})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster hat der Abgeordnete Herr Fischer ({0}) das Wort.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Siebte Sportbericht der Bundesregierung ist wieder eine gute und umfassende Darstellung der maßgebenden Grundsätze unserer staatlichen Sportpolitik und auch eine eindrucksvolle Bilanz der Sportförderung der Bundesregierung in den Jahren 1986 bis 1989. Ich nenne hier als Schwerpunkte nur das Vereinsförderungsgesetz , mit dem die Vereinsbesteuerung verbessert und vereinfacht worden ist. ({0}) Der Impuls, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, kam vom Sport; aber den Nutzen davon haben alle Vereine in unserem Lande. ({1}) Insoweit sollte man einmal die Pilotfunktion des Sports in diesem Bereich ausdrücklich hervorheben. Ich denke an die Neukonzeption der Leistungssportförderung, an die Olympiastützpunkte, an die Baunutzungsverordnung, mit der die Zulässigkeit von Sportanlagen in den Baugebieten wesentlich erweitert worden ist; ich denke an unsere Bemühungen, durch eine Verordnung zum Bundes-Immissionsschutzgesetz , die sogenannte Sportanlagenlärmschutz-Verordnung, bestehende Sportanlagen in wohnnahen Bereichen zu schützen und die Sozialadäquanz von Sportgeräuschen anzuerkennen. Hier möchte ich einmal ausdrücklich die Länder kritisieren. Diese haben uns aufgefordert, und zwar in erster Linie die Sportminister, hier endlich etwas zu tun; sie haben den Bund vielfach öffentlich kritisiert. Wir müssen aber jetzt erleben, daß sich die gleichen Länder durch ihre Umweltminister querlegen und dieses vereiteln wollen. ({2}) Ich meine, angesichts der Tatsache, daß man hier den Bund in den letzten Jahren immer und immer wieder kritisiert hat, Herr Baum, und wir uns mühsam zu einem ressortübergreifenden Kompromiß durchgerungen haben, sollten wir jetzt auch den Ländern deutlich sagen, was ihre Pflicht und Schuldigkeit ist. ({3}) Ich denke aber auch in der Berichtsperiode an eine umfassende Berücksichtigung des Sports im Einigungsvertrag; ich denke daran, daß der Bericht einen Ausblick in die Zukunft gibt und damit auch die Perspektiven der künftigen Sportförderungspolitik des Bundes deutlich macht. Ich möchte hier ausdrücklich hervorheben - das tut auch der Bericht -, daß ergänzend die mannigfaltigen Bemühungen der Länder und Kommunen zur Förderung des Sports anerkannt und gelobt werden müssen, ohne die das hohe Niveau des Leistungssports in der Bundesrepublik Deutschland nicht denkbar wäre. Es ist unmöglich, in diesem kurzen Beitrag alle Aspekte des Berichtes zu behandeln, geschweige denn zu vertiefen. Ich möchte deswegen nur einige Gesichtspunkte hervorheben. Ich möchte zunächst einmal deutlich machen, daß dieser Bericht natürlich auch den Stand der Spitzensportförderung des Bundes gut ein Jahr vor den Olympischen Spielen 1992 in Albertville und Barcelona wiedergibt. Er macht deutlich, daß der Bund die Förderung des Spitzensports auf ein bisher nie erreichtes hohes Niveau gebracht hat. Man kann feststellen, daß der Bund seine Kompetenz im besten Sinne voll wahrnimmt. Es wäre schön, wenn man das auch von allen Gebietskörperschaften in gleicher Weise sagen könnte. ({4}) Das Zahlenwerk ist eindrucksvoll: Steigerung der Spitzensportförderung 1990 auf 1991 von 76 Millionen auf 172 Millionen DM, davon allein für die neuen Länder über 96 Millionen DM. Zusatzmittel für Maßnahmen in den Beitrittsländern: Unser Bundesminister hat es schon erwähnt, aber ich hebe noch einmal hervor, daß sich darin 7 Millionen DM für eine Strukturhilfe für die Verbände, für ein Aufbauprogramm eines autonomen Verbands- und Vereinswesens befinden, damit wir auch in diesem Bereich endlich die Impulse bekommen, die wir dringend brauchen. Sportstättenbau für den Spitzensport: 1990 33 Millionen DM, 199 157 Millionen DM, davon über 20 Millionen allein für die neuen Länder. Der gesamte Sportetat des BMI: 1990 110 Millionen DM, 1991 248 Millionen DM, davon allein 135 Millionen DM für die neuen Länder, 113 Millionen DM für die alten Bundesländer. ({5}) Dies ist eine eindrucksvolle Bilanz. Man kann dem Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble nur gratulieren, dieses erreicht zu haben. Man muß aber in dieser Situation, weil das viel zu selten geschieht, auch dem Bundesfinanzminister herzlich danken, daß er uns unterstützt und für diesen Bereich viel Verständnis aufgebracht hat. ({6}) Von den Spitzenorganisationen des deutschen Sports ist das Programm Olympiastützpunkte initiiert worden. Dieses konnte nur dank der schnellen und unbürokratischen Handlung der Bundesregierung aufgelegt und wirksam werden. In diesem Konzept geht es nicht um die Schaffung neuer Einrichtungen, sondern es geht darum, vorhandene Einrichtungen zu bündeln und damit einen wesentlichen Schwerpunkt für die Laufbahnplanung, Unterstützung und soziale Absicherung unserer aktiven Athleten und Athletinnen zu bringen. Die deutsche Einheit stellt natürlich auch für den Sport eine große Herausforderung dar. Wir wissen, daß sich in den unterschiedlichen Gesellschaftssystemen auch das Bewußtsein von Sport unterschiedlich Dirk Fischer ({7}) entwickelt hat. Nachdem Gott sei Dank der Gesichtspunkt des Wettkampfs der Systeme entfallen ist, steht der Spitzensport insbesondere in den Beitrittsländern vor einer Identifikationskrise. War bisher der Aspekt, Freizügigkeit zu erlangen, sozialen Aufstieg zu erlangen, gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen, an der Staatsrepräsentation mitzuwirken oder im Rahmen eines Kollektivs tätig zu sein, eine hohe Motivation, so muß sich jetzt in diesem Bereich ein neues Bewußtsein, eine neue Identität entwickeln. Ich möchte allgemein dazu sagen, Herr Kollege Schmidt - vielleicht hängt das ein bißchen mit dem zusammen, was gestern abend in Dresden passiert ist - : Es stellt sich für uns die Frage, ob Sport und Bewußtsein der Massen zu einem vom IOC geförderten Medienspektakel wird und damit in den Bereich einseitiger Unterhaltung abgleitet oder ob der Sport einen neuen Stellenwert im Rahmen eines ganzheitlichen Sportbildes erhält, in dem Freizeit-, Breiten- und Spitzensport in gleicher Weise ihre Berechtigung finden. Es muß, glaube ich, auf die Erkenntnis hingearbeitet werden, daß man die einseitige Auswertung des Sportes im Rahmen eines großen Spektakels bekämpfen und die gesellschaftspolitische Relevanz besonders deutlich hervorheben muß. Die unterschiedliche Bewertung des Spitzensports in der ehemaligen DDR hat nicht nur im Bereich des Spitzensports, sondern auch im Bereich des Breiten- und Freizeitsports eine Auseinanderentwicklung gebracht. Deswegen ist der politisch mißbrauchte Sport in den neuen Ländern häufig noch diskreditiert. Wir müssen helfen, ihn aus dieser Ecke herauszuführen und das Bewußtsein für die Notwendigkeit von Sport im Sinne einer Politik herauszubilden, die darauf abgestellt ist, Sport als einen integralen Bestandteil einer pluralistischen demokratischen Gesellschaftspolitik zu werten und zu unterstützen. Das heißt, Sportselbstverwaltung braucht starke Vereine, braucht autonome Verbände. Ich glaube, daß wir in diesem Rahmen auch die Bedeutung des Sports als Kommunikationsfaktor in einer auseinanderstrebenden Gesellschaft klarstellen müssen. Das ist wichtig. Ich habe vorhin am Anfang meines Berichts die Leistungen bei der Versöhnung, dem Kompromiß zwischen Sport und Umwelt herausgestellt. Ich will das hier nicht wiederholen. Aber ich möchte ausdrücklich sagen, daß wir weiter daran arbeiten müssen, daß aber auch die Umweltschützer bedenken müssen, daß jede stillgelegte Sportfläche Ersatzbedarf und neuen Landschaftsverbrauch auslöst. Es muß uns also darum gehen, bestehende Anlagen eher umweltpolitisch entsprechend nachzurüsten und zu verbessern, aber in ihrer Nutzung möglichst zu erhalten. Abschließend weise ich darauf hin, daß Sportförderung eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden ist. Dazu gibt es einen besprochenen, differenzierten Kompetenzabgrenzungsschlüssel. Es kommt ferner darauf an, deutlich zu machen, daß diese Partnerschaft der Gebietskörperschaften nicht nur eine Schönwettereinrichtung ist, sondern daß sich Politik erst dann bewährt, wenn unter erheblichen Herausforderungen die Aufgaben von allen gleichermaßen erfüllt werden. In diesem Sinne bei der Substanzerhaltung einer funktionstüchtigen Sportinfrastruktur in den neuen Ländern mitzuwirken und zu helfen, daß Vereine und Verbände unterstützt werden, ihre Aufgaben zu erfüllen, Initiative ergreifen zu können und ehrenamtliche Arbeit zu verstärken, ist besonders wichtig. Ich meine, hier ist nicht nur eine Bringschuld Dritter einzufordern, sondern auch eine Initiative aller Kräfte auszulösen.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Fischer, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte, Frau Präsidentin, die Bundesregierung und den Bundesinnenminister bitten und ermuntern, diese erfolgreiche Sportpolitik fortzusetzen und den Aufbau des Sports in den Beitrittsländern engagiert zu unterstützen. Das ganze Parlament, nicht nur die Sportpolitiker, werden Sie dabei sehr, sehr gerne unterstützen. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster hat der Abgeordnete Herr Keller das Wort.

Dr. Dietmar Keller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001077, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Angesichts der Ereignisse von gestern abend in Dresden und am Wochenende in Rostock schließe ich mich der Forderung von Herrn Schmidt an, über diese Fragen an einem runden Tisch zu reden und Lösungen zu finden. Ich möchte diese Tribüne nutzen, den jungen Menschen, die Gewalt suchen, zu sagen, daß sie nicht nur sich, sondern in erster Linie dem Sport und den Sportlern schaden, daß damit etwas in Bewegung gesetzt wird, durch das viele Jahre Training, viele Jahre sportlicher Einsatz aufs äußerste gefährdet werden. Ich bin etwas verwundert, daß der Bericht der Bundesregierung im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Bedeutung des Sports mit einer „schlagwortartigen" Kennzeichnung des DDR-Sports beginnt, ohne auch nur mit einer Silbe zu erwähnen, daß dieser DDR-Sport durch gemeinnütziges Wirken hunderttausender ehrenamtlicher Übungsleiter und Trainer und durch das Engagement von Sportlern und Mitgliedern in den Gemeinschaften auch ohne besondere staatliche Förderung Beachtliches geleistet hat, bei aller Überbetonung des Leistungssports, einer zu verurteilenden Medaillensucht, Zahlenhascherei, staatlicher Bevormundung und dirigistischer Strukturen im Sport der DDR. Die Sportlerinnen und Sportler in den neuen Bundesländern müssen sich angesichts der gegenwärtigen Existenzsorgen ihrer Vereine und Gemeinschaften etwas veralbert fühlen, wenn im Bericht mit Blick auf die ehemalige DDR pauschal und ausschließlich von „staatlich verordnetem" und „zu Staatszwecken veranstaltetem Sport" in der ehemaligen DDR die Rede ist. Vor dem Hintergrund der bisherigen außerordentlich schwachen finanziellen Ausstattung der Länder und Kommunen im östlichen Teil Deutschlands und der komplizierten Situation in allen anderen kommunalpolitischen Bereichen besteht insbesondere im Breiten-, Kinder- und Jugendsport die Gefahr, Zu1072 stände zu zementieren, deren Folgen noch nicht absehbar sind. Wir anerkennen das Bemühen des Innenministers insbesondere für die Sicherung des Spitzensports. Wir begrüßen auch die direkte finanzielle Hilfe durch den Sport der Altbundesländer, z. B. Rheinland-Pfalz und Hessen. Wir fordern Bund und Länder jedoch auf, sich konsequenter ihrer Mitverantwortung zu stellen. Solange neue Strukturen zur Sicherung der materiellen und finanziellen Grundlagen des Sports nicht funktionieren, bedarf es auch einer Unterstützung des Breitensports und des Sports der Kinder und Jugendlichen durch den Bund und die Länder, denn sonst gehören gerade diese Bereiche zu den Verlierern der Einigung des deutschen Sports. Von besonderer Bedeutung für die Existenz der Vereine und Gemeinschaften im Osten unseres Landes ist die Verfügbarkeit und Nutzung der Sportstätten. Schneller Handlungsbedarf besteht vor allem in der Klärung von Rechtsträgerschaften, in der Verhinderung des Zugriffs durch Unternehmen und zweckentfremdete Nutzung, in der kostenlosen Übereignung an Länder und Kommunen, in der finanziellen Ausstattung der Kommunen für die Bewirtschaftung, Unterhaltung, Werterhaltung und Rekonstruktion, insbesondere durch die Nutzung der Toto- und Lottogelder für den Sport und in der weiteren entgeltfreien Nutzung für gemeinnützige Zwecke durch Sportvereine und Sportgemeinschaften. Es ist nicht zu übersehen, daß der Sport in den neuen Ländern durch die Abwanderung von Spitzensportlern und Trainern in gewisser Weise ausblutet. Nun scheint es zunächst völlig egal zu sein, wo Sportler und Trainer in einem einheitlichen Land arbeiten, aber der Sport dient vielen Menschen der Unterhaltung, der Geselligkeit, der Kommunikation; es ist kein Zufall, daß sich die Zuschauerzahlen bei Sportveranstaltungen im Osten Deutschlands in Größenordnung von denen im Westen Deutschlands prinzipiell unterscheiden. Ich möchte sie um Himmels willen nicht herbeireden, aber ich warne vor der Gefahr einer zweiten Abwanderungswelle von Spitzensportlern. In den Trainingszentren sind jetzt zwar Trainingsmöglichkeiten gegeben, aber das Umfeld stimmt nach wie vor noch nicht. Physiotherapie und Rehabilitation sind wegen des Fehlens finanzieller Mittel der Kommunen im Abbau begriffen oder schon nicht mehr vorhanden. Fragen der sozialen Sicherheit im Beruf und in der Ausbildung bestehen bei vielen Sportlern. Ich glaube, daß diesem Problem auch in Zukunft größere Aufmerksamkeit gewidmet werden muß. In diesem Zusammenhang findet die Forderung nach Nachwuchs- und Talentförderung unsere volle Unterstützung, denn ohne Nachwuchs- und Talentförderung gibt es keinen Breitensport, keine ehrenamtlichen Übungsleiter, keine Trainer und auch keinen Spitzensport. Ich appelliere in diesem Zusammenhang an Bund und Länder, die Deutsche Hochschule für Körperkultur und Sport nach ihrer Umprofilierung nicht aufzugeben. Die Deutsche Hochschule für Körperkultur und Sport würde als ein Institut der Leipziger Universität verkommen, denn die Leipziger Universität hat andere Sorgen und Probleme, als sich um den Sport zu kümmern. Ich denke, daß bei Veränderungen, die notwendig sind, auch die Kinder- und Jugendsportschulen eine Möglichkeit sind, der Nachwuchsförderung und der Talenteförderung einen neuen Schub zu geben. Mir macht Sorgen, daß es astronomische Umsätze im Berufssport gibt; Umsätze, die Höhen angenommen haben, die man fast kaum noch aussprechen kann. Wir sollten gemeinsam überlegen, wie wir Mittel aus dem Einkommen des Berufssports für die öffentliche Hand freisetzen können und wie diese dem gemeinnützigen Sport gezielt zur Verfügung gestellt werden können. Ein letzter Satz sei mir gestattet. Im Bericht wird darauf verwiesen, daß eine Aufnahme der Förderung des Sports in das Grundgesetz nicht nötig sei. Das mag der Standpunkt der Bundesregierung sein. Mir scheint jedoch, es wäre sinnvoll und notwendig, gemeinsam darüber zu diskutieren, weil wir ja nicht nur an das Jahr 1995, sondern auch an ein Grundgesetz denken sollten, daß für das nächste halbe Jahrhundert Bestand hat. Ich danke Ihnen. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster Redner hat der Abgeordnete Herr Baum das Wort.

Gerhart Rudolf Baum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000111, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch wir sind der Meinung, Herr Kollege Schmidt, Herr Kollege Fischer, daß wir nach den Ereignissen des gestrigen Tages und auch auf Grund vorhergehender Ereignisse - auch von unserer Seite aus im Sportausschuß - alles tun müssen, um dazu beizutragen, inneren Frieden im Umfeld des Sports zu gewährleisten, Aggressionen abzubauen und dies nicht allein der Polizei zu überlassen. Wir werden uns diesem Thema demnächst im Sportausschuß gemeinsam widmen müssen. Die wichtigste Aufgabe der Sportpolitik ist in den nächsten Jahren die Herstellung gleicher Lebensverhältnisse in ganz Deutschland. Wir bekennen uns zu dieser Verpflichtung und werden sie als Liberale wirksam fördern. Diese Hilfe kommt nicht nur dem Leistungssport zugute, sondern indirekt und manchmal ganz direkt auch dem Breitensport. Die Bundesregierung - dafür möchte ich Ihnen danken, Herr Schäuble - hat dafür in den letzten Monaten schnelle und wirksame Hilfe geleistet. Es handelt sich um eine Anschubfinanzierung, die notwendig war; schon im dritten Nachtragshaushalt 1990 wurden wichtige Maßnahmen vorgesehen. Die Leistungssportförderung hat jetzt in der Tat eine bisher nicht erreichte Höhe erlangt: 135 Millionen DM für die neuen Bundesländer gegenüber 113 Millionen DM für die alten Bundesländer; das ist ein gutes Ergebnis. Wir möchten Sie, Herr Minister, ermutigen, auf diesem Wege fortzuschreiten. ({0}) Zieht man eine Zwischenbilanz, so ist in der Tat zu bedauern, daß eine erste Welle der Abwanderung qualifizierter Leistungssportler und Trainer stattgefunden hat. Es muß alles getan werden, und es wird alles getan, um eine zweite Welle zu verhindern. Wir stehen vor der Aufgabe, in den neuen Bundesländern eine Struktur des Sports aufzubauen, die einer freien Gesellschaft gemäß ist. Im Mittelpunkt dieser Struktur, meine Damen und Herren, muß der Verein stehen, müssen die Eigenorganisationen, die Selbstverantwortung, die Selbstinitiative freier Bürger stehen; dazu müssen wir ermutigen. ({1}) Die Gemeinden müssen - unterstützt von der Treuhand - den Vereinen Sportanlagen zur Verfügung stellen, die Rechtsträgerschaften müssen so schnell wie möglich geklärt werden. Vereine benötigen qualifizierte hauptamtliche Manager. Da liegt noch vieles im argen. Manche drängen sich in diese Ämter, ohne die Qualifikation zu haben. Wir müssen dafür sorgen, daß die Ausbildung der Manager auch hier erfolgen kann. Für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft ist diese Aktivität der Bürger unverzichtbar. Wir hoffen, daß die Kommunen aus dem Fonds von rund 5 Milliarden DM, der ihnen jetzt zufließt, auch Direktinvestitionen für den Sport zur Verfügung stellen. Der Sport darf in den neuen Bundesländern nicht zum Stiefkind kommunaler Haushalte werden. Mit Sorge sehen wir, daß die Lotto- und Totoeinnahmen bisher vor allem in die Haushalte der neuen Bundesländer fließen. Die Landtage sollten so schnell wie möglich dafür Sorge tragen, daß von Anfang an in bewährter Weise ein bestimmter Anteil auch dem Sport zur Verfügung gestellt wird. ({2}) Wenn sich die Strukturen einmal verfestigt haben, wird das nur sehr schwer möglich sein. Der Leistungssport in den neuen Bundesländern war nach der Wende in einer Krise, er war auch in einer Akzeptanzkrise. Er war zu sehr für politische Zwecke mißbraucht worden; zahlreiche Vertreter des Sports hatten sich durch ihre Privilegien zu sehr in Verruf gebracht. Diese Stimmung klingt jetzt ab. Durch die Förderungsmaßnahmen der Bundesregierung haben sich neue Perspektiven eröffnet. Sie sind zunächst auf die Olympischen Spiele 1992 gerichtet. Niemand hat erwarten können, daß sich bei den bisherigen Leistungssportwettkämpfen die Leistungen der beiden ehemaligen deutschen Staaten addieren würden. Dennoch gibt es ermutigende Ergebnisse. Im übrigen ist es so, daß die Krise im Leistungssport bereits vor der Wende begonnen hat; darauf haben Sie, Herr Schäuble, gestern hingewiesen. Es gab bereits einen Abwärtstrend, der nicht erst mit der Wende begonnen hat. Wir müssen jetzt alles tun, um den Sportlern die Teilnahme an den internationalen Wettkämpfen zu ermöglichen und ihnen Chancen zu eröffnen. Die Sportstrukturen in den neuen Ländern müssen stabilisiert werden; das geschieht bereits. Die Abwanderung fähiger Leute muß verhindert werden, Unsicherheiten bezüglich der Zukunft einer ganzen Reihe von Einrichtungen des Sports müssen beseitigt und neue Kooperationen müssen aufgebaut werden. So stelle ich mir beispielsweise vor, daß das Kölner Bundesinstitut für Sportwissenschaft, das sich in den letzten Jahrzehnten eine unverzichtbare Position aufgebaut hat - aber nun einer organisatorischen und inhaltlichen Auffrischung bedarf -, mit den Einrichtungen in den neuen Bundesländern kooperiert. In der Tat spricht vieles dafür, das frühere Institut für Körperkultur in einer neuen Form wieder selbständig zu etablieren. Da ergeben sich Kooperationsmöglichkeiten mit dem Kölner Institut, vielleicht auch in Verbindung mit den Aktivitäten auf dem Gebiet der Trainingswissenschaft in Leipzig. In dieser Situation, meine Kollegen, müssen alle den ihnen angemessenen Beitrag leisten; der Bund tut dies. Wir haben uns gestern auch im Sportausschuß vergewissert, daß die Mittel abfließen. Ich möchte jedoch in bezug auf den deutschen Sport fragen: Wäre es nicht richtig, wenn der deutsche Sport, der in der alten Bundesrepublik rund 20 Millionen Mitglieder umfaßte, eine besondere Solidarität mit den in einem mühsamen Aufbauprozeß befindlichen Menschen in den Vereinen der früheren DDR dadurch beweist, daß er etwa durch eine Umlage oder durch ein flächendeckendes Netz von Patenschaften tätig wird? Wir haben oft gehört, daß sich der deutsche Sport als eine große Bürgerinitiative bezeichnet; diesem Anspruch sollte er jetzt gerecht werden. Ich stelle überhaupt nicht in Frage, was viele Vereine im bilateralen Verkehr tun, aber eine besondere Kraftanstrengung wäre der Lage sicherlich angemessen. Ich möchte noch einen weiteren Adressaten nennen: ich nenne die deutschen Bundesländer, die nur sehr langsam ihrer Verpflichtung gegenüber den neuen Bundesländern gerecht werden. Ich meine die alten, die etablierten Bundesländer. Man muß von ihnen aber eines auf jeden Fall erwarten können: daß sie die Kompetenzen, die sie hier haben, nicht nur als eine Möglichkeit, sondern auch als eine Pflicht betrachten. Ich meine, die deutschen Bundesländer haben die besondere Pflicht der Nachwuchsförderung. Es muß eine bessere Verzahnung von Kinder- und Jugendsport erfolgen, eine bessere Verzahnung von Schule und Verein. Die Frage der Sportinternate in der früheren DDR bedarf einer Entscheidung. Der ganze Bereich der Nachwuchsförderung, der Talentsuche, auf den Sie, Herr Schäuble, gestern mit Recht großen Wert gelegt haben, ist eine Aufgabe der Bundesländer, und ich erwarte, daß vor allem die etablierten alten Bundesländer jetzt endlich auf diesem Gebiet ihre Pflicht tun. Es ist ein Unding, daß der Bund „Jugend trainiert für Olympia" noch mit 1,5 Millionen DM, glaube ich, im Jahr finanziert. Das ist Aufgabe der Länder, und sie sollten sich dieser Aufgabe jetzt mit Nachdruck stellen. ({3}) Schließlich möchte ich mich an einen weiteren Adressaten wenden, nämlich an die internationalen Fachverbände. Ich glaube, daß die Staaten - dazu gehören die neuen Bundesländer, die jetzt die Demo1074 kratie und die Marktwirtschaft etablieren - , einer besonderen Behandlung und Berücksichtigung wert sind. Es kann doch nicht so sein, daß internationale Wettkämpfe veranstaltet werden, sie werden aus Steuermitteln finanziert, sie werden von den öffentlichen Organisationen des Sports getragen, die Gewinne aus diesen Einrichtungen fließen dann in die internationalen Verbände, reinen Verwaltungsorganisationen, und die Veranstalter in den Ländern, in denen jetzt die Sportorganisationen aufgebaut werden, haben nichts davon. Ich appelliere an DSB und NOK, hier eine Änderung herbeizuführen. ({4}) Doping ist ein Krebsübel des Leistungssports; ich schließe mich allen Äußerungen hier an, die dazu gemacht worden sind. Selbstgerechtigkeit ist nicht am Platze, auch nicht hier in der Bundesrepublik. Es wäre völlig falsch, mit dem Finger auf die frühere DDR zu zeigen, und zu vergessen, was auch bei uns im argen liegt. Wir müssen alles tun, um alle Kräfte gegen das Doping zu mobilisieren. Sport und Umwelt: Sie haben Recht, Herr Fischer, diese Verordnung, in der wir versucht haben, in einem schwierigen Einigungsprozeß die Interessen des Sports und der Umwelt zueinander zu führen, muß nun endlich verabschiedet werden. Es besteht dringender Handlungsbedarf im Deutschen Bundesrat. Schließlich noch eine Bemerkung zu Berlin. Es steht vor Ihnen ein Bonn-Befürworter, aber eines befürworte ich auch mit großem Nachdruck, und das sind die Olympischen Spiele des Jahres 2000 in Berlin. Wir wünschen uns, daß Berlin Erfolg hat. ({5}) Der Bundesinnenminister hat bei seinen Bemühungen, in den neuen Bundesländern eine Leistungssportstruktur aufzubauen, die einer freien Gesellschaft gemäß ist, unsere volle Unterstützung. Die Bundesregierung hat in den letzten Monaten schnell und wirksam gehandelt. Viele Fragen werden wir später zu diskutieren haben. Beispielsweise müssen wir uns in der Tat fragen, ob wir nicht eine Konzentration der Kader durchführen müssen. Die Kaderzahlen sind heute viel zu groß. Schon in der alten Bundesrepublik war das ein Problem. Aber das sollte man erst nach den Olympischen Spielen tun. Es bedurfte großer Kraftanstrengungen aller Beteiligten, denen wir danken; ich beziehe hier, Herr Schäuble, ausdrücklich die Sportabteilung Ihres Hauses ein. Wir werden in dieser Legislaturperiode das Unsere dazu beitragen, um die gemeinsamen Ziele zu erreichen. Es kommt in dieser Phase gar nicht so sehr auf Perfektion an, sondern in vielen Fällen auf Schnelligkeit, Improvisation, um in einer schwierigen Lage zu bestehen. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Herr Sorge.

Wieland Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002193, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich teile den Optimismus der Koalition, was den Sport in den alten Bundesländern anbelangt. Was allerdings die Entwicklung und den gegenwärtigen Stand des Sports in den neuen Bundesländern anbelangt, habe ich eine andere Auffassung, und aus diesem Grunde möchte ich heute meine Ausführungen speziell auf den Sport in den neuen Bundesländern beziehen. Den betroffenen Menschen in den neuen Bundesländern hilft es nicht, wenn die eine Seite des Hohen Hauses ständig ihre Erfolge preist und die andere Seite nur die Versäumnisse heraushebt. Ich bin von der Richtigkeit unseres demokratischen Weges überzeugt. Reibungslose Abläufe im Prozeß des Zusammenwachsens der beiden Teile Deutschlands freuen uns von Herzen, sind jedoch im allgemeinen nicht Gegenstand der Betrachtungen an diesem Ort. Obwohl gegenwärtig der Sport in den neuen Bundesländern noch funktioniert, tritt eine Vielzahl von Problemen auf, die einige Bereiche des Sports nicht nur stark behindern, sondern ihre weitere Existenz in Frage stellen. Ich will keine Schwarzmalerei betreiben, aber die Hilferufe der Sportverantwortlichen in den neuen Bundesländern sollten gehört und ernstgenommen werden, bevor es zu spät ist. ({0}) Die folgenden Ausführungen sind das Ergebnis meiner Erfahrungen aus den wöchentlichen Begegnungen mit Sportlern und Leitungsmitgliedern der Vereine sowie mit Kommunal- und Landespolitikern. Lassen Sie uns zu folgenden Problemen gemeinsame Lösungswege finden - im Interesse unserer Menschen ist die SPD dazu bereit - : Die überdimensionierte Förderung des Leistungssports in der ehemaligen DDR führte zu einer Vernachlässigung des Breiten- und Behindertensports. Das Vereinsleben wurde fast lahmgelegt; Innenminister Schäuble hat darauf bereits hingewiesen. Aus diesem Grunde müssen in unserem demokratischen Einheitsstaat alle Maßnahmen vorrangig der Förderung und Weiterentwicklung des Breiten- und Vereinssports dienen. In der wirtschaftlich und sozial angespannten Situation der neuen Bundesländer kommt dem Bereich des Sports eine außerordentliche Bedeutung zu. Der Sportbericht 1990 der Bundesregierung sagt dazu: Der freiheitliche Staat braucht Grundwerte und Grundüberzeugungen seiner Bürger. Dafür ist er auf Institutionen angewiesen, die diesen Grundkonsens vermitteln und damit die Stabilität des Staates stärken. Der Sport und die ihn tragenden Sportorganisationen gehören ... ({1}). Die Grundüberzeugung von der Richtigkeit unserer freiheitlichen Rechtsordnung im neuen Einheitsstaat ist in erster Linie davon abhängig, wie der Staat es versteht, die Interessen der Bürger wahrzunehmen und in die Tat umzusetzen. Folgende vorwiegend neue Aufgaben der jungen demokratischen Vereins- und Breitensportbewegung in den neuen Bundesländern müssen gelöst werden: . ein breites Sportangebot für alle Interessenten garanWieland Sorge tieren; die Bereitstellung von Übungsleitern, Sportstätten, Sportgeräten, Sanitäranlagen und medizinischer Betreuung; die Organiation und Durchführung eines Wettkampfbetriebs; eine Nachwuchs- und Talenteförderung; die enge Zusammenarbeit zwischen Vereinen, Schulen und Leistungszentren als Grundlage für den Leistungssport; die Gestaltung eines niveauvollen und kulturellen Vereinslebens; einen Beitrag zur Gesundheitsförderung und zum sozialpolitischen Ausgleich leisten. Diesen Aufgaben ist der neue Sport nur bedingt gewachsen, und es droht nach Aussagen der Sportfunktionäre schon bald das vorzeitige Aus, wenn nichts geschieht. Das größte Problem ist die Finanzierung der Vereine. Die früheren Geldquellen existieren nicht mehr, und die neuen funktionieren noch nicht. Kommunen und Länder haben zur Zeit kein Geld, um den Vereinen zu helfen. So sind in vielen Vorschalthaushalten oder Haushaltsplänen kaum Mittel für den Sport ausgewiesen. Sponsoren treten im Osten kaum in Aktion. Die Betriebe kämpfen um ihre nackte Existenz und können keine finanziellen Mittel abführen. Die Mitgliedsbeiträge von 2 bis 3 DM reichen nicht. Einnahmen aus Lotto- und Toto-Mitteln gibt es ebenfalls noch nicht. Die Zuschauerzahlen sind rapide zurückgegangen. Sportlerbälle sind gegenwärtig nur noch ein Zuschußunternehmen. Die Anschubfinanzierung und die Guthaben sind bereits aufgebraucht. Somit haben die Vereine keine Möglichkeit, die Wettkampffahrten, die Sportausstattung, die Sportstättennutzung, die Sportstättenpflege und die vielfältigen Versicherungen, die Bezahlung der Übungsleiter und die Wettkampfgebühren zu finanzieren. Einerseits reichen die vorhandenen Sportstätten nichts aus, andererseits sind sie in einem desolaten Zustand, der eine Sportausübung oftmals unmöglich macht. Viele Kommunen sind nicht in der Lage, ihre Sportstätten zu unterhalten bzw. zu modernisieren oder gar neue zu bauen. So kostet die Unterhaltung der Sportstätten der Stadt Leipzig ca. 40 Millionen DM pro Jahr. Ein Großteil der Städte und Gemeinden kann die Übernahme und Unterhaltung von Sportstätten aus dem Besitz der Betriebe und der ehemaligen Armee und Polizei nicht finanzieren. Dadurch drohen Zwangsverkäufe an andere Einrichtungen. Bisher haben die meisten Kommunen den Verlockungen widerstanden. Zudem ist oftmals die Eigentumsfrage ungeklärt und verkompliziert damit den Übernahmeprozeß durch die Kommune. Im Sportbericht 1990 wird gesagt: Bund, Länder und Gemeinden setzen die Rahmenbedingungen, in denen sich der Freiraum des Sports optimal entfalten kann, und fördern den Sport auf allen Ebenen, sofern die Kräfte des Sports nicht selbst ausreichen. Letzteres ist nun eingetreten. Da Länder und Gemeinden kaum Hilfe gewähren können, bleibt nur der Bund für diese Hilfe übrig. Da der Bund nur für den Leistungssport verantwortlich zeichnet, muß das eine befristete Ausnahme bleiben. Deshalb schlagen wir vor, für einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren eine weitere Anschubfinanzierung des Bundes für die Landessportbünde zum Auf- und Ausbau eines demokratischen Vereins- und Verbandslebens zu leisten. Außerdem müßten durch eine Art goldenen Plan in der ersten Phase die Erhaltung der Sportstätten erreicht werden und in der zweiten Phase die Modernisierung bzw. Erweiterung der Sportstätten erfolgen. Dazu sollen die Länder die 5 Milliarden DM aus dem Direktinvestitionsprogramm nehmen. Ob die Länder und Kommunen bei ihrer angespannten Situation dazu bereit sind, wird sich zeigen. Besser für den Sport wäre eine zweckgebundene Hilfe des Bundes an die Länder. Neben diesen Beiträgen müssen vor allem die Vereine darauf hinwirken, daß sich trotz der eigenen Existenzprobleme noch mehr Menschen in die ehrenamtliche Sportarbeit einbeziehen und zur erfolgreichen Entwicklung beitragen. Der Schulsport leidet darunter, daß zuwenig Sportstätten, Turnhallen, Schwimmhallen, Sportanlagen und Sportgeräte vorhanden sind. Die materielle Ausstattung der Turnhallen ist völlig unzureichend, und die Sicherheit der benutzten Sportgeräte ist besorgniserregend, was Lehrer und Übungsleiter ständig in Konfliktsituationen bringt. Der Studentensport ist gegenwärtig fast lahmgelegt. Auch im Behindertensport sind wir trotz der umfangreichen Möglichkeiten, die uns der Bund bietet, noch keinen Schritt vorangekommen. Die KJS sollten eine mögliche vertiefende sportliche Ausbildung und Nachwuchsförderung erhalten und damit erhalten bleiben. Das positive Signal der Bundesregierung dazu ist lobenswert. Der pädagogische Ausbildungsprozeß muß dabei Priorität behalten. Der Leistungssport wird in den neuen Ländern seine Aufgaben nicht erfüllen können, wenn die Vereine und die KJS als dessen Grundlagen keine positive Entwicklung nehmen. Obwohl erhebliche finanzielle Mittel für die Olympiastützpunkte und Bundesleistungeszentren bereitgestellt werden, gibt es eine Vielzahl von Problemen. Ein Großteil der Spitzensportler ist schon in die alten Bundesländer abgewandert oder wird unter diesen Bedingungen weiter abwandern, weil das Umfeld - Wohnung und Berufsausbildung, Sponsorenverträge usw. - nicht stimmt. Deshalb müssen Olympiastützpunkte, Bundesleistungszentren und Bundesstützpunkte schnell eingerichtet und die Bedingungen so geschaffen werden, wie sie in den alten Bundesländern sind. Die Erhaltung der im Einigungsvertrag genannten Sporteinrichtungen FKS, FES und Dopingkontrollabor in Kreischa findet unsere Zustimmung. Allerdings sollen unabhängige Kontrolleinrichtungen streng darüber wachen, daß die humanistischen und demokratischen Ziele sowohl inhaltlich als auch personell ihre Verwirklichung finden. Meine Damen und Herren, die mit der steigenden Arbeitslosigkeit verbundenen Spannungen stellen in den nächsten Jahren ein großes soziales Problem dar. Ein funktionierender Breitensport vermag durch sein umfangreiches Sportangebot größer gewordene Freizeit sinnvoll auszufüllen. Die damit verbundene gesellschaftliche Begegnung und Kommunikation würden wesentlich zur politischen Entspannung sowie zur sozialen Harmonisierung besonders bei der Jugend beitragen. ({2}) Verpassen wir nicht die große Chance und leiten deshalb die entsprechenden Maßnahmen zur raschen, erfolgreichen Sportentwicklung ein. Die Menschen würden es als einen erfreulichen Schritt zum Vollzug der Einheit sehen und dankend annehmen. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Herr Reichenbach.

Klaus Reichenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Gestatten Sie mir am Anfang einige Worte als Präsident des Sächsischen Fußballverbandes. Ich habe, wie Sie, gestern am Fernsehschirm die Bilder aus Dresden gesehen. Ich bin erschüttert. Ich muß Ihnen als sächsischer Fußballpräsident sagen, daß wir in Sachsen leidgeprüft sind. Wir haben Probleme mit Hooligans. Wir haben Probleme mit der Ausführung und auch der Sicherheit der Stadien. Man muß hier als Politiker und als Verantwortlicher ganz deutlich appellieren, daß wir gemeinsam Dinge vorsehen, die diesen Randalierern, diesen Hooligans, keine Chance mehr geben. Ein Toter in Leipzig und ein abgebrochenes Länderspiel zur Anschubfinanzierung des nordostdeutschen Fußballverbandes zwischen der DDR und der Bundesrepublik reichen. Ich bin der Meinung: Wir müssen jetzt schärfer vorgehen. Wenn ich in einer Fernsehsendung von Hooligans, die aus der Altbundesrepublik kamen, mitgeteilt bekomme, daß sie der Auffassung sind, daß die ehemalige DDR ein Paradies zum Randalieren ist, muß ich eindeutig sagen: Das zeigt Mängel auf, die in unseren Stadien jetzt vorhanden sind. Diese gilt es abzustellen. Und es muß ganz schnell geschehen. Ich bitte hier als Verantwortlicher, daß die Kommission, die sich bei Minister Seiters auf Antrag des Fußballverbandes gebildet hat, so schnell wie möglich seine Arbeit aufnimmt. Ein Komplex von Maßnahmen muß dazu führen, daß in unseren Stadien endlich wieder Ruhe und Ordnung einzieht und daß nicht jeder Oberligatag in der Oberliga Nordost zu einem Schlachtfeld wird. ({0}) Meine Damen und Herren, in der ehemaligen DDR war der Leistungssport der einzige Bereich, wo nach Leistungsprinzipien internationale Klasse und Ergebnisse erreicht wurden, die international vorzeigbar waren. Die ungewöhnlich vielen Erfolge bei Olympiaden, Welt- und Europameisterschaften durch den Einsatz hoher materieller Mittel und ein ausgefeiltes Talentesicherungssystem - hierbei muß ich darauf hinweisen: ein ausgezeichnetes Wettkampfsystem für Kinder- und für Jugendsport - haben darin ihre Ursache. Ich möchte hier ganz deutlich appellieren: Es sollten sich alle neuen Bundesländer und die Altbundesländer diesen Wettkampfsport zunutze machen. Sie sollten davon lernen. Sie sollten ihn natürlich von politischen Girlanden entrümpeln, aber sie sollten trotz alledem diese Wettkampfförderung für die Jugendlichen und Kinder gestatten; denn das ist der Antrieb, aus dem Spitzensportler eines Tages gebildet werden. ({1}) Diesem ganzen Leistungssport in der ehemaligen DDR, der sehr viele positive Effekte brachte, wirken natürlich auch negative Effekte entgegen. Der negativste Effekt des Leistungssports der ehemaligen DDR war der, daß er politisch vermarktet wurde, und zwar in der Art und Weise, daß die Überlegenheit des Sozialismus an Hand des Leistungssportes dargestellt wurde. Wir haben durch unsere Erfahrungen mit dem Leistungssport in der ehemaligen DDR natürlich eine differenzierte Betrachtungsweise. Wir sehen dies teilweise mit einem lachenden und mit einem weinenden Auge. Hierbei muß ich sagen: Der Leistungssport ist die eine Seite. Die andere Seite ist der Breitensport in der ehemaligen DDR. Im Gegensatz zum reglementierbaren Leistungssport - der organisierte Freizeitsport fehlte fast völlig - existierte der Breitensport in Betriebssportgemeinschaften. Obwohl sich dazu ein Vereinsleben wie in den Altbundesländern nicht entfalten konnte, so bleibt doch festzustellen: Ansätze dafür waren vorhanden. Diese gilt es jetzt auszubauen. Die Grundlagen für die Entwicklung eines echten Freizeitsports und auch eines regen Vereinslebens hat es in der DDR in Größenordnungen schon gegeben. Es gilt einfach, diese Möglichkeiten weiterhin zu nutzen, sie zu erschließen und auch entsprechend auszugestalten. Wir brauchen in den neuen Bundesländern ein neues Breitensportverständnis und dazu die weitere Bildung von Vereinen. Die positiven Ansätze der Umbildung ehemaliger BSG zu Vereinen müssen trotz teilweise fehlender finanzieller Mittel mit großem individuellen Engagement weitergeführt werden. Wir Politiker sollten dies unterstützen. Ich sehe hier eine gute Möglichkeit, das zu bewahren und auszuprägen, was aus dieser ehemaligen DDR immer wieder als erhaltenswert bezeichnet wurde, nämlich das Solidargefühl der Menschen untereinander. Drohender Vereinsamung kann so entgegengewirkt werden, und ein neues Gefühl von Partnerschaft kann sich entwickeln. Der Eindruck der Staatlichkeit des Sports wurde aber auch durch andere Aspekte verstärkt. Die Durchdringung der Leitung und der Organisation des Leistungssports und des Breitensports mit hauptamtlichen Staats- und SED-Strukturen hat diesen Sport negativ belastet. Dies ist eine Tatsache. Ihr gegenüber steht die andere Tatsache, daß wirklich Tausende von Sportlern im Breitensport ehrenamtlich und freiwillig tätig waren, obwohl die Möglichkeit bestand, sich dieses Engagement teilweise in Form von Freistellungen über Betriebssportgemeinschaften bezahlen zu lassen. Was wir jetzt in den neuen Bundesländern brauchen, ist der Ausbau der freiwilligen und ehrenamtKlaus Reichenbach lichen Leistungsstrukturen. Gleichzeitig muß eine staatliche- besser gesagt: eine kommunale - Leistungsstruktur herausgebildet werden, die nicht in die Vereine hineinredet, sondern sich um die materiellen Belange dieser Vereine kümmert. Der Breitensport muß also auf zwei Säulen stehen. Obwohl Freizeit- und Breitensport Länder- und Kommunalangelegenheiten sind, kann ein erfolgreicher Spitzensport auf Dauer nur dann garantiert werden, wenn ein funktionierender Breitensport vorhanden ist. Meine Damen und Herren, die Einseitigkeit der Sportausrichtung hat dazu geführt, daß der Sport und die Sportler in der früheren DDR über Nacht von einem Hätschelkind und einem Vorzeigeobjekt zum Prügelknaben wurden. Diese undifferenzierte Betrachtungsweise, verbunden mit der Enthüllung der Dopingpraxis des einstigen DDR-Sports, hat viel Schaden angerichtet. Die Sportler sind abgewandert, Betriebssportgemeinschaften wurden per Federstrich eliminiert. Ich teile trotzdem nicht die Auffassung, daß der Sport in den neuen Bundesländern vor dem Zusammenbruch steht. Auch aus meiner Erfahrung als sächsischer Fußballpräsident kann ich Ihnen sagen, daß eine solche Schwarzweißmalerei wenig hilfreich ist und noch weniger motivierend wirkt. Wenn auch vieles von dem, was der Kollege Sorge gesagt hat, stimmt, so muß man doch auch sehen, daß viele Dinge nicht allein mit Geld geregelt werden können; vielmehr müssen auch persönliches Engagement und Einsatzbereitschaft hinzutreten. Meiner Meinung nach sind unsere Leute in den fünf neuen Bundesländern dazu durchaus bereit. ({2}) - Nein, aber wir als Politiker müssen das unterstützen, und ich denke, wir sitzen gemeinsam im gleichen Boot. ({3}) - Alles klar. Sie haben die volle Unterstützung auch der CDU. Einig sind wir uns wohl alle darüber, daß für den Sport etwas getan werden muß, auch wenn jetzt die Lösung von vielen hundert Problemen teilweise wichtiger erscheint. In diesem Zusammenhang möchte ich Herrn Innenminister Schäuble recht herzlich für die großzügige Unterstützung des Sports auch in materieller Hinsicht danken. Ich weiß genau, in welchen Dimensionen und unter welchem Druck solche Entscheidungen getroffen werden, und ich weiß, daß zum Teil auch Kämpfe stattfinden müssen, um diese Mittel zu sichern. ({4}) Wir brauchen den Sport auch in den neuen Bundesländern, um ein neues Selbstbewußtsein der Menschen und eine neue Identität mit Deutschland ausprägen zu helfen. Ich appelliere u. a. auch deshalb an Sie, damit die ehemaligen Leistungssportler nicht zu westdeutschen Vereinen überwechseln, sondern weiterhin in ihren Heimatvereinen Sport betreiben und in den Heimatvereinen ihre Identität zu Sachsen, zu Brandenburg, zu Sachsen-Anhalt, zu Thüringen und zu Mecklenburg-Vorpommern nachweisen. Über die Sporthilfe und dank einer Reihe von Sponsoren ist man dabei, in den neuen Bundesländern Bedingungen zu schaffen, die denen der Altbundesländer für das Training und für die Unterhaltung des Spitzensports entsprechen. Wir erleben gegenwärtig sehr schmerzhaft, daß, bedingt durch den wirtschaftlichen Umbruch in den neuen Bundesländern, viele Menschen ihre Aufgabe verloren haben, darunter auch viele Menschen, die sich in ihrer Freizeit stark für den Sport engagiert haben. Ich bin der Meinung, dadurch ist gerade jetzt eine Riesenchance gegeben, diesen Menschen eire verantwortungsvolle Aufgabe anzubieten, die ihnen Freude und eine entsprechende Bestätigung bringt. Wir können sagen: Das einzige, was an der Kurzarbeit positiv ist, ist die Zeit, die gewonnen wird, um unter Umständen im Sport eingesetzt zu werden, nämlich um ehrenamtliche Tätigkeit im Sport auszuüben, in den Sportstätten materiell zu helfen, dort Dinge zu vollbringen, die zur Verbesserung der Sportstätten dienen. ({5}) Hierin liegt das Potential, das wir für den Sport nützen können und nützen müssen. Warum bieten wir nicht beispielsweise im Rahmen des AFG Anreize für solche Menschen, die ihre Arbeit verloren haben oder Kurzarbeiter sind, damit sie sich hier intensiv engagieren? Wir erreichen damit die beiden Wirkungen, die ich Ihnen gerade beschrieben habe. Warum sollte es nicht möglich sein, Arbeiten in diesem Bereich als gemeinnützige Arbeiten durch AB-Maßnahmen zumindest teilweise zu finanzieren und zu unterstützen? Arbeit, die es hier zu bewältigen gilt, gibt es genug, angefangen von der Betreuung der Vereine bis hin zur Pflege und Instandhaltung von Sportstätten, -plätzen. Je länger wir noch abwarten und hoffen, daß sich alles von selbst lösen wird, je länger wir vor diesen Problemen, vor denen die Sportvereine bei uns stehen, die Augen verschließen, desto schwieriger wird die Situation. Das betrifft auch den Bereich der Sportstätten. Ich warne hier vor der Erwartung, daß das Niveau der Sportstätten in ganz kurzer Zeit dem der Sportstätten in den Altbundesländern entspricht. Wir werden über Jahre hinaus mit Improvisationen leben müssen. Wir müssen einfach erwarten, daß das akzeptiert wird, auch im sportlerischen Vereinsleben, bei entsprechenden Sportwettkämpfen von Vereinen aus der Altbundesrepublik. Es wird eben noch einige Jahre benötigen, bis das Niveau der Sportstätten in den neuen Bundesländern dem der Sportstätten in den alten Bundesländern entspricht. ({6}) Der Aufbau dieser Sportstätten und auch des Vereinslebens kann natürlich nur in einem bestimmten Bereich vom Bund aus getragen werden, und das ist der Bereich des Spitzensports. Wir wissen ganz genau, daß die Möglichkeiten des Bundes den anderen Dingen nicht gerecht werden, daß sie Länder- und kommunalangelegenheiten sind. Aus diesem Grunde muß ich darauf verweisen, daß hier die Landesregierungen und die Kommunen über eine entsprechende Finanzierung die Möglichkeiten schaffen müssen. Hier wurde auch schon auf Toto/Lotto und auf verschiedene andere Dinge hingewiesen. Wir sollten das im Rahmen unserer Möglichkeiten unterstützen.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Reichenbach, Ihre Redezeit ist beendet.

Klaus Reichenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gestatten Sie mir zum Schluß, die Aufforderung an uns alle auszusprechen, daß wir als Politiker uns dafür einsetzen, daß wir im Bundestag nicht nur Mitspieler oder nur Zuschauer oder gar Punktrichter sind, sondern aktive Akteure, um diese Dinge, die ich Ihnen genannt habe und die die Kollegen vor mir auch schon genannt haben, zu gestalten. Lassen Sie uns - auch über den Sport hinaus - die richtigen Signale setzen. Gerade auch der Sport ist ein Stück des Vollziehens der deutschen Einheit. Ich danke Ihnen. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Herr Lohmann.

Klaus Lohmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001368, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nicht der Bessere soll gewinnen, sondern Schalke. ({0}) Diese bekannte Meinung des Satirikers Karl Garbe wird von vielen Menschen im Ruhrgebiet, der Sportregion Nummer 1 in Deutschland, geteilt. Trotzdem geht der Lokalpatriotismus bei uns nicht so weit, daß wir dann, als erkennbar war, daß Berlin die größten Chancen haben würde, im Jahr 2000 die Olympiade zu bekommen, nicht zurückgesteckt haben. Vielmehr unterstützen wir Berlin jetzt natürlich mit vollem Herzen. ({1}) Wir hoffen, daß es Berlin im Jahres 2000 schaffen wird. Sollte dies nicht der Fall sein, ist das Ruhrgebiet für 2004 natürlich sofort wieder am Ball ({2}) und wird durch die sozialdemokratische Fraktion auch unterstützt werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat dem Vereinsförderungsgesetz zugestimmt. Dies war ein Kompromiß, auf den die SPD-Fraktion eingegangen ist. Trotzdem: Die alte, deshalb nicht weniger richtige Forderung nach einer Anhebung der steuerfreien Übungsleiterpauschale von 2 400 DM auf 3 600 DM bleibt bestehen. Das ist ja eine Forderung, die wir auch von Ihnen noch aus Oppositionszeiten kennen. ({3}) - So ist es. Als Vorsitzender eines Kreissportbundes habe ich täglich mit den Vereinen zu tun. Ich denke, ohne eine gute Jugendarbeit können die meisten Sportvereine nicht bestehen. Deshalb ist es notwendig, den vielen ehrenamtlichen Trainern und Betreuern, die einen großen Teil ihrer Freizeit den Kindern und Jugendlichen in Sportvereinen widmen, eine angemessene Entschädigung zu gewähren. Ich denke, der Satz „Im Verein ist Sport am schönsten" trifft auch hier zu. In vielen Kommunen und in vielen Bereichen haben wir inzwischen einen Prozentsatz von 30 % erreicht. ({4}) Je höher der Organisationsgrad der Einwohner in Sportvereinen ist, desto geringer wird, so meine ich, auch das Potential, das wir gestern in Dresden erleben mußten. Ich wende mich nun dem Thema Sport und Entwicklungspolitik zu, einem wichtigen Bereich, dem aber meist nur sehr wenig Beachtung geschenkt wird. Ich meine, die Bundesregierung setzt ein falsches Signal. Im Herbst des letzten Jahres betonte der Bundeskanzler, daß die Vereinigung Deutschlands nicht auf Kosten der Dritten Welt stattfinde. Nun, überprüft man diese Aussage am vorliegenden Etat des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit, so kann man sich nur wundern. Statt der von Minister Spranger ursprünglich geforderten 5,2 Milliarden DM blieben am Ende nur noch 3,9 Milliarden DM für die Entwicklungsländer übrig. Den Eindruck, daß der Stellenwert der Entwicklungspolitik - entgegen offiziellen Ankündigungen - immer geringer wird, bekräftigt auch die Tatsache, daß das BMZ dem Sport im Rahmen seiner Entwicklungspolitik kaum noch Beachtung schenkt. Seit 1982 ist die Förderung von Sportprojekten um fast 50 % gesunken. 1982 beliefen sich die dafür vorgesehenen Mittel auf rund 5 Millionen DM, für 1990 sind nur noch 2,8 Millionen DM vorgesehen. Die allmähliche Austrocknung des Förderprogramms liegt an dem Kompetenzwirrwarr innerhalb der zuständigen Stellen. Es gibt keinen eigenen Haushaltstitel für die Sportförderung. In der Praxis bedeutet das, daß die Entwicklungsländer Prioritäten bei der Auswahl von Projekten setzen müssen. Sportprojekte fallen dabei fast zwangsläufig unter den Tisch. Ein zweiter wesentlicher Kritikpunkt ist die Aufteilung der Sportförderung auf das BMZ und das Auswärtige Amt. Während das BMZ die Sportförderung zumindest unter entwicklungspolitischem Anspruch betrachtet, gewinnt man bei der „Sportförderung im Rahmen der auswärtigen Kulturpolitik", wie es im Sportbericht formuliert wird, den Eindruck, als würden kleine Wünsche der Nehmerländer mit der Gießkanne zu befriedigen versucht, entwicklungspolitiKlaus Lohmann ({5}) sche Zielsetzungen dabei aber völlig außen vor bleiben. Zwar berufen sich beide Ministerien bei der Mittelvergabe auf unterschiedliche Zielsetzungen - sie werden im Sportbericht noch einmal erläutert - , doch kann die Tatsache nicht verschwiegen werden, daß es der Bundesregierung insgesamt an einem übergreifenden Gesamtkonzept zur Förderung des Sports unter entwicklungspolitischen Zielsetzungen fehlt. Das Bundesinstitut für Sportwissenschaft legte im Auftrag des BMZ ein ausführliches Gutachten über die Notwendigkeit einer gezielten Sportförderung im Rahmen der Entwicklungspolitik vor. Bis zum heutigen Zeitpunkt ist das Gutachten nicht ausgewertet worden. In der Folge einer Sachverständigenanhörung beschloß das Parlament einstimmig, die Bundesregierung aufzufordern, ... eine Konzeption für die Sportförderung in den Entwicklungsländern im Rahmen einer entwicklungspolitischen Gesamtkonzeption unter vorrangiger Berücksichtigung ressortübergreifender sportfachlicher Gesichtspunkte zu sichern und fortzuschreiben. Die Zuständigkeiten der an der Förderung beteiligten Ressorts sollen dabei auf ihre Wirksamkeit überprüft werden. Diese Forderung liegt zwei Jahre zurück; geschehen ist seitdem nichts. Eine dringend notwendige wie sinnvolle Konzentration der Sportförderung in einem Ressort scheiterte bisher am Widerstand der Beteiligten. Da muß man sich fragen, wieso dem Bundesinstitut für Sportwissenschaft - Herr Baum hat vorhin darauf hingewiesen, wie wichtig und bedeutsam es ist -, das schon seit 1980 den Auftrag hat, die Bundesregierung bei Sportförderungsprojekten in den Entwicklungsländern wissenschaftlich zu beraten, kein Gehör geschenkt wird. Man gewinnt den Eindruck, als ob sich die einzelnen Ressorts regelrecht an ihre Förderungsmaßnahmen klammern und damit sinnvolle Hilfe für Entwicklungsländer behindern. Leider kann ich nicht erkennen, wo genau diese Problematik im vorliegenden Siebten Sportbericht auftaucht. Fazit: Ansätze einer sinnvollen Koordination der Sportförderung im Rahmen der Entwicklungspolitik sind nicht sichtbar. Im Gegenteil: Mittel im BMZ für Sportförderungsprogramme werden reduziert. Meine Damen und Herren, wir debattieren heute über den Sport mit allen seinen Auswirkungen. Lassen Sie mich zum Schluß aus einer Rede des Schriftstellers Rudolf Hagelstange zitieren, die er anläßlich des 20jährigen Bestehens des LSB Hessen vor 25 Jahren gehalten hat. Besonders vor dem Hintergrund des Sports in den Entwicklungsländern ist das, was er damals sagte, auch heute aktuell. Ich sage das auch angesichts dessen, daß uns unser ehemaliger Obmann, Peter Büchner, der sich gerade auch für diesen Bereich sehr engagiert hat, von der Tribüne zuhört. ({6}) Rudolf Hagelstange führte aus: Wir haben ganz und gar keine Veranlassung, einem in Freiheit wirkenden und betriebenen Sport Rang und Zukunft abzusprechen. Auch unser Sport wird blühen und Frucht abwerfen, wenn unsere Gesellschaft nicht versäumt, auch die Freiheit zum Opfer wahrzunehmen. Es gibt Bereiche und Phänomene, die man nicht dem Gesetz oder der Regel von Angebot und Nachfrage überlassen darf. Wir haben, aufs Ganze gesehen, schon viel versäumt, was die Kultur insgesamt betrifft. Lassen Sie uns, jeder zu seinem Teil und an seinem Platz, dazu beitragen, daß die Quellen nicht versickern und verschmutzen, aus denen wir uns Freude und Kraft antrinken für ein menschenwürdiges und lebenswertes Dasein. Danke schön. ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Herr Tillmann.

Ferdinand Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002326, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer als letzter in einer solchen Debatte das Wort hat, hat einen großen Vorteil. Er kann im wesentlichen auf das verweisen, was seine Vorredner schon gesagt haben, und zwar auf das Richtige und auch auf das Falsche. Heute morgen habe ich allerdings Gelegenheit, im wesentlichen auf das Richtige hinweisen zu können, weil die Opposition heute der Regierungspolitik im großen und ganzen zugestimmt hat. Ich bedanke mich für das Lob, das wir von den Kollegen der Opposition für die Sportpolitik der Koalition und der Regierung erhalten haben. ({0}) Ich führe das auch darauf zurück, daß es in diesem Hohen Hause eine gut funktionierende Fraktion Sport gibt, die im Sportausschuß hervorragende Arbeit leistet. ({1}) - Die möchte ich nicht vergessen. Die Fußballmannschaft des Deutschen Bundestages ist in den letzten Tagen und Wochen ihrem guten Ruf wieder gerecht geworden. Ich muß aber festhalten, daß das Spiel gegen meine Heimatmannschaft nicht den Erwartungen des Deutschen Bundestages entsprochen hat. ({2}) Der SSV Stockum gewann 3 : 1. Lassen Sie uns jetzt wieder ernst werden. Ich möchte auf die Ereignisse von gestern abend eingehen. Wir alle sind uns wohl darüber einig, daß es sich hier nicht um Gewalt handelt, die ihre Ursache im Sport hat. Es handelt sich also nicht um Gewalt im Sport, sondern um Rowdytum, das Sportmassenveranstaltungen lediglich als Anlaß für seine Aktivitäten sucht. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, daß solche Ereignisse dem Ansehen des Sports großen Schaden zufügen, was sich bis auf die Sportförderung für die gemeinnützigen kleinen Vereine negativ auswirken kann. Herr Kollege Schmidt, der Sportausschuß des Deutschen Bundestages hat sich in der Vergangenheit schon intensiv mit diesem Thema be1080 schäftigt. Deshalb könnte der von Ihnen angesprochene Runde Tisch zur Erörterung der Fragen, wo die Ursachen liegen und wie wir diese Erscheinungen bekämpfen können - daß das nicht allein, aber auch die Polizei tun kann, darüber sind wir uns einig - , der Sportausschuß sein. Dort könnten wir entsprechende Aussprachen und Diskussionen führen sowie nach Lösungsmöglichkeiten suchen. Ich hatte ohnehin vor, noch in diesem Jahr das Thema auf die Tagesordnung des Sportausschusses des Deutschen Bundestages zu setzen. Ich denke, wir stimmen überein, daß wir hierüber im Sportausschuß intensiv beraten werden, was nicht bedeuten soll, daß wir der Seiters-Kommission die Arbeit wegnehmen wollen. Die Entscheidung, den Sportbericht der Bundesregierung in einem nur noch vierjährigen Rhythmus zu erstatten, war richtig. Das gibt uns ausreichend Gelegenheit, die Entwicklung der Sportpolitik über einen längeren Zeitraum zu beobachten, Bilanz zu ziehen, aber auch die Zukunft der Sportförderung zu erörtern. Die letzte Legislaturperiode des Deutschen Bundestages fällt in diesen Berichtszeitraum. Es ist nicht zu bestreiten, daß diese, was Sportpolitik angeht, die erfolgreichste Legislaturperiode im Deutschen Bundestag gewesen ist. Die Verabschiedung des Vereinsförderungsgesetzes ist schon erwähnt worden. Herr Bundesminister Schäuble, Sie sind heute morgen schon mehrfach lobend erwähnt worden. Ihnen ist in mehrfacher Hinsicht gedankt worden. Ich möchte Ihnen als Sportausschußvorsitzender, aber auch als aktiver Sportfunktionär einen weiteren Dank hinzufügen: Ohne Ihre Mitwirkung in Ihrem seinerzeitigen Amt als Kanzleramtsminister wäre der Durchbruch hier nicht gelungen. Sie haben entscheidend daran mitgewirkt, daß die Mehrheit für das Vereinsförderungsgesetz im Deutschen Bundestag und auch bei der Bundesregierung zustande kam. Dafür möchte ich Ihnen noch einmal ganz herzlich danken; ({3}) denn mit dem Vereinsförderungsgesetz wurde endlich der Rahmen für die ehrenamtlich tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Vereinen geschaffen. Es wurde ihnen wieder Mut gemacht, sich mit viel Idealismus für andere einzusetzen. Wir alle wissen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, daß ohne diese ehrenamtliche Mitarbeit im Sport nichts funktionieren würde. Ohne diese Funktionäre fände Sport überhaupt nicht statt. Ich möchte auch noch einmal ganz herzlich den Millionen Helferinnen und Helfern, die mit viel Idealismus in den Vereinen arbeiten, von dieser Stelle aus danken. ({4}) Wir haben festzuhalten, daß es nunmehr den Sport auch im Baugesetzbuch gibt und daß wir eine novellierte Baunutzungsverordnung bekommen haben, die dem Sportstättenbau dient. Bedauerlicherweise ist es aber bisher noch nicht gelungen - das ist hier schon mehrfach angesprochen worden; ich will das aber noch einmal deutlich machen - , die unbedingt notwendige Verabschiedung der Lärmschutzverordnung nach § 23 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes durchzusetzen, weil der Bundesrat hier blockiert. Wir hatten es schon schwer genug, die Bundesregierung davon zu überzeugen, eine solche Verordnung auf den Weg zu bringen. Die Verordnung war dann ja auch sehr gut gelungen. Der Deutsche Sportbund hatte zugestimmt. Es gab aber eine Macke - ich hoffe, daß der Bundesrat diese Macke ausräumt und glattschleift, Herr Kollege Schmidt - : Im Hinblick auf die bestehenden Sportanlagen wurde nämlich eine Privilegierung nur für die baurechtlich genehmigten Anlagen ausgesprochen. Das kann natürlich keinesfalls genügen; denn die meisten Sportanlagen sind baurechtlich nicht genehmigt, sondern entweder vor Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes oder auf Grund anderer Vorschriften errichtet worden. Alle ordnungsgemäß errichteten Sportanlagen müssen also in die Privilegierung für bestehende Sportanlagen einbezogen werden. Ich hoffe, daß die Bundesregierung beobachtet, daß dies bei der endgültigen Verabschiedung der Verordnung nicht vergessen wird. Jetzt appelliere ich, wie das auch Herr Kollege Fischer schon getan hat, noch einmal an die Bundesländer, nicht weiterhin zu blockieren. Hier sind die Staatskanzleien und Ministerpräsidenten aufgefordert, den Streit zwischen Umweltministerien und Sportministerien in den Bundesländern schnellstens zugunsten des Sports zu beenden, damit diese Verordnung spätestens im April den Bundesrat passieren kann. ({5}) Wir brauchen diese Verordnung dringend, um bestehende Sportanlagen zu sichern und um zu vermeiden, daß Sportanlagen in die freie Natur hineingebaut werden müssen; denn dann kommt es wieder zu anderen Konflikten. Über die Aufgaben, die der Sport in den neuen Bundesländern hat, ist hier schon ausführlich gesprochen worden. Insofern kann ich mich auf meine Eingangsbemerkung beziehen. Lassen Sie mich noch ein Wort zum Doping sagen. Natürlich müssen wir hier zuerst vor unserer eigenen Haustür kehren. Was Dopingbekämpfung angeht, müssen wir mit gutem Beispiel vorangehen. Mich stört allerdings ein wenig, daß so getan wird, als wäre Dopingmißbrauch eigentlich nur eine rein deutsche Angelegenheit. Weder das IOC noch internationale Fachverbände befassen sich mit dem notwendigen Ernst mit diesem schwierigen Thema. Ich fordere unsere Sportverbände und unser NOK auf, sich dafür einzusetzen, daß Doping auch international bekämpft und geächtet wird, ({6}) damit unsere Sportler auch im internationalen Wettbewerb eine echte Chance haben und gegenüber anderen Sportlern nicht benachteiligt sind, die Dopingmißbrauch betreiben. Meine Damen und Herren, die Sportdebatte des heutigen Vormittags geht zu Ende. Es ist jetzt die AufFerdinand Tillmann gabe des Sportausschusses, den Sportbericht intensiv zu analysieren und weitere Schlüsse daraus zu ziehen. Ich will aber noch darauf hinweisen, daß wir dann, wenn der Achte Sportbericht erstattet sein wird, nicht nur die Olympischen Spiele 1992 hinter uns haben werden, sondern daß wir dann in den europäischen Binnenmarkt eingetreten sein werden. Dieser europäische Binnenmarkt wird uns auch in der Sportpolitik und im Sport ganz allgemein vor neue Herausforderungen stellen. So werden wir sicherlich in der Debatte in vier Jahren wieder ein neues Thema haben. Zum Schluß, meine Damen und Herren, möchte ich sagen: In der Bundesregierung hat der Sport zwei große Förderer, und zwar zunächst einmal den Herrn Bundeskanzler selbst - ich erinnere an seine Aussagen zum Sport in der Regierungserklärung - und - dies sei noch einmal erwähnt - den Bundessportminister Dr. Wolfgang Schäuble. Danke. ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage auf Drucksache 11/8459 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe - Achter Jugendbericht -- Drucksache 11/6576 Nach der Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 90 Minuten vorgesehen. - Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Ich eröffne damit die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin für Frauen und Jugend, Frau Dr. Merkel.

Dr. Angela Merkel (Minister:in)

Politiker ID: 11001478

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Achte Jugendbericht, der Ihnen heute zur Beratung vorliegt, fiel mit dem Ende der letzten Legislaturperiode und damit gleichzeitig mit dem Ende der alten Bundesrepublik zusammen, auf deren Gebiet er sich ja bezieht. Er handelt also von einem Land, das es heute so nicht mehr gibt. Als jemand aus einem der neuen Bundesländer komme ich aus einer anderen Erlebniswelt als Ministerin in dieses neue Land. Ich werde mein besonderes Augenmerk darauf richten, daß wir in den neuen Ländern auf dem Gebiet der Jugendarbeit rasch Fortschritte machen werden. Der nächste, der Neunte Jugendbericht wird hier sicherlich einen Schwerpunkt setzen. Ich bin sicher, er wird bereits Erfolge dokumentieren können. In dem hier vorgelegten Achten Jugendbericht finde ich eine Fülle von Aspekten, die uns beim Aufbau in den neuen Bundesländern den Weg weisen werden. Ich danke der unabhängigen Sachverständigenkommission für ihre ebenso umfassende wie detaillierte Berichterstattung, die ein anregendes und diskussionswürdiges Ergebnis erbracht hat. Die Bundesregierung - das ist in ihrer Stellungnahme niedergelegt - stimmt in ihrer Lagebeurteilung in wesentlichen Zügen mit der Sachverständigenkommission überein. Meine Damen und Herren, ich freue mich, die Einschätzung der Lage im Bereich der Jugendhilfe positiv zusammenfassen zu können. Die Lebensverhältnisse von Kindern und Jugendlichen in den westlichen Bundesländern haben sich in den vergangenen Jahren deutlich verbessert. Kinder und Jugendliche haben zu großen Teilen am wachsenden Wohlstand und an den besseren Lebenschancen der Gesamtgesellschaft partizipiert. Ein ganz wesentlicher Grund dafür ist der Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit. Mit 57 000 Arbeitslosen unter 20 Jahren im Dezember 1990 hat diese Zahl den niedrigsten Stand seit 14 Jahren erreicht. Die Arbeitslosenquote der unter 20jährigen liegt in den westlichen Bundesländern mit 4,3 % deutlich unter der allgemeinen Arbeitslosenquote von 6,8 % . Auch die Zahl der 20 bis 25jährigen Arbeitslosen hatte im Dezember 1990 mit rund 204 000 einen Tiefstand erreicht. Es ist ein großartiger Erfolg der Bundesregierung, daß seit dem Tiefpunkt der krisenhaften wirtschaftlichen Entwicklung 1982/83 die Jugendarbeitslosigkeit mehr als halbiert werden konnte. Die jüngeren Altersgruppen haben von der stärkeren Arbeitskräftenachfrage überdurchschnittlich profitiert. Der Mangel an betrieblichen Ausbildungsplätzen ist erfolgreich behoben worden. Die Nachfrage nach Auszubildenden übersteigt inzwischen deutlich die Zahl der jugendlichen Bewerber um Ausbildungsplätze. Trotz dieser erfreulichen Entwicklung gibt es leider nach wie vor schwerwiegende Probleme bei Kindern und Jugendlichen. Wir können nicht die Augen davor verschließen, daß vielen jungen Menschen das Leben in unserer Gesellschaft problematisch erscheint. Sie finden sich in der verwirrenden Vielfalt an Werten und Angeboten unseres pluralistischen Systems nicht zurecht. Sie vermissen angesichts der zunehmenden Individualisierung die Orientierung. Sie werden nicht damit fertig, daß der Zuwachs an Freiheit und das Recht auf eigene Lebensgestaltung die Pflicht zur eigenen Entscheidung und ein Mehr an Verantwortung für jeden einzelnen mit sich bringt. Der Konsum illegaler Drogen, Medikamentenmißbrauch und Alkoholabhängigkeit sind einige und viel zu verbreitete Reaktionen, die wir als Politiker sehr ernst nehmen müssen. Wir werden auf diese Bereiche ein waches Auge haben. Als weiteres Problem möchte ich die Straffälligkeit unter jungen Menschen nennen. Auch die Gefährdung durch Unfälle im Straßenverkehr bereitet mir Sorgen. Lebensräume für Kinder und Jugendliche sind oft unzureichend. Die Bundesregierung hat in der vergangenen Legislaturperiode Maßnahmen ergriffen und Regelungen I getroffen, um in all diesen Problemfeldern Verbesse1082 rungen zu erreichen. Ich möchte hier zwei Beispiele nennen: Erstens: Eine nationale Drogenkonferenz hat am 13. Juli 1990 den nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan beschlossen, der in diesem Jahr mit 26,5 Millionen DM Prävention, Therapie und Forschung enthält. Ein zweites Beispiel: Mit der Novellierung des Jugendgerichtsgesetzes, die am 1. Dezember vergangenen Jahres in Kraft getreten ist, wollen wir dazu beitragen, daß Kinder und Jugendliche in Zukunft immer weniger straffällig werden. Zu diesem Zweck wurden die Möglichkeiten, erzieherische und sozialpädagogische Maßnahmen an die Stelle von Strafen zu setzen, erheblich erweitert. Der Achte Jugendbericht zeichnet sich im Vergleich zu seinen Vorgängern aber gerade dadurch aus, daß er nicht lediglich Problemfälle aufzählt, sondern die Lebensverhältnisse der jungen Menschen im Gesamtzusammenhang der Entwicklung unserer Gesellschaft nachzuzeichnen versucht. Wichtige Veränderungen in der Gesellschaft werden daraufhin abgeklopft, welche Chancen einerseits und welche Gefahren andererseits sie für Kinder und Jugendliche aufweisen. Der Achte Jugendbericht hebt dabei die Verschiedenheit und Vielfalt der Lebensbedingungen und sozialen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland hervor. Pluralisierung von Lebenslagen und Individualisierung von Lebensführungen sind die beiden Stichworte. Daraus ergeben sich neue Aspekte und Anforderungen an die Jugendhilfe. Sie kann sich immer weniger an den kollektiven Lebenslagen von Großgruppen und Klassen orientieren. Sie kann sich nicht auf die klassischen Eingriffsmöglichkeiten und Leistungsangebote - etwa die Heimerziehung und die Familienpflege - beschränken. Eine an der individuellen Alltags- und Lebenswelt orientierte Jugendhilfe muß vielmehr mit differenzierten Leistungen, Angeboten und Hilfen arbeiten. ({0}) Dies ist die Grundidee des neuen Kinder- und Jugendhilfegesetzes, das am 3. Oktober in den neuen, am 1. Januar in den alten Bundesländern in Kraft getreten ist. Es schafft die Rechtsgrundlage für eine breite Palette von Leistungsangeboten. Die Kinder-und Jugendhilfe ergänzt damit die Leistungen der Familienpolitik und des Familienlastenausgleichs, die von der Bundesregierung in den vergangenen Jahren erheblich ausgebaut worden sind. Jugend- und Familienpolitik müssen gemeinsam dazu beitragen, daß die Familien in ihren Erziehungsaufgaben für die Kinder und Jugendlichen und auch in Notsituationen unterstützt werden. ({1}) Nach Ausweis der Jugendhilfestatistik haben Länder und Gemeinden im Jahre 1989 für Zwecke der öffentlichen Jugendhilfe insgesamt fast 10 Milliarden DM ausgegeben. Damit hat sich der Aufwand der Jugendhilfe seit dem Jahre 1970, als es knapp 1,4 Milliarden DM waren, mehr als versiebenfacht. Der Kostenaufwand für präventive Leistungen hat sich dabei von 40 % im Jahre 1970 auf heute 60 % erhöht. Das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz wird diesen Entwicklungen zur Erweiterung der Leistungen und zur Priorität von vorbeugenden Hilfen hin zusätzliche Schubkraft geben. Der Achte Jugendbericht beschreibt den Stand der Jugendhilfeleistungen in ihren verschiedenen Tätigkeitsfeldern und vermittelt vielfältige praktische Hinweise. Dafür möchte ich noch ein paar mir wichtige Beispiele nennen. Jedes Kind - so steht es in der Koalitionsvereinbarung -, dessen Eltern dies wünschen, soll in Zukunft einen Kindergartenplatz bekommen. Dieses Recht wird für 3- bis 6jährige Kinder im Kinder- und Jugendhilfegesetz verankert werden. ({2}) An den Kosten der Tagesbetreuung in den neuen Bundesländern beteiligt sich der Bund in diesem Jahr mit 1 Milliarde DM. Für nicht weniger wichtig halte ich jedoch die qualitative Erweiterung der Erziehung in den Tageseinrichtungen. Dies unterstützt die Bundesregierung durch eine Reihe breit angelegter Modellversuche. Die Auffassung des Achten Jugendberichts, daß Ausbildung, Beruf und Arbeit ebenfalls zu den Tätigkeitsfeldern der Jugendhilfe gehört, hat in Art. 13 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes seinen Niederschlag gefunden. Die Angebote richten sich an solche Jugendliche, die zugleich mit der beruflichen Ausbildung auch eine sozialpädagogische Betreuung und Unterstützung benötigen. Die Probleme der Jugendarbeitslosigkeit und der Berufsbildung benachteiligter Jugendlicher sind eine erstrangige politische Herausforderung. Für arbeits- und ausbildungsfördernde Maßnahmen im Rahmen der Jugendsozialarbeit, die die Programme des Arbeits- und des Bildungsministers ergänzen, wird das Bundesministerium für Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesjugendplans zusätzliche Mittel bereitstellen. Jugendarbeit kann junge Menschen hilfreich begleiten, gerade wenn diese erwachsen werden und sich vom Elternhaus lösen. Jugendarbeit muß sich der solidarischen Handlungsbereitschaft von Jugendlichen annehmen und ihnen Hilfestellung geben, sich für die Lösung gesellschaftlicher und ökologischer Probleme zu engagieren. Sie trägt zur Teilhabe junger Menschen am kulturellen, sozialen und politischen Leben unserer Gesellschaft bei. Rund 226 Millionen DM sind im Haushalt des Bundesministeriums für Frauen und Jugend für die Jugendförderung des Bundes im engeren Sinne vorgesehen. Für den Bundesjugendplan, das wichtigste Jugendförderungsinstrument, stehen davon 180 Millionen DM zur Verfügung. Der diesjährige Zuwachs von 48 Millionen DM geht fast ausschließlich in die neuen Bundesländer. Auch in diesem Jahr wird der überwiegende Teil dieser Mittel für die sogenannten Breitenprogramme, d. h. für die Förderung der Jugendverbände, des internationalen Jugendaustauschs und der politischen und kulturellen Jugendbildung, bereitgestellt werden. Wie wir gesehen haben, stellen sich der Jugendpolitik und der Jugendhilfe in den kommenden Jahren vielfältige Aufgaben. Trotz aller materiellen Sicherheit wissen wir, daß Ängste um den Zustand der Umwelt und Zweifel an der Leistungskraft der Politiker Jugendliche häufig bedrücken. Diesen Herausforderungen muß sich die Jugendpolitik in den nächsten Jahren stellen. ({3}) Wir müssen den Jugendlichen Wege aufzeigen, wie sie ihre eigene Zukunft gestalten können. Wir müssen ihnen Verständnis für Handlungsspielräume in unserer demokratischen Gesellschaft ermöglichen. Das ist die Aufgabe der Jugendpolitik. Ich nehme diese Aufgabe sehr ernst und bin fest entschlossen, mit den Jugendlichen darüber im Gespräch zu bleiben. Ich danke Ihnen. ({4})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächste hat die Abgeordnete Frau Simm das Wort.

Erika Simm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Der Achte Jugendbericht, mit dem wir uns heute befassen, ist ein Erbstück aus der vergangenen Wahlperiode. Er liegt der Bundesregierung bereits seit Oktober 1989 vor. Daß ihm erst heute die Ehre der Beratung im Parlament zuteil wird, läßt darauf schließen, daß die Bundesregierung der Jugendpolitik keinen sonderlich hohen Stellenwert beimißt. ({0}) Eigentlich hätte der Achte Jugendbericht bereits in die Beratungen zum neuen Kinder- und Jugendhilfegesetz einbezogen werden müssen. ({1}) Zeitlich wäre dies möglich, und von der Sache wäre es geboten gewesen. Allerdings hätte man sich dann auch mit den Feststellungen der Sachverständigenkommission z. B. zum Bedarf an Kindergartenbetreuungseinrichtungen auseinandersetzen müssen. Dies war damals wohl nicht opportun, da die Regierungsparteien damals den Anspruch auf einen Kindergartenplatz nicht im Jugendhilfegesetz festschreiben wollten. Der vorliegende Jugendbericht begründet demgegenüber diesen Anspruch schlüssig und zwingend. Auch der mangelnde ernsthafte Reformwille der Bundesregierung im Zusammenhang mit der Änderung des Jugendgerichtsgesetzes im vorigen Jahr wäre nur allzu deutlich geworden, wenn man den Achten Jugendbericht in die Beratungen mit einbezogen hätte.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Frau Abgeordnete Simm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Eimer?

Erika Simm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, wenn mir das nicht auf die Zeit angerechnet wird.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Nein, das wird nicht angerechnet.

Norbert Eimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000458, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, Sie haben gerade gesagt, die Durchsetzung des Anspruchs auf einen Kindergartenplatz sei an dieser Bundesregierung gescheitert. Ist Ihnen bekannt, daß dies an den Bundesländern, auch an SPD-regierten Ländern, z. B. Nordrhein-Westfalen, gescheitert ist? Ist Ihnen bekannt, daß das Land Nordrhein-Westfalen gerade zu dieser Zeit die Zuschüsse zu den Kindergärten gekürzt hat? ({0})

Erika Simm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich gehe davon aus, daß es nicht genügt, formal Ansprüche in das Gesetz zu schreiben und dann nichts dazu beizutragen, daß die Rechte begründet werden und deren Durchsetzung durch die Leistung finanzieller Beiträge auch ermöglicht wird. ({0}) - Das ist keine Frage des Föderalismus, sondern des Finanzausgleichs. Jetzt stehen wir vor dem Problem, uns mit einem Bericht über die Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe befassen zu müssen, dessen Bestandsaufnahme im Jahre 1988 endet und der auf die aktuellen Probleme der Jugendhilfe, die sich durch die Entwicklung in den neuen Bundesländern stellen, nur unzureichende Antworten geben kann. Diese Probleme sind erneut eine drohende massenhafte Jugendarbeitslosigkeit, zunehmende soziale Konflikte, fehlende oder in ihrem Bestand gefährdete Jugendhilfeeinrichtungen, das Fehlen von Jugendhilfestrukturen und fachlich qualifizierten Personals zur Wahrnehmung der Aufgaben der Jugendhilfe sowie die Notwendigkeit, Jugendverbandsarbeit neu zu organisieren. Da der Achte Jugendbericht, bezogen auf den Zeitpunkt seiner Erstellung, jedoch eine sehr umfassende und nach Einschätzung der Fachleute auch durchaus zutreffende Analyse der Situation von Kindern und Jugendlichen in den alten Bundesländern und der Entwicklung von Jugendhilfe hier gibt und zudem ihre vielfältigen Tätigkeitsbereiche berücksichtigt, hat es dennoch Sinn, sich mit ihm eingehend auseinanderzusetzen. Die Probleme in den neuen Bundesländern sind ja nicht wirklich neu; ähnlich haben sie sich auch in Westdeutschland einmal gestellt. Die Analysen und Bewertungen im vorliegenden Jugendbericht können daher für die Bewältigung der Situation im östlichen Teil Deutschlands durchaus hilfreich sein. Einer fachlichen Bewertung des Achten Jugendberichts im Detail enthalte ich mich; sie ist in der Fachliteratur weit und überwiegend positiv geschehen. Allerdings hätte ich mir eine eingehendere Darstellung der besonderen Situation von Mädchen gewünscht, eine gründlichere Darstellung der Erfahrungen mit Mädchenarbeit, eine Bewertung der Versuche, die Ausbildungssituation von Mädchen zu verbessern und eine genauere Analyse der Gründe, die dazu führen, daß Versuche, Mädchen den Zugang in sogenannte Männerberufe zu ermöglichen, im Ergebnis doch recht erfolglos waren. Soweit im Achten Jugendbericht die besonderen Gefahren genannt und erörtert werden, denen Kinder und Jugendliche typischerweise ausgesetzt sind, vermisse ich einen Hinweis auf die Gewalt in Familien und den sexuellen Mißbrauch von Kindern. Dieses Thema ist mit zunehmender Enttabuisierung erst in den letzten Jahren mehr und mehr in das Bewußtsein gerückt worden. Gewalt gegen Kinder und sexueller Mißbrauch bedeuten für die Jugendhilfe eine neue, schwierige Herausforderung und bedürfen meines Erachtens neuer Handlungskonzepte, wobei insbesondere das Ob und das Wie der Einbeziehung der Familie in die Betreuung des Kindes hätten überdacht werden müssen. Dies gilt um so mehr, als die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zum Achten Jugendbericht, die uns schriftlich vorliegt, in alter Tradition die vorrangige Familienbezogenheit der Jugendhilfe betont. ({1}) Die Stellungnahme der Bundesregierung, auf die ich in einigen Punkten näher eingehen möchte - ich beziehe mich auf die schriftliche Stellungnahme, habe aber heute mündlich nichts wesentlich anderes und Neues gehört -, fordert massive Kritik heraus. Sie hat sich - dies ist durchgehend festzustellen - nur diejenigen Aussagen des Berichts herausgesucht und zur Kenntnis genommen, welche die Situation von Kindern und Jugendlichen und der Jugendhilfe positiv zeichnen, und diese dann als Bestätigung ihrer Politik gewertet. Kritische Feststellungen der Sachverständigenkommission hat sie übergangen, oder - schlimmer noch - sie hat Feststellungen, die eigentlich Anlaß zu Sorge wären, bagatellisiert, beschönigt und geradezu ins Gegenteil verkehrt. ({2}) Die im Bericht genannte hohe Zahl von Sozialhilfeempfängern unter den Kindern und Jugendlichen kommentiert sie, ich muß schon sagen: zynisch, indem sie darauf verweist, daß es den meisten Jugendlichen so gut wie noch nie zuvor gehe. Deren Ausstattung mit Konsumgütern sei, so wörtlich, komfortabel. Als Ursache für den Sozialhilfebezug von nahezu 8 % der Kinder unter 15 Jahren nennt sie lapidar: Arbeitslosigkeit der Eltern, Trennung der Eltern und geringer Lebensstandard alleinerziehender Mütter und Väter. Nach Ursachen und Zusammenhängen wird nicht gefragt. Ein politischer Handlungsbedarf besteht offenbar nicht. Ein anderes Beispiel: Jugendarbeitslosigkeit. Hierzu hat die Frau Ministerin etwas gesagt. Ich meine, auch das stellt nicht zufrieden. Der Achte Jugendbericht sieht noch immer Probleme für Jugendliche auf dem Arbeitsmarkt als gegeben an. Der Bundesregierung fällt dazu ein, der Mangel an Ausbildungsplätzen sei überwunden. Allenfalls in einigen Berufen sei dies noch ein Thema. In einigen Berufen! Diese Behauptung war auch 1989 falsch, weil der Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit bis 1989 regional sehr unterschiedlich war und Mädchen sowie sozial- und bildungsmäßig benachteiligte Jugendliche, junge Ausländer, Aus- und Übersiedler sehr wohl auch zu diesem Zeitpunkt nicht ohne weiteres eine Lehrstelle bzw. einen Arbeitsplatz fanden. Die Leichtfertigkeit, mit der sich die Bundesregierung damals über das Problem der Jugendarbeitslosigkeit hinwegsetzte, läßt angesichts der Entwicklung in den neuen Bundesländern für die dort lebenden Jugendlichen Schlimmes befürchten. ({3}) Wenn es nach der Bundesregierung geht - ich erinnere mich an das, was ich in den letzten Tagen gehört habe - , dann haben sie nicht qualifizierte Ausbildungen, z. B. in überbetrieblichen und außerbetrieblichen Ausbildungsstätten, zu erwarten, sondern werden sie zur Bereinigung der Arbeitslosenstatistik in Warteschleifen, wie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, freiwilliges soziales und ökologisches Jahr, vermutlich auch in die bekannten Grundlehrgänge der Arbeitsämter verwiesen. Eingehend und überzeugend stellen die Sachverständigen im Achten Jugendbericht dar, daß es bezüglich der Lebensverhältnisse von Kindern und Jugendlichen und der Strukturen der Jugendhilfe - damit also bei deren Wirksamkeit - ganz gravierende regionale Unterschiede gibt. Auch hier ist zu vermerken, daß diese regional bedingte Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen für die Bundesregierung kein Anlaß für politisches Handeln, z. B. insbesondere für Überlegungen in Richtung auf eine effektivere Strukturpolitik, ist. Ich komme zum Schluß. Die von mir genannten Punkte - die Liste ließe sich beliebig verlängern - lassen erkennen, daß die Bundesregierung offenbar nicht gewillt ist, sich mit den Aussagen dieses Berichts ernsthaft auseinanderzusetzen. Damit wird sie ihrer politischen Verantwortung gegenüber den Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft nicht ausreichend gerecht. ({4}) Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Herr Pofalla. ({0})

Ronald Pofalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001726, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will zu Beginn ganz kurz auf die Ausführungen der Kollegin eingehen, die soeben für die sozialdemokratische Fraktion zum Achten Jugendbericht Stellung genommen hat. Frau Kollegin, ich darf Sie vielleicht darauf hinweisen, daß der Staatsaufbau der Bundesrepublik Deutschland föderal gegliedert ist und daß für die Kindergartenplätze und die Errichtung von Kindergärten die Länder zuständig sind. Ich verweise hier in Bonn, in Nordrhein-Westfalen, darauf : In Nordrhein-Westfalen fehlen derzeit 100 000 Kindergartenplätze. Wie auch Sie wissen, regiert die Sozialdemokratie hier nunmehr zum dritten Male hintereinander mit absoluter Mehrheit. ({0}) Setzen Sie in Ihrer eigenen Fraktion an, wenn dort Dinge kritisiert werden. Die Kollegin hat der Bundesregierung vorgeworfen, sie ignoriere die kritischen Anmerkungen, die die Berichterstatter zum Achten Jugendbericht gemacht haben. Das kann ich der Stellungnahme der Bundesregierung nicht entnehmen. An verschiedenen Punkten geht die Bundesregierung sehr detailliert auf die Problembereiche ein. Nur, der Unterschied zwischen der sozialdemokratischen Fraktion und der CDU/CSUFraktion besteht beispielsweise darin, daß wir das Vorhandensein von Problembereichen sehr wohl erkennen, daß aber die Generation, der ich selber ja angehöre, nicht nur aus Problemfällen besteht, sondere Gott sei Dank auch sehr positive Entwicklungen zu verzeichnen hat. ({1}) Nach der Auffassung der Berichterstatter, die diesen Bericht erstellt haben, haben sich die Determinanten für den sozialen Status eines Menschen verändert. Die klassischen Faktoren der sozialen Ungleichheit wie Elternhaus, Bildung, Berufsposition und Geschlecht stehen zur Bestimmung der sozialen Position in der Gesellschaft nicht mehr im Vordergrund. Vielmehr gewinnen andere Gesichtspunkte zur Statusbestimmung an Bedeutung. Ich möchte dies an zwei Beispielen verdeutlichen. Erstens. Die regionale Herkunft fällt bei der Statusbestimmung immer stärker ins Gewicht. Regionale Unterschiede beispielsweise bei der Jugendarbeitslosigkeit - ich beziehe mich auf die Zahlen aus dem Bericht, die aus dem Jahre 1988 stammen - bieten z. B. den Jugendlichen in Südbayern mit einer Jugendarbeitslosigkeitsquote von 4,1 % eine bei weitem bessere Möglichkeit zur Lebensplanung und zur Lebensführung als beispielsweise in Nordrhein-Westfalen mit einer Quote von 10,6 %. ({2}) Ich nenne ein zweites Beispiel. Die Lebensplanung junger Frauen läuft heute nicht mehr nur in die Richtung Familie und Kindererziehung. Zwar hat die Familie und die Erziehung von Kindern für jüngere Frauen - wie übrigens auch für männliche Jugendliche - weiterhin einen sehr hohen Stellenwert, was der Jugendbericht ja auch verdeutlicht. Der Wunsch nach Berufstätigkeit bei weiblichen Jugendlichen ist heute jedoch sehr viel stärker vorhanden, als dies bei den Frauen vor einer oder zwei Generationen der Fall war. Eine junge Frau hat natürlich den Wunsch, die Fähigkeiten, die sie in der Ausbildung oder im Studium erwirbt, im Berufsleben anzuwenden und eben nicht als weitere Lebensperspektive einzig und allein Kinder, Küche und Herd zu sehen. Am Rand sei hier angemerkt: Die Zahl der jungen Männer, die zeitweise die Kindererziehung gegen den Beruf eintauschen, wächst ständig. ({3}) Auch dies ist eine Folge der nicht ungewollten intensiveren schulischen und beruflichen Bildung junger Frauen und im übrigen ein Erfolg der Arbeit dieser Regierung, weil die Frage der Ausbildung als ein Schwerpunkt in diesem Bereich angesehen worden ist. ({4}) - Daß das in Ihrer Fraktion anders gesehen wird, weil Erfolge in Ihrer Fraktion ignoriert werden, verstehe ich. Aber Sie werden Verständnis dafür haben, daß ich hier die andere Sicht der Dinge darzustellen versuche. ({5}) Ich nenne ein weiteres Beispiel. Auf Grund der gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre bieten sich den Jugendlichen heute keine klar vorgezeichneten Lebensabläufe mehr. Die Bildungsmöglichkeiten und somit auch die beruflichen Perspektiven haben sich verändert und verbessert. Alte Normen wie geschlechtsspezifische Rollenzuweisung, Religion oder Orientierung an traditionellen Werten verlieren an Einfluß. Die Jugendphase ist heute - das ist nach meiner Überzeugung eine der Kernaussagen des Achten Jugendberichts - zu einer eigenständigen Lebensphase geworden. Die Jugendzeit kann längst nicht mehr nur als eine Übergangsphase in das Erwachsenenalter verstanden werden. Die eigenständige Lebensphase drückt sich in einer veränderten Lebensform aus, auch in offenen Lebensgemeinschaften mit dem Partner oder mit der Partnerin. Wir müssen diesen Wandel in der Normalbiographie eines Jugendlichen zur Kenntnis nehmen und die notwendigen Konsequenzen ziehen. Jugendliche sind heute in der Lebensgestaltung viel freier und haben viel mehr Chancen, als dies bei der Generation beispielsweise meiner Eltern der Fall war. Staatliche Leistungen wie das BAföG, Kindergeldzahlungen und das Wohngeld - um nur einige Beispiele zu nennen - gleichen heute unterschiedliche Startchancen, die ursprünglich durch die verschiedenen ökonomischen Situationen der Elternhäuser gegeben waren, zu einem Teil aus. Die durch die knappen finanziellen Ressourcen eines Arbeitnehmerhaushalts früher vorhandenen Benachteiligungen werden zunehmend durch staatliche Transferleistungen aufgefangen. Der Besuch höherer Bildungseinrichtungen ist für die Jugendlichen aus den ländlichen Regionen durch den starken Ausbau der werkehrlichen Infrastruktur heute viel eher möglich, als es noch für die Generation meiner Eltern der Fall war. ({6}) Wir verzeichnen also eine Individualisierung von Zukunftsentwürfen. Die jüngere Generation kann, wie dargelegt, nicht mehr von vorgegebenen Modellen der Lebensführung ausgehen. Daß das einer eher kollektivistischen Betrachtungsweise von Lebensführung widerspricht, ist selbstverständlich. Nur: Es entspricht nicht unserer Sicht der Dinge. ({7}) Jugendliche haben heute die Möglichkeit, ihren Lebensentwurf und ihre Lebensgestaltung weitgehend selber zu bestimmen. Welche Konsequenzen bringt dieser Gesichtspunkt mit sich? Individualisierung erfordert von dem Jugendlichen eine stärkere Planung des Lebenslaufs. Hier müssen gesellschaftliche Gruppen, die Familien, die Kirchen und andere Gruppen Orientierungshilfen anbieten und Sicherheiten geben. Für viel wichtiger - da nehme ich Bezug auf die Kollegin von der sozialdemokratischen Fraktion - halte ich im Gegensatz zu den Rednern der Opposition die Chancen, die sich aus dieser Individualisierung in der Jugendphase ergeben. Die intensive Planung und der Entwurf des eigenen Lebens ermöglichen es dem Jugendlichen, seinen individuellen Interessen, Bedürfnissen und Fähigkeiten viel stärker Rechnung zu tragen. ({8}) Trotzdem oder gerade deshalb gibt es einen intensiven politischen Handlungsbedarf. Der Staat hat hier die erforderlichen Rahmenbedingungen und differenzierte Leistungsangebote zu schaffen. Vieles ist bereits in der vergangenen Legislaturperiode erreicht worden. Ich will hier nur noch einmal auf die Zahlen verweisen, die die Ministerin allein an Ausbildungsplätzen in den alten Bundesländern genannt hat: 660 000 zur Verfügung gestellte Ausbildungsplätze; 560 000 Bewerber. In der Endphase Ihrer Regierungszeit, meine Damen und Herren von der SPD, gab es ein Defizit von 70 000 Ausbildungsplätzen. Es ist ein Erfolg der Regierung in den alten Bundesländern, daß wir dieses Überangebot haben. ({9}) Wenn wir eine noch jugendfreundlichere Situation schaffen wollen, dürfen wir uns nicht selbstzufrieden in den Sessel zurücklehnen. Neue und weitere Aufgaben und Herausforderungen stehen vor uns. Wir müssen für die jungen Frauen Lebensmöglichkeiten schaffen, die den Abschluß einer beruflichen Ausbildung und einer beruflichen Integration gestatten. Die Fort- und Weiterbildung muß die Konsequenzen aus dem Wunsch junger Frauen nach einem beruflichen Wiedereinstieg ziehen. Sie muß berufliche Qualifikationsmöglichkeiten und arbeitsspezifische Angebote unterbreiten. Dabei gilt es auch zu berücksichtigen, daß die Betreuung der Kinder jener Frauen und Männer, die diese Angebote wahrnehmen, gewährleistet ist. Der berufliche Wiedereinstieg nach der Kindererziehung muß weiter erleichtert werden. Wir müssen die Rahmenbedingungen schaffen, um mehr Teilzeitarbeitsplätze zu ermöglichen. Um ein letztes Beispiel zu nennen: Wir müssen mehr Möglichkeiten zur Kinderbetreuung schaffen, um die pädagogische Betreuung der Kinder, wenn beide Elternteile berufstätig sind, sicherzustellen. Lassen Sie mich abschließend noch zwei Bemerkungen machen. Erstens. Die Politik ist gefordert, Jugendpolitik als Querschnittsaufgabe zu begreifen. Die Interessen der Kinder und Jugendlichen müssen beim Straßen- und Wohnungsbau genauso berücksichtigt werden wie bei der Planung neuer Freizeitzentren. ({10}) Zweitens. Die europäische Integration schreitet voran. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, daß die Jugend die Chancen, die das neue Europa bietet, ergreifen kann. Dazu ist die Angleichung der Schul- und Studienzeiten auf europäischer Ebene dringend erforderlich. ({11}) Wir müssen darauf dringen, daß die Sprachkenntnisse weiter ausgebaut werden können. Der Jugendaustausch mit unseren europäischen Staaten muß intensiviert werden. Das deutsch-französische Jugendwerk hat hier eine Vorbildfunktion übernommen. Das deutsch-polnische Jugendwerk ist ein weiterer Schritt in die richtige Richtung. Vielleicht hat gerade das deutsch-polnische Jugendwerk die Aufgabe, hier Vorbildfunktion für eine Öffnung zu osteuropäischen Partnerländern zu übernehmen. Ich wünsche es mir für Europa und für die Jugendlichen in dem vereinigten Deutschland. Herzlichen Dank. ({12})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Dagmar Enkelmann.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die uns hier vorliegende Drucksache hat bereits ein beträchtliches Alter erreicht. Sie wurde - wie hier schon erwähnt - im Oktober 1989 an die Bundesregierung und im Februar 1990 an den Bundestag geleitet. Es entzieht sich allerdings meiner Kenntnis, warum dieser Bericht erst jetzt verhandelt wird. Liegt das möglicherweise an einem Mangel an Interesse für Jugendarbeit? Jedenfalls hat sich inzwischen einiges Gravierendes ereignet. Ich habe manchmal den Eindruck, daß das an Ihnen vorbeigegangen ist. Mir erscheint dieser Bericht dringend überholungsbedürftig. Mit solchen Einschätzungen im Bericht, z. B. daß „der Mangel an Ausbildungsplätzen überwunden wurde und allenfalls in einigen Berufen noch ein Thema ist", oder daß „die Jugendarbeitslosigkeit in erheblichem Umfang abgebaut werden konnte", dürften Sie sich, Frau Merkel, kaum an die Öffentlichkeit der neuen Bundesländer wagen. Große Teile der Jugend der ehemaligen DDR sind mit hohen Erwartungen in die deutsche Einheit gegangen; die Wahlpropaganda der Herren Kohl, Waigel und anderer hat ein übriges getan. Sie glaubten daran, daß Selbstverwirklichung, demokratische Partizipation, individuelle Freiheiten jetzt schnell möglich würden. Sie wollten weg von Bevormundung und kleinlicher Gängelei. Diese Erwartungen haben sich bei vielen nicht erfüllt. Wieder können sie sich nicht in die Politik einbringen - man braucht sich nur hier im Bundestag umzusehen -; wieder wird über sie, nicht mit ihnen gesprochen; wieder stehen sie draußen, wenn die Entscheidungen fallen. Freiheit, Demokratie, Solidarität, all das wird den alles beherrschenden Marktinteressen untergeordnet. Aber da gibt es etwas, was eine völlig neue Erfahrung für Jugendliche aus der ehemaligen DDR ist: ({0}) Ihre Lebensperspektive wird durch die ständig steigende Arbeitslosigkeit bedroht. Es ist wenig aufmunternd, wenn der Kanzler in der Haushaltsdebatte die „besondere Verantwortung ({1}) gegenüber jungen Leuten in den neuen Bundesländern" beschwört, ohne ein klares Konzept dafür zu haben. Arbeitslosigkeit wird von den Jugendlichen als Schock erlebt; sie trifft sie völlig unerwartet, psychologisch nicht vorbereitet. Jugendarbeitslosigkeit löst massenhaft Gefühle von Unsicherheit, des An-sichselbst-Zweifelns und des Nichtgebraucht-Werdens aus.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schwarz?

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich würde gern meine Rede zu Ende halten. Im Arbeitsamtsbezirk Eberswalde, im Land Brandenburg, beispielsweise hat sich die Arbeitslosenquote bei jungen Leuten unter 20 Jahren im Februar 1991 um 10 % gegenüber dem Vormonat erhöht. In solch wichtigen Industriebetrieben des Bereichs wie dem ehemaligen PCK Schwedt, dem Kranbau Eberswalde oder dem Elektrolaminate Bernau wurden mehr als 1 000 Lehrstellen abgebaut. In Jena haben von 3 500 Schulabgängern des Jahres 1991 erst ca. 200 eine Lehrstelle. An dieser Stelle sei angemerkt, daß es mir nicht möglich war, an konkrete Zahlen heranzukommen. Es gibt eine interne Weisung der Bundesanstalt für Arbeit, daß diese Fakten geheimzuhalten sind. ({0}) Offensichtlich will man hier mit geschönten Berichten auch hier wieder die Wahrheit unterdrücken und die Probleme wegretuschieren. ({1}) Neben der Reduzierung von Lehrstellen steht für eine ganze Reihe von Auszubildenden das Problem, daß ihre Lehrverträge abgebrochen wurden bzw. ihre Abschlüsse nicht anerkannt werden. Umschulungsprogramme beginnen erst, sind aber viel zu wenig und basieren nicht auf klaren Entwicklungsprogrammen für die Länder bzw. Regionen. ({2}) Umschulung und Weiterbildung aber als bloßer Ersatz für Arbeit sind kaschierte Warteschleifen mit gefährlichen Langzeitwirkungen für Jugendliche. Die Perspektivlosigkeit, vor der viele Jugendliche in der ehemaligen DDR stehen, führt zum einen zu einer starken Abwanderung in die westlichen Bundesländer, führt aber auch zu steigender Jugendkriminalität, zu Alkohol- und Drogenmißbrauch. Im übrigen sind auch Drogen ein Problem, mit dem Jugendliche aus den neuen Bundesländern erst umzugehen lernen müssen. Diese Perspektivlosigkeit führt weiter zu einer bedrohlich steigenden Suizidrate unter Jugendlichen, führt zu politischem Radikalismus nach extrem rechts und links, ({3}) führt zu Bandenbildung usw. usf. Die Ereignisse beim gestrigen Fußballspiel wurden hier bereits erwähnt. ({4}) Diese Probleme dürfen nicht unterschätzt werden, vor allem wenn man berücksichtigt, daß öffentliche Träger der Jugendhilfe erst im Aufbau begriffen sind und daß freie Träger nur unzureichend gefördert werden. Hinzu kommt, daß es in der ehemaligen DDR einen deutlichen Trend der Hinwendung Jugendlicher zu Trägern offener Jugendarbeit gibt. ({5}) - Vielleicht hören Sie einmal zu; ich weiß, worüber ich rede. ({6}) Das steht im Widerspruch zu der traditionellen Jugendarbeit der Bundesregierung und damit auch zu Regelungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. Die schlechte finanzielle Situation der Kreise und Gemeinden führte z. B. dazu, daß Jugendclubs bzw. Jugendfreizeitzentren als oftmals einzige Einrichtungen, in denen Jugendliche sich treffen konnten, kur1088 zerhand geschlossen wurden. Von ehemals 18 Jugendclubs in meinem Heimatkreis Bernau existieren heute nur noch 5. Worin müssen meines Erachtens die Schwerpunkte der Jugendförderung in den neuen Bundesländern bestehen? Erstens ist es notwendig, endlich ein wirtschaftliches Struktur- und Entwicklungsprogramm auszuarbeiten, das auch den Jugendlichen berufliche Perspektiven eröffnet. Jugendförderung kann nur im Gesamtkontext gesellschaftlicher Entwicklung verstanden werden. ({7}) Zweitens geht es um die Bereitstellung weiterer finanzieller Mittel, die ausdrücklich für Jugendarbeit Verwendung finden müssen. ({8}) Es ist zu begrüßen, daß 48 Millionen DM mehr zur Verfügung gestellt werden sollen. Es ergibt sich aber die Frage, ob diese Mittel tatsächlich dort ankommen, wo Jugendliche ihr Leben selbst gestalten wollen. Das schließt meines Erachtens unter Berücksichtigung der besonderen Situation in den neuen Bundesländern auch die gleichberechtigte Förderung öffentlicher und freier Träger der Jugendhilfe ein. ({9}) Jugendarbeit muß sich an den Interessen der Jugendlichen orientieren. Drittens geht es um weitreichende strukturelle und personelle Unterstützung beim Aufbau der kommunalen Jugendhilfe. Das bedeutet die Einstellung erfahrenen Personals aus den westlichen Bundesländern, heißt aber auch und gerade in diesem sensiblen Bereich, Leute heranzuziehen, die in der ehemaligen DDR auf pädagogischem Gebiet gearbeitet haben ({10}) und in der Lage sind, sich in die Situation Jugendlicher hineinzuversetzen. ({11}) - Dazu sind Sie offensichtlich nicht in der Lage. Diese Leute müssen fähig sein, die spezifische psychische Lage von Jugendlichen zu erfassen. Das schließt die Anerkennung vorhandener pädagogischer Abschlüsse ebenso ein wie berufsbegleitende Weiterbildungsmaßnahmen. Meine Damen und Herren, nicht selten ist die Vorstellung, Jugendliche in der ehemaligen DDR hätten die geringsten Schwierigkeiten beim Übergang zur Sozialen Marktwirtschaft. Dem ist nicht so, und ich warne vor jeder Vereinfachung des Problems. Gerade Jugendliche sind in starkem Maße von Schwierigkeiten betroffen, die sich zwangsläufig aus dem Überstülpen des einen auf das andere System ohne mildernde Anpassungsregelungen ergeben. Jugendliche in den neuen Bundesländern müssen erst Problembewußtsein entwickeln; sie müssen lernen, ({12}) sich in einer Welt der Konkurrenz durchzusetzen und selbständig für ihre Interessen einzutreten. ({13}) Hier hilft in der Politik nur ein realistisches Bild. Frau Merkel, Sie sprachen von der Jugend als wichtigem Hoffnungsträger der Gesellschaft. Die Jugend wird diese Rolle aber nicht spielen können und wollen, wenn ihr sämtliche Hoffnungen auf ein gesichertes, selbstbestimmtes Leben genommen werden. ({14}) Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({15})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Abgeordnete Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink, Sie haben das Wort.

Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000625, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Zuerst eine Vorbemerkung: Der Achte Jugendbericht analysiert den Strukturwandel in der Gesellschaft der ehemaligen Bundesrepublik. Es entwertet den Bericht in gar keiner Weise, daß er nicht ohne weiteres auf die Jugendlichen in der ehemaligen DDR zutrifft. ({0}) Denn dieser Bericht ist, wie schon gesagt wurde, unter anderen als den gegenwärtigen politischen Umständen angefertigt worden. Aber wenn wir in einem zukünftigen Bericht über die Jugendlichen in der ehemaligen DDR informiert werden, dann werden wir uns vielleicht darüber wundern, wie viele Gemeinsamkeiten es trotzdem - trotz Ihrer Äußerungen, Frau Enkelmann - gibt. ({1}) Der Jugendbericht versucht nicht, ein einheitliches Bild der jungen Generation zu geben, sondern beschreibt diejenigen Strukturelemente, die für die Lebenslagen heutiger Jugendlicher wesentlich sind. Der Jugendbericht faßt seine Analyse in der These von der Pluralisierung von Lebenslagen und Individualisierung von Lebensführungen zusammen. Individualisierung von Lebensführungen heißt zunehmende Notwendigkeit der persönlichen Entscheidung des/der einzelnen über seine/ihre Lebensentwürf e. Die Pluralisierung von Lebenslagen wird in einer starken Ausdifferenzierung von Entwicklungen und Chancen gesehen. Auf Grund der zeitlichen Ausdehnung des Bildungs- und Ausbildungsprozesses Jugendlicher heute - 1965 6 % Abiturienten, 1990 30 To Abiturienten eines Jahrgangs - ist die Jugendphase zu einer eigenständigen Lebensphase geworden. Sie ist nicht mehr nur als Übergangsphase in das Erwachsenenalter zu verstehen. Ausdruck dieser eigenständigen Lebensphase sind die veränderten Lebensformen JuDr. Margret Funke-Schmitt-Rink gendlicher in bezug auf Arbeit, Freizeit, Leistung, Sexualität und anderes. Da auch die Gesellschaft Bereitschaft zeigt, Wünsche und Vorstellungen von Jugendlichen zur Kenntnis zu nehmen und zu akzeptieren, weil es diese geringere Festlegung auf vorgegebene Rollenmuster in Familie und Beruf sowie die zunehmende Flexibilisierung des Bildungs- und Ausbildungswesens gibt, haben die Jugendlichen heute einerseits viel größeren Gestaltungsspielraum als jede Generation vor ihr. Andererseits heißt das: Die Tendenz zur Individualisierung und Pluralisierung stellt neue Anforderungen an die Kompetenzen des Jugendlichen. Auflösung sozialer Traditionen heißt auch das Aufgeben von Sicherheit in Problemsituationen - Stichwort: neue Beziehungsformen -. Der Strukturwandel der Gesellschaft wirft also das grundlegende Problem auf, wie Kinder in Erziehung, Sozialisation und Bildung zur Bewältigung dieser Anforderungen befähigt werden müssen. Der Achte Jugendbericht analysiert in eindrucksvoller Weise diesen Prozeß des gesellschaftlichen Wandels und die damit verbundenen Veränderungen und gleichzeitig die Auswirkungen auf die Rahmenbedingungen und Tätigkeitsfelder der Jugendhilfe. Dabei werden von der Sachverständigenkommission wesentliche Problemhintergründe aufgegriffen, die auch in den letzten Jahren die Diskussion der Jugendverbände und die künftigen Konzepte und Strukturen von Jugendarbeit mitbestimmen. Kritisch möchte ich allerdings anmerken, daß es trotz der Richtigkeit der These von der Individualisierung von Lebensführungen und der Pluralisierung von Lebenslagen auch andere grundlegende Faktoren gesellschaftlicher Wandlungsprozesse gibt. Die Auseinandersetzung mit den Folgen sich ändernder sozioökonomischer Faktoren, steigender materieller Armut, sozialer Ausgrenzung, Langzeitarbeitslosigkeit usw. hätte ein zwingender Bestandteil einer solchen von der Kommission geforderten lebensweltorientierten Jugendhilfe sein müssen. Die zentrale Botschaft des Jugendberichts ist das neue Konzept einer lebensweltorientierten Einheit der Jugendhilfe als eines wesentlichen Strukturelements. Lebensweltorientierte Einheit der Jugendhilfe heißt im Kontext der gesellschaftlichen Veränderung, die Ganzheitlichkeit der jungen Menschen im Blick zu behalten, sich gegen Sozialdisziplinierungen zu wenden und mehr auf Vernetzung, Koordination, Einmischung und Problemlösungsstrategien abzuheben. Die Bundesregierung berücksichtigt in ihrer Stellungnahme diesen eigenständigen Anspruch der Jugendhilfe nicht genügend, sondern sie benennt als ihr primäres Anliegen das Ziel, den Familien zu helfen, ihre Aufgaben besser wahrzunehmen. Nach Meinung der Liberalen liegt hier eine unzulässige Verkürzung des berechtigten Anspruchs der Jugendhilfe auf Eigenständigkeit bei Erziehung und Bildung Jugendlicher vor. ({2}) Das Konzept der lebensweltorientierten Einheit der Jugendhilfe will die sozioökonomischen Rahmenbedingungen sowohl für die Lebenslagen der Menschen als auch für die Handlungsbedingungen der Jugendhilfe in Rechnung stellen. Jugendhilfe versteht sich selber nicht als Ersatz für andere Felder der Gesellschaftspolitik. Die Bundesregierung jedoch sieht die Jugendhilfe so. Der Jugendbericht verbindet die Mahnung, gesellschaftliche Strukturprobleme nicht zu verdrängen, mit dem Anspruch, Gefahren der Pädagogisierung und Therapeutisierung nicht gegen die in der Struktur der modernen Gesellschaft angelegten neuen und notwendigen Aufgaben für Jugendhilfe auszuspielen. Auf der konzeptionellen Ebene nennt der Bericht Prävention, Dezentralisierung, Alltagsorientierung, Integration, Partizipation als wesentliche Strukturmaxime der Jugendhilfe. Ich kann im Rahmen dieser Stellungnahme nicht differenzierend darauf eingehen. Leider nimmt die Stellungnahme der Bundesregierung den Anspruch der Jugendhilfe, diese Konzeptionen verwirklichen zu können, nicht auf. Denn dieser Anspruch würde Einmischungspolitik gegenüber allen anderen politischen Ressorts bedeuten. Ich möchte am Beispiel der Mädchenarbeit zeigen, wie das Konzept der lebensweltorientierten Einheit der Jugendhilfe aussieht, daß aber die Umsetzung in der Praxis bisher nicht gelungen ist. Auch zu diesem Problemfeld schweigt die Bundesregierung leider in ihrer Stellungnahme. Im Sechsten Jugendbericht der Bundesregierung von 1984 - „Verbesserung der Chancengleichheit von Mädchen in der Bundesrepublik" - wurde erstmals die Geschlechterdifferenz in der Jugendarbeit thematisiert. Die Sachverständigenkommission forderte damals Mädchenarbeit als eigenständigen Teil der Jugendhilfe. Sie problematisierte den geschlechtsneutralen Jugendbegriff und zeigte, daß sich die Jugendarbeit in Theorie und Praxis hauptsächlich an Jungen orientierte und die Belange von Mädchen und jungen Frauen weitgehend unberücksichtigt ließ. Diese Ausrichtung der Angebote der Jugendbildung an den Interessen und Bedürfnissen der Jungen benachteilige die Mädchen indirekt und habe deshalb auch die niedrigere Beteiligung der Mädchen an den Angeboten der Jugendarbeit zur Folge. Der Achte Jugendbericht stellt nun fest, daß die zentrale Forderung des Sechsten Jugendberichtes immer noch nicht erfüllt ist, nämlich eine eigenständige Mädchenarbeit in den Bereichen der Jugendarbeit zu entwickeln. Die Forderungen sind nur da eingelöst, wo Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter Mädchen in das Zentrum ihrer Arbeit stellen, und vor allen Dingen da, wo Mädchenarbeit als eigenständiger Bereich durchgesetzt werden konnte. Es kann nicht darum gehen, für Mädchen immer wieder neue Sondertöpfe oder Sonderräume in den Einrichtungen zu bekommen, sondern es muß ein angemessener Teil der Ressourcen für Mädchenarbeit freigestellt werden. ({3}) Mädchenorientierte Angebote gehen dabei von der spezifischen Lebenssituation der Mädchen und ihren Problemlagen aus, z. B. Fragen der weiblichen Kör1090 pererfahrung, der Zuständigkeit für Hausarbeit, der Frauenerwerbslosigkeit, dem Zugang zu den männerdominierten gesellschaftlichen Bereichen. Ihre Aufgabe und ihr Ziel sind es einerseits, die Mädchen in ihrer Auseinandersetzung mit Beschränkungen durch tradierte Rollenzuweisungen und Benachteiligungen und bei Gewalterfahrung zu unterstützen, so daß sie eigenständige Lebensperspektiven entwickeln können. Andererseits sollen sie an ihre spezifischen Betätigungs- und Freizeitinteressen anknüpfen, die ansonsten weitgehend ignoriert oder abgewertet werden. Mit anderen Worten: Die Jugendarbeit muß sich grundlegend ändern. Dies haben die institutionalisierten Träger der Jugendhilfe, z. B. in den Kommunen oder auch die Landeswohlfahrtsverbände, schon begriffen, nicht nur die Selbsthilfe- und Selbstinitiativgruppen. Aber die Veränderung hat sich noch nicht überall durchgesetzt. Dies liegt auch am Fehlen von Weiterbildungsmöglichkeiten für Jugendarbeiter und -arbeiterinnen. Ich meine aber auch, daß die Bundesregierung die bisherigen Träger der Jugendhilfe da nicht genügend unterstützt. Fazit: Die im Achten Jugendbericht gezeigten Perspektiven sind eine fachliche Herausforderung für Betroffene, Praktiker, Wissenschaftler und politisch Verantwortliche, die ihre Entsprechung in der erweiterten Angebotspalette der Jugendhilfe mit dem neuen Kinder- und Jugendhilferecht findet. So wichtig dieses Gesetz ist, die Liberalen teilen nicht ganz die Ansicht der Bundesregierung, daß es schon alle Anforderungen aus dem Achten Jugendbericht einlöst; Stichwort: Dauerbrenner Tageseinrichtungen für Kinder und Jugendliche im Schulalter. Den Auswirkungen gesellschaftlicher Entwicklungen auf die Lebensmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen kann nicht allein mit Maßnahmen und Angeboten der Jugendhilfe begegnet werden. Die Weiterentwicklung einer leb ensweltorientierten Jugendhilfe ist auch davon abhängig, ob politische Entscheidungen - und hier vor allem finanzielle Möglichkeiten der Absicherung - getroffen werden und ob gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, auf deren Grundlagen die Belange von Kindern und Jugendlichen auch in anderen Politikbereichen geltend gemacht werden können. Obwohl die Jugendarbeit sicher eine originär kommunale Aufgabe ist, kann sich die Bundesregierung doch nicht so stark aus der Verantwortung ziehen, vor allem bei institutionellen Zuschüssen und Projektförderungen, wie sie es zur Zeit tut. Die Jugendhilfe muß die Wahrnehmung und Benennung von Problemen ernst nehmen und ebenso Ansätze zu Kooperation und Kommunikation auf anderen Problemfeldern aufnehmen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schwarz?

Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000625, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, ich möchte gern zu Ende reden. Das heißt, es muß gelingen, die Öffentlichkeit für Probleme, die den Alltag der Jugendhilfe mitbestimmen, zu mobilisieren. ({0}) Viele Probleme, mit denen Jugendhilfe befaßt ist, sind nur dann zu lösen, wenn in anderen Politikbereichen veränderte Prioritäten gesetzt werden: in der Ganztagsbetreuung für Kinder und Jugendliche, in der Beschäftigungssituation benachteiligter Jugendlicher, in der Wohnungsbaupolitik der Städte und hinsichtlich der Gewalt und des sexuellen Mißbrauchs. Für die politische Diskussion müssen also folgende Konsequenzen aus dem Achten Jugendbericht gezogen werden: Subjektstellung, Einheitlichkeit und Eigenständigkeit als Voraussetzungen der Jugendhilfe für die Strategie der Einmischung und für den Anspruch auf Querschnittspolitik. Auch hier sind alle Parteien auf allen Ebenen in der Verantwortung. Vielen Dank. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Abgeordnete Wilhelm Schmidt ({0}).

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich in Kurzform auf einige Bemerkungen von Herrn Pofalla eingehen, indem ich darauf hinweise, daß es uns sehr schwer fällt, das zu akzeptieren, was er hier gesagt hat, und zwar einfach deshalb, weil wir schon Wert legen auf den kleinen Unterschied zwischen den Fraktionen dieses Hauses. Dabei handelt es sich für uns um einen großen Unterschied, wenn wir auf die soziale Seite des Lebens einen besonderen Wert legen. ({0}) Ich denke, daß Sie mit der Überbetonung, den Beschönigungen und Verniedlichungen überhaupt nicht richtig liegen, wenn Sie über Jugendpolitik reden. Von daher finde ich es wichtig, Sie darauf hinzuweisen, daß bei der Verbesserung der Transferleistungen lediglich Notwendigkeiten nachvollzogen worden sind, deren Erfüllung längst überfällig war, ({1}) und daß Sie bei BAföG und anderen Dingen immer noch nicht den Standard wieder erreicht haben, der notwendig wäre, um der Jugendpolitik angemessen gerecht zu werden. ({2}) Ich möchte auch gleich mit einem Satz auf den Bereich Kindergärten eingehen, weil sich dieses Thema mit Recht durch diese Debatte zieht. Der Achte Jugendbericht hat eine gute Grundlage dafür geliefert, daß wir den Anspruch auf einen Kindergartenplatz untermauert sehen können. Eigentlich ist es viel zu spät, wenn Sie erst jetzt im Rahmen der Koalitionsverhandlungen wieder darauf kommen. Das haben wir schon mehrfach ausdiskutiert. Wilhelm Schmidt ({3}) Wie Sie das umsetzen wollen, spricht im übrigen erneut Bände. Sie werden nach unserer Überzeugung nämlich nicht die notwendigen Finanzmittel für die Sicherung einer Mitfinanzierung von seiten des Bundes bereitstellen - wir haben gerade gestern im Jugendausschuß schon ansatzweise darüber gesprochen - , damit der Anspruch auf den Kindergartenplatz überhaupt realisiert werden kann. ({4}) Ich möchte in diesem Zusammenhang auch einen Satz zu Frau Enkelmann sagen. Ich tue mich immer sehr schwer, das zu akzeptieren, was ich von der PDS höre; denn ich finde schon, daß diese Art von gewendeter Politik bei Ihnen sehr schwer überzubringen ist. ({5}) Zu Ihrem besserwisserischen Getue, das Sie hier nicht selten an den Tag legen, möchte ich Ihnen sagen, daß Sie das vielleicht schon einige Monate früher unter der Modrow-Regierung hätten machen können; spätestens dann, besser sogar früher. Dann hätten Sie gut daran getan. ({6}) Wenn wir in dieser Zeit über die Situation von Kindern und Jugendlichen reden, dann möchte ich zurückblenden z. B. auf eine Anfrage zur sozialen Lage der Familien mit Kindern, die meine Kollegin Dr. Götte und ich im Jahre 1989 gestellt haben. Ich denke, damals war schon erkennbar, mit welcher Arroganz und politischen Zurückhaltung sich die Bundesregierung diesem Themenkomplex gestellt hat, wohlwissend, daß der Achte Jugendbericht schon längst vorlag, so daß sie mit den Ergebnissen der Untersuchungen des Achten Jugendberichts ein viel besseres Antwortkonzept hätte entwickeln können, was wir im Interesse der Familien und der Kinder damals gefordert hatten. Insofern ist das, was im Achten Jugendbericht steht, durchaus eine gute Grundlage für unsere weitere Arbeit. Wir werden auch in den Ausschußsitzungen, die vor uns liegen, sehr genau überprüfen, wie Sie nun damit umgehen. Ich denke, daß auch die Ministerin, die uns heute ebenfalls einige wohlklingende Erklärungen gegeben hat, ({7}) daraufhin geprüft werden wird, was sie denn davon in ihrem Hause umzusetzen bereit ist. Wenn ich im übrigen sehe, daß die Ministerin ganz allein auf der Regierungsbank sitzt, dann hoffe ich nur, daß sie mit der Jugend- und Kinderpolitik, die sie vorhin angedeutet hat, nicht auch im Kabinett allein sitzt. ({8}) Die Familienorientierung, die diese Regierung hat, zieht sich wie einer roter Faden bedauerlicherweise auch durch den Inhalt des Achten Jugendberichtes. Meine Vorrednerin, Frau Simm, hat das schon zum Ausdruck gebracht. Ich denke, daß wir gut daran tun, Frau Funke-Schmitt-Rink, an der Stelle den von Ihnen zuletzt betonten Ansatz so schnell wie möglich umzusetzen, nämlich das Kind mehr in den Mittelpunkt politischer Aktivitäten zu stellen, seine soziale Absicherung zu stärken und es im Rahmen unserer Bemühungen zum Subjekt werden zu lassen. Ich werde bei Gelegenheit an das erinnern, was Sie heute gesagt haben. Ich bin sehr gespannt, wie das, was Sie gesagt haben, in der Koalition umgesetzt werden kann. Sie befinden sich da im übrigen völlig in Übereinstimmung mit der Kinderkommission, die es seit voriger Woche ja wieder gibt. Der Kollege Eimer, der auch anwesend ist, wird das sicherlich bestätigen. Wir haben an der Stelle schon in der vorigen Legislaturperiode darum gerungen und sind bei der Verabschiedung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes leider auch nicht damit durchgedrungen. Von daher könnte es ja sein, daß Sie, wenn Sie im Rahmen der Kindergartendiskussion und der Umsetzung des Anspruchs auf einen Kindergartenplatz das Kinder- und Jugendhilfegesetz ändern, im Hinblick darauf vielleicht eine zusätzliche Änderung in dieses Gesetz aufzunehmen bereit und in der Lage sind. Dies, denke ich, ist ein ganz wichtiger Ansatz, den wir nicht aus dem Auge verlieren dürfen. Ich unterstreiche die Inhalte des Jugendberichts insofern, als er tatsächlich die neuen Entwicklungen in der Gesellschaft für Kinder und Jugendliche darstellt. Wir müssen nur eben die richtigen Schlüsse daraus ziehen. Ich denke, daß wir auch gut daran tun, dabei die Kinder speziell als Gruppe dieser Gesellschaft nicht aus dem Auge zu verlieren. Ich will bei allem Guten, das den Kindern in unserer Gesellschaft durchaus auch widerfährt - man sollte das ja nicht beiseite drängen -, ({9}) doch auch an die Nachteile erinnern und sie zum Schwerpunkt der folgenden Hinweise machen. Es ist so, daß wir in unserer Technikgesellschaft, in unserer Erwachsenenwelt, in unserer ja doch sosehr auf den Verkehr orientierten Situation die Kinder nicht selten in große Bedrängnis bringen. Von daher täten wir gut daran, auch im Bereich des Straßenverkehrs eine ganze Reihe von Umorientierungen herbeizuführen, wie sie auch im Achten Jugendbericht angedeutet worden sind. Wir müssen also bei der Stadtplanung, bei der Verkehrsplanung ansetzen. ({10}) Wir müssen deswegen schon sehr frühzeitig auch diese Belange von Kindern - das Kindeswohl, wie es im Jugendbericht mit Recht heißt - reklamieren. ({11}) Wir haben von daher, wenn wir an die Kinderinteressen denken, eine wichtige Vorfeldaufgabe zu lösen und als Politik nicht nur Reparaturbetrieb zu sein. Darum ist es ganz wichtig, daß beispielsweise die Kinderkommission in diesem Hause wieder eingerichtet worden ist und wir diese Vorfeldaufgabe, diese Aufgabe präventiver Art also, wahrnehmen können, nämlich alle die Dinge, die im Hause stattfinden, auf die Interessen von Kindern hin zu prüfen. Wilhelm Schmidt ({12}) Ich will ein weiteres Stichwort nennen, nämlich die Frage des Alkohol- und Tabakkonsums. Es macht mir schon große Sorgen, wenn ich sehe, mit welcher Unverfrorenheit und welch ungehemmter Art und Weise Kinder und Jugendliche gerade mit diesen Problemen allein gelassen werden. Ich plädiere dafür, sehr nachdrücklich darüber nachzudenken - vielleicht auch schon bald entsprechende Regelungen auf den Weg zu bringen; ich denke, daß die Kinderkommission dies jedenfalls im Ansatz leisten wird - , die Werbung für Alkohol und Tabak einzuschränken, vielleicht sogar in der Öffentlichkeit ganz aufzuheben. Darüber hinaus sollte der Zugang zu Tabakprodukten über Zigarettenautomaten oder ähnliche Einrichtungen endlich einmal zur Diskussion gestellt werden. Fernziel sollte die Beseitigung sein. ({13}) Ich sage das noch mit aller Vorsicht, weil wir natürlich immer wieder in die Gefahr geraten, die Wirtschaft zu gängeln und zu dirigieren. Aber wenn nicht dort, wo denn sonst? Gerade an dieser Stelle den Anfängen zu wehren wäre meiner Auffassung nach sehr hilfreich und sehr wirksam. Das könnte auch den ungehemmten Zugang zu diesen Einstiegsdrogen verschließen. Ich weiß, was ich sage, weil ich gerade in dieser Frage in den letzten Monaten sehr intensiv mit der Werbewirtschaft im Clinch gelegen habe. Wir sollten uns also sehr nachdrücklich erneut diesen Dingen zuwenden. Ich bin sicher, daß wir dies auch bei der Spielsucht tun müßten; denn das Spiel über Automaten wird von der Spielautomatenindustrie immer noch sehr stark positiv dargestellt, und die Spielsucht wird verniedlicht. Das hat auch schon einmal als Thema im Hause zu Diskussion angestanden, nur haben wir damals bedauerlicherweise nichts umgesetzt. Ich wundere mich deswegen nicht darüber, weil ich weiß, daß z. B. Graf Lambsdorff der Aufsichtsratsvorsitzende des größten deutschen Spielautomatenherstellers ist. Von daher dürfen wir uns natürlich nicht wundern, wenn solche Initiativen im Bundestag von interessierter Seite, wie man sieht, blockiert werden. ({14}) - Das ist keine infame Unterstellung. Das können Sie sogar im Bundestagshandbuch nachlesen. Insofern kann ich noch einmal unterstreichen, was ich gesagt habe. ({15}) Meine Damen und Herren, ich glaube, der wichtigste Punkt, über den wir heute debattieren, ist die Frage: Wie gehen wir in Zukunft mit diesem Achten Jugendbericht um? Was haben wir sonst noch an Themen im Hause zu behandeln, die für Kinder und Jugendliche - ich sage speziell: für Kinder - wichtig und relevant sind? Ich will zunächst einmal an die ganze Themenbreite des Jugendberichts erinnern. Ich will aber auch als neues Stichwort hinzufügen den Umgang mit der UNO-Kinderrechtskonvention, die wir gestern im Ausschuß jedenfalls im Ansatz zu behandeln begonnen haben. Ich wäre Ihnen schon sehr dankbar, wenn Sie sich über die Parteigrenzen hinweg gerade dieser international über 10 Jahre hin erarbeiteten Konvention positiv zuwendeten und wenn Sie dazu beitrügen, daß wir die vielen Ansätze, die international als verträglich vereinbart und niedergeschrieben worden sind, auch zur Veränderung unseres deutschen Rechts nutzen. Ich will nur einige Stichworte nennen, die uns in den nächsten Monaten mit Sicherheit beschäftigen werden und die wir auch schon in der vorigen Legislaturperiode vorbesprochen haben: Da ist einmal das Umgangsrecht, das Sorgerecht für nichteheliche Kinder. Da ist weiter die Frage: Wie halten wir es mit den Gesundheits- und Umweltansprüchen von Kindern? Wie gehen wir sonst mit Kindern in der Gesellschaft um? Stellen wir sie in den Mittelpunkt unserer politischen Bemühungen. Sie sind es allemal wert. Lassen Sie uns gemeinsam mehr Politik für Kinder wagen. Vielen Dank. ({16})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Meine Damen und Herren, ich bin mir jetzt nicht ganz sicher, ob ich das Protokollgefüge des Parlaments berühre. Aber auf der Besuchertribüne hat ein langjähriger Kollege von uns, der frühere Bundesarbeitsminister Walter Arendt, Platz genommen. Ich möchte ein Wort des Grußes an ihn richten. ({0}) Ich erteile das Wort der Abgeordneten Frau Claudia Nolte.

Claudia Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001621, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Eine kurze Vorbemerkung zu Ihnen, Frau Enkelmann: Ich verstehe, daß Sie die Situation der Jugendlichen jetzt sehr einseitig beleuchten. Nur, ich halte das Verschweigen der Chancen, die wir seit dem Fall der Mauer haben, für eine unzulässige Verkürzung. Der vor uns liegende Bericht bietet eine umfassende Bestandsaufnahme und Bilanz der Jugendpolitik und Jugendhilfe in den alten Bundesländern. Durch diesen Bericht wird für uns die Dimension der vor uns liegenden Aufgabe deutlich, auch in den neuen Bundesländern vergleichbare Strukturen aufzubauen. In der ehemaligen DDR nahm die Jugendhilfe einen auf Fürsorge und Gefährdetsein eng begrenzten Arbeitsbereich ein. Dieses eingeschränkte Verständnis von Jugendhilfe ist den Bedürfnissen damals nicht gerecht geworden und würde es heute noch viel weniger. Das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz verschafft der Jugendhilfe ein eigenständiges, breites und vielfältiges Aufgabengebiet. Dabei muß die Betonung auf präventiven Hilfen liegen. Die Jugendlichen in den neuen Bundesländern werden mit einer Flut von neuen Gefährdungen konfrontiert: sei es die Überschwemmung des Marktes mit Drogen und Videokassetten, sei es die rasante Ausbreitung von Glücks- und Pilotspielen, Kettenbriefen oder ähnlichem, seien es die unter vielerlei Tarnnamen auftretenden Sekten und Jugendreligionen, die die ungewohnte neue Freiheit der Jugendlichen für ihre Zwecke zu nutzen verstehen. Die Abschottung im real existierenden Sozialismus bewirkte es, daß die ostdeutsche Jugend diesen Gefährdungen nicht so massiv ausgesetzt war. Dadurch schränkten sich aber auch die Entwicklungsmöglichkeiten und Entscheidungsfreiheiten in beträchtlichem Maße ein. Jugendarbeit außerhalb der Kampfreserve der Partei, als die sich die FDJ verstand, wurde staatlich nicht gefördert. Die Mitglieder dieser Massenorganisation blieben größtenteils passiv. Die Ursache der Passivität war die Bevormundung in vielen Bereichen. Unter den Folgen der sich daraus entwickelnden Lethargie leiden wir noch heute. Sie ist eine der Schwierigkeiten beim Aufbau von Jugendverbänden und Jugendarbeit. Jugendarbeitslosigkeit und die angespannte Ausbildungsplatzsituation erschweren vielen jungen Menschen das Zurechtfinden in der neuen Wirklichkeit zusätzlich. Dadurch kommt der schnellen Umsetzung des neuen Kinder- und Jugendhilfegesetzes in den neuen Bundesländern eine zusätzliche Dringlichkeit zu. ({0}) Dafür ist es notwendig, daß der Öffentlichkeit und den Fachkräften ein neues Verständnis von Jugendhilfe vermittelt wird und daß man neue Strukturen der freien und öffentlichen Jugendhilfe aufbaut. Gerade dem freien Träger kommt hierbei besondere Bedeutung zu. Im SED-Staat konnten sich lediglich wenige kirchliche Einrichtungen in eng begrenztem Umfang im Aufgabenfeld der Kinder- und Jugendhilfe betätigen. Ansonsten setzte der Staat das Ideologie- und Erziehungsmonopol der Einheitspartei und der untergeordneten Organisationen rigoros durch, so daß für unabhängige Träger in jenem System kein Platz mehr war. ({1}) Der Aufbau von freien Trägern, gerade spezifischer DDR-Herkunft, erweist sich als mühseliger und langwieriger, als zunächst angenommen wurde. Es fehlt in der Regel an Geld, an Kommunikationsmöglichkeiten, es fehlt an Organisationskenntnissen und -fähigkeiten. Deshalb wird es noch auf längere Sicht nötig sein, über das in den westlichen Ländern übliche Maß hinaus beratend, helfend und fördernd tätig zu werden. ({2}) Nur so können die freien Träger in den neuen Bundesländern in ähnlichem Umfang entstehen, wie sie in den westlichen Ländern über Jahrzehnte hin gewachsen sind. Ich begrüße ausdrücklich, daß das Bundesministerium für Frauen und Jugend mit dem neuen Haushalt des Bundesjugendplanes besonders Projekte in den neuen Bundesländern fördert. Die Aufstockung des Budgets für das freiwillige soziale Jahr um über 8 Millionen DM und um 9 Millionen DM für die Jugendsozialarbeit sind überzeugende Belege dafür. ({3}) Auf die Verschiedenheit und Vielfalt der Lebensbedingungen und sozialen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland wird im Achten Jugendbericht zu Recht hingewiesen. Auch die Untersuchung von Chancen und Gefahren für die Jugendlichen, die sich aus dem sogenannten Strukturwandel der Gesellschaft ergeben, ist außerordentlich hilfreich. Da der Achte Jugendbericht vor der Wiedervereinigung Deutschlands fertiggestellt wurde, fehlen jugendpolitische Aussagen aus dem Gebiet der fünf neuen Bundesländer. Inwieweit die Erebnisse des Berichts bezüglich des gesellschaftlichen Strukturwandels auch für die fünf neuen Bundesländer ihre Gültigkeit haben, wird untersucht werden müssen. Feststellen läßt sich folgendes. Die demographische Entwicklung in der ehemaligen DDR hat sich in gleicher Weise entwickelt wie in den alten Bundesländern. In beiden Teil ist ein Geburtenrückgang festzustellen, Familien mit ein bis zwei Kindern überwiegen. Auch regionale Unterschiede, wie z. B. Kulturangebot und die Freizeitbetätigung im Vergleich von städtischen und ländlichen Regionen, sind festzustellen. Ebenso haben Traditionen und Leitbilder aus der Erwachsenenwelt ihre Bedeutung für die Entscheidungsfindung von Jugendlichen verloren. Dies war sicherlich auch im Interesse des seinerzeitigen Regimes. Ein Beispiel dafür ist der Einfallsreichtum, der an den Tag gelegt wurde, um traditionelle Feste und Begriffe umzubenennen. So wurde aus Weihnachten ein „Fest des Lichtes", und der Engel wurde zur „geflügelten Jahresendfigur". Was der Achte Jugendbericht als Pluralisierung beschreibt, trifft für die fünf neuen Bundesländer u. a. in bezug auf die regionale und demographische Differenzierung, die Wohnraumversorgung sowie die frühe Abkopplung von den Eltern zu. Auch hier können die herkömmlichen Kriterien sozioökonomischer Ungleichheit wie Einkommen, Bildung, Berufsposition und Schichtzugehörigkeit der Eltern die Lage von Kindern und Jugendlichen nicht mehr ausschließlich und hinreichend erklären. So bestanden z. B. bei der breiten Masse der Jugendlichen in der ehemaligen DDR nicht so sehr materielle Unterschiede. Eine erhebliche Besserstellung war nur wenigen vorbehalten. Seine Grenzen fand der Pluralismus im politischen und öffentlichen Bereich. Jeder konnte gefahrlos seine Meinung denken. Ansonsten ließ die Partei keinen Zweifel daran, daß sie wußte, was gut für uns war. Mit Pluralisierung wurden die Lebenslage und die Lebensverhältnisse beschrieben. Im Kontext weist der Achte Jugendbericht darauf hin, daß Wertorientierungen und Lebensführung des einzelnen Menschen individualisiert werden. Individualisierung meint, le1094 bensprägende Elemente von Familie, Konfession, sozialem Milieu und Gemeinde werden geringer. Junge Menschen bestimmen über den eigenen Lebensentwurf selbst. Es ist unschwer zu erkennen, daß das für den einzelnen Jugendlichen neue Freiheitsräume öffnet, aber auch Gefahren mit sich bringt. Es ist ja nicht zu leugnen, daß trotz aller materiellen, fachlichen und jugendpolitischen Fortschritte in den alten Bundesländern die Probleme und Schwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen nicht kleiner geworden sind. Es wird zunehmend über Verhaltensauffälligkeiten schon im Kindergartenalter geklagt. Der Jugendbericht verdeutlicht die Notwendigkeit vielfacher Präventiv- und Interventionsmaßnahmen zur Bewältigung der zahlreichen Gefährdungen jugendlicher Lebensläufe. Freiheit kann neben allen Möglichkeiten eben auch bedeuten, daß Bindungsunfähigkeit junge Menschen einer Überforderung aussetzt. Hilflos ist er dann der Notwendigkeit überlassen, sich ohne Orientierungsmöglichkeiten seinen Weg durch die Vielfalt der Lebensangebote bahnen zu müssen. Traditionen, die hilfreich sein können, werden abgelegt. Dabei bedeuteñ sie ja nicht nur verkrustete und überholte Zwänge, sondern vor allem auch kulturelle Erfahrungen. So hatte z. B. das Leben in einer traditionellen Großfamilie das solidarische Verhalten seiner Mitglieder geprägt. Zu Recht fragt die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zum Achten Jugendbericht nach den Gründen wachsender Orientierungs- und Identitätsschwierigkeiten. Diese Frage läßt keine pauschale, schon gar nicht erschöpfende Antwort zu. Es gibt genügend junge Menschen, die ihre Chancen wahrnehmen und weder Orientierungs- noch Identitätsschwierigkeiten haben. Sicherlich gehört dazu, Normen und Werte anzuerkennen, sich seiner Verantwortung bewußt zu sein und die Sinnfrage des Lebens positiv zu beantworten. Der Mensch verfügt nicht wie das Tier über Instinkte, die ihm sagen, was er tun muß. Er ist zwar vorbestimmt, aber es bleibt ihm immer noch für sein Handeln das in seiner Geistigkeit begründete Stück Freiheit, das seine Würde ausmacht. Und genau diese Freiheit verpflichtet ihn zur Verantwortlichkeit für sein Handeln. Als Konsequenz muß der Versuch unternommen werden, trotz Individualisierung und Pluralisierung junge Menschen zu verantwortlicher Haltung zu befähigen. ({4}) Wichtige Grundsteine dafür werden in der Kindheit gelegt. Eine ganz besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Familie zu. Die liebevolle Geborgenheit einer Familie gibt dem Kind die Chance, durch stabile und tragfähige Bindungen Sicherheit erfahren zu dürfen und damit über wichtige emotionale Voraussetzungen für eine von Hoffnung getragene Lebensbewältigung zu verfügen. Die gesellschaftlich zu steuernden Bedingungen sind eben nicht ausschließlich für die Prägung des Menschen ausschlaggebend. Sonst hätte es den 3. Oktober nicht geben dürfen, dessen Vorgeschichte gerade auch von jungen Menschen mitgetragen wurde. Vielen Dank. ({5})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Konrad Elmer.

Dr. Konrad Elmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000463, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie bemerken, daß ich mich der Anrede meiner Vorrednerin, die doch etwas sexistisch klang, nicht anschließen möchte. ({0}) - Es war wohl unbewußt. Der Achte Jugendbericht konnte bekanntermaßen nicht ein Bericht über die Jugendarbeit in den neuen Bundesländern sein. Um so dringlicher erscheint es mir, daß die Probleme, die sich in diesem Bereich bei uns auftun, verstärkt zur Sprache kommen. Das Hauptproblem unserer Jugendlichen ist zur Zeit wohl so zu beschreiben: Sie haben vor allen Dingen damit zu kämpfen, daß die alten Sinngebungen, die alten Wertvorstellungen, die alten Orientierungen zerbrochen sind, und das nicht nur für diejenigen, die mit dem alten System weithin konform gingen, sondern auch für die große Mehrheit, die in der Opposition stand. Denn auch dann, wenn der Feind, an dem man sich immer reiben konnte, verlorengeht, verliert man ein Stück Orientierung, und sei es in negativer Hinsicht. Diese Situation wird dadurch verschärft, daß es nicht nur den Jugendlichen, sondern im Grunde der gesamten Bevölkerung, also auch den Eltern dieser Jugendlichen, so ergeht, so daß sie auch von dorther wenig Halt und Orientierung finden. Sie stoßen nun auf eine pluralistische Welt verschiedener Werte und Sinngebungen, die wir begrüßen, aber die, wie jeder weiß, schwieriger zu handhaben ist, in der man zunächst einmal auf die Erfahrung der Beliebigkeit und Austauschbarkeit solcher Sinngebungen und Lebensentwürfe stößt. Schließlich bedroht die Jugendlichen die Frage: War denn nun alles, was wir bisher getan und erlebt haben, einfach nur nichts gewesen? Ich kann nur hoffen, daß im Zusammenhang mit einer umfangreichen Debatte zur Verfassung noch einmal intensiv auf dieses schwierige psychologische Problem hingewiesen wird und daß dabei in diesem Hause auch einige Antworten zu hören sein werden. ({1}) In dieser schwierigen psychologischen Situation unserer Jugendlichen wäre Jugendhilfe nun dringender als in den alten Bundesländern gefordert. Aber wenn Sie genau hinsehen: Faktisch gibt es sie eigentlich noch nicht. Es gibt das schöne Kinder- und Jugendhilfegesetz. Aber manchmal habe ich den Eindruck, daß es im Moment leider immer noch so wie in früheren Zeiten ist: Da oben wird etwas Bedeutsames beschlossen, und unten bewegt sich überhaupt nichts. ({2}) Wenn einzelne versuchen, hier aktiv zu werden, haben sie den Eindruck, daß sich die Bürokratie nicht verringert, sondern vermehrt hat und daß das Gewinn der Gesetze dermaßen undurchdringlich ist, daß es wohl noch lange dauert, bis wir bei uns in der Jugendhilfe einen ähnlichen Standard wie in den alten Bundesländern erreichen werden. Ausgerechnet in dieser Situation kommt verschärfend hinzu, daß viele Jugendliche - manche gleich nach der Ausbildung, andere später - in die Arbeitslosigkeit geraten, daß sie nun zwar sehr viel Zeit, aber wenige Freizeitangebote finden. Zwar versuchen die Arbeitsämter bei uns, diese Jugendlichen möglichst schnell durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder durch das freiwillige soziale Jahr wenigstens irgendwie in eine Beschäftigung zu bringen. Aber dies ist, wie Sie aus eigener Erfahrung in den alten Ländern wissen, nur eine andere Form von Warteschleife, die leider wenig zur Weiterqualifizierung der Jugendlichen beiträgt, so daß sie anschließend auf dem Arbeitsmarkt keine sehr viel besseren Chancen haben werden. Hier käme es darauf an, die Anstrengungen, die im Blick auf die Schaffung neuer Ausbildungsplätze in der Tat schon gemacht worden sind, erheblich zu verstärken. ({3}) Es war doch seit langem abzusehen, daß hier vieles wegbrechen wird. Es ist deswegen unverständlich, warum überbetriebliche Ausbildungsstätten nicht schon in erheblich größerem Maße geschaffen und gefördert worden sind, als das bisher der Fall gewesen ist. Es ist auch darauf hinzuweisen, daß die Treuhand in diesem Bereich noch nicht die soziale Verantwortung übernimmt, die hier nötig wäre; dies wahrscheinlich deshalb nicht, weil die Bundesregierung sie nicht mit dem nötigen Nachdruck darauf orientiert. Zusätzliche Verunsicherungen gibt es dadurch, daß Dinge passieren, die wirklich nicht nötig wären. Ich denke z. B. daran, daß man in der lokalen Presse im CDU-regierten Land Sachsen-Anhalt lesen mußte, daß die Jugendlichen, die jetzt das Abitur machen, nicht etwa ein Abiturzeugnis erhalten werden, sondern nur eine Hochschulzulassung. Das mag in der Sache vielleicht dasselbe sein, aber es wirkt auf die Jugendlichen derart diskriminierend, daß ich es nicht verstehen kann, wie solche Pannen in von Ihnen regierten Ländern passieren können. Ich kann nur hoffen, daß dies möglichst bald abgestellt werden wird. Natürlich wissen wir, daß es zwischen den Ausbildungsgängen bei uns und in den alten Ländern Unterschiede gibt. Aber dies sind nicht nur negative Unterschiede. Zum Beispiel gibt es im Bereich der Naturwissenschaften durchaus Beweise dafür, daß bei uns in den neuen Ländern manches auch besser gewesen sein könnte. Wenn Sie vorhin gerade auf die europäische Vereinigung mit Blick auf die zwölf Schuljahre hinwiesen, könnte auch dies ein Indiz dafür sein, daß dies ein ordentliches Abitur ist und deswegen auch so behandelt werden muß. Große Verunsicherungen gab es aber auch im Zusammenhang mit der Golfkrise, die durchaus verschiedene Reaktionen hervorgerufen hat. Jugendliche in der Tradition von „Schwerter zu Pflugscharen" fühlen sich in der Sichtweise bestärkt, daß Gewalt nicht zur Lösung von Konflikten führt. Andere - ich befürchte, dies ist die Mehrzahl der Jugendlichen - haben dieses Szenarium so verstanden, daß Gewalt nun wieder hoffähig geworden ist. Leider mußte man das ja auch gestern abend in Dresden so bemerken. Schwer verständlich und kaum darzulegen ist, warum es der Regierung möglich war, über Nacht 17 Milliarden DM für den Krieg lockerzumachen, jedoch - wie gestern im Ausschuß zu hören gewesen ist - nicht eine Mark für das Projekt zur Hilfe für Kinder in umweltbelasteten Gebieten. ({4}) Wie ist hier Hilfe möglich? Wie man sieht, kommt es immer wieder bei den Finanzen zum Schwur. Natürlich wissen wir, daß die Aufgaben der Jugendhilfe zuerst und vor allem Sache der Länder und der Kommunen sind. Aber in einer solchen Zeit des Obergangs, in der der Bund, für die Gestaltung der Einheit zuerst und vor allem verantwortlich ist, kann der Bund nicht aus seiner Verantwortung entlassen werden. Hier muß ich leider mit Blick auf die schon viel erwähnte Problematik der Kindergartenplätze noch einmal sagen, daß die Regierung einen Eiertanz vollführt. Sie war und ist verpflichtet, die Kindergärten mindestens bis zum Sommer finanziell zu tragen. Wie wir gestern im Ausschuß erfuhren, tut sie das nur mit einem Anteil von 40 %. Das bedeutet, daß an vielen Orten von den Eltern schon erheblich höhere Beiträge verlangt werden müssen. In Jena sind es inzwischen - wie ich erfuhr - 125 DM. Das mag für westdeutsche Verhältnisse eine erträgliche Summe sein. Aber wenn man nur 40 % von dem verdient, was in den alten Bundesländern verdient wird, oder gar arbeitslos ist, kann man sich dies eben nicht mehr leisten. Dann klingt es schon ein wenig zynisch, wenn auf die nicht genutzten Kindergartenplätze hingewiesen wird. ({5}) Im übrigen kann ich nur empfehlen, diese nicht genutzten Kindergartenplätze endlich für die Hortbetreuung zu nutzen, die völlig in der Luft hängt. Sie hat bisher in den Schulen und auch in einer miesen Art und Weise in den Klassenräumen stattgefunden. ({6}) Schließlich wird uns empfohlen, ab dem Sommer, wenn sich die Regierung offenbar in Sachen Kitas aus der finanziellen Verantwortung stehlen will, dies einfach mit ABM-Stellen zu überbrücken. Das würde natürlich bedeuten, daß die sich in kommunaler Trägerschaft befindenden Kitas in freie Trägerschaften überführt werden müssen, die jedoch gar nicht in aus1096 reichender Zahl vorhanden sind. Ich muß die Ministerin, die uns in vielem sympathische Ansichten vertritt ({7}) - bitte sehr, da dürfen Sie klatschen; ({8}) - wir kommen aus derselben Gegend; daher müßt ihr das verstehen -, ({9}) daran erinnern, daß sie in einer der ersten Sitzungen die Zusage gemacht hat, daß Kindergärten in kommunaler und in freier Trägerschaft in gleicher Weise unterstützt werden, eben wegen der besonderen Situation bei uns. Dies muß auch so bleiben und darf nicht auf einem solchen trickreichen Wege wie im Zusammenhang mit ABM hinterrücks nivelliert werden. Ich bin der Meinung, die finanzielle Verantwortung des Bundes wird so lange dauern müssen, bis die Länder und Kommunen finanziell auf eigenen Beinen stehen. Dies wird voraussichtlich erst 1995 möglich sein, ({10}) wenn eine neue Finanzregelung zwischen Bund und Ländern getroffen wurde. Herr Präsident, ich sehe die rote Lampe. Ich darf zum Schluß nur noch folgendes bemerken: Viele Jugendliche bei uns tragen sich ernsthaft mit dem Gedanken - oder haben es schon getan - , in die westdeutschen Länder abzuwandern. Sie haben vorhin mit dem Hinweis auf die vielen offenen Stellen in der Berufsausbildung noch einmal dazu eingeladen. Das halte ich nicht für sehr günstig, waren es doch gerade die Eltern dieser Kinder, die die Wende herbeigeführt haben, damit sie gemeinsam mit ihren Familien eine neue Zukunft haben. Nun wird diese Zukunft in unerträglicher Weise auseinandergerissen. Ich denke, es ist Aufgabe dieses Hohen Hauses, die Resignation, die da ansteht, und diese neue Völkerwanderung zu verhindern. Vielen Dank. ({11})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Elmer, um Ihr Wort vom Trickreichtum aufzugreifen: Der Hinweis darauf, daß Sie zum Schluß kommen, war Ihrerseits trickreich, um sich die Redezeit zu verlängern. ({0}) Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 11/6576 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament Entschließung zu der Verstärkung der Befugnisse des Parlaments im Bereich der Haushaltskontrolle im Rahmen der Strategie des Parlaments im Hinblick auf die Europäische Union - Drucksache 11/8541 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß ({1}) Auswärtiger Ausschuß Meine Damen und Herren, wir sind in der Situation, daß von den - wie ich vermute - zuständigen Ressorts der Regierung niemand anwesend ist. Dennoch wollen wir in der Verhandlung fortfahren. Ich möchte also die Regierungsmitglieder, die da sind, ({2}) bitten, die Informationen ihren Kollegen weiterzureichen. Nach Vereinbarungen im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. - Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Diller. ({3})

Karl Diller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000391, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Herbst vorigen Jahres hat sich das Europäische Parlament darüber unterhalten und dazu viele Entschließungen gefaßt, wie es mit Europa weitergehen soll. Welche Bedeutung nationale Parlamente diesen Entschließungen beimessen, sieht man an der Präsenz bei dieser heutigen Aussprache. „Europa steht vor einem Scheideweg" , ist damals in der Debatte gesagt worden. Entweder geht es in Richtung hin auf eine größere Freihandelszone, Europa wächst um neue Mitglieder aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa, und Europa bleibt das Europa der Pfeffersäcke und der weit überbezahlten Eurokraten; oder Europa entwickelt sich zu einer wirklichen Europäischen Union. Eine wirkliche Europäische Union ist aber nur hinzubekommen, wenn dieses Europäische Parlament endlich die demokratischen Rechte bekommt, die jedes normale Parlament für sich reklamiert und auch hat. Die Unterrichtungen, die uns zugegangen sind, zeigen den großen Spannungsbogen in diesen Fragen. Die Entschließung zur Haushaltskontrolle, die wir heute zum Anlaß genommen haben, kurz auf die Entwicklungen hinzuweisen, will mehr Kontrollrechte für das Parlament, beispielsweise das Recht zur Einsetzung von Untersuchungsausschüssen, beispielsweise eine bessere Zuarbeit der Kommission und beispielsweise die Verankerung bisher schon in Geschäftsordnungen geregelter Zuständigkeiten des Europäischen Parlamentes in den Finanzartikeln des EWG-Vertrages. Daneben gibt es - das zeigt den Spannungsbogen, in dem sich das Europäische Parlament in seinen Diskussionen bewegt - z. B. die Entschließung zur Wirtschafts- und Währungsunion. Darin stehen sehr viel gravierendere Forderungen an uns alle, nämlich dem Europäischen Parlament endlich das Recht auf Ausweitung des Gemeinschaftshaushaltes und das Recht zur Beschaffung von Eigenmitteln zuzugestehen. ({0}) Es besteht nun die Gefahr, daß die Mitgliedstaaten die Linie der Briten und der Dänen insgeheim weiter verfolgen. Die Briten und die Dänen wollen nämlich dem Europäischen Parlament keine zusätzlichen Rechte geben und es mit Kleinigkeiten, wie sie beispielsweise in der heute zur Unterrichtung anstehenden Entschließung enthalten sind, was die Kontrollrechte in bezug auf den Haushalt angeht, abspeisen und stillhalten. Die Bundesregierung selber hat in Sonntagsreden immer betont - ich begrüße, daß der Herr Staatssekretär endlich eintrifft - , welch positive Haltung sie zur einer Erweiterung der demokratischen Rechte des Europäischen Parlamentes einnimmt. Die Praxis, die sie anwendet, sieht aber anders aus. ({1}) Wir stehen an einem wichtigen Zeitpunkt, Herr Staatssekretär. Wie Sie als Parlamentarier wissen, sind wichtige Vorhaben, die man zur Mitte einer Wahlperiode nicht auf die Reihe bekommt, bis zum Ende der Wahlperiode nicht mehr durchzubekommen. Für das Europäische Parlament ist zur Zeit die Mitte der Wahlperiode angebrochen. 1989 wurde gewählt; 1994 läuft die Wahlperiode aus. Deshalb ist ungeheuer wichtig, was jetzt zustande gebracht wird. Zum anderen ist der jetzige Zeitpunkt deshalb ungeheuer wichtig, weil das Europäische Parlament der Einberufung von Regierungskonferenzen zugestimmt hat und weil sich diese Regierungskonferenzen zur Zeit damit beschäftigen, wie es mit Europa weitergehen soll. Die Bundesregierung muß in diesen Regierungskonferenzen nun Farbe bekennen. Sie hat noch ein europafreundliches Image. Ich darf beispielsweise aus dem „Handelsblatt" vom 11. März zitieren. Da heißt es: Bundeskanzler Helmut Kohl hat schon recht frühzeitig angemerkt, daß man den europäischen Bürgern 1994 bei der nächsten Direktwahl des Europaparlaments nicht noch einmal einen Urnengang zumuten könne zugunsten einer Versammlung, die nicht viel zu sagen hat. Ferner ließ sich der Bonner Kanzler auch häufig mit der Bemerkung vernehmen, wenn die Stunde der Wahrheit in der Europäischen Gemeinschaft nahe, Entscheidungen also anstünden über die Übertragung weiterer nationaler Souveränitäten auf die Gemeinschaftsebene, hätten ganz andere als die Deutschen ihre Probleme. Also, die Bösen sind die anderen. ({2}) Die Praxis aber, verehrter Herr Kollege, sieht anders aus. In meiner Eigenschaft als Vorsitzender des Unterausschusses Europäische Fragen des Haushaltsausschusses ist mir vor einigen Wochen eine Vorlage zu der Entschließung zur Wirtschafts- und Währungsunion auf den Tisch gekommen. Darin heißt es: Aus Sicht der Bundesregierung ist am Entwurf des Europäischen Parlaments insbesondere eine Reihe von Bestimmungen, die auf eine Ausweitung des Gemeinschaftshaushaltes hinauslaufen, zu kritisieren. Also, in Sonntagsreden wird beschworen, daß es mit Europa vorangehen müsse; in der Praxis, also bei dem, was man national zugestehen will, wird jedoch gemauert. Ich zitiere aus der Stellungnahme: Die beabsichtigte Kompetenzausdehnung, insbesondere das Recht zur Schaffung weiterer Eigenmittel, stoße jedoch auf die Ablehnung der Bundesregierung. ({3}) Herr Staatssekretär, ich denke, wir alle, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind gefordert, zu diesem Zeitpunkt unsere aus verständlichen Gründen erfolgende Fixierung auf die große Herausforderung in Ostdeutschland nicht ausschließlich zu betreiben und den Blick für Europa dabei nicht zu vergessen. Es ist notwendig, daß wir uns mehr als bisher mit den Vorlagen des Europäischen Parlaments beschäftigen. Angesichts der dicken Papiere, die oftmals Zentimeterstärke und viele hundert Seiten umfassen, und angesichts der hiesigen Praxis, alles in Fachgremien nur kästchenweise und sektoral zu betrachten, verlieren wir alle hier den Überblick über das, was sich auf der europäischen Bühne tatsächlich tut. Das geht hin bis zu der Forderung Spaniens, eine Wirtschafts- und Währungsunion dürfe auf europäischer Ebene nur dann eingeführt werden, wenn es einen europäischen Finanzausgleich gibt. Welche Brisanz die Forderung nach einem europäischen Finanzausgleich hat, brauche ich hier unter uns nicht weiter zu vertiefen. Ich denke - und bitte darum - , daß wir uns diese Aussprache zum Merkposten nehmen sollten. Wir müssen europäische Fragen endlich ganzheitlich sehen. Das ganzheitliche Sehen europäischer Fragen gelingt uns nur, wenn wir endlich dazu kommen, in diesem Hause einen Ausschuß für Europa zu bilden. Vielen Dank. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Conrad Schroeder.

Dr. Conrad Schroeder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002075, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bedauere ebenso wie der Kollege Diller die schwache Präsenz in diesem Hause. Er weiß aber genausogut wie ich, daß die Kolleginnen und Kollegen, die mit diesen Fragen besonders befaßt sind, derzeit in den wichtigen Beratungen zum Bundeshaushalt sind. Deswegen sind wir beide hier im Wege einer Pairingsvereinbarung anwesend. Die Abgeordneten des Europäischen Parlamentes kämpfen derzeit um eine verstärkte Haushaltskontrolle - ein Herzstück des Parlamentarismus, für den Deutschen Bundestag von Anfang an eine Selbstverständlichkeit. Das Etatrecht wird als Königsrecht eines jeden Parlaments bezeichnet. Die effektive und kontinuierliche Überwachung der Einhaltung der Haushaltsbeschlüsse des Parlaments durch die jeweilige Exekutive, im europäischen Recht also durch Rat, Kommission und die europäische Verwaltung, gehört mit zu diesem Königsrecht. Ein Haushaltsrecht der Legislative ohne wirksame parlamentarische Kontrolle bleibt ein stumpfes Schwert. Ich glaube, Herr Kollege Diller, darin sind wir uns völlig einig. Wo es nichts zu streiten gibt, soll man auch nicht unbedingt streiten. Deshalb ist es nur folgerichtig, daß das Europäische Parlament mit der vom Kollegen Diller erwähnten Entschließung vom 22. November 1990 ausdrücklich und nachhaltig anmahnt, daß alsbald ein solches Haushaltskontrollsystem eingeführt wird. Meine Fraktion unterstützt nachdrücklich alle Vorschläge, durch die ein bestehendes Demokratiedefizit in der Europäischen Gemeinschaft abgebaut wird. Wir befinden uns damit, Herr Kollege Diller, auch in Übereinstimmung mit der Bundesregierung. Ich glaube, daß es zwischen der Auffassung der Fraktionen und der Auffassung der Bundesregierung hier keinerlei Unterschiede gibt. ({0}) Ich möchte auch darauf hinweisen, daß wir uns in diesem Punkt auch mit der Christlich-Demokratischen Europäischen Volkspartei in Übereinstimmung finden, die auf ihrem letzten Kongreß in Dublin eine globale Überprüfung der geltenden Finanzbestimmung im Blick auf die politische Union Europas gefordert hat. Der entscheidende Durchbruch auf dem Weg zu einer politischen Union in Europa wird erst erzielt werden, wenn das Europäische Parlament von den 340 Millionen Gemeinschaftsbürgern als echter Souverän empfunden wird, als Souverän, der in der Gesetzgebung und in der Kontrolle der europäischen Exekutive das wirkliche Sagen hat. Die Stellung des Europäischen Parlamentes muß spätestens - ich hoffe, darin besteht Übereinstimmung hier in diesem Hause - bis zu den nächsten Europawahlen sichtbar verstärkt werden; sonst können wir uns alle auf ein Debakel und auf ein großes Desinteresse der Wahlbürger in Europa vorbereiten. Derzeit blickt alles auf den Europäischen Binnenmarkt zum 1. Januar 1993. Je näher dieses Datum rückt, desto mehr wird bewußt, daß für ein reibungsloses Funktionieren dieses größten Binnenmarktes der Welt viele Hausaufgaben im nationalen und im europäischen Bereich noch zu erledigen sind. Die Schwierigkeiten bei der Harmonisierung der Mehrwertsteuer und der Verbrauchsteuern sind nur eines von vielen Beispielen, wo noch dringend Hausaufgaben zu erledigen sind. ({1}) - Ja, Herr Kollege Professor Meyer, wir wissen das. Nur wissen leider nicht alle europäischen Partner, wie zu harmonisieren ist. Auch die Reform der Unternehmensbesteuerung für deutsche Unternehmen ist durch die gleichzeitige Herausforderung großer Aufbauaufgaben in den neuen östlichen Bundesländern und in ehemaligen Ostblockstaaten Osteuropas nicht leichter geworden. Dabei kann der Binnenmarkt - ich glaube, Herr Kollege Diller, auch da sind wir uns einig - zum 1. Januar 1993 nicht der letzte Schritt bleiben. Die lange problematisierte Wirtschafts- und Währungsunion muß nach unserer Auffassung ebenfalls in den nächsten Jahren kommen. ({2}) Diese Währungsunion ist wichtig und richtig, wenn sie durch eine europäische Zentralbank begleitet wird, die eine der Deutschen Bundesbank vergleichbare Unabhängigkeit von den Regierungen hat. ({3}) Angesichts des weiteren politischen, rechtlichen und finanziellen Ausbaus der Europäischen Gemeinschaft hat die Kontrollkompetenz des Europäischen Parlaments im Rahmen der europäischen Finanzverfassung einen zunehmend größeren Stellenwert. Die Kompetenz des Deutschen Bundestages nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes und die Möglichkeit der Haushaltskontrolle durch den Bundestag sind ein Standard, der auch für das Europäische Parlament im Interesse der demokratischen Transparenz im Gemeinschaftsrecht alsbald verankert werden muß. Das Recht auf lückenlose Information des Europäischen Parlaments durch die Exekutive, eine wirksame Haushaltskontrolle unter Einschaltung des Europäischen Rechnungshofes, wo wir - aus Erfahrung - auf die besondere Sachkunde unseres langjährigen Kollegen, ehemaligen Vorsitzenden des Rechnungsprüfungsausschusses und jetzigen Vizepräsidenten des Europäischen Rechnungshofes, des Kollegen Bernhard Friedmann, den wir alle in sehr guter Erinnerung haben, voll vertrauen können, und schließlich das Instrumentarium einer Entlastung der Kommission, des Rates und der europäischen Verwaltung durch das Europäische Parlament im Gemeinschaftsrecht müssen eine demokratische Selbstverständlichkeit werden. Eine aus der parlamentarischen Verantwortung abgehobene, selbstherrliche europäische Exekutive kann und darf es nicht geben. ({4}) Im Ergebnis stimme ich den Kolleginnen und Kollegen in Straßburg voll zu, daß es nicht sein kann, daß mit der Schaffung der Politischen, der Wirtschafts- und Währungsunion dem Ministerrat und der Kommission immer weitere, bedeutende, ausgabenträchtige Kompetenzen zuwachsen, während auf dem Feld der parlamentarischen Kontrolle alles beim alten bleibt. ({5}) - Ja. Ich glaube, ich habe vorhin gesagt: Wo kein Streit ist, soll man ihn nicht unbedingt suchen. ({6}) - Ja, das ist dann auch zitierfähig. ({7}) Meine Fraktion - ({8}) - Meine Fraktion ist im Augenblick in den wichtigen Beratungen im Haushaltsausschuß, wo wir - der Kollege Diller und ich - uns nachher auch wieder hinbegeben müssen. Meine Fraktion steht deshalb in Solidarität zu den Forderungen des Europäischen Parlaments, und das nicht nur in Sonntagsreden. ({9}) Ich begrüße den Konsens, Kollege Diller. Wir begrüßen eine Verstärkung der parlamentarischen Haushaltskontrolle in Europa. ({10}) Einzelheiten, Herr Kollege Diller, wie die Forderung des Europäischen Parlaments nach einer Haushaltskontrolle auch gegenüber den nationalen Regierungen, soweit sie dezentralisierte gemeinschaftliche Befugnisse ausüben, müssen wir in den Ausschüssen noch eingehender beraten.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Diller?

Dr. Conrad Schroeder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002075, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte schön.

Karl Diller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000391, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, Dr. Schroeder, gilt dieser Konsens auch für meine Forderung nach der Bildung eines Europaausschusses beim Deutschen Bundestag? ({0})

Dr. Conrad Schroeder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002075, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich unterstütze voll und aus Überzeugung die Einrichtung eines Europaausschusses, damit wir gemeinsam auch in Fragen der europäischen Einigung weiterkommen. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Schroeder, sind Sie bereit, eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Hoyer zu beantworten? - Bitte.

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gehe ich recht in der Annahme, Herr Kollege, daß sich das gegebenenfalls auch auf die gerade im Hinblick auf Europa so wichtigen Aufgaben eines Kulturaussschusses beziehen würde? ({0})

Dr. Conrad Schroeder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002075, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Diese Frage muß in unserer Fraktion noch eingehender beraten werden. Aber auch hier habe ich eine deutliche Sympathie für die Einrichtung eines Kulturausschusses. ({0}) Ich komme zum Schluß. Unstreitig scheint hier in der ganzen Breite des Hauses das Kernanliegen zu sein, daß das Europäische Parlament besser heute als morgen das Recht einer Haushaltskontrolle erhalten muß, das für nationale Parlamente seit langem eine demokratische Selbstverständlichkeit ist. Wir werden der Überweisung an die Ausschüsse zustimmen. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ulrich Briefs.

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vorweg: Wir, die PDS/ Linke Liste, unterstützen die Forderungen des Europäischen Parlaments nach Kontrolle der europäischen Haushalte und der mit ihnen arbeitenden europäischen Haushalte und der mit ihnen arbeitenden europäischen Bürokratien. Aber die vorliegende Entschließung zur Verstärkung der Befugnisse des Europäischen Parlaments im Bereich der Haushaltskontrolle zeigt vor allem auch eines: Europa ist nach wie vor ein Torso, ein Gebilde ohne Arme und Beine. Das Europäische Parlament, immerhin der gewählte Ausdruck der Volkssouveränität, tritt mit dieser Entschließung geradezu als Bittsteller auf. Es zeigt damit, wie wenig wirkliche Befugnisse es im vierten Jahrzehnt des europäischen Einigungsprozesses immer noch hat. Daß das so ist, liegt daran, daß Europa nach wie vor ein Europa der Nationalstaaten und des Kapitals ist. Es ist eben nicht ein Europa, das von einer formaldemokratisch gewählten Instanz, dem Parlament, gelenkt und kontrolliert wird. Nun ist das natürlich im nationalen Rahmen auch bei weitem nicht so; das wissen wir. Zu kontrollieren und zu lenken - das wissen wir aus ganz anderen Zusammenhängen - ist das Vorrecht ganz anderer, weniger anderer, nämlich der nationalen Regierungen und Staaten und der großen internationalen Konzerne. Das zugleich elementare und vornehmste Recht, das sich der bürgerliche Parlamentarismus zu Anfang seiner Geschichte erkämpft hat, das Recht der Haushaltskontrolle, ist, wie die Entschließung selbst sagt - auch das sagt etwas - , für das Europäische Parlament nach wie vor nicht gegeben bzw. defizitär. Fast rührend muten da die Beschlüsse des Europäischen Parlaments zur demokratischen Transparenz und zum Recht auf Information an, als ob es diese Transparenz und dieses Recht wirklich in irgendeinem der zur EG gehörden Länder gäbe, als ob nicht z. B. in den Betrieben, im Kern der Gesellschaft nach wie vor der alte Satz Gültigkeit hätte: Es gibt Lügen, infame Lügen und Bilanzen. Die Bilanzrichtlinie der EG, inzwischen Gesetz und Praxis auch in der Bundesrepublik geworden, hat daran nichts geändert. Oder was bedeutet es, daß dieses Europäische Parlament in seiner Entschließung, die an vielen Punkten inhaltlich sachlich richtig und berechtigt ist, keinen Druck entwickelt? Auf diesem Wege, mit dieser Strategie des Bittens, so muß man schließen, wird ein Europa der Völker und der Menschen nie entstehen. Auch hier ist es offenbar so, daß es des Drucks der Menschen bedarf - gerade gegenüber den verkrusteten bürokratischen Institutionen der Europäischen Gemeinschaft - , um das Europa zu schaffen, das sich viele Menschen in der Nachkriegszeit erträumt haben: ein menschliches, transparentes, bürgernahes, bürgerfreundliches, ökonomisch und militärisch nicht aggressives Europa, ein Europa, das offen ist für die Welt und die Menschen, die außerhalb Europas leben. Eine europäische Initiative von unten, eine Initiative geradezu in Fortsetzung der Initiative von unten, die die verkrusteten Verhältnisse im Osten Europas aufgebrochen hat, muß dafür her. Dann stellt sich die Frage neuer, ausgeweiteter Befugnisse für das Europäische Parlament gegenüber dem Packeis von Kapitalinteressen und Europabürokratie auch in einem ganz anderen Licht, dem Licht wirklicher Demokratie. Ich danke. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Ulrich Irmer, Sie haben das Wort.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Entschließung des Europäischen Parlaments, über die wir heute hier sprechen, trägt einen abschreckenden Titel. Sie ist in einer furchterregenden Sprache abgefaßt. ({0}) Eurowelsch" nenne ich das. „Eurowelsch" ist die inoffizielle, aber alles beherrschende zehnte Amtssprache der Europäischen Gemeinschaft, und das in allen neun Sprachen. Wir reden hier über Haushaltskontrolle; wir sollten gelegentlich auch über Sprachkontrolle reden, vielleicht im Zusammenhang mit einer Debatte über Kultur oder auch über Bürgernähe und Europaverdrossenheit. Unter der Haushaltskontrolle stellt sich ein unbefangener Mensch so etwas vor wie Rechnungsprüfung, er denkt an Ärmelschoner, an Buchhalternasen, an Additionskolonnen, an Reisekostenrichtlinien und ähnlich nervenzerfetzende klassische Spannungsträger. ({1}) Unter diesem Aspekt, meine Damen und Herren, wundert es mich, daß überhaupt noch so viele Kollegen hier sind. ({2}) Das Plenum ist heute wieder ein Vakuum. Aber, diejenigen, die hier sind, haben inzwischen wahrscheinlich gemerkt, daß es sich hierbei um eine überaus spannende Materie handelt. Haushaltskontrolle ist in der Tat eine der brisantesten, spannendsten und vor allem politischsten Angelegenheiten der gesamten Europapolitik. ({3}) - Lieber Herr Kollege Wiefelspütz, vielen Dank für das Kompliment. Das geht mir natürlich runter wie Öl. Zum einen geht es ums Geld; das ist ganz klar. Haushaltsdisziplin, die eng mit Haushaltskontrolle zusammenhängt, ist ein allseits anerkannter, aber natürlich immer wieder neu in die Tat umzusetzender Grundsatz der Gemeinschaftspolitik. Aber auch in einer zweiten Hinsicht geht es um Geld. Die niederländische Regierung, die im zweiten Halbjahr 1991 turnusgemäß die Präsidentschaft in der EG übernehmen wird, hat angekündigt, daß sie sich als einen der wichtigsten Punkte ihres Programms vorgenommen hat, den aberwitzigen Betrügereien in der Gemeinschaft zu Leibe zu rücken. Jahr für Jahr werden dem Gemeinschaftshaushalt Milliardenbeträge durch Betrügereien entzogen; wohlgemerkt: nicht in Lire, sondern in ECU. Meine Damen und Herren, auf diesem Gebiet gibt es natürlich jede Menge Anekdoten. Ich will gar nicht erwähnen, daß es vielfach so gewesen ist, daß nach den Abrechnungen über Oliven in Italien in einem Jahr mehr Oliven hätten geerntet werden müssen, als in drei Jahren gewachsen sind. Ich will noch eine andere wirklich lustige Geschichte erzählen. Es gab beim Export von lebendem Vieh von Irland nach Nordirland bzw. umgekehrt - das weiß ich jetzt nicht mehr ganz genau - Erstattungen. Das lief so: Bei Tag wurden die Rindviecher offiziell über die Grenze gebracht; da wurden die Erstattungen kassiert. Bei Nacht und Nebel wurden dieselben Viecher schwarz über die grüne Grenze wieder zurückgebracht. Am nächsten Tag wurden offiziell dieselben Viecher über die Grenze transportiert, und es werden erneut Erstattungen kassiert. ({4}) Jetzt kommt erst der Clou, meine Damen und Herren. Die Iren sind ja als Tierfreunde bekannt. Normalerweise erfolgte die Kontrolle nur durch einen Stempel. Niemand hat mehr nachgeschaut. Als einmal ein Grenzbeamter nachgeschaut hat, hat er festgestellt, daß auf dem Planwagen ein Tonband installiert war, das das Scharren und Muhen wiedergab. Die Tiere blieben also zu Hause - sehr liebenswert, sehr menschlich - , und es wurde nur die gewinnträchtige Geräuschkulisse an der Grenze produziert. ({5}) Meine Damen und Herren, hiervon abgesehen sage ich jetzt in allem Ernst: Es werden dem Gemeinschaftshaushalt durch Betrügereien mehr Mittel entzogen, als die Drogenmafia auf der ganzen Welt verdient. ({6}) Das ist vielleicht etwas übertrieben; so sagt es die niederländische Regierung. Es sind immense Beträge, die hier dem Steuerzahler vorenthalten werden. Meine Damen und Herren, viel wichtiger als die Geldangelegenheiten ist bei der Haushaltskontrolle des Europäischen Parlaments der politische Aspekt, weil Haushaltskontrolle nämlich eines der wenigen, wirklich wirksamen Elemente der politischen Erfolgskontrolle ist. Die Kommission versucht immer wieder, die Haushaltspolitiken, die vom Parlament in den Haushaltsbeschlüssen formuliert werden, dadurch zu unterlaufen, daß sie den Haushalt einfach ignoriert und verlangt, es müsse noch eine zusätzliche Rechtsverordnung her, die dann nicht zustande kommt, weil sich der Rat nicht einigen kann. Dadurch sind neu formulierte, durch das Parlament neu ins Leben gerufene Politiken boykottiert worden oder nicht richtig zum Zuge gekommen. Hier hat der Haushaltskontrollausschuß eigentlich die Aufgabe, das nachzuvollziehen, das zu kontrollieren, ob die Politik, wie vom Parlament beschlossen, auch in die Tat umgesetzt wird. Das ist ein scharfes Schwert. Der Haushaltskontrollausschuß hat das in der Vergangenheit außerordentlich wirksam angewandt. Ich möchte hier eines Mannes gedenken, der jahrelang Vorsitzender des Haushaltskontrollausschusses in Brüssel und Straßburg war, leider viel zu früh verstorben ist: Heinrich Aigner. Er ist als Vater des Europäischen Rechnungshofes in die EG-Geschichte eingegangen und hat die politische Funktion der Haushaltskontrolle ganz entscheidend weiterentwickelt. Darauf kommt es an, dies weiterzuführen, dies weiterzuentwickeln. Wir fordern die Bundesregierung in aller Form auf, das zu unterstützen, was hier vom Europäischen Parlament vorgeschlagen wird. Natürlich ist die Haushaltskontrolle nur ein Teil der Behebung des Demokratiedefizits, die wir alle wollen. Das Demokratiedefizit muß auch auf andere Weise behoben werden, aber dies ist ein gar nicht unwesentlicher Teil dieses Versuchs. Alle haben Recht, die sagen: Wir können es uns nicht leisten, 1994 wieder ein Europäisches Parlament zu wählen, das keine Rechte, keine Befugnisse hat. Ich sage hier noch einmal: Würde die Europäische Gemeinschaft, die von Beitrittskandidaten demokratische innere Strukturen verlangt, bei sich selbst einen Antrag auf Mitgliedschaft stellen, der Antrag müßte wegen undemokratischer Umtriebe des Kandidaten abgelehnt werden. ({7}) Dies alles muß sich ändern. Die Bundesregierung muß bei den Regierungskonferenzen hier ganz hart, ganz standhaft bleiben. Wir werden es nicht dulden, wenn sie hier klein beigibt. Wir hoffen das nicht, wir haben Vertrauen zur Bundesregierung, daß sie dies tun wird, aber sie braucht natürlich auch von Zeit zu Zeit Ermunterung. Diese Debatte sollte mit dazu beitragen, daß ihr diese Ermunterung zuteil wird. ({8}) Insoweit wünsche ich der Bundesregierung viel Erfolg bei den Verhandlungen. Danke schön. ({9})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage auf Drucksache 11/8541 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr mit der Fragestunde fortgesetzt. Ich unterbreche die Sitzung. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Wir setzen die unterbrochene Sitzung mit Tagesordnungspunkt 2 fort: Fragestunde - Drucksache 12/266 Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Gesundheit auf. Frau Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl ist zur Beantwortung der Fragen erschienen. Ich rufe die Frage 33 der Abgeordneten Regina Schmidt-Zadel auf: Ist der Bundesregierung bekannt, daß die bewährten Strukturen der Suchtkrankenhilfe in der ehemaligen DDR wegen Finanzierungsschwierigkeiten vor dem Aus stehen? Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000155

Frau Kollegin Schmidt-Zadel, ich möchte Ihre beiden Fragen, wenn Sie das gestatten, gerne im Zusammenhang beantworten. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Dann rufe ich auch die Frage 34 der Abgeordneten Schmidt-Zadel auf: Falls ja, was gedenkt die Bundesregierung dagegen zu tun, denn es erscheint doch geradezu widersinnig, wenn die .Expertenkommission der Bundesregierung zur Reform der Versorgung im psychiatrischen Bereich" die Empfehlung herausgibt, ein ähnliches Netz wohnortnaher und ambulanter Hilfsangebote in den alten Bundesländern aufzubauen?

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000155

Das Beratungs- und Behandlungssystem auf dem Gebiet der ehemaligen DDR war inhaltlich im wesentlichen auf Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit konzentriert. Es muß in ein Beratungs- und Behandlungssystem transformiert werden, das perspektivisch auch die drohende oder gegebene Abhängigkeit von illegalen Drogen einbezieht. Die damit verbundene primäre Verantwortlichkeit der Gemeinden und Länder auf diesem Gebiet muß sich erst noch entfalten und dabei bewährte Ansätze aufgreifen. Nach der Verordnung über den öffentlichen Gesundheitsdienst in den Landkreisen und kreisfreien Städten vom 8. August 1990 gehört die Suchtkrankenhilfe zu den Pflichtaufgaben der Gesundheitsämter. Die Kommunen sollten darüber hinaus den freien Wohlfahrtsverbänden die Möglichkeit eröffnen, hier wirksam zu werden. Prinzipiell ist es Aufgabe der Kommune und nicht des Bundes, bestehende Beratungsstellen für Suchtkranke zu finanzieren, um Lükken in der Betreuung nicht entstehen zu lassen. Das Ausmaß dieser Ausgabenerfüllung ist jedoch nicht zuletzt von der finanziellen Ausstattung der Kommunen abhängig. Vor diesem Hintergrund sind Umstellungs- bzw. Anlaufprobleme in lokal unterschiedlichem Gepräge bekannt. Einen wichtigen Beitrag zur Lösung dieser Umstrukturierung sieht unter anderem das Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost vor. Dort sind insgesamt 5,2 Milliarden DM zusätzlich für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bereitgestellt, mit denen unter anderem auch die nicht von den Krankenkassen getragenen Dienste der Polikliniken, die bisher unter anderem auch die Suchtkrankenhilfe wahrgenommen haben, übergangsweise finanziert werden können. Es erscheint der Bundesregierung zunächst vor allem wichtig, eine wirksame Präventionsanstrengung gegenüber dem drohenden vermehrten Angebot illegaler Drogen zu entwickeln. Sie kann diesen Ansatz auf dem Weg der Modellförderung verfolgen und hat im Bundeshaushalt entsprechende Mittel vorgesehen. Sie gelten vor allem der Ausweitung des 1990 angelaufenen Modellprogramms „Mobile Drogenprävention" auf die neuen Bundesländer. Gleichermaßen ist ein bedarfsgerechtes Beratungs- und Behandlungsangebot aufzubauen, das einerseits vorhandene bewährte Bestände auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zu integrieren versucht und andererseits Erfahrungen der alten Bundesländer mit illegalen Drogen einbezieht. Die Bundesregierung plant deshalb in Kooperation mit den neuen Bundesländern, ein Programm „Modellberatungsstellen in den neuen Bundesländern" noch in diesem Jahr zu starten. Die Bereitstellung entsprechender Mittel im Bundeshaushalt 1991 ist vorgesehen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, eine Zusatzfrage.

Regina Schmidt-Zadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatssekretär, Ihnen ist sicher bekannt, daß - bedingt durch die wirtschaftlich schwierige Situation in den fünf neuen Bundesländern - die Zahl der Alkoholkranken, der Suchtabhängigen und der Drogenabhängigen steigt. Ich denke, es ist Soforthilfe erforderlich. Was gedenkt die Bundesregierung da unmittelbar zu tun?

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000155

Ich habe bereits ausgeführt, daß das einmal im Rahmen der AB-Maßnahmen möglich ist. Zum anderen sind auch Bundesmittel im Haushalt vorgesehen, um dieses System der Alkohol- und Drogenberatung zu erhalten bzw. aufzubauen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Eine weitere Zusatzfrage.

Regina Schmidt-Zadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ihnen ist sicher bekannt, daß zur Suchtberatung fachlich versierte Kräfte gehören. Glauben Sie, daß Sie mit dem ABM-Programm, das sicher einige Schwierigkeiten beheben hilft, diese schwierige Aufgabe bewerkstelligen können, und wann gedenken Sie zu beginnen?

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000155

Es ist sicherlich nur vorübergehend bzw. kurzfristig möglich. Auf der anderen Seite haben wir bereits bestehende Beratungsstellen gehabt, in denen Fachärzte zur Verfügung standen. Hier können natürlich, da es ein Behandlungssystem ist, mit den Krankenkassen gesonderte Verträge geschlossen werden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Schmidt-Zadel, Sie haben noch zwei Zusatzfragen.

Regina Schmidt-Zadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ihnen ist sicher bekannt, daß der Hauptgeschäftsführer der Stelle gegen die Suchtgefahren davor gewarnt hat, daß in der DDR das bewährte System zusammenbricht. Ich habe das auch hier gesagt. Was gedenken Sie dagegen unmittelbar zu tun? Ihre Antwort hat mir nicht ausgereicht.

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000155

Frau Schmidt-Zadel, ich werde mich persönlich genauestens informieren, wo Defekte eingetreten sind, und werde mich dafür verwenden, daß diese Defekte ausgeglichen werden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Weitere Zusatzfrage.

Gabriele Iwersen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000998, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatssekretärin, das Mittel ABM hat den großen Nachteil, daß immer nur zeitlich sehr begrenzte Arbeitsverträge abgeschlossen werden können. Das spricht eigentlich dagegen, in der Suchtberatung AB-Stellen einzurichten; denn in dem Augenblick, wo eine Vertrauensbasis zwischen den zu Beratenden und dem Berater entstanden ist -

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Verzeihen Sie, Frau Kollegin, Sie müssen hier eine Frage stellen und dürfen keinen Debattenbeitrag leisten.

Gabriele Iwersen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000998, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Hat die Staatssekretärin einen Vorschlag, wie man, falls ABM zum Zuge kommt, die zeitliche Begrenzung aufheben kann?

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000155

Ich habe eben ausgeführt, daß im Haushalt für diese Beratungsstellen eine Summe zur Verfügung gestellt wird.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Nächste Zusatzfrage, Professor Meyer.

Prof. Dr. Jürgen Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß das Strafrecht als Instrument zur Bekämpfung des Drogenmißbrauchs weitgehend versagt hat und daß deshalb im Sinne der Frage der Kollegin Schmidt-Zadel verstärkt Vorbeugung und Therapie an die Stelle von Strafe zu setzen sind?

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000155

Die Bundesregierung ist der Meinung, daß Vorbeugung/Prävention auf alle Fälle das wirksamste und beste Mittel ist, um Alkohol- und Drogenmißbrauch zu vermeiden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Gibt es aus dem Kreis der Kollegen weitere Zusatzfragen? - Das ist nicht der Fall. Dann bedanke ich mich, Frau Parlamentarische Staatssekretärin. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr auf. Zur Beantwortung ist der Parlamentarische Staatssekretär Gröbl erschienen. Für die Fragen 35 des Abgeordneten Volker Kauder, 36 und 37 des Abgeordneten Fritz Rudolf Körper, 38 der Abgeordneten Claire Marienfeld und 40 der Abgeordneten Antje-Marie Steen ist um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe die Frage 39 des Abgeordneten Manfred Opel auf: Wie sieht der Zeitplan genau aus, nach dem die Bundesregierung über die Elektrifizierung der Eisenbahnstrecke Hamburg-Flensburg ({0}) zu entscheiden gedenkt?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Herr Kollege, für die Bewertung dieser Strecke sind die Verkehrsprognosen und Untersuchungen bei der Aufstellung des gesamtdeutschen Verkehrswegeplans eine wichtige Voraussetzung. Der Zeitplan sieht bis Ende 1991 den Abschluß dieser Untersuchungen vor.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Opel, ich vermute, Sie haben eine Zusatzfrage.

Dipl. - Ing. Manfred Opel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, Herr Präsident, sogar zwei. Herr Staatssekretär, wird die Bundesregierung die Strecke nur nach bedarfsorientierten Kriterien beurteilen oder, ähnlich wie das die Schweizer Eisenbahnen mit großem Erfolg getan haben, auch angebotsorientiert für den Kunden?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Sie wissen, daß dies ebenfalls ein Kriterium für die Bewertung einer Strecke ist. Die Deutsche Bundesbahn kann im Rahmen ihrer eigenen Zuständigkeit diesem Kriterium eine stärkere oder schwächere Bedeutung zumessen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Opel, zweite Zusatzfrage.

Dipl. - Ing. Manfred Opel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Herr Staatssekretär, würden Sie mir zugestehen, daß es bei der Streckengestaltung, insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt der deutschen Einheit und der europäischen Einheit, darauf ankommt, politische Prioritäten zu setzen und hier insbesondere auch den sehr ausgeprägten Bedarf der Dänen mit ins Kalkül zu ziehen und deswegen diese unselige Debatte sehr schnell zu beenden?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Genau dies ist der besondere Grund, warum wir diese Strecke nicht einer Einzelbetrachtung unterziehen können, sondern sie im Gesamtzusammenhang der Verkehrsverbindungen zwischen Skandinavien und Deutschland sehen müssen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Weitere Zusatzfrage.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, nachzulesen, was in der Koalitonsvereinbarung über Elektrifizierung und umweltfreundliche Eisenbahn steht, und sind Sie bereit, dies auch auf Schleswig-Holstein zu übertragen? Sind Sie weiter bereit, die Resolution des schleswig-holsteinischen Landtages, die einstimmig gefaßt wurde, also von allen Parteien, zur Kenntnis zu nehmen?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Die Koalitionsvereinbarung ist Grundlage der Politik der Bundesregierung. Dies gilt für sämtliche Passagen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Dazu weitere Zusatzfragen? - Das ist nicht der Fall. Dann rufe ich die Frage 41 der Kollegin Elke Ferner auf. Welche Trassenführung favorisiert die Bundesregierung für eine Hochgeschwindigkeitsschienenstrecke zwischen Paris und dem südwestlichen Raum der Bundesrepublik Deutschland, und wie wirkt sich das um rund 1 Mrd. DM geringere Investitionsvolumen von 450 Mio. DM auf die Trassenführung und die mögliche Geschwindigkeit auf der Trasse Lothringen-SaarbrückenKaiserslautern-Mannheim aus? Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort zur Beantwortung.

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Frau Kollegin, die Bundesregierung und die Deutsche Bundesbahn haben zusammen mit der französischen Seite eine Reihe von Trassenvarianten zwischen Paris und Südwestdeutschland untersucht, darunter auch eine Neubauverbindung des TGV Est zur Strecke Metz-Saarbrücken und einen Ausbau der Strecke SaarbrückenLudwigshafen-Mannheim. Der deutsche Streckenteil Saarbrücken-Mannheim, auf 200 km pro Stunde ausgelegt, würde bei einem Neubau Hochspeyer-Neustadt a. d. Weinstraße mit Pfalztunnel 1,5 Milliarden DM, ohne Tunnel 450 Millionen DM kosten. Der Ausbau mit Pfalztunnel bringt Zeiteinsparungen zwischen Saarbrücken und Mannheim von 28 Minuten, ohne Tunnel von 21 Minuten.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, Zusatzfrage.

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es war die ganze Zeit aus der Presse zu entnehmen, daß die von Ihnen genannten 1,5 Milliarden DM auf 450 Millionen DM reduziert worden sind. Beabsichtigt die Bundesregierung jetzt, nur die, sage ich einmal, langsamere Variante zu realisieren, oder wollen Sie diese Strecke von Mannheim nach Saarbrücken nicht vielleicht doch etwas zügiger zurücklegen?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Wir sind der Auffassung, daß die Zeiteinsparung für die gesamte Strecke nach Paris, die insgesamt zwei Stunden beträgt, ein großer Fortschritt ist, und sind zusätzlich der Auffassung, daß die Einsparung von 7 Minuten einen Aufwand von 1 Milliarden DM nicht rechtfertigt.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zweite Zusatzfrage.

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ist die zweite Trassenvariante nicht aus Gesichtspunkten der Umweltverträglichkeit - dadurch, daß kein Tunnel und dadurch auch kein Lärmschutz auf dieser Strecke entsteht - schlechter als die, die eben rund 1 Milliarden DM mehr kostet?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Im Gegenteil, die Berücksichtigung der ökologischen Probleme führt zu dieser jetzt gewählten Variante, im übrigen auch im Hinblick auf die Verbindung Straßburg-Kehl, die zeitlich als Konkurrenzstrecke zu der von Ihnen nachgefragten Strecke gesehen werden muß.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zusatzfrage, Kollegin Götte.

Dr. Rose Götte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Geht die Bundesregierung nach wie vor davon aus, daß bei beiden Varianten ein Halt in Kaiserslautern vorgesehen ist?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Ja.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zusatzfrage, Herr Kollege Reimann.

Manfred Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001805, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Jetzt habe ich Schwierigkeiten, weil ich nur eine Frage stellen darf. - Wenn in Kaiserslautern gehalten wird, ist es dann noch eine Schnellbahn? ({0})

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Ja. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zusatzfrage, Herr Kollege Müller.

Albrecht Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001543, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Warum ist es dann keine Schnellbahn mehr, wenn diese Schnellbahn auch noch in Neustadt ({0}) hält? ({1})

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Ich meine, diese Diskussion sollten wir in Gegenwart des Herrn Dürr einmal fortsetzen. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Die Frage 42 wurde ebenfalls von der Kollegin Elke Ferner gestellt: Welchen Fahrzeitgewinn hält die Bundesregierung für notwendig, um den Schienenverkehr auf der Strecke Paris-Saarbrücken-Kaiserslautern-Mannheim gegenüber den anderen Verkehrsmitteln im Personen- und Gütertransport zu einer attraktiven Alternative zu machen, und welche zusätzlichen Mittel stellt die Bundesregierung für die Realisierung dieser Hochgeschwindigkeitsstrecke zur Verfügung, nachdem der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bundesbahn, Heinz Dürr, erklärte, die Bahn werde einen Vorschlag vorlegen, der für sie am kostengünstigsten sei, und wenn zusätzlich etwas gewünscht werde, müsse die Politik zahlen?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Die Neubau- und Ausbauvorhaben verringern auf der Relation Paris-Saarbrücken-Kaiserslautern-Mannheim die Fahrtzeit von heute mehr als fünf Stunden - wie bereits geschildert - auf weniger als drei Stunden. Die Bundesregierung ist der Überzeugung, daß die Eisenbahn damit für den Personenverkehr eine attraktive Alternative zum Individualverkehr bietet und daß bei Einbeziehung der Zugangszeiten zum Luftverkehr auch hier eine Wettbewerbsannäherung erzielt wird. Die Äußerung des Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bundesbahn Heinz Dürr bezieht sich nicht auf die hier in Rede stehende Verbindung.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, eine Zusatzfrage!

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ist dann davon auszugehen, daß für die Verbindung, von der wir die ganze Zeit über sprechen, Mittel in ausreichendem Maße im Investitionsplan der Bundesbahn zur Verfügung stehen?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Wir gehen davon aus, daß die Mittel für den Bau rechtzeitig zur Verfügung gestellt werden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Die zweite Zusatzfrage.

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da Sie mir jetzt das Stichwort „rechtzeitig" gegeben haben, möchte ich Sie fragen: Was verstehen Sie im Zusammenhang mit den Verhandlungen unter „zügig" - auch Bundesminister Krause soll nach einem in der „Saarbrückener Zeitung" vom 19. März wiedergegebenen Zitat gesagt haben, die Verhandlungen sollten zügig weitergeführt werden -, und wann ist dann in etwa mit der Einleitung des Raumordnungsverfahrens, mit der Umweltverträglichkeitsprüfung bis hin zum Baubeginn zu rechnen?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

„Zügig" war auch im wörtlichen Sinne auf den Zug bezogen. - Zunächst ist die Vereinbarung zwischen den beiden Regierungen vorbereitet. Wir haben den Entwurf der französischen Regierung zur Kenntnisnahme übersandt und hoffen, die Vereinbarung in den nächsten Wochen auch unterzeichnen zu können. Dann beginnt das Verfahren, wie wir es in Deutschland gewöhnt sind, mit all den einzelnen Verfahrensschritten. Sie wissen, daß wir nicht für das ganze Verfahren Herr des Verfahrens sind.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Eine Zusatzfrage des Kollegen Müller.

Albrecht Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001543, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, da mir die Antwort vorhin mit dem Hinweis auf Herrn Dürr zu dünn war, möchte ich doch gern noch wissen - da sieben Minuten offenbar keine große Rolle spielen; da würde ich Ihnen auch zustimmen -, wie viele Minuten länger dauert es, wenn diese Schnellbahn in Neustadt hält? - Bitte ohne einen Hinweis auf Herrn Dürr!

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Ich kann Ihnen diese Frage jetzt nicht beantworten. Ich bin aber gern bereit, Ihnen das schriftlich nachzuliefern. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zu dieser Frage gibt es keine weiteren Zusatzfragen. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, zu den Fragen 43 und 44 des Abgeordneten Joachim Tappe ist wiederum um schriftliche Beantwortung gebeten worden. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt. Damit kommen wir zur Frage 45 von Frau Abgeordneter Dr. Rose Götte: Wie viele neue Waggontypen und Transportsysteme nach dem Vorbild der Sattelauflieger werden bei der geplanten verstärkten Verlagerung des Gütertransports auf die Schiene ab 1991 jährlich bis zum Jahr 2000 von der Deutschen Bundesbahn zur Verfügung gestellt?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Frau Kollegin, die Deutsche Bundesbahn hat drei Prototypen eines neuen Fahrzeugs für den Güterverkehr beschafft, das auf der Schiene und auf der Straße eingesetzt werden kann. Seit Beginn dieses Jahres werden die Fahrzeuge im kommerziellen Einsatz zwischen Ingolstadt und Schwelm erprobt. Die Deutsche Bundesbahn stellt bereits jetzt ein beachtliches Interesse des Güterkraftverkehrsgewerbes nicht nur an der Nutzung, sondern insbesondere auch an der Beschaffung des neuen Systems fest. Der Versuch soll im Herbst 1991 abgeschlossen sein. Danach kann über eine Serienbeschaffung entschieden werden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Götte, eine Zusatzfrage.

Dr. Rose Götte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Glauben Sie, daß dadurch das Angebot an die Wirtschaft attraktiver wird und in Zukunft diese Dienstleistung der Bundesbahn häufiger genutzt wird?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Ja.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Weitere Zusatzfrage.

Dr. Rose Götte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ist mit Sicherheit damit zu rechnen, daß diese neuen Systeme ab Herbst 1991 zur Verfügung stehen, und welche Auswirkungen hat das jetzt schon auf die Bundesbahnausbesserungswerke?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Ich habe Ihnen in meiner ersten Antwort berichtet, daß die Entscheidung über Beschaffungen erst nach Abschluß des Versuchs getroffen werden kann.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Weitere Zusatzfragen aus dem Kollegenkreis? - Das ist nicht der Fall. Für die Fragen 46 und 47 des Abgeordneten Horst Sielaff ist ebenfalls um schriftliche Beantwortung gebeten worden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Dann rufe ich die Frage 48 des Kollegen Albrecht Müller ({0}) auf: Wie hat sich der Bestand an Güterwagen der Deutschen Bundesbahn seit 1980 entwickelt, und welche neuen Typen von Waggons und damit verbundenen Spezialangeboten hat die Bundesbahn in den letzten Jahren entwickelt, um neue Kundenkreise zu erschließen? Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Herr Kollege, der Gesamtbestand der Güterwagen der Deutschen Bundesbahn ging seit 1980 von insgesamt 282 000 Fahrzeugen ohne negative Auswirkungen auf das Leistungsangebot bis Ende 1990 auf rund 199 000 Fahrzeuge zurück. Die Deutsche Bundesbahn hat sich bei ihren Überlegungen für neue Güterwagenangebote an den Anregungen und Wünschen ihrer Kunden orientiert und eine Vielzahl leistungsfähiger moderner Güterwagen verschiedenster Bauart gemeinsam mit der Waggonbauindustrie entwickelt.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Müller, eine Zusatzfrage.

Albrecht Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001543, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie können nicht sagen, wie viele Typen das insgesamt waren?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Herr Kollege Müller, die Angabe war in der kurzen Zeit von der Bundesbahn nicht zu beschaffen. Wenn Sie interessiert sind, diese Zahl zu erhalten, bin ich Ihnen gerne behilflich.

Albrecht Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001543, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mich würde das interessieren, und zwar im Vergleich auch zu den Lkw, die in der gleichen Zeit als Spezialangebote entwickelt worden sind. Die zweite Frage. Sie haben gesagt, die Zahl der Wagen sei ohne Einschränkung des Angebots durch die Bundesbahn auf 199 000 reduziert worden. Ist Ihnen bekannt, daß in vielen Fällen die Bundesbahn heute Transportleistungen nicht erbringen kann, und zwar mit dem Hinweis darauf, daß die Waggonkapazität nicht mehr ausreiche?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Mir liegt die Zahl vor, Herr Kollege. Transportleistungen, Verkehrsleistungen im frachtpflichtigen Güterverkehr 1980: 67,95 Milliarden Tonnenkilometer, 1989 - als Vergleichszahl - : 65,34 Milliarden Tonnenkilometer, also ein Rückgang um 3,8 %. Das sind die Zahlen, auf die ich mich bei der Beantwortung Ihrer ersten Frage bezogen habe. - Daß es bei der Bundesbahn zur Zeit Engpässe gibt, ist bekannt.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Eine Zusatzfrage des Kollegen Reimann.

Manfred Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001805, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, hat der Rückgang der Zahl der Güterwagen etwas damit zu tun, daß die Bahn ihre Güter neuerdings mit Lkws über die Straße transportiert?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Der Rückgang der Zahl der Güterwagen hat im wesentlichen damit zu tun, daß die einzelnen Wagen leistungsfähiger sind, daß die Leerzeiten geringer geworden sind, die Umlaufzeiten kürzer sind und durch verbesserte Fahrplangestaltung mit geringerem Transportvolumen insgesamt eine höhere Leistung erbracht werden kann.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zusatzfrage, Frau Kollegin Götte.

Dr. Rose Götte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Könnten Sie mir das noch einmal erklären? Daß die Bundesregierung auf der einen Seite immer behauptet, sie sei dafür, daß mehr Güter auf die Schiene kämen, daß aber auf der anderen Seite der Bestand an Güterwagen von 282 000 auf 199 000 reduziert wird, daß auch die Menge der Tonnen, die transportiert wird, zurückgeht und daß uns gleichzeitig von der Wirtschaft signalisiert wird, sie würde ja gern verlagern, aber sie könne gar nicht, weil die Bundesbahn kein Angebot mache - wie paßt das denn zusammen?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Die Bundesbahn wird ihre Transportmöglichkeiten in verstärktem Maße der privaten Wirtschaft öffnen - ich habe in der Antwort auf eine der vorigen Fragen bereits auf diesen Zusammenhang hingewiesen - , und dadurch erwarten wir insbesondere im kombinierten Verkehr einen erheblichen Zuwachs in der Transportleistung der Bundesbahn.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Abgeordneter Hiller, eine weitere Zusatzfrage.

Reinhold Hiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000901, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, was sind die Hauptbegründungen der Wirtschaft, wenn sie davon spricht, daß bei der Deutschen Bundesbahn Engpässe vorhanden sind?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Wenn von Engpässen gesprochen wird, sind z. B. solche im Bereich des Holztransports gemeint; das ist hier ja auch schon zur Sprache gekommen. Es ist nicht verwunderlich, daß die Bundesbahn bei einem plötzlichen, katastrophenbedingten großen Anfall an Holz das hierfür erforderliche Transportvolumen nicht auf einen Schlag zur Verfügung stellen kann. Das ist ein wesentlicher Grund.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Sperling.

Dr. Dietrich Sperling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, können Sie etwas über den Zeithorizont sagen, in dem die Bundesbahn kombinierten Verkehr verstärken kann, und wird sie das mit noch weniger Güterwagen machen können, oder braucht sie dazu mehr?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Die Bundesbahn wird das mit einem noch größeren Angebot an die private Wirtschaft tun, selbst Fahrzeuge zu beschaffen, die von der Bundesbahn transportiert werden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Staatssekretär, ich muß jetzt einen Moment um Aufmerksamkeit bitten. - Bis vor kurzem bezogen sich die Zusatzfragen auf die Ausgangsfrage. Jetzt beginnen sie langsam zu einer allgemeinen Bundesbahndebatte zu werden. ({0}) Ich bitte, möglichst eng am Thema der Frage zu bleiben; ({1}) denn wir haben noch eine ganze Reihe von Fragen zu dem Thema. Frau Kollegin Wetzel, Sie haben eine Zusatzfrage.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke schön. - Herr Staatssekretär, Sie haben soeben gesagt, die Engpässe der Deutschen Bundesbahn bezögen sich auf Holztransporte. Können Sie mir erklären, warum die Deutsche Bundespost für ihre Transporte jetzt Lkws benutzen muß?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Ich habe die Holztransporte als markantes Beispiel genannt. Es ist eine unternehmerische Entscheidung der Deutschen Bundespost, als Transportmittel den Lkw oder die Bundesbahn zu bevorzugen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich rufe die Frage 49 des Kollegen Hans Wallow auf: Wie begründet die Bundesregierung die Tatsache, daß technisches Wissen zum Bau von Spezialwaggons vom Ausbesserungswerk der Deutschen Bundesbahn in Kaiserslautern kostenlos an die private Konkurrenz abgegeben werden mußte?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Die Deutsche Bundesbahn hat einen Reparaturauftrag für 30 Spezialgüterwagen an mittelständische Unternehmen probeweise vergeben. Die Auftragnehmer wurden von der Deutschen Bundesbahn über den Arbeitsumfang, die Art der Schadensbeseitigung und die Anforderungen an die Ausführungsqualität ohne Berechnung zusätzlicher Kosten unterrichtet. Da es sich lediglich um einen Test handelt, mit dem Erfahrungen gesammelt werden sollen, ist die Vorgehensweise nicht zu beanstanden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Wallow, Sie haben die erste Zusatzfrage.

Hans Wallow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002417, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn man bei diesem Verfahren zugrunde legt, daß der Wettbewerb damit ausgeHans Wallow schaltet ist - denn das Know-how wird den Privatfirmen kostenlos geliefert - , dann existiert da praktisch keine Konkurrenz mehr.

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Erstens. Ich habe Ihnen gesagt, daß es sich hierbei um einen Tesi handelt. Zweitens wird der Wettbewerb nicht ausgeschaltet, sondern vergrößert, weil zusätzliche mittelständische Betriebe in die Konkurrenz eintreten können.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Eine zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Wallow.

Hans Wallow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002417, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Auch die Zurverfügungstellung von technischem Wissen im Rahmen eines Tests müßte für den Nutznießer doch kostenpflichtig sein.

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Dies hat die Bundesbahn anders beurteilt. Und wir haben es deshalb nicht beanstandet, weil es sich eben um einen Test handelt.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Nächste Zusatzfrage, Frau Kollegin Götte.

Dr. Rose Götte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dieser Test sollte vor allen Dingen dazu dienen, herauszufinden: Wer macht es billiger? Wie aber kann ein solcher Test aussagekräftig sein, wenn die einen die ganzen Vorbereitungen und forschungstechnischen Ergebnisse kostenlos übernehmen können, und wie beurteilen Sie die Tatsache, daß der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz dies als Ungeheuerlichkeit bezeichnet hat?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Ich kann dieses Zitat nicht nachprüfen. Wir werden nach Abschluß des Tests - Abschluß des Tests ist nicht gleichbedeutend mit Abschluß der Reparaturarbeiten, sondern heißt vielmehr: nach Überprüfung der Qualität der reparierten Waggons nach einer gewissen Zeit in Betrieb - feststellen, ob sich dieses Verfahren bewährt hat oder nicht.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Müller, Sie stellen die nächste Zusatzfrage.

Albrecht Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001543, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, da Ihre Antwort darauf schließen läßt, daß Sie den Fall nicht genau durchgeprüft haben, frage ich Sie: Sind Sie bereit, beim Ausbesserungswerk Kaiserslautern genau nachzurecherchieren, unter welchen Umständen das gesamte Know-how an den privaten Produzenten - nicht nur Reparateur - geliefert werden mußte? Ist das Ihre Vorstellung von Privatisierung?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Sie gehen in Ihrer Frage von einer unzulässigen Unterstellung aus. Ich muß Ihnen sagen, daß dies eine bewußte Erprobung der Deutschen Bundesbahn für die Vergabe von Reparaturarbeiten an Bundesbahnwaggons an mittelständische Betriebe ist. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Der Begriff „unzulässig" bezog sich darauf, daß in Fragen keine vorherigen Antworten bewertet werden sollten. Das war gemeint, Frau Götte. Herr Reimann, Sie stellen die nächste Frage.

Manfred Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001805, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, sind mit der Auslagerung Risiken für die Beschäftigung der Belegschaft in Form von Entlassungen, Umsetzungen oder Versetzungen verbunden?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Die Bundesbahn hat mir auf zweimalige Anfrage erklärt, daß ein Abbau von Arbeitsplätzen oder gar Ausbildungsplätzen in diesen Ausbesserungswerken nicht zur Diskussion steht. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Eine weitere Zusatzfrage stellt die Kollegin Frau Ferner.

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehen Sie im Zusammenhang mit der Antwort auf die letzte Frage nicht die Gefahr, daß durch die Nichtzuführung oder durch die nur unzureichende Wiederzuführung von Auszubildenden, die mit ihrer Ausbildung fertig sind, der Personalbestand klammheimlich reduziert und deshalb eine Weitergabe solcher Arbeiten an Private gewährleistet sein wird?

Wolfgang Gröbl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000732

Frau Kollegin, von unserem Hause wurde schon mehrfach in mündlicher oder schriftlicher Form klargestellt, daß ein Abbau weder der Ausbildungsplätze noch der Arbeitsplätze in den betroffenen Ausbesserungswerken vorgesehen ist.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Werden weitere Zusatzfragen aus dem Kollegenkreis gewünscht? - Nein. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, da bei den Fragen 50, 51 des Abgeordneten Klaus-Jürgen Hedrich, 52 und 53 des Abgeordneten Robert Antretter um schriftliche Beantwortung gebeten ist, haben Sie es geschafft. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Wir danken Ihnen. Ich rufe jetzt den Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf. Zur Beantwortung ist der Parlamentarische Staatssekretär Schmidbauer erschienen. Die Fragen 54 des Abgeordneten Ortwin Lowack, 55, 56 des Abgeordneten Arne Börnsen ({0}) und 57, 58 der Abgeordneten Monika Ganseforth, Herr Staatssekretär, sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe die Frage 59 der Abgeordneten Marion Caspers-Merk auf: Für welche Abwasserherkunftsbereiche wurden bis jetzt die Mindestanforderungen an das Einleiten von Abwasser mit gefährlichen Stoffen nach dem Stand der Technik in Verwaltungsvorschriften festgelegt, und bis wann will die Bundesregierung für alle Schadstoffparameter in Abwasser mit gefährlichen Stoffen, insbesondere aus der chemischen Industrie, die Mindestanforderungen entsprechend § 7 a WHG festlegen? Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Bernd Schmidbauer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001995

Frau Kollegin Caspers-Merk, ich antworte auf Ihre Frage wie folgt: Seit dem Inkrafttreten der Abwasserherkunftsverordnung vom 10. Juli 1987 zu 7 a des Wasserhaushaltsgesetzes sind insgesamt 25 neue oder fortgeschriebene Abwasserverwaltungsvorschriften mit den verschärften Anforderungen erlassen worden, davon 13 Abwasservorschriften, bei denen die Anforderungen für das Einleiten von Abwasser mit gefährlichen Stoffen dem Stand der Technik entsprechen. Diese Vorschriften sind seit dem 1. Januar 1990 in Kraft. In einer Liste, die ich Ihnen im Anschluß an die Beantwortung gerne überlasse, sind die Herkunftsbereiche von Abwasser im einzelnen aufgeführt, bei denen Anforderungen nach dem Stand der Technik für die gefährlichen Stoffe im Abwasser gestellt werden. Die Bundesregierung hat den Deutschen Bundestag bereits am 1. Juni 1990 mit der Bundestagsdrucksache 11/7327 entsprechend unterrichtet. Am 18. Dezember 1990 hat die Bundesregierung mit der Änderung der Rahmenabwasserverwaltungsvorschrift für weitere Abwasserherkunftsbereiche strenge Anforderungen nach dem Stand der Technik beschlossen, insbesondere für das Abwasser der chemischen Industrie, die am Tage nach ihrer Veröffentlichung in Kraft treten sollen. Der Bundesrat hat dieser Vorschrift am 1. März 1991 mit Maßgabe von fünf Änderungen mit deutlicher Mehrheit zugestimmt. Unter anderem soll das Inkrafttreten bis zum 1. Januar 1992 hinausgeschoben werden, und zwar mit der Begründung, die Länderverwaltung komme bei der Umstellung der wasserrechtlichen Bescheide wegen des ohnehin hohen Verwaltungsaufwandes nicht nach. Der Bundesrat hat ferner eine Entschließung angenommen, die die Bundesregierung auffordert, spätestens in drei Jahren eine Fortschreibung der Vorschrift für die chemische Industrie vorzulegen und die Voraussetzungen für die Aufnahme zusätzlicher Parameter zu schaffen. Entsprechend der gesetzlichen Vorgabe wird die Bundesregierung die Anforderungen zeitgerecht der Entwicklung anpassen. Nach Abschluß entsprechender Forschungs- und Entwicklungsvorhaben können z. B. zur Begrenzung der Toxizität einer Vielzahl von gefährlichen Stoffen im Abwasser auch Anforderungen an die Wirkung auf Daphnien, Bakterien oder Algen sowie weitere biologische Wirkungen, z. B. Mutagenität und andere, gestellt werden. Die Bundesregierung wird bis Ende 1991 für alle wesentlichen Herkunftsbereiche in Anforderungen für das Einleiten von Abwasser in Gewässer Abwasserverwaltungsvorschriften festlegen. Bereits in Kürze werden verschärfte Vorschriften für die Bereiche Herstellung keramischer Erzeugnisse, Zuckerherstellung, Herstellung von Papier und Pappe, Tierkörperbeseitigung, Steine und Erden, Herstellung von Kohlenwasserstoffen, Erdölverarbeitung, Verwendung gefährlicher Stoffe, z. B. DDT, PCP und Endosulfan, auf den Weg gebracht und dem Bundesrat zur Zustimmung vorgelegt. Weitere Vorschriften befinden sich in Vorbereitung. Aus der Liste, die ich Ihnen übergebe, können Sie die anderen Hinweise detailliert entnehmen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zusatzfrage, Frau Kollegin.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, fanden in der Frage der Verschärfung der Verwaltungsvorschriften Anhörungen unter Beteiligung der chemischen Industrie statt, und können Sie die Summe beziffern, die die chemische Industrie die Umsetzung der Verwaltungsvorschriften kosten wird?

Bernd Schmidbauer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001995

Ich kann Ihnen die Kosten nicht beziffern. Ich bin aber gerne bereit, mich entsprechend zu informieren. Wir sind da auf Angaben der chemischen Industrie angewiesen; das werden Sie verstehen. Ich bin aber gerne bereit, Ihnen hierzu noch einmal Auskunft zu geben.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Weitere Zusatzfrage.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Hat es bei der Festlegung dieser neuen Verwaltungsvorschriften Unterteilungen - alte Bundesländer und Beitrittsgebiet - gegeben, gibt es hier also unterschiedliche Grenzwerte?

Bernd Schmidbauer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001995

Hier gibt es keine unterschiedlichen Grenzwerte. Aber es gibt unterschiedliche Anpassungszeiten, innerhalb derer diese Vorschriften realisiert werden müssen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Weitere Zusatzfragen zu dieser Frage aus dem Hause? - Das ist nicht der Fall. Dann rufe ich die Frage 60 der Abgeordneten Marion Caspers-Merk auf: Für welche Stoffe müßte aus Gründen des Gewässerschutzes eine „Null-Emission" angestrebt werden, und welche Gründe stehen entsprechenden Anforderungsvorschriften, z. B. für Cadmium und Quecksilber, entgegen? Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Bernd Schmidbauer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001995

Frau Caspers-Merk, § 7 a des Wasserhaushaltsgesetzes bietet die Rechtsgrundlage für Anforderungen, mit denen der Eintrag von gefährlichen Stoffen im Hinblick auf § 3 a WHG in Gewässer nach dem Stand der Technik begrenzt werden kann. Der Stand der Technik kann dabei auch die Null-Emission bedeuten. An dieser Stelle will ich darauf hinweisen, daß der Begriff Null-Emission strenggenommen kein wissenschaftlicher Begriff ist. Bei ubiquitärer Verbreitung ist Null-Emission gleich ubiquitärer Verbreitung oder, wenn Sie wollen, bei Nachweisgrenze wäre Null-Emission gleich Nachweisgrenze. Der Begriff Null-Emission taucht derzeit in verschiedenen Bundesländern auf, wenn über den Vollzug von § 7 a und anderen Paragraphen des Wasserhaushaltsgesetzes diskutiert wird. Bei Forderungen nach Null-Emission ist stets die Frage zu prüfen, ob dies nicht zu anderen Belastungen der Umwelt führen kann, z. B. dadurch, daß andere Produktionsverfahren eingesetzt werden, die verstärkt die Luft belasten oder mit einem sehr hohen, umweltbelastenden Energieverbrauch verbunden sind. Hinsichtlich der angesprochenen Schwermetalle Quecksilber und Cadmium haben die Anstrengungen vor allem im Abwasserbereich zu nachhaltigen Erfolgen geführt. Am Rhein beispielsweise lagen die Konzentrationen für diese Schwermetalle heute unter der Bestimmungsgrenze.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zusatzfrage, Frau Kollegin.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wie stellt sich die Bundesregierung zu dem Vorhaben des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, wo diese Null-Emissionen für Abwasser, besonders für gefährliche Stoffe, vorgeschrieben werden sollen?

Bernd Schmidbauer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001995

Frau Kollegin, strenge Anforderungen zum Schutz der Gewässer, was das ja bedeutet, enthalten die Nachfolger des § 19 g des Wasserhaushaltsgesetzes. In verschiedenen Bundesländern werden die Maßnahmen auf den Weg gebracht, die die Grundlage in § 19g WHG haben.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Weitere Zusatzfragen? - Das ist nicht der Fall. Dann rufe ich Frage 61 der Abgeordneten Ulrike Mehl auf : Welche Maßnahmen wurden zum Schutz der insgesamt 27 gemeldeten Gebiete der Ramsar-Konvention getroffen, und in welchem biologischen Zustand befinden sich die Gebiete?

Bernd Schmidbauer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001995

Frau Kollegin Mehl, Maßnahmen zum Schutz der Feuchtgebiete internationaler Bedeutung obliegen ausschließlich den jeweiligen Bundesländern. Die zuständigen Naturschutzbehörden der Länder können eine Unterschutzstellung des Gebietes bzw. von Teilgebieten entsprechend dem jeweiligen Landesnaturschutzgesetz herbeiführen, z. B. die Ausweisung als Naturschutzgebiet. Ebenso unterliegt die Betreuung der Feuchtgebiete internationaler Bedeutung den Bundesländern. Ein aktueller Zustandsbericht müßte deshalb bei den Ländern erbeten werden. Die letzte vollständige Dokumentation des Zustandes aller Feuchtgebiete internationaler Bedeutung in der Bundesrepublik Deutschland erfolgte 1984 ({0}). Jüngste Entwicklungen in den Feuchtgebieten internationaler Bedeutung können dem nationalen Bericht der Bundesrepublik Deutschland zur Vierten Vertragsstaatenkonferenz des Übereinkommens über Feuchtgebiete internationaler Bedeutung - RamsarÜbereinkommen - in Montreux vom 27. Juni bis zum 4. Juli 1990 entnommen werden. Ergänzend darf ich Sie noch darauf hinweisen, daß wir entgegen der Formulierung in Ihrer Frage - dort gehen Sie von insgesamt 27 gemeldeten Gebieten aus; wir hatten das bereits besprochen - heute insgesamt 29 Gebiete haben; das sind die 19, die Ihnen bekannt sind, und zusätzlich zwei andere, das Hamburger Wattenmeer und der Lampertheimer Altrhein. So sind es inzwischen 21 Gebiete in den alten Bundesländern. In den fünf neuen Bundesländern sind es ingesamt acht, so daß sich zusammen 29 Feuchtgebiete von internationaler Bedeutung ergeb en.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Mehl, Sie haben eine Zusatzfrage.

Ulrike Mehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001454, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gibt es in der ehemaligen DDR über die von Ihnen eben genannten acht gemeldeten Gebiete hinaus weitere Gebiete, und ist beabsichtigt, das in den fünf neuen Ländern abzufragen, um es dann dem Sekretariat des Ramsar-Büros zu melden?

Bernd Schmidbauer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001995

Ja, Frau Kollegin Mehl, die Shadow list enthält für das Gebiet der ehemaligen DDR 20 potentielle Feuchtgebiete internationaler Bedeutung. Die Beantragung der Aufnahme dieser Gebiete in die Liste Feuchtgebiete internationaler Bedeutung und der Schutz dieser Gebiete liegen dort jetzt auch in der Zuständigkeit des jeweiligen Bundeslandes. Anträge liegen zur Zeit nicht vor. Wir sind gern bereit - wie dies in allen anderen Fällen geschehen ist - , diese dann an das Sekretariat des Ramsar-Büros weiterzuleiten.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Weitere Zusatzfrage?

Ulrike Mehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001454, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Hat die Bundesregierung vorgesehen, sich mit gezielten Maßnahmen und Geldmitteln an der Umsetzung der Ramsar-Konvention zum Schutz dieser Gebiete zu beteiligen?

Bernd Schmidbauer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001995

Wir werden dem jede Unterstützung im bisherigen Rahmen zuteil werden lassen. Ich sagte eingangs, die Zuständigkeit liege bei den Ländern. Das enthebt uns im Hinblick auf den Naturschutz aber nicht der Verpflichtung, hier unseren ureigensten Beitrag zu leisten. Dies wird so geschehen, wie dies auch in der Vergangenheit der Fall gewesen ist.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Gibt es weitere Zusatzfragen? - Das ist nicht der Fall. Dann rufe ich die Frage Nr. 62 der Kollegin Ulrike Mehl auf: Beabsichtigt die Bundesregierung, die zehn weiteren, auf dem Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland, festgestellten schutzwürdigen Gebiete nach der Ramsar-Konvention dem Sekretariat des Ramsarbüros zu benennen und mit dem notwendigen Schutzstatus auszustatten?

Bernd Schmidbauer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001995

Herr Präsident! Frau Kollegin! Ich haben eben im Zuge der Beantwortung der Frage 61 die Frage 62 unbeabsichtigt mitbeantwortet. Ich ging davon aus, daß sich die Fragestellung auf die fünf neuen Bundesländer bezog und nicht auf die alten Bundesländer in der Bundesrepublik Deutschland. Ich hatte ausgeführt, daß hier entsprechende Anträge nicht vorliegen, daß wir zusätzlich weitere Vorhaben in der Shadow list haben. Sollte sich die Frage auf die Bundesrepublik Deutschland ({0}) beziehen, bin ich gern bereit, auf Zusatzfragen einzugehen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zusatzfrage.

Ulrike Mehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001454, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie bezog sich auf die alte Bundesrepublik. Ich weiß aus einer Veröffentlichung, daß zehn Gebiete, die eigentlich unter den Schutz der Ramsar-Konvention fallen konnten, genannt worden waren, aber eben nicht gemeldet worden waren. Sie hatten eben gesagt, daß jetzt offensichtlich einige davon unter diesen Schutz fallen, andere aber nicht. Was geschieht mit den anderen Gebieten?

Bernd Schmidbauer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001995

Wenn Sie die Frage auf die alten Bundesländer beziehen, dann ist es in der Tat richtig, daß die von mir zitierte Shadow list zusätzlich weitere 79 Feuchtgebiete enthält. Das Verfahren ist ähnlich dem Verfahren, das ich eben beschrieben hatte: Die zuständigen Länder müssen um entsprechende Aufnahme der Gebiete bitten, und dann wird genau so verfahren, wie es die Konvention vorsieht. Der BMU leitet den Antrag nach fachlicher Überprüfung an das internationale Ramsar-Büro weiter. Die Entscheidung darüber, ob weitere der in der Shadow list genannten Gebiete als Feuchtgebiete internationaler Bedeutung zur Anmeldung gelangen, liegt - wie ich schon mehrfach ausführte - bei den Ländern.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zweite Zusatzfrage.

Ulrike Mehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001454, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Über die finanzielle Situation der fünf neuen Länder brauchen wir uns hier nicht zu unterhalten. Deswegen gleich meine Frage: Werden die fünf neuen Länder in diesem Punkt in ihren Schutzbemühungen von der Bundesregierung unterstützt - dies vor allen Dingen im finanziellen Bereich - , um auch wirklich eine Unterschutzstellung der Gebiete sicherzustellen?

Bernd Schmidbauer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001995

Daß sie unterstützt werden, halte ich für selbstverständlich. Inwieweit die finanzielle Unterstützung möglich ist, wird derzeit geprüft. Sie wissen, daß wir im Rahmen des ökologischen Aufbaus in den neuen fünf Bundesländern streng nach einer gewissen Priorität vorgehen müssen. Die Mittel werden in erster Linie dort eingesetzt, wo Gesundheitsschäden zu erwarten sind, toxische Belastungen sehr hoch sind. Im Rahmen des Möglichen wird auch hier von einer Betreuung unseres Hauses auszugehen sein.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Keine weiteren Zusatzfragen zu Frage 62? Dann rufe ich Frage 63 des Kollegen Arne Fuhrmann auf: Welche Informationen liegen der Bundesregierung über Sondermüllimporte aus der damaligen Bundesrepublik und anderen Ländern vor, mit denen sich Firmen wie z. B. KoKo und Intrag o. a., die dem ehemaligen Stasi-Oberst Schalck-Golodkowski unterstanden, befaßt haben? Herr Staatssekretär, ich bitte um Ihre Beantwortung.

Bernd Schmidbauer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001995

Herr Kollege Fuhrmann, sowohl aus den bisherigen Ländern der Bundesrepublik Deutschland, einschließlich Berlin ({0}), als auch aus dem Ausland wurden in der Vergangenheit erhebliche Mengen von Abfällen, darunter auch Sonderabfälle, in die damalige DDR verbracht. Die Bundesregierung war und ist weder für die Genehmigung von Abfallexporten noch für Abfallimporte zuständig. Nach den der Bundesregierung vorliegenden Erkenntnissen wurden Sonderabfälle im weiteren Sinne aus dem Gebiet der bisherigen Länder der Bundesrepublik Deutschland und aus dem Ausland auf die Deponien Schönberg und Sonderabfälle im weiteren Sinne aus Berlin ({1}) auf die Deponien Vorketzin und Schöneiche im Raum Potsdam verbracht. Nach Meldungen der zuständigen Länder wurden im Jahr 1989 insgesamt 651 000 Tonnen Sonderabfälle im weiteren Sinne aus den Ländern der Bundesrepublik Deutschland, einschließlich Berlin ({2}), auf Deponien der damaligen DDR verbracht. Hiervon wurden rund 620 000 Tonnen auf der Deponie Schönberg abgelagert. Über Einfuhren aus dem Ausland zur Deponie Schönberg liegen folgende Zahlen über Abfallverbringung insgesamt, nicht ausschließlich Sonderabfälle, aus dem Jahre 1989 vor: aus den Niederlanden 88 920 Tonnen, aus der Schweiz 3 867 Tonnen, aus Österreich 27 682 Tonnen. Abfallimporte zur Deponie Schöneiche wurden im Januar 1990 auf Beschluß des damaligen Ministerrats der DDR beendet. Die Genehmigung zur Ablagerung von Sonderabfällen auf der Deponie Vorketzin wurde mit Wirkung vom 16. Februar 1990 zurückgezogen. Nach Erkenntnissen der Bundesregierung wurden die Abfallimporte seit 1980 über die Intrak Handelsgesellschaft mbH abgewickelt. Die Intrak unterstand neben zahlreichen anderen Firmen dem Bereich „Kommerzielle Koordinierung" , also der KoKo, der sich mit Außenhandelsgeschäften auf unterschiedlichsten Gebieten befaßte. Der Bereich KoKo war ein nahezu selbständiger Bereich im Ministerium für Außenhandel der DDR. Sein Leiter war der damalige Staatssekretär Schalck-Golodkowski. Die Genehmigung der einzelnen Importanträge erfolgte durch eine Kontrollgruppe im damaligen Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft unter Beteiligung der Bezirksverwaltungsbehörden, in deren Verantwortungsbereich die jeweilige zur Ablagerung bestimmte Deponie lag.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Fuhrmann, eine Zusatzfrage.

Arne Fuhrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000619, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, in welcher Form wird sich die Bundesregierung für die Beseitigung der ökologischen Schäden einsetzen, die durch diese Firmen speziell in den Jahren 1980 bis 1989 verursacht worden sind?

Bernd Schmidbauer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001995

Ich sagte vorhin in der Beantwortung einer anderen Frage, daß einer der Schwerpunkte darin liegt, die Deponien analytisch zu erfassen. Wir wissen heute, daß alles wesentlich schwieriger ist, als es noch vor wenigen Wochen und Monaten ausgesehen hat. Je stärker wir in die Analyse dieser Deponien eintreten, desto gewichtiger wird das Argument, daß sehr rasch mit der Sanierung dort begonnen werden muß, wo Schäden für die Gesundheit der Bevölkerung zu erwarten sind, wo hohe toxische Belastungen der Schadstoffklassen I und II vorliegen. Dies wird uns mit Sicherheit für einen großen Zeitraum in Anspruch nehmen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Fuhrmann, die zweite Zusatzfrage.

Arne Fuhrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000619, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, was tut die Bundesregierung, um ähnlichen, nur auf Gewinn orientierten Firmen zu verbieten oder sie zumindest daran zu hindern, daß wieder unüberwachte Dinge passieren?

Bernd Schmidbauer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001995

Ich halte es nach unserem System, das wir derzeit realisieren, für unmöglich, daß es zu den Zuständen kommt, wie ich sie hier nur andeutungsweise beschrieben habe.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zusatzfrage des Abgeordneten Hiller.

Reinhold Hiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000901, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wie erklärt sich die Tatsache, daß die Bundesregierung früher den Giftmüllexport auf die Mülldeponie Schönberg verurteilt hat und heute zusehen muß, wie die Landesregierung von Mecklenburg hier die größte Giftmülldeponie Europas errichtet?

Bernd Schmidbauer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001995

Ich kann das, was Sie in der Frage unterstellen, nicht nachvollziehen. Vielmehr war Schönberg eine Deponie, auf die einigermaßen kontrolliert Müll verbracht wurde und die insgesamt eine der Möglichkeiten darstellte, um Abfälle abzulagern. Nur, heute hat uns dieses Problem eingeholt. Im übrigen wurde in diesem Hause, dieser Problematik entsprechend, mehrfach auf diesen Umstand hingewiesen. Wir haben jetzt in der Tat die Frage zu beantworten: Wie wird dies alles dort, wo es notwendig ist, saniert? Es gibt aber auch zwei Deponien, die kontrolliert waren und bei denen eine nicht so große Priorität wie bei den über 12 000 vorhandenen Altlastenflächen in den fünf neuen Bundesländern gegeben ist. Die Sanierung wird eine der Aufgaben sein, bei denen sich Bund und Länder gemeinsam überlegen, nach welchen Strategien hier saniert werden kann.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Wenn keine weiteren Zusatzfragen zur Frage 63 gestellt werden, dann, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, danke ich Ihnen für die Beantwortung der Fragen. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf. Zur Beantwortung der Fragen ist die Bundesministerin Frau Dr. Adam-Schwaetzer selbst gekommen. Die Fragen 64 und 65 des Abgeordneten Peter Conradi sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich bitte Sie um die Beantwortung der Frage 66 des Abgeordneten Achim Großmann: Welcher Aufgabenzuwachs hat es erforderlich gemacht, die Zahl der Staatssekretäre im Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu verdoppeln? ({0})

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Abgeordneter, normalerweise geht man ja nicht auf Zwischenrufe ein. Aber für die Führung des Hauses ist die Ministerin schon selber zuständig. Deswegen ziehe ich es vor, diese Fragen selbst zu beantworten. Herr Abgeordneter, zu Ihrer Frage 66: Schon die Fragestellung zeigt, daß Sie die vielfältigen Aufgaben vor allem im Wohnungsbau der Bundesrepublik Deutschland West und Ost offensichtlich immer noch unterschätzen. Der Beitritt der neuen Länder hat uns in der Wohnungsbau-, Städtebau- und Raumordnungspolitik vor große zusätzliche Aufgaben gestellt. Zu deren Lösung hat die Bundesregierung erhebliche Finanzhilfen bereitgestellt. So stehen allein aus dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost für die Jahre 1991 und 1992 je 1,1 Milliarden DM für Maßnahmen der Wohnungs- und Städtebauförderung zur Verfügung. Dies zeigt, daß die Bundesregierung größte Anstrengungen unternimmt, um die vielfältigen Probleme mit allen ihr zur Verfügung stehenden Kräften zu lösen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Großmann, eine Zusatzfrage.

Achim Großmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000735, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mich wundert, daß dieser Aufgabenzuwachs erst im Februar dieses Jahres von der Bundesregierung bemerkt worden ist. Von daher habe ich folgende Frage: Wenn dem wirklich so ist, daß der Aufgabenzuwachs so immens war, hätte man da nicht am 3. Oktober reagieren müssen?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Abgeordneter, es freut mich, daß Sie bemerkt haben, daß der Beitritt am 3. Oktober stattgefunden hat. Sie werden sich erinnern, daß kurz danach, am 2. Dezember, die Bundestagswahl stattfand. Sie werden sich ebenfalls erinnern, daß mit dem Zusammentritt dieser Bundesregierung die Neubestimmung der Aufgaben, auch der zusätzlichen Aufgaben, erfolgt ist.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Großmann, eine weitere Frage? - Nein. Dann folgt Herr Reschke.

Otto Reschke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Ministerin, Sie haben freundlicherweise darauf hingewiesen, daß sich durch die fünf neuen Bundesländer die Aufgaben ihres Ministeriums wesentlich vergrößert haben. War Ihnen nicht bekannt, daß wir schon vor dem 2. Dezember ein Defizit an Wohnungen von 1,5 Millionen hatten und daß jetzt durch die fünf neuen Bundesländer ein Fehlbestand von rund 500 000 oder 600 000 fehlenden Wohnungen hinzugekommen ist? Wie erklärt sich dann die geringe Zunahme der Zahl der Staatssekretäre?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Abgeordneter, uns ist sehr wohl bewußt, daß auch im Westen beim Wohnungsbau erhebliche Aufgaben in dieser Legislaturperiode zu leisten sind. Da Sie der Meinung sind, daß eine weitere Personalaufstockung im Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau notwendig ist, wären wir sehr dankbar, wenn Sie dies im Haushaltsverfahren beantragten. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Ministerin, ich rufe die Frage 67 des Abgeordneten Achim Großmann auf: Ist es vorgesehen, die Zahl der Staatssekretäre nach Aufgabenerledigung wieder zu reduzieren, und wann soll dies geschehen?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Abgeordneter, diese Frage ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht relevant.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Abgeordneter, wollen Sie da nachfragen?

Achim Großmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000735, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich glaube, es ist für den Steuerzahler schon sehr relevant, dies zu wissen; deswegen kleide ich es in Frageform. Wann wird denn dieser Personalaufbau - es bleibt ja nicht nur bei den Staatssekretären, wie die nach meiner Frage zu beantwortenden Fragen noch zeigen werden - wieder abgebaut werden?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Abgeordneter, ich habe meiner ersten Antwort nichts hinzuzufügen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Sind weitere Zusatzfragen zur Frage 67 gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann rufe ich die Frage 68 des Abgeordneten Dieter Maaß auf: Sind in dem gerade renovierten Amtssitz des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Umbaumaßnahmen durch die Verdoppelung der Zahl der Staatssekretäre erforderlich geworden? Frau Bundesminister, Sie haben das Wort.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Präsident, ich würde Frage 68 und 69 gerne im Zusammenhang beantworten.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Maaß, sind Sie damit einverstanden?

Dieter Maaß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001401, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Dann rufe ich zusätzlich die Frage 69 des Abgeordneten Maaß auf: Wie groß ist der finanzielle Aufwand für diese Maßnahmen?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Abgeordneter, alle Staatssekretäre haben Büros in der Nähe des Ministerbüros. Damit können die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen kostensparend durchgeführt werden. Hierfür waren einige bauliche Veränderungen notwendig, deren Kosten sich auf etwa 25 000 DM belaufen werden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege, eine Zusatzfrage.

Dieter Maaß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001401, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Ministerin, mußten diese zusätzlichen Aufgaben unbedingt von Staatssekretären erledigt werden?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Abgeordneter, Sie wissen vermutlich, daß es in der Aufgabenzuordnung von Abteilungsleitern und Staatssekretären, von Referenten und Referatsleitern Unterschiede gibt.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Weitere Zusatzfrage.

Dieter Maaß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001401, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ist bei dieser Ausweitung solcher Spitzenpositionen die Koordinierung der Aufgaben gewährleistet, damit eine Überbürokratisierung ausgeschlossen ist?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Abgeordneter, durch die Zuordnung in der Nähe des Ministerbüros sind kurze Wege angesagt. Ich beantworte deshalb Ihre Frage uneingeschränkt mit Ja.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Maaß, Sie haben, weil Ihre beiden Fragen gemeinsam beantwortet werden, insgesamt vier Zusatzfragen. - Weitere Zusatzfrage.

Dieter Maaß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001401, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Erwartet die Bundesregierung, daß sich die Zahl der Staatssekretäre in den 16 Bundesländern ebenfalls erhöht, weil sich der Aufgabenbereich, wie Sie dargestellt haben, erweitert?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Abgeordneter, für die Personalentscheidungen der Landesregierungen ist die Bundesregierung nicht zuständig. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Sie können noch eine vierte Zusatzfrage stellen.

Dieter Maaß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001401, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich verzichte.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Reschke, eine Zusatzfrage.

Otto Reschke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da die Staatssekretäre eine Monatszuständigkeit haben, habe ich eben dazwischengerufen: Ich staune, daß die Ministerin hier ist. Wir hätten normalerweise den „Günther" -Monat im Parlament.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Verzeihung, Herr Reschke, die Fragestunde heißt Fragestunde, weil in der Fragestunde Fragen gestellt werden.

Otto Reschke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich tue das auch. - Ich wollte von der Frau Ministerin nur gerne wissen, ob auch die Sachbearbeiter eine Monatszuständigkeit haben und ob der Job dementsprechend aufgeteilt ist.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Reschke, Sie greifen mit Ihrer Frage etwas vor. Wenn Sie die Fragen Ihrer Kollegen, die von Ihrem Fraktionsreferenten zweifellos alle gemeinsam entworfen worden sind, ({0}) im vorhinein studiert hätten, wüßten Sie, daß ich dazu noch ausführlich Stellung nehmen werde.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Gibt es zu dieser Frage weitere Zusatzfragen? - Das ist nicht der Fall. Vizepräsident Hans Klein Dann rufe ich die Frage 70 des Abgeordneten Walter Rempe auf: Wie viele Beschäftigte gibt es pro Staatssekretär im Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau und im nachgeordneten Bereich dieses Ministeriums, und wie sind die Vergleichszahlen für das Bundesministerium der Verteidigung? Frau Bundesministerin, Sie haben das Wort.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Abgeordneter, da sich die Bedeutung der Arbeit eines beamteten Staatssekretärs nicht nach denen von Ihnen erwähnten Kriterien bemißt, kann Ihre Frage nicht beantwortet werden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Rempe, eine Zusatzfrage.

Walter Rempe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001819, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Stimmen Sie mir zu, daß die Zahl der Staatssekretäre eigentlich doch nur zeigt, welch hohe Bedeutung die Bundesregierung den wohnungsbaupolitischen Problemen zuweist?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Darauf wies ich in der Tat bei der Beantwortung der ersten Frage hin.

Walter Rempe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001819, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Hat das „nur" ausschließende Bedeutung, oder welche Bedeutung hat das „nur"?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Abgeordneter, ich bin nicht der Meinung, daß eine Fragestunde für semantische Übungen da ist.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich rufe die Frage 71, ebenfalls des Kollegen Walter Rempe, auf: Wie hat sich die Zahl der im Leitungsbereich des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau und den in Staatssekretärsbüros Beschäftigten von 1988 bis zum heutigen Tage entwickelt?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Abgeordneter, mit der Ausnahme der für Staatssekretäre allgemein notwendigen Mitarbeiter hat es seit 1988 im Leitungsbereich keine Personalverstärkung gegeben. ({0}) Walter Rempe ({1}): Ich bedanke mich.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Rempe, Sie haben keine weitere Zusatzfrage?

Walter Rempe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001819, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe keine mehr.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Dann schaffen wir es, Frau Bundesministerin, wollen wir in der Zeit bleiben, noch eine Frage zu behandeln. Ich rufe die Frage 72 des Kollegen Franz Müntefering auf: Trifft es zu, daß die Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau die beiden Parlamentarischen ihrer insgesamt vier Staatssekretäre veranlaßt hat, sich ihre Aufgaben in der Fragestunde des Deutschen Bundestages im Sinne des jobsharings monatlich ({0}) wechselweise zu teilen, und welche Konsequenzen hat dies für die Bezahlung der Staatssekretäre?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Abgeordneter, Ihre Vermutung trifft nicht zu. Die Parlamentarischen Staatssekretäre unterstützen die Ministerin bei der Erfüllung ihrer Regierungsaufgaben. Dazu gehören eine Fülle unterschiedlicher Verpflichtungen in den parlamentarischen Gremien, in der Bundesregierung, im Bundesbauministerium, in Fachgremien und in der Öffentlichkeit. Eine Organisationsverfügung, wie die von Ihnen angeführte, erleichtert in diesem Zusammenhang die Planung und erhöht die Effektivität der Aufgabenerfüllung. ({0})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Ministerin, wie sind denn in den anderen Bundsministerien mit zwei Parlamentarischen Staatssekretären die Arbeitsgebiete aufgeteilt? Wird auch dort die Möglichkeit des Jobsharings genutzt?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Abgeordneter, zu dem ersten Teil Ihrer Frage müßte ich Sie an die anderen Bundesministerien verweisen, da bei uns im Hause, wie ich eben ausgeführt habe, das von Ihnen unterstellte Modell nicht angewendet wird. Das habe ich eben ausführlich erläutert. Ich denke, Sie haben zugehört. Der zweite Teil Ihrer Frage trifft nicht zu.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Weitere Zusatzfrage? - Keine. Dann zu einer weiteren Frage der Herr Abgeordnete Sperling.

Dr. Dietrich Sperling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Ministerin, welchen der Parlamentarischen Staatssekretäre ersetzen Sie denn in dieser Stunde, und wäre es im nächsten Monat ein anderer? ({0})

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Abgeordneter, ich habe gleich zu Beginn dieser Fragestunde ausgeführt, daß für die Führung des Hauses die Ministerin zuständig ist. Sie sind länger im Parlament als ich. Sie müßten also wissen, daß in dem Gesetz über die Parlamentarischen Staatssekretäre ausdrücklich aufgeführt ist, daß die Parlamentarischen Staatssekretäre die Ministerin bei der Erfüllung ihrer Regierungsaufgaben unterstützen.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Großmann.

Achim Großmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000735, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Man kann leicht auszählen und feststellen, daß die beiden Staatssekretäre, weil sie auf Fragen im Parlament nur monatsweise zu antworten brauchen, ganz unterschiedliche Belastungen haben. So muß z. B. in den Monaten März bis Juni vor der Sommerpause der eine in drei Wochen, der andere aber sogar in fünf Sitzungswochen Rede und Antwort stehen. Wie verträgt sich das mit der Verteilung der Arbeit im Ministerium?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Abgeordneter, vielleicht ist es Ihrer Aufmerksamkeit bisher entgangen, daß Regierungsmitglieder auch außerhalb des Parlaments noch einige Aufgaben zu erfüllen haben. ({0}) Ich habe bereits ausführt, daß die Parlamentarischen Staatssekretäre die Ministerin bei allen Aufgaben unterstützen, nicht nur bei den parlamentarischen Aufgaben.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Die letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Reschke.

Otto Reschke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Ministerin, ich mache mir ein klein wenig Sorgen um Ihre - gestatten Sie mir, das zu sagen - vier Leute im Ministerium. ({0}) Die Frage ist: Haben Sie denn auch darauf geachtet, daß die Ferienzeiten und die parlamentsfreie Zeit zwischen den Parlamentarischen Staatssekretären auch genau verteilt sind? Je nach Neumond und Osterzeit sehe ich eine ganz wesentliche Benachteiligung des Herrn Staatssekretärs Günther.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Abgeordneter, ich würde Sie bitten, die Antwort auf die letzte Zusatzfrage Ihres Kollegen Großmann nachzulesen. Ich darf Sie auch darauf aufmerksam machen, daß Ihrer Aufmerksamkeit bisher vielleicht entgangen sein könnte, daß eine Bundesregierung auch noch andere Aufgaben hat, als im Parlament Rede und Antwort zu stehen.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nachdem die Regierungskoalition bisher keine Zusatzfragen hatte, lasse ich jetzt die wirklich letzte Zusatzfrage zu diesem Thema zu. ({0})

Uwe Bernd Lühr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001392, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Ministerin, würden Sie mir recht geben, daß die Probleme, die im Moment auf dem Wohnungsbausektor in beiden Teilen Deutschlands herrschen, es eigentlich nicht rechtfertigen, daß hier so ein Kindergartenspiel stattfindet, das Sie von Ihrer Arbeit abhält? ({0})

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Bei allem Respekt vor der Opposition dieses Hauses: Herr Abgeordneter, ich stimme Ihnen aus vollem Herzen zu.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Meine Herren und Damen, damit ist die Fragestunde beendet. *) *) Die nicht aufgerufenen Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 1 auf: Aktuelle Stunde Haltung der Bundesregierung zur sozialen Lage der Menschen in den fünf neuen Bundesländern Zu dieser Aktuellen Stunde, die von der Fraktion der SPD gemäß unserer Geschäftsordnung verlangt wurde, hat als erster Herr Abgeordneter Gunter Weißgerber das Wort.

Gunter Weißgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002464, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Abgeordnete! Es ist doch nicht zu fassen: Da gibt es Demonstrationen in Ostdeutschland, und die Bundesregierung findet nicht einmal einen Grund, darüber zu beraten. Weiterhin ist es für mich schwer zu fassen, daß, wenn es schon um diese Problematik geht, dieser Kanzler, der mir im letzten Jahr des öfteren wie ein Elefant vorkam, heute nicht vertreten ist. ({0})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Meine Damen und Herren, darf ich Sie darum bitten, daß auf der Regierungsbank jetzt ein bißchen mehr Aufmerksamkeit herrscht. ({0})

Gunter Weißgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002464, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zu Ihrer Information, warum gerade ich so spreche: Ich gehöre zu den Leuten, die in Leipzig im Herbst 1989 und im Frühjahr 1990 jeden Montag auf dem Balkon der Leipziger Oper gesprochen haben. Wir haben also im Prinzip den Platz für den 14. März 1990 freigekämpft, als auch Herr Kohl dort gesprochen hat. Dieser Mann war mitverantwortlich dafür, daß die Aktionseinheit gegen die damalige SED zerbrochen wurde, und zwar durch die Gründung dieser simplen Allianz, die natürlich erfolgreich war; das muß man sagen. ({0}) Ich sprach übrigens am letzten Montag auf dieser Demonstration in Leipzig. Ich möchte Herrn Kohl - er ist noch nicht hier - bzw. seine Vertreter gleich vorwarnen: Wenn er nach Ostern kommt, dann braucht er nicht zu sagen, daß es gut sei, daß wir die Einheit hätten - das habe ich bereits getan - , denn dadurch sind wir sicher vor eventuellen Entwicklungen im Osten; das ist richtig. Aber ich habe von den 70 000 Leuten keinen Beifall erhalten, denn das wissen sie nämlich. Sie sind wegen ganz anderer Dinge nach Leipzig auf den Augustusplatz gekommen, nämlich auf Grund der nicht eingehaltenen Versprechen, die getätigt wurden. Ich selbst war ja Mitglied der Volkskammer. Ich höre das noch sehr deutlich. Es wurde uns ja förmlich um die Ohren geschlagen: Es wird keinem schlechtergehen etc. - Auf Grund dieser Enttäuschungen sind die Menschen gekommen, auf Grund des Mißbrauchs von Vertrauen. Vertrauen ist nicht hoch genug einzuschätzen, denke ich. Das hat Willy Brandt anders gemacht. Er hat nicht zuviel versprochen. Er sprach von „Zusammenwachsen"; in dem Wort „Zusammenwachsen" ist dies alles auch enthalten. Aber er hat nicht zuviel versprochen. Damit ist die Regierung natürlich auch für die jetzt leider wieder wachsende Mauer in den Köpfen der Menschen verantwortlich, denn die Realitäten sind ja nun doch anders: Die Zahl der Kurzarbeiter beträgt 3 Millionen. Die Preise im Osten sind höher, die Einkommen sind niedriger als im Westen. Wir in Leipzig haben den Eindruck: Das Stimmvieh hat seine Schuldigkeit getan und kann jetzt bleiben, wo es ist. Es ist auch nicht mehr die Zeit der historischen Tränen. Das politische Tagwerk ist angesagt. Im übrigen ist Herr Kohl mir zu Dank verpflichtet: Für ihn ließ ich mich am Montag auspfeifen. Ich sagte nämlich wörtlich: Kohl muß nicht weg, aber er muß in die politische Pflicht gezwungen werden. ({1}) Dafür erntete ich allerhand Pfiffe. Nun habe ich dies nicht gesagt, weil ich ein Freund von Herrn Kohl bin, sondern ich habe ganz einfach keine Lust, unseren Menschen schon wieder Neuwahlen zuzumuten. Das letzte Jahr war anstrengend genug. Natürlich ist der Anspruch gerecht, wenn man davon spricht, Neuwahlen seien angezeigt, weil der erschwindelte Wählerauftrag zurückgegeben werden müsse, denn erschwindelt wurde er ja. Wo sind denn die Strukturentwicklungsprogramme für Ostdeutschland? Es war vorher bekannt, was alles kaputtgehen würde: Metallurgie, Braunkohle; das alles war bekannt. Und jetzt kommen Sie mit der Ausrede, am 14. Oktober hätte gewählt werden müssen. Das ist nicht einzusehen. Das alles war vorher bekannt. Hier hätte schon längst mit der Arbeit begonnen werden müssen. ({2}) Ich sagte zu den Menschen in Leipzig auch: Aus der Schließungsanstalt muß eine Treuhandanstalt werden, in der Sanieren vor Schließen geht. Im übrigen stimme ich der FDP-Forderung zu, daß die Mitarbeiter der Treuhand aus hygienischen Gründen auf StasiVerdacht kontrolliert werden sollten. ({3}) Ich sagte noch etwas: Bevor alle Ostdeutschen nach Westdeutschland auswandern, kommen die Sachsen nach Bonn und zeigen, daß sie gelernt haben, daß sie noch die Erfahrung besitzen, daß mit Demonstrieren und eigener Kraft auch sehr viel zu erreichen ist. ({4}) Weiter geht es darum, die Ost-Märkte zu stützen, statt die Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Des weiteren, denke ich, wäre es recht anständig - ich habe jedenfalls zu Hause gelernt, daß man sich auch entschuldigen muß - , wenn sich Herr Kohl und Herr Waigel bei Regine Hildebrandt und Walter Romberg endlich entschuldigen würden. ({5}) Es ist eine Frage des Anstandes, mehr nicht. ({6}) Ich muß leider immer wieder auf dem Thema Steuererhöhungen herumreiten; es tut mir leid. Bei den Kommunisten wußten wir: Das Gegenteil von dem, was die sagen, könnte stimmen. - Die Bevölkerung in Ostdeutschland ist jetzt in ihrem Erkenntnisprozeß noch nicht soweit: Sie wissen nicht, ob nun das Gegenteil stimmt oder ob etwas davon stimmt. ({7}) - Ich überlege mir das. Ich habe es doch erlebt. Was haben Sie denn gesagt? ({8}) - Ich bitte Sie! Es wird sicherlich noch ein Argument zu diesen Demonstrationen kommen.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Abgeordneter, kommen Sie bitte zum Schluß. In einer Aktuellen Stunde ist das notwendig.

Gunter Weißgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002464, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. - Bei diesen Demonstrationen sind natürlich auch Trittbrettfahrer anwesend; das ist ganz klar. Die Verlierer der politischen Wende gibt es noch; sie sind nicht ausgewandert. Aber hüten Sie sich davor, die Demonstrationen dadurch zu verunglimpfen, indem Sie sagen, sie seien eventuell unterwandert. Danke schön. ({0})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort zur Geschäftsordnung hat Herr Abgeordneter Müntefering.

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir finden es ungeheuerlich, mit welcher Laxheit die Bundesregierung sich dem Thema in dieser Aktuellen Stunde stellt. ({0}) Wir diskutieren hier über das zentrale Thema, das im Augenblick bei uns in Ost und West die Menschen bewegt. Aber der Chef des Wirtschaftsministeriums ist nicht hier, sein Vertreter ist nicht hier; der Chef des Finanzministeriums ist nicht hier, sein Vertreter ist auch nicht hier. - Entschuldigung, Herr Carstens ist anwesend. Es ist aber kein Vertreter des Wirtschaftsministeriums hier. ({1}) Wir beantragen nach § 42 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages die Herbeirufung des Wirtschaftsministers oder eines seiner Staatssekre1116 täre in diese Aktuelle Stunde, weil sie sich dieser Diskussion hier stellen müssen. ({2}) Es geht zentral um die Frage der Arbeitsplätze, und da sind natürlich auch der Wirtschaftsminister und sein Haus gefordert. Es möge also der Wirtschaftsminister oder einer seiner Staatssekretäre hier erscheinen. ({3})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort zur Geschäftsordnung hat Herr Abgeordneter Bohl.

Friedrich Bohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muß ganz offen sagen, Herr Kollege Müntefering: Für die Aufregung, die Sie hier an den Tag legen, ist bei dem Sachverhalt, den ich Ihnen gleich darzulegen versuche, wirklich kein Raum. Sie haben zunächst einmal zu Beginn der Woche eine Aktuelle Stunde zu einem innenpolitischen Thema beantragt. ({0}) Dieses Thema war für gestern, also Mittwoch, für die Tagesordnung vorgesehen. ({1}) - Herr Kollege Vogel, was habe ich bisher falsch gesagt? ({2}) - Ich habe gefragt, ob ich bisher etwas falsch gesagt habe. - Ich danke Ihnen, daß Sie bestätigen, daß es richtig war. ({3}) Dann haben Sie am Dienstag Ihren Antrag auf eine Aktuelle Stunde zurückgezogen. ({4}) Sie haben eine Aktuelle Stunde zu dem heutigen Thema beantragt, und zwar für gestern, Mittwoch. ({5}) Dann haben wir uns einvernehmlich darauf verständigt, daß es aus Präsenzgründen zweckmäßiger sei - und zwar sowohl bei Ihnen als auch auf der anderen Seite des Hauses - , diese Aktuelle Stunde heute durchzuführen. Wir haben gestern abend unter den Parlamentarischen Geschäftsführern in Gegenwart von Staatsminister Pfeifer die Angelegenheit erörtert. Dabei hat Staatsminister Pfeifer vorgetragen, daß die Bundesregierung mit vier Ministern heute zu antworten gedenkt, und zwar auf Ihr Begehren hin. ({6}) - Nun hören Sie mir bitte einmal zu. Herr Staatsminister Pfeifer hat die Namen der vier Minister vorgetragen. Dabei ist der Wirtschaftsminister nicht erwähnt worden. Er war gestern bei unserer Besprechung, wenn Sie so wollen, nicht vorgesehen. Das haben Sie in dieser Besprechung nicht moniert. ({7}) - Herr Müntefering, habe ich bisher etwas falsch gesagt? Habe ich bisher einen Punkt falsch dargestellt? Ich lege nur den Sachverhalt dar. Sie haben das dort nicht moniert. ({8}) Daraufhin haben wir heute morgen mit Ihrem Geschäftsführer gesprochen. Ich habe gesagt: Wir werden, obwohl sich die Bundesregierung in dem Zeitrahmen von 30 Minuten halten wird, der ihr nach der Geschäftsordnung zusteht, der Opposition aus Gründen der Fairneß, damit auch eine Gegenrede möglich ist, einen zusätzlichen Redner einräumen, sozusagen außerhalb der Geschäftsordnung. ({9}) Das ist von Ihnen akzeptiert worden, ohne daß Sie angemahnt hätten, daß über das von uns Zugesagte hinaus noch ein Staatssekretär kommen sollte. ({10}) Eben begann dann die Aktuelle Stunde. Es wäre bis dahin auch noch möglich gewesen, uns zu sagen, daß der Wirtschaftsminister kommen sollte. ({11}) Dann wäre die Bundesregierung selbstverständlich entsprechend aktiv geworden. ({12}) - Bleiben Sie ganz ruhig. Es ist alles korrekt, was ich bisher erzählt habe. Nachdem Sie diesen Antrag gestellt haben, bin ich zur Regierungsbank gegangen und habe die Regierung gebeten, sofort im Wirtschaftsministerium anzurufen und dafür zu sorgen, daß entweder der Wirtschaftsminister in Person oder ein Staatssekretär kommt. Daraufhin hat mir die Bundesregierung gesagt, das habe sie sofort in die Wege geleitet. Nach dem, was mir signalisiert wird, ist der Wagen mit Inhalt schon auf dem Weg zum Plenarsaal. ({13}) Nun können wir ja folgendes machen: Jetzt stimmen wir hier ab, und dann werden wir zwei Minuten später den Vertreter der Bundesregierung aus dem Ressort des Wirtschaftsministers hier anwesend haben. Dann haben Sie das, was Sie ganz offensichtlich für die laufenden Kameras vorgesehen haben, abgespielt, ohne daß das irgendeinen sachlichen Inhalt hat. ({14}) Wir haben da gar keine Probleme; die Bundesregierung wird auch das Wirtschaftsressort in wenigen Minuten hier auf der Regierungsbank vertreten haben. Ich unterstelle, daß auch die Vertreter der FDP noch ihre Meinung zu dem, was ich hier vorgetragen habe, sagen, damit die Möglichkeit besteht, daß Sie ein ungeschminktes Bild von der Wahrheit haben, und dann können wir in aller Ruhe über Ihr Begehren abstimmen. ({15}) Ich darf mich bedanken, daß Sie trotz Ihrer Zwischenrufe offensichtlich bis zum Schluß die Geduld gehabt haben, mir zuzuhören. ({16}) Da nun ständig schon dieses rote Licht blinkt -

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Kollege Bohl, die fünf Minuten haben Sie schon etwas überzogen. Wenn ich Sie bitten dürfte, zum Schluß zu kommen.

Friedrich Bohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Präsidentin mahnt mich. Somit möchte ich mich gern für die geschätzte Aufmerksamkeit bedanken. ({0})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Es liegt eine weitere Wortmeldung zur Geschäftsordnung vor.

Dr. Bruno Menzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001474, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich bitte ausführen, daß sich Minister Möllemann zur Zeit in Sonneberg befindet. Er ist also unmittelbar in den neuen Bundesländern tätig. Wir haben uns aber bemüht, daß ein Staatssekretär so schnell wie möglich zur Verfügung stehen wird. ({0}) - Wir haben uns bemüht, daß so schnell wie möglich ein Staatssekretär zur Verfügung stehen wird. ({1})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung liegen nicht vor. Es ist ein Antrag auf Herbeirufung eines Mitglieds der Bundesregierung, in diesem Fall des Herrn Wirtschaftsministers oder eines seiner fünf Stellvertreter, gestellt worden. Ich darf über diesen Antrag abstimmen lassen. Wer für diesen Antrag ist, den bitte ich um sein Handzeichen. - Gegenstimmen! - Es ist einstimmig so beschlossen. Der Staatssekretär wird damit herbeigerufen. ({0}) Ich rufe dann in Fortführung unserer Aktuellen Stunde den Kollegen Heinz Rother auf.

Heinz Rother (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001892, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 40 Jahre soziale Mißwirtschaft haben das ehemalige Staatsschiff DDR auf Grund laufen lassen. CDU und CSU, die FDP stellen sich der schwierigen Aufgabe. ({0}) Wir machen die fünf neuen Länder wieder flott. ({1}) - Das Helmut Kohl persönlich entgegengebrachte Vertrauen wird nicht enttäuscht. ({2}) Wir ergehen uns allerdings nicht wie die Damen und Herren von der SPD in tagespolitischen Opportunismus. ({3}) Das Aufstacheln des Sozialneids durch einen Oskar Lafontaine ist in der gegebenen Situation fehl am Platze. ({4}) Unser Ziel ist es, eine tragfähige Grundlage für unsere neuen Bundesländer zu schaffen, eine Grundlage, die ein partnerschaftliches Zusammenwachsen von West und Ost ermöglicht. Die sozialen Konzepte der CDU/CSU sind getragen von dem Gedanken der Hilfe zur Selbsthilfe. Nur durch dieses Prinzip können wir die Kräfte der Menschen wecken. Nur mit diesem Prinzip ist eine Verbesserung der gegenwärtigen Situation zu erreichen. Aber, meine Damen und Herren, aktive Sozialpolitik zu gestalten, heißt, gerade die Alten und sozial Schwachen unter den Schutz des Staates zu stellen. Dieses Ziel ist noch nicht in ausreichendem Maß in den neuen Bundesländern erreicht. Wir sind aber auf dem Weg dorthin, bereits recht weit vorangekommen. In Anbetracht der schwierigen rechtlichen Situation erfolgt die Rechtsangleichung in zwei Stufen: Auf der ersten Stufe haben wir bereits beachtliche Erfolge erzielt. Auf Grund der Rentenanpassung ist das Niveau der Renten in den neuen Bundesländern im Verhältnis zu dem Niveau in den alten Bundesländern wie folgt gehoben worden. Vor der Sozialunion betrug das Niveau der Ostrenten 30 % der Westrenten, nach der Sozialunion, also ab 1. Juli, 40 %, nach dem 1. Januar 1991 46 %, und nach dem 1. Juli 1991 sollen die Renten Ost bei ca. 50 % der Höhe der Renten West liegen. ({5}) Die Renten der gesetzlichen Rentenversicherung in den neuen Bundesländern sind zum 1. Januar 1991 um 15 % erhöht worden. Das darf nicht vergessen werden. Allein die Rentenanpassung zum 1. Januar 1991 erforderte Mehraufwendungen von ca. 5 Milliarden DM. Zum 1. Juli sollen die Renten um weitere 15 % erhöht werden. Hinzu kommt: Der für die niedrigen Renten gewährte Sozialzuschlag wird für dieses Jahr in voller Höhe beibehalten. Das heißt, der Sozialzuschlag wird auf die Rentenerhöhungen nicht angerechnet. Gerade hierdurch wollen wir im Bereich der niedrigen Renten die derzeitige Entwicklung erträglich machen. Nicht zuletzt bleibt festzustellen, daß die Kriegsopferversorgung der alten Bundesländer mittlerweile in den neuen Ländern in Kraft getreten ist. Meine Damen und Herren, dies sind die kurzfristigen Maßnahmen. Die zweite Stufe der Rentenangleichung wird in diesem Jahr sorgfältig vorbereitet. Diese zweite Stufe wird zu einer weitergehenden Angleichung des Rentenrechts führen. Im Rahmen dieses Gesetzgebungswerkes werden CDU und CSU ihr Augenmerk vor allen Dingen darauf richten, daß die Mindestrenten ausreichend ausfallen. Des weiteren werden die noch geltenden Altersgrenzen zu prüfen sein. Bei Schwerbehinderung und Arbeitslosigkeit muß in den neuen Bundesländern der Rentenbeginn mit 60 Jahren möglich werden. Die für einen Rentenbezug in den neuen Ländern bisher bestehenden Invaliditätsgrenzen sind abzusenken. Bei alledem darf eines nicht vergessen werden: Soziale Not, die auf Grund von Preissteigerungen im speziellen entstehen würde, wird durch andere Sozialleistungen abgefedert. Ich denke dabei an das Wohngeld, welches gerade bei Empfängern einer niedrigen Rente die Mieterhöhungen nahezu vollkommen abfängt. Abschließend möchte ich den Bürgern in den neuen Bundesländern versichern: CDU und CSU werden darauf achten, daß ehemalige Stasi-Angehörige und Mitglieder der SED-Nomenklatura keinen Profit aus ihren Sonderversorgungssystemen ziehen. Hier darf sich das Unrecht der Vergangenheit nicht im Rentenrecht der Gegenwart fortsetzen. Dies sind wir den Bürgern in unserem Lande schuldig. Meine Herren und Damen, ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat Herr Abgeordneter Konrad Weiß.

Konrad Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002461, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zahllose Menschen in den östlichen Bundesländern sind in tiefer Not. Da wirken zweifellos 40 Jahre Mißwirtschaft der SED und der ihr verschwisterten christdemokratischen und liberalen Vasallen nach. ({0}) Niemand wird das bestreiten. Aber ebenso unbestreitbar ist, daß das soziale Elend, die Hoffnungslosigkeit und die Resignation vieler ostdeutscher Bürgerinnen und Bürger das Ergebnis einer verfehlten Politik dieser Bundesregierung sind. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, haben vor den Volkskammerwahlen, vor der Währungsunion, vor dem Tag der Einheit und vor den Bundestagswahlen immer und immer wieder Versprechungen gemacht, die Sie nicht einhalten können. Das mußten Sie doch wissen. Das wußte doch jeder, der über ein wenig Sachverstand verfügt. ({1}) - Nein, Sie haben die Wählerinnen und Wähler im Osten wissentlich getäuscht. ({2}) Niemandem soll es durch die deutsche Einheit schlechtergehen als zuvor, haben Sie versprochen, und Steùererhöhungen werde es durch die deutsche Einheit nicht geben. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Längst heißt Herr Kohl in der ehemaligen DDR nicht mehr Einheitskanzler, sondern Lügenkanzler. (Pfeffermann [CDU/CSU]: Alter Scharfmacher! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Unverschämter Lümmel! - Wohl nichts dazugelernt? Die Chance, das so lange getrennte deutsche Volk sich annähern und zusammenwachsen zu lassen, hat Ihre Koalition allein um der Macht willen vertan. ({3}) Oder ist es die Wirtschaft, die in Deutschland regiert? Sie haben entgegen Ihrer heiligsten Pflicht dem deutschen Volk Schaden zugefügt. ({4}) Sie haben das tiefe Vertrauen in die Demokratie erschüttert, das die Ostdeutschen nach 60 Jahren Erdulden totalitärer Systeme mit in die deutsche Einheit gebracht hatten. Sie haben den Glauben an den Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland mit Füßen getreten. ({5}) Konrad WeiB ({6}) Nun erdreisten Sie sich, zu behaupten, das Volk in den östlichen Bundesländern würde von Unruhestiftern aufgewiegelt. ({7}) Der Bundeskanzler hat sich in seiner Festung Bonn verschanzt und will nicht hören und sehen, was im Land vor sich geht. ({8}) Die meisten Bürgerinnen und Bürger in den östlichen Bundesländern fühlen sich als Deutsche zweiter Klasse. Jeder dritte Ostdeutsche meint, daß es ihm vor fünf Jahren in der DDR besserging als heute. Das ist das Ergebnis einer soeben vorgelegten Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. ({9}) Jede dritte - das sind nicht nur die ehemaligen Genossen und Unionsfreunde, das sind die Arbeitslosen, ({10}) die Null-Arbeiter, die Rentner, die alleinerziehenden Mütter, die aufs neue benachteiligten Frauen; das sind die Bauern in den alten Genossenschaften und den neuen, so tapfer gegründeten Familienwirtschaften, ({11}) die in diesem Frühjahr nach neun Monaten Währungsunion ihre Felder brachliegen lassen müssen. Allein in Mecklenburg-Vorpommern ist das die Hälfte aller Landwirte. Schlechter als zuvor geht es auch zahllosen Existenzgründern, die den Schritt in die mittelständische Wirtschaft gewagt hatten, dank dieser Bundesregierung aber ohne Chancen sind. ({12}) Enttäuscht, ohne Hoffnung und voller Wut sind schließlich die Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter, die Wissenschaftler und Angestellten, deren Betriebe und Institute abgewickelt, geschlossen, liquidiert werden. ({13}) Die Treuhand veruntreut die kargen Früchte 40jähriger, von der SED mißbrauchter und ausgebeuteter Arbeit. ({14}) Das endlich volkseigen gewordene Volksvermögen wird nun im Ausverkauf zu Spottpreisen verramscht. ({15}) Mit Hilfe altgedienter Opportunisten zerstören Sie die Wirtschaft in der ehemaligen DDR und verwalten und regieren ein Volk, das sich zunehmend unterlegen, deklassiert und unverstanden fühlt. ({16}) Wenn Sie schon nicht auf Ihre lebenden Kritiker hören wollen, meine Damen und Herren von der Koalition, ({17}) dann hören Sie doch bitte auf die toten. Um das Zehnfache ist die Selbstmordrate in den östlichen Bundesländern gestiegen. ({18}) Täglich nehmen sich Menschen das Leben, die nicht gelernt haben, überflüssig zu sein, und ihre Hoffnung und ihren Mut verloren haben, die auf den Aufschwung in acht oder zehn Jahren nicht warten können. Die Bürgerinnen und Bürger im Osten sind nicht mehr gewillt, ihre Enttäuschung und Verletzung stumm zu ertragen. ({19}) Sie gestatten sich endlich ihre Trauer und ihren Zorn und beginnen sich wieder zu wehren.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.

Konrad Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002461, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie besinnen sich auf ihre Kraft und nehmen endlich ihre demokratischen Rechte in Anspruch. Lassen Sie es nicht soweit kommen, daß friedliche Proteste in Gewalt umschlagen. ({0}) Herr Bundeskanzler, gestehen Sie das Scheitern Ihrer Politik ein. Treten Sie zurück, und machen Sie den Weg frei für eine Regierung des nationalen Notstandes, ({1}) in der alle politischen Kräfte dieses Hauses gemeinsam die Verantwortung für Deutschland übernehmen können. ({2})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen, ich darf bei diesem sicher Vizepräsidentin Renate Schmidt emotionsgeladenen Thema um ein bißchen mehr Ruhe bitten. Das gilt für alle Seiten des Hauses. ({0}) - Ich habe es leider Gottes akustisch nicht verstanden. ({1}) - Nein, wir haben hier keine Aussprache mit der Präsidentin. Ich werde mir das vom stenographischen Protokoll geben lassen. Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß der herbeigerufene Staatssekretär Beckmann aus dem Wirtschaftsministerium in der Zwischenzeit anwesend ist. ({2}) Ich rufe als nächsten Redner den Herrn Abgeordneten Dr. Bruno Menzel auf.

Dr. Bruno Menzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001474, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als ich die Ankündigung dieser Aktuellen Stunde gelesen habe, habe ich mich sehr darüber gefreut, daß wir zu diesem uns allen bewegenden Thema heute gemeinsam hier im Bundestag eine Aussprache führen wollen. Meine Damen und Herren, was ich bis jetzt in dieser Aktuellen Stunde erlebt habe, hat mich allerdings bitter enttäuscht. ({0}) Ich denke nicht, daß dieser Ton und diese Verfahrensweise in diesem Hohen Hause dem Ziel dieser Aktuellen Stunde angemessen sind. ({1}) - Ich meine nicht nur die Zwischenrufer auf der einen Seite, sondern auch die auf der anderen Seite. Ich meine das ganze Parlament. Glauben Sie mir, dieses Thema bewegt mich außerordentlich, Sie merken es vielleicht. Ich hatte eigentlich gedacht, daß von diesem Parlament, das um die Schwierigkeiten bei dem Zusammenwachsen der beiden Staaten weiß, ein Zeichen der Hoffnung an die Menschen ausgehen würde, die in den neuen Bundesländern leben müssen ({2}) und die nicht nur die Last der 40 Jahre der SED-Herrschaft getragen haben, sondern jetzt auch die Last des Zusammenwachsens unseres vereinten Vaterlandes tragen müssen. ({3}) Daß man die Schwierigkeiten aufzeigt, daß Sie als Vertreter der Opposition sich zum Anwalt derer machen, halte ich für völlig normal und korrekt. Aber, meine Damen und Herren, man macht sich nicht nur zum Anwalt, indem man alles schlecht macht, was ist, sondern man macht sich zum Anwalt auch, indem man das Gute aufzeigt und denen, die sich darum bemühen, den Weg weist, wie man es noch besser machen kann. ({4}) Das ist eine Anwaltschaft. Darunter verstehe ich konstruktive Opposition, die ich jederzeit akzeptiere, anerkenne und die ich als regierungsbegleitende Opposition für notwendig halte. ({5}) - Also, wissen Sie, Herr Kollege, das, was ich eben gesagt haben, war ja nicht vorgesehen. Das kam aus der Situation heraus. Wenn Sie meine konkreten Maßnahmen hören wollen, können Sie sie gerne noch hören, wenn Sie die Geduld haben zuzuhören. ({6}) Die Vollendung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion - das erklärte Ziel von Regierung und Parlament - ist die Voraussetzung für den inneren Vollzug der deutschen Einheit. Daß die Realisierung dieses sehr anspruchsvollen Vorhabens, das, wie wir alle schon gesagt haben, die größte Herausforderung in der deutschen Nachkriegsgeschichte ist, auf weit größere Schwierigkeiten gestoßen ist, als wir alle angenommen haben, das müssen wir täglich aufs neue zur Kenntnis nehmen. Gemessen werden wir, vor allem die Regierung, aber nicht nur daran, wie tiefgründig wir die Situation analysieren, sondern vor allem auch daran, welche Schlüsse wir daraus ziehen und wie schnell und wirksam wir darauf reagieren und die richtigen politischen Entscheidungen treffen, um nach der Währungsunion nun unter anderen, erschwerten Bedingungen die Wirtschafts- und Sozialunion zu vollenden. Das, meine ich, ist eine Aufgabe, zu der wir alle gemeinsam aufgerufen sind. Ich rede bewußt über die Wirtschaft, wenn es heute auch vordergründig um die sozialen Belange in den fünf neuen Bundesländern geht, weil eine effiziente Wirtschaft Voraussetzung für soziale Sicherheit bedeutet. Was die Menschen in den neuen Bundesländern am meisten bedrängt, beunruhigt und verunsichert, ist aber nicht nur die unmittelbare materielle Absicherung, sondern die bange Frage: Wie geht es weiter? Was wird für uns getan? Welche Perspektiven haben wir? Betriebsstillegungen, Entlassungen, Warteschleifen, der Zwang zur Selbstentscheidung in allen Lebensfragen stellen eine ungeheure psychische Belastung für diese Menschen dar. ({7}) In dieser Situation bedarf es nicht nur wirksamer, sondern auch schneller Hilfe, denn schon sind jene auf dem Plan, die in 40 Jahren das Land total ausgeplündert und heruntergewirtschaftet haben. Sie, die für diese ungeheure Misere die Verantwortung tragen und die der Demokratie nicht wohlgesonnen sind, verDr. Bruno Menzel suchen, die gegenwärtige Situation auszunutzen, und schüren Angst und Unsicherheit. ({8}) Daß die Menschen in den neuen Bundesländern bei den friedlichen Demonstrationen ihre Ängste und Sorgen öffentlich artikulieren, ist völlig verständlich, und das ist ihr angestammtes, legitimes Recht. ({9}) - Auch das ist unser Recht. Darüber bin ich mit Ihnen, Herr Abgeordneter, völlig einig, daß wir das offen und ehrlich gemeinsam diskutieren müssen mit der Zielrichtung, etwas zu verbessern. ({10}) - Herr Kollege Vogel, ich darf -

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Kollege, Sie müssen allmählich zum Ende kommen! ({0})

Dr. Bruno Menzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001474, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir kommen gleich noch dazu. Seien Sie ein bißchen geduldig!

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Kollege, Sie können leider Gottes nicht mehr dazu kommen, weil Ihre Redezeit in der Aktuellen Stunde abgelaufen ist. Ich habe schon etwas Zeit zugegeben, weil das Mikrofon nicht funktioniert hat. Ich möchte Sie jetzt aber bitten, den letzten Satz zu sprechen.

Dr. Bruno Menzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001474, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, es tut mir außerordentlich leid. ({0}) - Ich stelle Ihnen meine Rede gern zur Verfügung. Da steht es drin. Ich denke - lassen Sie mich das abschließend sagen - , daß die Bundesregierung in ihrer Verantwortung für die Vollendung der Wirtschafts- und Sozialunion großzügig alle notwendigen Maßnahmen getroffen hat, um die unumgänglichen Belastungen der Menschen in den neuen Bundesländern bei dem tiefgreifenden Umstrukturierungsprozeß zu mildern. Gleichzeitig wurde die Basis dafür geschaffen, daß in den kommenden Jahren der vorausgesagte wirtschaftliche Aufschwung eintreten kann. Ich danke Ihnen. ({1})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Fritz Schumann.

Dr. Fritz Schumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002114, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Freude über unser einiges Vaterland, von der Sie, Herr Rother, sicherlich noch profitieren, ist längst der Furcht gewichen, den Arbeitsplatz zu verlieren, der Furcht, niemals wieder Arbeit zu finden, der Furcht, die Wohnung kaum noch bezahlen können, der Furcht vor drastischen Preissteigerungen und nicht zuletzt der Furcht vor einem unbekannten Recht und einer Bürokratie, die alles in den Schatten stellt, was es in der ehemaligen DDR gab. ({0}) Der Siegeszug der Marktwirtschaft wurde zum Trauerzug. Noch niemals in der deutschen Geschichte hat es innerhalb so kurzer Zeit auch nur annähernd ein derartiges Ausmaß von Massenarbeitslosigkeit gegeben ({1}) wie derzeitig in Ostdeutschland. ({2}) - Es gab da keine Arbeitslosigkeit! ({3}) Von sechs Millionen offiziellen Arbeitslosen, Kurzarbeitern, Vorruheständlern in Gesamtdeutschland leben mehr als 3,5 Millionen im Osten. Damit ist dort fast jede Familie - häufig sind es mehrere Familienangehörige - mit Arbeitslosigkeit konfrontiert. ({4}) - Vielleicht sollten Sie da mal hinhören oder sich das einmal ansehen! ({5}) Besonders betroffen sind die Frauen. Ihr Anteil an den Arbeitslosen betrug im Februar 1991 rund 55 %, und der Anteil steigt weiter. ({6}) - Ihre Floskel von den 40 Jahren sollten Sie einmal überdenken; denn das ist ein bißchen wenig, was Sie da bieten. ({7}) Weit über ihrem Anteil an der Bevölkerung liegt die Arbeitslosigkeit auch bei Alleinerziehenden, bei älteren Bürgern, bei Menschen mit Behinderungen und bei Ausländern. Die Anzahl der arbeitslosen Jugendlichen bis zu 25 Jahren stieg seit September 1990 von 76 000 auf inzwischen mehr als 120 000. Das ist im übrigen ein gesamter Jahrgang von Schulabgängern. Es gibt Schätzungen - die auch vom Bundesbildungsminister getragen werden - , nach denen in diesem Jahr voraussichtlich 67 000 Lehrplätze fehlen. In meinem Heimatkreis waren in der vergangenen Woche von 600 Schulabgängern ganze 80 mit einer Lehrstelle versorgt. ({8}) - Darauf bin ich gespannt. Hunderttausende von Bauern und Landarbeitern verlieren angesichts der ruinösen und nicht den gesamten ländlichen Raum erfassenden Agrarpolitik ihre Existenzbasis. Es gibt bereits Dörfer, in denen auf Dr. Fritz Schumann ({9}) Grund des Konkurses der Genossenschaft 90 % der bisher Berufstätigen ohne Arbeit sind. ({10}) Für mich persönlich ist es immer wieder besonders bitter, in Gesprächen im Wahlkreis erleben zu müssen, wie verzweifelt z. B. 50- bis 55jährige darüber sind, daß sie plötzlich nicht mehr gebraucht werden, daß sie im besten Alter bereits zum alten Eisen gehören. Für viele ist das wie ein Schock, etwas schier Unbegreifliches, dem sie mit dem Gefühl der Ohnmacht gegenüberstehen. Wir im Osten kannten eine solche Art kapitalistische Wirklichkeit nicht oder nur aus dem Fernsehen. ({11}) Wir sind weder darauf eingestellt, damit zu leben, noch wollen wir damit leben. ({12}) Das ist nicht die Freiheit, für die die Menschen gewaltlos stritten. Sie werden auf Dauer nicht kampflos auf das Recht auf Arbeit als grundlegendes, ihnen in der DDR selbstverständlich gewordenes Menschenrecht verzichten. ({13}) Die Eskalation der Arbeitslosigkeit ist das direkte Resultat der Politik der Bundesregierung, ({14}) der es bei der Vereinigung in erster Linie um die Sicherung und um den Ausbau ihrer Machtposition ging. Da spielten die wirtschaftliche Sanierung der DDR und die soziale Lage ihrer Menschen kaum eine Rolle. Es ist eben nur die halbe Wahrheit, wenn auf die historische Erblast der defizitären DDR-Wirtschaft verwiesen wird. Es gab genug Stimmen aus allen politischen Lagern und aus Wirtschafts- und Finanzkreisen, die vor der ökonomisch konzeptionslosen Anschlußstrategie warnten. Fakt ist, daß sich die Bundesregierung selbst dann, als das Kind schon in den Brunnen gefallen war, noch immer nicht der Mühe unterzogen hat, eine wirkliche Analyse der wirtschaftlichen und sozialen Lage in den östlichen Ländern zu erarbeiten. ({15}) Was heute als Irrtum erklärt wird, ist in Wirklichkeit die Ignoranz gegenüber den akuten Problemen. Die jetzt unter dem Druck der Protestbewegung und der ökonomischen und sozialen Realitäten erzwungenen Schritte der Finanzierung der ostdeutschen Länder und Kommunen und der regionalen Gliederung der Treuhand verdienen nicht den klingenden Namen „Aufschwung Ost", einfach deshalb nicht, weil dahinter nach wie vor kein komplexes Programm der wirtschaftlichen Entwicklung steht. Ein solches Programm ist aber der Schlüssel zur Lösung der sozialen Probleme. ({16}) - Machen Sie doch ein Programm! Die PDS/Linke Liste appelliert deshalb an die Bundesregierung, die nachfolgenden Punkte ernsthaft zu prüfen und in die Erarbeitung des erforderlichen Programms einzubeziehen: ({17}) Notwendig ist eine aktive, beschäftigungsorientierte staatliche und kommunale Strukturpolitik. Es müssen tragfähige Konzepte der Wirtschaftsentwicklung für das Gebiet der ehemaligen DDR, die einzelnen ostdeutschen Länder sowie besonders gefährdete Regionen vorgelegt werden. Entgegen dem Bonner Steuerpaket sehen wir hierfür vor allem folgende Finanzierungsmöglichkeiten: drastische Reduzierung der Rüstungsausgaben, Ergänzungsabgabe für Besserverdienende, Beibehaltung der Vermögen- und Gewerbekapitalsteuer, höhere Versteuerung von Vermögenswerten von mehr als 1 Million DM sowie von Spekulationsgewinnen, Einführung einer Arbeitsmarktabgabe für Beamte und Selbständige.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende!

Dr. Fritz Schumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002114, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Wir fordern: Die Gewinner der deutschen Einheit müssen den Hauptteil der zusätzlich notwendigen Finanzmittel aufbringen! ({0})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat der Minister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm. ({0})

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich verstehe die Sorgen der Bürger in den neuen Bundesländern. Ich werde mich nicht über ihre Ängste erheben. Doch ich will zurückfragen: Glaubt jemand, daß wir vier Jahrzehnte Sozialismus in sechs Monaten wettmachen könnten? ({0}) Herr Schumann, ich habe Ihnen gut zugehört. Ich fand schon, es war der Gipfel von Vergeßlichkeit und Unverfrorenheit, ({1}) wie Sie Ihren Furchtkatalog vorgeführt und gesagt haben „schlimmer als alles, was es bisher in der DDR gab" und „alles in den Schatten gestellt". Meinen Sie den Todesstreifen? Meinen Sie den Todesstreifen, in dem Menschen verblutet sind, nur weil sie ihre Verwandten besuchen wollten? ({2}) Meinen Sie Bautzen, Herr Schumann? Ich kann nur sagen: Arbeitslosigkeit ist ganz schlimm, und wir werden sie mit allen Mitteln bekämpfen. ({3}) Aber Unfreiheit und Unterdrückung, das war das Schlimmste, was der Sozialismus den Bürgern geboten hat. ({4}) Im übrigen: Kein Arbeitsloser aus Westdeutschland hat das sozialistische Vollbeschäftigungsparadies in der DDR aufgesucht. Keiner! Ich finde: Der größte Angriff ist Unfreiheit. Wir wollen zusammen die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Ich finde, nach der Darstellung, die Sie hier geben, sieht es so aus, als wären die Bürger in der ehemaligen DDR jetzt in eine Katastrophenlandschaft Deutschland gefallen. Haben Sie vergessen, in welchem Zustand die DDR-Wirtschaft war? - Sie stand doch vor der Wiedervereinigung vor dem Zusammenbruch! Honecker hat doch eine Bankrottfirma geleitet! ({5}) Ohne Wiedervereinigung wäre die Firma doch zusammengebrochen! - Wir wollen zusammen den Sozialstaat Deutschland schaffen. ({6}) Haben Sie vergessen, wer die Umweltjauchegrube zu verantworten hat? Sie von der SED! ({7}) Acht Jahre war die Lebenserwartung in manchen Regionen der ehemaligen DDR geringer als hier. Das war doch der Angriff auf menschliches Leben! Den werden Sie doch uns nicht zuschieben wollen! ({8}) Zusammen wollen wir den Sozialstaat Deutschland schaffen. Geld kann dabei nicht alles. Aber, Herr Weiß, Sie dürfen doch nicht so tun, als hätten wir nichts getan! 102 Milliarden DM in 11/2 Jahren! Sie dürfen doch nicht sagen, das sei nichts! 12 Milliarden DM jetzt im Gemeinschaftswerk „Aufschwung Ost" ! Will denn jemand sagen, das sei alles nichts? Ich gebe zu, Geld allein wird nicht langen. Wir brauchen auch Initiative, wir brauchen unternehmerische Verantwortung. Das ist ja gerade der Unterschied zur Planwirtschaft: daß der Staat nicht alles soll und kann. Was der Staat kann, hat er in der DDR doch vorgeführt. Wir wollen eine freie, eine soziale Marktwirtschaft. Aber der Umstieg ist schwierig. 35 Milliarden DM geben wir jetzt für Arbeitsmarktmaßnahmen aus: 20 Milliarden DM für die neuen Länder, 15 Milliarden DM für die alte Bundesrepublik. Das gab es noch nie, auch nicht in der alten Bundesrepublik. Wollen Sie denn so tun, als wäre das alles nichts? Sie nehmen den Leuten ja jeden Schwung und jede Hoffnung! ({9}) Lieber Herr Müntefering, sieben Berufsförderungswerke, acht Berufsbildungswerke und eine Rentenversicherung wurden über Nacht geradezu aus dem Boden gestampft. Ich frage Sie: Ist das alles nichts? Für Umschulung und Fortbildung in den neuen Ländern geben wir 7,7 Milliarden DM, für die gleichen Maßnahmen in den alten Ländern 7,8 Milliarden DM aus. Wir haben Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in einem Maße initiiert, das es in Deutschland noch nie gab. 5,2 Milliarden DM für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen! Für 278 000 Mitbürger bedeutet das Hoffnung durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Das ist mehr als alle Klagereden, die hier gehalten werden. ({10}) Ich sage nicht, daß wir damit alles lösen. Ich sage auch nicht, daß wir morgen das rettende Ufer schon erreicht haben. Aber indem Sie stehenbleiben und jammern, werden wir keinen Zentimeter vorwärtskommen. Was jetzt gefordert ist, sind nicht ,,Besprecher", sondern „Handler". ({11}) Ich sage noch einmal, daß ich die Ängste und Sorgen der Menschen verstehe. Nur möchte ich diesen Ängsten nicht mit Worten, sondern mit Taten entgegentreten. Und diese Bundesregierung hat gehandelt! ({12}) Qualifizierung: 500 000 haben eine Qualifizierungsmaßnahme in Angriff genommen. Rentenversicherung: Verehrter Herr Vogel, die erste und wichtigste Weichenstellung für die Rentner war die Umstellung der Rente im Verhältnis 1 : 1. Ihr Kanzlerkandidat Lafontaine hat doch die Umstellung im Verhältnis 1 : 1 noch im Oktober des vergangenen Jahres in der „Abendzeitung" kritisiert. ({13}) Hätten wir die Renten im Verhältnis 2 : 1 umgestellt, wie Lafontaine und Pöhl es wollten, dann wären wir mit der Rente in sieben Jahren dort, wo wir seit dem 1. Januar schon jetzt sind. Ist das nichts? ({14}) 15 % Rentenerhöhung am 1. Januar dieses Jahres: Herr Vogel, darf ich Sie daran erinnern, daß Ihre Fraktion 10 % beantragt hatte? Meiner Rechnung nach sind 10 % 5 To weniger als das, was diese Koalition durchgesetzt hat. ({15}) Wir werden Schritt für Schritt vorankommen. Für 330 000 Mitbürger in der ehemaligen DDR gibt es zum erstenmal Kriegsopferversorgung. Die Kriegsopfer sind vom Sozialismus vergessen worden. Ich frage: Ist das alles nichts? Wollen Sie nicht einmal anerkennen, daß dieser Sozialstaat große Anstrengungen macht, damit wir die Einheit Deutschlands auch sozialstaatlich vollenden? Auf dem Weg dorthin ist nicht eine Kampagne der Angst, sondern eine Kampagne der Gemeinsamkeit notwendig. An der Klagemauer werden keine Arbeitsplätze geschaffen. Ein Helfer für die DDR, ein Beamter, der hinübergeht und hilft, ein Gewerkschafter, der hinübergeht und hilft, bewirkt mehr als 1 000 Klagende, die hier große Reden halten, aber „drüben" nichts machen. ({16}) Ich sage noch einmal: Jetzt ist die Stunde der „Bearbeiter", nicht die Stunde der „Besprecher". ({17}) Das will ich auch hier vor den Abgeordneten sagen: Ich fand die gestrige Zusammenkunft von Gewerkschaftern, Arbeitgebern und Wirtschaftsvertretern in dem gemeinsamen Bestreben, zu helfen und nicht Vorwürfe auszutauschen, wohltuend. Dabei waren auch fünf neue Ministerpräsidenten. Herr Stolpe, ({18}) einer von ihnen, steht mit seiner Mitteilung, mit seiner Hoffnung, daß wir im Frühjahr nächsten Jahres Licht im Tunnel haben, im Kontrast zu dem, was hier heute vorgeführt wird. Ja, wir brauchen Perspektiven. Mit Mutlosigkeit ist ein Problem noch nie gelöst worden. Wir brauchen die Anstrengung aller. Zu dieser gemeinsamen Anstrengung über alle Parteigrenzen hinweg lade ich auch angesichts dieser Aktuellen Stunde ein. ({19}) Ich will meine Rede mit der Mitteilung beenden, daß wir die Europäische Gemeinschaft dazu veranlassen konnten, in einem großen Aktionsprogramm bis zum Jahre 1993 1,8 Milliarden DM für berufliche Bildung und Qualifizierung in den neuen Bundesländern anzulegen. Das ist eine gute Nachricht für diese Aktuelle Stunde. ({20})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat der Abgeordnete Arne Börnsen.

Arne Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000226, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Rede eines Bundesministers auf der Demonstration am Montagabend in Leipzig wäre sehr viel mehr wert gewesen als die großen Worte, die Sie hier verschwendet haben. ({0}) Herr Bundesminister Blüm, Sie haben mit viel Pathetik wieder einmal an den Tatsachen vorbeigeredet. Aber ich habe die Überzeugung, daß sich die Menschen in der ehemaligen DDR inzwischen mit solchen Worten nicht mehr einfangen lassen. Das beweisen die Demonstrationen, die jetzt in Leipzig stattgefunden haben. ({1}) Meine Damen und Herren, ich meine sehr wohl, daß gerade wir Westdeutschen darüber nachdenken sollten, ob wir uns angesichts der offenkundigen Enttäuschung und Verzweiflung in Leipzig und Halle, aber auch in Rostock und Dresden - solche Ereignisse wie gestern abend sind sicherlich auf dieselben Ursachen zurückzuführen wie das, was zu den Demonstrationen in Leipzig und anderswo geführt hat - ausreichend bemühen, uns in die Situation und Empfindungen der Menschen in der ehemaligen DDR hineinzudenken und hineinzufühlen. Meine Damen und Herren, die Zwischenrufe, die sich ein Kollege, der inzwischen möglicherweise beschämt das Haus verlassen hat, bei dem ersten Beitrag und bei dem Beitrag von Herrn Weiß geleistet hat, sind beschämend und peinlich. ({2}) Sie werden den Empfindungen der Menschen in der ehemaligen DDR nicht gerecht. Ich hoffe sehr, daß das möglichst breit übergebracht worden ist. ({3}) Es besteht seit anderthalb Jahren endlich wieder die Möglichkeit, Kontakte zwischen den Menschen hüben und drüben zu knüpfen. Die Westdeutschen haben auch die Unsicherheiten und die Unbeholfenheit vieler Ostdeutscher bei für uns selbstverständlichen Dingen des täglichen Lebens und, aus dieser Unsicherheit entstehend, auch die Bereitschaft, vertrauensvoll den Versprechungen und Zusagen des nicht nur selbstsicheren, sondern manchmal sehr wohl selbstgefälligen Bundeskanzlers zu glauben, kennengelernt. Nach der Enttäuschung über das eklatante Versagen der Plan- und Kommandowirtschaft in der ehemaligen DDR entstand ein genauso großes unbegrenztes Vertrauen in die Möglichkeiten und die alles überwindenden Kräfte der Marktwirtschaft in der Bundesrepublik. Aber die Bundesregierung war über die Wirkung ihrer marktwirtschaftlichen Heilsverkündung offensichtlich so begeistert, daß sie die geschichtlichen Lehren und Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte völlig verdrängte. Insbesondere beim Aufbau der Bundesrepublik waren aktive Instrumente zur Regulierung eines sozialen marktwirtschaftlichen Systems erforderlich. Denken Arne Börnsen ({4}) Sie doch an Ihren ehemaligen Kollegen Müller-Armack! Wo waren solche aktiven Instrumente für die Zeit nach der Währungs- und Wirtschaftsunion vorbereitet worden? ({5}) Die Ausgangslage für den Wiederaufbau bei uns in der alten Bundesrepublik nach dem Krieg war in ganz Europa mit der wirtschaftlichen Inselsituation der Ex-DDR auch nicht annähernd vergleichbar. Wo ist das berücksichtigt worden? Die Funktionsfähigkeit des marktwirtschaftlichen Systems in den letzten Jahrzehnten setzte bei uns einen stabilen wirtschaftlichen Prozeßkreislauf voraus. Krisen wurden eher ausgesessen als gelöst. Man kann doch wohl nicht glauben, mit einem solchen Modell die Krise in der ehemaligen DDR lösen zu können. ({6}) Wirtschaftskrisen in der Bundesrepublik - so 1966 bei der Bildung der Großen Koalition - sind auch nicht im entferntesten mit dem radikalen Einschnitt durch die Wirtschafts- und Währungsunion in der ehemaligen DDR vergleichbar. Aber die verantwortliche Wirtschaftspolitik glaubte, diesen Einschnitt mit derselben Laisser-faire-Haltung bewältigen zu können. Folgerichtig wurde auch die Gefahr einer Entindustrialisierung in den neuen Bundesländern nicht erkannt und sogar als Unsinn abgetan, auch von einem Wirtschaftsexperten - zumindest bezeichnet er sich so - der CDU/CSU-Fraktion. Meine Damen und Herren, ich habe bewußt die wirtschaftspolitischen Fehler, die von dieser Bundesregierung zu verantworten sind, in den Mittelpunkt gestellt, weil natürlich das die Ursache dafür ist, daß die Menschen heute auf die Straße gehen. Und dabei ist feststellbar - das stand ja eingangs der heutigen Aussprache zur Aktuellen Stunde im Mittelpunkt -, daß es die Bundesregierung nicht einmal für nötig hält, einen Vertreter des Wirtschaftsministeriums an einer solchen Debatte teilnehmen zu lassen. ({7}) - Inzwischen wurde er herangekarrt; das haben wir verfolgen können. Vielleicht liegt das daran, weil das Wirtschaftsministerium in Bonn nicht in der Lage ist, konzeptionell zu denken; denn dies wird seit der Regentschaft freidemokratischer Wirtschaftsminister nicht gewünscht, wird geradezu verpönt. Vielleicht liegt es aber auch daran, daß diese Regierung im Bonner Elfenbeinturm hinter den sieben Bergen nicht mehr in der Lage ist, die Situation der Menschen draußen im Lande, wie es immer heißt, zu erkennen, zu begreifen und zur Grundlage ihrer Politik zu machen. Das merken die Menschen in Leipzig und in anderen Städten. Diese Menschen wissen, daß sie nicht nur im letzten Jahr wegen bevorstehender Wahlen getäuscht wurden. Wir stellen auch fest, daß die Wunderwaffe Marktwirtschaft völlig versagt hat, aber nicht wegen möglicher Fehler im System, sondern wegen des Unvermögens der politisch Handelnden, das Instrument der Marktwirtschaft zu nutzen. Ich danke Ihnen. ({8})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat Herr Abgeordneter Rainer Eppelmann.

Rainer Eppelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000483, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich bitte mit einem ganz persönlichen Gedanken beginnen: Seit 29 Jahren bin ich Arbeitnehmer, 28 Jahre davon in der alten DDR. Eine vergleichsweise lange Zeit bin ich Käufer und Kunde und habe auf Grund des Gehalts und der Kindergeldzuschläge die Möglichkeit gehabt, zusammengenommen etwa 10 000 DM im Jahr auszugeben. Allerdings versuche ich 49 Jahre lang, Mensch zu sein. Das, so habe ich den Eindruck, kommt in unseren Überlegungen, und zwar quer durch das ganze Haus - von ganz links bis ganz rechts, so, wie Sie hier vor mir sitzen - , leider über viele Monate hin zu kurz. ({0}) Ich sage Ihnen das einmal ganz persönlich: Wir sind ausgewandert, wobei ich das, wie viele andere auch, gewollt habe; wir befinden uns in einer Gesellschaft, die anders funktioniert als das, was wir bisher erlebt haben und wie wir aufgewachsen sind. Das heißt: Das, was ich in 48 oder 49 Jahren lernen konnte, was mich gelehrt worden ist, was ich in meinem bisherigen Leben erfahren habe, ist nicht mehr oder nur noch bedingt verwendungsfähig. Diejenigen, die heute sagen, wir seien faul oder arbeitsscheu, wir hätten keine Ahnung und sollten erst einmal arbeiten lernen, wissen nicht, wovon sie reden. ({1}) Fast alles, was ich in der neuen Bundesrepublik, in der vereinten Bundesrepublik, die ich wollte, tagtäglich leisten muß, ist Neuland für mich. Ich gebe ehrlich zu, daß ich den Eindruck habe: Wir 16 Millionen ExDDRler sind keine Wunderwesen; wir können das nur langsam lernen; dafür brauchen wir Zeit. Damit habe ich Ihnen meiner Meinung nach auch schon den Grund dafür genannt, warum die Situation zwischen Oder und Elbe heute so ist, wie sie ist. Ich kann die Angst, die Sorgen, die Fragen, die Nöte all derer, die heute laut und bedrängend fragend auf die Straße gehen, sehr gut verstehen, sie sind mir sehr, sehr nahe und sehr verständlich. Aber im Grunde ist es unser aller Problem - ich versuchte, Ihnen das hiermit deutlich zu machen - Soziale Marktwirtschaft muß von uns gelernt werden. Auch Sie - das ist das Problem der Altbundesrepublikaner - haben an dieser Stelle neu zu lernen. Ihre Rezepte, Ihre Methoden, die in den letzten 20 oder 25 Jahren hervorragend funktioniert haben, haben in einer Gesellschaft funktioniert, die gut geölt ist, also in einer Gesellschaft zwischen Elbe und Rhein. Das, was wir jetzt haben, ist etwas anderes. ({2}) Wir brauchen ungeheuer viel Phantasie und Verständnis füreinander, um in einer Übergangszeit Übergangslösungen zu finden. Das ist ungeheuer schwierig. Wir sind gegenwärtig immer wieder dabei, etwas zu tun, was wir - Sie wie wir - bisher nicht tun mußten. Ich bitte Sie also - es gibt nur diese eine Möglichkeit - : Wir müssen ganz eng zusammenrücken und Verständnis füreinander haben. Es hat überhaupt keinen Sinn, wenn nach den Brandstiftern der letzten 45 Jahre neue Brandstifter auftreten. Das, was wir brauchen, sind Feuerwehrmänner. ({3}) Darum: Wer heute über Ängste und Nöte redet, die mir sehr verständlich sind, muß meiner Meinung nach auch etwas zum Herbst 1989 sagen, zu dem, was damals auf den Plakaten gestanden hat. Vieles davon ist heute Wirklichkeit. Das muß meiner Meinung nach einfach dazugesagt werden. Oder soll Herr Schily recht damit haben, daß wir 16 Millionen DDR-Bürger bloß Bananen haben wollten? Das darf doch wohl nicht wahr sein! ({4}) Ein letzter Gedankengang dazu: Ich freue mich darüber, daß einer meiner Weggefährten in den letzten 30 Jahren, der heute parteipolitisch anders gebunden ist als ich, offensichtlich zu gleichen Einschätzungen und Beobachtungen gekommen ist wie ich. Ich meine den - ich sage das hier bewußt - Freund Stolpe. Er hat - wenn ich es zitieren darf - gesagt, daß die heutige Regierung vor der Kritik, zumindest vor vieler Kritik der Bürger in den neuen Ländern in Schutz zu nehmen ist. Er meinte: Der Kanzler kommt zur Zeit zu Unrecht unter Beschuß. Kohl hat die Lage begriffen, ({5}) und er hat die Lage der Ex-DDR so, wie sie heute ist, nicht verschuldet. ({6}) Stolpe sagte weiter, wir 16 Millionen müßten es lernen, in Demokratie und Marktwirtschaft zu leben; das sei kurzfristig hart, aber nur die Marktwirtschaft bringe Wohlstand.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Abgeordneter, kommen Sie bitte zum Schluß.

Rainer Eppelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000483, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jawohl, zwei Sätze noch, bitte.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nein, keine zwei Sätze mehr!

Rainer Eppelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000483, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Na gut, dann sage ich nur noch einen Satz. Eine herzliche Bitte: Getrommelt und gepaukt worden ist heute und in den letzten Wochen genug: Ein Orchester funktioniert bloß dann, wenn darin auch Streicher sind mit leisen und besinnlichen Tönen. Ich danke Ihnen. ({0})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat die Ministerin für Frauen und Jugend, Frau Dr. Angela Merkel.

Dr. Angela Merkel (Minister:in)

Politiker ID: 11001478

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor zwei Wochen habe ich in Sachsen Textilarbeiterinnen mit „Kurzarbeit null" besucht. Früher haben diese Arbeiterinnen Dekostoffe produziert, heute sagen sie: Keiner kauft unsere Stoffe, nicht einmal wir selber; aber wir wollen keine Umschulung, wir wollen mit unseren Händen weiterarbeiten, und zwar in unserer Heimat; wir können doch nicht nach Bayern fahren; wir haben ja hier unsere Kinder. Diese Frauen haben für die Einheit Deutschlands demonstriert, und sie unterstützen auch heute die Politik der Bundesregierung. ({0}) Trotzdem: Was kann ich diesen Menschen sagen? Einen wichtigen Beitrag hat die Bundesregierung durch die Beschlüsse, die in den letzten Tagen und Wochen gefaßt wurden, geleistet. Für den Aufbau stehen Geld, Investitionsförderungsmaßnahmen und Genehmigungsverfahren bereit. Alles das ist nötig, aber es wird nicht ausreichen, um die Teilung zu überwinden. Der Schlüssel für den Aufschwung liegt im richtigen Verständnis eines vielstrapazierten Satzes: Teilung kann nur durch teilen überwunden werden. In den vergangenen Wochen haben wir das Geld geteilt. Jetzt kommt es darauf an, daß sich die Menschen in den alten und in den neuen Bundesländern die Verantwortung für das gemeinsame Deutschland teilen. Die Menschen in den alten Bundesländern müssen erkennen, in welch dramatischer Weise sich das Leben für die Menschen in den neuen Bundesländern geändert hat. Lebensplanungen wurden gegenstandslos, selbst kleine Verrichtungen wie das Ausfüllen von Formularen, wie die Gänge zu Ämtern und Behörden führen in völliges Neuland. In den neuen Bundesländern brauchen wir deshalb mehr als Geld. Wir brauchen Zuwendung und Solidarität. Teilen müssen die Menschen aus den alten Bundesländern nicht nur ihren Wohlstand, sondern auch ihre Erfahrung mit dem Leben in einer freiheitlichen Gesellschaft. Um diese Solidarität von Mensch zu Mensch zu ermöglichen, haben wir Mittel bereitgestellt, damit Frauen und Jugendliche ihren Partnern in den neuen Bundesländern die Erfahrungen vermitteln können, die sie brauchen, um die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz, die Wahl des richtigen Berufsweges, kurz, die Gestaltung des eigenen Lebens in die Hand nehmen zu können. Hier rufe ich Sie, die Abgeordneten von der SPD, auf: Helfen Sie den Menschen in den neuen Bundesländern, und versuchen Sie nicht zum zweiten Mal in einem Jahr, mit der Angst vor der Zukunft Politik zu machen. ({1}) In den neuen Bundesländern müssen wir verstehen: Freiheit ist mehr als die Abwesenheit von Gängelei und Unterdrückung. ({2}) Freiheit verlangt die Bereitschaft, das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen. Wir müssen deshalb den schweren Umstrukturierungsprozeß in allen Lebensbereichen bejahen und als unsere eigene Aufgabe verstehen. Die Bundesregierung hat durch ihr Programm Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost und durch andere wirtschaftsfördernde Maßnahmen die Voraussetzungen für den Aufschwung geschaffen. Unsere Koalitionsvereinbarung, den Anteil von Umschulungs-, Qualifizierungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Frauen in der Höhe zu sichern, wie diese von der Arbeitslosigkeit betroffen sind, werden wir umsetzen. Trotzdem wird es für die Frauen aus dem sächsischen Textilbetrieb schwer sein, sich jetzt in einer AB-Maßnahme oder einem neuen Beruf heimisch zu fühlen. Was diese Frauen wie Millionen von Menschen in den neuen Bundesländern neben Geld und Solidarität brauchen, ist vor allem Selbstvertrauen. Ich meine, zu diesem Selbstvertrauen haben wir Menschen in den neuen Bundesländern allen Grund. Unser Land haben wir unter ungleich schwereren Bedingungen als in den alten Ländern aufgebaut. Wenn wir unter diesen Umständen leben konnten, dann sind wir auch in der Lage, die Schwierigkeiten des Umbruchs zu meistern. ({3}) Die Bundesregierung wird dafür alle Voraussetzungen schaffen. Ich danke Ihnen. ({4})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat die Frau Abgeordnete Dr. Christine Lucyga.

Dr. Christine Lucyga (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001381, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte nicht versäumen, meiner Vorrednerin zu antworten, daß man vor derartigen Appellen an Geduld und Hoffnung vielleicht bei Bertolt Brecht nachlesen sollte. Da steht geschrieben: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Moral ist in dem Falle wohl mit Geduld und Hoffnung gleichzusetzen. ({0}) Ich würde sagen: Wenn die Leidensfähigkeit von Menschen überfordert wird, dann setzen sie sich zur Wehr. In Ostdeutschland ist es soweit. Die Stimmung ist gereizt wie im Herbst 1989, als die Menschen auf die Straße gingen. ({1}) Wenn diese Demonstrationen heute wieder aufleben, dann deshalb, weil die Hoffnungen noch nicht eingelöst worden sind. Erinnern wir uns doch einmal an die Demonstranten von Leipzig. Ihre Kampfansage an die SED hieß: Wir bleiben hier! Sie wollten nicht außer Landes getrieben werden, denn sie wollten in ihrer Heimat ein menschenwürdiges Leben führen können. Das ist bis zum heutigen Tage nicht eingelöst. Obwohl sich die politischen Strukturen gewandelt haben, obwohl Weichen gestellt sind, ist für einen großen Teil der Bevölkerung in Ostdeutschland ein Leben in Würde immer noch eine Illusion. Nur die Gründe, woran das liegt, haben sich geändert. Wenn Massenprotest und Massenflucht seinerzeit im politischen System begründet waren, dann sind es heute schlicht und einfach existentielle Grundprobleme. Sie bewirken einerseits eine neue Abwanderung westwärts, andererseits neue Massenproteste. Für die Menschen, die heute auf gepackten Koffern sitzen oder auf die Straße gehen, ist das Motiv blanke soziale Not. Das, was der Honecker-Clique nicht gelungen ist, auch noch den letzten Rest der aufbauwilligen DDR-Bevölkerung außer Landes zu treiben, geschieht jetzt nach und nach. ({2}) Zur gleichen Zeit, als in Leipzig die Montagsdemonstrationen wieder auflebten, gingen auch in anderen Städten, in Halle und in Rostock, Zehntausende auf die Straße, um für den Erhalt von Arbeitsplätzen, für das Überleben der Werften und anderer Industriestandorte zu kämpfen; denn auch in meiner Heimat, in Mecklenburg-Vorpommern, bricht alles gleichzeitig zusammen: die maritime Wirtschaft ebenso wie die Landwirtschaft und anderes. Wen wundert es da noch, daß viele beginnen, sich die DDR-Vergangenheit schönzureden, wenn sie von Existenznöten betroffen werden, wenn die Lebenshaltungskosten im umgekehrten Verhältnis zur Einkommensentwicklung der meisten steigen - und das in einer Situation, in der viele DDR-Bürger entweder schon arbeitslos sind, mit Arbeitslosigkeit rechnen oder als Vorruheständler auf das Abstellgleis geschoben worden sind. Es ist keine Seltenheit, daß in meiner Sprechstunde Vorruheständlerinnen erscheinen, die von 226 DM leben müssen, oder alleinerziehende Mütter, die 600 DM netto verdienen und davon 400 DM für zwei Kindergartenplätze abgeben müssen. ({3}) Gerade erst hat die Ankündigung einschneidender Mieterhöhungen zum 1. August in den neuen Bundesländern für neuen sozialen Zündstoff gesorgt. Um es auf den Punkt zu bringen: Trotz aller Appelle an Geduld und Hoffnung sehen viele Ostdeutsche vor sich Perspektivlosigkeit und soziale Not. Das ist von uns nicht herbeigeredet! ({4}) Nichtsdestotrotz bringt es ein Herr Rühe vor ein paar Tagen fertig, in Mecklenburg-Vorpommern den Leuten ins Gesicht zu sagen, es gehe niemandem schlechter, im Gegenteil, wir lebten ja jetzt alle in Freiheit. Wer so redet, der hat von der Lage dort überhaupt noch nichts begriffen, der hat noch nicht einmal die Mentalität der Menschen bei uns begriffen. ({5}) Mir kommt an dieser Stelle der Ausspruch Friedrichs II. „Man muß sich befleißigen, den Geist der Völker, die man regieren will, zu begreifen" sicher deshalb in den Sinn, weil diese Weisheit wohl auch der Bundesregierung in dieser Situation gut zu Gesichte stünde. Statt dessen ist seit einem halben Jahr eine Politik der unterlassenen Hilfeleistung betrieben worden, die manchmal mit dem Euphemismus „aussitzen" einigermaßen maßvoll umschrieben wurde. ({6}) Das Ergebnis: Arbeitslosenzahlen in Millionenhöhe, und mit diesen Menschen wird umgegangen, als wären sie totes Inventar. ({7}) Keinem Ostdeutschen sollte es schlechtergehen. Das war das Standardprogramm: „Siehe, ich verkündige euch eine große Freude. " Und nun heißt es plötzlich, schon immer sei vor der Erwartung gewarnt worden, die Lage in Ostdeutschland werde sich rasch verbessern; die Verbitterung beruhe lediglich auf einem Mangel an Information. Ich kann es zitieren. ({8}) Wenn man dieser Logik folgt, dann ist die Not der Menschen dort wohl selbstverschuldet, weil sie dem Kanzler nicht richtig zugehört haben. ({9}) Unlängst war zu vernehmen, daß Kanzler Kohl demnächst zu einer der Montagsdemonstrationen in Leipzig erscheinen wolle. Was wird er den Menschen denn dort erzählen? ({10}) Beabsichtigt er, sich dafür zu entschuldigen, daß er sie getäuscht und Illusionen erzeugt hat?

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Frau Abgeordnete, kommen Sie bitte zum Schluß.

Dr. Christine Lucyga (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001381, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Oder will er einfach nur einmal den Leuten zuhören, um zu erfahren, wie ihnen zumute ist? Ich kann einige Zitate bringen.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Frau Abgeordnete, kommen Sie bitte zum Schluß. Sie können kein Zitat mehr bringen.

Dr. Christine Lucyga (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001381, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ein Zitat: -

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nein, kein Zitat.

Dr. Christine Lucyga (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001381, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- „Wir haben das Gefühl, Besiegte zu sein und nicht Gleichberechtigte." ({0})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat die Ministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Frau Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer. ({0})

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, es ist im Grunde jedem bewußt, daß er eine böswillige Unterstellung begeht, wenn er sagt, die Regierung sei sich der Schwierigkeit der Lage nicht bewußt und setze nicht wirklich alles daran, den Menschen in den fünf neuen Bundesländern zielgerichtet zu helfen. ({0}) Wir wissen sehr wohl, vor welche ungeheuren Probleme die Menschen gestellt sind, die sich mit einem neuen demokratischen System, mit einem völlig neuen Rechtssystem und mit einem völlig neuen sozialen System konfrontiert sehen. Kein Mensch hat geglaubt, daß diese Schwierigkeiten leicht zu bewältigen sein würden. Aber wir alle hatten gehofft, daß sich diejenigen, die in diesem Staat Regierungsverantwortung, aber auch Verantwortung als Opposition tragen, zumindest dieser Verantwortung bewußt sind und dazu beitragen - Herr Weiß, das haben Sie gesagt - , daß friedliche Demonstrationen nicht in Gewalt umschlagen. Das kann man, meine Damen und Herren, allerdings nur, wenn man besonnen ist und wenn man auch selber anderen hilft, besonnen zu sein. Ihre Rede, Herr Weiß - ich bin ganz sicher, das werden Sie selber sehen, wenn Sie sie in drei Jahren nachlesen -, hat dazu nicht beigetragen. ({1}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich bin genauso wie alle anderen Mitglieder der Bundesregierung in den letzten Wochen und Monaten oft in den fünf neuen Bundesländern gewesen. Wir alle haben mit den Menschen in ganz unterschiedlichen Situationen gesprochen. ({2}) - Herr Kollege, ich habe dabei sehr viel gelernt. Ich habe begriffen, daß die Menschen natürlich ungeduldig sind. Nach 40 Jahren haben sie aus eigener Kraft etwas erreicht, und nun wollen sie schnell Veränderungen sehen. In vielen Fällen sind diese Veränderungen zunächst mit ungeheuren Härten verbunden. Aber, meine Damen und Herren, wir selber sind selbstverständlich ebenfalls ungeduldig, weil wir gerne sehen möchten, daß sich etwas positiv verändert. Deswegen sage ich Ihnen: Ich reise im Moment nicht sehr oft in die fünf neuen Länder. Wahrscheinlich wirft mir das irgend jemand vor. Aber ich sage: Ich bin lieber hier in Bonn und treffe Hunderte von Entscheidungen, die notwendig sind, damit die Zahnräder endlich ineinandergreifen können. ({3}) Genau das haben wir doch in der Tat seit dem Einigungsvertrag gelernt. Der Einigungsvertrag hat uns viel Mühe gemacht. Herr Vogel, ich möchte Sie daran erinnern, daß wir uns damals in der Bewertung der Situation völlig einig waren, nämlich darin, daß noch viel getan werden müßte. Wir haben die Verantwortung übernommen, und wir haben sie gerne übernommen. Wir müssen jetzt diese vielen kleinen Entscheidungen treffen, damit es wirklich vorangehen kann. Die deutsche Einheit war nicht zu planen; die Auswirkungen waren nicht zu planen. ({4}) - Ach, wer das sagt, zeigt wirklich nur, daß er sich damit überhaupt nicht beschäftigt hat. ({5}) - Das Stichwort, Herr Kuhlwein, nehme ich wirklich gerne auf, gerade für den Bereich, für den ich jetzt Verantwortung trage, nämlich für die Wohnungspolitik. Ich weiß sehr wohl, und jeder weiß es, daß die Wohnung kein Wirtschaftsgut wie jedes andere ist, sondern daß damit viele Gefühle, Heimatgefühle, verbunden sind. Deswegen sage ich Ihnen: Sozial handeln heißt nicht, das zu tun, was viele aus der Opposition hier fordern, nämlich die alten Strukturen zu zementieren. ({6}) Vielmehr kann sozial handeln nur heißen, den Weg für eine bessere Wohnungsversorgung zu ebnen, und das ist eben nicht in den alten Strukturen und auch nicht zu den alten Preisen zu haben. ({7}) Aber sozial handeln heißt eben auch, daß - wie wir es jetzt vorgelegt haben - die Mieten in einem begrenzten Umfang steigen, daß aber gleichzeitig mit der Steigerung der Mieten dafür gesorgt wird, daß ein angemessenes und großzügig bemessenes Wohngeld ausgezahlt werden kann. Das haben wir getan, und ich denke, daß wir damit auch ein Stück Hoffnung gesetzt haben, nämlich Hoffnung darauf, daß sich die Wohnungsversorgung möglichst schnell verbessert. ({8}) Frau Kollegin, nun haben Sie gesagt, was Sie von der Politik der Bundesregierung halten. Ich hoffe, Sie werden, wenn Sie sich das, was Sie gesagt haben, noch einmal durchlesen, selber dahinterkommen, daß das unangemessen war. ({9}) Sie haben uns nämlich vorgeworfen, die Politik dieser Regierung sei eine Politik der unterlassenen Hilf eleistung. ({10}) Ich möchte einmal daran erinnern, daß diese Bundesregierung in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres mehr als 55 Milliarden DM allein dafür aufgebracht hat, die wirklich notwendigen Dinge zu finanzieren. Wir werden in diesem Jahr 1991 mehr als 100 Milliarden DM zur Verfügung stellen, um nicht nur die notwendige soziale Absicherung, die Abfederung des Strukturwandels, sondern auch den Strukturwandel selber zu finanzieren. Ich sage Ihnen - weil der Herr Briefs hier immer dazwischengerufen hat: Konkret! - , was das konkret bedeutet. Alleine für den Haushalt, den ich zu verantworten habe, gibt es 10 Milliarden DM an zinsverbilligten Krediten für Modernisierung und Instandsetzung im Wohnungsbereich aus der Kreditanstalt für Wiederaufbau; 700 Millionen DM Zuschüsse für die Modernisierung von Heizungsanlagen, von sanitären Anlagen und der Außenhaut im maroden Gebäudebestand; 200 Millionen DM Zuschüsse für diejenigen, die sich ihre selbstgenutzte Wohnung kaufen möchten; 190 Millionen DM Zinszuschüsse für diejenigen, die inzwischen die gestiegenen Hypothekenzinsen als Vermieter oder als Eigenheimnutzer nicht mehr zahlen können; 120 Millionen DM, damit die Häuser fertiggestellt werden können, die vor der Wirtschafts- und Währungsunion angefangen worden sind; 1 Milliarde DM für den sozialen Wohnungsbau; 400 Millionen DM für den Städtebau; 180 Millionen DM für städtebaulichen Denkmalschutz - ich finde, dieser Punkt ist ganz wichtig, um die Identifizierung der Menschen mit ihrer eigenen Heimat zu fördern -; 650 Millionen DM Wohngeld nur für die fünf neuen Bundesländer. Wir haben die Eigentumsfragen so geklärt, daß die Investitionen jetzt durchgeführt werden können. Wir haben die technischen Fragen der Wohnungsumwandlung und auch der Wohnungsmodernisierung geklärt. Wir haben das Planungsrecht vereinfacht. Wir haben das Verfahren zur Erteilung von Baugenehmigungen vereinfacht. Wir haben das Wohngeld vereinfacht. Wir haben die Mietenverordnungen ausgearbeitet und sozialverträglich gestaltet. Dies ist wirklich ein Riesenprogramm, das auch notwendig war. ({11}) Ich möchte, daß jetzt überall in den fünf neuen Bundesländern die Baugerüste aufgestellt werden. Die finanziellen Mittel sind da; die gesetzlichen Grundlagen sind da. Jetzt kann es losgehen. Ich bin ganz sicher, daß das notwendig ist, um den Menschen die Hoffnung zu geben, auf die sie schon lange warten. Ich danke Ihnen. ({12})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Eberhard Brecht.

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! ({0}) Der 18. März 1990, der Tag der ersten freien und geheimen Wahlen in der DDR, war das Ergebnis eines erwachenden Selbstbewußtseins der Menschen dort in der DDR. Heute ist dieses Selbstwertgefühl verletzt. Nach einer „Spiegel"-Umfrage fühlen sich 85 To der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse. ({1}) - Sie waren vorher klassenlos. Das stimmt. Sie spüren, daß der politische Wille hier in Bonn kaum noch registriert wird. Sie spüren, daß sie wirtschaftlich ohnmächtig sind, in eine Strukturkrise taumeln und daß sie sich in einem sozialen Status befinden, der sich ständig verschlechtert. Die eigentliche Tragik wurzelt jedoch im kulturellen Kontext ihrer Existenz. Der berechtigte Wunsch, mit den bedrückenden Verhältnissen der Vergangenheit restlos aufzuräumen, führt die Menschen in das unausweichliche Dilemma eines völligen Werte- und Identitätsverlustes. Aber wie sollen die Menschen überleben, wenn sie ihre Vergangenheit restlos verloren haben? Da helfen auch nicht hemdsärmelige Aufrufe des Herrn Rose, man sollte nun doch einfach einmal anfangen. Hier sind Dinge zerstört, die nicht so schnell zu reparieren sind. ({2}) Wie die alltäglichen sozialen Sorgen bei uns aussehen, will ich an drei Beispielen belegen. Da kommt eine Handwerkerfrau in mein Wahlkreisbüro, deren Betrieb keine Aufträge mehr hat, die aber ohne Arbeitslosenunterstützung und ohne eine Vorruhestandsmöglichkeit nicht weiß, wie sie ihre Miete zahlen soll. Ein Rentner kommt zu mir und sagt, er könne die Kohlenpreise nicht mehr zahlen, und fragt, ob es nicht eine Möglichkeit gebe, für ihn speziell eine Ausnahmeregelung zu finden. Kürzlich erhielt ich einen Anruf von einer Vorruheständlerin, deren Zahlungen seit Monaten ausgeblieben sind und die jetzt nicht mehr weiß, wie sie weiterleben soll, die Probleme hat, sich zu ernähren. Der innere Frieden in der ehemaligen DDR ist in hohem Maße gefährdet. Die großen Hoffnungen der Ostdeutschen auf die Segnungen der alten Bundesrepublik waren der Nährboden für ihre Leichtgläubigkeit, mit der sie den unverantwortlich überzogenen Versprechungen der Regierungskoalition begegneten. Hoffnungen und Versprechen schufen einen unerfüllbaren Erwartungshorizont der Menschen in den neuen Bundesländern. Die CDU und die CSU, aber auch die FDP hatten den Wessis eine Freikarte für das Theaterstück „Deutsche Einheit" und den Ossis aus wahltaktischen Gründen ein heiteres Stück mit baldigem Happy-End versprochen. ({3}) Sie mußten doch wissen, daß dieses Stück Eintritt kosten und notwendig ein Drama sein würde. Dazu kamen noch die Regiefehler des Herrn Kohl, der die Fachminister meist zu spät auf die Bühne des politischen Geschehens schickte - so auch heute. Auch er selbst verpaßte den rechtzeitigen Auftritt auf der Bühne des Ostens. Ich beneide ihn nicht um seinen nachösterlichen Adrenalinausstoß. ({4}) Als in Deutschland-Ost 1990 viermal gewählt wurde, wählte man die D-Mark und vertraute der selbsterrichteten und wohlgepflegten Aura wirtschaftspolitischen Sachverstands der Unionsparteien. ({5}) Diesen Kredit haben Sie im Osten verspielt. Kaum jemand dort wird noch mit dem Kürzel „CDU" prosperierende Wirtschaft assoziieren. Angesichts der Demonstrationen sollte die Bundesregierung nun nicht vorrangig Konzepte zum Erhalt der inneren Sicherheit erarbeiten, sondern die Ursachen der sozialen Verwerfungen angehen. Wir Sozialdemokraten sind dabei zur Zusammenarbeit bereit. Ich weiß nicht, inwieweit die Angebote von Herrn Blüm auf eine große Koalition hinauslaufen oder wie sie gemeint waren. ({6}) Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen: Neben den kurzfristig zu behebenden Problemen - ich nenne den Aufbau der Wohlfahrtsverbände und die Behebung der Probleme in den Arbeitsämtern Dr. Eberhard Brecht sollten auch langfristige Probleme bedacht werden, die in diesem Hause noch nicht angesprochen worden sind. Angesichts der Tatsache, daß sehr viele Bürger ihre Häuser zugunsten von Wessis, die Ansprüche erheben, räumen müssen, und angesichts der Tatsache, daß viele Immobilien verkauft werden müssen, weil Liquiditätsprobleme bestehen, sollte darüber nachgedacht werden, wie in diesem Hohen Hause eine Möglichkeit geschaffen werden kann, den Menschen in der ehemaligen DDR zu einer Vermögensbildung zu verhelfen.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Abgeordneter, kommen Sie bitte zum Ende.

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, ich komme zum Ende. Ich möchte am Schluß noch einen kleinen Witz anfügen. ({0}) In der DDR wurde der SED-Staat mit einer Champignonzucht verglichen: Alle wurden im Warmen und im Dunkeln gehalten, zuweilen mit ein wenig Mist bestreut, und wenn sich ein heller Kopf zeigte, wurde er abgeschnitten. Inzwischen wurde in dieser Champignonzucht erfreulicherweise das Licht angeschaltet, aber gleichzeitig wurde die Heizung abgedreht, so daß die verbliebenen hellen Köpfe gen Westen auswandern. - Sorgen wir dafür, daß diese Heizung möglichst schnell wieder eingeschaltet werden kann! Ich bedanke mich. ({1})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat Frau Dr. Gisela Babel.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte erfordert von uns Sinn für Realität. Zwei unterschiedliche, gegenläufige Aussagen sind wahr: Die Situation ist sehr schwierig für unsere Landsleute, aber die Bundesregierung, die Koalition tut ungeheuer viel. Die Debatte erfordert von uns Mitgefühl, und sie verpflichtet uns auch, auf diese Maßnahmen hinzuweisen und damit Signale der Hoffnung zu geben. Wenn ich mir die Beiträge der Opposition vor Augen führe, dann kann ich sagen, daß Sie sich dieser zweiten Aufforderung völlig entziehen. ({0}) Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie machen den Eindruck, als weideten Sie sich an dem Unglück, an den Schwierigkeiten und an den Ängsten, die drüben bestehen. ({1}) Kein einziger Satz von Ihnen deutet darauf hin, daß Sie den Bürgern drüben zutrauen, daß sie es schaffen werden und daß Sie ihnen Mut dabei machen. Sie machen genau das Gegenteil: Sie entmutigen und demotivieren: ({2}) Jedermann weiß, daß die Umgestaltung einer sozialistischen Kommandowirtschaft und die Korrektur einer 40jährigen Fehlentwicklung nicht über Nacht geschieht. Jedermann weiß auch, daß dieser Anpassungsprozeß schmerzhaft ist und mit vielen Problemen für die betroffenen Arbeitnehmer verbunden ist, die die Zeche für den Sozialismus zahlen müssen. ({3}) Insofern kann ich die Unruhe, die vor Ort bemerkbar ist, gut verstehen. ({4}) Aber ich sollte vielleicht einmal an den Bundespräsidenten erinnern. Er hat gesagt: Ungeduld hilft nicht. ({5}) Wir müssen durch private und öffentliche Investitionen endlich den Startschuß für eine Wiederbelebung und für den Wiederaufbau der Wirtschaft drüben geben. Lassen Sie mich, weil ich diese Aufforderung, positive Signale auszusenden, für mich selbst auch ernst nehme, auf die Maßnahmen zu sprechen kommen, die wir in der Arbeitsmarktpolitik und in der Sozialpolitik von seiten der Bundesregierung, der FDP und der CDU dazu verabschieden. Stichworte sind: Verlängerung der Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes, die Qualifizierung - das ist ganz wichtig, um für produktive Arbeitsplätze gerüstet zu sein - und der Ausbau von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, und zwar in einem Umfang, den wir noch niemals zuvor hatten: 278 000 Maßnahmen. Hier wird die Arbeitsverwaltung in einer Weise gefordert werden, daß wir hoffen, daß wir am Ende des Jahres nicht mehr eine Mark übrig haben, d. h. daß die Arbeitsverwaltung in der Lage ist, all dieses Geld auch auszugeben. ({6}) Ich habe in der vergangenen Woche den intelligenten Einsatz von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gefordert, nämlich die Verbindung mit Qualifizierungsmaßnahmen und auch die Vergabe an mittelständische Unternehmen, von denen im Hinblick auf die Entwicklung des Wirtschaftsgeschehens drüben sehr viel abhängt. Ich glaube, es ist wichtig, auf die Gewährung der Sachkostenzuschüsse hinzuweisen, damit nicht mangels finanzieller Möglichkeiten sinnvolle Maßnahmen unterbleiben. Am Geld, so kann man heute mit gutem Gewissen sagen, liegt es nicht. Viel liegt an einer hochempfindsamen Stimmungslage, vielleicht ge1132 schürt, zumindest nicht entschärft von der Opposition, ({7}) an Unsicherheit, Mutlosigkeit und Angst. ({8}) Ich glaube, es ist auch wichtig, im Bundestag darauf hinzuweisen: Auch die Bürger der alten Bundesländer leisten einen enormen Beitrag zur Gesundung der Wirtschaft in den neuen Bundesländern. Für uns ist es auch wichtig, auf folgendes hinzuweisen: 100 Milliarden DM werden dorthin fließen. Unsere Bürger tragen dazu bei, und zwar für alle. Wir brauchen jetzt drüben Ideen und eine gute Organisation. Von seiten des Bundestags und der Bundesregierung kann - das wird oft übersehen - nicht entschieden werden, was vor Ort wirtschaftlich, infrastrukturell und aus sozialpolitischen Gründen gefordert und zu leisten ist. Meine Damen und Herren, wir richten an die Städte und Gemeinden den Appell, in den neuen Bundesländern rasch zu handeln und die mittelständischen und ortsansässigen Unternehmen besonders zu berücksichtigen. Mein Appell geht an die Landesregierungen und an die Bundesregierung: Verzichten Sie auf jede bürokratische Perfektionierung, und geben Sie den Entscheidungen vor Ort grünes Licht. ({9}) Wer jetzt erst Prioritätenlisten aufstellt und in bürokratischen, komplizierten Abstimmungsprozessen darüber entscheiden will, vergeudet wertvolle Zeit.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Frau Abgeordnete, kommen Sie bitte zum Ende.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mein letzter Satz: Unsere Landsleute machen schlimme Zeiten durch. Aber sie haben wesentlich schlimmere Zeiten hinter sich. Wir dürfen nicht müde werden, ihnen unsere volle Unterstützung zuzusagen und ihnen zu versichern, daß sie den Sprung in die soziale, umweltfreundliche Marktwirtschaft schaffen werden. Vielen Dank. ({0})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat Frau Abgeordnete Claudia Nolte.

Claudia Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001621, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die revolutionären Veränderungen in Ostdeutschland haben für uns junge Menschen neue Freiheiten und Lebenschancen eröffnet. Vielleicht fällt es manchen in den alten Bundesländern schwer nachzuvollziehen, wie wichtig für uns die Tatsache ist, endlich frei zu sein. Ich kann Sie, Frau Dr. Lucyga, nicht verstehen, daß Sie diese Freiheit so abqualifizieren. ({0}) Was die Bewohner in den alten Bundesländern als selbstverständlich erachten, nämlich seine Meinung offen sagen zu können, freie Jugendarbeit leisten zu können, endlich keine staatliche Bevormundung mehr zu erleben, Zeitungen unterschiedlicher politischer Ausrichtung lesen zu können, nahe und ferne Länder bereisen zu können, alles das war für uns etwas ganz Besonderes. Die Entwicklung in Deutschland schuf für uns neue Perspektiven. Daß der Übergang von der sozialistischen Kommandowirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft eine große Herausforderung darstellt und vorübergehende Probleme mit sich bringt, wurde realistischerweise nie bestritten. Eine Umfrage des Zentralinstituts für Jungendforschung aus dem vergangenen Jahr belegt, daß sich die ostdeutschen Jugendlichen kaum Illusionen über die wirtschaftlichen Verhältnisse machten: 80 % erwarteten Massenarbeitslosigkeit in Millionenhöhe, 76 % beurteilten die wirtschaftliche Lage in der DDR als schlecht, und 60 % erwarteten, daß ein wirtschaftlicher Aufschwung erst nach mehr als drei Jahren einsetzen werde. Obwohl sie die Probleme des Übergangs realistisch einschätzten, waren die jungen Menschen zu über 80 % für die deutsche Einheit. Sie wußten, daß das die einzige Alternative war, aus dem Dilemma der Wirtschaft der ehemaligen DDR herauszukommen. Die CDU/CSU ist sich ihrer Verantwortung bewußt, alle Maßnahmen zu unterstützen, die darauf hinzielen, gleiche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zu verwirklichen. Jugendliche erleben das insbesondere bei ihrer Suche nach einem Ausbildungsplatz. Um diese Erwartung zu erfüllen, ist es dringend notwendig, gemeinsame Anstrengungen nach dem Vorbild der Lehrstellenoffensive der 80er Jahre zu unternehmen. Dazu bedarf es des Zusammenwirkens von Unternehmen, Kammern und Verbänden. Auch Wirtschaft und Tarifpartner müssen ihren Beitrag dazu leisten, daß in den neuen Ländern Ausbildungs- und Weiterbildungskapazitäten erhalten und neu geschaffen werden. Wir begrüßen es deshalb, daß die betreffenden Ressorts das in der Koalitionsvereinbarung vorgesehene Programm „Berufliche Bildung für die neuen Länder" vorbereiten. Unser Ziel muß es sein, jedem Schulabgänger seinen Ausbildungsplatz zu sichern. ({1}) 40 Jahre lang hat man den Menschen in Ostdeutschland versprochen, mit sozialistischer Politik schaffe man ein Arbeiter- und Bauernparadies. Wir haben nie versprochen, daß wir auf Erden ein Paradies schaffen könnten. Ein Jahr nach den ersten freien Wahlen in der ehemaligen DDR und keine sechs Monate nach der deutschen Wiedervereinigung kann man keine Wunder erwarten. Die wirtschaftliche Situation in den neuen Bundesländern wird nicht gut, indem wir sie einfach für gut erklären. Aber wer nur miesmacht und günstige Entwicklungen einfach verschweigt, erweckt den EinClaudia Nolte druck, er sei gar nicht daran interessiert, daß es besser wird. ({2}) Wer nur ständig entmutigt wird, kann keine innovativen Kräfte aufbringen. Die wirtschaftliche Lage in der ehemaligen DDR stellt sich durchaus differenziert dar: Ohne bestehende Schwierigkeiten leugnen zu wollen, habe ich doch feststellen können, daß auch Fortschritte sichtbar sind. Ich möchte diese Gelegenheit nicht versäumen, insbesondere den Kommunalpolitikern zu danken, die mit Engagement und Phantasie die zur Verfügung gestellten Mittel nutzen, um damit einen wichtigen Beitrag zum Aufbau zu leisten. Es sind eben viele Dinge nicht von Bonn aus zu lösen, sondern nur vor Ort. ({3}) Niemand leugnet die Herausforderungen, vor denen wir stehen. Aber es nützt niemandem, wenn Sie nur destruktiv kritisieren, anstatt mitzuhelfen, daß die von den Koalitionsparteien eingeleiteten Maßnahmen rasch greifen und klar wird: Es geht vorwärts, wenn wir gemeinsam vorangehen. Danke. ({4})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat Herr Abgeordneter Wolfgang Thierse.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe nichts gegen Ermunterung, Frau Merkel, Herr Menzel, Herr Eppelmann. Wahrhaftig nicht. Aber darf ich Ihnen, meine lieben Kollegen aus der alten Bundesrepublik, ein kleines öffentliches Privatissimum über die Theorie des sozialistischen Realismus abhalten? Sie kennen das: Das war die offizielle Kunstdoktrin des realen Sozialismus, der gewissermaßen selber ein Werk des sozialistischen Realismus war, ein Lügengebäude, ein Gebäude der Schönfärberei. Und dahinter war viel weniger. Wir, die wir das erlebt haben, haben darüber gelacht, um die Peinlichkeit, mit der wir behelligt wurden, loszuwerden. Aber wir haben auch unter Beschädigungen gelitten. Eine der Beschädigungen war eine Grundfigur, nämlich daß die Wirklichkeit, die wir selber erfahren haben, offiziell in den Reden immer schöner sein mußte, als sie war. Die andere Grundfigur war, daß es immer einen Schuldigen gab. Damals hieß er der Klassengegner, der Imperialismus oder so etwas. Ich erinnere daran, um Sie wirklich zu bitten, daß wir uns vielleicht doch einigen könnten in der Wahrnehmung von Realität. Diese Anstrengung müßte uns wenigstens verbinden. Ich habe jedenfalls einen erheblichen Widerwillen gegen alle Versuche, etwas schönerzureden, als es ist. ({0}) Diejenigen, die versuchen, ihre Realitätswahrnehmung - auch aus der eigenen Erfahrung; wir leben ja immer noch dort - hier einzubringen, als „Schwarzmaler" oder als „Brandstifter" zu bezeichnen - das ist finde ich, ein schlimmes Wort, lieber Kollege Eppelmann. ({1}) Es geht doch nicht ums recht haben; das können Sie uns und mir glauben. Vielleicht können Sie - Sie müssen es nicht laut sagen - sich selber leise zugeben, daß wir in mancherlei Hinsicht mit unseren skeptischen Hinweisen auf die riesigen Probleme, die zu bewältigen sind, recht gehabt haben. Das ist doch kein Anlaß zum Triumph. Mich stimmt es traurig, daß manche Prophezeiungen eingetroffen sind, von denen wir geredet haben. ({2}) Es geht doch nicht um parteipolitische Borniertheit, daß man einen Triumph erzielen will. Wir haben doch gar keinen erzielt mit unseren Warnungen. Es geht doch also gar nicht um einen Triumph, sondern es geht darum, daß wir daran erinnern: Dies ist einerseits Produkt von 40 Jahren, was wir jetzt erleben, aber es ist auch Produkt einer halbjährigen wirtschaftspolitischen Tatenlosigkeit oder, wenn ich mich freundlich ausdrücken will, einer Tatenarmut. ({3}) Ich bitte, noch ein Wort zu den sozialen Protesten sagen zu dürfen. Ich finde es schlimm, daß da immer von Anstiftung die Rede ist. Da würden Ängste und Unsicherheiten von denen geschürt, die da protestieren. Man soll nicht Ursache und Wirkung verwechseln. Auch dies ist eine Figur, die ich kenne. Auch die SED-Führung hat sich die eigene Bevölkerung immer als angestiftete, als manipulierte vorgestellt. Das allerdings ist eine Erfahrung, die nun wiederkehrt. Und die will ich hier noch einmal benennen: Über alle wirtschaftlichen und sozialen Probleme hinaus ist es das eigentlich Schlimme der Situation, daß das Grundbefinden eines großen Teils der Bevölkerung im östlichen Deutschland etwa so ist, daß sie sagt: Wir sind wieder das, was wir 40 Jahre lang waren ({4}) - Moment - : Objekt von Politik, Objekt von Entscheidungen anderer. ({5}) - Ich beschreibe eine Grundbefindlichkeit. Was wir wollen, ist doch: eine Chance für unseren Fleiß haben, eine Chance, daß wir an der Arbeit, an unserem Wohlstand, an unserem Glück, an unserer Freiheit teilnehmen können. ({6}) Es geht darum, daß wir sie nicht als mehr oder minder großzügig gewährtes Geschenk erhalten. Worum es uns jetzt geht, ist etwas ganz Einfaches: Es geht um Transformation und nicht um Vernichtung. Das ist die wirkliche Alternative. ({7})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat Herr Abgeordneter Rolf Rau.

Rolf Rau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001781, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Die wahren Montagshelden sind müde! Zugereiste Funktionäre machen sich die schlechte Stimmung unter der Bevölkerung zunutze. " ({0}) So die Überschrift einer überregionalen ostdeutschen Zeitung. Diese Schlagzeile muß uns zu denken geben. ({1}) - Meine Damen und Herren, Sie müssen immer zu Ende hören. Ich habe von Herrn Thierse zwar leise Töne gehört, aber keinen Weg gezeigt bekommen, wie es laufen sollte. ({2}) - Ich möchte es auf den Weg bringen. So ist es nur gut und richtig, daß Pfarrer Führer - auch Ihnen bekannt - in der Nicolai-Kirche zu Leipzig zu seiner Gemeinde sagte: „Wir gehören nicht zu denen, die zurückweichen und die verlorengehen." In einem Brief an kirchliche Mitarbeiter wirbt er für das Eintreten für den inneren Frieden. Die Verfasser dieses Briefes rufen auf, in Gottesdiensten, öffentlichen Veranstaltungen und Demonstrationen die Mißstände zu beklagen und die errungene Freiheit selbstbewußt auszufüllen. Doch der Protest, mahnen sie, solle ohne Gewalt ausgehen. Insofern kann man das, was in Dresden gestern abend war, und das, was in Leipzig zu einem anderen Zeitpunkt geschah, nicht miteinander vergleichen. Im übrigen ist es klug und richtig, wenn wir die guten Traditionen pflegen, also die Montagsdemonstrationen, die uns hierher gebracht haben, und wenn wir für Dinge, die andere Auseinandersetzungen erfordern, einen anderen Tag suchen, um diesen traditionsreichen Tag nicht zu belasten. ({3}) Im Umgang mit der erworbenen Freiheit ist die Angst ein schlechter Ratgeber. Zuversicht, Ideenreichtum und persönliches Engagement werden gebraucht, um die Zukunft eines jeden mitzugestalten. ({4}) Insofern verstehe ich es beispielsweise nicht, daß der Oberbürgermeister von Leipzig, Ihr Kollege, im Fernsehen den Finger nach Bonn richtet und nach Geld ruft, aber eine ganze Menge Investoren in Leipzig vor seiner Tür stehen und von ihm nicht bedient werden. Vielleicht sollte er sich darum kümmern. ({5}) Dagegen hat unser Kollege Krause - hören Sie zu - in seinem Wahlkreis mit dem Landrat von Neustrelitz, SPD, und dem Landrat von Bad Doberan, CDU, eine Aktion gestartet, bei der 2 000 Menschen durch AB-Maßnahmen in Arbeit gekommen sind. Man muß weiter wissen: Nach einem Haushalt in der DDR von 26 Millionen Mark ({6}) im Jahr 1989 sind nun 2,1 Milliarden DM für das Verkehrswesen bereitgestellt worden. Auch das ist eine konkrete Zahl. Ich gebe Ihnen noch einen anderen Hinweis. Ich habe in der „Leipziger Volkszeitung", einem Blatt mit einer Auflage von immerhin 400 000 Exemplaren, angeregt, die Wohnungen an die bisherigen Mieter zu vergeben, um auch dort aktiv zu werden. Innerhalb von acht Tagen sind sage und schreibe 200 Briefe gekommen, die das befürworten. Die Leute haben mich angeschrieben, um deutlich zu machen, daß sie nicht nur zum geliebten Trabi oder zum besseren Auto, sondern jetzt auch zur Wohnung ein neues Besitzverhältnis - ich möchte sogar sagen: perspektivisch ein Wohlstandsverständnis - entwickeln. Insofern ist es gut und gerecht, daß Mieterbund und auch Hausbesitzer unterschiedliche Meinungen artikulieren dürfen. Nur halte ich es nicht für richtig, in diesem Bereich durch die Erhebung von Zahlen - einmal nach unten, einmal nach oben - die Angst zu schüren. Es ist daher gut und richtig, wenn wir deutlich machen, daß die Wohnsubstanz einer baldigen Verbesserung bedarf. Die Bürger wollen das auch. Das wissen Sie so gut wie ich. Durch die Entscheidungen zum Wohngeld, die jetzt gefallen sind, sind wir in die Lage versetzt worden, nicht bloß über die Mieten zu reden, sondern auch darüber, daß es nun für die Bürger wieder Zuversicht und Perspektive gibt. In Gesprächen mit unseren Ländern wurde deutlich gemacht, daß die Kommunen in der Lage sind, das Wohngeld zu berechnen und auszuzahlen. Herr Stolpe hat das heute noch einmal bestätigt. Es muß unsere Aufgabe sein, das Zusammenspiel zwischen Bürger und Kommune, Land und Bund in einer harmonischen Arbeitsweise weiter zu vertiefen. Dort sehe ich auch für sie eine größere Perspektive und Aufgabe. Ich nenne noch etwas Konkretes - denn Sie haben ja gesagt, wir sollten konkret reden - : Ich finde es sehr positiv, daß in diesen Tagen für unsere Eigenheimbauer, die wegen ihres Grund und Bodens in Sorge waren, Entscheidungen gefallen sind, wonach es zu einer vertraglich geregelten Grundbucheintragung kommen kann, wie das schon vor dem 2. Oktober 1990 angedacht war. Ich hoffe, mit diesen Gedanken deutlich gemacht zu haben, daß man sich immer die Frage stellen muß: Will ich Angst schüren, oder will ich Ängste abbauen helfen? Das muß sich jeder fragen, der sich in Deutschland in Verantwortung für Wirtschaft und Politik begibt. ({7})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat Herr Abgeordneter Jochen Feilcke.

Jochen Feilcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Thierse, Sie sprachen davon, daß die Mehrheit der Menschen in den neuen Ländern ein denkbar schlechtes Gefühl hat, daß es überwiegend negative Zukunftserwartungen gibt. Es gibt eine aktuelle Untersuchung des Instituts für angewandte Sozialwissenschaft: Politische Stimmung ein Jahr nach der Volkskammerwahl. Ich will mich damit nicht beruhigen, ich will Sie nur informieren: Fast zwei Drittel der Menschen sehen ihre eigene Situation überwiegend als gut an. Wohlgemerkt: ihre eigene Situation. Damit will ich nichts schönreden. ({0}) - Ich beziehe mich ausdrücklich auf eine Umfrage, die ich meinerseits nun nicht überprüfen kann. Ich möchte gegen Ende der Debatte den Eindruck wiedergeben: Es gibt wohl niemanden hier im Raum, der nicht Verständnis hätte für die Demonstrationen und für die Demonstranten. ({1}) Ich hoffe aber auch, Herr von Larcher, daß es kaum jemanden oder niemanden hier gibt, der Verständnis für die Organisatoren dieser Demonstrationen hat, die mit dem Gefühl von Unsicherheit spielen, die ihr politisches Süppchen kochen wollen. Wenn politische Parteien und Gewerkschaften ihre Organisationskraft, ihre Mitgliederzahlen darauf gründen wollen, daß sie das Prinzip Hoffnungslosigkeit predigen, ({2}) dann stärken sie den Trend zur Resignation. Wer Zukunftsangst sät, wird hoffentlich keine Zukunft haben. ({3}) Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit auch ein Wort zu meinem Berliner Bischof Forck sagen. Der Ost-Berliner Bischof Forck macht sich hier zum Sprecher einer verbreiteten Meinung. Ich hoffe, daß Sie ernst nehmen, was ich jetzt sage: Die Kirche sollte sehr wohl achtgeben, ob sie in seelsorgerischer Verantwortung Nöte benennt oder ob sie Problemlösungen dadurch erschwert, daß sie Stimmungen verschärft. ({4}) Die Kirche muß Hoffnung und nicht Hoffnungslosigkeit predigen. ({5}) Möglicherweise ist hier Herr Bischof Forck nicht so gut beraten wie in der Vergangenheit, da sein Berater jetzt Ministerpräsident in Brandenburg ist. Deshalb möchte ich noch einmal in Erinnerung rufen, was der Kollege Eppelmann ja schon mindestens in seinem Anfang zitiert hat, wobei er dann durch das Fallbeil der Zeit unterbrochen wurde, durch die an dieser Stelle ungnädige Präsidentin. ({6}) - Ich bitte sehr um Nachsicht. Stolpe: „Die Bonner lassen uns bei dem Umbau nicht im Stich." Der Regierungschef riet den neuen Bundesbürgern, sie sollten die Chancen der Marktwirtschaft nutzen, Arbeit werde es schon bald wieder reichlich geben. Seid nicht zu ungeduldig, mahnte er. Die Lage sei früher viel schlimmer als heute gewesen. Jetzt gebe es eine Zukunft. Wer das nicht sehen wolle, sei nicht nur auf einem Auge blind. ({7}) Meine Damen und Herren, ich möchte eine Berner-kung zu einem Thema machen, das insbesondere auch von dem Kollegen Dr. Brecht angesprochen worden ist: ({8}) Die Zahl der Arbeitslosen entwickelt sich wie befürchtet. Wer arbeitslos wird, braucht nicht nur Arbeit, sondern er braucht auch Ermutigung. In dieser zur Zeit aufgewühlten Stimmung sind Würde und Selbstwertgefühl der Menschen von ganz besonderer Bedeutung. Die Hinwendung zu den Menschen in den neuen Ländern erfordert allerdings mehr als nur Geld. Nicht nur finanzielle Zuwendung, sondern auch menschliche Zuwendung ist gefragt. Ich verweise hier auf einen sehr interessanten Beitrag von Georg Nolte, der an der Universität Leipzig lehrt, in der heutigen Ausgabe der „FAZ" . Wenn wir nur mit dem Geld, aber nicht mit dem Herzen dabei sind, ziehen wir Ressentiments auf uns. ({9}) Es muß die Deutschen in den östlichen Ländern verletzen, wenn z. B. Verwaltungsmitarbeiter nur mit attraktiven Angeboten zur Mitarbeit dort veranlaßt werden können. Das zusätzliche Geld wird übrigens bezeichnenderweise als Schmutzzulage genannt. ({10}) - Nein, von den Verwaltungsmitarbeiterinnen und -mitarbeitern, die oft nur mit Mühe zu gewinnen sind. ({11}) Die nationale Einheit muß von den öffentlich Bediensteten als eine Gemeinschaftsaufgabe, als eine neue Verpflichtung begriffen werden. Sie kann nur mit einer Solidarität, die alle erfaßt, bewältigt werden, und zwar von der Rheinschiene bis zum Oderbruch, von Konstanz bis nach Greifswald.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Abgeordneter, ich bin wieder ungnädig, kommen Sie bitte zum Schluß.

Jochen Feilcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es muß eine Aufbruchsstimmung entstehen - Frau Präsidentin, ich folge Ihrer Aufforderung selbstverständlich gerne -, damit unsere Forderung, die wir in Berlin erhoben haben, auch die Forderung dieses Parlamentes wird. In dieser Wahlperiode muß nach Möglichkeit verwirklicht werden: gleicher Lohn für gleiche Leistung. Leistungsbereitschaft und Leistungfähigkeit müssen gefördert werden, wo immer nur möglich. Vielen Dank. ({0})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Sehr geehrte Kollegen! Sehr geehrte Kolleginnen! Die Präsidentin ist mitnichten ungnädig, sondern die Präsidentin richtet sich nach unserer Geschäftsordnung. ({0}) Von den 14 Abgeordneten, die heute in dieser Aktuellen Stunde gesprochen haben, haben sich gerade sieben, also die Hälfte, ({1}) an die vereinbarte Redezeit von fünf Minuten gehalten. Zu diesen hat der Kollege Feilcke nicht gehört. ({2}) Nachdem weitere Wortmeldungen nicht mehr vorliegen, schließe ich damit die Aktuelle Stunde. Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf: a) Beratung des Berichts der Enquete-Kommission „Gestaltung der technischen Entwicklung; Technikfolgenabschätzung und -bewertung" gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 5. November 1987 Chancen und Risiken des Einsatzes von Expertensystemen in Produktion und Medizin - Drucksache 11/7990 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung ({3}) Innenausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Post und Telekommunikation Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit b) Beratung des Berichts der Enquete-Kommission „Gestaltung der technischen Entwicklung; Technikfolgenabschätzung und -bewertung" gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 5. November 1987 Bedingungen und Folgen von Aufbaustrategien für eine solare Wasserstoffwirtschaft - Drucksache 11/7993 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung ({4}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Meine Herren und Damen, im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung zwei Stunden vereinbart worden. Ich sehe zu dieser Vereinbarung keinen Widerspruch. - Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und rufe den Kollegen Dr. Voigt ({5}) auf.

Dr. Hans Peter Voigt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002387, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag beschloß in seiner 36. Sitzung am 5. November 1987, eine EnqueteKommission „Gestaltung der technischen Entwicklung; Technikfolgenabschätzung und -bewertung" einzusetzen. Diese Enquete-Kommission hat vier Berichte vorgelegt. Zwei von diesen hier vorgelegten Berichten werden wir heute diskutieren. Der erste Bericht, der dem Deutschen Bundestag vorgelegt wurde, hatte die Aufgabe, einen Rahmen dafür aufzuzeigen, wie in Zukunft die Technikfolgenabschätzung den Deutschen Bundestag und hier vor allem die Abgeordneten des Deutschen Bundestags begleiten sollte. Diese Empfehlungen sind in der Zwischenzeit umgesetzt worden. Wir sind in der glücklichen Lage, ein Büro zu haben, das sich mit Technikfolgenabschätzung beschäftigt. Die zwei exemplarischen Untersuchungen, die parallel zu diesem mehr Institutionalisierungsbericht zu nennenden Bericht heute vorliegen, beschäftigen sich mit Fragen, die wir in der heutigen Diskussion erörtern wollen. Es geht erstens um „Chancen und Risiken des Einsatzes von Expertensystemen in Produktion und Medizin" und zweitens um „Bedingungen und Folgen von Aufbaustrategien für eine solare Wasserstoffwirtschaft". Ich möchte mich in meinem kurzen Beitrag auf zwei Themen konzentrieren. Zunächst einmal möchte ich noch einige grundsätzliche Bemerkungen zur Technikfolgenabschätzung machen. Zum zweiten möchte ich mich mit dem Teilbericht beschäftigen, der die Anwendung von Expertensystemen in der Medizin betrifft. Zu anderen Themen dieses Berichtes der Enquete-Kommission werden sich dann meine Kollegen Christian Schmidt, Brigitte Baumeister und Dietrich Mahlo äußern. Zunächst also zu den grundsätzlichen Fragen der Technikfolgenabschätzung. Es gibt eigentlich zwei Gründe, darauf in dieser Diskussion noch einmal einDr. Hans-Peter Voigt ({0}) zugehen. Der eine Grund ist, daß dies die erste Diskussion im 12. Deutschen Bundestag ist, die sich mil der Technikfolgenabschätzung beschäftigt. Der zweite Grund ist - das ist gerade in der Diskussion der letzten Tage noch einmal deutlich geworden, als wir versucht haben, eine Strukturierung für unsere Arbeit zu finden - , daß auch Mitglieder anderer Ausschüsse, die sich mit Technikfolgenabschätzung-Themen im Grunde genommen beschäftigen - ich denke z. B. an den Umweltausschuß, an den Gesundheitsausschuß oder auch an den Ausschuß für Landwirtschaft und Forsten - , motiviert werden sollen, das Instrument der Technikfolgenabschätzung zu nutzen, uns, dem für diese Fragen federführenden Ausschuß, die Anregungen zu geben oder bei uns die Anträge einzubringen, die wir dann zu behandeln haben. Eines ist nämlich, so glaube ich, sicher: Trotz dei vielleicht zurückhaltenden Diskussion innerhalb dei Bundestagsfraktionen wird uns bei der Beratung von Themen, die hier relevant sind, die Technikfolgenabschätzung sehr intensiv begleiten, auch wenn der eine oder andere das vielleicht noch nicht in dem Sinne verinnerlicht hat, wie dies bei uns, die wir uns tagtäglich mit diesen Fragen beschäftigen, der Fall ist. Die permanente und immer schnellere Modernisierung aller Lebensbereiche führt dazu, daß die Gesellschaft verunsichert ist. Das führt zu Veränderungen im Umgang mit der Technik. Es führt dazu, daß dei eine in Faszination neue technische Ergebnisse betrachtet und darauf drängt, daß diese Ergebnisse möglichst schnell nach einer innovationsorientierten Strategie umgesetzt werden. Dem stehen die Skeptiker gegenüber, die Mißtrauen aufbauen, die Angst vor den Auswirkungen haben, die noch nicht sehen wollen, daß die Anwendung morgen kontrolliert bzw. in einen Denkprozeß eingebunden, in eine vernünftige Richtung gebracht werden kann, wenn wir es vernünftig gestalten und vernünftig begleiten. Diese Unsicherheit begegnet uns, und sie stellt immer höhere Anforderungen an die Steuerfähigkeit der Politik. Die Politik soll auf der einen Seite den Mißbrauch neuer Technologien verhindern. Sie soll für Sicherheit sorgen. Sie soll ungewollte und unerwünschte Nebenfolgen für die natürliche Welt, für die demokratische Ordnung, für die soziale Stabilität, für Berufsleben und Alltagsgewohnheiten vorhersehen, kontrollieren und möglichst verhindern. Sie soll auf der anderen Seite gleichzeitig versuchen, ein innovationsfreundliches Klima zu schaffen, die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie zu erhalten, z. B. über Medizintechnik oder Umweltschutzförderungsmaßnahmen zu erreichen, daß wichtige Probleme dei Menschheit gelöst werden. Sie soll schließlich auch noch die Grundlagenforschung in der Bundesrepublik Deutschland auf einem hohen Stand halten. Dieser Handlungsdruck auf die Politik verlangt von uns, daß wir uns Gedanken darüber machen, wie wir mit diesem Handlungsdruck umgehen und wie wir uns eines Instruments bedienen, das uns bei diesen wichtigen Entscheidungen helfen kann. Technikfolgenabschätzung ist in meinen Augen ein wichtiges Instrument, ein wichtiges Hilfsmittel. Auch wenn es kein Zauberwort ist, auch wenn wir mit der Technikfolgenabschätzung nicht jedes Problem lösen können, so bedeutet Technikfolgenabschätzung doch einen Zwang zum Klügerwerden und ein Vorbeugen gegen ideologische Gefechte. Technikfolgenabschätzung kann nicht ethische, politische und ökonomische Abwägung ersetzen, aber sie kann Lücken im Sachwissen schließen. Die öffentliche Diskussion über die Technologie, ihre Chancen und Risiken krankt sehr häufig ja gerade daran, daß fehlendes Wissen, fehlende Information, fehlende Details über Hintergründe dazu führen, daß aus Unkenntnis heraus Mißtrauen gesät wird. Daß die Folge von Mißtrauen Angst ist und daraus Aggression und Resignation entstehen können, ist uns allen bekannt, aus vielen Diskussionen, die wir in den letzten Jahren hier im Deutschen Bundestag im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Probleme der Gentechnik geführt haben. Technikfolgenabschätzung ist ein kontinuierlicher Prozeß, der einzelne Ergebnisse zusammenführt und bewertet, der immer wieder neue Erkenntnisse in einen kritischen Diskurs einführt und damit zur Korrektur vorhergesagter Aussagen zwingt. Politische Führungsaufgabe in diesem Sinne bedeutet, Verantwortung im wissenschaftlich-technologischen Prozeß mit Hilfe der Technikfolgenabschätzung wahrzunehmen. Grundprinzip des politischen Handelns, meine sehr verehrten Damen und Herren, muß Beweglichkeit bleiben, muß die Bereitschaft zum Lernen sein. Wir müssen Risiken in dem jeweils abschätzbaren Rahmen in Kauf nehmen, aber auch bereit sein, Fehler einzusehen und schnell zu korrigieren. Erst aus dieser Dualität heraus wächst das Vertrauen des Bürgers in Technik, und darüber haben wir eventuell die Chance, technikfeindliche Einstellungen zu korrigieren. Technikfolgenabschätzung muß den politisch Handelnden - ich glaube, das ist die Lehre aus dem, was wir in den letzten Jahren erfahren haben - in die Lage versetzen, ein qualifiziertes Ja oder Nein jeweils nach seiner Einschätzung als Ergebnis eines Abwägungsprozesses auszusprechen. Ernsthafte Technikfolgenabschätzung findet nicht - das ist ein sehr häufiger Irrtum - außerhalb von Wissenschaft und Technik statt. Sie ist vielmehr auf deren Methoden und Ergebnisse angewiesen. Sie lebt von der Bereitschaft der in der Technik und der Wissenschaft Tätigen, sich durch einen Dialog auf die Perspektiven und die Denkweisen des jeweils anderen einzulassen. Gegenseitige Aufklärung und Beratung sind nach meiner Auffassung Ausgangspunkt für verantwortungsvolles und moralisches Handeln und Entscheiden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme jetzt zu einigen Punkten, die sich mit der Umsetzung dessen beschäftigen. Technikfolgenanalysen müssen Erhebungen über vorhandene Konsens- und Dissensbereiche in ihre Aussagen einbeziehen, müssen den Stand der öffentlichen Diskussion über das vorgegebene Thema registrieren und möglichen künftigen politischen und rechtlichen Regulierungsbedarf aufzeigen. Sie müssen - um es mit anderen Worten zu sagen - den wissenschaftlichen Diskurs, den industriell-wirtschaftli1138 Dr. Hans-Peter Voigt ({1}) chen Diskurs, den administrativ-rechtlichen Diskurs und den politischen Diskurs untersuchen, aufzeigen und bewerten und diese Ergebnisse uns, die wir im politischen Raum handeln sollen, zur Verfügung stellen. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem Sinne sind uns in den letzten Wochen die ersten Ergebnisse des Büros für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestags vorgelegt worden. Es kann nicht meine Aufgabe sein, auf die einzelnen Unterlagen, die uns zur Verfügung gestellt worden sind, einzugehen. Ich möchte aber diese Gelegenheit nutzen, die erfreuliche Feststellung zu treffen, daß die Ergebnisse dieser Arbeiten aus den letzten Wochen und Monaten eine sehr konstruktive Begleitung für unsere Arbeit sein werden. Sowohl der Tätigkeitsbericht des Büros als auch der erste Technikreport sind von einem sehr hohen Niveau. Ich möchte bei dieser Gelegenheit all denen danken, die hieran mitgewirkt haben, und betone das ausdrücklich, weil wir hiermit das erstemal Unterlagen in der Hand haben, mit denen wir auch den Kollegen gegenübertreten können, die sich dem Prozeß der Technikfolgenabschätzung im Augenblick noch verschließen. Ich glaube, daß wir hiermit aus den Erfahrungen der letzten Monate, nachdem dieses Büro eingerichtet worden ist, einen sehr guten Beweis und Beleg dafür haben, daß diese Entscheidung - die Entscheidung nämlich, dieses Büro einzurichten - sinnvoll und in Ordnung war sowie zukunftsweisend ist. Ich komme nun zu einem speziellen Punkt, den ich in meinen Einführungsworten vorhin erwähnt habe und zu dem ich mich besonders äußern möchte. Der Bericht über Chancen und Risiken des Einsatzes von Expertensystemen in der Medizin gibt nach meiner Einschätzung eine kritische Darstellung der gegenwärtigen Situation, der gegenwärtigen Möglichkeiten wieder, die ich teilen kann. Es gibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt wohl keinen akuten Anlaß, politisches Handeln zu fordern. Es gibt aber in meinen Augen - und hier könnte ich vielleicht einige kritische Bemerkungen zu dem Bericht machen - in der Zukunft durchaus Situationen, von denen ich glaube, daß wir sie intensiv beobachten und registrieren müssen. Ich teile die Auffassung des Berichtes - und ich äußere mich zu zwei Bemerkungen in dem Bericht -, daß große Risiken dann entstehen können, wenn Expertensysteme im Umgang mit Patienten unkritisch genutzt werden, wenn nicht korrigierte, falsche Ausgangspositionen im blinden Vertrauen auf eben diese Expertensysteme genutzt werden und wenn vor allem keine vernünftige Evaluierung und Validierung der Grundaussagen, die in den Expertensystemen verarbeitet und genutzt werden, gegeben sind. Das ist, gerade wenn wir davon ausgehen, daß es hier um breitgestreute Informationen geht, unter Umständen sehr gefährlich. Ich teile eine zweite kritische Bemerkung: Was den Umgang zwischen Patienten und Ärzten angeht, so beobachten wir eine vom Patienten ausgehende Entwicklung, wonach der Patient zunehmend mehr von der kurativen, medikamentengestützten Therapie hin zu einer ganzheitlichen Betrachtung, hin zu der Therapie will, die die Zuwendung des Arztes in den Mittelpunkt seiner Betreuung stellt. Hier würde ich bei einer größeren Anwendung von Expertensystemen im Bereich der Diagnose und auch der Therapie eine große Gefahr sehen, weil ich glaube, daß damit die Eintrittsschwellen für den Patienten und vor allem für den Arzt sehr groß werden. Ich bin mir darüber im klaren, daß wir einen Weg zwischen einer hochqualifizierten Medizintechnik und der individuellen Betreuung finden müssen, die auch emotionale Bereiche mit einbezieht. Aber diese beiden Bereiche, die nebeneinander bestehen bleiben müssen, sollten von uns auch in Zukunft im Sinne einer Technikfolgenabschätzung betrachtet und als eine kritisch zu begleitende Entwicklung eingestuft werden. Gerade aus diesem Grunde begrüße ich es, daß das Bundesministerium für Forschung und Technologie nach einer längeren Diskussion mit den jeweiligen Fachwissenschaften einen Förderschwerpunkt „Wissensbasis in der Medizin" eingerichtet hat. Bei diesem Förderschwerpunkt sollte ganz besonders darauf geachtet werden, daß die Dinge in die Untersuchung einbezogen werden, von denen ich soeben gesprochen habe. Die Arzt-Patienten-Interaktion muß wichtigster Bestandteil bei allen Untersuchungen im Zusammenhang mit diesem Förderschwerpunkt sein. Ich bin ganz sicher, daß das Ministerium - so habe ich die Grundlagen dieses Schwerpunktes bisher auch verstanden - diese Dinge im richtigen Verhältnis sieht. Ich komme zum Schluß, meine sehr verehrten Damen und Herren: Technikfolgenabschätzung lebt, wie ich es auszudrücken versucht habe, von der Kooperation. Diese Kooperation betrifft aber nicht nur - es ist mir ein wichtiges Anliegen, das in diesem Augenblick noch einmal zu erwähnen - die mehrfach angesprochene Zusammenarbeit auf interdisziplinärem Gebiet, sondern sie betrifft auch die Kooperation mit den für die Forschungspolitik zuständigen Ministerien. Technikfolgenabschätzung braucht - ich will das begründen - fähige Köpfe. Sie zu fördern ist die Aufgabe des Ministeriums für Forschung und Technologie. Hier müssen die Forschungspotentiale in der Technikfolgenabschätzung gestärkt werden, hier muß Orientierungswissen zu spezifischen TA-Themen aufgearbeitet und das Netzwerk an Technikfolgenabschätzungen in der Bundesrepublik Deutschland enger geknüpft werden. In diesen Prozeß, meine sehr verehrten Damen und Herren, müssen die neuen Länder gezielt eingebunden werden, um methodisches Know-how im Westen und Problembewußtsein im Osten optimal wirksam werden zu lassen. Der Gewinn dieses fruchtbaren Dialogs wird in der zunehmenden Fähigkeit aller Beteiligten - damit spreche ich uns besonders an - liegen, Zukunftsentscheidungen über technische Entwicklungen informierter und im Bewußtsein der Folgewirkungen verantwortungsvoll zu treffen. ({3})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat der Abgeordnete Peter Paterna.

Peter Paterna (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001679, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Technikfolgenabschätzung und -bewertung sind notwendig. Darüber gibt es Einigkeit zwischen den Parteien und Fraktionen, zwischen den Wirtschaftsverbänden und den Gewerkschaften. Die Bekenntnisse zur Notwendigkeit von Technikfolgenabschätzung bleiben aber - so die Beobachtung - meist im Verbalen stecken, d. h. sie sind theoretisch ebenso wohlklingend wie praktisch folgenlos. Zu den Ursachen dieses Befundes und den Folgen der Defizite in der parlamentarischen Arbeit haben mein Kollege Ottmar Schreiner, meine Kollegin Edelgard Bulmahn und ich öffentlich und auch von dieser Stelle mehrfach gesprochen. Ich will deshalb nur auf diese Stellungnahmen verweisen und unsere Position heute nicht erneut darstellen. Unsere Enquete-Kommission hatte die eigentliche Aufgabe - darauf hat der Kollege Voigt richtig hingewiesen -, Entscheidungen darüber vorzubereiten, wie Technikfolgenabschätzung und -bewertung beim Parlament institutionalisiert werden können. Die inhaltlichen Arbeiten, über die wir heute zu reden haben, sind also, wenn Sie so wollen, Nebenprodukte, Fingerübungen, Ergebnisse praktischer Versuche, im Learning by doing die Schwierigkeiten qualifizierter Technikfolgenabschätzung und -bewertung in einem Prozeß der Selbsterfahrung zu erforschen. Das war ja die Grundidee dieser Arbeit. Ich will die vielfältigen Schwierigkeiten, mit denen wir recht und schlecht gekämpft haben, nicht schildern, weil die beiden Sachthemen im Vordergrund stehen sollen. Ich will aber auf ein Problem hinweisen, weil es für die angestrebte Weiterberatung in den Fachausschüssen des Bundestages eine Rolle spielen sollte, das Problem der Themenwahl. Die SPD hätte sich das Thema, zu dem ich rede, Expertensysteme, viel weiter und aktualitätsbezogener gewünscht. Wir wollten, daß sich die Kommission mit der Digitalisierung und der daraus folgenden Integration der Informations- und Kommunikationstechniken - Stichworte ,,Schmalband-ISDN" und „BreitbandISDN" - beschäftigt und auf die Vernetzungsaspekte und damit auf die wachsende Abhängigkeit und Verletzlichkeit der Gesellschaft, die wir zunehmend eine Informationsgesellschaft nennen, den Schwerpunkt legt. Dies wurde von der Koalitionsmehrheit abgelehnt, insbesondere mit dem Argument, das Thema sei zu umfassend und deshalb in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu bewältigen. Ich vermute aber, bei dieser Ablehnung war unausgesprochen ausschlaggebend - das ist eines der Grundübel der parlamentarischen Beschäftigung mit Technikfolgenabschätzung, wenn ich das über die Jahre beobachte -, daß die Mehrheit die Befürchtung hatte, wir könnten mit einer kritischen Betrachtung aktuellem Regierungshandeln unliebsam in die Quere kommen. Deswegen ist es eine beliebte Methode - das war im übrigen zur Zeit der sozialliberalen Koalition auch nicht viel anders -, sich, wenn man an Technikfolgenabschätzung nicht vorbeikommt, entweder einen Nebenkriegsschauplatz oder ein Wolkenkuckucksheim, jedenfalls etwas, was mit aktueller Politik möglichst wenig zu tun hat, auszuwählen. Dies ist wohl auch ein Grund für diese Themenwahl gewesen. Man hatte nicht nur das etwas exotische Thema Expertensysteme gewählt. Interessant ist auch die Begrenzung des Themas Expertensysteme auf die beiden Bereiche Produktion und Medizin. Mein Vorschlag, sich dann wenigstens auf den Einsatz von Expertensystemen im militärischen Bereich zu konzentrieren - das wäre nämlich außerordentlich lehrreich gewesen - , fiel ebenso der Ablehnung der Mehrheit zum Opfer. Die offizielle Begründung war, hier gebe es unüberwindliche Hürden in der Informationsbeschaffung. Das mag ja sein. Aber das ist natürlich ein Argument, das ein bezeichnendes Licht auf die Wünschbarkeit und Wirksamkeit parlamentarischer Kontrolle wirft. Die Chancen und Risiken von Expertensystemen in der Produktion sind für die Beteiligten und Betroffenen ziemlich offensichtlich. Das hätte einer intensiven Bearbeitung nicht vordringlich bedurft. Der massenweise Einsatz von Expertensystemen in der Medizin hat sich als ziemlich unwahrscheinlich herausgestellt. Auch da lag eigentlich kein so dringender Handlungsbedarf, wie es das Thema suggeriert. Dagegen ist das bereits heute breiteste und folgenreichste Einsatzfeld fortgeschrittener Computergenerationen im militärischen Bereich ein außerordentlich dringendes Thema, und dies nicht erst seit wenigen Jahren, sondern schon seit längerer Zeit. Aber da traut sich bekanntlicherweise niemand dran, oder er wird von der Mehrheit nicht herangelassen. Da uns dieser Bereich verschlossen blieb, kann ich heute nur anregen, daß sich der Verteidigungsausschuß mit diesem Problemkomplex gründlich beschäftigt. Da wird ja wohl niemand argumentieren, daß auch die an die notwendigen Informationen nicht herankommen. Das würde ich mir dann mal anschauen. Einige Hinweise auf klärungsbedürftige Fragestellungen grundsätzlicher Art haben wir in den Bericht hineingeschmuggelt. Vielleicht sollte dies auch als offizielle Anregung verstanden werden, daß der Verteidigungsausschuß in den Kreis der offiziell als mitberatend genannten Ausschüsse ebenso hineinkommt wie der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit; denn im zivilen Bereich liegen die besonders gravierenden Risiken des Einsatzes von Expertensystemen nach meiner Einschätzung im Einsatz der Steuerung und Überwachung derjenigen großtechnischen Anlagen, die im Störfall unabsehbare Folgen für Gesundheit und Leben vieler Menschen haben und große Langzeitschäden in der Umwelt anrichten können, insbesondere bei Kernenergieanlagen und bei chemischen Anlagen. Deshalb halte ich die Beschäftigung mit den Chancen und Risiken des Einsatzes von Expertensystemen für den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, der ebenfalls bisher nicht zur Mitberatung vorgesehen ist, für ein wichtiges Thema. Alle mitberatenden Ausschüsse sollten sich nicht von der Schwierigkeit abschrecken lassen, die sich bei dem Versuch ergibt, zweifelsfrei und allgemeingültig zu definieren, was Expertensysteme eigentlich sind. Wer sich mit diesen Definitionsversuchen näher beschäftigen will, sollte den Text lesen. Dabei geht es darum, die Trennlinie festzustellen zwischen, wie man gelegentlich sagt, Computern der vierten und solchen der fünften Generation, dem, was wir inzwischen schon klassische EDV nennen und sogenannten wissensbasierten Systemen; das ist einer der Versuche, Expertensysteme allgemeinverständlich zu umschreiben. Das kann auch mit dem etwas unscharfen, irreführenden Begriff der künstlichen Intelligenz geschehen. Wir hatten in diesem Parlament schon Schwierigkeiten - das ist vielleicht eine sarkastische Bemerkung - , Intelligenz zu definieren. ({0}) Mit der Künstlichkeit hatten wir auch so unsere Probleme. Für mich - deswegen sind diese Definitionsversuche gar nicht so bedeutsam - ist in dieser Gruppe, die sich schwerpunktmäßig mit Expertensystemen zu beschäftigen hatte, immer deutlicher geworden, daß es wenig Sinn macht, Expertensysteme für sich und getrennt von der vertrauten EDV-Umwelt zu betrachten. Expertensysteme weisen nämlich kaum spezifische, nur ihnen eigene Chancen und Risiken auf. Sie wirken vielmehr ganz überwiegend als Trendverstärker von Chancen und Risiken, die bereits in der Nutzung vertrauter und weit verbreiteter Datenverarbeitungs-, Informations- und Kommunikationstechniken erkennbar sind. Mein Rat an die mitberatenden Ausschüsse ist deshalb, den Blick nicht so zu verengen, wie das der Titel unseres Berichts suggeriert, sondern die breite Palette der Chancen und Risiken in den Blick zu nehmen, die bei dem Übergang in die sogenannte Informationsgesellschaft zu analysieren sind, um dann nicht, wie bisher überwiegend geschehen, neue Techniken nach dem Prinzip des Trial and error einzuführen und gegebenenfalls nachträglich über Schadensbegrenzungsstrategien nachzudenken, wenn das sprichwörtliche Kind bereits im Brunnen liegt; wir sollten mögliche Entwicklungen und den Einsatz neuer Techniken bewußt und planend im öffentlichen Dialog und demokratisch kontrolliert gestalten. Auch sollten wir in eine offenere Diskussion insoweit geraten, daß nicht diejenigen, die mehr die Risiken technischer Entwicklungen beschreiben, gleich in die Ecke der Technikverhinderer gestellt werden. Es gibt eine Fülle von Anschauungsmaterial, das die diversen Fachausschüsse dazu reizen sollte, sich mit diesem Themenkomplex intensiv zu beschäftigen: jüngst der Golfkrieg und schon vor mehreren Jahren der irrtümliche Abschuß eines zivilen Großraumflugzeuges durch ein amerikanisches Kriegsschiff im Mittelmeer. Dies war im übrigen insofern ein besonders bezeichnender Ablauf, als das Flugzeug zweifellos von einem Expertensystem, das in einem Raum saß, in dem es nicht einmal ein Fenster gab, das dem Bediener die Chance gegeben hätte, das anfliegende unbekannte Flugobjekt einmal in Augenschein zu nehmen, in einem automatisierten Entscheidungsverfahren vom Himmel geholt wurde. Das ist, glaube ich, apokalyptisch die schlimmste Form von Risiken, die uns im Umgang mit Expertensystemen begegnen können. Alarmstarts atomarer Bomber auf Grund vermeintlicher feindlicher Raketenangriffe - dazu gibt es übrigens amerikanische Berichte von durchaus konservativen Abgeordneten; diese Berichte sind schon 10 Jahre alt; es wird also allmählich Zeit, daß wir uns damit einmal ein bißchen genauer beschäftigen -, weltweite Börsencrashs, Tschernobyl, großflächige Zusammenbrüche von Telefonnetzen, massenweise Abstürze von Betriebs-EDV durch äußere Einflüsse usw. liefern für jeden Fachbereich anschauliche Beispiele für die Verletzlichkeit unseres auf Elektronik gestützten Wirtschafts- und Gesellschaftssystems - egal, ob daran sogenannte Expertensysteme im präzise definierten Sinn beteiligt waren oder nicht. Es gilt, sich die Wirkungen unvermeidlicher Software-Fehler, die Gefahren durch sogenannte Computerkriminalität, die Verbreitung von Viren und anderen Computerbestien bewußt zu machen. Vielleicht haben Sie die „Wirtschaftswoche" aus der vergangenen Woche gelesen. Darin gab es einen 70 Seiten langen Bericht über alle möglichen Anwendungsfälle und über die rasante Vermehrung dieses Computerbestiariums. Für jeden sensiblen Anwendungsfall werden wir die Risiken prüfen müssen, die aus diesen Befunden hervorgehen. Wir müssen immer wieder bereit sein, zu prüfen, inwieweit wir uns in die Abhängigkeit von der Kontrollierbarkeit und Funktionsfähigkeit technischer Systeme begeben können. Diese Frage läßt sich nicht allgemein und abstrakt beantworten, sondern nur jeweils konkret bezogen auf Anwendungsfälle, natürlich auch in Abwägung zu den Risiken, die wir eingehen, wenn wir bestimmte technische Möglichkeiten nicht nutzen. Denn auf bestimmte technische Möglichkeiten zu verzichten, kann ja durchaus auch mit Risiken behaftet sein. Das sage ich ausdrücklich dazu. Um die Mitberatung zu erleichtern, hat sich die Kommission bemüht, Fragenkomplexe einzelnen Ausschüssen zuzuordnen. Vorschläge zu vertief ender Bearbeitung sind als Handlungsoptionen überschrieben worden. Zu Empfehlungen, bei denen sich politisch kontroverse Abstimmungen möglicherweise nicht hätten vermeiden lassen, hat sich die Kommission leider nicht durchringen können. Das ist also eine sehr weiche und, wenn Sie so wollen, zarte Andeutung von Handlungsbedarf - die mildeste Form, zu der wir uns überhaupt verständigen konnten. Ich hoffe, daß die notwendige, etwas kernigere Auseinandersetzung in den Ausschüssen und im Plenum des Bundestages nachgeholt wird. Die Streubreite der Handlungsempfehlungen reicht von industrie- und forschungspolitischen Aufgaben über Fragen des Einsatzes von Expertensystemen in der öffentlichen Verwaltung, rasch wachsenden Handlungsbedarf bezüglich der Datensicherheit und des Schutzes personenbezogener Daten und die Notwendigkeit neuer Lösungsansätze zur Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - angesichts der Vernetzung haben wir es mit einem völlig neuen Betriebsbegriff zu tun - bis zu neuartiPeter Paterna gen urheberrechtlichen und haftungsrechtlichen Problemstellungen. Ich hoffe, daß neben den fachspezifischen Fragestellungen die Behandlung ressortübergreif ender Probleme nicht zu kurz kommen wird. Dabei geht es u. a. um Fragen der Ethik, der Sozial- und Gesellschaftsverträglichkeit und der Demokratie- und Verfassungsverträglichkeit beim Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechniken, ebenso spannende wie schwierige Querschnittsaufgaben, die in unserem parlamentarischen Alltagsbetrieb nicht verschüttet werden sollten. Ich hoffe, wir sind uns darin nicht nur verbal, sondern auch im praktischen Handeln der nächsten Jahre einig. Vielen Dank. ({1})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat Herr Abgeordneter Jürgen Timm.

Jürgen Timm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002329, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe jetzt eigentlich nicht vor, schon zu Anfang auf die Grundsätze der Arbeit der Technikfolgenabschätzung und auf die Expertensysteme einzugehen. Ich habe mich mit dem Aufbau einer solaren Wasserstoffwirtschaft als Schwerpunkt beschäftigt und werde erst am Schluß, möglicherweise in der zweiten Runde, auf die anderen Dinge eingehen, weil sich anhand der technischen Bedingungen in einem spezifischen Fall praktisch darstellen läßt, was an Experten, Expertensystemen und interdisziplinären, übergreifenden Aufgaben erforderlich sein wird. Der Bericht der Enquete-Kommission zu den Bedingungen und Folgen von Aufbaustrategien für eine solare Wasserstoffwirtschaft macht überzeugend deutlich, daß die Strategien einer solaren Energiewirtschaft nur im internationalen Kontext Erfolg haben können. Er macht auch deutlich, daß dabei die geographischen und Entwicklungsunterschiede der solarrelevanten Regionen auf der Erde ganz unterschiedliche Lösungsansätze erfordern. Das macht die Zukunftsaufgabe „solare Wasserstoffwirtschaft" zwar besonders interessant, aber nicht gerade einfacher. Der Bericht bezieht sich in seinen Berechnungen auf die zukünftigen Energieansätze in der Bundesrepublik Deutschland und geht neben einer sinkenden Bevölkerungszahl und damit sinkenden Haushaltszahlen logischer- und auch sinnvollerweise von einer relativ starken Reduzierung im Endenergiebedarf bis zum Jahre 2050 - so weit reicht der Bericht - aus. Als Politiker kommen wir trotzdem nicht darum herum, uns bei der zukünftigen Entwicklung der Energietechnik auch mit dem weltweit ansteigenden Energiebedarf auseinanderzusetzen und uns, wenn wir unserer Verpflichtung als Vorreiter und Motor für die Energieentwicklung - wie auch im Bericht gefordert - gerade in den armen Regionen der Welt gerecht werden wollen, dieser besonderen Aufgabe zu stellen. Als hochentwickeltes Industrieland haben wir unsere Technologien auch im Sinne der Entwicklungsländer einzusetzen. Es ist unsere Aufgabe, in Zukunft den weltweiten Verbrauch fossiler Energieträger, der ständig steigt, als Hauptquelle der CO2-Belastung der Atmosphäre drastisch zu reduzieren. Die solare Wasserstofftechnik ist dabei ein Element - nicht das alleinige und wohl auch nicht das bedeutendste, soweit man das bis heute erkennen kann. Ganz ohne Zweifel ist sie aber eine wesentliche Option. Wasserstoff ist ein Sekundärenergieträger. Um ihn zu erschließen, bedarf es einer Primärenergie. Für die heute bekanntermaßen unproblematischste Form der Wasserstoffgewinnung über die Elektrolyse wird elektrischer Strom benötigt. Bei diesem Vorgang geht etwa ein Drittel der so eingebrachten Primärenergie verloren. Es liegt also nahe, sich bei der bekannten, energiewirtschaftlich teuren Produktionstechnik zunächst einmal mit der Primärenergie und deren Bereitstellung in regenerativer Form zu beschäftigen. Das kann und wird in einiger Zeit - so die Prognosen unserer Wissenschaftler - die solare Elektrizität sein. Es ist im übrigen davon auszugehen, daß die Techniken der Photovoltaik in Zukunft ein enormes Entwicklungspotential beherbergen, das zunehmend erschlossen wird. In der Begutachtung der möglichen Zukunft dieser Energietechnik steht allerdings dann auch die Frage an, ob die solare Elektrizität, wenn sie vergleichsweise so günstig gewonnen werden kann, daß sie ohne weiteres mit anderen Primärenergieträgern konkurrieren kann, nicht besser gleich direkt einer Nutzung zuzuführen ist, um dabei den Umweg über den Wasserstoffspeicher zu sparen. Hier sind also viele Fragen für die zukünftige Entwicklung zu klären. Dafür haben wir u. a. die Technikfolgenabschätzung. Immerhin schließt der Bericht der Enquete-Kommission, wenn er sich auf Deutschland oder auf Europa bezieht, die Beantwortung dieser Fragen nicht aus. Vergleichsweise anders dürfte es sein, wenn man sinnvollerweise mit großtechnischen Solaranlagen in die Sonnenländer geht, deren Infrastruktur und Transportwege den Speicher Wasserstoff zwingend benötigen. Auch die Produktionstechniken für Wasserstoff entwickeln sich weiter. Es ist erkennbar, daß sich die Wirkungsgrade technologisch neuer Anlagen deutlich verbessern. So hat z. B. das Hochtemperaturelektrolyseverfahren bei einer Senkung der Produktionskosten um etwa 25 % nur noch einen Verlust der eingebrachten Energie von 10 %. Bei der Elektrolyse herkömmlicher Art waren es noch 30%. Sollte, wie in dem dargestellten Hauptpfad II, auch die Kernenergie eine wahrscheinliche weitere Bedeutung in der Energieversorgung haben, so könnten mit der Hochtemperaturreaktortechnik und dem Hochtemperaturelektrolyseverfahren die größten Energieeinsparungen bei der Produktion von Wasserstoff erzielt werden. Eine der Bedingungen für eine Wasserstoffwirtschaft ist also klar: die Erschließung einer kostengünstigen, großtechnischen, regenerativen Primärenergie aus der Sonnenstrahlung. Die Bundesrepublik Deutschland steht dabei weltweit an der Spitze der Staaten, die mit speziellen Forschungsprogrammen die Techniken der Solarwasserstoffenergie vorantreiben. Es geht dabei um die Verbesserung der Elektrolyseverfahren, um die Erhöhung der Wirtschaftlichkeit bei der Photovoltaik, um die Transport- und Speichertechnik, um neue Brennstoffzellen, um Photochemie und um Photobiologie. Wenn auch die Sonne unser alles erhaltender Energiespender ist, muß und kann die diffuse Sonneneinstrahlung mit der geringen Energiedichte erst durch eine ausgereifte Technologie so gebündelt werden, daß sie wirtschaftlich und großtechnisch nutzbar ist. Unsere Wissenschaftler gehen allerdings davon aus - das kann man z. B. im Bericht der Ad-hoc-Gruppe beim Bundesforschungsminister nachlesen - , daß der Durchbruch in der Technologie erst innerhalb der nächsten 50 Jahre stattfinden wird. Damit ist die zweite Bedingung für eine Wasserstoffwirtschaft klar: das Vorantreiben einer Forschung und Entwicklung auf den relevanten Gebieten der Solartechnik. Auf die Notwendigkeit einer internationalen Zusammenarbeit in der Nutzung von Solarenergietechniken hatte ich anfangs schon hingewiesen. Die Gutachter der Enquete-Kommission nennen dafür vor allem vier Gründe: Erstens. Eine weltweite CO2-Minderungspolitik bedeutet die Aufhebung der bekannten Energiepreise, und zwar im wesentlichen durch den Fortfall der fossilen Verbrennung. Das bedarf logischerweise außenpolitischer Abstimmung. Zweitens. Der Aufbau einer solaren Wasserstoffwirtschaft für Europa in längerer Frist setzt auch die Nutzung von Standorten in Trockenzonen sonnenreicher Länder außerhalb der EG voraus. Drittens. Eine starke Umstrukturierung der Energieversorgung beeinflußt die Wirtschaftskraft von Energieexportländern, d. h. die internationale Arbeitsteilung und die Wettbewerbsfähigkeit. Viertens. Nur die westlichen Industriestaaten können durch finanzielle und technische Unterstützung die osteuropäischen Staaten wie die Entwicklungsländer in die Lage versetzen, auch ihre Energieversorgung umzubauen und einen Beitrag zum globalen Umweltschutz zu leisten. Das ist die dritte Bedingung, nämlich die außenpolitische Komponente, bei der Umstrukturierung der Energieversorgung der Zukunft. Das ist auch zugleich die erste Folge. Das heißt, solare Energietechnik bedeutet Ausbreitung in außereuropäische Sonnenländer, wie z. B. nach Nordafrika. Noch eine weitere Folge muß genannt werden. Die Solartechnik erfordert den Einsatz von potentiell umweltgefährdenden Stoffen. Die Skala reicht z. B. von Phosphingas über Cadmium und Selen bis zu Arsen, wenn man die Herstellung von Dünnschichtzellen betreibt. Das sind zum Teil klassifizierte Umweltgifte. Sie treten zwar im allgemeinen bei den Verfahren nicht in großen Mengen auf; aber es wird deutlich, daß weitere Randbedingungen erforderlich sind. Das sind die Sicherheitsfragen und Sicherheitsvorkehrungen bei den später zum Teil in großem Umfang eingesetzten Chemikalien. Diese Vorkehrungen sind verpflichtend zeitgleich mitzuentwickeln, um von vornherein keine Akzeptanzprobleme zu bekommen. Genauso wie auch andere regenerative Primärenergien, z. B. die Wasserkraftnutzung, die ja einen hohen Anspruch an Geographie und Topographie stellt, müssen mit Umweltverträglichkeitsprüfungen die Risiken von Solarfarmflächen ermittelt werden. Es gibt dort mindestens Auswirkungen auf den Boden und auf das Kleinklima. Standortentscheidungen sind von großer Bedeutung. Bei der Frage der Energiespeicherung treten ebenfalls Probleme auf. Entscheidend ist auch die Beherrschbarkeit dieser Probleme über den Einsatz von Energietechniken. Ich denke dabei z. B. an die Entwicklung und den Einsatz von neuen Batteriesystemen. Ich denke auch an das Recycling aufgebrauchter Batterieanlagen. Ich habe bewußt die Fragen der Wirtschaftlichkeit und die Preisrechnungen, die in dem Bericht der Enquete-Kommission und der Gutachter eine große Rolle spielen, herausgenommen. Dieser Bereich gehört eigentlich auch zu den Aufgaben der Wirtschafter. Die Wirtschafter sind über den Ausschuß am weiteren Verfahren beteiligt. Aber eins möchte ich dazu schon sagen: Man muß davon ausgehen, daß uns die fossilen Energieträger in der Zukunft zu wertvoll sein werden, als daß wir sie weiterhin für die Energieumwandlung verwenden können. Die endlichen Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, müssen wir notwendigerweise für hochwertigere Aufgaben schonen. Damit komme ich noch einmal zum Ausgangspunkt zurück, zu den Auswirkungen und Folgen für die Außenpolitik und die Entwicklungsländer. Wenn die Entwicklungsländer ihre Energieressourcen nicht mehr vermarkten können, gleichzeitig aber nicht in der Lage sind, hochwertige Technik für regenerative Energien zu finanzieren, dann werden sie auch nicht ihren notwendigen Anteil am Umweltschutz leisten können und haben auch keine Chance mehr, auf dem Energieweltmarkt - sie sind meistens auch unsere Energielieferanten - nur einigermaßen zu bestehen. Das ist schon heute schwer genug für sie. Die Folgen einer solchen Situation wären in jeder Beziehung katastrophal. Teilnahme und Mitwirkung sind also gefragt. Es werden ganz sicher auch neue Abhängigkeiten entstehen. Das bedingt wiederum Ausgewogenheit und gegenseitigen Respekt. Gerade in diesem Zusammenhang sollte nicht der Hinweis fehlen, daß der Einsatz solarer Energie in der Zukunft nur zu einem Teil auf der Wasserstoffbasis beruhen wird; denn der Umsatz von solarer Energie über die Biomasse ist im vorgenannten Zusammenhang mindestens ebenso bedeutend. Der Aufbau einer Solar-Wasserstoffwirtschaft soll und kann insbesondere für Entwicklungsländer positive wirtschaftliche Perspektiven eröffnen. Ich bin auf die vielen Detailfragen über die Bedingungen und Auswirkungen einer solaren Wasserstoffstrategie, die in dem Bericht von den Gutachtern darJürgen Timm gestellt sind, nicht eingegangen. Der Bericht spricht in diesem Punkt eigentlich für sich. Uns fehlt heute noch der generelle großtechnische Durchbruch bei der regenerativen Nutzung der Sonnenstrahlung. Wir brauchen also- um das mit einem vergleichbaren Zitat deutlich zu machen - etwas wie einen „Aufschwung Solarenergie". Dies ist sicherlich keine Frage des Einsatzes von Mitteln, um die wir in den Ausschüssen immer so heiß kämpfen. Vielmehr lassen uns die vielen kleinen Erfolgsschritte Platz nur für Geduld und nicht für Euphorie. Ich stimme deswegen manchen Aussagen der Gutachter in dem Enquete-Bericht nicht ganz zu. Mir ist das - wenn ich das mit den Aussagen der Wissenschaftler der Ad-hoc-Gruppe beim BMFT vergleiche - in mancher Beziehung etwas zu euphorisch. Ich kann jedenfalls im Augenblick nicht erkennen, inwieweit die Technik ausreicht, zu glauben, daß solche neuen Strategien vor der Haustür stehen. Im Hinblick auf das vorher Gesagte möchte ich noch ganz kurz auf den Bericht über die Expertensysteme eingehen. Alle die von mir eben genannten Bereiche in einem speziellen Fall der Energietechnik deuten doch darauf hin, daß es eine Vielzahl von Problembereichen gibt, die so komplex sind, daß sie nicht ohne weiteres und schnell in alter Tradition nur durch Menschen nicht nur ausgedacht, sondern auch bearbeitet, beurteilt und gesteuert werden können. Das heißt, diejenigen, die wir als Experten an diese Aufgaben heransetzen, müssen ihre Expertensysteme, die sie selber zu entwickeln haben, auch bedienen. Bei allen hochtechnologisierten Entwicklungen ist das Risiko einer Fehleinschätzung, eines Versagens, kurz: eines Fehlers nicht ausgeschlossen. Auch hochentwickelte EDV-Expertensysteme können keine Gewähr für die Richtigkeit von Ergebnissen geben. Das heißt, die Entscheidungskompetenz des Menschen muß trotz seiner eigenen Fehlerhaftigkeit unangetastet bleiben. Expertensysteme sind deshalb aber nicht weniger notwendig. Im Gegenteil: Sie erleichtern die Arbeit bei allen komplexen Entwicklungen. Bedingung muß sein, daß Kontrolle, Eingriff, soziale Verträglichkeit und rechtliche Sauberkeit von vornherein gewährleistet sind. Das drückt die Kommission in ihrem Bericht ja auch deutlich aus. Ich glaube, dem kann man nur zustimmen. Wenn wir das nicht erreichen, können wir natürlich auch den Nutzen für die Menschen und ihr Überleben auf der Erde nicht erreichen. Ich bedanke mich. ({0})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat Herr Abgeordneter Christian Schmidt ({0}).

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es war ein Zufall, daß der Deutsche Bundestag gerade heute den Bericht der Enquete-Kommission zur Technikfolgenabschätzung und Solar-Wasserstoffwirtschaft diskutiert. Jedoch entbehrt das Datum natürlich nicht einer gewissen Symbolik. Der Frühlingsanfang am heutigen Tage erinnert uns daran, daß die Natur über erhebliche Ressourcen an regenerativer Energie verfügt. Wir stehen am Beginn der sonnenenergieintensiven Jahreszeit. Stehen wir auch am Beginn des sonnenenergieintensiven Zeitalters? Der uns vorgelegte Bericht der Enquete-Kommission projiziert seine Bewertung zur Abschätzung der technischen Machbarkeit und energie- und umweltpolitischen Bedeutung der Solar- und Wasserstoffwirtschaft fast über ein Menschenalter bis zum Jahr 2050. Wer in ein neues Zeitalter eintreten will, tut gut daran, sich vorher über die Konsequenzen Gedanken zu machen. Quidquid agis, prudenter agas et respice finem. ({0}) - Für seine Jungfernrede muß man tief in die Schulzeit zurückgreifen und findet da ab und zu interessante Sätze: Was immer du tust, tue es mit Bedacht und bedenke das Ende oder, besser gesagt: die Folgen. Technologiefolgenabschätzung leistet in diesem Zusammenhang deswegen wertvolle Hilfe. Dabei muß man aber gerade bei diesem Bericht im Auge behalten, daß für einen Zeitraum bis zum Jahre 2050 zwar Entwicklungslinien, Hauptpfade, wie sie im Bericht genannt werden, untersucht werden können, daß aber eine große Zahl externer Faktoren zwangsläufig auf einen solch langen Zeitraum nicht extrapoliert werden kann. Insofern wird uns Technikfolgenabschätzung auch keine filigrane Darstellung der voraussehbaren energiepolitischen Realität in 60 Jahren geben können. Technikfolgenabschätzung darf in diesem Sinne nicht überschätzt werden. Gleichwohl kommen wir ohne sie zukünftig nicht mehr aus. Sie führt uns in den ausgesprochenen Handlungsempfehlungen zu wichtigen Anregungen für unsere zukünftige Politik. Allerdings werden dabei auch Realisierungsrisiken aufgezeigt. Aber wesentlich scheint mir, daß uns der Bericht, wenn beabsichtigt wird, Solarenergie und regenerative Energiequellen insgesamt - es wurde schon darauf hingewiesen, daß die Solar-Wasserstoffwirtschaft lediglich ein Teil der Möglichkeiten der Nutzung regenerativer Energie darstellt - zu einem entscheidenden Energieträger zu machen, eine Kostenexplosion bei den Energiekosten prognostiziert. Zum Ende des Prognosezeitraums wird dabei von einer Verteuerung der Energie um den Faktor 5 bis 8 ausgegangen. Das bleibt natürlich nicht ohne Folgen für die gesamte Volkswirtschaft und weist uns darauf hin, daß derartige Umstrukturierungen eines Wirtschaftsbereiches schon aus ökonomischen Gründen nur - darauf hat bereits der Kollege Timm hingewiesen - im gesamteuropäischen und letztendlich im Weltverbund angegangen werden müssen. Insofern sollte die Bundesrepublik eine konzertierte Förderung regenerativer Energiequellen auf EG- und internationaler Ebene anstreben. Die Bundesregierung hat sich diesbezüglich in den letzten Jahren bereits engagiert. Christian Schmidt ({1}) Darüber hinaus macht der Bericht dankenswerterweise die Verknüpfung des Einsatzes regenerativer Energiequellen mit der Problematik des CO2-Kreislaufes deutlich. Aus dem Bericht kann die Erkenntnis gezogen werden, daß für einen absehbaren Zeitraum wohl auf die Kernenergie gerade im Hinblick auf die Tatsache, daß sie die CO2-Bilanz nicht belastet, nicht verzichtet werden kann. ({2}) Dabei kann diese Energieform durchaus als Übergangsenergie hin zu regenerativen Energiequellen gesehen und verstanden werden. Aber gegenwärtig und wohl auch mittelfristig werden wir hierfür einen adäquaten Ersatz noch nicht finden. Die Notwendigkeit der Berücksichtigung externer Schadens- und Folgekosten der Energieversorgung wird im Bericht angesprochen. Die von der Koaltition vereinbarte Restschadstoffabgabe, letztendlich die CO2-Abgabe, ist auch aus der Sicht des Berichts ein Schritt auf dem richtigen Weg zur Unterstützung umweltverträglicher Energiequellen und gibt uns natürlich das Bewußtsein, daß die fossilen Energieträger zum jetzigen Preis mittelfristig wohl nicht mehr zu haben und vielleicht auch zu verschwenden sein werden. ({3}) Die Feststellung, daß trotz aus Sicht der Solar-Wasserstoffwirtschaft optimaler Rahmenbedingungen mindestens bis zum Jahre 2005 kein nennenswerter Beitrag zur Energieerzeugung von der Solar-Wasserstoffwirtschaft ausgehen wird, macht deutlich, daß wir nicht in den Fehler verfallen dürfen, einer fernen Zukunft als großer Lösung nachzuhängen, ohne die energiewirtschaftlichen Hausaufgaben gelöst zu haben. Dies betrifft beispielsweise die Verbesserung des Energienutzungsgrades allgemein, also auch bei den jetzigen herkömmlichen Energiequellen, und die Energieeinsparung. Wir müssen ein verstärktes Augenmerk auf die dezentrale Energieerzeugung richten. Hier findet sich dann übrigens auch der Konnex zur Solarenergiewirtschaft wieder. Ich erinnere an die ersten Ansätze im Rahmen des Tausend-Dächer-Programms des BMFT und auch an die Unterstützung und Förderung anderer Formen der Umsetzung der Solarenergie im Bereich der Biomassenutzung oder der Photovoltaik. Darüber hinaus macht der Bericht deutlich, daß der Einstieg in die Solar-Wasserstoffwirtschaft uns auch dazu zwingt, die Beziehungen und die Bedürfnisse der potentiellen Standortstaaten, die bei groß angelegter Solar-Wasserstoffwirtschaft zwangsläufig nicht im nordeuropäischen oder mitteleuropäischen Raum liegen können, mit in die politische und wirtschaftliche Bewertung einzubeziehen. Stabilität der Verhältnisse und Sicherung der Energieversorgung spielen hier eine Rolle. Das ist ein Themenkomplex, der in diesem Bericht nur angedeutet worden ist und mit dem sich die Ausschüsse sicherlich noch zu befassen haben werden. Die Entwicklung von Techniken zur rationellen Energieverwendung sowie zur Bereitstellung von Primärenergie für die Länder der Dritten Welt selbst ist allerdings eine ebenso wichtige Aufgabe für die industrialisierten Länder, und zwar gerade im Hinblick auf die Notwendigkeit der Lösung der globalen Klima- und Umweltprobleme, aber nicht zuletzt auch im Hinblick auf unsere Aufgaben im Rahmen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Wir sollten den Bericht zum Anlaß nehmen, auf dem Weg der Erforschung der Energiegewinnung aus Sonnenenergie und der Entwicklung technischer Einzelkomponenten wie etwa der Photovoltaik, fortgeschrittenen Elektrolysen und Brennstoffzellen oder auch, wie bereits angesprochen, Batterien fortzufahren. Dies beinhaltet auch die Fragen der Sicherheit des Transports von Wasserstoff als Sekundärrohstoffquelle. Es ist eine wichtige Aufgabe, der sich die Bundesregierung und das BMFT erfreulicherweiser stellen. Auch die EVU und die Industrie sind bereit, sich hier zu engagieren, wie beispielsweise das Projekt in Neunburg vorm Wald der Solarwasserstoffgesellschaft Bayern zeigt. Allerdings wird eine genauere Untersuchung der wirtschaftlichen Komponenten wie auch der Anforderungen an die Veränderungen struktureller energiewirtschaftlicher, institutioneller und administrativer Gegebenheiten und Vorschriften notwendig sein. Somit bleibt die grundsätzlich zu bejahende Einführung regenerativer Energiequellen und insbesondere der Solarenergie tatsächlich eine Jahrhundertaufgabe, die allerdings in kleinen Schritten auch in der nächsten Zukunft bereits angegangen werden muß. Wir befinden uns in einem Stadium der Forschung, das eine großtechnische Anwendung noch nicht zuläßt. Man muß eine gewisse Skepsis mit der Frage verbinden, zu welchem Zeitpunkt, in welchem Jahr - sicherlich nicht mehr in diesem Jahrhundert - eine großflächige Nutzung möglich sein wird. Eine CO2-Abgabe, eine Förderung der Forschungs- und Entwicklungsarbeiten und auch die Markteinführung bereits entwickelter Anlagen in diesem Technikbereich sind hier entscheidend und können allerdings auch jetzt schon angegangen werden. Entscheidend wird auch sein, daß in gewissen Abständen Technikfolgenabschätzung diese Entwicklung begleitend unterstützt, unsere Entscheidungen mit vorbereitet und trotz des langen Wegs, trotz der Tatsache, daß es sich lediglich um eine Option handelt, das Ziel einer umweltfreundlichen, im Kreislauf befindlichen Energieform nicht aus den Augen verliert. Vielen Dank. ({4})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat Frau Abgeordnete Edelgard Bulmahn.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Drohende Klimakatastrophe, Ozonloch, Tschernobyl, Abholzung der tropischen Regenwälder, die Zerstörung von Kulturdenkmälern und Pseudo-Krupp sind nur einige Stichworte, die die Problematik unseres gegenwärtigen Energieversorgungssystems schlaglichtartig beleuchten. Die Beibehaltung der bisherigen Energiepolitik würde unweigerlich zur Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen führen. Der ökologische Umbau unseres Energieversorgungssystems ist deshalb zu einer Überlebensfrage geworden, selbst dann, wenn man nicht die pessimistischen Annahmen eines Klimakollapses teilt. Ein „Weiter so" in der Hoffnung, daß es vielleicht ja doch nicht so schlimm werden würde, wäre jedenfalls nicht zu verantworten. Die Enquete-Kommission „Gestaltung der technischen Entwicklung; Technikfolgenabschätzung und -bewertung" hat deshalb in der vergangenen Legislaturperiode einen Technikfolgenabschätzungsprozeß eingeleitet, um zu prüfen, inwieweit der Aufbau einer solaren Wasserstoffwirtschaft einen entscheidenden Beitrag zur drastischen Herabsetzung der Schadstoffbelastung der Atmosphäre leisten kann und inwieweit er insgesamt eine tragfähige Alternative zum gegenwärtigen Energieversorgungssystem bilden kann. Insbesondere sollte bestimmt werden, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen der Aufbau einer solaren Wasserstoffwirtschaft realisierbar ist, mit welchen ökonomischen, ökologischen, politischen und gesellschaftlichen Folgewirkungen zu rechnen ist und welcher konkrete Handlungsbedarf sich hieraus für die Politik ergibt. Die Enquete-Kommission wollte mit der Durchführung der Studie „Bedingungen und Folgen von Aufbaustrategien für eine solare Wasserstoffwirtschaft" nicht nur zur inhaltlichen Klärung beitragen, sondern zugleich ihrem Auftrag entsprechend aufzeigen, was Technikfolgenabschätzung für den Deutschen Bundestag leisten kann. Mit dieser Studie hat die Enquete-Kommission bewußt den Weg einer problem-, handlungs- und entscheidungsorientierten Technikfolgenabschätzung eingeschlagen. Im Mittelpunkt stehen nicht wie bei der anderen heute ebenfalls zur Debatte stehenden Studie über Chancen und Risiken des Einsatzes von Expertensystemen die möglichen Folgen des Einsatzes einer Technologie, sondern die Frage,ob eine bestimmte Technologie - hier der solare Wasserstoff - einen nennenswerten Beitrag zur Lösung eines wichtigen sozioökonomischen Problems leisten kann und unter welchen Bedingungen die Durchsetzung und Nutzung dieser Technologie realisierbar ist. Meine Damen und Herren, die Studie der EnqueteKommission, die hier vorgelegt worden ist, zeigt in überzeugender Weise den Wert dieses TA-Konzeptes und die Chancen, die sich aus der Durchführung solcher Studien für die Verbesserung der politischen Entscheidungsfindung im Parlament ergeben. Diese Studie engt unseren Handlungsspielraum nicht ein. Im Gegenteil: Sie fordert unser Handeln heraus. Sie läßt Alternativen und Handlungsspielräume klar hervortreten und weist deutlich auch auf Probleme und mögliche Konflikte hin. Sie bietet damit hervorragende Ansatzpunkte für die Führung eines verantwortungsbewußten, rationalen Dialogs über die Gestaltung unserer zukünftigen Energieversorgung. Die Ergebnisse dieser Studie sind ermutigend. Sie zeigen, daß eine umweltverträgliche Gestaltung unseres Energiesystems technisch realisierbar und volkswirtschaftlich sinnvoll ist. Die Studie räumt zugleich mit einigen ideologischen Vorbehalten auf, ideologischen Vorbehalten gegenüber den erneuerbaren Energien. Erneuerbare Energien sind langfristig weder zu teuer noch stürzen sie unsere Volkswirtschaft in eine Krise noch können sie allenfalls eine Lückenbüßerfunktion übernehmen. ({0}) Die Studie unterstreicht, daß sich die Ziele von Toronto grundsätzlich auch dann erreichen lassen, wenn man bis zum Jahre 2005 aus der Kernenergie aussteigt. Erneuerbare Energien können bei der Verfolgung entsprechender Aufbaustrategien durchaus die Hauptlast der Energieversorgung übernehmen. Ihr Anteil ließe sich langfristig gesehen von derzeit 2 % bis zu 13 % im Jahre 2000 und bis zu 70 % zur Mitte des kommenden Jahrhunderts steigern. Grundlage allerdings für die erfolgreiche Umsetzung einer gleichzeitigen Verwirklichung eines Ausstiegs aus der Kernenergie und einer maßgeblichen CO2-Reduktion sind drastische Energiesparmaßnahmen. Die Einsparung von Energie und die rationelle Energieversorgung, dies hat die Studie einmal mehr unterstrichen, sind die kostengünstigste, sicherste, produktivste und zugleich am ehesten zu verwirklichende Maßnahme zur Umstrukturierung unseres Energiesystems. Wenn die Ziele von Toronto erreicht werden sollen, dann müssen wir unverzüglich massive Energiesparmaßnahmen einleiten. Rund zwei Drittel der zur Energiegewinnung eingesetzten Primärenergien gehen derzeit noch immer verloren. Deshalb, meine Herren und Damen, muß die Wärmedämmung der Gebäude verbessert, die Energieproduktivität durch den Aufbau der Kraft-WärmeKoppelung erhöht, der Stromverbrauch durch den Einsatz energiesparender Geräte gesenkt und der Kraftstoffverbrauch durch effizientere Motoren, durch leichtere Fahrzeuge, durch die Einführung einer Geschwindigkeitsbegrenzung und durch eine Verlagerung von Verkehrsleistungen auf den öffentlichen Personen- und Güterverkehr reduziert werden. ({1}) Bei einer weniger konsequenten Förderung der erneuerbaren Energien und von Energieeinsparungsmaßnahmen müßten nach Ansicht der Gutachter allein in der Bundesrepublik bis zum Jahre 2050 - ich bitte da gerade die Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktion zuzuhören - 100 neue Kernkraftwerke errichtet werden. Dies ist aber angesichts der mit der Kernenergie verbundenen Risiken, der weltweit ungeklärten Entsorgungsfrage und des nicht zu verhindernden Mißbrauchs des anfallenden Kernmaterials für militärische Zwecke nicht zu verantworten. Es ist meiner Meinung nach auch nicht zu verantworten, daß man mit einer derartigen Entscheidung zukünftigen Generationen die Möglichkeit nehmen würde, sich zu entscheiden, welchen Pfad der Energieversorgung sie eigentlich nehmen würden. Politisches Handeln muß sich aber dadurch auszeichnen, daß es Optionen auch für zukünftige Generationen offen läßt. Zu berücksichtigen ist ferner, daß die Kernenergie nur unerheblich zu einer drastischen Verminderung der CO2-Emissionen beitragen kann. Weltweit gesehen hat die Stromerzeugung einen Anteil von 20 % an den CO2-Emissionen. Da allenfalls 70 % der Stromerzeugung mittels Atomkraft erfolgen könnten, betrüge der maximale Entlastungseffekt gerade 14 % der CO2-Emissionen. Der weitere Ausbau der Kernenergie, wie er offenkundig durch die Bundesregierung angestrebt wird, führt damit in eine energie- und umweltpolitische Sackgasse. Die Gewinnung und Nutzung solaren Wasserstoffs ist vorerst allerdings keine realistische Alternative; das muß man auch so offen sagen. Solarer Wasserstoff wird erst dann konkurrenzfähig und erforderlich, wenn die erneuerbaren Energien einen Anteil von mehr als 20 % erreicht haben und damit Maßnahmen der Energiespeicherung und des überregionalen Ausgleichs nötig werden. Im Mittelpunkt entsprechender Aufbaustrategien stehen daher realistischerweise zunächst die Erschließung und Ausschöpfung direkt genutzter Wärme mittels Kollektoren, Wärmepumpen und Biomassen sowie direkt genutzten Stroms aus Wasserkraft, Biomasse, Wind sowie photovoltaischen und solarthermischen Kraftwerken, da sie bei einem Entfall von Speicher- und größeren Leitungskosten bereits bei mäßigen Energiepreissteigerungen zu konkurrenzfähigen Preisen angeboten werden können. Meine Damen und Herren, nun wird der Strategie des forcierten Aufbaus einer auf Energieeinsparung und der Nutzung erneuerbarer Energien beruhenden Energieversorgung immer wieder vorgehalten, daß ein solches Programm nicht zu finanzieren sei und zu einer nicht verkraftbaren Belastung der Volkswirtschaft führe. Die Enquete-Kommission und die beteiligten Forschungseinrichtungen haben diese Einwände besonders ernst genommen und deshalb einer sorgfältigen Prüfung unterzogen. Sicherlich, Energieeinsparungen und die verstärkte Nutzung der erneuerbaren Energien sind ohne Preiserhöhungen nicht zu realisieren. Die beteiligten wirtschaftswissenschaftlichen Institute gehen allerdings davon aus, daß die von den Gutachtern für nötig gehaltene Verdoppelung des Energieendpreises fossiler Energieträger bis zum Jahre 2005 und ihre Erhöhung auf das Fünf- bis Achtfache bis zur Mitte des kommenden Jahrhunderts zu keiner gravierenden Belastung unserer Volkswirtschaft führen würde, wenn die Verteuerung der Energiepreise in internationaler Abstimmung erfolgt. Im Gegenteil, die mit der Durchsetzung der solaren Energien verbundenen Energiekosten sind volkswirtschaftlich und umweltpolitisch vorteilhaft, da sie dazu führen, daß die externen Kosten des bisherigen Energieversorgungssystems den Verursachern und nicht mehr der Allgemeinheit angelastet werden. Nach einer OECD-Schätzung belaufen sich die jährlichen Kosten der Luftverschmutzung auf ca. 3 bis 5 % unseres Bruttosozialproduktes, d. h. also allein für die Bundesrepublik auf 60 bis 100 Milliarden DM. Die Fraunhofer-Gesellschaft hat die sozialen Kosten des Energieverbrauchs in der Bundesrepbulik auf ca. 35 Milliarden DM geschätzt. Vergleichbare externe Kosten fallen bei den erneuerbaren Energien nicht an. Sie sind die einzigen Energieträger, die sich ohne gravierende Risiken und Gefährdungen von Mensch und Umwelt in die natürlichen Kreisläufe integrieren lassen. Die Gesamtbelastung der Volkswirtschaft dürfte sich unter Berücksichtigung der externen Kosten damit nicht wesentlich ändern. Es findet allerdings eine Kostenverlagerung innerhalb der Volkswirtschaft statt. Die Ersetzung unserer jetzigen Energieträger durch solare Technologien ist volkswirtschaftlich aber auch insofern lohnend, als hierdurch zahlreiche neue Innovationsfelder mit hoher Breitenwirkung eröffnet werden. Die nötigen Kostensenkungen, um die Technologien der solaren Wasserstoffwirtschaft konkurrenzfähig zu machen, erfordern, so das Gutachten, Basisinnovationen, die auch in vielen anderen Bereichen der Wirtschaft genutzt werden können. Der verstärkt erforderliche Umgang mit komplexen Systemen dürfte zu einer Intensivierung von System- und Regeltechnik führen. Starke Energieeinsparungen im Verkehrsbereich sind u. a. durch Reduzierung des Gewichts künftiger Automobile und durch Einsatz neuer Kunststoffe möglich. Durch verbesserte Sensortechnik könnte die Steuerung der Verbrennung im Motorraum verbessert und durch Keramikmotoren könnten Wärmeverluste vermieden werden. Eine Energiepolitik, die auf die erneuerbaren Energien und auf Energieeinsparung setzt, hat mit Technologiefeindlichkeit also überhaupt nichts zu tun. Im Gegenteil, ihre Nutzung trägt zur Schaffung zahlreicher Dauerarbeitsplätze im produzierenden und im Dienstleistungsgewerbe bei und birgt zugleich ein erhebliches innovatorisches Potential für die wissenschaftlichen Entwicklungen. Lassen Sie mich dennoch noch einmal auf die von den Gutachtern für nötig gehaltenen Steigerungen der Energiepreise zurückkommen, da die bloßen Teuerungsraten leicht zu Mißverständnissen und Fehleinschätzungen führen können. ({2}) Wenn eine Verdoppelung oder gar eine Verachtfachung des heutigen Preisniveaus für fossile Energieträger für nötig gehalten wird, so beinhaltet dies keinesfalls, wie oft behauptet wird, eine entsprechende Steigerung der Benzin- und Strompreise. Zugrunde gelegt wurden zudem von den Gutachtern nicht die heutigen Verbrauchspreise, sondern die entsprechenden Preise ohne Steuern. Für die Verbraucherinnen und Verbraucher - dies ist sehr deutlich geworden -, aber auch für die Volkswirtschaft insgesamt ergeben sich deutlich niedrigere Preisaufschläge. Bis zum Jahr 2005 ist demnach nicht mit einer Verdoppelung der Strompreise zu rechnen, sondern mit einer Erhöhung um ca. 30 bis 50 %. Die mittleren Endenergiekosten werden den Berechnungen der Gutachter zufolge bis zum Jahr 2050 auf das rund 3,4fache der jetzigen Preise steigen, nicht aber um das 5-bis 8fache. Berücksichtigt man zudem, daß die Aufbaustrategien für die erneuerbaren Energien zu deutlichen Energieeinsparungen führen, so dürften die realen Gesamtausgaben bis zum Jahr 2005 um 33 % und bis zum Jahr 2050 um 80 % steigen. Bezieht man außerdem ein, daß in den gleichen Zeiträumen mit einem deutlichen Anstieg des Bruttosozialprodukts zu rechnen ist, so liegen die Belastungen durch EnergieEdelgard Bulmahn bereitstellung für die Volkswirtschaft etwa in der gleichen Größenordnung wie heute. Die mit einem Ausbau der regenerativen Energien verbundenen Mehrkosten sind also verkraftbar. Sie führen nicht zu einer wesentlichen Mehrbelastung - weder der Volkswirtschaft insgesamt noch der einzelnen Verbraucherinnen und Verbraucher. Energieeinsparung und die regenerativen Energiequellen können - dies zeigt die Studie deutlich - bis zur Mitte des kommenden Jahrhunderts die tragenden Säulen unserer Energieversorgung bilden. Eine umweltverträgliche und sichere Energieversorgung stellt sich allerdings nicht automatisch durch bloßes Walten der Marktkräfte ein. Ohne lenkende Eingriffe, ohne ordnungspolitische und marktwirtschaftliche Signale des Staates werden sich die Ziele von Toronto, wird sich eine ökologisch verträgliche Energieversorgung nicht verwirklichen lassen. Die Studie enthält hierzu zahlreiche und wohldurchdachte Vorschläge und Handlungsempfehlungen, die ich hier nur summarisch streifen kann und die wir in den Ausschüssen sehr intensiv beraten müssen. Neben der deutlichen Anhebung der Energiepreise durch Steuern, Abgaben oder Zertifikate empfehlen die Gutachter vor allem deutliche Finanzhilfen zur Förderung von Energieeinsparmaßnahmen und zur Markteinführung erneuerbarer Energiequellen sowie eine deutliche und kontinuierliche Steigerung der Fördermittel für Forschung, Entwicklung und Demonstration neuer Techniken im Bereich der erneuerbaren Energien. Des weiteren schlagen sie Maßnahmen zur Verbesserung der energiewirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Einspeisung von mit erneuerbaren Energien erzeugtem Strom in die öffentlichen Netze, schärfere Wärmeschutz- und Bauvorschriften, veränderte Tarifstrukturen, den Aufbau von Beratungseinrichtungen sowie Maßnahmen im Ausbildungs- und Qualifikationsbereich vor. Die Gutachter unterstreichen, daß die hier vorgeschlagenen energiepolitischen Maßnahmen allein auf nationalstaatlicher Ebene nicht durchgesetzt werden können. Die Bundesrepublik muß hier eine Vorreiterrolle übernehmen. Grundlegende Weichenstellungen wie die Anhebung der Energiepreise bedürfen internationaler Abstimmung. Die Notwendigkeit internationaler Vereinbarungen darf jedoch nicht als Ausrede herhalten, um eigene Initiativen und Maßnahmen zu unterlassen. ({3}) Im Gegenteil: Die Entscheidung für eine umweltverträgliche Umgestaltung unseres Energiesystems duldet keinen weiteren Aufschub. Die Aussagen und Handlungsempfehlungen der Studie verdienen deshalb eine sorgfältige Diskussion in den betroffenen Fachausschüssen. Lassen Sie uns die Empfehlungen und Annahmen der Gutachter vorurteilsfrei und sachlich prüfen und ergreifen wir die ersten Schritte zur Durchsetzung erneuerbarer Energien. ({4})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Herr Martin Grüner.

Martin Grüner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000738, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wenn ich hier als Mitglied des Finanzausschusses das Wort ergreife, möchte ich damit ein Zeichen dafür setzen, daß es entscheidend darauf ankommen wird, auch politisch interdisziplinär zusammenzuarbeiten, wie das für die Technikfolgenabschätzung zu Recht gefordert wird. Wir müssen uns darüber im klaren sein, wie wichtig es ist, daß sich alle Ausschüsse des Deutschen Bundestages, die auf diese Dinge Einfluß haben, den Aufgaben stellen, die in den Handlungsempfehlungen angesprochen worden sind. Ich will mich speziell dem Bereich Energie und Umwelt zuwenden. Es versteht sich deshalb von selbst, wenn ich für die Fraktion der FDP beantrage, diesen Bericht auch dem Umweltausschuß zuzuleiten - er ist in der Tagesordnung nicht aufgeführt - , der in der veränderten Bewußtseinsbildung im politischen Raum eine Schlüsselrolle hat. Ich meine auch, Herr Kollege Paterna, daß es selbstverständlich ist, daß ein Ausschuß Minderheitenanregungen aufgreift. Was hätte Technologiefolgenabschätzung für einen Sinn, wenn nicht Voten der Minderheiten ausreichend berücksichtigt würden? Die bevorstehende Beratung der Geschäftsordnung wird dazu Anlaß geben. Ich finde es außerordentlich wichtig, daß in den Handlungsempfehlungen die Lenkung über den Preis im Bereich Energie und Umwelt in den Mittelpunkt gestellt worden ist. Drei Instrumente sind genannt worden: Steuern, Abgaben und Zertifikate. Ich will gar keinen Hehl daraus machen, daß aus meiner Sicht international aussichtsreich allein die Steuern sind, und nur international läßt sich das Problem tatsächlich lösen. Die Abgabe hat den gewaltigen Nachteil, daß sie nach unserem System gleichzeitig die Verwendung der abgeschöpften Mittel für einen anderen Zweck beinhaltet, d. h. eine Erhöhung der Steuerlastquote und der Staatsquote bedeutet. Die Zertifikate sind noch nirgends in der Welt praktiziert worden. Sie sind extrem kompliziert. Das einfachste und mit den geringsten Kosten verbundene System sind die Steuern. Etwa die Energieverbrauchsteuern sind auch sehr einfach zu erheben und zu kontrollieren. Bei so gewaltigen Verteuerungen, wie sie nötig sein werden, wenn entsprechende Energieeinsparungen und eine mittelbare Förderung erneuerbarer Energien erreicht werden sollen, wird es entscheidend darauf ankommen, den Weg zu gehen, der für die Wirtschaft und für die Bevölkerung am erträglichsten ist. Dabei unterstreiche ich, was hier gesagt worden ist: daß eine solche erzwungene Strukturveränderung durch Veränderung staatlicher Rahmenbedingungen auf internationaler Ebene durchaus nicht zu einem Wachstumsverlust führen muß, sondern daß Struktur1148 veränderungen auch neue Wachstumsfelder erschließen. Das müssen wir auch an die Adresse der Amerikaner sagen, die auf diesem Felde zögern, weil sie Arbeitsplatzverluste befürchten, die mit einer Energieverbrauchsteuererhöhung verbunden sind. ({0}) Wir sollten uns auch nicht darüber hinwegtäuschen, daß alle Strukturveränderungen für die, die sie treffen, außerordentlich einschneidend sind und daß der, der seinen Arbeitsplatz verliert, nicht dadurch getröstet ist, daß man ihm sagt, an anderer Stelle sei für einen anderen ein neuer Arbeitsplatz entstanden. Es kommt also entscheidend darauf an, daß es uns in dieser Legislaturperiode gelingt - auch im Blick auf die bevorstehende internationale Klimakonferenz -, politischen Konsens über das herzustellen, was wir nun zu tun haben, und zwar aus Vorsorgegründen und im Wissen darum zu tun haben, daß gehandelt werden muß, auch wenn heute noch nicht alle Auswirkungen in den verschiedenen Bereichen absehbar sind. Wir müssen dieses politische Handeln innerhalb des Deutschen Bundestages durchsetzen und dann zusehen, daß wir ein international tragbares Konzept - zunächst einmal innerhalb der Europäischen Gemeinschaft - für eine gezielte allmähliche, aber nachhaltige Verteuerung der Energieverbrauchspreise erreichen. Allmählich sollte das deshalb sein, damit sich die volkswirtschaftlichen Verluste in Grenzen halten. Abrupte Strukturveränderungen sind besonders einschneidend; allmähliche, regelmäßige sind sehr viel leichter erträglich. Aber wir sollten uns, wenn dieser Weg gemeinsam gegangen werden könnte, auch keine Illusionen darüber machen, welche Schwierigkeiten in der internationalen Abstimmung liegen. Ich mache darauf aufmerksam, daß die Lieferanten von fossiler Energie, wenn eine internationale Strategie zu einer drastischen Reduktion des Verbrauchs von fossiler Energie führen sollte, mit in dieses Boot internationaler Abmachungen gebeten werden müssen und daß hier international ganz besonders große Schwierigkeiten zu erwarten sind, wenn wir etwa an die Kohlelieferländer denken - ich will nicht von den Erdgaslieferanten und von den Öllieferanten sprechen, die ja sehr, sehr einschneidend in ihrer Entwicklung betroffen werden. Wenn es gelingt, wirklich drastische Reduktionen des Energieverbrauchs herkömmlicher Art zu erreichen, die wir alle wollen, und wenn es nicht gleichzeitig gelingt, andere, erneuerbare Energien, die nichtfossiler Art sind, an unserem Verbrauch stärker zu beteiligen, dann, meine ich, daß „interdisziplinär" auch heißt, daß wir diese internationalen Auswirkungen einer solchen Strategie deutlich ansprechen müssen und uns keine Illusionen machen dürfen, vor welchen Schwierigkeiten ein internationales Abkommen in einem solchen Felde stehen wird. Wenn wir es aber in diesem Bewußtsein angreifen und nicht meinen, das, was hier national zu diskutieren ist - das gewaltige Programm der Bundesregierung, eine CO2-Reduktion um 25 % bis zum Jahre 2005 für die Bundesrepublik zu erreichen, würde schon die entscheidende Grundlage abgeben - , sei ausreichend, kann dieser Bericht in seiner Abgewogenheit, in seiner sehr klaren Darstellung der Vor-und Nachteile der verschiedenen Handlungsfelder eine wirkliche Hilfe und erneut ein Beweis dafür sein, wie außerordentlich wichtig Technologiefolgenabschätzung und darauf aufbauende Handlungsempfehlungen sind. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Brigitte Baumeister.

Brigitte Baumeister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000112, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Paterna wies darauf hin: Die „Wirtschaftswoche" vom vergangenen Freitag macht das „Sicherheitsrisiko Computer" zu ihrer Titelstory. Schon jetzt ist offensichtlich, wie abhängig unsere Gesellschaft von der Informationstechnologie ist. Wir alle wissen, welche Katastrophen fehlerhaft programmierte oder falsch angewandte Computer verursachen könnten und in der Vergangenheit auch schon verursacht haben. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, welche Gefahren von einer vernetzten, sich verselbständigenden Informationstechnologie ausgehen. Der vorliegende Bericht der Enquete-Kommission über Chancen und Risiken des Einsatzes von Expertensystemen geht den Fragen nach, die sich vor dem Hintergrund bezüglich Systemen der sogenannten künstlichen Intelligenz stellen. Er geht noch weiter, zeigt Handlungsfelder und stellt Leitlinien für die Bundespolitik auf. Expertensysteme, über die wir hier sprechen, sind nichts anderes als komplexe Softwareprodukte, die das Ziel haben, Expertenwissen zu konservieren, es zu aktualisieren und unabhängig von der Anwesenheit des oder der Experten zur Nutzung zur Verfügung zu stellen. Dabei soll das System dem Nutzer zu seinen Kenntnissen zusätzliche Gesichtspunkte liefern und ihm helfen, seine Entscheidungen kritisch zu hinterfragen. Es handelt sich dabei um Systeme, die in erster Linie den Anwender unterstützen, nicht aber den Fachmann ersetzen. Bisher gibt es nur vereinzelt Anwendungen von Expertensystemen. Die Forschung steht hier noch vor einem weiten Betätigungsfeld und braucht unbedingt Spielraum. Viele Feststellungen und Handlungsoptionen des Berichts gehen jedoch über den Bereich der Expertensysteme weit hinaus und beziehen sich auf das gesamte Feld der Informations- und Kommunikationstechnologien. Ich stelle nicht in Frage, daß der vorliegende Bericht das Ergebnis einer eingehenden Beratung und das Produkt fleißiger, sachorientierter Arbeit ist. Dennoch sind mir bei der Lektüre einige Schwachpunkte aufgefallen, die ich Ihnen, so meine ich, nicht vorenthalten darf: Wenn wir auf Seite 61 lesen, daß überall dort, wo denkbare Fehlentscheidungen von wissensbasierten Systemen zu Schäden führen können, die auf eine Verletzung von verfassungsmäßigen Grundrechten oder anderer wichtiger Werte der Gesellschaft hinauslaufen, sich die Möglichkeit eines Moratoriums für die Entwicklung und Anwendung derartiger Systeme bietet, dann ist das doch, so meine ich, schlichtweg widersinnig; denn denkbar sind Fehlentscheidungen immer, auch bei der Anwendung von Expertensystemen. Das Gefährdungspotential der Informations- und Kommunikationstechniken wird oft mit dem der Kernenergie oder der Gentechnologie verglichen, und zwar manchmal aus Unkenntnis des Sachverhalts, meist aus ideologischen Gründen. In keiner Weise ist dieser Vergleich zulässig. Er versperrt nur den sachlichen Problemzugang durch emotionale Aufladung. Der Intention des Berichts, Leitlinien zur Regelung der Expertensysteme zu initiieren, stimme ich grundsätzlich zu; doch ist in jedem einzelnen Punkt kritisch zu fragen, ob Restriktionen wirklich dem jeweiligen Ziel dienen oder ob sie darüber hinausgehen. Keinesfalls darf es - wie schon so oft - wieder so weit kommen, daß wir uns vor lauter Skrupeln und vermeintlich notwendigen Einschränkungen im internationalen Wettbewerb selbst auf die hinteren Ränge zurückwerfen. ({0}) - Mikroelektronik! ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Abgeordneter, möchten Sie eine Zwischenfrage stellen?

Brigitte Baumeister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000112, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Hierin sehe ich eine große Gefahr, die der Bericht nicht ausreichend in Rechnung stellt. Eindeutiger muß unterschieden werden zwischen der Entwicklung von Software-Produkten einerseits und dem Einsatz und damit dem möglichen Mißbrauch andererseits. Was aus einem begonnenen Projekt gemacht und wie es mißbraucht werden kann, läßt sich in der Regel nicht in allen Einzelheiten vorhersehen. Doch deshalb eine Entwicklung gar nicht erst weiterzuführen widerspräche der menschlichen Natur und aller Vernunft. Ein wichtiger Gesichtspunkt, der in der Vorlage ausführlich behandelt wird, ist die Mitbestimmung. Angesichts der Tatsache, daß in keinem anderen Mitgliedsland der EG die Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmervertretungen so weit gehen wie in der Bundesrepublik, ist die Forderung nach einer Ausweitung der Mitbestimmungsrechte besonders kritisch zu hinterfragen. Die Überprüfung der derzeitigen Regelung zeigt, daß wirklich kein Grund vorliegt, wegen der Entwicklung, der Einführung oder der Anwendung von Expertensystemen neue Mitbestimmungsrechte für Betriebsräte und Personalräte einzuführen oder gar bestehende Mitbestimmungsrechte auszuweiten. Eher ist die Forderung nach einer EG-weiten Harmonisierung der Mitbestimmungsrechte zu erheben. Bevor dies nicht gelingt, besteht wenig Anlaß, Expertensysteme als Begründung dafür zu verwenden, nun völlig neue Mitbestimmungsrechte nur hier in Deutschland einzuführen. ({0}) Dies sollte im Hinblick auf den bevorstehenden europäischen Binnenmarkt sehr genau bedacht werden. Wenn es den Gewerkschaften nur darum geht, ihren Einfluß in den Betrieben zu stärken, dann ist das sehr genau zu prüfen. Die Gewerkschaften sind mit ihren eigenen Unternehmen skandalös gescheitert und haben dort auch nicht die Chance wahrgenommen, einmal beispielhaft erweiterte Arbeitnehmerrechte zu realisieren. Trotzdem meinen sie, ihren Einfluß auf andere Unternehmen ausdehnen zu müssen. Sie setzen damit die Innovationsfähigkeit der Unternehmen und so auch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie in gefährlicher Weise aufs Spiel. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist im übrigen der Auffassung, daß Technikfolgenabschätzung nicht Technikverhinderungsstrategie sein darf. Die Teilnahme der deutschen Unternehmen am informationstechnischen Fortschritt ist unverzichtbar für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und für die Sicherheit der Arbeitsplätze. Nur wettbewerbsfähige Unternehmen können Arbeitsplätze langfristig sichern und neue aufbauen. Leider haben wir am Beispiel der Industrie im Gebiet der ehemaligen DDR erfahren müssen, was aus Betrieben und Arbeitsplätzen wird, wenn aus ideologischen Gründen Forschung und Entwicklung gehemmt und moderne Technologien nicht eingesetzt werden. Wir sollten auch nicht darauf verzichten, bei der Kriminalitätsbekämpfung Expertensysteme anzuwenden. Ohnehin hat die organisierte Kriminalität in der Regel einen technischen Vorsprung vor der Polizei. Den Einsatz von Expertensystemen, die die Polizei bei der Erkennung potentieller Verbrecher unterstützen, befürworte ich nachdrücklich. ({1}) Wir sind - ob wir es wollen oder nicht - in einer Welt, in der die Verantwortung des Menschen, der Entscheidungen zu treffen hat, nicht durch Moratorien oder gesinnungsethische Einschränkungen ersetzt werden kann. Wir sind im Gegenteil verpflichtet, die Chance zu erkennen und sie in realisierten Fortschritt umzusetzen. Dies gilt auch für den Einsatz der Informationstechnologien und speziell der Expertensysteme. Ich danke Ihnen. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster hat das Wort der Abgeordnete Josef Vosen.

Josef Vosen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002395, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben ja jetzt gehört - das war, muß ich sagen, wirklich sehr sachkundig ({0}) und eigentlich auch nicht sonderlich strittig - , was in der Wasserstoffwirtschaft los ist, wie die Bedingungen und Aufbaustrategien sind und was sich im Bereich der Expertensysteme anbietet. Das alles läuft unter „Technikfolgenabschätzung" und ist, so muß ich zugeben, schwer zu verstehen. Ich will aber einmal versuchen, etwas klarzumachen, nämlich, daß die Technikfolgenabschätzung, so schwer sie zu verstehen ist, dringend nötig ist. ({1}) Ich will dazu ein Beispiel aus jüngster Zeit bringen - heute überall nachzulesen - : Technik des schnellen Brüters. ({2}) Weil wir das seinerzeit nicht richtig bewertet haben - wir Sozialdemokraten auch nicht -, haben wir alle gemeinsam 8 Milliarden in den Sand gesetzt - 8 Milliarden! ({3}) - Ihr seid doch froh darüber, daß der weg ist. Ich kann auch einmal zitieren, was der Riesenhuber gesagt hat. Ich habe da nämlich so eine Schrift des Forschungsministers aus dem Jahre 1980 - Herr Staatssekretär, die möchte ich Ihnen übrigens empfehlen; dann wissen Sie, was der meint; Sie können das nachlesen -, ({4}) in der er die Bewertung von Technik für sehr wichtig befindet und in der er dann auch sagt, unter anderem der Schnelle Brüter müsse so bewertet werden; dann wäre uns das eine oder andere nicht passiert. Das hat er 1980 gesagt, und von 1982 an hat er den Schnellen Brüter weitergebaut, hat noch einmal 3 Milliarden in den Sand gesetzt. Ich wollte damit nur sagen: Das sind Milliarden! Wenn man das richtig bewertet hätte, dann hätten wir uns das eine oder andere, volkswirtschaftlich, steuerlich gesehen, ersparen können. Es gibt noch mehr solcher Projekte - ich will das sagen, so kompliziert das auch ist - , z. B. die Luft- und Raumfahrt. Dagegen ist der Schnelle Brüter ein ganz kleiner Hirsch. Da geht es nämlich nicht um 8 Milliarden, sondern da geht es um knapp 30 Milliarden in den nächsten 10 Jahren, ({5}) wobei Sie ja jetzt schon auf 21 Milliarden abgespeckt haben; Sie haben eingesehen, daß Sie 9 Milliarden nicht zusammenkriegen. Aber 21 Milliarden sind es! Wer kann beurteilen, ob dieses Gerät „Hermes" nun richtig vernünftig fliegt und ob man es brauchen kann? Die Franzosen wissen, daß sie es brauchen, und wir sollen es bezahlen. Das gleiche gilt natürlich auch für Columbus. Die Amerikaner sagen: Bei unserer Weltraumstation sollen die Deutschen mal schön anbauen, so für 6 Milliarden. - Alles Pi mal Daumen, und ob das Zeug zu was taugt, na ja, wer weiß das schon? Aber wir sind ja gute Freunde, sowohl von Amerika als auch von Frankreich, und weshalb sollen wir dann nicht ein bißchen helfen? ({6}) - Ob das aber sinnvoll ist, Herr Timm, das ist die Frage. Da gibt es aber noch mehr so Geräte, Herr Timm, und darüber reden wir auch. Da ist z. B. der Transrapid. Der fährt da oben in Norddeutschland auf so einer Versuchsstrecke durch die Gegend. Das Gerät hat ja auch knapp 2 Milliarden - so Pi mal Daumen - gekostet, und jetzt werden wir es vermutlich wieder stillegen. ({7}) - Nein? Wollen wir mal abwarten! ({8}) Keiner von uns ist doch wirklich in der Lage, klar zu sagen: Diese Technik und ihre Folgen können wir richtig bewerten. Ich will nur sagen: Das sind Sachen, bei denen wir uns wirklich fragen müssen, ob wir Technikfolgenabschätzung und -bewertung nicht ein bißchen ernster unter die Lupe nehmen und ob wir diesem Thema nicht etwas mehr Raum einräumen müssen, als wir es bisher tun. Was jetzt passiert ist, ist, so möchte ich einmal sagen, das Anbringen eines Feigenblatts, um die Nacktheit in Sachen Technikfolgenabschätzung zu bedekken. Also, diese Aufgabe soll jetzt der Ausschuß für Forschung und Technologie übernehmen, mit einer kleinen Untergruppe und einem Büro, besetzt mit ein paar Männeken, guten Professoren. Ich habe nichts dagegen. ({9}) Aber im Verhältnis zu den Summen, die wir für Technik aufwenden, deren Folgen wir bis zum heutigen Tag nicht beurteilen können, ist das mehr oder weniger ein Witz. Das bedaure ich, und daran ist diese Regierung schuld. Der heutige Forschungsminister hat 1980 - ich zitiere, Frau Präsidentin, mit Ihrer Genehmigung - gesagt: Seit drei Legislaturperioden - 1980 hat er es gesagt, also vor 12 Jahren versucht die Union, ein Instrument zur Technikfolgenabschätzung beim deutschen Bundestag zu schaffen, das ein Minimum an fachlicher Beratung sichert, das technische Sachverhalte zu politischen Entscheidungsalternativen in einer allgemeinverständlichen Form aufarbeitet. Das hat Riesenhuber 1980 gesagt. Acht Jahre ist er Minister, und noch immer ist nichts da. Also, Sie sehen, der Unterschied zwischen dem, was er fordert, und dem, was er tut, ist groß. ({10}) Ich kann also nur hoffen, meine Damen und Herren, daß Sie sich dem Thema Technikfolgenabschätzung ein bißchen ernster widmen. Allerdings muß ich feststellen, daß heute Ihr Obmann im Ausschuß, Christian Lenzer, nicht da ist, ({11}) daß die ganze Führungs-Crème der Union fehlt. Ich begrüße aber, daß die FDP sehr gut vertreten ist. Auch der Staatssekretär des Forschungsministeriums, der neu ist, ist heute anwesend. Ich begrüße auch Sie, Herr Neumann. Jedoch, die alten Hasen fehlen heute. Dafür haben wir bei Ihnen zwei Jungfernreden gehört. Ich beglückwünsche die beiden neuen Kollegen dazu; war nicht schlecht. ({12}) Aber, meine Damen und Herren, ich denke, daß die Union nicht das Fingerspitzengefühl hat, sich dieser Problematik in einer vernünftigen Art und Weise zu widmen. Technikfolgenabschätzung ist kein Schnickschnack, sondern eine sehr, sehr ernste Sache, weil es in Wirklichkeit um Milliarden und Abermilliarden geht. Ich weiß, daß in diesem Bundestag viele Kolleginnen und Kollegen sitzen, die diese schwierigen Sachverhalte nicht richtig abschätzen können. Ich muß Ihnen ehrlich sagen: Das gilt auch für mich persönlich, obwohl ich mich dieser Problematik seit zehn Jahren widme. Wenn Sie neue Systeme haben, dann ist es äußerst schwierig, diese zu bewerten, besonders dann, wenn wir Experten haben - Professoren, Wissenschaftler und andere Fachleute -, die uns mit fünf Auskünften jeweils zehn verschiedene Meinungen vorlegen. Wir als Politiker sind dann gezwungen, die jeweils richtige herauszufinden. Ich weiß auch, wie groß die Lobby in diesem unserem Lande ist, die daran interessiert ist, daß man das eine oder andere System nimmt, weil es nämlich ihres ist, an dem sie Geld verdient, viel Geld verdient. Diese Lobby wendet sehr viel Sachverstand auf, um uns diese Systeme schmackhaft zu machen. Der Deutsche Bundestag braucht also neutrale Gutachter, nicht diejenigen, die uns von denen serviert werden, die daran verdienen wollen und die ein darüber hinausgehendes Interesse daran haben. Wir brauchen demnach unabhängigen, freien Sachverstand, ({13}) der uns als Parlament hilft, die Regierung zu kontrollieren. Das ist doch die Aufgabe dieses Parlaments. Das Parlament muß die Mittel zur Verfügung stellen, um solche Projekte zu finanzieren, und tut es oft wie ein Blinder, der mit einem langen Stock im Heuhaufen herumstochert und dann vielleicht hier und da - aber meist ist das nicht so - etwas findet. Das ist die Situation, und die Bundesregierung müßte hier mehr tun als bisher. Man kann das an so einfachen Titeln wie denen, die wir heute behandelt haben, z. B. dem Thema Wasserstoffwirtschaft, das sehr kompliziert ist und das viele ebenfalls nicht verstehen, nicht so abfragen. Aber es geht auch um - dies hat meine Kollegin Bulmahn vorgetragen - Energieversorgungssysteme der Zukunft, die uns alle ökologisch und ökonomisch in einem erheblichen Ausmaß betreffen. Den Beitrag des Vorredners der FDP, bei dem ich aufmerksam zugehört habe, fand ich sehr gut, er hat mich sehr beeindruckt. Ich meine insbesondere die Ausführung zur Ökonomie. Wenn wir die Preise für fossile Energien mit denen für nachwachsende oder für Solarenergie vergleichen, dann stellen wir fest, daß sie zur Zeit noch immer hoffnungslos unterlegen sind. Wenn man da etwas tun will, dann ist die in dem Redebeitrag zum Ausdruck kommende Linie - dafür bedanke ich mich - die richtige, die man aufzeigen muß. Die Folgekosten der Nutzung fossiler Energien und im übrigen auch der Kernenergie sind heute keinem von uns recht geläufig. Die Folgekosten in der Ökologie, die Folgekosten für die Entsorgung und die Folgekosten von Tschernobyl lassen sich kaum rechnen. Deswegen spielen die Preise für fossile Energien bei der Einführung neuer Energieformen eine wichtige Rolle. Herzlichen Dank. ({14})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dietrich Mahlo.

Dr. Dietrich Mahlo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001408, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Tatsache, daß es nicht ganz einfach ist, als vierter Redner diesen langwierigen Berichten einigen politischen Sex-Appeal abzugewinnen, ({0}) können Sie daran ermessen, daß mein Vorredner einen Ausflug ins Allgemeine gemacht hat. Dafür habe ich ein gewisses Verständnis. Aber es ist vielleicht richtig, wenn man sich auf Ausführungen zu einem der beiden Berichte beschränkt, was ich tun möchte. Es gibt in Deutschland mehr Institutionen, die sich mit der Erforschung der Vergangenheit beschäftigen, als solche, die sich der Gegenwart widmen. Die Vergangenheit ist für meine Begriffe vielleicht intellektuell spannender. Goethe sagte: „Neues freut mich nicht". Aber die Zukunft ist wichtiger. Technikfolgenabschätzung ist ein Stück Zukunftsforschung. An ihrer Erforderlichkeit hat hier niemand gezweifelt. Ich habe den Eindruck, daß in den Vorreden nicht recht zum Ausdruck kam - jedenfalls was den Bericht über Chancen und Risiken des Einsatzes von Expertensystemen angeht - , in welch geringem Maß Expertensysteme überhaupt existieren. Wenn man die Ergebnisse zusammenfaßt, dann sagt der Bericht folgendes aus. Erstens. Die Produktion von Expertensystemen im Sinne einer über die Möglichkeiten der EDV hinausgehenden sogenannten künstlichen Intelligenz ist bisher nur in einer eher rudimentären Form überhaupt geglückt. Zweitens. Sogenannte Wissensakquisition ist nur in ganz engen Bereichen möglich, vorzugsweise im Bereich theoretischen und formalen Wissens, im Bereich von Berechnungen und streng logischen Schlußfolgerungen. Drittens. Der computermäßige Einsatz von sogenanntem Erfahrungswissen, sogenanntem Alltagswissen und sogenanntem Problemlösungswissen ist überhaupt noch nicht geglückt. Viertens. Die prinzipielle Machbarkeit von Maschinen, die sich strukturell dem Gehirn irgendwie annähern könnten, sogenannte Neuronen-Rechner, steht nicht fest, ist keineswegs gesichert. Angesichts dieser Tatsachen sind einige der Vorschläge meiner Vorredner dafür, was man alles mit diesen Expertensystemen machen soll, wen man davor warnen muß und wo man sie weiter untersuchen sollte, etwas Zukunftsmusik. Da Expertensysteme so gut wie noch nicht existieren, ist auch ihre Verbreitung nicht fortgeschritten. Da ihre Verbreitung nicht fortgeschritten ist, sind weder ihre Chancen noch ihre Risiken besonders aktuell. Sie können allerdings tendenziell dazu beitragen, möglicherweise eines Tages Fachwissen breit und schnell verfügbar zu machen, menschliche Fehler zu reduzieren, Routinetätigkeiten abzubauen usw. Es gibt auch ein paar Gefahren, die tendenziell, theoretisch existent sind. Sie haben alle noch keine akute Bedeutung. Wie sind nun die Ergebnisse dieses Berichts zu bewerten? - In gewisser Weise läßt sich sagen, daß die Enquete-Kommission einen Beitrag dazu geleistet hat, den Begriff Expertensystem zu entmystifizieren. Der Begriff Künstliche Intelligenz, mit dem mehr ein hoffnungsvolles Ziel als ein Faktum bezeichnet wird, hatte vielleicht einen Optimismus ausgelöst, der zur Zeit noch nicht als realistisch bezeichnet werden kann. Die Bezeichnung verspricht mehr, als heutige Realisierungsversuche halten können. Expertensysteme sind bis jetzt weniger Denkmaschinen als Sprachmaschinen. Die Bemühungen um die Fortentwicklung von Expertensystemen stagnieren in einem gewissen Grade, was nicht heißt, daß sie nicht aus der Sackgasse herausfinden werden. Die Geschichte lehrt uns, daß der technische Fortschritt weitergeht. Was den hier erörterten Bericht selbst betrifft, so darf ich auch meinerseits Dankbarkeit gegenüber den Mitarbeitern zum Ausdruck bringen, die das nur nach Kilos zu bemessende Material immer wieder gesichtet, bewältigt und verarbeitet haben. Gleichwohl muß man selbstkritisch sagen, daß unser Bericht Längen hat. Eine Straffung auf die Hälfte hätte ihn leserlicher und in gewissem Maße auch ehrlicher gemacht, weil das seinen im Grunde genommen harmlosen Aussagen besser entsprochen hätte. Ein Gedanke wird nicht dadurch ergiebiger, daß man ihn in fünf Spiegelstriche unterteilt; eine Aussage wird nicht dadurch weniger trivial, daß man sie einrahmt; nicht jede kleine Nachdenklichkeit ist bereits der Ablauf eines TA-Prozesses. Die eine oder andere Passage unseres Berichts - ich möchte auch sagen: die eine oder andere Stunde der Diskussionen, denen ich beigewohnt habe - hatte so den Aussagegehalt: Wesentlich ist nicht unwesentlich. Der Wortreichtum und die Sprachüberhöhung, zu denen die Beschäftigung mit dem Thema offenbar verführen, hat an einigen Stellen, und zwar gerade an denen ausgesetzt, wo umgekehrt an eine gewisse Vertiefung vielleicht gutgetan hätte, nämlich etwa im Grenzbereich zwischen Daten und Informationen, Wissensverarbeitung und Regelanwendung, Denken und Erkennen, überhaupt in dem Bereich, in dem die funktionale Struktur des Gehirns in Beziehung zur Konstruktion eines Expertensystems gesetzt wird. Aber das ist nicht das Entscheidende. Die EnqueteKommission hat, auch wenn die Ergebnisse nicht aufsehenerregend sind, ihre Aufgabe gut erfüllt. Sie hat den Sachverhalt geklärt, Möglichkeiten und Gefahren dargestellt und für weiteres parlamentarisches Handeln oder, was ich im Moment besser finde, Abwarten eine Grundlage gelegt. Insofern war das ganze Unternehmen zwar langwierig und auch verhältnismäßig teuer, aber jedenfalls nicht umsonst. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 11/7990 und 11/7993 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Die Drucksache 11/7990 soll zusätzlich auch an den Verteidigungsausschuß überwiesen werden. ({0}) - Ich ergänze: Die Drucksache 11/7990 soll zusätzlich an den Umweltausschuß und an den Verteidigungsausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann wird das so geschehen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht „Hochschulpolitische Zielsetzungen" - Drucksache 11/8506 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Bildung und Wissenschaft ({1}) Innenausschuß Verteidigungsausschuß Auschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Professor Ursula Lehr.

Prof. Dr. Dr. h. c. Ursula Maria Lehr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001305, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Wissenschaft und Forschung bilden auch im vereinten Deutschland wichtige Grundlagen für Staat und Gesellschaft." - So steht es in Artikel 38 des Einigungsvertrages. Die Herstellung der Einheit in Wissenschaft und Forschung ist eine große, gewiß nicht immer leichte Aufgabe. Es gilt für die knapp 300 Hochschulen und die ca. 1,7 Millionen Studierenden im gesamten Bundesgebiet Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine qualitativ hochstehende Ausbildung, Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und effiziente Hochschulforschung ermöglichen. Hochschulpolitische Zielsetzungen sind einmal zu diskutieren vor dem Hintergrund eines vereinten Deutschlands. Hier ist das geplante Erneuerungsprogramm für Hochschule und Forschung in den neuen Ländern sehr zu begrüßen. Es sieht vielseitige personelle Maßnahmen, Sicherung des wissenschaftlichen Forschungspotentials und dessen Reintegration in die Hochschulen und intensive Maßnahmen, Ausstattung der Hochschulen usw. vor. Hochschulpolitische Maßnahmen sind aber auch zu diskutieren im Hinblick auf den europäischen Einigungsprozeß. Neben der in Deutschland qualitativ sehr guten beruflichen Bildung bekommt die Hochschulbildung in diesem Zusammenhang eine immer wichtigere Funktion. Ein hohes Niveau von Forschung und Lehre an den Hochschulen stellt einen wichtigen Faktor für die künfte Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes in Wissenschaft und Wirtschaft dar. Der von der Bundesregierung vorgelegte Hochschulbericht zieht eine Bilanz der Hochschulpolitik der Jahre 1986 bis 1990 - eine Bilanz, die sich durchaus sehen lassen kann - und stellt weitere Ziele klar heraus. Er weist jedoch auf eine Reihe von Problemen hin und macht deutlich, daß die Kompetenzen des Bundes im Hochschulbereich begrenzt sind. Lassen Sie mich auf vier Aspekte eingehen, die ich für besonders wichtig halte. Erstens. Wir brauchen eine Verkürzung der Studienzeiten. „Vom BAföG in die Rente" ist sicherlich eine überspitzte Zukunftsvision. Fakten wie die zunehmende Dauer der Studienzeiten - in den alten Ländern liegt das Durchschnittsalter beim ersten Hochschulexamen bei 28 Jahren, bei der Promotion, je nach Fach, zwischen 32 und 35 Jahren mit steigender Tendenz - und die gleichzeitige Herabsetzung der Altersgrenze - sie liegt heute bei 58, 59 Jahren - deuten in diese Richtung. Wir in der Bundesrepublik haben die längsten Studienzeiten. In dem Alter, in dem die meisten bei uns ins Berufsleben eintreten, hat man in anderen Ländern der EG bereits mehrere Jahre Berufserfahrung. Das Studium muß effizienter werden, ohne daß die Ausbildung an Qualität einbüßt. Hier mag in manchen Fächern eine Überarbeitung der Studien- und Prüfungsordnungen nötig sein. Über die Maßnahmen der Verbesserung der Lehre ist sicherlich ebenso nachzudenken wie über eine Schaffung von Anreizen für eine schnellere erfolgreiche Beendigung des Studiums. Hemmnisse, die zu einer Verzögerung des Studiums beitragen - ich nenne nur die finanzielle Lage der Studenten, die Wohnsituation, aber auch die oft fehlenden Möglichkeiten der Kinderbetreuung studierender Eltern - sind bereits politisch im Sonderprogramm II angepackt worden. Vielleicht sollte man aber darüber hinaus auch fragen, was einen Studenten zum längeren Verbleib an der Alma mater motiviert. - Besser Student als arbeitslos? Versicherungsrechtliche Aspekte? Zweitens. Die Feststellung im Bericht: „Hand in Hand mit Maßnahmen der Studienzeitverkürzungen muß der Ausbau der Weiterbildung an den Hochschulen gehen" möchte ich hier noch einmal unterstreichen. Wir reden zwar viel vom lebenslangen Lernen, von der Notwendigkeit, berufliche Kenntnisse immer wieder auf den neuesten Stand zu bringen, trotzdem steckt die Fortbildung gerade an den Universitäten noch in den Kinderschuhen. Hier ergeben sich neue, wichtige Aufgaben. Wir brauchen entsprechende Angebote der Universitäten. Organisierte Weiterbildung ist als Voraussetzung für die Verkürzung der Studienzeiten zu sehen. Zu diesem Weiterlernen gehört aber auch, daß die Arbeitgeber und natürlich wir alle mitmachen. Drittens. Ich begrüße sehr, daß der Bericht ausführlich auf die Probleme des wissenschaftlichen Nachwuchses eingeht. Alle hier angesprochenen Fragen und Stützmaßnahmen sind wichtig und sollten vor allem von den dafür zuständigen Bundesländern und Hochschulverwaltungen berücksichtigt werden. Hier gilt es aber auch, den wachsenden Anteil an Verwaltungsaufgaben, der, weil es an anderen Verwaltungsstellen und Sachbearbeiterstellen fehlt, oft durch den wissenschaftlichen Nachwuchs erledigt werden muß, zu beachten und nach Abhilfe zu suchen. Viele Fördermaßnahmen des Bundes und der Länder könnten erfolglos bleiben, wenn das wissenschaftliche Personal an Instituten und Seminaren mehr und mehr durch Verwaltungsaufgaben - Abrechnungen, Erstellung von Forschungs- und Lehrberichten, Kapazitätsberechnungen und statistischen Erhebungen unterschiedlichster Art - belastet wird. Viertens. Die Situation der Frauen an den Hochschulen - auch das läßt der Bericht deutlich werden - läßt viel zu wünschen übrig und muß verbessert werden. Zwar sind knapp die Hälfte aller Studierenden Frauen - 1989 waren es 43 Prozent der Studienanfänger - , doch leider immer noch mit sehr einseitigen Fächerschwerpunkten. Leider gibt der Bericht keine Information über den Anteil der Studienabbrecher, der bei den Frauen besonders hoch sein soll. Hier liegt zweifelsohne Forschungsbedarf vor, um die entsprechenden speziellen sozialen Stützsysteme aufzubauen und zu verbessern. Immerhin, 43 Prozent der Studienanfänger sind Frauen. Doch bei allen Promotionen des Jahres 1989 betrug der Frauenanteil in den alten elf Ländern nur 26 Prozent, in den neuen Ländern 36 Prozent, bei allen Habilitationen sogar nur 9 Prozent. Im Mittelbau sind Frauen nur mit 16 bis 20 Prozent vertreten, bei den C4-Professuren sogar nur mit 2,6 Prozent. Notwendig ist hier ein breit gefächertes Angebot von Fördermöglichkeiten, das Studienabbrüche verhindert, das Promotionen fördert, das den Ausbau der Habilitationsmöglichkeiten von Frauen im Rahmen von Stipendien vorsieht. Notwendig ist auch der Weg1154 fall von zeitlichen Begrenzungen und von Altersgrenzen bei der Übernahme von Familienaufgaben. Ich hoffe darauf, daß die vielen Neubesetzungen von Professorenstellen, die in den nächsten Jahren zu erwarten sind, zur Erhöhung des Frauenanteils im wissenschaftlichen Bereich führen werden - auch über die besonderen Fördermaßnahmen des Hochschulsonderprogramms II. Ich fürchte jedoch, daß man an vielen Hochschulen glaubt, mit der Bestellung von Frauenbeauftragten bereits das Notwendige getan zu haben. ({0}) Der Bericht der Bundesregierung zeigt in den von mir angesprochenen und auch in anderen Fragen wichtige Entwicklungsperspektiven auf. Er ist eine gute Grundlage für eine künftige Hochschulpolitik, und ich hoffe, daß sich der Bund auch in Zukunft im Rahmen seiner Kompetenzen für die Studenten und Studentinnen sowie für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Hochschulen in Forschung und Lehre einsetzen wird. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Eckart Kuhlwein.

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende hochschulpolitische Bericht der Bundesregierung ist vom Deutschen Bundestag im April vergangenen Jahres bestellt worden. Die Bundesregierung hat sich damit sehr viel Zeit gelassen; er hat das Parlament erst drei Tage vor der Bundestagswahl erreicht. Die Bundesregierung hat diese sehr lange Zeit nicht ausreichend genutzt. Sie hätte die Chance nutzen können, Perspektiven für den Aus- und Umbau des Hochschulsystems in den neuen Ländern aufzuzeigen. Sie hätte damit mehr Klarheit darüber schaffen können, was die im Hochschulbereich dort Tätigen erwartet und wie sie sich umorientieren müssen. Statt dessen bleiben die Aussagen im Bericht zu diesem Thema allgemein und unpräzise. Die Bundesregierung kann die Verantwortung für die erheblichen Verwerfungen im Hochschulsystem der neuen Länder nicht mit dem Mangel an Zuständigkeit abschieben; denn der Einigungsvertrag ist von ihr selbst mit der DDR ausgehandelt worden. Sie muß sich auch in diesem Bereich vorhalten lassen, daß sie die Folgen ihres Handelns und Unterlassens zuwenig vorausberechnet hat. ({0}) Wir erinnern uns doch noch daran - Sie nicht, Herr Hansen; aber der Herr Kollege Waldburg-Zeil erinnert sich noch daran - , wie der Ausschuß für Bildung und Wissenschaft in letzter Minute Verordnungen der DDR-Regierung zum Bestandteil des Einigungsvertrages machen mußte, die bei uns im Ausschuß nicht einmal im Wortlaut nachzulesen waren. ({1}) Der Bundesbildungsminister versucht jetzt, mit einem neuen Sonderprogramm den Umbau des Hochschulsystems in den neuen Ländern voranzutreiben. Das ist gut so, wenngleich wir uns das Programm natürlich noch sehr sorgfältig ansehen müssen. Aber wäre das Programm ein halbes Jahr früher auf dem Tisch gewesen, wären wir mit dem Umbau schon einen ganzen Schritt weiter. ({2}) Wir hätten viel individuelles Leid und manchen sozialen Krach vermeiden können, Herr Hansen. Jedenfalls sind die Abwicklungen, die wir im Augenblick erleben, durchaus keine Garantie dafür, daß künftig diejenigen in der Hochschule lehren werden, die wir dort gerne hätten, und daß dann diejenigen aussortiert werden, die wir dort künftig als Hochschullehrer nicht haben wollen. Darüber hätte man sehr viel früher nachdenken und entsprechende Konzepte entwickeln können. Die Gefahr neuer Seilschaften ist jedenfalls erlebbar. Wenn ich an den grandiosen Import denke, der sich aus Würzburg Richtung Dresden bewegt und ganze neue Seilschaften dort an der Technischen Universität zur Folge gehabt hat, dann frage ich mich, ob man nicht früher, nicht im Einzelfall personalpolitische Entscheidungen, aber doch Rahmen für die Umstrukturierungen, die im Hochschulsystem der alten DDR notwendig sind, hätte vorgeben können. Wir halten es im übrigen für eine mittlere Unverschämtheit, daß Sie für dieses Programm erneut die westlichen Bundesländer zur Kasse bitten wollen, obwohl diese Länder das Nachsehen haben, wenn sich der Bundesfinanzminister durch die Erhöhung von Bundessteuern die Taschen vollstopft. Im Bericht wird schließlich deutlich, daß auch in den westlichen Bundesländern noch immer erheblicher hochschulpolitischer Nachholbedarf besteht. Herr Ortleb hat ja kürzlich vor der Hochschulrektorenkonferenz gesagt, Hilfen für die neuen Länder dürften die Situation im Westen nicht verschlechtern. Recht hat er gehabt. Aber das Konzept sieht jetzt vor, 20 % des neuen Sonderprogramms durch die westlichen Bundesländer bezahlen zu lassen, wobei aber gleichzeitig Sonderprogramm I und II weiterlaufen, und zwar aus der Erkenntnis heraus, daß gerade auch die westlichen Länder für den Bereich von Wissenschaft und Hochschule mehr Geld brauchen, wenn sie ihren Aufgaben in Zukunft gerecht werden wollen. Im übrigen macht die Notwendigkeit solcher Sonderprogramme deutlich, daß der kooperative Föderalismus im Hochschulbereich nur unzureichend funktioniert. Sie unterstreichen unsere Forderung nach einer gemeinsamen Hochschulentwicklungsplanung von Bund und Ländern als Teil eines neuen Bildungsgesamtplans. Das Stückwerk der Sonderprogramme muß endlich durch ein mittelfristiges Hochschulstrukturprogramm abgelöst werden. Ich gebe hier der Bundesregierung recht, wenn sie im Bericht eine grundsätzliche und vorbehaltlose Überprüfung fordert, welche neuen Formen einer gemeinsamen Hochschulpolitik und -planung denkbar sind. Das ebenfalls geforderte Mindestmaß an Einheitlichkeit wird sich in den gegebenen Strukturen kaum erreichen lassen. Ich hätte es allerdings begrüßt, wenn die Bundesregierung in diesen Passagen des Berichts etwas konkreter geworden wäre und ausgeführt hätte, was sie denn nun im einzelnen dazu anzuregen vorhat. Gemessen am seitenlangen Selbstlob der Bundesregierung - der Bundestag hatte sie danach gar nicht gefragt - fällt das Kapitel Zielsetzung etwas dürftig aus. Die Schlußfolgerungen bleiben in den meisten Textziffern unverbindlich. Oder was soll man etwa davon halten, wenn es zur Frage der angewandten Forschung und Entwicklung an Fachhochschulen heißt, der Bundesbildungsminister werde sich „weiterhin darum bemühen, die Verfügbarkeit von staatlichen Mitteln für diesen Bereich zu gewährleisten"? ({3}) Im Haushaltsentwurf steht ja entsprechend für 1991, Graf Waldburg, auch wieder ein Leertitel. Ob das damit gemeint sein soll? Oder was mag es bedeuten, wenn wir die Ankündigung lesen, daß es in der Bund-Länder-Kommission Mitte 1991 einen weiteren Bericht zur Studienzeitverkürzung geben werde und dann erörtert werden solle, „ob und wann auf Grund der bisher beschlossenen Maßnahmen mit greifbaren Erfolgen gerechnet werden" könne? In der Sache können wir Ihrem Bericht in einer Reihe von Feststellungen zustimmen. Das betrifft z. B. die wachsende Bedeutung der Fachhochschulen, die Notwendigkeit einer Verkürzung der Fachstudiendauer, den Wunsch nach einer stärkeren Gewichtung der Lehre, die Reduzierung der Stoffülle und die Verlagerung von Lehrinhalten aus der Erstausbildung in Graduiertenstudien oder in wissenschaftliche Weiterbildung und nicht zuletzt auch den notwendigen Ausbau der Weiterbildung an den Hochschulen überhaupt. Unsere Zustimmung gilt auch für die These, daß eine Verbesserung der Ausbildungsangebote im Umweltbereich durch die in den deutschen Hochschulen üblichen Strukturen erschwert wird. Leider bleibt auch diese Feststellung folgenlos im Raum stehen. Sie sollten das Problem wenigstens in Ihre Überlegungen zur Weiterentwicklung des Hochschulrahmenrechts aufnehmen. Das scheint uns bei Überlegungen zur HRG-Novellierung sehr viel wichtiger zu sein als die erneute Ankündigung einer früher schon gescheiterten HRG-Novelle, nach der die Hochschulen in der Lage sein sollen, sich die Studierenden selber auszusuchen. Völlig unzureichend erscheint uns das im Bericht genannte Ausbauziel im Hochschulbau. Alle Prognosen sagen uns, daß die Bildungsexpansion im Hochschulbereich weiter zunehmen wird. In den neuen Ländern gibt es zudem einen erheblichen Nachholbedarf. Immer mehr junge Menschen wollen studieren. Wir wissen aus der Entwicklung des Arbeitsmarktes, daß dies auch wirtschaftlich vernünftig ist. Dennoch begnügt sich die Bundesregierung mit dem Ausbauziel von 850 000 Studienplätzen für die westlichen Länder, das bereits 1977 unter völlig anderen Rahmenbedingungen festgelegt wurde. Wir werden es nicht mehr lange Zeit durchhalten, daß sich im Westen und demnächst auch im Osten je zwei Studierende einen Studienplatz teilen müssen. Die Bundesregierung ist gefordert, die Planziele, die Zielzahlen insoweit erheblich nach oben zu korrigieren. Das Selbstlob des Berichts über die Entwicklung der Ausbildungsförderung und der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß beide Systeme noch immer voller Widersprüche stecken. Das System von BAföG und Ausbildungsfreibeträgen bevorzugt noch immer die Kinder von Beziehern höherer Einkommen. Die übliche Promotionsförderung von 1 200 DM im Monat ist für qualifizierten Nachwuchs keine besonders große Verlockung, an den Hochschulen zu bleiben und sich der wissenschaftlichen Laufbahn zu widmen. Alles in allem ist der vorliegende Bericht informativ. In einigen Punkten nimmt er sogar Gedanken auf, die wir als Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen schon vor Jahren in die hochschulpolitische Diskussion eingebracht haben. Ein hochschulpolitisches Gesamtkonzept bietet der Bericht jedoch noch immer nicht. Wir werden Sie - Sie, Herr Ortleb, als Bundesregierung und Sie als Koalitionsfraktionen - deshalb in den Ausschußberatungen löchern, durch eigene Beiträge des Bundes zu erreichen, daß endlich die Studiengänge so reformiert werden, daß sie in angemessener Zeit absolviert werden können, daß endlich die gegenseitige Abschottung der Fächer durch interdisziplinäre Zusammenarbeit aufgehoben wird, daß die soziale Öffnung der Hochschulen wirklich und dauerhaft erreicht wird, daß ein Optimum an Selbstbestimmung des einzelnen und Mitbestimmung der Gruppen praktiziert werden kann und daß Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung endlich in die tägliche Praxis von Forschung und Lehre umgesetzt wird. Meine Fraktion stimmt der Überweisung des Berichts an die Ausschüsse zu. Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Das Wort hat nunmehr Frau Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink.

Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000625, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Vom Ausbau und der Weiterentwicklung hängt es ab, inwieweit Innovationen und ein hoher Qualifikationsstand zur Bewältigung zukünftiger, möglicherweise neuartiger Anforderungen erreicht werden. In den hochschulpolitischen Zielsetzungen wird besonders der Wille hervorgehoben, gemeinsam mit den Ländern den Hochschulbereich neu zu ordnen, um stabile Bedingungen für eine quantitative und qualitative Weiterentwicklung des Hochschulwesens zu schaffen. Der Bericht zieht Bilanz, weist jedoch auch in die Zukunft. 1990 entschied sich beinahe jeder bzw. jede dritte Jugendliche im Alter zwischen 19 und 21 in den alten Bundesländern für die Aufnahme eines Studiums. Das bedeutet eine Steigerung um 11,5 %. Diese Prozentzahl klingt noch vergleichsweise harmlos, wenn man das Augenmerk auf den Anstieg der Zahl der Studienanfänger in den neuen Bundesländern lenkt. Dort haben wir nämlich eine Zuwachsrate von 25%. Diese Zahlen belegen, wie richtig und dringlich alle Maßnahmen sind, die Infrastruktur der ostdeutschen Hochschullandschaft zu verbessern. Der Aufbau effektiver Hochschul- und Forschungseinrichtungen in den neuen Ländern bedarf dringend sofortiger Hilfe. Ich würde „dringendst" sagen, wenn die Steigerung erlaubt wäre. Die Leistungsfähigkeit der Universitäten muß so schnell wie möglich verbessert werden, um eine Abwanderung von Wissenschaftlern, Wissenschaftlerinnen und Studierenden in die alten Bundesländer zu vermeiden. Es ist wichtig, auch im Bildungs- und Wissenschaftsbereich vergleichbare Lebensverhältnisse ohne Zeitverzug herzustellen. Die Universitäten im Osten dürfen nicht ausbluten. Wir befinden uns hier in bester Gesellschaft, nämlich mit dem Präsidenten des Deutschen Hochschulverbandes, Schiedermair, der das gestern gesagt hat. Das Vorhaben des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft von der FDP, gemeinsam mit den Ländern ein Erneuerungsprogramm mit 2,2 Milliarden DM für Hochschulen und Forschung in Ostdeutschland vorzulegen, ist ein wertvoller Schritt in die richtige Richtung. Die Finanzierung wird von Bund, Ost- und Westländern getragen. Wie denn sonst, Herr Kuhlwein? ({0}) Die FDP begrüßt dieses Hochschulsonderprogramm III, in dem die Maßnahmen zur personellen und strukturellen Erneuerung sowie zur Förderung des wissenschaftlichen Potentials im Mittelpunkt stehen. Hervorheben möchte ich, daß insbesondere die Fachbereiche Rechtswissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und die Lehrerausbildung, hier vor allem die Fächer der Geistes- und Sozialwissenschaften, von den Investitionen profitieren werden. Beim Ausbau aller Hochschulen ist die direkte ausbildungswirksame Verwendung der Mittel in den Vordergrund zu stellen. Angesichts der voraussagbaren Entwicklung der Studentenzahlen in den bisherigen und den neuen Bundesländern, zur Zeit 1,7 Millionen DM, gilt es - so steht es schon in den Koalitionsvereinbarungen -, den Ausbau der Hochschulen, insbesondere der Fachhochschulen mit ihren günstigen Studienzeiten und den guten beruflichen Perspektiven ihrer Absolventen und Absolventinnen beschleunigt voranzutreiben. Gerade deshalb möchte ich diesen Punkt in unserer Debatte ansprechen: Eine Erhöhung des Anteils der Fachhochschulen am gesamten Hochschulsystem ist weiterhin erforderlich. ({1}) Wir haben in den alten Bundesländern bei 150 000 Studienplätzen ca. 340 000 Studierende. Die noch übliche Unterscheidung von wissenschaftlichen Hochschulen und Fachhochschulen ist angesichts der in § 7 des Hochschulrahmengesetzes allen Hochschulen gemeinsam gestellten Aufgaben in der wissenschaftlichen Ausbildung bildungspolitisch nicht mehr angemessen. Die Stärkung der Attraktivität und der Wettbewerbsfähigkeit der Fachhochschulen muß insbesondere auch unter dem europapolitischen Gesichtspunkt Priorität genießen. Das Stichwort „Fachhochschul-Marketing" muß in Europa die Runde machen. Apropos Europa: Die europäischen Dimensionen stellen uns im Hinblick auf die Verwirklichung des Binnenmarktes 1992 auch in anderen Bereichen von Wissenschaft und Forschung vor Herausforderungen für unsere Zukunftssicherung. Größere Beachtung sollte in Zukunft der Entwicklung gemeinsamer internationaler Studiengänge mit anderen Hochschulen geschenkt werden, damit die Studierenden die Lebens- und Arbeitsumstände in einem anderen Land kennenlernen. Meine sehr verehren Herren und Damen, die Tatsache, daß der Anteil von Frauen in Bildung und Wissenschaft in den letzten Jahren zugenommen hat - immerhin 38 % der Studierenden - , kann uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie in leitenden Positionen noch bei weitem unterrepräsentiert sind. Hier müssen wir weiter initiativ werden. Hier muß der Bericht „Hochschulpolitische Zielsetzungen" zusammen mit dem Hochschulsonderprogramm II gesehen werden, da er ab 1991 wirkt. Untersuchungen über die Unterschiede beim Zugang zu einer wissenschaftlichen Karriere zeigen, daß es zwischen den Fächern zwar Unterschiede gibt, die teilweise mit der allgemeinen Promotionsquote zusammenhängen; generell gilt jedoch, daß Frauen mit Studienabschluß im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen noch immer seltener promovieren. Frau Lehr hat schon darauf hingewiesen: Nur 26% der Promotionen stammen von Frauen, obgleich von ihnen 40 % der Diplom- und Abschlußprüfungen abgelegt werden. Noch düsterer stellt sich das Gesamtbild dar, läßt man die Human- und Veterinärmedizin aus der Obersicht heraus. Dann ist es nur jede fünfte Frau. Aber nicht einmal auf 10 % beläuft sich der Frauenanteil bei den Habilitationen. 2,6% der C-4-Stellen haben Frauen inne. Um den Anteil der Wissenschaftlerinnen auch in höheren Etagen von Hochschule und Wissenschaft deutlich zu verbessern, bedarf es neuer struktureller Lösungen. Die höhere wissenschaftliche Qualifikation fällt häufig in eine Zeit, in der die Familie gegründet wird. Die Verbesserung der Randbedingungen für wissenschaftliche Tätigkeiten muß also dazu führen, wissenschaftliche Weiterqualifizierung und familiäre Verpflichtungen miteinander zu vereinbaren. ({2}) Stichworte: kumulative Habilitation, flexiblere Lehrverpflichtungen, Wiedereinstiegsstipendien, Wegfall der Altersgrenze beim Einstieg und Wegfall der Altershöchstgrenzen bei der Vergabe von Stipendien. Mit den 700 Millionen DM für frauenfördernde Maßnahmen im Hochschulsonderprogramm II sollte dieser Beitrag geleistet werden, damit Wissenschaft und Forschung auf die jungen Frauen nicht verzichten müssen. Lassen Sie mich zum Schluß noch auf eine Frage zu sprechen kommen, die in der Diskussion der letzten Jahre eigentlich zu kurz gekommen ist. Seit Jahren gibt es keine demokratisch legitimierte Vertretung studentischer Interessen auf Bundesebene. Nach dem Wegfall des von Ideologen der äußersten Linken und Extremisten als Spielball benutzten VDS, dem wir nicht nachtrauern, und nachdem die FDJ 40 Jahre lang das Monopol der studentischen Interessenvertretung der ehemaligen DDR innehatte, sind wir Politiker und Politikerinnen gefordert, bessere Rahmenbedingungen für die Studierenden zu schaffen, um ihnen die Möglichkeiten zu geben, ihre Hochschulinteressen selbständig zu gestalten. Ein geeignetes Instrument ist die verfaßte Studentenschaft. ({3}) - Jawohl, die verfaßte Studentenschaft sollte auch in den neuen Bundesländern gesetzlich verankert werden. Fazit: Meine Herren, meine Damen, schwere Aufgaben stehen allen Bundespolitikern und -politikerinnen im gesamten Hause bevor. Die Qualität von Forschung und Lehre an den Hochschulen der bisherigen DDR muß sichergestellt werden, und die Infrastruktur muß mit einer gewaltigen Kraftanstrengung verbessert werden. Dennoch müssen wir unser Augenmerk auch weiterhin auf die Probleme und Fragestellungen in den westdeutschen Hochschulen richten. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Das Wort hat nun der Abgeordnete Dr. Dietmar Keller.

Dr. Dietmar Keller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001077, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Ausdruck meiner persönlichen Reverenz an den Herrn Minister beginne ich mit Zahlen, im Wissen, daß er für diesen Bericht keine Verantwortung trägt. ({0}) - Noch trägt er keine persönliche Verantwortung. ({1}) Von den 162 Teilziffern des Berichts sind ganze 12 den hochschulpolitischen Konsequenzen aus der Vereinigung gewidmet. Hinzu kommen einige ostdeutsche Arabesken bei den übrigen 150. Diese Nebenbeibehandlung ostdeutscher Probleme und Perspektiven steht in eklatantem Widerspruch zu Erklärungen wie etwa der, daß der Erneuerung von Forschung und Lehre an den ostdeutschen Hochschulen für die Angleichung der Bildungschancen aller Studierenden in ganz Deutschland bildungspolitische Priorität zukomme. Unter nahezu alle Absichtserklärungen, Soll- und Mußsätze zu Ostdeutschland - nun auch aus dem Ministerium - kann und muß ich einige Fragezeichen setzen. Ich muß mich dabei auf einige Stichpunkte beschränken. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich darf Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen, Herr Dr. Keller.

Dr. Dietmar Keller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001077, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Wenn Sie es wünschen, ja.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Keller, Sie kritisieren - aus naheliegenden Gründen - die, wie Sie glauben, zu geringe Berücksichtigung des Erneuerungsbedarfs an den Hochschulen in den neuen Bundesländern. Würden Sie freundlicherweise einräumen, daß allein der Umstand, daß in die hochschulpolitischen Leitsätze, die zu einem Zeitpunkt parlamentarisch eingefordert und von der Regierung zugesagt worden sind, als das Thema „Vereinigung" noch gar nicht, schon gar nicht in Form eines Zeitplans absehbar war, gleichwohl kurzfristig noch eine solche Ergänzung eingefügt worden ist, ein Beweis für genau die Priorität ist, die Sie in Ihrer Berner-kung gerade vermißt haben?

Dr. Dietmar Keller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001077, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sie werden es mir nicht übelnehmen, wenn ich Ihnen widerspreche. Der Berichtsauftrag an die Bundesregierung ist im April ergangen. Im April 1990 war vorauszusehen, daß die Deutsche Einheit in absehbarer Zeit erfolgt. Der Bericht ist im November 1990, also nach der Einheit Deutschlands, eingereicht worden. Von daher hätte die Bundesregierung ohne große Probleme darauf drängen können, daß eine Reihe Von Fragen und Problemen, deren Lösung dringend ansteht, in diesen Bericht aufgenommen wird. ({0}) - Ich hatte gesagt: nicht ausreichend, Herr Kollege. Stichwort: Fachhochschulen. Hierzu beschränkt sich der Bericht auf die Feststellung, daß es Fachhochschulen in der DDR nicht gab, daß Erkenntisse aus angelaufenen Pilotprojekten und Empfehlungen des Wissenschaftsrates abzuwarten seien. Dagegen fordert das Hohenheimer Memorandum der Kultusminister, daß der „weitere Ausbau und die Neuerrichtung von Fachhochschulen einen Schwerpunkt der Hochschulpolitik in den neuen Ländern bilden muß". Meine Frage: Welches Konzept hat die Bundesregierung, unter Berücksichtigung der Existenz eines ausgebauten Fachschulnetzes - diese Tatsache wird im Bericht völlig ignoriert - , spezialisierter Hochschulen und freiwerdender Kapazitäten der außeruniversitären Forschung, um die Entwicklung eines Netzes von Fachhochschulen in den neuen Ländern zu fördern? Stichwort: Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Hat angesichts der jüngsten Feststellungen des Vorsitzenden des Wissenschaftsrates, Herrn Professor Simon, daß sich das Konzept von Gastprofessuren nicht bewährt hat - was ja wohl auch bedeutet, daß der Import von Professoren aus dem Westen als Allheilmittel zur personellen Erneue1158 rung des Hochschullehrerbestandes kaum geeignet ist - , die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und guter, unbelasteter Leute aus der zweiten und dritten Reihe der ostdeutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen nicht eine Priorität gewonnen, die im Bericht absolut unterschätzt wird? Stichwort: Grundlagenforschung und außeruniversitäre Forschung. Es gelte, Einrichtungen der Grundlagenforschung aus den ehemaligen DDR-Akademien möglichst in die Hochschulen zu reintegrieren, so heißt es in Teilziffer 106 des Berichts. Die in Teilziffer 107 wiedergegebene Empfehlung des Wissenschaftsrates vom Juli 1990 fordert ausdrücklich auch für die neuen Länder Wettbewerb zwischen Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Dieser Wettbewerb setzt natürlich die Existenz außeruniversitärer Forschungseinrichtungen - einschließlich solcher der Grundlagenforschung - voraus. Ich wäre dankbar, wenn mir jemand erklären könnte, wie sich diese Absichtserklärung mit der Meldung verträgt, daß nur ein kleiner Teil der bisher an Akademie-Instituten beschäftigten Wissenschaftler Platz in einer außeruniversitären Forschungseinrichtung finden wird und allenfalls ein Sechstel bis ein Fünftel - so Minister Riesenhuber - Chancen auf eine Reintegration in Hochschulen haben kann. Stichwort: Anerkennung akademischer Abschlüsse. Es ist schön, wenn es in Teilziffer 119, bezogen auf die EG, heißt, daß Ausbildungsabschlüsse gegenseitig großzügig anerkannt werden sollen. Dagegen drückt sich der Bericht vor der Frage der Anerkennung von akademischen Abschlüssen, die in der DDR bzw. in Osteuropa erworben wurden. Stichwort: Auslandsbeziehungen der Hochschulen. Ich mache darauf aufmerksam, daß der komplizierte Prozeß der Veränderungen an den Hochschulen im Osten Deutschlands dazu geführt hat, daß die internationalen Beziehungen, besonders zu den osteuropäischen Universitäten, zusammenbrechen. Aber es wäre eine große historische Chance, wenn man die osteuropäischen Verbindungen der Universitäten im Osten Deutschlands genauso als eine Brücke verstünde wie die Verbindungen der westdeutschen Universitäten und Hochschulen zu den westeuropäischen Universitäten. Diese Brücke sollte genutzt werden. Danke. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Das Wort hat nun Herr Dr. Egon Jüttner.

Dr. Egon Jüttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001036, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die steigende Nachfrage nach Studienplätzen und die Defizite im Hochschulbereich der neuen Bundesländer rücken die Hochschulpolitik wieder stärker in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Der Bericht über die hochschulpolitischen Zielsetzungen der Bundesregierung trägt dieser Entwicklung Rechnung. Er ist ein Beleg dafür, daß die Bundesregierung der Hochschulpolitik und insbesondere der Sicherung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der Hochschulen eine hohe Bedeutung beimißt. Das wird besonders deutlich am Zuwachs des Bildungsetats. Dort ist eine überproportionale Steigerung der für den Hochschulaus- und -neu-bau veranschlagten Mittel vorgesehen, nämlich um 500 Millionen DM von 1,1 Milliarden DM auf 1,6 Milliarden DM. Besonders erfreulich ist dabei, daß von den 500 Millionen DM mehr als die Hälfte, nämlich 300 Millionen DM, in die neuen Bundesländer fließen. ({0}) Auch die Erhöhung der Mittel für den Bau von Studentenwohnraumbau von 50 Millionen DM auf 150 Millionen DM zeigt, daß der Zuwachs im Bildungsetat nicht nur einheitsbedingt ist, sondern auch den alten Bundesländern zugute kommt. Auch das von Bund und Ländern ausgehandelte Erneuerungsprogramm für Hochschule und Forschung in den neuen Bundesländern zeigt, daß die Bundesregierung nicht nur redet, sondern tatkräftig handelt. ({1}) Das 2,2 Milliarden DM umfassende Erneuerungsprogramm ist dringend erforderlich zur Sicherung des Forschungspotentials und zur Verbesserung der Ausstattung der Hochschulen in den neuen Bundesländern. Die Finanzierung kann allerdings nicht allein dem Bund aufgebürdet werden; auch die alten Bundesländer müssen hier ihren Beitrag leisten. ({2}) Die Bundesregierung stellt in ihrem Bericht fest, daß die Fachhochschulen weiter ausgebaut werden müssen und daß der Anteil der Fachhochschulen am gesamten Hochschulsystem erhöht werden muß. Diese Politik ist richtig und konsequent, denn in den zwei Jahrzehnten ihres Bestehens haben die Fachhochschulen ein eigenständiges Profil entwickelt: Sie zeichnen sich durch eine praxisorientierte Lehre und durch eine kurze Studiendauer aus. Ihre Absolventen sind in der Wirtschaft gefragt und werden deshalb in der Regel schnell in den Arbeitsmarkt eingegliedert. Um so wichtiger ist es daher, im Fachhochschulbereich zusätzliche Studienplätze zu schaffen, zwischen den Fachhochschulen und den Universitäten mehr Durchlässigkeit zu erreichen, staatliche Mittel für angewandte Forschung und Entwicklung verfügbar zu machen, aus Gründen der Qualitätserhaltung und der weiteren Verbesserung der Lehre eine Aufstockung des Anteils an C-3-Professuren vorzunehmen und besonders qualifizierten Fachhochschulabsolventen Promotionsmöglichkeiten zu eröffnen. Schließlich legen es die positiven Erfahrungen mit den Fachhochschulen in den alten Bundesländern nahe, auch in den neuen Bundesländern ein Netz von Fachhochschulen aufzubauen, dies nicht zuletzt auch mit dem Ziel, die dringend erforderliche Kooperation zwischen Hochschulen und Wirtschaft in den neuen Bundesländern in Gang zu bringen. Denn in dieser Hinsicht haben vor allem die Fachhochschulen - insbesondere diejenigen mit ingenieurwissenschaftlicher Ausrichtung - viel geleistet. Sie haben sich als ein wichtiges Bindeglied zur Wirtschaft erwiesen. Die Bundesregierung betont in ihrem Bericht die Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen Hochschule und Wirtschaft. Zu begrüßen ist, daß sie im Haushaltsplanentwurf im Rahmen der Mittel für Modellversuche im tertiären Bereich des Bildungswesens auch die Mittel zur Verbesserung des Wissens- und Technologietransfers zwischen Hochschule und Wirtschaft deutlich erhöht hat. Noch in den 70er Jahren gab es - häufig aus ideologischen Gründen - in der Frage der Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und Wirtschaft Vorbehalte, nicht zuletzt auch bei den Hochschulen selbst. Dies hat sich, vor allem auf Grund der Novellierung des Hochschulrahmengesetzes durch die Bundesregierung, entscheidend geändert. Eine Vielzahl restriktiver Regelungen und Vorschriften, die eine vernünftige Kooperation zwischen Hochschulen und Wirtschaft behindert haben, sind auf diese Weise abgeschafft oder in ihrer Wirkung reduziert worden. In der Folgezeit sind vor allem der Umfang von Forschungs- und Entwicklungskooperationen sowie der Umfang der Drittmittel aus der Wirtschaft und von privaten Stiftungen stark angestiegen. Die überwiegende Zahl der Hochschulen verfügt heute über Transferstellen oder Transferbeauftragte. Vergleicht man allerdings die Situation mit den USA, so zeigt sich, daß eine weitere Intensivierung der Zusammenarbeit nicht nur wünschenswert, sondern auch möglich ist. Dazu ist es notwendig, noch bestehende einschränkende Bestimmungen des Nebentätigkeitsrechts abzuschaffen oder zu ändern, bürokratische Hemmnisse bei der Drittmittelverwaltung weiter zu reduzieren, ({3}) die vorübergehende Freistellung wissenschaftlichen Personals aus dem Hochschulbereich für die Forschung und Entwicklung in Unternehmen unbürokratisch zu ermöglichen und im Gegenzug Forschungspersonal der Wirtschaft in den Hochschulen tätig werden zu lassen, das Instrument der Stiftungsprofessuren stärker zu nutzen und es den Hochschulen zu ermöglichen, sich frei verfügbare Eigeneinnahmen zu verschaffen, durch welche die Grundfinanzierung ihrer Ausstattung nicht reduziert werden darf. Im übrigen muß alles getan werden, daß auch in den neuen Bundesländern ein partnerschaftliches Zusammenwirken zwischen Hochschule und Wirtschaft in Gang kommt und auf diese Weise auch dort der Technologietransfer gefördert wird. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, der nächste Redner ist Dr. Peter Eckardt.

Dr. Peter Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000431, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Professor Lehr, eine Hoffnung haben wir, denke ich, doch gemeinsam: daß junge Frauen dort, wo sie Examen machen und promovieren, ganz erheblich bessere Ergebnisse erzielen. ({0}) Das wird länger dauern, wie Sie ja wissen. Es gibt manche, die das befürchten, und manche, die sich darüber freuen. Das stand aber nicht in meinem Manuskript. Über C 3 und C 4 will ich heute abend auch nicht reden. Der Bericht, den wir heute diskutieren, hat die Überschrift „Hochschulpolitische Zielsetzungen". Dieser Begriff der Bundesregierung soll offensichtlich bewußt signalisieren: Hier geht es um ein bildungspolitisches Konzept der Zukunft Gesamtdeutschlands; hier geht es um die Demokratisierung besonders der ostdeutschen Universitäten; hier geht es um politische Orientierungen für eine demokratische Gesellschaft nach 45 Jahren stalinistischer Hochschulpolitik in den östlichen Ländern. Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß das Bildungssystem der ehemaligen DDR das brutalste und dogmatischste im ganzen Ostblock war. Es wird sich, denke ich, in kurzer Zeit nicht reformieren und demokratisieren lassen, von Effizienz gar nicht zu sprechen. ({1}) Leider, leider, leider! Um so nötiger - das sagen wir als Sozialdemokraten - ist ein langfristiges Konzept mit klar umrissenen Zielen, das den Prozeß der Selbsterneuerung und die Reformen aus den westlichen Bundesländern miteinander verbindet. Das wird Geld, für manche sogar viel Geld kosten. Der Bericht der Bundesregierung spiegelt nach meiner Überzeugung nicht die Herausforderungen der neuen Länder an die alte Bundesrepublik wider. Als erster gesamtdeutscher Bericht hätte er das aber eigentlich tun müssen. Die Bundesregierung unterschätzt, wie ich denke, in erheblichem Maße die für die Umgestaltung der Hochschulen in den neuen Bundesländern erforderlichen Mittel. Denn die 90er Jahre sollten - auch was die Veränderungen in den alten Bundesländern betrifft, die der Bericht im wesentlichen richtig analysiert - keine Übergangszeit, sondern eine gründliche und solide Basis für die europäischen Herausforderungen an Forschung und Lehre in Deutschland für die nächsten Jahrzehnte sein. Bildungspolitische Grundlagen, Ziele, Konzepte und Problemaufrisse hätten nach meiner Ansicht mehr aufgezeigt werden müssen. Wir, die Sozialdemokraten, vermissen das. Für die alten Bundesländer sind die hochschulpolitischen Ziele bescheiden. Der am 25. April 1990 vom Bundestag geforderte Maßnahmenkatalog ist mehr als zurückhaltend ausgefallen. ({2}) Zu einigen Punkten lassen Sie mich bitte kurz Stellung nehmen. Wir teilen im wesentlichen die Analysen des Berichts zur Wohnungsnot der Studentinnen und Studenten, zu den Folgen der steigenden Studentenzahlen seit Mitte der 80er Jahre, zur bedrückenden Überlast als Dauerlast in einigen Fachbereichen, zur Bedeutung der Weiter- und Fortbildung im akademischen Bereich, zur steigenden Bedeutung der Fachhochschulen, zur ökologischen Forschung an den Universitäten - wovon heute noch gar nicht gesprochen wurde; wir halten den Einstieg in diese Forschung für einen besonders großen Fortschritt der 80er Jahre -, zu den langen Studienzeiten und späten Studienabschlüssen in Deutschland-West und zu den didaktischen und methodischen Mängeln einiger Hochschullehrer. Das sollte kritisch angemerkt werden. Darüber werden wir im Ausschuß reden müssen. Was in dem Bericht auffallend fehlt, sind die konkreten Vorschläge der Regierung für Maßnahmen, um diese Mängel zu beseitigen, und ausreichende Haushaltsmittel, um diese Konzeption finanziell zu ermöglichen. Der zweite Punkt. Es fehlen gründliche Aussagen zum veränderten Diskussions- und Sozialverhalten der Studentinnen und Studenten, zum Arbeitsverhalten einiger Hochschullehrer und zur Entwicklung von Demokratie in den Hochschulen in den 80er Jahren. ({3}) Viele Sozial-, Kommunikations- und Beratungsprobleme werden oberflächlich behandelt, geglättet und umschrieben. Die Mängel dieser Hochschulsituation, von wem auch immer sie verursacht wurden, werden uns, wenn wir sie nicht beseitigen, schnell einholen. Daß diese Probleme uns nicht schon heute eingeholt haben, ist vielen engagierten Kolleginnen und Kollegen an den Hochschulen selbst zu verdanken, die informell vieles geregelt haben, auch an Partnerschaft in die neuen Länder hinein. Dafür ist ihnen zu danken. ({4}) Es ist schade, daß es der Regierung nicht gelungen ist - die objektiven Schwierigkeiten sehe ich -, den Bericht über die neuen Länder zu integrieren, sondern daß sie ihn nur angehängt hat. ({5}) Aber vielleicht wird dadurch die gänzlich andere Hochschulproblematik deutlicher. Das stand sogar in meinem Manuskript. Das habe ich nicht erst auf den Zwischenruf geantwortet. Im ostdeutschen Teil wird leider das System einer Beschreibung fortgesetzt, ohne konzeptionell Neues und Richtungweisendes darzustellen, vielleicht auch: darstellen zu können. Es bleibt eine Beschreibung des alten DDR-Systems und des Prozesses der Wende. Da wir alle der Bildung im Prozeß der Einheit hohe und höchste Priorität beimessen, verlange ich ja kein umfangreiches Szenario, aber doch wenigstens Zielpunkte, und das um so nachdrücklicher, weil die Menschen in den neuen Bundesländern, gerade an den Universitäten, von uns allen wissen wollen, wo und wie der Zug der Vereinheitlichung der akademischen Ausbildung und Lehre fahren soll. Ich will nur einige Punkte dazu erwähnen. Die Zahl der Studienanfänger wird und soll steigen. Es fehlt im wesentlichen an Wohnkapazität. Für die desolaten und menschenverachtenden Wohnheime sind 150 Millionen DM für 1991 einfach zuwenig. Die Strukturen der Fachhochschulen und Hochschulen sollten geändert werden. Fachhochschullehrer werden zum Teil dequalifiziert, was ihre bisherige Tätigkeit betrifft, aber auch überschätzt, was ihre Möglichkeiten als Fachhochschullehrer betrifft. Beim Konzept der Gründungsprofessoren halten wir die Überprüfung ihrer Qualifikation und vor allem der der nachfolgenden Mitarbeiter für dringend geboten. Die Infrastruktur der Hochschulen in der ehemaligen DDR ist absolut unzureichend. Die vorgesehenen Mittel von 1,6 Milliarden DM halten wir für zu gering, nicht weil wir als Opposition immer mehr fordern müßten, sondern weil die Folgen für die neuen und alten Länder fatal werden, wenn Abwanderungen aus Gründen der personellen und technischen Infrastruktur besonders an die Universitäten der alten Zonengrenzregion weiter zunehmen. Es gilt im Osten Deutschlands eine alte deutsche Hochschullandschaft wieder demokratisch aufzubauen. Dazu gehört die Rückführung der wesentlichen Forschungskapazitäten an die Hochschulen selbst. Nach der Abwicklung der Akademien müßte jetzt die Universität demokratisiert werden. Ich sage bewußt: Das gilt auch für die mathematischnaturwissenschaftlichen Fächer. ({6}) Der wissenschaftliche Nachwuchs ist ein großes Problem in der ehemaligen DDR. Er hat beileibe nicht das demokratische Bewußtsein, das wir oft unterstellen, wenn wir die Abberufung alter Kader fordern. Das System der Bewilligung von Forschungsmitteln müßte geändert und strukturhelfend überdacht werden, damit nicht die Mittelvergabe wie in 1990 kontinuierlich fortgesetzt wird und oft die alten Seilschaften begünstigt werden. Wir erwarten für die Forschungspolitik und für die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses in den neuen Ländern, soweit er aus der ehemaligen DDR kommt, ein glaubwürdiges Konzept. Eine besondere Bedeutung hat die wissenschaftliche Weiterbildung. Ich denke, es ist notwendig, daß wir uns in der DDR nicht der Hoffnung hingeben, daß man dazu nur wenig Zeit benötigt. Bildung - das wissen wir alle - braucht Muße, Geduld und Geld. ({7}) Deshalb müssen die Haushaltsmittel hier entscheidend aufgestockt werden, nicht nur im AFG. Fernstudienzentren in allen neuen Bundesländern, vertreten an allen Hochschulen, sind wichtiger und richtiger als Privatträger, was im Bericht als Lösung angedeutet wird. Schon heute tummeln sich zwischen Rügen und Sonneberg zu viele Scharlatane auf diesem Markt. Wir Sozialdemokraten hoffen, daß an der Mittelvergabe in die neuen Länder nicht die alten Bundesländer über Gebühr beteiligt werden - sie haben erhebliche Eigenverantwortlichkeiten für ihre Hochschulreformierung - und daß sich bei den für uns alle wesentlichen Punkten der Bildungspolitik auch nach den Steuererhöhungen erheblich höhere Ansätze ergeben können. Der Bildung Gesamtdeutschlands und uns allen täte es gut. Ich bedanke mich. ({8})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Das Wort hat nunmehr unser Kollege Josef Hollerith.

Josef Hollerith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Beitrag meines Vorredners hat Elemente enthalten, denen auch ich zustimmen kann. ({0}) Ich betone ausdrücklich, daß er recht hat, wenn er sagt, der demokratische Umbau der Universitäten in den neuen Bundesländern würde Zeit brauchen. Auch ich bin der Meinung, daß wir bei aller Notwendigkeit, Unterschiede, unterschiedliche Positionen, unterschiedliche Forderungen zwischen den Parteien herauszuarbeiten, gerade auch in dieser heutigen, doch schwierigen Zeit der Vereinigung zweier Teile Deutschlands gut daran tun, die Gemeinsamkeiten zu betonen. ({1}) Meine Damen und Herren, dem von der Bundesregierung am 28. November 1990 vorgelegten Bericht über die hochschulpolitischen Zielsetzungen des Bundes kommt hohe bildungspolitische Bedeutung zu. Da in den Koalitionsvereinbarungen auf ihn Bezug genommen worden ist, ist er zugleich Handlungsanweisung für die Politik der Koalition in den nächsten vier Jahren. Ich stimme diesen Zielsetzungen vollinhaltlich zu. ({2}) - Den haben Sie schon gekriegt. Trotz dieser generellen Zustimmung ist eine grundsätzliche Kritik an dem in der Gesellschaft - Herr Kuhlwein, jetzt müssen Sie zuhören - vorherrschenden Bildungsbegriff notwendig und berechtigt. Wir haben heute die Situation, daß zwischen 30 und 50 %, in manchen Städten 60 % eines Jahrgangs die Universitäten besuchen. Eine einseitige Überbewertung der universitären Ausbildung hat zu dieser strukturellen Verwerfung des Bildungs- und Beschäftigungssystems geführt. Es sollte uns allen zu denken geben, wenn es in diesem Jahr in Deutschland erstmals mehr Studenten als Lehrlinge gibt. Dem Überfluß an Geisteswissenschaftlern ({3}) steht eine empfindliche Lücke an Facharbeitern und Ingenieuren gegenüber. ({4}) Die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland wird damit zunehmend gefährdet. Das Bildungssystem eines Landes lebt zwar von der Leistungsfähigkeit seiner Wirtschaft, aber umgekehrt ist die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft noch viel mehr von der Qualität unseres Bildungssystems abhängig. Deshalb sollte Ausbildung nicht völlig losgelöst von den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes erfolgen, und zwar nicht zuletzt - Herr Kuhlwein, hören Sie zu, das trifft auch Sie ({5}) im Interesse der Betroffenen. Daraus ergeben sich für die Hochschulen folgende Konsequenzen: Erstens. Der weitere Kapazitätsausbau hat überwiegend in den technisch-ingenieurwissenschaftlichen Fachrichtungen zu erfolgen. Zweitens. Die Hochschulen müssen in ihren Ausbildungsangeboten der Praxisorientierung stärker Rechnung tragen. Gleichzeitig würde damit dem Studierenden die Möglichkeit eröffnet, in angemessener Zeit zu einem Studienabschluß zu kommen, um gute Beschäftigungsaussichten in Wirtschaft und Verwaltung zu finden. Meine Damen und Herren, es ist für die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland auf Dauer nicht hinnehmbar, wenn wir bei uns die jüngsten Rentner und die ältesten Studenten zu verzeichnen haben. ({6}) Drittens. Neben der Sanierung der bestehenden Universitäten in den neuen Bundesländern muß dort der Neuschaffung von Studienplätzen an Fachhochschulen Vorrang gegeben werden. - Ich freue mich, daß unser neuer Bundesminister auch dies so sieht. So konnte ich es jedenfalls in den Vermerken nachlesen. - Die Fachhochschule ist der praxisorientierte Ausbildungsgang der Zukunft. Viertens. Die Sicherung und der Ausbau einer qualitativ hochwertigen Hochschulforschung bleiben auf der Tagesordnung der Politik. Dabei hat sich die Selbstverwaltung durch Wissenschaftler und Wissenschaftsorganisationen bewährt. Sie sollte beibehalten und durch Minimierung bürokratischer Gängelung fortentwickelt werden. Eine möglichst enge Verzahnung der Forschung mit der Wirtschaft ist anzustreben. Der Anteil der Drittmittelfinanzierung muß erhöht werden, um die Finanzierbarkeit der ständig steigenden Kosten der Forschung an den Hochschulen sicherzustellen. Der vorliegende Bericht der Bundesregierung zu den hochschulpolitischen Zielsetzungen garantiert, die notwendigen, materiellen und personellen Voraussetzungen dafür sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern zu schaffen. Ich begrüße besonders: erstens das Sonderprogramm II, um personelle Engpässe bei Hochschullehrern Mitte der 90er Jahre zu beseitigen. Dieses begrüßenswerte Programm wird jedoch nicht ausreichen, um die personelle Umstrukturierung der Hochschulen in den neuen Bundesländern zu bewältigen. Hier ist auch die personelle Unterstützung der Altländer dringend gefordert. Zweitens. Bei der Wohnraumbeschaffung müssen neue Wege gegangen werden. Der Staat leistet schon bisher durch Ausbildungsförderung und durch Finanzhilfen beim Wohnraumbau wichtige Beiträge zur Schaffung angemessener sozialer Rahmenbedingungen für die Studierenden. - Sie könnten das Ihrem OB Kronawitter sagen. Er könnte von dem, was wir hier tun, lernen. ({7}) Allerdings reichen die bisher getroffenen Maßnahmen nicht aus. Vorrangig müssen deshalb Truppenstandorte in Universitätsstädten aufgelöst und muß der so gewonnene Wohnraum auch für Studenten zur Verfügung gestellt werden. Meine Damen und Herren, drittens merke ich kritisch an, daß in den Wortbeiträgen einiger meiner Vorredner eine Gratwanderung betrieben worden ist, bei der der Betroffene dabei war abzustürzen, als es darum ging, die Kompetenz des Bundes in der Bildungspolitik zu der der Länder abzugrenzen. Meine Damen und Herren, der Föderalismus hat sich nirgendwo so bewährt wie gerade in der Bildungspolitik. Ich warne Sie davor, davon abzuweichen. ({8}) - Sie alle könnten von Bayern, von der Qualität der Bildung dort lernen. Meine Damen und Herren, ich bin sicher, daß wir mit den vorgeschlagenen Maßnahmen die Zukunft bewältigen und dabei insbesondere den Standort Deutschland, Herr Kuhlwein, im europäischen und internationalen Wettbewerb stärken können.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Hollerith, gestatten Sie eine Frage des Abgeordneten Kuhlwein?

Josef Hollerith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich gestatte ich die.

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hollerith, nach Ihrem begeisterten Bekenntnis zum Föderalismus muß ich dem Verdacht Ausdruck geben, daß Sie den Bericht, den Sie ja begrüßt haben, nicht in allen Teilen gründlich genug gelesen haben. Dort ist nämlich, insbesondere was die Hochschulpolitik angeht - ich frage Sie jetzt, wie Sie dazu stehen - , das bisherige Funktionieren des kooperativen Föderalismus mit einigen Fragezeichen versehen worden.

Josef Hollerith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Im Gegensatz zu manch anderem, wohl auch in Ihrer Fraktion, schreibe ich meine Reden selbst und lese die Berichte vorher. - Herr Kuhlwein, was die Bundesregierung hier anmerkt, ist ihre Meinung, die ich auch in dem Punkt teile. Sie müssen nämlich erkennen, daß die Situation der Wiedervereinigung eines geteilten Landes, bei der zwei völlig unterschiedliche Bildungs- und Gesellschaftssysteme aufeinandergetroffen sind, historisch einmalig ist. Dazu müssen auch einmalige Maßnahmen getroffen werden. Das ist kein Verstoß gegen das Prinzip des Föderalismus in der Bildungspolitik. ({0}) Haben Sie noch eine Nachfrage?

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dann ist Ihnen vielleicht -- Wenn ich noch einmal fragen darf, Herr Präsident.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte schön!

Josef Hollerith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie dürfen noch einmal fragen.

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dann möchte ich Sie fragen, ob Ihnen entgangen ist, daß sich der entsprechende Passus des Berichts nicht nur auf den Vereinigungsprozeß der beiden deutschen Teilstaaten und ihrer Bildungssysteme bezieht, sondern daß dies ausdrücklich als Strukturmangel des bisherigen Föderalismus in der Hochschulpolitik gekennzeichnet ist.

Josef Hollerith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das habe ich nicht so beurteilt, wie Sie das beurteilen. ({0}) Wenn Sie noch fragen wollen, ich stehe Ihnen zur Verfügung. ({1}) Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, ich erteile nunmehr das Wort dem Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Herrn Dr. Rainer Ortleb.

Prof. Dr. Rainer Ortleb (Minister:in)

Politiker ID: 11001657

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Die Bundesregierung hat am 28. November vergangenen Jahres gemäß einem Beschluß des Deutschen Bundestages vom 25. April 1990 dem Hohen Hause ihre hochschulpolitischen Zielvorstellungen zugeleitet. Ich freue mich, daß wir heute die Möglichkeit haben, diesen Bericht über die hochschulpolitischen Zielsetzungen der Bundesregierung hier zu diskutieren. In den Koalitionsgesprächen im Zusammenhang mit der Regierungsbildung für die 12. Legislaturperiode ist dieser Bericht zur Grundlage für die Hochschul- und Wissenschaftspolitik der Bundesregierung gemacht worden. Er hat daher programmatische Bedeutung für die Mitarbeiter meines Ministeriums, für mich selbst und letztlich auch für die Bundesregierung, die die Umsetzung der in diesem Bericht formulierten Zielsetzungen erwartet. Der Herr Bundeskanzler hat auch im Lichte dieses Berichts bereits in seiner Regierungserklärung vom 30. Januar dieses Jahres erklärt, daß ein Förderungsprogramm für Hochschule und Wissenschaft in den neuen Ländern erforderlich ist, das in seinem Kern bereits im hier zu diskutierenden Bericht angelegt ist. Ich freue mich, Ihnen heute mitteilen zu können, daß die Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die dieses Erneuerungsprogramm für Hochschule und Forschung in den neuen Ländern auf Grund eines Auftrags der Regierungschefs von Bund und Ländern vom 2. Oktober vergangenen Jahres vorzubereiten hatte, ihre Arbeit abgeschlossen und mit heutigem Datum dem Herrn Bundeskanzler und dem Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz der Länder zugestellt hat. Herr Kollege Kuhlwein, vielleicht darf ich eine kleine, nachdenkliche Zwischenbemerkung zu Ihrer Kritik einschieben, daß von der Hochschulpolitik für die neuen Länder mehr hätte einbezogen werden müssen. Lassen Sie mich zurückrechnen: Am 3. Oktober war die deutsche Einheit vollzogen. Heute, am 21. März, kann nach gründlicher Mithilfe des Wissenschaftsrats ein klares Gedankengut über das Hochschulerneuerungsprogramm vorgelegt werden. Hätte ich das Programm am 29. November vorlegen müssen, würde sich für den Start dieser Maßnahme Ende Juni 1990 errechnen. Damals war noch nicht einmal der erste Staatsvertrag in Kraft getreten. Ich persönlich haben noch am 20. Juli als damaliger Vorsitzender der Liberalen Fraktion in der Volkskammer zur Kenntnis nehmen müssen, daß ein Antrag der Liberalen, den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland zum 1. Dezember zu erklären, abgelehnt wurde. Hätte ich Ihre Vorhersehung gehabt, wäre ich über diese Ablehnung nicht so traurig gewesen. ({0}) Zur Erneuerung von Hochschule und Forschung und zum Aufbau von Fachhochschulen in den neuen Ländern wirken Bund und Länder in einem differenzierten, aufeinander abgestimmten System von Einzelmaßnahmen zusammen. Ziel der Maßnahmen sind Soforthilfen zur personellen Erneuerung der Hochschulen, zur Sicherung des Verbleibens von qualifizierten Wissenschaftlern in den neuen Ländern, zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, zur weiteren Qualifizierung von Studierenden und Wissenschaftlern, zur Eingliederung der Forschung aus den Akademien in die Hochschulen oder in von Bund und Ländern gemeinsam geförderte Einrichtungen sowie zur Verstärkung der Investitionen im Hochschulbereich außerhalb der Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau. Über die Maßnahmen besteht zwischen Bund und Ländern weitestgehend Einvernehmen. Die Regierungschefs werden über das endgültige Gesamtvolumen - Bund 2,2 Milliarden DM, Länder 2,4 Milliarden DM; Varianten sind noch möglich - und die Verteilung der Gesamtlasten zwischen Bund und Ländern - Bund 60: 20:20, Länder 80: 20:0 - zu entscheiden haben. Ich darf hier eine Bemerkung hinsichtlich der Kritik an der Finanzierung drei Hochschulsonderprogramme machen: Die beiden ersten Hochschulsonderprogramme wurden entgegen anderen Vorstellungen in ihrer Wirkung in vollem Umfang in den alten Ländern belassen. Es wurden also für die neuen Länder nicht 20 % abgezweigt. (Kuhlwein [SPD]: Aber sie müssen die als Eigenmittel aufbringen, wenn das 20 ({1}) Die Programmkonzeption III sieht in einer der beiden Varianten - ich hatte schon bemerkt, daß es zwei Varianten gibt, die zwischen Bund und Ländern nun zu diskutieren sind - eine Mitfinanzierung der alten Länder vor. In der anderen Variante ist das nicht der Fall. Wenn ich davon ausgehe, daß die 20 % in den Programmen I und II nicht hätten gehalten werden können, und man dies einmal nachrechnet, dann stellt man fest, daß die Gabe an die alten Länder nicht durch eine entsprechend vorgesehene Gabe an die neuen Länder augeglichen wurde. Darüber sollte man, wenn man den Föderalismus großschreibt, zumindest nachdenken. ({2}) Ich hoffe, daß der Herr Bundeskanzler und die Herren Ministerpräsidenten bald entscheiden, möglichst so rechtzeitig, daß der Bundeshaushalt 1991 noch erreicht wird und die Maßnahmen an den ostdeutschen Hochschulen so rasch wie möglich - spätestens mit Beginn des Wintersemesters 1991/92 - greifen können. Ich darf als wesentliche Schwerpunkte nun in Stichworten anführen - die Zeit mahnt mich schon an -, daß auf die Brücksichtigung folgender Inhalte besonders Wert gelegt wird: Erstens. Die Zahlen der Studienanfänger steigen im nun vereinten Deutschland weiter. Zweitens. Die Fachhochschulen müssen gestärkt werden. Drittens. Die Forderung nach Verkürzung der Studienzeiten bedeutet, die Möglichkeit, kürzer zu studieren, einräumen zu müssen. Damit müssen eine Qualifizierung der Lehre und Maßnahmen, die Lehre qualifizierter machen zu können, einhergehen. ({3}) Viertens. Die Bundesrepublik Deutschland muß mit dem Blick auf den europäischen Binnenmarkt auch an die Hinwendung nach Osteuropa und Südosteuropa und an das dortige Hochschulwesen denken. Fünftens. In der Forschungsförderung hat sich die Selbstverwaltung bewährt. Sechstens. Die Lebensbedingungen der Studenten sind weiter im Auge zu behalten und zu fördern. Siebtens und letztens: Die gesellschaftlichen Gruppen in unserem Land, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die Verantwortung haben, müssen - so wie bisher - die Entwicklung im Hochschulwesen sorgfältig beobachten. Ich danke für die Aufmerksamkeit ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren! Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage auf Drucksache 11/8506 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einver1164 Vizepräsident Helmuth Becker standen? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen vom September 1990 „Abfallwirtschaft" - Drucksache 11/8493 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Innenausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Runde mit Redebeiträgen bis zu je zehn Minuten vereinbart worden. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat unser Kollege Dr. Gerhard Friedrich.

Dr. Gerhard Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002657, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im September letzten Jahres hatten wir die letzte größere Abfalldebatte im Umweltausschuß. Die SPD hat uns damals noch nicht ganz geglaubt, daß wir eine Novelle des Abfallgesetzes vorbereiten. In den Koalitionsverhandlungen wurden die Eckwerte vereinbart. Ich möchte heute feststellen - und dann auch noch im einzelnen begründen - , daß das, was wir in der Koalitionsvereinbarung ankündigen, weitestgehend identisch ist mit dem, was uns die Sachverständigen empfehlen. ({0}) In der Abfallwirtschaft, meine Damen und Herren, geht es um den sparsamen Umgang mit Rohstoffen, um die Einschränkung des Flächenverbrauchs, vor allem aber - und das ist ganz wichtig - um die Begrenzung des Schadstoffeintrags in Boden, Luft und Wasser. Diese Priorität haben wir in der Vergangenheit berücksichtigt und wollen sie auch in Zukunft berücksichtigen. In der Vergangenheit hatte deshalb die TA Sonderabfall für uns Vorrang vor der TA Siedlungsabfall. Jetzt wollen wir im neuen Abfallgesetz z. B. klarstellen, daß die Abfallverbrennung vor allem danach zu beurteilen ist, welchen Beitrag sie zur Vernichtung von Schadstoffen in Abfällen leistet. Wir haben ja die Anforderungen an die Rauchgasreinigung immer wieder verschärft. Die Energiebilanz ist, so würde ich fast sagen, sehr mäßig geworden. Das heißt: Das Stichwort „energetische Verwertung" spielt zwar auch in Zukunft noch eine Rolle, aber nur eine Nebenrolle. Entscheidend ist die Rolle der Verbrennungsanlage als Abfallbehandlungsanlage. Bei den Grundsätzen der Abfallwirtschaft werden wir im neuen Abfallgesetz klarstellen, daß die Abfallvermeidung Vorrang vor der stofflichen Verwertung ({1}) und diese wiederum Vorrang vor jeder Art von Entsorgung, also auch vor der Verbrennung, hat. Wir wollen damit endgültig klarstellen, daß diejenigen, die für Abfallverbrennung eintreten, kein Interesse an möglichst viel Brennstoff haben. Allerdings - und das ist ganz interessant - weist jetzt gerade das Sondergutachten darauf hin, daß diese Reihenfolge gar nicht so absolut gelten darf. Die Sachverständigen sprechen von „Lastpaketen", die man untersuchen muß, und sagen: Es kann sich im Einzelfall ergeben, daß diese Reihenfolge umgedreht werden muß. Wir haben ähnliche Vorstellungen und haben die Bundesregierung in der Koalitionsvereinbarung aufgefordert, bezüglich einzelner Stoffe und auch Recyclingverfahren Ökobilanzen in Auftrag zu geben. Meine Damen und Herren, ich komme zu den Instrumenten, die wir anwenden wollen, um diese Ziele und Grundsätze zu erreichen. Es gibt drei, die in der Diskussion oft völlig durcheinandergebracht werden. Wer besonders umweltfreundlich sein will, spricht sich meist für alles aus. Dabei wird übersehen, daß sich die Dinge gegenseitig im Wege stehen. Welche Instrumente haben wir? Erstens haben wir das Ordnungsrecht mit den Ge- und Verboten, zweitens die Steuern und Lenkungsabgaben, wobei wir nicht für Steuern, sondern für Umweltlenkungsabgaben sind, und drittens die Rücknahmeverpflichtungen. Wir haben in der Vergangenheit das eine oder andere Verbot ausgesprochen, wofür wir immer besonders gelobt worden sind. Wenn man aber nüchtern hinschaut, dann stellt man fest, daß das, was als Alternative gekommen ist, manchmal nicht besser war. Dazu will ich ein Beispiel aus dem Chemiebereich nennen. Man hat versucht, PER bei den chemischen Reinigungen zurückzudrängen oder zu verbieten. Plötzlich aber haben die Reinigungen FCKW eingesetzt. Wenn man mit einem Verbot anfängt, dann muß man meist weitere Verbote erlassen, weil es sonst Ausweichreaktionen gibt. Ich habe keinen Glauben daran, daß wir Politiker mit Hilfe guter Beamter in der Lage sind, den Abfallbereich oder den Verpackungsbereich sinnvoll umfassend zu reglementieren. ({2}) Selbst derjenige, der sich das zutraut, sollte zugeben, daß er sehr schnell an die Barrieren der EG stößt. Zu den dänischen Flaschen gibt es zwar ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Das Urteil sagt aber im wesentlichen aus: Es kommt auf die Verhältnismäßigkeit an. Das heißt, es bleiben noch viele Fragen offen, was eigentlich unter dem Begriff „verhältnismäßig" zu verstehen ist. Die Sachverständigen - das habe ich mir angeschaut - stellen dazu ganz nüchtern fest, daß nationale abfallbezogene Produktregelungen in einem europäischen Binnenmarkt probleDr. Gerhard Friedrich matisch und politisch zunehmend schwer durchzusetzen sind. ({3}) Ich sehe einen Kollegen, der wie ich in letzter Zeit in Brüssel war. Die Beamten dort sind viel deutlicher. Sie sagen, daß jede Diskriminierung irgendeiner Verpak-kung aus ihrer Sicht unzulässig ist. Als Umweltpolitiker finde ich es zwar bedauerlich, daß sie diese Einstellung haben, aber ich kann daran nichts ändern. Das einzige, was man uns vorwerfen könnte, ist, daß wir sozusagen aus demonstrativen Gründen das eine oder andere Verbot hätten aussprechen sollen, um es bei der EG an die Wand zu fahren. Dann hätten wir Schuldzuweisung betrieben. Aber, liebe Kollegen aus den neuen Bundesländern, wir wollen nicht Gesinnung demonstrieren, sondern wir wollen etwas bewirken. An die Wand zu fahren bewirkt überhaupt nichts. Wir haben uns deshalb die anderen Instrumente angeschaut. Die SPD hat früher z. B. beantragt, Verpackungsabgaben, sinnvollerweise vor allem auf Einwegverpackungen, einzuführen. Es ist interessant, was die Sachverständigen dazu sagen. Sie raten uns, davon die Finger zu lassen, weil im Handel eine Mischkalkulation üblich ist. Andere sprechen von einem Querabwälzen von Kosten. Das heißt, es ist überhaupt nicht sicher, daß eine Abgabe auf Einwegverpackungen wirklich im Preis von Einwegverpakkungsprodukten landet. Des weiteren gibt es die anderen Lenkungsabgaben. Wir sind keine grundsätzlichen Gegner dieser Abgaben. Das können wir dadurch beweisen, daß wir im Bereich des Sondermülls die Lenkungsabgaben einsetzen wollen, weil wir bei der Abwälzung keine so großen Probleme sehen. Herr Staatssekretär, aus dem Umweltministerium hören wir immer wieder, daß man vielleicht eine Abgabe auf alle Abfälle oder auf alle Dinge, die in Deponien gelangen, erheben sollte. Darauf haben wir uns nicht festgelegt, wir sind aber gesprächsbereit. Meine Damen und Herren, was Sonderabgaben auf Abfälle oder speziell auf Sonderabfälle betrifft, so treten wir nach der Koalitionsvereinbarung auf jeden Fall dafür ein, einen Zuschlag zu erheben, um das sehr dringende Problem der Altlastensanierung in den neuen Bundesländern anzugehen. Man kann zwar sagen, daß dafür die Verursacher zuständig sind, hilfsweise die Grundstückseigentümer als Zustandsstörer, hilfsweise die neuen Bundesländer. Aber wenn dort kein Geld vorhanden ist, dann kann man die Menschen drüben, die in ihrer Gesundheit akut gefährdet sind, nicht auf die leeren Geldbeutel verweisen. Wir wollen jedenfalls helfen. Ich habe mich darüber gefreut, daß die chemische Industrie vor wenigen Tagen gesagt hat: Wir haben zwar einen Haufen rechtlicher Bedenken, aber wir werden bei dieser Aktion mitmachen. Zu den weiteren Instrumenten gehört die Rücknahmeverpflichtung. Diese Verpflichtung haben wir erstmals im Entwurf der Verpackungsverordnung verankert. Handel und Industrie sollen gezwungen werden, die Abfälle selbst zu entsorgen. Wir haben eine Lösung seit einigen Monaten vorbereitet, die eigentlich auch gut in die Aussagen und in die Konzeption der Sachverständigen hineinpaßt. Sie sagen nämlich: Der entscheidende Mangel des derzeitigen Systems besteht in der Tatsache, daß die Verantwortung von Unternehmen für ihr Produkt endet, wenn es über den Ladentisch gegangen ist. Das heißt, Produktionsbedürfnisse werden berücksichtigt, die Interessen des Handels werden berücksichtigt - Stapelfähigkeit, Werbung und Diebstahlschutz - , und natürlich werden die Interessen des Verbrauchers in der Gebrauchsphase des Produkts berücksichtigt, weil sonst niemand das Produkt kauft. Was denen aber meist völlig wurscht ist, sind die ökologischen Probleme in der Entsorgungsphase. Das ist nicht das Bier des Herstellers, sondern dafür sind ja die Landräte und die Herren Oberbürgermeister zuständig. Die würgen, wie wir alle wissen, an diesen Problemen. Wir wollen mit dieser Rücknahmeverpflichtung dafür sorgen, daß diejenigen, die die ökologischen Probleme der Entsorgungsphase verursachen, sie auch lösen sollen. ({4}) Wir hoffen, anders ausgedrückt, daß sie die Verpakkungen im Hinblick auf die Konstruktion von Produkten und die Gestaltung mit Blick auf die Entsorgungsphase optimieren. Es geht um viel mehr als um die bloße Umleitung von Abfallströmen. Ich habe heute in der ,,Süddeutschen Zeitung" gelesen, daß das alles wieder in der Verbrennung landen würde. Darüber muß ich ein bißchen lachen: Wir haben Oberbürgermeister und Landräte mit sehr vielen Planungen im Hinblick auf thermische Behandlungsanlagen. Sie sind wegen der geringen Akzeptanz bei den Bürgern nicht in der Lage, ihre Planungen durchzusetzen. Jetzt wird unterstellt, daß dieselben Landräte und Oberbürgermeister dann, wenn die Industrie kommt, sagen: Selbstverständlich, du kannst eine neue Verbrennungsanlage haben. Das ist doch naiv. Der Ausweg der Verbrennung ist ohnehin faktisch auf Grund der Haltung der Bevölkerung weitgehend versperrt. Damit wir auch wirklich sicher sind, haben wir in der Verpackungsverordnung festgelegt, daß bei der Erfassung und bei der stofflichen Verwertung bestimmte Quoten von Altstoffen erreicht werden müssen, übrigens Quoten, die weit über das hinausgehen, was heute die Herren Oberbürgermeister und Landräte mit ihren Sammelsystemen erreichen. Als letztes sage ich: Wir fordern den Bundesrat herzlich, aber auch dringend auf, diese Verpackungsverordnung morgen im Plenum ohne große Veränderungen und ohne das Aufpropfen vieler Ge- und Verbote passieren zu lassen, sonst drohen uns Notifizierung bei der EG und Stillhalteabkommen; dann passiert jahrelang gar nichts. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, das Wort hat nunmehr Frau Dr. Liesel Hartenstein.

Dr. Liesel Hartenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000815, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist auffallend, Herr Kollege Friedrich, daß Sie sehr viel von dem gesprochen haben, was Sie beabsichtigten, und sehr wenig davon, welche Noten Ihnen die Sachverständigen für das gegeben haben, was Sie seither getan haben; sie haben Ihnen sehr schlechte Noten gegeben. Das ist eigentlich das Thema, das wir heute zu behandeln haben. ({0}) - Das dauert aber manchmal ein bißchen arg lange, Herr Kollege Weng. Die Sachverständigen stellen fest: „Das Abfallproblem ist zu einem Umweltproblem ersten Ranges geworden." Diese Feststellung wird jeder teilen, der mit offenen Augen durchs Land geht. Leider müssen wir auch die Bewertung der Experten teilen. Sie bescheinigen der Bundesregierung nämlich schwarz auf Weiß, daß ihre seitherige Politik dieses Umweltproblem Nummer eins nicht gemeistert habe. In der Tat ist das Gutachten ein einziges Dokument des Scheiterns. Immer noch haben wir seit Beginn der 80er Jahre steigende Abfallmengen, trotz anerkennenswerter Anstrengungen auf lokaler Ebene. Immer noch haben wir kein konsequentes System der Abfallvermeidung, kein flächendeckendes Recycling. Wir haben weiterhin einen blühenden Abfalltourismus, wovon bei Ihnen mit keinem Wort die Rede war. Was besonders gravierend ist: Wir haben keine funktionierende Infrastruktur für die Sondermüllentsorgung. Was geschieht denn eigentlich mit den mittlerweile 11 Millionen Tonnen Sonderabfällen, die pro Jahr in der Bundesrepublik produziert werden? - Oft genug heißt der einzige Ausweg auch heute noch: Müllexport. Die Giftmüllexporte gehen nach Frankreich, Belgien und Polen. Allein in die damalige DDR wurden 1988 rund 700 000 Tonnen Sonderabfälle verfrachtet. Die Sünden von damals holen uns heute ein. Denn aus den billigen Deponien von gestern sind die teuren Altlasten von heute geworden. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Dr. Hartenstein, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Liesel Hartenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000815, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön.

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, daß beispielsweise im Land Baden-Württemberg Sondermüll- und andere Beseitigungseinrichtungen, die dringend erforderlich sind, durch den Widerstand auch von SPD-Gemeinderäten und -Kreisräten verhindert werden, weshalb eine Lösung dieses Problems fast nicht möglich ist?

Dr. Liesel Hartenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000815, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Was Sie hier behaupten, ist eine sehr einseitige Darstellung. Die Vorgänge, die Sie meinen, sind mir sehr wohl bekannt; aber ich möchte Ihnen entgegenhalten, daß das Land Baden-Württemberg Spitzenreiter beim Sondermülltourismus ist. Das Land Baden-Württemberg hat gerade im Jahre 1988 - so weit geht das Sondergutachten zurück - über 300 000 t Sonderabfälle in die Nachbarländer transportiert. Daran sind bestimmt nicht nur einzelne Widerstände in einzelnen Regionen schuld. ({0}) Im übrigen sei gesagt, daß auch Hausmüllexporte in manchen Regionen noch in einem großen Ausmaß getätigt werden; bis zu 80 % gehen ins Ausland oder in andere Bundesländer. Das ist gewiß kein Ruhmesblatt für unsere Wohlstandsgesellschaft. Die Sachverständigen meinen, daß ohne die Müllexporte der Müllnotstand in der Bundesrepublik längst offenbar geworden wäre. Wir unterstützen daher eindringlich ihre Forderung, diesen Abfalltourismus so schnell wie möglich zu stoppen. Meine Damen und Herren, die Malaise ist ziemlich komplett. Ich bleibe bei dieser Feststellung auch dann, wenn die Sachverständigen selber dies etwas moderater, etwas verhaltener ausdrücken und wenn das auch in Ihrer Darstellung, Herr Kollege Friedrich, etwas anders geklungen hat. Jedenfalls steht soviel fest: Eine Trendwende in der Abfallpolitik hat nicht stattgefunden. ({1}) Das heißt, es wurde der notwendige konsequente Schritt von der bloßen Abfallbeseitigung zur Abfallwirtschaft nicht vollzogen. Mit einigem Wohlgefallen - so muß ich es schon sagen - studieren wir daher die Empfehlungen der Sachverständigen. Sie fordern erstens eine klare Zielhierarchie mit absolutem Vorrang für die Abfallvermeidung. Sie plädieren zweitens für Stoffverbote und Rücknahmepflichten bei Produkten, die schädliche Stoffe enthalten. So sollte z. B. endlich ein Verbot von PVC-Verpackungen ausgesprochen werden. Wir haben das lange gefordert! ({2}) Drittens soll der stofflichen Wiederverwertung eindeutiger Vorrang vor der sogenannten thermischen Verwertung gegeben werden. Auch das ist uneingeschränkt zu unterstützen; auch dagegen haben Sie sich bei der Beratung des Abfallgesetzes 1986 vehement gesperrt. Viertens wird der Grünen Tonne eine Absage erteilt, weil sie die Qualität der eingesammelten Wertstoffe verschlechtert und sich deswegen als falscher Weg erwiesen hat. Zustimmung! Wir haben schon immer die Auffassung vertreten, daß der sinnvolle und vernünftige Weg ein Gebot der Getrenntsammlung ist, damit optimale Voraussetzungen für eine Wiederverwertung geschaffen werden. Meine Damen und Herren, nehmen Sie dies alles zusammen, dann haben Sie im Grunde nichts anderes als die Kernelemente der Abfallwirtschaftsphilosophie der SPD-Bundestagsfraktion, die wir bereits 1984 in unserem Konzept für eine umweltverträgliche Abfallwirtschaft festgelegt haben. ({3}) Damals hat die Koalitionsmehrheit dieses Konzept rundweg abgeleht, und sie hat ebenso sämtliche AnDr. Liesel Hartenstein träge im Zuge der Beratung des Abfallgesetzes 1986 abgelehnt - mit dem Ergebnis, daß dieses Abfallgesetz ein lebensunfähiger Zwitter geworden ist. ({4}) Schauen Sie, der Begriff der Abfallvermeidung - lassen Sie mich dies ruhig noch sagen, Herr Kollege Lippold - steht zwar im Gesetz, aber - so meinen die Experten; ich zitiere das nur - er sei „mehr schlagwortartig als maßnahmeorientiert" eingeführt worden. So ist das!

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Dr. Liesel Hartenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000815, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich möchte fragen, ob die Rednerin eine Kurzintervention während des Debattenbeitrages gestattet.

Dr. Liesel Hartenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000815, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich weiß nicht, wie das zeitlich gehandhabt wird. Wenn das nicht zu meinen Lasten geht, dann bitte.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Abgeordneter, während eines Beitrages ist eine Kurzintervention nicht üblich.

Dr. Liesel Hartenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000815, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mir wäre es auch am Ende meiner Rede lieber.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Sie können eine Zwischenfrage stellen oder sich nachher zu einer Kurzintervention melden.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich werde mich natürlich Ihrem Votum beugen. Ich habe diese Frage nur gestellt, nachdem ich das Rundschreiben der Präsidentin zur Kenntnis genommen hatte. Ich werde mich am Ende des Beitrages von Frau Hartenstein noch einmal melden.

Dr. Liesel Hartenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000815, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Jetzt ist die Uhr aber doch auf drei Minuten weitergerückt; ich bitte, das zu berücksichtigen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Wir werden die Uhr entsprechend anhalten.

Dr. Liesel Hartenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000815, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Natürlich verweisen Sie zu Recht auf eine Reihe von Verordnungen, die auf der Grundlage des § 14 ergangen sind und die durchaus nicht alle erfolglos waren. Das Paradebeispiel ist der dicke Knüppel der PET-Flaschen-Verordnung. Er hat gewirkt, und das ist zu begrüßen. Ich stehe gar nicht an, dies einzuräumen. Dagegen hat sich aber das Instrument der freiwilligen Vereinbarung mit der Industrie als völlig untauglich erwiesen. Mit diesen Zielfestlegungen ist kein einziges überflüssiges Packmittel von der Bildfläche verschwunden. ({0}) Im Gegenteil, heute besteht mehr als die Hälfte des Hausmülls aus Verpackungsmaterialien. Das ist ein Alptraum für die Kommunen, und es ist auch ein Alptraum im Hinblick auf die unverantwortliche Ressourcenverschwendung, mit der endlich Schluß gemacht werden muß. Nun steht die Verpackungsverordnung ins Haus. Sie soll morgen im Bundesrat behandelt werden. Die Bundesregierung betrachtet sie gewissermaßen als Wunderwaffe und verspricht auch den Kommunen ein sichtbares Abschmelzen der Abfallberge. Doch Skepsis ist am Platze. Wir fürchten, die Verpackungsverordnung ist eine Mogelpackung, meine Damen und Herren, ({1}) und zwar deshalb, weil sie nicht an die Ursachen des Übels herangeht, weil sie nicht auf Vermeidung abzielt, sondern vorgaukelt, alles das, was den Grünen Punkt trägt, werde wieder recycelt. Das kann zu einem gewaltigen Täuschungsmanöver führen. Notabene, Pfandpflicht und Rücknahmepflicht für Händler und Hersteller halten auch wir für richtige Maßnahmen. Der Verpackungsindustrie ist es aber wiederum gelungen, ein Schlupfloch zu öffnen. ({2}) Sie hat flugs das duale System erfunden, mit dem sie die oben genannten Vorschriften umgehen kann. Duales System, das klingt ja gut, für den Verbraucher aber bedeutet es, daß er neben dem kommunalen Mülleimer, neben der getrennten Sammlung von Wertstoffen und Kompostabfällen noch einen Industriemülleimer bedienen muß. ({3}) - Aber sicher. Werden die mühsam aufgebauten Sammelsysteme der Kommunen dabei bestehen können? Wer kontrolliert die Verwertungsabläufe? Wer stellt sicher, daß nicht doch ein großer Teil in die Verbrennungsöfen wandert? Ich fürchte, daß hier nicht nur gemogelt werden kann, sondern auch gemogelt werden wird. ({4}) Meine Damen und Herren, die Abfallwirtschaft ist ein Testfall für die ökologische Erneuerung der Volkswirtschaft. Wir haben diesen Test aber noch lange nicht bestanden, ({5}) zumindest so lange nicht, wie die Verantwortung nicht dahin zurückverlagert wird, wohin sie gehört, nämlich zum Verursacher, d. h. zum Produzenten. Erst wenn schon bei der Produktionsentscheidung die Entsorgungsprobleme und die Entsorgungskosten mit einbezogen werden, kommen wir unserem Ziel einen Schritt näher. Erst wenn auch ökonomisch interessant wird, ob die potentiellen Abfallprodukte tatsächlich verwertbar und unschädlich sind, wird ein entscheidender Wandel eintreten. Dafür müssen wir die ge1168 setzlichen Rahmenbedingungen schaffen. Dafür brauchen wir eine Sondermüllabgabe. Dafür brauchen wir erhöhte Entsorgungsgebühren. Dafür brauchen wir ein Verbot bestimmter abfallintensiver Verpackungen. Wir brauchen auch breit angelegte Rücknahmepflichten. Ich frage übrigens: Wann wird es denn mit der Rücknahmepflicht für Schrottautos, wie der Bundesumweltminister sie bereits angekündigt hat, ernst? Wenn wirklich Produktverantwortung gefragt ist, dann wird ein Auto oder eine Kaffeemaschine in Zukunft mit Sicherheit anders aussehen als heute. Meine Damen und Herren, es mag hoffnungsvoll stimmen, daß ein beträchtlicher Teil der Empfehlungen des Sachverständigenrates in der Tat die Koalitionsvereinbarungen eingegangen ist. ({6}) Es sieht fast so aus, Herr Weng, als ob die Koalition in der Abfallpolitik vom Saulus zum Paulus geworden wäre. ({7}) Uns soll es recht sein. Vorerst stehen aber alle diese wohlklingenden Absichtserklärungen nur auf dem Papier. Wir werden sehen, ob der Mut Sie nicht wieder verläßt, wenn es darum geht, tatsächlich handfeste gesetzliche Regelungen zu schaffen. Vorläufig jedenfalls zahlt die Zeche einer mißlungenen Abfallpolitik der Bürger, und zwar in Form explosionsartig angestiegener Müllgebühren. Nicht die Kommunen und auch nicht die Verbraucher tragen die Hauptverantwortung für den Müllnotstand, denn ihnen ist insbesondere bei der Müllvermeidung nur ein begrenzter Handlungsspielraum eingeräumt. Die Hauptverantwortung trägt die Bundesregierung mit ihrer laschen und halbherzigen Abfallpolitik. Deshalb unser Appell: Machen Sie Nägel mit Köpfen! Wir brauchen dringend ein neues, zeitgemäßes und effektives Abfallgesetz. Danke schön. Ich bedanke mit insbesondere bei dem Herrn Präsidenten für seine Nachsicht. ({8})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Klaus Lippold das Wort zu einer Kurzintervention.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Frau Kollegin Hartenstein, Sie haben in den Schlußsätzen verschämt untergebracht, daß die Koalition ganz offensichtlich weitgehend Punkte aus dem Abfallgutachten übernommen hat. Ich gehe davon aus, daß Sie das gemacht haben, um die üblichen unzulässigen Vorwürfe dadurch zu immunisieren, daß Sie uns in einem weiten Feld recht geben. Ich stelle fest: Erstens. Zu Ihrer Regierungszeit wurde lediglich an der Entsorgung festgehalten und für die Abfallwirtschaft nichts getan. Mit dem Wechsel der Regierung haben wir das Abfallwirtschaftsgesetz geschaffen, und wir gehen jetzt dazu über, ergänzend die Produktverantwortung einzubauen. Zweitens halten Sie, Frau Kollegin, an Verboten fest, wobei Sie selbst wissen, daß sich das rhetorisch nach außen hin gut macht, daß diese Verbote aber gegenüber der EG nicht durchsetzbar sind. Ich stelle damit drittens fest, Frau Kollegin, daß Sie es in geradezu sträflicher Weise unterlassen, sich ausführlich bei der EG zu informieren, um zu sehen, was zulässig ist und was nicht zulässig ist. Ich verweise hierzu auf das Beispiel PCP. Wir haben ein Verbot ausgesprochen. Die EG hat es variiert. Mithin sind weiterhin Produkte mit diesem gefährlichen Stoff zulässig. Sie gehen darüber hinaus, nennen Produkte, die diese Gefährlichkeit nicht in sich bergen, und denken, das sei machbar. Ich sage ganz offen: Eine darart opportunistische Haltung, obgleich Sie wissen, daß dies nicht umsetzbar ist, ist nicht gut. Ein letzter Punkt: Ich darf Sie an Ihre solidarische Verantwortung erinnern, wenn es um die Standorte von Recycling- und Verwertungsanlagen geht. Denn die Frage, ob dieses neue sinnvolle Konzept dualer Abfallwirtschaft umgesetzt werden kann, hängt davon ab, daß auch sozialdemokratisch geführte Kommunen erkennen, daß man nicht nur ein Bekenntnis zum Recycling, sondern auch ein Bekenntnis zum Recycling-Standort ablegen muß. Wer vom Recycling spricht und in der eigenen Kommune den Standort verhindert, der muß ganz offen der Lüge und der Täuschung geziehen werden. Da werden wir deutlich machen müssen, daß dies alles verbale Bekenntnisse sind, die Sie aber selber nicht in die Realität umsetzen wollen. Ich bedanke mich für Ihr Verständnis, Herr Präsident. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das waren ziemlich präzise zwei Minuten. Zur Replik hat Frau Dr. Hartenstein das Wort.

Dr. Liesel Hartenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000815, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank, Herr Präsident. Eine zweite Kurzintervention, aber wirklich eine kurze; sonst wird ein weiteres Referat daraus. Herr Kollege Lippold, erstens: Ich habe keine Ursache, mich mit irgendeiner meiner Aussagen verschämt zu verstecken. Zweitens. Sie unterschlagen bei all Ihren Darstellungen, auch bei der Bewertung des Gutachtens, daß nun wirklich nach Adam Riese nachrechenbar ist, daß mehr als sechs wertvolle Jahre vertan worden sind, in denen man Vermeidungs- und Recycling-Strategien hätte durchsetzen können. Dann wären wir heute nicht in dieser üblen Lage. ({0}) Wenn wir darüber diskutieren wollten, bräuchten wir aber mehr als zwei Minuten. Drittens. Der Hinweis auf die EG kann sehr, sehr oft ein Alibi sein und wird sehr häufig von Ihrer Seite als Vorwand gebraucht. Sie wissen so gut wie ich, daß es beispielsweise ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes gibt - den Prozeß hat damals Dänemark angestrengt -, das es einem EG-Partnerland sehr wohl gestattet, nationale Maßnahmen in Richtung auf eine Reduzierung überflüssiger Verpackungen zu ergreifen. Dies könnten wir auch tun. Nur sollte die verantwortliche Bundesregierung den Mut dazu haben. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Birgit Homburger, ich erteile Ihnen das Wort.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. Meine Damen und Herren, „wir leben in einem Müllnotstand". Was viele Kommunen und auch sensibilisierte Bürgerinnen und Bürger damit zum Ausdruck bringen, formuliert auch das vom Sachverständigenrat für Umweltfragen vorgelegte Sondergutachten „Abfallwirtschaft". Der Rat spricht vom Abfallproblem als einer Folge der allgemein verbreiteten Gedankenlosigkeit im Umgang mit Stoffen und Produkten in einer industrialisierten Wohlstandsgesellschaft, bei der die Entsorgungsinfrastruktur bei weitern nicht mit der hochentwickelten Versorgungsinfrastruktur Schritt gehalten hat. Er stellt weiterhin fest, daß immer noch zu wenig auf Müllvermeidung und Müllverwertung gesetzt wird. Die FDP hat in ihrem ökologischen Programm für die 90er Jahre ein detailliertes Programm zur Abf all-wirtschaft formuliert. Höchste Priorität hat dabei die konsequente Vermeidung von Abfall bis zu einem Mindestmaß, das nicht mehr vermeidbar ist. Der dann noch anfallende Abfall ist stofflich zu verwerten, da stoffliche Verwertung erhebliche Umweltvorteile - wie Rohstoff- und Energieeinsparung sowie geringere Emissionen- gegenüber der Müllverbrennung hat. In dieser Zielsetzung, daß Abfallvermeidung vor Abfallverwertung steht und den unbedingten Vorrang hat, sind wir uns sicherlich alle einig. Einigkeit besteht auch darüber, daß nicht vermeidbarer Abfall stofflich wiederverwertet werden soll, daß also die stoffliche Verwertung Vorrang vor thermischer Verwertung und Deponierung haben muß. ({0}) Eine entsprechende Novellierung des Abfallgesetzes werden wir in dieser Legislaturperiode vornehmen. Trotz Vermeidung und Verwertung wird es aber nach wie vor ein Restmüllaufkommen geben, das entsorgt werden muß. Ziel ist es, die Entsorgung dieses Restmüllaufkommens so vorzunehmen, daß es auf Dauer kein Problem für die Umwelt darstellt. Soweit irgend möglich, sollen nur Stoffe, die weder in den Stoffkreislauf zurückgeführt werden können noch kompostierbar sind, verbrannt werden, soweit dies hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Umwelt vertretbar ist. Für die Beurteilung, welche abfallwirtschaftlichen Maßnahmen am ehesten zur Beseitigung eines Restmüllaufkommens geeignet sind, scheint es mir sinnvoll, das vom Rat vorgestellte Konzept der „Lastpakete" weiter zu verfolgen. Es handelt sich dabei um eine vergleichende Risikobewertung von abfallwirtschaftlichen Maßnahmen hinsichtlich der Gesamtheit der damit verbundenen Umweltbelastungen wie Emissionen, Immissionen und Schädigung von Ökosystemen. Mit den Lastpaketen werden die abfallpolitischen Strategien Vermeidung, Verwertung und Beseitigung von Abfall durch Deponieren, Verbrennung oder andere Methoden in der Gesamtbewertung umweltpolitisch verglichen. Am besten ist natürlich der Abfall, der gar nicht erst entsteht. ({1}) Deshalb muß stärker als bisher bei Planung, Entwicklung und Herstellung eines Produktes die Vermeidung von Abfällen berücksichtigt werden. Schon im frühesten Stadium der Planung muß geprüft werden, welche Stoffe einzusetzen sind und wie diese im Stoffkreislauf weiter behalten werden können. Die Wirtschaft hat bisher die Möglichkeiten, schon in der Entwicklungs- und Produktionsphase bei ihren Produkten hierauf ausreichend Rücksicht zu nehmen, nicht oder nur äußerst ungenügend genutzt; da muß ich der Kollegin Hartenstein recht geben. Daher muß Unternehmern oder auch Verbrauchern die Verantwortung für das von ihnen geschaffene oder genutzte Produkt bis zum Ende auferlegt werden. Daß die Hersteller jedoch durchaus reagieren, wenn Ihnen besondere Entsorgungspflichten drohen, zeigen die vermehrt ohne Quecksilber auf den Markt kommenden Batterien oder die Maßnahmen der Industrie auf Grund der drohenden Verpackungsverordnung. Es ist traurig, daß Verursacher von Umweltbelastungen offensichtlich immer erst dann reagieren, wenn der Gesetzgeber mit dem drohenden Holzhammer unmittelbar hinter ihnen steht, sprich: damit droht, eine Verpflichtung per Gesetz zu schaffen. ({2}) Ebenso wie bei der Abfallvermeidung ist auch bei der stofflichen Verwertung der vorhandene Spielraum bisher nur zu einem geringen Teil genutzt. Schon vorhandenes fachliches Know-how etwa zur Verwertung von Kunststoffen wird zu wenig genutzt. Notwendig sind also erheblich mehr Recyclinganstrengungen. Dazu gehört aber nicht nur die weitgehend sortenreine Sammlung von z. B. Glas, Papier, Kunststoff oder Aluminium, sondern vor allem auch der gezielte Einsatz von solchen Stoffen, die wiederum hochwertig eingesetzt werden können. ({3}) Eine bedeutende Hilfe beim sortenreinen Sammeln sind Kennzeichnungspflichten, auf die ich später noch näher eingehen werde. Umweltgefährdende Produkte, die sich nicht umweltfreundlich verwerten und entsorgen lassen, müssen schrittweise aus dem Verkehr gezogen werden. Bei Planung, Entwicklung und Herstellung von Produkten ist darauf zu achten, daß diese möglichst aus gleichen Stoffen bestehen, Teile aus unterschiedli1170 chen Stoffen sich leicht trennen lassen und sie sich leicht und schadlos wiederverwerten oder gegebenenfalls beseitigen lassen. Notwendig sind allerdings auch Stoffverbote. Der Rat hat dazu interessante und wichtige Empfehlungen gegeben, so z. B. das Verbot von PVC als Verpakkungsmaterial und das Verbot bestimmter Produktionsverfahren. ({4}) Ziel der Abfallvermeidung muß ferner der Abbau von Mehrfachproduktverpackungen und Einwegmaterialien sein. Die bisherigen Zielfestlegungen und die Verpackungsverordnung sind dabei wichtige Schritte. Im Hinblick auf die drohende Verpackungsverordnung hat sich die Wirtschaft dazu durchringen können, einen eigenen umfassenden Vorschlag zur Reduzierung der Abfallprobleme zu machen: die duale Abfallwirtschaft. Wichtig ist nicht nur, daß die Wirtschaft sammelt und so weit wie möglich stofflich verwertet, sondern wichtig ist auch, daß die Wirtschaft stärker als bisher Verpackungen vermeidet, also Abfall gar nicht erst entstehen läßt. ({5}) - Die Wirtschaft hat sich durchgerungen, und sie wird sich daran halten, weil wir das mit der Verpakkungsverordnung unterstreichen, Frau Kollegin. Vielleicht begreift das auch die SPD irgendwann einmal. ({6}) Ich zitiere jetzt, was der Sachverständigenrat - Frau Kollegin, vielleicht hören Sie zu - zum Konzept der dualen Abfallwirtschaft feststellt: Von dieser Maßnahme ist auf Grund der größeren Marktorientierung der privat organisierten Verwertung eine Erhöhung des Verwertungsanteils und ein verstärkter Druck auf den Handel sowie Konsum- und Verpackungsindustrie zu erwarten, verwertungsfreundlichere Erzeugnisse anzubieten. In diesem Sinne unterstützt die FDP das von der Wirtschaft angebotene System als einen möglichen Beitrag zur Reduzierung des Abfalls. Allerdings muß dieses duale Abfallsystem - darin stimmen wir sehr wahrscheinlich überein, Frau Kollegin - in den vorgegebenen Zeiträumen umfassend aufgebaut werden. Es muß wirklich zu einer Vermeidung und umfassenden stofflichen Verwertung führen. ({7}) Aber nicht nur Ordnungsrecht, sondern vor allem marktwirtschaftliche Instrumente sind der Hebel für die Abfallvermeidung. Zum letzteren gehören z. B. Pfandverpackungen mit Rücknahmepflicht. Die Möglichkeiten des Einsatzes dieses Instrumentes sind bei weitem nicht ausgeschöpft. Schon heute funktioniert auf freiwilliger Basis ein hervorragendes System im Bereich der kohlesäurehaltigen Getränke und bei Bier. Ziel muß sein, dies auch für andere Bereiche, wie z. B. Wein, Milch oder Fruchtsäfte, zu erreichen. Um den Produzenten zur stärkeren Reduzierung der Schadstoffe in seinen Produkten zu bewegen, haben wir mit der CDU/CSU vereinbart, auf Sonderabfälle künftig eine Abgabe zu erheben, eine Abgabe, die nicht der Finanzierung von öffentlichen Haushalten, sondern konkret diesem Bereich dienen soll. Ich begrüße die Erklärung des Bundesumweltministers, daß der entsprechende Gesetzentwurf bereits in den nächsten Wochen vorgelegt wird. ({8}) - Er wird in den nächsten Wochen vorgelegt. Ich habe gesagt: Ich begrüße es, daß er in den nächsten Wochen vorgelegt wird, Herr Kollege. Vielleicht hören Sie richtig zu. Zur Reduzierung der Schadstoffe in Abfällen tragen auch Stoffverbote und Kennzeichnungspflichten bei. Generell ist die Kennzeichnungspflicht ein wichtiges, bisher nicht ausreichend genutztes Instrument. So sollen künftig alle Einweg- und Mehrwegverpakkungen je nach Einstufung deutlich gekennzeichnet sein. Das heißt, alle Produkte sollen so gekennzeichnet werden, daß für den Verbraucher auf den ersten Blick erkennbar ist, wie sie später, wenn sie zu Abfall werden, zu behandeln sind. ({9}) Zur Kennzeichnung müssen also auch Hinweise auf die jeweils umweltfreundlichste Methode der Behandlung und Beseitigung der aus Verbrauchsgütern verbleibenden Abfälle gehören. Schließlich spielen Information und Beratung von Bürgern eine wesentliche Rolle. Sie können z. B. durch Abfallberater erfolgen. Gleichzeitig muß die Information früher ansetzen. So sind z. B. Projekttage mit „Abfallmobilen" an Schulen ein wichtiger Informationsbestandteil.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Hartenstein?

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, Herr Präsident, ich gestatte nicht. ({0}) Grundsatz muß sein, daß Massenabfälle wie Hausund Gewerbemüll in den Entstehungsregionen auch wieder entsorgt werden. Dies ist der beste Anreiz dafür, daß der, der entsorgen muß, dafür sorgt, daß möglichst wenig an Abfällen anfällt. Problemabfälle müssen im überregionalen Entsorgungsverbund entsorgt werden, da nicht für jede Art von Problemabfällen die jeweilige umweltfreundlichste Entsorgungsmöglichkeit an jedem Ort zur Verfügung stehen kann. Im übriBirgit Homburger gen: Müllexporte ins Ausland lehnt die FDP grundsätzlich ab. ({1}) Ich komme zum Schluß. Die Erfolge in der Abfallwirtschaft werden sich nicht allein danach messen, was der Bundesgesetzgeber oder der Bundesumweltminister in den nächsten Jahren noch veranlaßt. Wie der Rat zu Recht ausführt, können die meisten der auf Vermeidung und Verwertung gerichteten Instrumente der Abfallwirtschaft nur in dem Maße erfolgreich sein, in dem sich ein Mentalitätswandel vollzieht. Das sagt im übrigen auch der Bericht. Die Politik muß rechtzeitig und nachhaltig den Rahmen setzen. Jedoch müssen auch Wirtschaft und Verbraucher, die Bundesländer und die Kommunen - das ist mehrfach angesprochen worden - gewichtige Beiträge liefern, damit eine umweltverträgliche Abfallwirtschaft entsteht. Die Produktionstechnologie muß durch eine auf gleich hohem Stand stehende Abfalltechnologie ergänzt werden. Hierfür bedarf es klarer Abfallwirtschaftsziele, die auch die Länder und Kommunen für ihre Gebiete festlegen müssen. Entscheidend ist in der Abfallwirtschaft insbesondere, was vor Ort geschieht. Mit der umfassenden Novellierung des Abfallgesetzes wollen wir dabei auf Bundesebene ein wichtiges Signal setzen. Das Gutachten des Sachverständigenrates gibt dazu wichtige Anregungen. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. Liesel Hartenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000815, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Darf ich eine Kurzintervention machen? Wirklich nur eine Minute!

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, ich fände das gegenüber den anderen Kollegen nicht ganz fair, aber bitte. ({0})

Dr. Liesel Hartenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000815, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das kann ich mir denken, aber vielleicht werden sie nachgeliefert, Herr Weng. Ich möchte auf etwas hinweisen. Leider kann ich nur aus der Kurzfassung des Gutachtens zitieren. Unter dem Stichwort „duales Abfallsystem" heißt es in Ziffer 7 des Vorworts: Das in der augenblicklichen umweltpolitischen Diskussion intensiv behandelte Konzept der „dualen Abfallwirtschaft" konnte in vorliegendem Gutachten nicht mehr abschließend bewertet werden. Der Rat sieht darin jedoch einen interessanten Ansatz, dessen Praktikabilität und Wirksamkeit näher geprüft werden sollte. Es muß jedoch auch die Gefahr gesehen werden, daß dieses Konzept nicht zu der eigentlich angestrebten Vermeidung von Abfällen am Entstehungsort beiträgt. Das wollte ich nur als Ergänzung zu Ihren optimistischen Ausführungen zu Gehör bringen. ({0}) Danke. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Homburger, wollen Sie darauf erwidern?

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Es ist unnötig, darauf zu antworten. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ulrich Briefs.

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte über das Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen zur Abfallwirtschaft gibt Gelegenheit, ein ganz grundlegendes und immer dringlicher werdendes ökologisches Problem der entwickelten Industriegesellschaft, nämlich den drohenden Müllinfarkt, und auch konkrete Maßnahmen zur Verhinderung dieses Müllinfarkts anzusprechen. Das Sondergutachten hat das Verdienst, daß es eine Reihe grundsätzlicher Fragen durchaus vertieft und ausführlich aufwirft. Es ist jedoch leider nicht sehr deutlich und konsequent in seinen im übrigen kurz gehaltenen Forderungen. 1950 entfielen im Jahr auf jeden Einwohner 100 kg Abfälle. Heute sind es 400 kg. Tendenz: steigend. Im neuen Deutschland zieht der Osten jetzt sogar in besonders dramatischer Weise bei der Müllerzeugung nach. Das ist nur zum Teil Ergebnis der Konsumaufholjagd der Bevölkerung im Osten. Es ist zum Teil auch ein Versäumnis der Bundesregierung. Warum hat die Bundesregierung die Zerstörung des SeroSystems, eines hocheffektiven, der DDR-Stoffmangelwirtschaft entsprungenen Wiederverwertungssystems von Abfallstoffen, zugelassen? ({0}) Warum hat sie damit Arbeitsplätze zerstört? Wo war der Bundesumweltminister, als die Entscheidung zum Sero-System, zur Erhaltung, zum Ausbau oder zur Einstellung der Wiederverwertung von Sekundärrohstoffen in der DDR, anstanden? Ich hätte von unserem Ökologieminister gerne einmal eine mit wirksamen Umweltverbesserungen verbundene Ankündigung - neben den vielen Ankündigungen, die eben reine Ankündigungen, reine Luft und sonst nichts waren - gehört, die lautete: Die Bundesregierung beschließt die Erhaltung der Sekundärrohstofferfassung und -verwertung in der früheren DDR und stellt - meinetwegen - 150 Millionen DM für ihren Ausbau und ihre Anpassung an die veränderten Verbrauchsgewohnheiten der früheren DDRBürger zur Verfügung. - Das wäre einmal eine konkrete, nachvollziehbare, wirksame und zugleich öko1172 logisch und sozial sinnvolle Ankündigung einer Maßnahme gewesen. Nur, das wollte die Bundesregierung wegen ihrer ideologischen Scheuklappen nicht. Das will sie in Zukunft wohl auch nicht. Es darf nichts Positives von der alten DDR bleiben, und sei es ökologisch und sozial noch so vernünftig. Im übrigen, große westdeutsche und internationale Konzerne stehen Gewehr bei Fuß, um auch die im Haushaltsmüll bald ertrinkende frühere DDR mit Müllverbrennungsanlagen zu überziehen, die teuer sind, die wenig Arbeitsplätze schaffen und die vor allem hochgiftige Luftimmissionen - insbesondere Furane und Dioxine - verursachen. Wie verhängnisvoll die Weigerung der Bundesregierung, das Sero-System zu erhalten und auszubauen, einmal sein wird, zeigt sich an folgenden Zahlen: Das gesamte Abfallaufkommen betrug laut Sondergutachten in der BRD 1987 fast 250 Millionen t. Hausmüll, hausmüllähnliche Abfälle und Sperrmüll haben daran einen Anteil von nur etwas mehr als 11 %. Der eigentliche Anteil von Produktionsabfall liegt bei etwa 34 Millionen t im Jahr, darunter allein zirka 2,2 Millionen t nachweispflichtige Sonderabfälle, insbesondere Giftmüll, so das Sondergutachten. 7,2 Millionen t Abfälle werden jährlich exportiert. Von den Sonderabfällen - insbesondere von Giftmüll - werden jedoch nicht ganz 40 v. H. exportiert. Jährlich über 0,8 Millionen t Sonderabfälle mähren insbesondere den Mülltourismus, den Export von Giftmüll vor allem in die Länder der Dritten Welt. Diese Zahlen beleuchten die Größe des Problems. In ca. vier Jahren fallen 1 Milliarde t Abfälle an. Wie geht nun das Sondergutachten mit diesem Problem um? Rund heraus gesagt: Unzureichend. Zwar fordert es - etwas verschämt, aber immerhin - den allmählichen Ausstieg aus der Chlorchemie. So sollen die in der Papierherstellung genutzten Bleichverfahren, die mit Chlor oder Chlorverbindungen arbeiten, untersagt werden. PVC soll zumindest bei Verpakkungen durch Polyäthylen und Polypropylen ersetzt werden. Wie steht aber die Bundesregierung dazu? Zwar wird vom Sondergutachten ebenfalls ein verschämter Ausstieg im Bereich der Schwermetalle vorgeschlagen. Wird die Bundesregierung dem aber folgen? Wann endlich untersagt die Bundesregierung nachgewiesenermaßen schädliche Stoffe wie chlorierte Kohlenwasserstoffe in chemischen Reinigungen, wie die chlororganische Produktion, deren Rückstände bis vor kurzem auf See verbrannt wurden, und wie die Oberflächenbehandlung von Metallen in cadmiumhaltigen Bädern? Das Sondergutachten spricht sich zu Recht für die Verknüpfung von ordnungsrechtlichen und ökonomischen Instrumenten aus. Wann folgt die Bundesregierung der Empfehlung, bei gefährlichen Abfällen eindeutig zuerst ordnungsrechtliche Instrumente - etwa Verbote - einzusetzten? Wann legt sie gerade beim Sondermüll die Priorität auf die Vermeidung von Sondermüll, und wann schafft sie den entsprechenden Vermeidungsdruck sowohl bei Sondermüll als auch beim Haushaltsmüll? Wann wird die volle Internalisierung der externen Kosten - z. B. auch der Langzeitkosten für Deponien - eingeführt und damit ein entscheidender Schritt zur Realisierung des Verursacherprinzips getan? Wann verbietet die Bundesregierung entsprechend den Empfehlungen des Sondergutachtens Abfallexporte in Entwicklungsländer? Wann werden wirksame Schritte unternommen, um zu verhindern, daß Abfälle immer wieder als Reststoffe getarnt zu Pseudo-Recycling-Anlagen innerhalb und außerhalb der EG verbracht werden? Wann nimmt die Bundesregierung in Angriff, daß neue Produkte und neue Werkstoffe einer Abfallträchtigkeitsprüfung unterzogen werden müssen? Indirekt fordert das Sondergutachten damit eine frühzeitige und umfassende Produktlinienanalyse. Das ist überfällig. Das Sondergutachten ist somit voller Handlungsherausforderungen für die Bundesregierung und den Bundesumweltminister. Ankündigungen und anschließendes Nichtstun wie bisher sind aber keine Lösung. Ein umfassendes Konzept zur Lösung der Abfallproblematik kann freilich das Sondergutachten auch nicht liefern. Das liegt vielleicht weniger am guten Willen und der Einsicht der Autoren als vielleicht eher an der Internalisierung der tätsächlichen oder vermeintlichen politischen und ökonomischen Restriktionen. Ein solches umfassendes Konzept der Abfallpolitik muß nach unserer Meinung nach dem Grundsatz verfahren: Vermeiden und verwerten statt verbrennen und vergraben. Deponierung und Verbrennung sind falsche Wege. Deponierung führt zur Landschaftszerstörung, zu einer Wohnumfeldverschlechterung. Insbesondere besteht die Gefahr der Belastung und Zerstörung von Grundwasserreservoirs. Verbrennung dient zwar der Wirtschaft, insbesondere bestimmten Unternehmen der Großwirtschaft - Müllverbrennungsanlagen sind geradezu Ersatzprojekte für AKWs geworden -, schafft aber unabsehbare neue Gesundheitsgefahren. Deshalb fordern wir von der PDS/Linke Liste für eine ökologische Abfallwirtschaft entsprechend erstens ein konsequentes Abfallvermeidungs- und Verwertungsgebot. ({1}) Zweitens. Abfallbeseitigung und Abfallverwertung muß Sache der Kommunen werden. Drittens. In den Parlamenten müssen Initiativen für Abfallbeseitigungsgesetze und für eine TA Abfall ergriffen werden, die den Kommunen den rechtlichen Handlungsrahmen für eine umfassende ökologische Abfallwirtschaft schaffen. Viertens. Wir fordern Verpackungs- und Abf allabgaben, Verbote bestimmter Verpackungen, Verpakkungsnormierungen, Zwangspfand, eine Rücknahmeverpflichtung für den Handel und eine Kennzeichnungspflicht für Produkte, um insbesondere Einwegverpackungen zurückzudrängen. Fünftens. Notwendig ist aber auch eine neue Einstellung der Verbraucher und Verbraucherinnen. Sechstens. Wir fordern ein Konzept, das den Ausstieg aus der Müllverbrennung regelt. Die nicht rückholbare Einlagerung von Giftmüll in Salzkavernen lehnen wir ab. Siebtens. Grundsätzlich muß nach dem Verursacherprinzip bei der Müllentsorgung verfahren werden. Achtens. Wir fordern ein Verbot des Müllexports. Neuntens. Wir werden uns nicht zu Sachwaltern der Elektrizitätswirtschaft, von Anlagenherstellern, sogenannten Entsorgungsfirmen, und der chemischen Industrie machen, die durch die herrschende Abfallpolitik auf Kosten der Umwelt profitieren. Zehntens. Aufs schärfste verurteilen wir die mißbräuchliche Umwidmung von industriellen Feuerungsanlagen zur Müllverbrennung. Elftens. Ohne den Druck der Bürgerintiativen vor Ort können wir das Ziel einer ökologischen Abfallpolitik in den Parlamenten nicht durchsetzen. Deshalb brauchen wir die Demokratisierung der Entscheidungsprozesse durch Verbesserung der Teilhaberechte der Menschen. Zwölftens. Die Information der Bevölkerung ist durch Offenlegung aller Emissionsdaten zu gewährleisten. Die Beteiligung der Öffentlichkeit an allen Verfahren für die Errichtung von irgendwelchen Anlagen der Müllbehandlung ist abzusichern. Das sind konkrete Maßnahmen auf dem Wege zur Verhinderung des Müllinfarkts. Wir greifen insofern einen Teil - das sage ich ganz offen, auch als ehemaliger Grüner - der politischen Tradition der GRÜNEN auf. Mit den GRÜNEN fordern wir die Bundesregierung auf: Steuern Sie um in der Abfallpolitik, lassen Sie nicht zu, daß dieses Land in einer Müllawine ertrinkt. Wir haben dazu konkrete Vorschläge gemacht. Danke schön. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Feige.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Beim Redebeitrag von Herrn Dr. Friedrich habe ich zunächst gedacht, daß ich den falschen Bericht gelesen habe. Man kann auch bei der Interpretation der Aussagen zu anderen Ergebnissen kommen; denn im Bericht der Sachverständigen für Umweltfragen, der Ende 1990 vorgelegt wurde, endet mit der Forderung nach künftigen Produktions- und Verwertungssystemen, die nur verwertbare oder endlagerfährige Stoffe erzeugen, und der tollen Aussage: „Von diesem Ziel sind wir jedoch noch weit entfernt. " Ich glaube, konzentrierter als die Sachverständigen kann man die Wirkung oder besser die Nichtwirkung des Abfallgesetzes von 1986 nicht zusammenfassen. Hiobsbotschaften - die wir heute auch schon gehört haben - wie Müllnotstand, Verpackungsflut, Entsorgungsengpaß, Zusammenbruch des Mehrwegsystems kommen, wenngleich es auch nicht so klingen mag, nicht aus den fünf neuen Ländern, sondern in erster Linie wegen der höheren Kaufkraft und auch des intensiveren Konsumvermögens aus der alten Bundesrepublik. Die Sachverständigen kritisieren zusammenfassend, daß die Müllvermeidung noch in den elementarsten Anfängen liegt. Gemessen an der Aussage des damaligen Bundesinnenministers Zimmermann, „der beste Müll ist der, der erst gar nicht entsteht" - Frau Homburger hat dieses Zitat schon gebracht -, ist die Bilanz des Abfallgesetzes und damit die Bilanz des Bundesumweltministers im Bereich Abfallpolitik undiskutabel schlecht. Seit Zimmermanns Aussage aus dem Jahre 1983 ist das Anwachsen der Müllberge nicht zurückgegangen. Es ist um kein Kilogramm und keine Tonne gebremst worden. Im Gegenteil: Die Müllberge wachsen weiter, die Anzahl der Müllverbrennungsanlagen nimmt weiterhin zu, sogenannte geordnete Deponien platzen aus ihren Nähten. Ich stelle mir einmal vor, was noch dazugekommen wäre, wenn es damals nicht den sogenannten Müllexport in die ehemalige DDR gegeben hätte. Herr Staatssekretär Stroetmann hat uns gestern darüber informiert, daß in den neuen Bundesländern lediglich eine Deponie so sei, daß sie den westdeutschen Verhältnissen entspricht. Ich kann mir richtig ausmalen, was passieren würde, wenn jetzt für geraume Zeit einmal auf Grund dieser Notsituation der Müllstrom aus den fünf neuen Bundesländern in die besseren Deponien in Westdeutschland umgeleitet werden müßte, wo der Müll teilweise auch hergestellt wird. Man mag dem Bundesumweltminister zugute halten, daß er sich geirrt hat und die Unwirksamkeit des entsprechenden Gesetzes nicht vorausahnen konnte. Nur, war das nicht vielleicht schon etwas früher möglich? Die Wirtschaft steckt nach wie vor einen ungeheuren Aufwand in die Entwicklung und Vermarktung neuer Produkte. Sie hat sich aber bisher, glaube ich, kaum darüber Gedanken gemacht, was mit diesen neuen Produkten passieren soll, wenn man sie dann tatsächlich einmal nicht mehr braucht. Ich glaube, wir sind noch meilenweit davon entfernt, bereits bei der Produktion so zu verfahren, daß möglichst wenige Abfälle entstehen, die Abfälle schadstoffarm sind und daß die unvermeidbaren Abfälle problemlos verwertbar sind. In den regierungspolitischen Entscheidungen kann ich und können, glaube ich, auch die Gutachter zumindest in den letzten acht Jahren keine echte Wende zu einer modernen Abf allvermeidungswirtschaft erkennen. Zum notwendigen Handlungsbedarf haben sich die, wie ich glaube, sicher als kompetent zu bezeichnenden Umweltverbände in den letzten Tagen recht deutlich geäußert. Auch sie bestehen ja in erheblichem Umfang aus Menschen, die uns gewählt haben. So appelliert der Deutsche Naturschutzring mit großer Eindringlichkeit an die Regierungschefs der 16 Bundesländer, sich bei der morgigen entscheidenden Sit1174 zung des Bundesrates über die Verpackungsordnung nicht dem Druck Bonns - also der Regierung - und der Verpackungsfetischisten zu beugen. Diese umweltpolitisch höchst bedeutsame Verordnung entscheidet über 50 % des Hausmülls. Entgegen der Namensbezeichnung bringt der jetzige Entwurf so gut wie keinen Fortschritt bei der so wichtigen Abfallvermeidung. Die Damen und Herren von der Regierungsbank sollten meines Erachtens sowieso viel häufiger auf die Verbände hören. Dort wird sehr gute und sehr wichtige Arbeit geleistet. Vielleicht lassen sich dabei sogar unnötige Personalkosten einsparen oder besser anlegen. Die aktuelle Diskussion in Sachen Abfallvermeidungsverordnungen oder -gesetzesnovellen konzentirert sich seit einiger Zeit besonders auf das Für und Wider des dualen Abfallsystems mit den geplanten grünen Abfalltonnen für eine Reihe von theoretisch wiederverwertbaren Abfallstoffen. ({0}) - Ich lese gern nach . Dann werden wir sehen, daß ich recht habe. ({1}) Wie von den GRÜNEN bereits im vergangenen Jahr - eben damals schon - kritisiert wurde, trägt diese Strategie keinesfalls zu der gewünschten Abfallvermeidung bei. Im Gegenteil: Das System der dualen Abfallwirtschaft wird lediglich zu einer Beschönigung von Statistiken führen, weil ein Großteil von Abfällen, insbesondere von Verpackungsabfällen, nicht mehr über die öffentliche Hand entsorgt werden soll, sondern über private Erfassungssysteme abgefahren wird und, wie ich glaube, dann doch auf den Deponien landet, so daß zur Müllvermeidung nicht beigetragen wird. Das finden Sie, glaube ich, letztendlich auch im vorgelegten Bericht. Ich kann den Gutachtern dort folgen, die meines Erachtens nicht mit einer gewissen Voreingenommenheit, die vielleicht gegenüber einem GRÜNEN bestehen kann, belastet sind. Der Zeitschrift „Ökologische Briefe" vom 20. März 1991 entnehme ich, daß der Verein „ProMehrweg", ein Zusammenschluß von Getränkegroßhändlern und Getränkeabfüllern, der Verpackungsordnung und dem dualen System den Kampf angesagt hat. Das ist um so verwunderlicher, als dieser Verein ja ganz besonders die auch von Herrn Bundesminister Töpfer gelobte Verwendung von Mehrwegflaschen unterstützt. Es sollte die Regierung in Unruhe versetzen, daß die Kritik an der gegenwärtigen Müllpolitik nicht nur von den GRÜNEN oder allgemein von der Opposition oder von den Natur- und Umweltverbänden, sondern auch von denen kommt, die dem Anschein nach dadurch begünstigt werden sollen. Wir folgen insgesamt der Auffassung des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland, der die Gefahr einer Recycling-Lüge erkennt. Er schreibt: Das Duale Abfallwirtschaftssystem suggeriert, alle gesammelten Verpackungsabfälle würden recycelt. In Wahrheit besteht hier weiterhin erheblicher Zweifel, da weder die technischen Möglichkeiten noch die Kapazitäten für ein umfassendes stoffliches Recycling vorhanden sind. So stehen 760 000 Tonnen gemischter Kunststoffabfälle aus Verpackungen pro Jahr lediglich rund 20 000 Tonnen Verwertungskapazität gegenüber. Ich darf in diesem Sinn wohl auch die Pressemitteilung des stellvertretenden FDP-Vorsitzenden Baum vom 15. März 1991 als Kritik an der Regierungsarbeit des Umweltministeriums werten. Kollege Baum fordert zu Recht, endlich den Erhalt und Ausbau des Mehrwegsystems zu sichern und die zu konzipierende Verpackungsverordnung und die Novelle des Abfallgesetzes endlich entsprechend auszugestalten. Kurz gesagt scheint im Bundesumweltministerium in allem grundsätzlich nach § 1 der alten Mecklenburgischen Landesordnung gearbeitet zu werden, der da lautet: Erstens. Es bleibt alles ... Zweitens ... so, wie es ist. ({2}) Kritik also von allen Seiten. Es ist somit höchste Zeit, daß sich nun wirklich jemand in der Regierung für das Abfallvermeidungsproblem verantwortlich fühlt. Zum Schluß ein Wort zu den neuen Bundesländern. Da möchte ich jetzt wirklich als Mutmacher gelten. Das Sondergutachten - nicht nur der Kollege Dr. Briefs; er ist schon weg - kommt nämlich zu dem Schluß - ({3}) - Ja. Es tut mir außerordentlich leid. Er ist damals von den GRÜNEN weggelaufen. Nun läuft er wieder weg. ({4}) Ich möchte jetzt zu dem Gutachterurteil über Sero kommen. Ich erinnere daran, daß die Gutachter dazu eine Meinung hatten: „Zum einen verdient der hohe Entwicklungsstand der Sekundärrohstoffwirtschaft in der ehemaligen DDR mit Verwertungsquoten im Konsum- und Produktionsbereich in der Höhe von jeweils ca. 40 % durchaus Beachtung. " Das muß man vielleicht auch einmal positiv zur Kenntnis nehmen. „Ob diesem System eine gewisse Vorbildfunktion für die Verwertungsstrategie in der Bundesrepublik bzw. einer gemeinsamen Abfallwirtschaft zukommen kann, muß einer genaueren und vergleichenden Analyse der Vor- und Nachteile vorbehalten bleiben." Ich glaube, dort gäbe es eine Möglichkeit, diese Analyse endlich nachzuholen und dafür vielleicht kurzfristig ein ABM-Projekt zu organisieren. Es gibt genug Akademiker, die das beurteilen können und die inzwischen arbeitslos sind. Die könnten sich dort eine gewisse Zeit einbringen. Vielleicht kann deren Ergebnis tatsächlich neue Arbeitsplätze schaffen. Für eine solche Überprüfung ist es inzwischen schon fast zu spät. Der Sero-Betrieb ist nahezu abgewickelt worden. Ein übrigens auch von den oppositionellen Ökologen in der ehemaligen DDR verteidigtes System zur Erfassung wiederverwertbarer Rohstoffe ist leichtfertig zerstört worden. Angesichts einer in nur einem Jahr um über 50 To gestiegenen Pro-Kopf-Müllflut in den neuen Ländern ist das eine zum Teil zum Himmel stinkende und flatternde Angelegenheit, wie wóhl auch eine ganze Reihe weiterer Dinge in diesem Land. Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.

Bernd Schmidbauer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001995

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit einer Abfallwirtschaft, die sich an den Grundsätzen Vermeidung, Verwertung und umweltgerechte Entsorgung von Abfällen orientiert, haben wir in den vergangenen Jahren umweltpolitisch neue Wege beschritten. ({0}) - Genau darauf habe ich gewartet. ({1}) Es kommt ja auch nicht von ungefähr, Herr Kollege Lennartz. Ich will zitieren, Frau Kollegin Hartenstein, was in diesem Gutachten steht. Es heißt dort wörtlich: Erst das Abfallgesetz von 1986 hat für das Abfallproblem ... den Weg zu einer grundsätzlicheren und umfassenderen Lösung geöffnet ... Mit dieser grundsätzlichen Zielhierarchie wurde der Weg geebnet, von der konventionellen Abfallbeseitigung hin zur Abfallwirtschaft zu gelangen. Das war mein einleitender Satz. Ich denke, daß wir gut daran tun, über dieses Problem intensiv zu diskutieren. Ich will noch eine Bemerkung zum Kollegen Feige machen, der eben vom Problem der Übernahme des Sero-Konzepts gesprochen hat. Herr Kollege Feige, Sie haben völlig richtig zitiert. Aber das Zitat geht weiter: Dabei wäre insbesondere zu prüfen, ob die unter den Bedingungen einer sozialistischen Mangelwirtschaft gewonnenen Erfahrungen auf ein marktwirtschaftliches System übertragbar wären. Hier liegt natürlich das eigentliche Problem dieser Überprüfung. Ich bin wie Sie der Meinung, daß wir uns sehr wohl über Recycling-Quoten unterhalten müssen, aber unter völlig anderen Bedingungen und mit wesentlich mehr technischer Innovation.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Schmidbauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Hartenstein?

Bernd Schmidbauer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001995

Aber immer.

Dr. Liesel Hartenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000815, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir zu, wenn ich feststelle, daß es einem bei dem über 700 Seiten starken Sondergutachten des Sachverständigenrates so geht wie beim Werk Goethes, daß man nämlich für jede Position ein sehr treffendes und für die eigenen Zwecke passendes Zitat herausfinden kann? ({0})

Bernd Schmidbauer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001995

Ich möchte das nicht bestätigen. Aber Ihre Erwartungshaltung wird immer bestätigt, daß Sie hier zwar ein Zitat vortragen, allerdings Mühe haben, uns dieses Zitat nachher im Sondergutachten nachzuweisen. Deshalb habe ich versucht, Ihnen das Gegenteil zu belegen, und zwar mit einem Zitat aus dem Sondergutachten. Ich bin dankbar, wenn Sie mir nachher die Stelle in diesem großen Gutachten zeigen, wo das steht, was sie vorhin hier von diesem Pult aus behauptet haben. ({0}) Meine Damen und Herren, in dieser Legislaturperiode wollen wir unseren Weg fortsetzen, ihn ausbauen und entscheidende Weichenstellungen in der Abfallwirtschaft vornehmen. Ein entscheidender Schwerpunkt wird sein, daß Produzenten und Konsumenten für den gesamten Lebenszyklus von Produkten die Verantwortung übernehmen. Das schließt Verwertung und Entsorgung ein. Das heißt auch, daß die Politik der Vermeidung und Verwertung von Abfällen und Reststoffen vorverlagert werden muß, und zwar noch weiter in den Bereich der Produktion hinein. Das ist der richtige Weg. Dann kann von Vermeidung gesprochen werden. In diese Richtung zielen die jüngsten Maßnahmen der Bundesregierung nach § 14 des Abfallgesetzes, wie z. B. die schon sehr viel zitierte Verpackungsverordnung, die das Bundeskabinett am 14. November 1990 verabschiedet hat und die zur Zeit im Bundesrat diskutiert wird und morgen auf der Tagesordnung steht. Hierzu gibt es - das zeigt die Diskussion hier und wird die Realität morgen zeigen - sehr viele unterschiedliche Auffassungen. Ich empfehle, daß wir das sehr genau lesen und unsere Zielrichtung gemeinsam deutlich machen. Wir sollten exakt das zu realisieren versuchen, was ich eben vorgetragen habe. Ich denke, daß dies ein weiterer Meilenstein zu einer geordneten Abfallwirtschaft in unserem Land wird. Auf diesem Grundsatz basiert auch die Novellierung des Abfallgesetzes. Dieses Gesetz hat sich in der vergangenen Legislaturperiode zwar bewährt, muß aber mit Sicherheit weiterentwickelt werden, um den gewaltigen Anforderungen der nächsten Jahre gewachsen zu sein. Das Sondergutachten „Abfallwirtschaft", das der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen am 13. November 1990 der Bundesregierung übergeben hat, wird bei der Lösung dieser Auf1176 gabe sicher einen wesentlichen Beitrag leisten. Wir bieten allen an, hier einen intensiven Diskussionsbeitrag zu leisten. Ich denke, daß wir im Ausschuß dazu genügend Zeit haben werden. Ich warte immer noch, daß der Kollege der PDS kommt, damit ich ihm noch etwas sagen kann; denn man kann es natürlich nicht so betreiben wie er: einmal auf den Umweltminister Schmutz abladen und dann so tun, als habe man 40 Jahre auf dem Gebiet der fünf neuen Bundesländer vergessen. Wenn Sie schon den Bundesumweltminister zitieren, dann bitte nicht in dieser Weise. Sie sollten vielmehr davon ausgehen, daß dieser Minister letztendlich Tag und Nacht mit den Problemen der Altlasten in den fünf neuen Bundesländern konfrontiert ist. ({1}) Wer Beispiele sucht, wie es gehen kann, wenn keine Abfallwirtschaft und keine Umweltpolitik betrieben werden, der sollte sich einmal dort umsehen. Ich finde, man würde besser daran tun, sich dieser Dinge zu erinnern, als sich mit solchen verbalen Tricks und einer Straßenrhetorik an den Minister zu wenden. ({2}) Ich denke, daß dieses Sondergutachten trotz kritischer Aussagen - wenn es ein gutes Gutachten sein soll, und es ist ein gutes Gutachten, dann verlangt man davon auch kritische Anregungen an die Politik - die zentralen Eckwerte der Abfallwirtschaft der Bundesregierung bestätigt. Darüber hinaus bietet es wertvolle Hinweise als Leitfaden für die Weiterentwicklung der Abfallwirtschaft und des Abfallrechts. Der Sachverständigenrat zeigt bestehende Entsorgungsengpässe auf. Er sucht nach Ursachen und nach Lösungsansätzen. Dabei werden sowohl das abfallrechtliche Instrumentarium als auch die Planungspraxis der Bundesländer einer kritischen Prüfung unterzogen. Auch darüber einmal sehr detailliert nachzudenken lohnt sich. Eine Schwäche des abfallrechtlichen Instrumentariums sieht der Sachverständigenrat darin, daß derzeit keine Möglichkeiten bestehen, schon in die Produktgestaltung einzugreifen. Ich halte dies für einen wichtigen Einwand. Es wird daher auch das Ziel der Novellierung des Abfallgesetzes ein, abfallwirtschaftliche Probleme, die mit bestimmten Herstellungsverfahren und Produkten verbunden sind, stärker in die unternehmerische Verantwortung einzubeziehen. Um dies zu erreichen, wird zur Zeit in unserem Hause der Entwurf eines Abfallabgabengesetzes erarbeitet. Die Abgabe - auch das muß gesagt werden - ist dabei so zu gestalten, daß die bestmögliche Umweltoption realisiert wird und dadurch gleichzeitig eine starke präventive Lenkung erfolgt. Es darf allerdings nicht übersehen werden, daß die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung, z. B. die von mir bereits erwähnten Maßnahmen nach § 14 des Abfallgesetzes sowie die TA Abfall, zum Teil bereits einen erheblichen Kostendruck auf die Unternehmen ausüben. Dieser Kostendruck gibt Anreize zur Innovation sowohl bei der Produktgestaltung als auch im verfahrenstechnischen Bereich. Zu den Kernaussagen des Gutachtens gehört das Bekenntnis zur Vermeidung und Verwertung, insbesondere zur stofflichen Verwertung von Abfällen und Reststoffen. In diesem Gutachten wird aber zu Recht auch vor der Illusion gewarnt, daß eine vollständige Vermeidung und Verwertung möglich seien und sich damit die Behandlung von Abfällen erübrige. Im Gegenteil: Der Sachverständigenrat bestätigt ausdrücklich die Haltung der Bundesregierung zu diesen Fragen. Abfallvermeidung und Abfallverwertung müssen nämlich Vorrang haben vor der schlichten Beseitigung. Der Auf- und Ausbau einer umweltgerechten Entsorgungsinfrastruktur muß jedoch ein gleichgeordneter Schwerpunkt einer ausgewogenen Abfallwirtschaftspolitik sein, die die drängenden Forderungen der Zeit berücksichtigt. Der Rat betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Behandlung der Abfälle vor der Ablagerung. Es wird darauf hingewiesen, daß die Forderung nach einer Vorbehandlung der Abfälle die bestehenden Engpässe bei Entsorgungsanlagen kurzfristig noch deutlicher werden läßt, also den Ausbau von Entsorgungsanlagen nach dem Stand der Technik nur noch dringlicher macht. Auch hier wird unsere Forderung, die Kapazitätsdefizite bei der Abfallbehandlung zügig zu beseitigen, voll unterstützt. Grundsätzlich bestätigt der Sachverständigenrat auch unsere Auffassung zur Abfallverbrennung. Auch dies scheint mir wichtig zu sein. Wir sollten das nicht vergessen, wenn der Sachverständigenrat genau diese Hinweise gibt. Zur Verbesserung der Entsorgungsinfrastruktur halten wir eine Beschleunigung der Zulassungsverfahren für Entsorgungsanlagen für erforderlich. Wir sind uns darin einig, daß weder das Warten auf totale Vermeidung und Verwertung noch die Flucht in den Abfallexport kurz- und mittelfristig dazu beitragen können, die Entsorgungsengpässe zu beheben. Der Sachverständigenrat unterstreicht zu Recht, daß die Erzeugung eines Müllnotstandes die Probleme keinesfalls löst, sondern die Umweltbelastung nur verstärkt. Ich habe mir derart deutliche Aussagen von seiten der Wissenschaft gewünscht und hoffe, daß sie von allen auch ernst genommen werden. Eine wesentliche Voraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung des neuen Abfallrechts ist die Akzeptanz durch den Bürger. Wir hoffen, daß das Gutachten auch hierzu beitragen kann. Die Bundesregierung wird es sich ihrerseits auch nicht leichtmachen. Sie wird die Anregungen des Sachverständigenrates in bezug auf die Fortentwicklung des Abfallrechts gründlich überdenken und mit Sicherheit auch einige wesentliche Punkte hier mit einbringen. Dazu gehört die geforderte Einzelbewertung von Entsorgungsoptionen und Entsorgungsverfahren mit dem Ziel, die bestmögliche Umweltoption zu finden. Der Rat empfiehlt ein solches Abwägen unter dem Stichwort „Lastpaketgedanke". Mehrfach ist das auch schon mit dem gebräuchlichen Wort Ökobilanzierung beschrieben worden. Das heißt, daß von der Produktseite bis zur Entsorgung entsprechend bewerParl. Staatssekretär Bernd Schmidbauer tet wird und auf dieser Basis dann Abwägungen vorgenommen werden sollen. Ich werde in diesem Zusammenhang auch die Forderung nach einem Verbot des Einsatzes bestimmter Stoffe prüfen, sofern ein solches Verbot nicht bereits umgesetzt wird. Zur Abfallwirtschaft in den neuen Bundesländern - auch dies ist gesagt worden - konnte das Sondergutachten noch keine weitergehenden Aussagen machen. Ich bin jedoch davon überzeugt, daß das Gutachten auch für den Aufbau einer geordneten Abfallwirtschaft in den neuen Ländern wichtige Anregungen geben kann. Ich denke, wir tun gut daran, über dieses Gutachten, die entsprechenden Entwürfe für die Novellierung des Abfallgesetzes und die Abfallabgabe in aller Offenheit gemeinsam zu diskutieren und zu versuchen, in diesen wichtigen Fragen einen möglichst breiten Konsens zu erreichen. Herzlichen Dank. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlage auf Drucksache 11/8493 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist diese Überweisung beschlossen. Ich rufe die Zusatztagesordnungspunkte 2 und 3 auf: ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Poppe, Vera Wollenberger und der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE Zur aktuellen Situation der Kurden am 16. März 1991, dem 3. Jahrestag von Halabja - Drucksache 12/279 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({0}) Innenausschuß ZP3 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Lage der Kurden nach dem Golfkrieg - Drucksache 12/282 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({1}) Innenausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Beratung eine Fünfminutenrunde vorgesehen. Ich sehe auch dagegen keinen Widerspruch. - Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Freimut Duve.

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Krieg am Golf hat eine ganze Reihe von Themen und Problemen auf die Tagesordnung gebracht. Ganz zentral, insbesondere heute, ist all das, was an den Kurden verübt worden ist, die Lage der Kurden. Ich glaube nicht, daß es zu einem Frieden in der Region kommen kann, ohne daß diese Frage in den Friedensprozeß einbezogen wird. ({0}) Sie wird möglicherweise in einer oder einer zweiten Konferenz nicht dabei sein. Aber wenn diese Frage ganz ausgeklammert wird, wird es in der Region keinen Frieden geben können. Eine zweite Bemerkung, die eigentlich eine Erinnerung ist: Es ist schon erstaunlich, daß noch vor 10 Jahren ein türkischer Angestellter der Lufthansa in Istanbul unter Anklage stand, weil im Schaufenster des Lufthansabüros ein Globus stand, auf dem das Wort „Kurdistan" zu erkennen war. Das wurde unter Anklage gestellt, weil es Kurdistan gar nicht geben durfte. Insofern ist ein kleiner Schritt der Besserung zu erkennen, da die türkische Regierung jetzt anders über die Existenz von Kurden und deren Recht, zumindest ihre Sprache zu benutzen, spricht. Ich finde es sehr gut - das muß ich auch noch einmal sagen - , daß das Bündnis 90 als erste einen Antrag eingebracht hat. Wir haben im Vorfeld schon ein bißchen darüber gesprochen, auch mit Kollegen der CDU und einem Kollegen der FDP. Es war uns nicht möglich, in diesen Tagen schon einen gemeinsamen Antrag zustandezubringen. Aber ich möchte hier doch betonen und für folgendes um Beachtung bitten: Ich glaube, für die Kurden in den fünf betroffenen Staaten und für die Kurden, die bei uns leben, ist das politische Gewicht eines gemeinsamen Antrages wesentlich wichtiger als die eine oder andere Formulierung. ({1}) Wenn uns im Ausschuß ein Konsens darüber gelingen sollte, dann wäre es ein kleiner Schritt weiter auf dem Wege, das Kurdenproblem auf die Tagesordnung zu bringen. Natürlich haben wir hier über die Kurdenfrage oft diskutiert; wir haben viele Aktuelle Stunden zu diesem Thema gehabt. Aber jetzt besteht die Chance, daß die Kurden neue Aufmerksamkeit bekommen. Ich will eine weitere Bemerkung machen: Ich hoffe, daß es nicht noch einmal so etwas gibt, daß man die Giftgastoten von vor drei Jahren, an die auch die beiden Anträge erinnern, dazu benutzt, um sie denjenigen, die Skepsis gegenüber diesem Krieg geäußert haben, vorhalten zu können und sagen zu können: Wo wart ihr, als das damals passierte? Ich wäre froh, wenn die Erinnerung an diese 5 000 Toten - auch seitens der Kommentatoren, die sie in den letzten Wochen benutzt haben - wachgehalten würde. Denn an diesem Giftgasmassaker sind in der Tat beide deutsche Staaten in einer fürchterlichen Weise beteiligt: Die DDR hat die irakischen Soldaten ausgebildet, mit Chemiewaffen umgehen zu lernen, und Personen aus dem Westen - auch westliche Firmen - haben die Hardware geliefert. Die Software kam also von der DDR und die Hardware aus der BRD. ({2}) - Sie können es anzweifeln. Man kann darüber diskutieren. ({3}) Ich glaube, durch die Frage nach Beweisen kommen wir nicht aus der Verantwortung. Es gibt eine solche Mitwirkung. Ich denke, diese Mitwirkung ist Anlaß genug, die Frage wirklich sehr ernst zu nehmen. ({4}) - Natürlich, ich nehme die Sache sehr ernst. Ich habe mich in Amerika und in Israel und wohin ich in den letzten Wochen, gereist bin, diesen Diskussionen stellen müssen. Weder meine Bundesregierung noch meine Partei waren an dieser Sache beteiligt. Trotzdem muß ich Rede und Antwort stehen, wenn es um deutsche Bürger geht, die solche Sachen mitmachen. Aus der Verantwortung kommen Sie nicht heraus, und da komme ich nicht heraus. Wenn Sie sich heraushalten wollen, indem Sie mich angreifen - ({5}) - Wir können uns darüber dann ja im Ausschuß verständigen. Ich glaube, es ist für die Kurden eine Chance, wenn wir zu einer gemeinsamen Position kommen. Die türkische Regierung hat ein erstes Signal gegeben. Wir finden das angesichts der Lage, in der sie gleichzeitig noch in die Dörfer einmarschiert und Umsiedlungen vornimmt, viel zu wenig. Aber vielleicht haben wir eine Chance. Ich empfehle uns eine gemeinsame Position, auch zum Wohle der Kurden. ({6})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Heinrich Lummer.

Heinrich Lummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001396, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Duve, selbstverständlich werden wir diese beiden Anträge mit dem Ziel beraten - wir werden das solide und auch voller Sympathie tun - , einen gemeinsamen Antrag zu machen, weil es wirklich um eine Sache geht, bei der es in diesem Hause keine Meinungsverschiedenheiten gibt, nämlich um die Durchsetzung der Menschenrechte. Jedermann von uns wußte, daß sich durch den Krieg sehr viel ändern würde, daß sich die Welt dort verändern würde: nicht in dem Sinne, daß es neue Konflikte gäbe, sondern in dem Sinne, daß die alten Konflikte erneut mit Dramatik sichtbar werden würden, und das geschieht in diesem Falle. Der Konflikt, der Krieg hat die Sprengsätze wieder offengelegt; das ist die Tatsache. Dazu gehört natürlich die Kurdenfrage, die von vielfältiger Tragik überschattet ist. Oftmals haben die Kurden aufs falsche Pferd gesetzt. Damals haben die, die im Irak wohnten, vom Schah Unterstützung bekommen. Die, die im Iran wohnten, haben auf Chomeini gesetzt. Sie haben in der Geschichte selten zu nationaler Einheit gefunden. Die Zersplitterung ist einer der Gründe, weshalb es nie gelang, einen kurdischen Staat zu gründen. Das ist das Ziel, das sie haben. Aber ich befürchte, dieses Ziel wird nach Lage der Dinge nicht erreichbar sein. Doch was erreichbar sein muß, daß ist die Durchsetzung der Volksgruppenrechte. Darauf sollten wir uns allerdings gemeinsam mit Intensität konzentrieren; denn das ist ein Stück Menschenrecht. Meine Damen und Herren, die Anträge setzen schwerpunktmäßig auf die Milderung der Folgen, die im Laufe der letzten zehn Jahre oder mehr entstanden sind. Die Anträge setzen weniger auf den Versuch, die Ursachen zu beseitigen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Lummer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Fischer?

Dr. Ursula Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000557, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich finde Ihre Ausführungen sehr interessant. Ich halte das auch für ein absolut überparteiliches Problem. Warum die Ausgrenzung der PDS auch in diesem Bereich? ({0})

Heinrich Lummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001396, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich weiß nicht, wer Sie ausgegrenzt hat. Sie können den Anträgen nachher doch zustimmen, wenn wir gemeinsame Anträge vorliegen haben. ({0}) - Die FDP hat auch keinen Antrag gestellt, die CDU auch nicht. Hier liegen zwei Anträge vor. Ich habe gesagt, wir werden sie mit dem Ziel beraten, etwas Gemeinsames daraus zu machen. Das ist überhaupt nichts Neues in diesem Hause. Ich nehme an, die FDP fühlt sich im Moment auch nicht ausgegrenzt, weil sie keinen Antrag gestellt hat, und wir natürlich überhaupt nicht. Meine Damen und Herren, das zentrale Problem ist, so meine ich, die Beseitigung der Ursachen. Darauf sollten wir uns jetzt wirklich konzentrieren. Die Frage ist: Was heißt das eigentlich? Das heißt doch z. B.: Wenn es denn gelänge, jetzt, im Zusammenhang mit diesem schlimmen Krieg, der da war, die C-Waffen zu verbannen, dann gäbe es auch nicht mehr das, was in den Anträgen „ Giftgasflüchtlinge " genannt wird. Das ist ein sehr problematischer Begriff, auf den ich nicht weiter eingehen will. Aber immerhin: Das könnte es nicht mehr geben, wenn es gelingt, die C-Waffen jetzt wegzubekommen. In den Vereinten Nationen wird darüber beraten. Ich hoffe, daß diese Resolution durchkommt und daß diese Resolution in der Region auch durchgesetzt wird. Unser Ziel muß es auch sein, den Irak und andere Länder der Region bei den Genfer Beratungen in den - hoffentlich - erfolgreichen Versuch mit einzubeziehen, die C-Waffen zu beseitigen. Zweitens. Wenn es gelingt, Volksgruppenrechte durchzusetzen, dann ist der Kern der Spannungen beseitigt. Wir haben bereits vor einiger Zeit eine Entschließung in diesem Sinne gefaßt - das war ein gemeinsamer Versuch - , in der es hieß, daß die Bundesregierung aufgefordert ist, „die politischen und kulturellen Rechte von ethnischen und religiösen Minderheiten" im Zusammenhang mit der Kurdenfrage durchzusetzen. Das haben wir im Februar des Jahres 1990 beschlossen. Im Europarat wird intensiv daran gearbeitet, das Volksgruppenrecht durchzusetzen und zu verbreiten. Das sollten auch wir weiterhin tun. Das dritte ist: Keine Lösung darf mit Gewalt durchgesetzt werden. Gewaltverzicht bei der Lösung innerstaatlicher Probleme - ob das Jugoslawien ist oder ob das die dortige Region ist - müssen wir erreichen. Da sollten wir unseren gemeinsamen Willen dokumentieren und unsere Regierung ermuntern, sich in dem immer möglichen Ausmaße dafür einzusetzen. Vielleicht sollten wir auch einmal den Versuch machen, vor Ort zu gehen und die dortigen Regierungen gemeinsam zu beeinflussen, damit sie das endlich begreifen. Ziel jedenfalls - darin stimmen wir überein - ist ein gemeinsamer Antrag, damit die irakische Regierung und andere Regierungen die Kurdenfrage im rechten Licht sehen. Dieses Volk hat es verdient, ein Mindestmaß an Autonomie zu haben, um überleben zu können. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Abgeordnete Gerd Poppe.

Gerd Poppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001736, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am heutigen Tag, dem 21. März, begehen die Kurden ihr traditionelles Neujahrsfest. Trotz des Verbotes werden sie ein weiteres Mal ihre nationalen Bräuche pflegen, ihre katastrophale Lage schildern und ihre Rechte einfordern. Zwischenfälle und Zusammenstöße werden erwartet. Hoffen wir, daß nicht erneut Tote zu beklagen sind. Nehmen wir diesen Tag zum Anlaß, die Mauer des Schweigens aufzubrechen, die die Leiden des kurdischen Volkes vielerorts immer noch umgibt! Nur zweimal in den letzten Jahren richtete die Weltöffentlichkeit ihr Augenmerk auf das Schicksal dieses 25-Millionen-Volkes. Zum einen waren es im März 1988 die erschütternden Bilder der Opfer des Giftgaseinsatzes auf die kurdische Stadt Halabja; davon wurde schon gesprochen. Zum anderen sind es in diesen Tagen die Berichte über den Aufstand der Kurden im Norden des Irak gegen die Diktatur Saddam Husseins, die unsere Aufmerksamkeit erwecken. Damals, vor drei Jahren, wurden etwa 5 000 Kurden, vor allem Frauen und Kinder, innerhalb weniger Minuten Opfer eines Giftgasangriffs, viele weitere trugen bleibende Schädigungen davon, viele befinden sich auch heute noch in Krankenhäusern. Etwa 70 000 Menschen flohen in jenen Tagen in die Türkei und den Iran. Gegenwärtig leben nach Angaben der Gesellschaft für bedrohte Völker unter menschenunwürdigen Bedingungen 27 000 kurdische Flüchtlinge in der Türkei und 150 000 im Iran. Das Massaker war nur die Spitze des Eisbergs, der traurige Höhepunkt einer jahrzehntelangen Verfolgung. Irakische Giftgasangriffe gegen kurdische Dörfer hat es bereits vorher gegeben, ab April 1987, und auch noch danach, bis Ende August 1988, und gegenwärtig sind sie erneut zu befürchten. Die politische Verantwortung, meine Damen und Herren, für solche Greueltaten liegt nicht allein bei denjenigen, die sie begehen, sondern auch bei denen, die die Mittel zu ihrer Durchführung verfügbar gemacht haben. Deswegen haben wir eine Mitverantwortung am Schicksal der kurdischen Flüchtlinge; denn ohne die tatkräftige Mithilfe deutscher Firmen und die laxe Haltung der Bundesregierung in Fragen der Bereitstellung von Ausrüstungen und Know-how für irakische Chemiefabriken wäre der Irak nicht in der Lage gewesen, das tödliche Gas überhaupt zu produzieren. ({0}) - Die Beweise, so hoffe ich, Herr Kollege, werden wir im Bericht der Bundesregierung endlich erhalten, der uns schon so lange versprochen ist. Würde der Bundestag diese deutsche Mitverantwortung anerkennen, wäre es nur logisch und zwingend, unserem Antrag zu folgen und den Giftgasflüchtlingen sowie den Hinterbliebenen der Opfer die notwendige Hilfe zukommen zu lassen. Es wäre beschämend, würden wir hier nur Lippenbekenntnisse für die Rechte der Kurden aufbringen, während zum gleichen Zeitpunkt der Außenminister als Überbringer von Millionenbeträgen in Staaten reist, die keineswegs als Hort der Menschenrechte angesehen werden können, wie z. B. Syrien. Das kurdische Volk litt und leidet aber nicht nur unter der Diktatur Husseins. Acht Jahre lang war es auf beiden Seiten der Grenze besonderes Opfer des irakisch-iranischen Krieges. Auch die Repression der kurdischen Bevölkerung durch türkische Behörden hat viele Opfer gekostet. Menschenrechtsorganisationen nennen 3 000 Tote in den letzten sieben Jahren. Seit 1980 herrscht in den kurdischen Provinzen Ausnahmezustand. Elementare Rechte blieben den Kurden versagt, wie z. B das Recht auf die eigene Sprache. Noch in jüngster Zeit kam es zu Zwangsumsiedlungen. Vielleicht ist es ein ermutigendes Signal, daß der türkische Präsident Özal den Kurdenführer Talabani empfing und daß eine Teilamnestie sowie die Aufhebung des Verbotes, die kurdische Sprache öffentlich zu gebrauchen, angekündigt wurden. Allerdings gilt das immer noch nicht für das geschriebene Wort. Wir fordern die Bundesregierung dringend auf, sich für die volle Garantie der Menschenrechte einzusetzen und diejenigen politisch relevanten Kräfte in der Türkei zu unterstützen, die Demokratie auch für die nationalen Minderheiten anstreben. Der Deutsche Bundestag sollte auch die alten und neuen Bundesländer ermutigen, kurdischen Flüchtlingen Zuflucht zu gewähren und Kurden nicht auszuweisen oder abzuschieben, solange die menschen1180 rechtswidrige Politik ihnen gegenüber nicht beendet wird. Gestatten Sie mir einen letzten Gedanken: Wenn hier von der Einhaltung der Menschenrechte die Rede ist, so ist damit auch die Achtung der nationalen Identität auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen und vor allem das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes gemeint, von dessen Unverzichtbarkeit wir ausgehen. Bitte verwechseln Sie Selbstbestimmung nicht mit Separatismus! Dazu neigt im übrigen nur ein Teil der Kurden. Selbstbestimmung meint nicht mehr und nicht weniger, als daß die Kurden aus all ihren fünf Heimatländern zuallererst das Recht haben, über ihre Zukunft selbst zu entscheiden. Die inzwischen vollzogene Bildung eines gemeinsamen Komitees aus allen kurdischen Organisationen könnte dafür eine gute Voraussetzung sein. Vertreterinnen und Vertreter des kurdischen Volkes gehören an den Tisch einer Nahost-Friedenskonferenz. Dafür sollte sich die Bundesregierung schnellstmöglich einsetzen. Nur so kann eine gerechte, friedliche und dauerhafte Lösung für die gesamte Region erreicht werden. Ein letzter Satz: Ich bin sehr damit einverstanden, Herr Duve und Herr Lummer, daß es sich um einen gemeinsamen Antrag handeln sollte, den wir eines Tages zustande bringen. Lassen Sie uns damit einen Beitrag dazu leisten, daß das Martyrium des kurdischen Volkes endlich beendet wird, indem wir eintreten für die Linderung der Leiden der Giftgasflüchtlinge und -opfer sowie für das Recht des kurdischen Volkes auf ein Leben in Würde! Danke für die Aufmerksamkeit. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Abgeordnete Burkhard Zurheide.

Burkhard Zurheide (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002610, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor drei Jahren gingen irakische Streitkräfte massiv gegen kurdische Aufständische vor. Das Regime in Bagdad setzte dabei sogar Giftgas ein, dem kurdische Zivilbevölkerung zum Opfer fiel. Wir erinnern uns alle der furchtbaren Bilder, die damals um die Welt gingen. Es handelte sich dabei weder um den ersten noch um den einzigen verbrecherischen Akt Saddam Husseins, es handelte sich dabei aber um einen besonders widerwärtigen. Nach Beendigung des Golfkrieges versuchen die im Irak lebenden und brutal unterdrückten Kurden, die ihnen vorenthaltenen Rechte zu erkämpfen. Wer von uns wollte nicht Sympathien für dieses Volk empfinden, wenn es darum kämpft, die ihm als ethnischer Minderheit zustehenden Rechte zu erhalten? Die Bundesrepublik Deutschland ist dabei verpflichtet, das in ihren Möglichkeiten Stehende zu tun, damit die Kurden durch Ausübung ihrer Tradition, ihrer Kultur, ihrer Religion und ihrer Sprache ihre Identität verwirklichen können. ({0}) Das kurdische Volk - die Schätzungen reichen über 20 Millionen Menschen hinaus - ist von einem bewundernswerten ethnischen und kulturellen Überlebenswillen, aber auch von Tragik überschattet, von der wir uns nur schwer eine Vorstellung machen können. Es ist durch die unglückselige Fügung der Geschichte auf insgesamt fünf Staaten verteilt; es hatte niemals die Chance, in einem eigenen Staat zu leben. Diese Zersplitterung kann nun aber nicht einfach mit einem Federstrich beseitigt werden. Gleichwohl, so meine ich, ist es wichtig, für dieses Problem in der Öffentlichkeit ein Bewußtsein zu erzeugen. Während sich andere ethnische Gruppen in ein vergleichbares Schicksal fügten und letztlich unter Verlust ihrer Identität in den größeren nationalen Einheiten aufgingen, hat das kurdische Volk seinen Selbstbehauptungswillen immer wieder, teilweise aber auch unter Überschreitung der friedlichen Mittel bekundet. Wir als Teil der westlichen Staatengemeinschaft können nur immer wieder an alle Beteiligten appellieren, von den Mitteln der Gewalt, der Repression und des Guerillakrieges abzulassen. Wir betrachten es als einen wichtigen Schritt zur Lösung der Kurdenfrage, wenn in der Türkei, in der immerhin zwei Drittel der etwa 20 Millionen Kurden leben, deutliche Verbesserungen der Situation der kurdischen Minderheit absehbar sind. Das von der türkischen Militärregierung im Jahre 1983 verfügte Verbot der kurdischen Sprache ist bzw. wird in Kürze aufgehoben. Den Kurden soll nach Ankündigung des türkischen Staatspräsidenten Ozal ermöglicht werden, ihre Muttersprache sprechen zu können. Der Deutsche Bundestag sollte die türkische Regierung ermutigen, auf diesem Wege weiterzugehen. Das türkische Kulturministerium gab bekannt, daß das kurdische Newroz-Fest in diesem Jahr erstmals landesweit gefeiert werden dürfe. Der türkische Kulturminister sprach die Hoffnung aus, dieses Fest möge der Menschheit Frieden, Liebe, Brüderlichkeit und Toleranz bescheren. Ich zitiere den Bundesaußenminister sinngemäß, wenn ich statt über Gorbatschow über Ozal sage: „Nehmen wir ihn, nehmen wir die Türkei beim Wort", und schauen wir kritisch darauf, ob diese Versprechungen auch erfüllt werden. ({1}) Es reicht dabei allerdings nicht aus, lediglich den Gebrauch der kurdischen Sprache zu gestatten; ({2}) vielmehr muß die Bevölkerung die Möglichkeit haben, die kurdische Sprache in der Schule oder in anderen Bildungseinrichtungen zu erlernen. Darüber hinaus schließt der Gebrauch der Sprache auch ihre Anwendung im täglichen Leben ein. Das heißt, die Kurden müssen auch die Möglichkeit haben, z. B. eine Zeitung in ihrer eigenen Sprache herauszugeben. Uns sollte es darauf ankommen, daran mitzuwirken, daß die kurdischen Minderheiten in den Ländern, in denen sie beheimatet sind, gleiche Rechte wie die dort lebenden jeweiligen Mehrheiten erhalten. Der Schlüssel zur Lösung der Kurdenfrage liegt nach unserer Auffassung allerdings nicht in der Schaffung eines kurdischen Nationalstaates auf Kosten der bestehenden Staaten, zumal z. B. die kurdischen Oppositionsparteien im Irak selber die staatliche Integrität des Iraks nicht in Frage stellen. Vielmehr fordern sie lediglich, aber auch immerhin, echte Autonomie in einem irakischen Staatsverband. Es ist wenig bekannt, daß die Belange der irakischen Kurden verfassungsrechtlich abgesichert sind. Im Jahre 1974 wurde in die irakische Verfassung ein Autonomiestatus eingeführt, und die Kurden wurden als ethnische Minderheit anerkannt. Für eine Regierung in der Ära nach Saddam Hussein muß dies Verpflichtung sein, die Rechte dieses Volkes im Rahmen der politischen und sozialen Verhältnisse des Iraks weiter auszubauen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich verkenne dabei nicht, daß dies eine Politik der kleinen Schritte ist. Ungeduld und blinder Eifer können hier nur schaden. Dennoch wird es unsere Aufgabe sein, die jeweiligen Regierungen an die Grundforderungen zu erinnern und immer wieder auf die Verwirklichung der den Kurden zustehenden Menschenrechte hinzuweisen. ({3}) Darüber hinaus sollten wir weiterhin den kurdischen Giftgasopfern und ihren Hinterbliebenen humanitäre und medizinische Hilfe leisten. ({4}) Ich darf daran erinnern, daß die Bundesregierung in einer Vielzahl von Fällen sowohl bilateral als auch auf EG-Ebene eine entsprechende Hilfe geleistet hat. Wir werden uns jedenfalls dafür einsetzen, daß dies auch zukünftig geschehen wird. Vielen Dank. ({5})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege, ich finde es außerordentlich sympathisch, wie die FDP mit ihren Novizen umgeht. ({0}) Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Ursula Fischer.

Dr. Ursula Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000557, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor wenigen Tagen jährte sich zum drittenmal das Giftgasmassaker von Halabja, das - von der irakischen Regierung geplant und befohlen - innerhalb weniger Minuten 5 000 kurdische Kinder Frauen und Männer wie Insekten tötete und eine Massenflucht von Zehntausenden von Kurden in die umliegenden Länder auslöste. Zwar blieb diese Tragödie von der Öffentlichkeit nicht unbeachtet, europäische Parlamente reagierten mit klaren Verurteilungen derart skrupelloser und menschenunwürdiger Methoden, versprachen auch materielle Hilfe bei der Betreuung der Flüchtlinge. Der Schock und die Erschütterung vieler Menschen angesichts der unfaßbar grausigen Bilder waren sicherlich ehrlich gemeint und empfunden. Aber in den vergangenen drei Jahren hat sich die Lage der Kurden nicht verbessert - davon konnte ich mich in der Zeit vom 4. bis zum 14. Februar 1991 in der Türkei überzeugen - , sondern verschlechtert. Unbeeindruckt von verbaler europäischer Entrüstung, die die Verletzung des Völkerrechts und der Menschenrechte kritisierte, setzten die Regierungen des Iraks und der Türkei ihre Vernichtungsstrategien gegen die Kurden fort. Zwangsumsiedlungen, Repression, Terror und Folter gingen praktisch unter den Augen der Europäer weiter, ohne daß sich mehr als vereinzelte Stimmen dagegen ausgesprochen hätten. Die türkische Regierung konnte es sogar wagen, vor dem Europäischen Parlament in Straßburg bestimmte Menschenrechte für den Osten des Landes aufzuheben und die Osttürkei von den im Rahmen der KSZE vereinbarten Maßnahmen zum Abbau konventioneller Waffen auszunehmen. Das Gewissen der Welt hatte die Kurden praktisch vergessen. Im Zusammenhang mit dem Golfkrieg wurde die Kurden-Thematik wieder deutlicher in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt. Das Problem der Kurden ist ausgesprochen komplex und vielschichtig. Man wird ihm nicht gerecht, wenn man es nicht in seiner historischen Dimension erfaßt, als ein Beispiel für ungelöste Nationalitätenfragen in der Dritten Welt und einen brisanten Konfliktstoff im Mittleren Osten. Die vielbeschworene „Lösung" des Kurden-Problems ist in aller erster Linie eine Angelegenheit der Kurden selbst. Die einzige Richtlinie kann sein, daß die Kurden wie jedes Volk der Welt das Recht auf Selbstbestimmung und auf die Respektierung der Menschenrechte haben. Das bedeutet, daß den Kurden weder von einzelnen Staaten noch von Interessengruppen vorgeschrieben werden kann und darf, wie sie ihre Probleme lösen sollen. Die einzige Verantwortlichkeit der Weltöffentlichkeit besteht meiner Meinung nach darin, eine friedliche und demokratisch gerechte Lösung zu ermöglichen. Die UNO erhielte so die Chance, nach ihrem offenkundigen Versagen im Golfkrieg endlich ihrer Rolle gerecht zu werden und sich diesmal tatsächlich für Völker- und Menschenrecht statt für Hegemonialbestrebungen einzelner Mächte einzusetzen. In diesem Sinne hätte auch Deutschland die Chance, wenigstens die Wiederholung begangener Fehler zu vermeiden. Ich spreche bewußt nicht von Wiedergutmachung, weil so viel Leid nicht zu bezahlen, Abertausende von Toten nicht ins Leben zurückzurufen sind. Aber wenn die Bundesregierung ihre umfangreiche Unterstützung für Israel auch aus der eingestandenen Schuld heraus motiviert, durch Rüstungsgeschäfte mit dem Irak ({0}) - was zu beweisen wäre - diesen erst zu einer derartig realen Bedrohung für Israel haben werden zu lassen - wobei diese Argumentation stark vereinfacht ist und an anderer Stelle zu vertiefen wäre - , so ist es meiner Meinung nach nur legitim, dieselbe Bundesregierung an die Verantwortung und die aus ihr erwachsenen Verpflichtungen für das Schicksal der Kurden zu mahnen. ({1}) Auch deutsche Exporte halfen das Giftgas zu produzieren, das wie in Halabja unschuldige Menschen bestialisch massakrierte. Auch deutsche - sowohl von seiten der DDR als auch von seiten der BRD - finanzielle und materielle Hilfe und politische Duldung ermöglichen es der türkischen Regierung, Menschenrechte für ganze Regionen offiziell auszusetzen und gegen die kurdische Bevölkerung mit Terror, Repression und Mord vorzugehen. Es wird dieser Tage viel von der neuen Rolle Deutschlands und der gewachsenen Verantwortung dieses Landes im internationalen Kräfteverhältnis gesprochen. Dieses Deutschland macht sich unglaubwürdig und schuldig, wenn es die Zusammenarbeit mit dem NATO-Partner Türkei trotz Menschenrechtsverletzungen, Verfolgung und Ermordung von Kurden durch den türkischen Staat fortsetzt und durch die Weiterführung von Rüstungsexporten - unter welchem Namen auch immer - heute den Grundstein dafür legt, daß schon bald ein anderer Diktator dieser Welt über seinen Nachbarn herfällt, der dann im Namen des Völkerrechts „zwangsabgerüstet" werden muß. Wenn Deutschland seiner Rolle gerecht werden will, dann nur durch entschiedene und konsequent friedliche Einflußnahme auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet, in regionalen und internationalen Organisationen in dem Sinne, daß das Recht des kurdischen Volkes auf Selbstbestimmung und Respektierung der Menschenrechte garantiert wird. An einer wie auch immer gearteten, von den Völkern der Region selbstbestimmten Friedensordnung und ihrer Ausarbeitung müssen die Kurden unbedingt beteiligt werden, und zwar durch von ihnen selbst einzusetzende Vertreter, die eventuell im Rahmen des in Vorbereitung befindlichen Kurdischen Nationalkongresses benannt werden. Themen wie das heute behandelte Kurdenproblem, das von seinem Wesen her sowohl den entwicklungspolitischen Bereich als auch den Bereich der Menschenrechte berührt, bedürfen nicht nur einer möglichst breiten Erörterung; vielmehr kann und muß die Lösungsfindung ein überparteilicher Prozeß sein. Wenn aus solchen Themen einzelne politische Kräfte bewußt ausgegrenzt werden und/oder die globale Bedeutung dieser Themen zu engstirnigen politischen Profilierungsversuchen mißbraucht wird, muß die politische und moralische Glaubwürdigkeit eines derartigen „Engagements" in Zweifel gezogen werden. Darüber kann man sich ja unterhalten. Die Abgeordneten der PDS/Linke Liste unterstützen die Idee der Entsendung einer ParlamentarierDelegation zur Untersuchung von Berichten über die Situation der Kurden in der Türkei, die Vorkommnisse in Türkisch-Kurdistan während des Golfkrieges - ich war in der Nähe von Silopi - und die aktuelle Situation in Türkisch-Kurdistan. Wir fordern den Deutschen Bundestag auf, der Initiative des belgischen Parlaments zu folgen, die die Überweisung der Kurdenproblematik an die UNOVollversammlung anstrebt. Als einen kurzfristig zu realisierenden Beitrag zur Verbesserung der Lage der Kurden im irakischen Kurdistan

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin - Dr. Ursula Fischer ({0}): - - ich komme gleich zum Ende ({1}) fordere ich Sie auf, den dringenden Hilferuf der in Frankfurt am Main ansässigen medizinischen Hilfsund Menschenrechtsorganisation Medico International vom 21. März 1991 zu unterstützen. Wir unterstützen vor allem den Antrag der Abgeordnetengruppe des Bündnisses 90/GRÜNE und sind für die Überweisung in die Ausschüsse zur gründlichen Diskussion.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Nun langt es wirklich.

Dr. Ursula Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000557, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich war, weil das Thema sehr ernst ist, in dieser Kurzdebatte bei allen Rednern großzügig. Ich habe niemanden unterbrochen. Aber Sie haben es wirklich überstrapaziert, Frau Kollegin. Das macht es ein bißchen unfair gegenüber den anderen. Das Wort hat Herr Staatsminister Helmut Schäfer.

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin, Sie sind zu kurz in diesem Parlament, um zu wissen, was und wie oft hier über die Kurden gesprochen worden ist - ich bin gerne bereit, Ihnen die Protokolle zuzuleiten - ; ich tue das seit 1988. Ich darf Sie auch darauf aufmerksam machen, daß, längst bevor das belgische Parlament auf die Idee verfiel, deutsche Parlamentarier etwa der GRÜNEN in der vergangenen Wahlperiode dort gewesen sind. Auch Herr Kollege Hirsch von der FDP war dort. Sie können das gerne wieder tun. Ich würde Ihnen aber empfehlen, dabei vielleicht auch die Türkei, d. h. auch die Hauptstadt, zu besuchen. Denn Sie können nicht einfach nur in eine Kurdenprovinz reisen, sondern Sie müssen sich auch einmal über die Hintergründe bestimmter Entwicklungen in der Türkei und über die Tätigkeiten bestimmter Organisationen der Kurden informieren. ({0}) Herr Kollege Duve, ich habe vorhin Ihren ersten Satz mit Überraschung gehört. Sie haben gesagt, die zentrale Frage des Nahostproblems sei die kurdische Frage. War das richtig? So habe ich Sie verstanden. ({1}) Ich wollte nur sagen, ich dachte, Sie hätten die Palästinenser gemeint und die Kurden genannt. ({2}) Mir ist auch aufgefallen, meine Damen und Herren, daß das Thema der Palästinenser offensichtlich in keinem Ihrer Anträge vorkommt. Ich stelle das nur fest. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich im Gegensatz zu Debatten über die Kurden in den letzten vier Jahren schon an einer Debatte über diese Frage teilgenommen habe. Ich darf das hier einmal sehr deutlich sagen. ({3}) - Ich darf, weil gesagt wurde, wir hätten uns hier der Kurden noch nicht angenommen, nur sagen: Wir sind jetzt bei dem Problem der Kurden, das sehr wichtig ist. Aber Sie haben von einem zentralen Problem im Nahen Osten gesprochen. Da, meine ich, gibt es andere, die möglicherweise mindestens so zentral sind und auch zur Lösung des Problems beitragen müssen. Meine Damen und Herren, ich glaube, daß im Augenblick sehr schwer einzuschätzen ist, was die Lage im Innern des Irak für die Kurden bedeutet. Sie wissen, daß es inzwischen ganz erhebliche kurdische Landgewinne gegeben hat. Die Stadt Kirkuk ist in der Hand der Kurden; zumindest wurde uns das durch die Mitteilungen des Fernsehens bekannt. Wir wissen, daß darüber hinaus ein ganzer Teil der Nordprovinz des Irak von den Kurden besetzt worden ist. Saddam Hussein hat in seiner Rede vom 16. März auch dieses Thema angesprochen. Er hat den Kurden vorgeworfen, daß sie sich - wie es so schön heißt - zu Agenten der Ausländer machten oder sich auf Hilfe und falsche Versprechungen einließen. Aber wir wissen auch, daß sich die Kurden inzwischen mit anderen Oppositionellen im Irak getroffen haben. Es gab ja, wie Sie wissen, Gespräche, bei denen deutlich geworden ist, daß eine Zusammenarbeit, die es früher nicht gab, zwischen Kurden und anderen Kräften im Irak stattfindet und daß es all denen darum geht, die Regierung Saddam Hussein abzulösen. Ich glaube, daß wir trotz allem - wir sind immer für eine echte Autonomie der Kurden eingetreten - auch in diesem Parlament an der territorialen Integrität des Irak festhalten müssen. Ich glaube nicht, daß es darauf ankommt, einen Kurdenstaat durch die Herauslösung von Territorien aus den von Ihnen genannten fünf Staaten - es sind eigentlich sechs; vor allem sind drei betroffen - zu konstruieren. Dieses Herauslösen von Territorien wird keiner dieser Staaten jemals mitmachen. Es geht aber darum, den Kurden die Autonomie zu sichern - das kam ja bei allen Beiträgen zum Ausdruck - , die notwendig ist, damit diese Menschen so leben können, wie es ihnen gebührt. Ich meine, es ist andererseits darauf hinzuweisen, daß gerade in der Osttürkei bestimmte Reaktionen der türkischen Regierung - auch über diese haben wir hier schon wiederholt gesprochen - auf Aktionen beispielsweise der PKK zurückzuführen sind, die in gar keiner Weise zu billigen sind. Ich glaube, auch hier müßten Sie, wenn Sie schon dort hinfahren wollen, sich ein sehr genaues Bild machen und sich wirklich informieren, woraufhin Sie merken werden, daß die Lage etwas differenzierter ist, als es hier zumindest in Ihrer Rede angeklungen ist. Es darf ja vielleicht auch einmal gesagt werden - das spricht ja nun nicht unbedingt nur gegen die Türkei, die ich hier im Hinblick auf bestimmte Entwicklungen gegenüber den Kurden gar nicht verteidigen will - , daß ein großer Teil der kurdischen Bevölkerung längst aus seinen angestammten Gebieten in die wohlhabenderen Teile der Türkei, also nach Westen, abgewandert ist. Es darf auch darauf hingewiesen werden, daß es immerhin Kurden in der türkischen Regierung und im türkischen Parlament gibt. Mein Kollege Staatsminister im Auswärtigen Amt in Ankara ist Kurde. Er ist seit vielen Jahren im Amt und hat sehr viele Außenminister überstanden. Meine Damen und Herren, unabhängig davon stimme ich dem zu, was hier gesagt worden ist. Wir müssen auch dazu beitragen, den Kurden zu helfen. Wir haben das immer wieder getan. Ich darf hier noch einmal Zahlen nennen. Wir haben bis zum Herbst 1990 3,8 Millionen DM Hilfe geleistet. Wir haben zum Jahreswechsel bei Einbruch des Winters nach den großen Flüchtlingsbewegungen aus dem Irak in die Türkei 2 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Wir wissen, daß bei einer politischen Lösung dieses Flüchtlingsproblems ganz entscheidend sein wird, daß die Menschen, die zurück wollen, auch wieder zurückgehen können. Ich glaube, daß das Gespräch, das in der letzen Zeit zwischen irakischen Kurdenführern und der türkischen Regierung über Vorstellungen der Kurden zu einem zukünftigen Autonomiestatus im Irak stattgefunden hat, ein Indiz dafür ist, daß nur der Weg des Dialogs und der Verständigung in dieser sehr schwierigen Frage weiterhelfen kann. Wir werden dieses Thema nicht zum letztenmal angesprochen haben, schon deshalb nicht, weil wir uns hier mit dem Problem nur verbal beschäftigen. Es ist ein sehr schwieriges Problem, und es ist nicht das einzige Minderheitenproblem, das uns in dieser Region zu schaffen machen wird. Aber wir stehen hier sicher zusammen. Ich darf Sie als Parlamentarier ausdrücklich ermuntern, bei Ihren Bemühungen vor allem auch in Ankara mit dazu beizutragen, den mit Ihnen verbundenen Parteien Mut zu machen, daß Sie gewisse Reformen, die Herr Özal begonnen hat, fortsetzen und daß das, was über die Sprachenregelung hinausgehen könnte, mutig weiterverfolgt wird, auch im Interesse der Bemühungen der Türkei, in Europa mehr Fuß zu fassen. Vielen Dank. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 12/279 und 12/282 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 22. März 1991, 9.00 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.