Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/23/1993

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet. Ich habe das Vergnügen, eine Delegation des schwedischen Reichstags auf der Diplomatenbühne zu begrüßen. ({0}) Präsidentin Ingegerd Troedsson hat dort oben mit ihrer Delegation Platz genommen. Ich freue mich, daß Sie zunächst einmal das neue Bundesland Thüringen besucht haben, und hoffe, daß Sie positive Eindrücke mitgenommen haben. Die Gespräche in Bonn werden hoffentlich so produktiv sein, wie Sie sich das wünschen. In jedem Fall werden bei diesem Besuch noch einmal die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Parlamenten und zwischen den beiden Ländern zum Ausdruck gebracht. Wir wünschen Ihnen alles in allem großen Erfolg und auch ein wenig Vergnügen bei Ihrem Besuch in Schleswig-Holstein - das ist ja der nächste Ort Ihrer Reise -, Frau Präsidentin, meine Herren. Meine Damen und Herren, die Kollegin Dr. Liesel Hartenstein feierte am 20. September ihren 65. Geburtstag, der Kollege Graf Waldburg-Zeil ebenfalls am 20. September seinen 60. Geburtstag. Ich möchte beiden im Namen des Hauses - ich hoffe, mit Ihrer Zustimmung - herzlich gratulieren. ({1}) Nun habe ich noch etwas Technisches bekanntzugeben: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: 1. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zur Lehrstellensituation in Deutschland ({2}) 2. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ursula Fischer, Dr. Hans Modrow, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste Zu den Verhandlungen über eine Friedenslösung im Nahen Osten - Drucksachen 12/3237, 12/5524 3. Aktuelle Stunde: Begründung der Bundesregierung für ihr Fernbleiben von vereinbarten Verhandlungen am 18. September 1993 über ein Pflegegesetz 4. weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({4}) a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.: Bericht über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksache 12/5713 - b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5}) zu der Verordnung der Bundesregierung Zweiundzwanzigste Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes ({6}) - Drucksachen 12/5424, 12/5718 - c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({7}) zu der Verordnung der Bundesregierung: Aufhebbare Achtundzwanzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 12/5207, 12/5727 5. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.: Lage der bosnischen Kriegsflüchtlinge - Drucksache 12/5714 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Poppe, Vera Wollenberger, Werner Schulz ({8}) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zur aktuellen Situation im Krieg in Bosnien-Herzegowina - Drucksache 12/5729 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Poppe, Werner Schulz ({9}), Dr. Wolfgang Ullmann, Vera Wollenberger und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aufwertung und Demokratisierung der Vereinten Nationen - Drucksache 12/5728 8. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zur Lage der Kurden in der Türkei im Rahmen ihrer Gespräche mit der türkischen Ministerpräsidentin Çiller 9. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({10}) zu dem Gesetz über das Aufspüren von Gewinnen aus schweren Straftaten ({11}) - Drucksachen 12/2704, 12/2747, 12/5298, 12/5421, 12/5720 10. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({12}) zu dem Gesetz zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten ({13}) - Drucksachen 12/4902, 12/5081, 12/5191, 12/5235, 12/5228, 12/5420, 12/5721 11. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({14}) zu dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Berufsbildungsförderungsgesetzes - Drucksachen 12/3197, 12/4831, 12/5225, 12/5722 15116 Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Zugleich soll von der Frist für den Beginn der Beratung, soweit dies bei einzelnen Punkten der Tagesordnung überhaupt erforderlich ist, abgewichen werden. Außerdem soll der Tagesordnungspunkt 10, Sofortmaßnahmen zur Durchsetzung friedlicher Verhandlungslösungen im ehemaligen Jugoslawien, bereits nach Tagesordnungspunkt 7 aufgerufen werden. Des weiteren darf ich Ihre Zustimmung für eine nachträgliche Ausschußüberweisung, die im Anhang der Zusatzpunktliste zu finden ist, erbitten: Der in der 174. Sitzung des Deutschen Bundestages am 10. September 1993 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Ausschuß für Verkehr zur Mitberatung überwiesen werden: Gesetzentwurf der Bundesregierung Erstes Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms - 1. SKWPG - Drucksache 12/5502 -Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß ({15}) Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Ich nehme an, daß Sie mit all diesen Vorschlägen, die mir die Verwaltung aufgeschrieben hat, einverstanden sind. - Das ist offensichtlich der Fall. Dann darf ich das als beschlossen feststellen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b und den Zusatzpunkt 2 auf: 3. a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zum Friedensprozeß im Nahen Osten b) Vereinbarte Debatte zum Friedensprozeß im Nahen Osten ZP2 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({16}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ursula Fischer, Dr. Hans Modrow, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste Zu den Verhandlungen über eine Friedenslösung im Nahen Osten - Drucksachen 12/3237, 12/5524 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Freiherr von Schorlemer Dr. Olaf Feldmann Zur Regierungserklärung liegen je ein Entschließungsantrag von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor. Interfraktionell wird vorgeschlagen, daß wir eine Debattenzeit von einer Stunde vereinbaren. Ich gehe davon aus, daß das Haus damit einverstanden ist, weil sich kein Widerspruch ergibt, und darf auch dies als beschlossen feststellen. Somit erteile ich nunmehr zur Abgabe einer Regierungserklärung dem Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel, das Wort.

Dr. Klaus Kinkel (Minister:in)

Politiker ID: 11002696

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst etwas zu den Ereignissen in Moskau sagen, die die Welt seit Dienstagabend in Atem halten. Präsident Jelzin versucht, sein Land auf demokratischem Wege, d. h. über baldige Wahlen, aus einer ausweglos festgefahrenen Situation herauszuführen und zu einer Verfassungsreform zu kommen. Das Referendum hat gezeigt, daß das russische Volk einen gewaltfreien und demokratischen Weg aus der Pattsituation der Verfassungsorgane wünscht. Es wird von Stunde zu Stunde deutlicher, daß die Bevölkerung und die entscheidenden Kräfte in Rußland hinter Präsident Jelzin stehen. Das Land ist ruhig, Spannungen werden nicht gemeldet. Armee, Sicherheitskräfte und Regionen stehen zu Jelzin. Ich finde, das ist ein ermutigendes Zeichen politischer Reife und Vernunft. ({0}) Präsident Jelzin stützt sich auf seine Legitimität als freigewählter Präsident und auf das Referendum als Beleg des Wählerwillens. Er verweist auf den breiten Konsens wichtiger politischer Gruppen. Die Festlegung eines frühen, ja, wahrscheinlich noch früheren Wahltermins zeigt, daß er es mit der Demokratie ernst meint. Deshalb hat er als Verkörperung der Reformpolitik für seine Schritte weltweit Unterstützung erhalten, auch von seiten der Bundesregierung. Wir unterstützen weiter die Reformbemühungen und vertrauen auf seinen Willen, Rußlands Weg hin zu Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft unumkehrbar zu machen. Außenminister Kosyrew hatte die G-7-Vertreter in Moskau, also auch uns, vorab über die Schritte Jelzins informiert und unterrichtet. Bundeskanzler Kohl hat vorgestern nacht mit Präsident Clinton unsere Haltung abgestimmt. Ich stehe in engem Kontakt mit Außenminister Kosyrew und den wichtigsten westlichen Partnern. Schon nächste Woche wird in New York Gelegenheit sein, anläßlich der Eröffnung der UNO-Generalversammlung die neueste Entwicklung zu erörtern und über eventuelle gemeinsame Hilfsmaßnahmen zu sprechen. Der Erfolg der Reformpolitik liegt zuallererst im Interesse der Menschen in Rußland. Er hat aber auch große Auswirkungen auf die internationale Lage. Die jetzige, nicht unkritische Lage muß für alle westlichen Staaten eine Mahnung sein, Rußland bei seinem schweren Gang aus der sozialistischen Hinterlassenschaft zu helfen. Deutschland hat sich hierbei mehr als andere engagiert. ({1}) Wir werden der Anwalt für diese Hilfe bleiben und können, wie ich finde, alle nur hoffen, daß sich die Reformkräfte endgültig duchsetzen. ({2}) Meine Damen und Herren, das Ende des Ost-West-Konflikts und der demokratische Neubeginn in Moskau haben auch für eine Lösung des Nahostkonflikts neue Voraussetzungen geschaffen. Jetzt wurde dort das Tor für Frieden aufgestoßen, und die Vereinbarung, die unter den Augen von Präsident Clinton am 13. September zwischen der israelischen Regierung und der Palästinensischen Befreiungsorganisation feierlich unterzeichnet wurde, hat den Weg für die Aussöhnung zwischen den Israelis und den Palästinensern freigemacht. ({3}) Das ist ein Signal der Ermutigung über die Region hinaus. Diejenigen im Nahen Osten, im ehemaligen Jugoslawien und in anderen Konfliktherden, die weiterhin auf Krieg und Gewalt setzen, sollten begreifen: Die Freiheit, das Selbstbestimmungsrecht, die Menschenrechte, das Lebensrecht eines Volkes lassen sich auf Dauer weder einmauern noch mit Terror unterbinden. ({4}) Wir Deutschen freuen uns über diesen Durchbruch zum Frieden ganz besonders. Wir haben dem jüdischen Volk unendliches Leid angetan, und die Geschichte des Heiligen Landes ist mit unserer eigenen untrennbar verbunden. Der 1948 gegründete Staat Israel ist für uns zur Mahnung, aber auch zu einer gelebten Verpflichtung geworden, begangenes Unrecht wiedergutzumachen und besonders nachdrücklich dafür einzutreten, daß Juden fortan in Sicherheit leben können. ({5}) In den fast 30 Jahren unserer offiziellen Beziehungen mit Israel haben wir uns bemüht, gerade diese Verpflichtung einzulösen. Aber das Heilige Land ist nicht nur das verheißende Land des jüdischen Volkes, sondern zugleich auch die Heimat der Palästinenser, von denen zu viele ebenfalls heimatlos und in alle Welt verstreut wurden. Ministerpräsident Rabin hat hierauf in Washington hingewiesen, als er sagte, Israelis und Palästinenser seien dazu bestimmt, auf ein und demselben Boden, in ein und demselben Land zusammenzuleben. Es hat fast hundert Jahre gedauert, diese Einsicht zur Grundlage des Friedens zu machen. Um so größer ist unser Respekt vor Präsident Rabin und PLO-Präsident Arafat, die diesen Schritt, zu dem wir sie beglückwünschen, jetzt getan haben. ({6}) Die Mehrheit der Juden und der Palästinenser wünscht sich nichts sehnlicher als ein Leben ohne Angst und in Frieden, eine sichere Zukunft für sich und ihre Kinder. Rabin und Arafat haben dies erkannt. Was noch wichtiger ist: Sie hatten den Mut, aus dieser Erkenntnis heraus den Frieden zu wagen. Der lange Weg zum Frieden wurde in Camp David begonnen. Viele haben seither Hilfestellungen, Hilfeleistungen erbracht, damit die Erklärung von Washington möglich wurde. Präsident Bush, sein Außenminister Baker haben sich ebenso wie Präsident Clinton und Außenminister Christopher unermüdlich dafür eingesetzt, daß dieser Friedensprozeß nicht zum Erliegen kam. Der norwegische Außenminister Holst hat durch sein engagiertes und gekonntes Agieren dem Frieden, seinem Land und auch dem Ansehen der Diplomatie einen großen Dienst erwiesen. Ihnen allen gebührt heute Respekt und Dank. ({7}) Meine Damen und Herren, in Washington wurde folgender Friedensrahmen vereinbart: Erstens. Die Aufnahme von Verhandlungen über eine fünfjährige palästinensische Übergangsverwaltung auf dem Gebiet der Westbank und des Gazastreifens unter Ausschluß von Jerusalem. Zweitens. Die Wahl eines palästinensischen Rats zur Wahrnehmung der Verwaltungsaufgaben, wobei sich Israel Sicherheitsfragen, Außenbeziehungen und die Verwaltung seiner Siedlungen vorbehält. Drittens. Der Rückzug der israelischen Streitkräfte aus Gaza und Jericho binnen zwei Monaten. Viertens. Verhandlungen über den endgültigen Status von Westbank und Gaza während der fünfjährigen Übergangszeit. Ja, es ist richtig: Viele wichtige Einzelfragen bleiben noch offen und zu regeln: der Umfang des autonomen Jericho, das Ausmaß des Truppenrückzugs aus Gaza und Jericho, die Stärke der palästinensischen Polizei, Arbeitsgenehmigungen für Einwohner aus Gaza und Jericho in Israel, Verbindungen und Reisefreiheit zwischen beiden Gebieten und ins Ausland, der Aufbau von Behörden und die Organisation von Wahlen. Es muß auch festgestellt werden, daß zentrale Fragen auf später verschoben worden sind: die der Flüchtlinge, der israelischen Siedlungen und natürlich auch die Frage Jerusalems. Weiter ist festzuhalten, daß das Abkommen bei vielen Israelis und Palästinensern auch Verunsicherung, Angst, zum Teil heftige Ablehnung ausgelöst hat. Manche sehen die Gefahr eines Rückschlags oder befürchten persönliche Nachteile. Es ist die große Verantwortung der Führung der PLO und der israelischen Regierung, den Menschen diese Ängste zu nehmen und ihnen möglichst schnell die Vorteile des Friedens zu vermitteln. Diejenigen Kräfte, die weiterhin Spannung schüren und gegen die friedliche Koexistenz von Juden, Arabern und Christen auf Kampf und Terror setzen, dürfen sich nicht durchsetzen. ({8}) Der Weg zum Frieden ist im Nahen Osten urumkehrbar geworden. Gemeinsame europäische, aber auch Hilfe durch deutsche Außenpolitik sind gefragt. Es bleibt viel zu tun. Die bilateralen Verhandlungen zwischen Israel und seinen Nachbarstaaten Jordanien, Syrien und Libanon sind noch nicht abgeschlossen. Israel und Jordanien haben sich am 14. September über eine gemeinsame Tagesordnung für ihre weiteren Verhandlungen geeinigt. Die Bundesregierung hofft, daß das Friedenswerk durch Verträge zwischen diesen Staaten bald seinen Abschluß findet und so die große internationale Gemeinschaftsaufgabe in Angriff genommen werden kann, nämlich dem Nahen Osten eine Zukunft der Sicherheit und der wirtschaftlichen Entwicklung für alle seine Bewohner zu ermöglichen. Insbesondere für den leidgeprüften Libanon ist es außerordentlich wichtig, den Wiederaufbau ohne weitere Behinderungen und Erschütterungen in Angriff nehmen zu können. Deutschland, die Europäische Gemeinschaft und die westliche Welt werden den Friedensprozeß auch weiterhin politisch und natürlich auch wirtschaftlich unterstützen. Das Konzept, das wir haben, sieht wie folgt aus. Erstens. Staatssekretär Kastrup hat in meinem Auftrag den Bonner PLO-Vertreter Franghi zu einem ersten intensiven Meinungsaustausch empfangen und ihm unsere Einladung an den PLO-Vorsitzenden Arafat zu einem Besuch in Bonn übermittelt. In Kürze werde ich zusammen mit meinen europäischen Außenministerkollegen in Brüssel mit Herrn Arafat zusammentreffen. Eine wichtige Aufgabe für die nächste Zeit wird die Anpassung des Verhältnisses zur PLO und des Status der PLO-Büros in unseren Ländern an die neue Lage sein. Die PLO trägt künftig die politische Verantwortung nicht nur für Gaza und Jericho, sondern auch für die Fortsetzung der bilateralen und multilateralen Friedensverhandlungen. Wir streben einen kontinuierlichen Dialog mit der PLO in ihrer neuen Rolle in den palästinensischen Gebieten an. Deswegen muß gemeinsam mit unseren EGPartnern die Errichtung einer ständigen Präsenz in Jericho geprüft werden. Zweitens. Eine wichtige Aufgabe wird die politische Abstützung des Friedensprozesses gegenüber denen sein, die ihm nach wie vor kritisch gegenüberstehen. In diesem Sinne habe ich mich mit einer Botschaft an meinen iranischen Kollegen Velayati gewandt und für eine konstruktive Haltung Irans geworben. ({9}) Ich habe mich mit demselben Petitum an meine Amtskollegen in Syrien und Kuwait gewandt: mit der Bitte, den Prozeß konstruktiv zu unterstützen. Drittens. Die europäischen Außenminister haben auf ihrer letzten Tagung mit auf unsere Anregung hin beschlossen, mit Israel beschleunigt ein neues Kooperationsabkommen auszuhandeln, das eine noch intensivere wirtschaftliche Zusammenarbeit ermöglichen soll. Mit Nachdruck wird sich die Bundesregierung für die Aufhebung des Israelboykotts der arabischen Staaten einsetzen. ({10}) Viertens. Die amerikanische Regierung - darüber habe ich gestern mit Außenminister Christopher telefoniert - hat zum 1. Oktober zu einer Geberkonferenz nach Washington eingeladen, an der wir teilnehmen. Zweck ist die Koordinierung der internationalen wirtschaftlichen Unterstützung des Friedensprozesses. Hierbei muß die Europäische Gemeinschaft als größter Geber die tragende Rolle übernehmen. Unsere Hilfeleistungen für die Westbank und Gaza im Haushaltsjahr 1993 betragen 28,6 Millionen DM. Darin sind 15 Millionen DM Mittel der EZ und 13,2 Millionen DM Leistungen an die UNRWA enthalten. Darüber hinaus tragen wir zu den Hilfeleistungen der EG im Jahre 1993 25,5 Millionen DM bei. Auf den Kopf der Bevölkerung gerechnet ist die Hilfe für die Palästinenser schon heute erheblich höher als für die meisten anderen Entwicklungsländer. Eine Erhöhung der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit mit palästinensischen Partnern noch in diesem Haushaltsjahr wird im Augenblick von der Bundesregierung geprüft. Für 1994 sind wir bemüht, die Hilfe gegenüber dem diesjährigen Ansatz substantiell aufzustocken. Ich brauche nicht auf unsere kritische Haushaltslage hinzuweisen, um Ihnen zu sagen, daß das alles nicht so ganz einfach sein wird und die Spielräume nicht sehr groß sind. Aber wir investieren mit dem, was wir geben, auch in unsere eigene Sicherheit, weil Frieden im Nahen Osten eben auch mehr Sicherheit für uns bedeutet. ({11}) Sechstens. Der von uns mitbeschlossene Aktionsplan der EG für die Unterstützung palästinensischer Selbstverwaltung im Gaza und der Westbank sieht kurzfristig die Bereitstellung von 20 Millionen Ecu aus vorhandenen Haushaltsmitteln für den Aufbau von Infrastrukturen und als Hilfe für palästinensische Bildungseinrichtungen vor. Mittelfristig sollen für die fünfjährige Interimsperiode von 1994 bis 1998 zweimal 250 Millionen Ecu als Zuschuß aus EG-Haushaltsmitteln und aus Darlehensmitteln der Europäischen Investitionsbank bereitgestellt werden. Diese Mittel sollen vor allem in den Bereichen Ausbildung, Selbstverwaltungsinstitutionen und Wohnungsbau eingesetzt werden. Siebtens. In Washington wird es darum gehen, eine möglichst breite internationale Hilfsaktion zu mobilisieren. Wir Deutschen werden auch darauf dringen, daß andere Partner wie z. B. die Mitgliedstaaten des Golfkooperationsrates einen angemessenen Beitrag zur Hilfe leisten. ({12}) Achtens. Wir werden die übernächste Sitzung der Arbeitsgruppe „Regionale wirtschaftliche Entwicklung" in Deutschland ausrichten. Diese unter EGVorsitz stehende Arbeitsgruppe muß Impulse für einen wirtschaftlichen Neubeginn in der gesamten Region geben. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit ist ein Muß, wenn der wirtschaftliche Aufbau für alle in der Region gelingen soll. Neuntens. Bilateral habe ich mit meinem israelischen Kollegen Peres in einem Aktionsprogramm eine Intensivierung der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Grundlagenforschung, der Hoch- und der Umwelttechnologie beschlossen. Eine gemischte Wirtschaftskommission soll der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Israel ein neues Profil verleihen. Zehntens. Bei meinen kürzlichen Gesprächen in Kairo und Damaskus stand neben der Intensivierung des politischen Dialogs und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit natürlich auch der Friedensprozeß im Mittelpunkt der Gespräche. In beiden Hauptstädten, aber insbesondere in Damaskus, warb ich um Schritte zur Vertrauensbildung. Meinen syrischen Kollegen Shara'a drängte und dränge ich auf uneingeschränkte Teilnahme Syriens am Friedensprozeß, vor allem in bezug auf die multilateralen Arbeitsgruppen. ({13}) Meine Damen und Herren! Der Nahe Osten war zu einem Symbol für sinnlose Destruktion geworden. Jetzt wird er wieder zum Hoffnungsträger dafür, daß nicht nur Haß und Gewalt, sondern auch die Vernunft ihre Zeit hat. Das bedeutet notwendige Kompromißbereitschaft auf allen Seiten, Verzicht auf eigene überzogene Wert- und Wunschvorstellungen. Wir Deutschen haben dies in unserer jüngeren Geschichte wahrhaftig schmerzlich erfahren. Jetzt sind Israelis, Palästinenser und ihre arabischen Nachbarn gefordert. Wir alle aber sind aufgerufen, Israelis und Palästinenser auf ihrem Weg zum Frieden und gutnachbarschaftlichen Zusammenleben zu begleiten. Noch mancher Stolperstein wird zu überwinden sein, aber ich sage nochmals: Eine Umkehr des Friedensprozesses im Nahen Osten darf es nicht mehr geben, und die Bundesregierung wird auch weiterhin ihren Beitrag zum Friedenswerk im Nahen Osten leisten. Vielen Dank. ({14})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Freimut Duve.

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesaußenminister, wir können und werden Sie in diesem Zehn-Punkte-Plan und in Ihren Absichten kritisch begleiten. Das ist ein Feld, in dem wir oft zusammengearbeitet haben, manchmal unterschiedliche Wege gegangen sind; es gab aber, glaube ich, für uns Deutsche seit Gründung unseres Landes in den wesentlichen Fragen der Nahostpolitik, also des Friedenszieles, keine wesentlichen Differenzen. Um so leichter wird es uns jetzt gemacht, hier gemeinsam vorzugehen. Meine Damen und Herren, Sprache trennt und Sprache verbindet. „Schalom", „Salam" - wir alle kennen diese beiden Worte aus den uns so fremden Sprachen, und wir alle wußten immer, daß der Begriff „Frieden" im Arabischen wie im Hebräischen nahezu wortgleich, klanggleich und inhaltsgleich ist. Die Hisbolla und die Anführer in Teheran sollten jetzt akzeptieren, daß auch das Wort „Islam" für „Frieden" steht, daß es auch „Frieden" heißt. ({0}) Ich freue mich sehr, daß der frühere Staatsminister im Bundeskanzleramt, unser Kollege Hans-Jürgen Wischnewski, heute bei uns ist. ({1}) Seine Arbeit von Amts wegen und seine Arbeit in der Sozialistischen Internationale als Vorsitzender des Nahostkomitees hat sehr stark dazu beigetragen, daß dieses jetzt möglich wurde; denn dies war das erste Gremium, in dem es über Jahre hinweg möglich war, Israelis, Araber und auch Palästinenser in arabischen Tagungsorten an einem Tisch zu haben, was nicht leicht war. Ich glaube, wir sind Hans-Jürgen Wischnewski zu Dank verpflichtet. ({2}) Natürlich bewundern wir die Leistung des norwegischen Außenministers, dies über viele Monate hinweg zustande gebracht zu haben, ohne daß die uns so liebgewordenen und vertrauten Kollegen der Medien es auch nur ahnten. ({3}) Das ist eine große Leistung der Norweger, das ist eine große Leistung der PLO-Führung in Tunis und auch eine große Leistung der israelischen Regierung, das so gemacht zu haben; denn wenn es so nicht gelaufen wäre, wäre es nicht gelaufen. Hans-Jürgen Wischnewski hat in der Fraktionssitzung dieser Woche etwas bitter folgendes gesagt - ich zitiere ihn: Es begann alles damit, daß Golda Meir erklärt hatte, sie kenne kein palästinensisches Volk, und die Palästinenser damals erklärten, Israel müsse wieder von der Landkarte verschwinden. Wir sind heute in aller Welt Zeugen von so viel radikaler Nichtanerkennung der Wirklichkeit überall in der postkommunistischen Welt, daß es vielleicht sinnvoll ist, sich an den Ursprung zu erinnern, wie Hans-Jürgen Wischnewski das gemacht hat, und an den Zwang zum Frieden, den wir jetzt erlebt haben. Dieser Prozeß im Nahen Osten war nicht möglich ohne die schrecklichen Lehren des Golfkrieges, und er war nicht möglich ohne die fruchtbaren Lehren des Helsinki-Prozesses. Jetzt liegt Helsinki nahezu am Toten Meer. Wie lange hat es gedauert, bis die Menschen der Region erkannt haben, wie viele gemeinsame Probleme es gibt, die nicht Israel oder Palästina, nicht Libanon oder Golan heißen, sondern Wasser, Arbeit, Ausbildung, Investitionen, wirtschaft15120 liche Zukunft, Rettung der Natur, friedliche Verbindung zur Außenwelt! ({4}) Wie lange hat es damals gedauert, bis im Helsinki-Prozeß Problemkörbe erkannt und anerkannt wurden, die bedeutsamer wurden als Grenzen! Das war das Geheimnis des Helsinki-Prozesses. Wir Deutschen haben von Willy Brandt gelernt: Wenn es nicht mehr weitergeht und wenn sich gar nichts zum Besseren wendet, wenn andere Instrumente nicht erkennbar sind, dann muß man die Möbel in der Wohnung umstellen, und schon sieht die Welt anders aus. - Genau das hat diese Übereinkunft Arafat/Peres geleistet. Sie haben sich nicht über die Landkarte gebeugt und endgültige Grenzen auszuhandeln versucht, sondern sie haben die Probleme aufgelistet und kein einziges ausgelassen, und sie haben sich den Kalender vorgenommen, sie haben die Zeitachse ausgehandelt und nicht den Grenzverlauf. Das ist die Weisheit dieses Papiers. Deshalb ist es jetzt auf allen Seiten so schwer, zu sagen: Da ist aber Verrat begangen worden. Ich habe es selber in Bir Zeit an der Universität vor 14 Tagen erlebt. Es ist für die radikalen Studenten sehr schwer, präzise zu sagen, wo denn der Verrat liegt. Denn es geht um einen Prozeß und nicht um eine endgültige Festlegung. Das heißt, jetzt sind zwei Uhren gestellt worden, eine Kurzzeit- und eine Langzeituhr. Kurzzeit heißt, die Menschen in den Gebieten beider Partner müssen rasch materiell und auch seelisch Ergebnisse wahrnehmen können. Da ist viel von Europa und viel vom Außenminister heute morgen gesagt worden. Die Menschen in Gaza müssen den Aufbau von wirtschaftlichen und sozialen Chancen, die Menschen in Israel den Abbau von Spannung, von Militär, von Angst erleben. Hoffnung in Palästina muß aufgebaut, Angst in Israel abgebaut werden. Das brauchen beide, und dabei können und müssen wir beiden helfen, jetzt und ganz konkret. Das wird nicht so furchtbar viel kosten. Es gibt andere Dinge, die wir uns vorgenommen haben, die wesentlich mehr kosten. Aber die Wirkung wird sehr, sehr groß sein, möglicherweise größer noch als die mancher anderer Dinge, die uns sehr viel kosten. Das darf auch nicht ein Partner, nicht Washington, nicht Bonn, allein machen, sondern wir müssen es zusammen machen. Wir müssen aber nicht alle dasselbe machen. Es muß dreierlei gelten: erstens autonomes Handeln der Palästinenser und ihrer Repräsentanten, keine Vorschriften, was dort geschieht, zweitens Kooperation mit dem ungeheuren Know-how der Israelis. Die Israelis sollten an dem, was alles gemacht werden kann und wo sie eine große Erfahrung haben, beteiligt werden. Dies betrifft z. B. Kooperation beim Knowhow, bei Entsalzungsanlagen, beim Verwandeln der Lager und Slums in moderne Siedlungen. Warum soll es denn nicht möglich sein, die 40jährigen Flüchtlingslager in ähnliche Siedlungen wie j ene zu verwandeln, die wir in den durch die Israelis besetzten Gebieten gesehen haben? Das dritte Element ist die Hilfe von außen. Also: Autonomie, regionale Kooperation und Hilfe von außen, von Europa und den USA, sind die drei Pfeiler dieses Prozesses. Keiner der Beteiligten sollte glauben, er könne es allein machen. Vor allem die Hilfe von außen muß immer mit beiden Partnern abgestimmt werden. ({5}) - Völlig richtig, das hat der Außenminister auch gesagt. Ich hoffe sehr und bin überzeugt, daß ein Teil des arabischen Ölgeldes in dieser Region investiert wird. Für die Langzeit gilt: Die jungen Leute müssen Chancen erkennen. Deshalb sind die Stipendien, die Bildungshilfen sehr wichtig, Herr Außenminister. Ich denke, daß wir z. B. bei der Schaffung des eigenen Hafens in Gaza wirksame und gute Hilfe leisten können. Wir haben dazu genügend Consulting-Firmen in Deutschland. Singapur oder Somalia - auf diese radikale Formel brachte ein führender Palästinenser gestern beim Besuch bei uns das künftige Schicksal der Region. Wir können dabei helfen, auch wenn wir wissen, daß das meiste, das Alltägliche die Menschen und die Politik zwischen Jordan und Mittelmeer selber leisten müssen. Ich bin an einem solchen Tag - das wissen manche - persönlich sehr bewegt, weil ich in beiden Welten Beziehungen, auch verwandtschaftliche Beziehungen habe. Ein 40jähriger orthodoxer Jude, Vater von vier Kindern, sagte mir drei Trage nach dem Abkommen in Jerusalem: Weißt du, Jericho gehört zu unserer Geschichte, aber der Frieden gehört noch viel mehr zu unserer Geschichte, und vielleicht müssen auch wir Juden lernen, unsere Geschichte noch einmal richtig zu lesen und zu lernen; für den Frieden muß Jericho aufgegeben werden. Ich habe seit vielen Jahren eine kleine Utopie. Sie heißt nicht nur „Helsinki am Toten Meer", sondern „Brüssel in Jerusalem". Je stärker diese Stadt die Rolle einer Hauptstadt der Region für die wirtschaftlichen, kulturellen und ökologischen Gemeinsamkeiten übernimmt, um so weniger dramatisch wird der Streit um die Hauptstadtfunktion dieser Stadt sein. So wie jetzt die drei Weltreligionen nebeneinander und künftig wieder miteinander in dieser alten Stadt leben, so könnten auch sehr nüchterne Zentralen und Forschungsinstitute für die Lösung des Wasserproblems, die Nutzung der Sonnenenergie, die gemeinsame Gesundheitsfürsorge und viele Dinge mehr in Jerusalem ihr neues Heim finden. Und genau dabei können wir Europäer mit unseren Erfahrungen helfen. Ich denke, daß diese Debatte, daß unsere gemeinsame Entschließung, das Bemühen der Bundesregierung, des Bundesaußenministers alles erste kleine Schritte auf diesem Weg sind, wichtige Schritte. Wir wollen uns beteiligen, und wir werden uns beteiligen. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Lamers das Wort.

Karl Lamers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001273, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Anlaß für diese Debatte ist die Hoffnung auf das Ende eines jahrzehntelangen bitteren Konflikts und einer tiefen Krise in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Aber: Der Außenminister hatte allen Anlaß und Grund, am Beginn seiner Rede unseren Blick in eine andere Himmelsrichtung zu lenken, wo sich eine Krise zuspitzt. Doch ich will gleich hinzufügen: Krise, im Wortsinn verstanden, heißt, daß die Dinge auf eine Entscheidung zugehen. Daß eine Entscheidung über die Entwicklung in diesem uns benachbarten Land, in Rußland, dringend notwendig ist, das war uns allen seit langem bewußt. Deswegen war es richtig, daß sich - gottlob sehr schnell und sehr einmütig - die gesamte westliche Welt hinter Präsident Jelzin gestellt hat. Ich finde, es wäre mehr als unangemessen, wenn wir jetzt über die Frage der Legalität dieses Schrittes diskutierten. Es geht nicht um die Legalität, es geht um die Legitimität. Der Schritt Präsident Jelzins ist geeignet, endlich einen umfassenden Rahmen für die Legitimität und damit für die Legalität in diesem Land herzustellen. Vor allen Dingen ist er geeignet, endlich die Voraussetzungen, die politischen Rahmenbedingungen für den Erfolg der Reformen in Rußland zu schaffen. Meine Damen und Herren, ich glaube, daß uns dieses Ereignis ein weiteres Mal nachdrücklich, eindringlich darauf hinweist, daß es unser Interesse ist, daß dieser Prozeß erfolgreich ist. Und wenn es unser Interesse ist, meine Damen und Herren, dann ist es unsere Pflicht, soweit es irgend geht, zu helfen. Ich weiß, es ist völlig richtig: Niemand hat dafür bislang mehr getan als unser Land. Aber ich will auch sagen: Es wird weiterer Hilfe bedürfen. Übrigens nicht nur finanzieller, sondern zunächst einmal auch der Hilfe, der Zuwendung, daß wir sagen: Jawohl, wir sind an eurer Seite, an der Seite der Demokraten. Aber ich möchte auch mit Nachdruck sagen, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Diese unsere Zuwendung - in jeder Form - bedarf eines langen, langen Atems. Das ist etwas, was demokratisch verfaßten Gesellschaften manchmal ein wenig abgeht. Ich hoffe, daß wir ihn haben - in unserem Interesse, im Interesse des westlichen Europa. Ich meine, wir sollten die Gelegenheit nutzen, Präsident Jelzin, der nun einmal das Symbol für diesen Willen zur Reform und zur Demokratie in Rußland ist, unsere nachdrückliche Unterstützung und Hilfe hier heute zum Ausdruck zu bringen. ({0}) Ich kann auch nicht umhin, bei dieser Gelegenheit einen Blick auf unseren unmittelbaren Nachbarn, auf Polen, zu richten, wo jüngst zweifelsfrei demokratisch einwandfreie Wahlen stattgefunden haben, deren Ergebnis aber natürlich einige Fragen aufwirft. Es ist nicht unsere Sache, das Ergebnis im einzelnen zu kommentieren. Nur hoffen wir, daß sich die politischen Rahmenbedingungen für die Reformen, die ja gottlob von den Polen, von der bisherigen Regierung sehr mutig und schon sehr weit vorangetrieben worden sind, nicht verschlechtern, sondern daß sie erhalten bleiben, so daß wir auch hier weiterhin unsere Hilfe und unsere Zusammenarbeit anbieten können. Diese Ereignisse im östlichen Teil unseres Kontinents zeigen, daß nach dem Ende des Ost-West-Konflikts der Friede und die Sicherheit nicht ein für allemal gewährleistet sind, sondern daß gewaltige, große Aufgaben vor uns stehen. Meine Damen und Herren, ich möchte die Gelegenheit nutzen, auch im Blick auf das eigentliche Thema, zu dem ich gleich komme, zu sagen: Nach den Anstrengungen zur Wiederherstellung unserer inneren Einheit verlangen von uns die außenpolitischen Aufgaben Priorität; denn das Wohlergehen unserer Nachbarn, der engeren wie der weiteren, ist auch unser Wohlergehen. Wir können nicht losgelöst von dem Schicksal und dem Wohlergehen unserer Nachbarn unsere Zukunft gestalten. Das wird von uns allen, von den Deutschen, große Kraft verlangen. Ich hoffe, daß wir sie haben werden. Das, was ich gesagt habe, gilt natürlich auch für die Region, über die wir heute reden. Das Ereignis, das wir heute begehen, ist als historisches bezeichnet worden. Natürlich sind noch viele Hindernisse zu überwinden, ganz konkrete: die Ratifizierung in der Knesseth, die Frage, ob sich Yassir Arafat durchsetzt. Ich glaube, immerhin können wir sagen: Es besteht die Chance, daß diese Abmachung ein historisches Ereignis sein wird, ein historisches Ereignis, das den Frieden in dieser leidgeprüften, kriegsgeschüttelten Region endgültig einkehren läßt. Ich finde, man kann schon heute sagen: Unumkehrbar ist jedenfalls eines, nämlich daß die PLO das Existenzrecht Israels anerkannt hat. Ich finde, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir, die Deutschen, haben schon besonderen Grund, uns darüber zu freuen. Der Kollege Duve hat zu Recht darauf hingewiesen, daß uns natürlich ein besonderes Verhältnis mit dem Staat Israel und mit den Juden dieses Staates verbindet. Aber es ist ja auch richtig, daß wir uns zuweilen in einem schmerzlichen Zwiespalt fühlten, weil es so schien, als sei das Wohlergehen Israels mit dauernder Heimatlosigkeit der Palästinenser verbunden. Deutsche, die das Schicksal der Heimatlosigkeit und der Vertreibung nach dem Krieg millionenfach erlebt haben, waren und sind hier besonders sensibel. Deswegen, glaube ich, haben wir einen doppelten Grund zur Freude, wenn wir die Vision betrachten, daß in Zukunft Palästinenser und Israelis in Frieden miteinander leben können. Aber nicht nur diese historischen Erinnerungen, sondern mindestens ebensosehr muß uns doch die Tatsache beschäftigen, daß es sich hier um eine Region handelt, die nicht weit weg von uns ist, sondern in unserer unmittelbaren Nachbarschaft liegt. So leidenschaftlich ich soeben und bei anderen Gelegenheiten dafür plädiert habe, daß wir uns unseren Nachbarn im Osten zuwenden, so leidenschaftlich plädiere ich dafür, zu sehen, daß unsere Nachbarschaft nicht nur aus dem östlichen Europa besteht, sondern auch diese Region, ja den gesamten Mittelmeerraum umfaßt. Wir müssen unser Engagement und zunächst unsere innere Aufmerksamkeit sehr viel mehr diesem Gebiet zuwenden, als dies bislang geschehen ist. Diese Region war ja noch vor nicht allzulanger Zeit Gegenstand zweier Kriege, die auch uns sehr, sehr unmittelbar und hart betroffen haben. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben allen Anlaß, unserem Partner, den Vereinigten Staaten, für das Engagement zu danken, das er bei der Herstellung dieses Friedens gezeigt hat. Es besteht aller Anlaß, dafür ein Wort des Dankes zu sagen. ({1}) Natürlich ist das ein Gebiet des Interesses auch für die Vereinigten Staaten; nicht nur strategisch, sondern auch aus anderen Gründen. Das wissen wir alle. Aber ist es denn nicht mindestens so sehr ein Gebiet europäischen und damit auch deutschen Interesses, und zwar nicht nur aus historischen Gründen? Wie sah denn bislang unsere Beteiligung an diesem Prozeß aus? Der Kollege Duve hat zu Recht auf die vorbildliche Rolle des norwegischen Außenministers hingewiesen, dem auch ich an dieser Stelle sehr herzlich danken möchte. Ja, das war eine große Leistung. Wir können froh sein, daß ein Europäer eine maßgebliche Rolle beim Zustandekommen dieses Prozesses gespielt hat. Aber damit sind wir doch wohl noch nicht alle exkulpiert oder frei und nicht mehr in der Pflicht. Davon kann ja sicher keine Rede sein. Ich freue mich sehr, daß die Europäische Gemeinschaft sehr unmittelbar gehandelt hat, Herr Minister. Das war in Ordnung; das war gut so. Das war prompt. Wer schnell hilft, der hilft doppelt. Auch hier gilt das. Es handelt sich um eine beträchtliche Summe, die die Gemeinschaft zur Verfügung gestellt hat. Aber jetzt muß es ein dauerhaftes und konkretes Engagement geben. Ich freue mich, daß Sie in Ihren zehn Punkten zu erkennen gegeben haben, daß die Bundesregierung konkrete Vorstellungen hat, wie denn unser deutscher und der europäische Beitrag zur Festigung des Friedens dort aussehen soll. Aber es wird noch viel zu tun sein. Auch hier gilt, was ich im Blick auf Rußland gesagt habe: Es wird ein langer Atem notwendig sein. Notwendig wird es ebenfalls sein, verehrte Kollegen, daß wir diejenigen, die diesen Frieden nicht wollen, isolieren. Ich unterstütze nachdrücklich, was Sie, Herr Minister, gesagt haben im Blick auf Ihre Absicht, Ihrem iranischen Kollegen zu schreiben. ({2}) - Beziehungsweise geschrieben haben. - Ich hoffe, daß das einigermaßen, wenn auch diplomatisch, deutlich war. Es geht nicht anders: Wer jetzt diesen Frieden stören will, ist ein Friedensstörer, und wir können keine Partnerschaft mit ihm haben. Daher, glaube ich, bedarf es großer Anstrengungen, um alle Staaten, vorab Syrien, bei dem ich Hoffnung habe, in den Friedensprozeß einzubeziehen. Das wird nur durch eine gemeinsame europäische Anstrengung gelingen. Wenn wir sie leisten, haben wir vielleicht die Chance, das ein wenig zu revidieren, was sich insbesondere bei unserem Volk aber auch bei anderen europäischen Völkern an Enttäuschung über das fehlende, mangelhafte und unzureichende Engagement Europas im früheren Jugoslawien gezeigt hat. Wenn die Europäische Gemeinschaft bei ihrem Versuch, diesen Friedensprozeß zu stabilisieren, erfolgreich ist, dann könnte das vielleicht helfen, daß man auch auf anderen Gebieten mehr Zutrauen zu sich selbst gewinnt und eine stringentere und erfolgreichere Politik als bislang in seinen Außenbeziehungen führt. Wir brauchen das dringend. Wenn wir uns vorstellen, daß das Heilige Land, das Land, wo sich nicht nur viele Interessen kreuzen, sondern wo viele Religionen entstanden sind und aufeinanderprallen, vielleicht wirklich einmal ein Hort der Toleranz auch und gerade zwischen den Religionen werden könnte, dann, meine ich, würde es sich lohnen, daß wir uns mit aller Kraft engagieren, weil es auch unser Interesse ist. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Jürgen Möllemann das Wort. ({0})

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist wirklich nicht so, daß wir uns in diesem Parlament sonderlich häufig und sonderlich intensiv mit der Nahostpolitik beschäftigt hätten. Um so wichtiger und um so erfreulicher ist es, daß wir heute auf der Grundlage einer Regierungserklärung die Möglichkeit haben, nach einem wirklich historischen Ereignis, von dem auch ich glaube, daß es für die dortige Region dem Fall der Mauer gleichkommt, uns darüber zu unterhalten, was wir denn gemeinsam tun können, damit dieser dort für viele verblüffenderweise in Gang gekommene Prozeß nicht in Kürze abrupt abreißt, sondern weitergeführt werden kann. ({0}) Ich verzichte darauf, etwas zu dem ersten Teil der Regierungserklärung zu sagen. Unsere Fraktion unterstützt nachdrücklich das, was Klaus Kinkel vorgetragen hat. Wir werden sicher über das Thema unserer Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarn in Europa in gewohnter Intensität und Häufigkeit Diskussionen führen; deswegen möchte ich mich heute auf den eigentlichen Anlaß dieser Debatte konzentrieren. Auch von uns zunächst ein herzlicher Glückwunsch an Yassir Arafat, an Shimon Peres und an Ministerpräsident Rabin. Diese drei haben mit großem Mut die Spirale von Gewalt und Gegengewalt verlassen, sind aus ihr ausgebrochen. Sie haben wichtige Schritte in Richtung auf eine Aussöhnung getan, eine Aussöhnung zwischen Israelis und Palästinensern, Schritte, denen hoffentlich das israelische und das palästinensische Volk auch folgen werden. Wir wissen aus unserer eigenen Erfahrung - aus Debatten im Deutschen Bundestag, aus Debatten in unserer Bevölkerung -, daß der Weg zur Aussöhnung so selbstverständlich nicht ist und auch nicht immer von allen getragen, sondern von manchen kritisiert wird und zu Auseinandersetzungen und Emotionen führt. Es wäre ganz merkwürdig, wenn das, was bei uns an intensiver, leidenschaftlicher Diskussion, etwa um die Ostverträge, stattgefunden hat, jetzt nicht auch dort stattfinden würde. Deswegen haben wir auch keinerlei Grund, mit dem Finger darauf zu zeigen, daß es in Israel Opposition gegen das Konzept gibt, Opposition im palästinensischen, im arabischen Lager. Das ist so normal, wie man es sich nach so vielen Jahren der Agitation und der Auseinandersetzung nur denken kann. Was können wir tun, wir Deutschen, wir Abgeordneten, unsere Regierung? Ich finde es gut, daß der Bundesaußenminister in zehn sehr konkreten Punkten eine Leitlinie für das Vorgehen der Bundesregierung in der bilateralen Politik gegenüber den beiden Partnern, gegenüber Israel und gegenüber Palästina, aber auch für unsere Mitwirkung an multilateralen Konzepten aufgezeigt hat. Ich möchte ein paar dieser Gedanken aufnehmen und ein paar Überlegungen damit verbinden. Es ist jetzt ganz wichtig, daß jeder von uns, der zu Gesprächspartnern in der Region Kontakte hat, sich ohne Wenn und Aber hinter das Konzept des Ausgleichs stellt. Wir werden natürlich überall welche finden, die an der einen oder anderen Stelle des Textes etwas kritisieren möchten, die sagen: Es wäre besser gewesen, wenn man auch schon das Schicksal der Flüchtlinge in Beirut, in Damaskus oder das Schicksal der Palästinenser in Jordanien expliziter einbezogen hätte. Aber man kann nicht alles am Anfang tun. Die Alternative wäre das Fortdauern der Konfrontation gewesen. Wir stützen uns deswegen auf unsere Erfahrung, daß man einzelne Schritte tun muß, daß man dabei Kompromisse eingehen muß und daß man für dieses Konzept werben muß. Ich finde es richtig, Herr Außenminister, und ich freue mich darüber, daß sie Yassir Arafat zu einem Besuch bei uns eingeladen haben. So selbstverständlich und normal, wie wir mit israelischen Politikern sprechen, müssen wir das auch mit den Palästinensern tun. Wie denn sonst will man Menschen dazu bekommen, Grenzen zu überschreiten, aufeinander zuzugehen und sich die Hand zu reichen, wenn nicht im Dialog? Deswegen finde ich es gut, daß das geschehen ist. Natürlich müssen wir den Dialog gerade in den nächsten vor uns liegenden Monaten mit den Politikern, den Regierungen, aber auch den Oppositionen in denjenigen Ländern verstärken, die im Moment noch skeptisch sind, zum Teil, weil ihre Probleme mit diesem Abkommen nicht gelöst worden sind. Denken wir an den Libanon, denken wir an Jordanien, denken wir an Syrien. Ich glaube, gerade der Dialog mit der syrischen Politik lohnt sich. Da ist sicher manches sehr kontrovers zu diskutieren: vom Menschenrechtsverständnis angefangen bis zur Anwendung bestimmter Prinzipien der Kooperation, jetzt auch bezogen auf das Verhältnis zwischen Syrien und Israel. Deswegen fände ich es gut, Herr Außenminister, wenn der von Ihnen bereits aufgenommene Dialog mit dem Staatspräsidenten und dem Außenminister fortgesetzt würde. Ich glaube, es besteht im Moment ein wenig die Gefahr, daß sich die syrische Führung an den Rand eines dynamischen Prozesses gedrängt fühlen könnte, und aus einer solchen Betrachtungsweise entsteht meistens nichts Gutes. Deswegen ist es wohl vernünftig, dies zu vermeiden. Erlauben Sie mir ein paar Bemerkungen zu der in Aussicht genommenen Hilfe für Palästina. Was ist dazu zu sagen? Wenn dieser historische Kompromiß nicht scheitern soll, dann muß diese Hilfe in der Tat schnell kommen. Dann muß sie tatkräftig sein und darf nicht gegenüber dem, was wir aus guten Gründen über die ganze Zeit für Israel getan haben, marginal und kleinlich wirken. Da erlaube ich mir den Hinweis, daß das, was bisher festgelegt worden ist, aus meiner Sicht nicht reicht. Da werden wir mehr tun müssen, und zwar bilateral wie multilateral. Wenn ich mir vorstelle, daß ein beachtlicher Anteil der derzeit in anderen Staaten lebenden Palästinenser in seine Heimat zurückkehren wird, wenn ich also die Erfordernisse nicht an den relativ wenigen, die jetzt dort sind, messe, dann sind in der Tat die Aufgaben wohl etwas umfangreicher, als sie sich natürlich für den Kreis derer darstellen, die jetzt dort in Gaza und Jericho leben. ({1}) Ich würde mir wünschen, daß, wenn es eine Geberkonferenz gibt, das nicht so läuft wie bei der Hilfe für Osteuropa oder manch andere Teile der Welt, nämlich daß dann in Washington konzipiert, in Fernost und in bestimmten Ländern Europas modifiziert und in Deutschland finanziert wird. Es muß schon eine wirkliche Lastenverteilung, ein Burden sharing, geben, das der wirklichen Leistungsfähigkeit der verschiedenen Staaten und auch den ökonomischen Interessen der Staaten in der Region entspricht. Da lohnt sich schon ein Blick auf die Details. Da wünsche ich mir dann eben auch, daß wir nicht weniger tun, sondern daß andere mehr tun, als sie bisher in Aussicht genommen haben. Wir alle führen immer wieder mit den Beteiligten in der Region Gespräche. Ich selber hatte kürzlich ebenfalls Gelegenheit dazu. Es ist ja sicher auch vernünftig, daß wir unsere Entscheidungen auf den Dialog mit den Betroffenen abstützen. Mir scheint, daß der Katalog der in Aussicht genommenen Maßnahmen in den Bereichen Bildung, Qualifizierung, Soziales und Gesundheitswesen sowie bei der Schaffung von Arbeitsplätzen ganz unstrittig sein wird. Wenn wir die jungen Leute in den besetzten Gebieten von der Intifada, von dem Aufstand mit Steinen wegkriegen wollen, müssen wir ihnen Perspektiven zeigen können. ({2}) Wir müssen helfen, daß sie verstehen, daß aus dem Frieden für sie mehr Zukunft erwächst als aus dem andauernden Konflikt. Deswegen werden wir sicher auch die Rahmenbedingungen - bis hin zu Absicherungsmaßnahmen über Hermes-Bürgschaften für Kredite - für solche Unternehmen entsprechend gestalten müssen, die bereit sind, dort zu investieren und damit Arbeitsplätze dort zu schaffen. Eine wichtige Voraussetzung, lieber Herr Kinkel, meine Kolleginnen und Kollegen, scheint mir folgende zu sein - die ist in dem Katalog bislang nicht enthalten und vielleicht auch umstritten, aber ich möchte sie ansprechen -: Investoren, welcher Art auch immer - Deutsche, Araber aus den GolfStaaten, Palästinenser, die im Exil leben, Europäer und Japaner -, gehen dort nur hin, wenn sich auch innere Stabilität perspektivisch abzeichnet. Wenn nun spätestens zum März die israelischen Sicherheitskräfte abgezogen werden, muß jemand anders dort die normalen staatlichen Funktionen, auch im Blick auf Recht, Ordnung und innere Sicherheit, gewährleisten. Mir haben Yassir Arafat und andere palästinensische Gesprächspartner gesagt: Helft uns auch dabei! Ich finde das vernünftig. Auf den ersten Blick erscheint es frappant, zu sagen, ausgerechnet die Deutschen helfen beim Aufbau von Sicherheit. Nein, ich finde das notwendig. Wir sollten das auch tun. Ein Wort zu den Golf-Staaten und vor allem an die Adresse von Kuwait und Saudi-Arabien. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können uns sicher gut vorstellen, daß man dort gegenüber der PLO sehr reserviert ist; denn die törichte Parteinahme von Yassir Arafat für Saddam Hussein ist nicht vergessen. Das war ein schwerer Fehler, der den Palästinensern geschadet hat und der das Verhältnis zwischen den Golf-Staaten und den Palästinensern beeinträchtigt. Aber genauso unklug, ja töricht wäre es sozusagen in der Retrospektive - von seiten dieser Länder, jetzt die Opposition gegen diesen Prozeß zu stärken, gar Hamas, die fundamentalistische Opposition. Das würde am Ende auf diese Länder selber zurückfallen und ihre eigene innere Stabilität gewiß nicht befördern können. Von daher hoffe ich, daß der Appell der Europäischen Gemeinschaft an die Golf-Staaten, sich zu beteiligen, nicht kalt abgewiesen wird, nicht nur wegen des Finanziellen, sondern auch wegen der Perspektive dieser Region. Die Schlußbemerkung: Wir sind heilfroh über das Ergebnis, über diesen Zwischenschritt. Aber natürlich ist die Region noch weit entfernt von einem Netzwerk von Sicherheit durch Zusammenarbeit, wie es die KSZE für Europa hat entstehen lassen. Es ist auch nicht alles, was dort an Auseinandersetzungen stattgefunden hat, auf den israelisch-arabischen Konflikt zurückzuführen. Das wäre wirklich etwas monokausal gedacht. Aber gewiß ist es wichtig, daß der Zustand, daß in dieser Region im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt die dramatischste Überrüstung von allen Teilen der Welt stattgefunden hat, jetzt ein Ende finden kann, daß man jetzt endlich auch innerlich die Begründung finden wird, große Teile des Bruttosozialproduktes auf produktive Zwecke, auf konstruktive Zwecke hin zu orientieren. Hier könnte die Fortsetzung des Madrider Prozesses, hier könnte das Modell eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten entsprechend der KSZE dazu beitragen, daß perspektivisch diese Region eine blühende wird und daß wir das Ereignis, über das wir heute sprechen, als Meilenstein begreifen, dem weitere Meilensteine folgen werden. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach dem Kollegen Möllemann hat jetzt der Kollege Hans Modrow das Wort.

Dr. Hans Modrow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001518, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein fernöstliches Sprichwort besagt, daß jeder Weg mit dem ersten Schritt beginnt. Was am 14. September dieses Jahres in New York zu einem vorläufigen Abschluß führte, war in der Tat ein erster wichtiger Schritt, dem, wie wir hoffen, viele weitere konstruktive Initiativen folgen werden. Der Händedruck zwischen Präsident Rabin und Präsident Arafat symbolisiert die Absicht, ein neues Kapitel in den israelisch-palästinensischen Beziehungen aufzuschlagen. Die erste Seite dieses Kapitels wird durch die weitreichende Entscheidung der israelischen Regierung geprägt, die PLO als die Repräsentantin des palästinensischen Volkes anzuerkennen. Von strategischer Bedeutung ist auch die Bereitschaft der PLO, das Recht des Staates Israel auf eine friedliche und sichere Existenz anzuerkennen. Wir begrüßen uneingeschränkt diesen ersten Schritt auf dem Weg der israelisch-palästinensischen Annäherung. Wir begrüßen ihn vor allem deshalb, weil wir in dem Briefwechsel zwischen dem israelischen Ministerpräsidenten und dem Vorsitzenden der PLO sowie in dem Autonomieabkommen nicht nur eine reale und aussichtsreiche Möglichkeit sehen, das bilaterale Verhältnis PLO/Israel zu normalisieren. Es geht hier zugleich um entscheidende Schritte, die ermutigen, die volle Anerkennung der Resolution der Resolutionen 242 und 338 der Vereinten Nationen zu sichern. Ein Durchbruch hin zu einer Ära des friedvollen Neben- und Miteinanderlebens in der NahostRegion erscheint damit möglich. Wir hoffen, daß eine solche Entwicklung auch ein deutliches Signal für die Entschärfung und Lösung von Konflikten in anderen Regionen der Welt sein wird. Wir verstehen die Sorge der Menschen, die befürchten, daß der erzielte Kompromiß als Status quo festgeschrieben und damit weitere Schritte auf dem Weg einer umfassenden Nahost-Friedensregelung blokkiert werden könnten. Das darf nicht geschehen. Der in Gang gekommene Prozeß darf nicht dazu führen, daß die Schaffung eines unabhängigen souveränen Staates der Palästinenser, die Entscheidung über den Status von Jerusalem und der Rückzug der israelischen Truppen aus allen seit 1967 okkupierten arabischen Gebieten in weite Ferne rücken. Erforderlich ist jetzt, Schritt um Schritt Lösungen zu suchen. Außenminister Kinkél hat sich über die Neugestaltung der Beziehungen zur PLO geäußert. Die PDS/ Linke Liste erneuert deshalb ihre Forderung nach voller Anerkennung der PLO als der legitimen Repräsentantin des palästinensischen Volkes durch die Bundesrepublik. Bisherige Verlautbarungen des Auswärtigen Amtes, man könne die PLO nicht im völkerrechtlichen Sinne anerkennen, da die Existenz eines Staatsvolkes und eines Staatsgebietes nicht vorhanden sei, weisen wir als unzeitgemäß zurück. Wir fragen die Bundesregierung daher, ob jetzt nicht fällig ist, die PLO als das anzuerkennen, was sie wirklich ist. Wenn die israelische Regierung diese Realität anerkennt, warum kann die Bundesregierung nicht wenigstens ein Gleiches tun? Die Bundesregierung hat mit Milliardensummen den Krieg am Golf finanziert. Für Einsätze der Bundeswehr in Ländern der sogenannten Dritten Welt gibt sie Woche um Woche Millionen an Steuergeldern aus. Jetzt gilt es, einen Friedensprozeß nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich ohne Zaudern und auch in dem Maße zu befördern, wie es hier unabdingbar erforderlich sein wird. Die PDS/Linke Liste stimmt dem interfraktionellen Antrag generell zu. Die in Punkt 6 genannte Demokratisierungshilfe sollte als Angebot, nicht aber als Herausforderung verstanden sein. Der Handel mit Waffen in dieser Region sollte umgehend eingestellt werden. Die Dinge, um die es geht, haben einen viel zu sensiblen Charakter. Zügiges Handeln ist daher gefordert - ausgewogen, aber auch konsequent in dieser so historischen Stunde. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Konrad Weiß.

Konrad Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002461, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Israel und die PLO haben sich nach Jahrzehnten bitterster Feindschaft gegenseitig anerkannt und ihren Willen zu einer friedlichen Lösung bekräftigt. Damit ist der Dialog in eine Phase getreten, die auf eine gute Entwicklung im Nahen Osten hoffen läßt. Was lange unmöglich schien, ist durch die verantwortungsvolle Besinnung beider Partner auf die Interessen des eigenen und des Nachbarvolkes möglich geworden. Entscheidend war, daß beide Partner bereit waren, lange als unabänderlich geltende Positionen aufzugeben und die Interessen des anderen ernsthaft in die eigenen Erwägungen einzubeziehen. Dem ersten Schritt der Annäherung wird ein mühevoller Prozeß folgen müssen, bei dem Rückschläge nicht ausgeschlossen sind. Die schwerste Aufgabe wird sein, „die Minenfelder des Herzens zu räumen", wie Amos Oz, einer der Vordenker dieses Friedens, es genannt hat. Noch größere Anstrengungen, noch mehr Verantwortlichkeit sind nun gefordert. Das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN begleitet diesen Prozeß mit solidarischer Sympathie. Diese mutige und weitsichtige Politik ehemals zutiefst verfeindeter Parteien könnte modellhaft für eine neue Weltfriedenspolitik sein. Nicht die militärische Intervention der UNO, nicht die Kraftmeierei ewiger Krieger oder militante Drohungen dritter Staaten haben die Veränderungen zwischen Israel und den Palästinensern bewirkt, sondern allein die vernunftvolle Anerkennung beiderseitiger Interessen und der beharrliche Kampf derer, die den Frieden wollten. Noch ist dieser Frieden zerbrechlich. Auf beiden Seiten gibt es Fanatiker, die diesen Frieden hysterisch bedrohen, die Verrat wittern, die nicht umdenken wollen und die noch immer in den Kategorien von Gewalt und Gegengewalt befangen sind. Zweifellos gibt es auch bei den Gutwilligen auf beiden Seiten noch Ängste und Vorbehalte, die nicht einfach abgetan werden dürfen, sondern ernstgenommen und durch eine kluge und verantwortliche Verhandlungsführung abgebaut werden müssen. Es könnte sein, daß es schwieriger wird, den Frieden innerhalb der beiden Völker zu bewahren, als ihn zwischen Palästinensern und Israelis zu schaffen. Unsere Möglichkeiten, diesen inneren Prozeß zu befördern, sind gering. Wir können jedoch unterstützend tätig werden, wenn es um die äußeren Bedingungen für diesen Frieden geht. Dabei muß die Ausgewogenheit im Umgang mit den beiden Partnern, mit Israelis und Palästinensern, das oberste Gebot sein. Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat sich dem Entschließungsantrag der SPD und der Koalition in seiner ursprünglichen Fassung nicht angeschlossen, weil er eben diese Ausgewogenheit vermissen läßt. Dieser Antrag hatte vor allem die Interessen einer Seite, der Palästinenser, im Auge. Wir fordern die Bundesregierung zu einer ausgewogenen und sensiblen Nahostpolitik auf, die den Friedensprozeß im Nahen Osten mit aller Kraft unterstützt und den wechselseitigen Prozeß der Anerkennung fördert. Dazu gehört, sich insbesondere bei den arabischen Staaten für deren Unterstützung des Friedensprozesses und für eine Neuorientierung ihrer Israelpolitik einzusetzen. Wir verlangen von der Bundesregierung, daß sie mit allem Nachdruck klarstellt, daß Deutschland seine wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit nur mit denjenigen Staaten der Region fortsetzen wird, die den Friedensprozeß im Nahen Osten aktiv unterstützen. Die destruktive und immer noch feindliche Politik einiger Länder gegenüber Israel darf nicht sanktioniert werden. Länder wie der Iran oder Libyen müssen wissen, daß ihre anhaltend feindselige Politik gegenüber Israel nicht folgenlos bleiben wird. Wir erwarten, daß der Bundeskanzler den seit langem gewünschten Staatsbesuch in Israel endlich verwirklicht, und zwar in unmittelbarem Zusammenhang mit der Realisierung des Abkommens zwischen Israel und der PLO, und daß er dabei auch die autonom werdenden Gebiete Palästinas besucht und mit den autorisierten Vertretern des palästinensischen Volkes spricht. Das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bedauert außerordentlich, daß die Bundesregierung keinen erkennbaren Beitrag zum Zustandekommen des Abkommens zwischen Israel und der PLO geleistet hat. ({0}) - Das war ganz geheime Diplomatie; man hat sie überhaupt nicht gesehen. Vielleicht werden da die Konrad Weiß ({1}) Geschichtsschreiber einmal etwas enthüllen. Ich würde es wünschen. Wir erwarten von der Bundesregierung, daß sie nun alles in ihrer Kraft Stehende tut, die friedenswilligen Kräfte in Israel und bei den Palästinensern zu fördern, und daß sie die Verwaltung der autonomen Gebiete bei der Vorbereitung und Durchführung demokratischer Wahlen intensiv unterstützt. Insbesondere wird es notwendig sein, die deutsche Hilfe für Israel und dessen Integrationsaufgaben deutlich zu steigern, die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Israel zu intensivieren und die Entwicklungszusammenarbeit mit den palästinensischen autonomen Gebieten aufzunehmen. Dabei würden es BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN begrüßen, wenn Deutschland gemeinsam mit der israelischen und der palästinensischen Seite Programme zum Aufbau der autonomen Gebiete entwickeln würde. Der Vorschlag der F.D.P., ausgerechnet Deutschland solle den Palästinensern beim Aufbau von Polizei und Sicherheitskräften helfen, ist erschreckend unsensibel und hätte verheerende Folgen für das deutsch-israelische Verhältnis. ({2}) Ich hoffe, daß es bloß eine Probe aus Herrn Möllemanns Musterkiste war, wieder mal schneller ausgesprochen als gedacht, nicht aber die Meinung der F.D.P. und ihres Außenministers. Ich bitte Sie dringend, meine Damen und Herren, den dürftigen, politisch einseitigen Antrag der SPD und der Koalition zurückzuziehen und den vorliegenden Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu unterstützen, dessen essentielle Forderungen ich Ihnen genannt habe. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Nächster Redner ist unser Kollege Christian Schmidt.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wieder einmal, wie schon des öfteren in den letzten Jahren, reibt sich die Weltöffentlichkeit verwundert die Augen: Friede für Israel, Friede für den Nahen Osten, von der utopischen Vision zur Realität? Ja, das ist ein historisches Ereignis. Dabei liegt erst der kürzere Weg, so schwer er war, hinter den Beteiligten und der längere Weg mit Sicherheit noch vor ihnen. Alle historischen Daten im Nahen Osten, alle historisch hervorragenden Daten für den Staat Israel und das Judentum in diesem Jahrhundert haben den Beteiligten später noch harte Arbeit abverlangt. Natürlich können wir an die Balfour-Deklaration von 1917 erinnern. Die Schaffung einer nationalen Heimstatt für die Juden war weitaus schwieriger, als der feierliche Augenblick es in London vielleicht hat glauben machen wollen. Die Gründung des Staates Israel nach 1948 führte unmittelbar danach zum Krieg mit den arabischen Nachbarn. Die Umsetzung des Camp-David-Vertrages mit Ägypten erforderte viel innenpolitische Kraftanstrengung. Auch die Umsetzung des Gaza-Jericho-Abkommens ist ein schwieriges Unterfangen. Trotzdem müssen wir festhalten, daß es ein wesentlicher Schritt nach vorn ist. Wir begrüßen insbesondere, daß das in der UN-Resolution 242 angesprochene Recht des Staates Israel, in gesicherten Grenzen zu leben, vom palästinensischen Volk endlich anerkannt worden ist, und hoffen, daß sich bald auch alle anderen arabischen Staaten dieser Auffassung anschließen. Umgekehrt ist zu würdigen, daß die Existenz des palästinensischen Volkes und die Vertretung der PLO von Israel anerkannt worden sind. Das ist ein Erfolg von Arafat, mit dem mancher von uns natürlich auch seine Schwierigkeiten hat. Aber ich erinnere an ein Wort des früheren israelischen Außenministers Abba Eban, der sinngemäß einmal gesagt hat, man solle die palästinensischen Führer nicht nur an ihrer Biographie messen, sondern an dem, was sie in der Gegenwart, in der Wirklichkeit und in der Zukunft zu tun bereit sind. So verstanden, ist die Einladung, Herr Außenminister, die Sie an Arafat ausgesprochen haben, ein richtiger Schritt und ein Zeichen dafür, daß wir uns in diesen Dialog, in diesen Versöhnungsprozeß mit einfügen wollen. Es ist ja vor allem das Verdienst der Regierung von Präsident Bush, namentlich von Außenminister Baker, diesen Prozeß angestoßen zu haben. Bei dieser Gelegenheit muß natürlich der zweite Schirmherr der Friedensverhandlungen, der russische Außenminister Kosyrew, angesprochen werden. Weil es gerade so paßt, sollten wir uns doch an das erinnern, was er uns vor einigen Monaten an Schocktherapie verschrieben hat, als er in einer Rede darstellte, was sein könnte, wenn die alten Kräfte, die retardierenden Kräfte in Moskau wieder an die Macht kämen. Das sage ich auch an die Adresse derjenigen, die die - zugegebenermaßen nicht aus dem Lehrbuch der Demokratie stammenden - Überlegungen und Handlungsweisen von Präsident Jelzin rundherum ablehnen. Wir müssen sie am Erfolg messen, und der Erfolg muß heißen: Stabilisierung der Demokratie, Aufhebung der Blokkadepolitik der alten Kräfte. Ich glaube, daß dieser Prozeß mit den demokratischen Wahlen, die in Kürze folgen werden, zu einem guten Ergebnis kommen wird. Die mangelhafte Unterstützung der Opponenten durch das russische Volk zeigt ja auch, daß Jelzin auf dem richtigen Weg ist. Interessanterweise kann man bei aufmerksamer Lektüre aller Stimmen aus den internationalen und auch aus den deutschen Medien feststellen, daß sich eigentlich nur eine verschwindend kleine Zahl mit Ruzkoj und anderen solidarisiert. Bei uns war es die PDS. Verwunderlich ist das nicht. Man kennt vielleicht den einen oder anderen und hegt klammheimliche Freude. Diese Freude wird allerdings nicht sehr lange anhalten. ({0}) Wenn ich die USA erwähnt habe, muß ich auch von der europäischen Rolle sprechen. Ich meine, daß Israel und seine arabischen Nachbarn es eigentlich Christian Schmidt ({1}) verdient gehabt hätten, daß entscheidende Anstöße für den Friedensprozeß auch aus Europa gekommen wären. Ich denke an Großbritannien als frühere Mandatsmacht und an unser besonderes Verhältnis zu Israel. Kollege Weiß, ich glaube nicht, daß die Aufforderung, daß wir als Bundesrepublik Deutschland allein hier tätig werden, der Sensibilität der Problematik entspricht. Die Europäische Gemeinschaft ist es, die hier gefordert gewesen wäre. Ich darf an dieser Stelle auch einmal sagen, daß seit der Venediger Erklärung vielleicht einige Worte zu wenig darüber geäußert worden sind, wie der Prozeß im Nahen Osten konstruktiv begleitet werden könnte. Wir gelangen wieder an den Punkt, wo wir feststellen müssen, daß die bisherige Form der außenpolitischen Zusammenarbeit in Europa nicht ausreichend ist. Maastricht ist ein wesentlicher Schritt nach vorn, und die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist auch unter dem Blickwinkel dieses hoffentlich gelösten Konflikts der Welt nötiger denn je. Um so erfreulicher ist es, daß sich die EG nunmehr kurzfristig zu einer massiven Hilfe für die zukünftig autonom verwalteten Gebiete entschlossen hat. Dies kann nur nachhaltig unterstützt werden. Der EG-weiten und auch der bilateralen Hilfe, die dankenswerterweise der Herr Bundesaußenminister ja auch deutlich unterstrichen hat, kommt angesichts der schwierigen Haushaltslage bei uns eine besondere Bedeutung zu. Frieden ist allemal billiger als Krieg, nicht nur finanziell, sondern auch gemessen an den Leiden der Menschen. ({2}) Deswegen muß es uns im Rahmen unserer Möglichkeiten und im Verbund mit unseren Partnern, insbesondere den finanzkräftigen Partnern, ein Anliegen sein, konstruktiv zu helfen. Ich bedanke mich bei dieser Gelegenheit auch beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Carl-Dieter Spranger, der hier ja bereits entsprechende Vorschläge gemacht hat. ({3}) Sie tun übrigens -- das Zehn-Punkte-Programm, Herr Außenminister, ist nun wirklich beeindrukkend - sehr gut daran, sich diesem Thema als gesamtdeutsche Bundesregierung zu widmen; denn auch an dieser Stelle sollten wir nicht vergessen, daß es die Machthaber des anderen deutschen Staates jahrzehntelang geschafft haben, das Existenzrecht des Staates Israel in ignoranter Art und Weise unter Verkennung der historischen Gegebenheiten und Verpflichtungen zu leugnen. ({4}) Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die reicheren arabischen Staaten ebenfalls das ihre dazu beitragen müssen. Wenn nun die schwierige Zeit der Umsetzung des Abkommens gekommen ist, muß das Augenmerk vor allem auf drei Punkte gerichtet werden. Erstens. Ohne wirtschaftliche Entwicklung steht das Abkommen auf tönernen Füßen. Die palästinensischen Bürger in Gaza und in Jericho müssen spüren, daß friedliche, gutnachbarschaftliche Entwicklung allemal besser ist als ein dauerhafter Konflikt. Schlaglichtartig habe ich das, wie sicherlich auch viele andere Kollegen, bei einem Besuch in Israel und in den besetzten Gebieten bei den Gesprächen gemerkt, die ich dort mit palästinensischen Bürgern und ihren Vertretern führen konnte. Man gewinnt den Eindruck, daß trotz der Intifada und der Mobilisierung der Bevölkerung für eine bewaffnete Auseinandersetzung der große Teil auch der palästinensischen Bevölkerung des Krieges müde und der ständigen, bis in den unmittelbaren Lebensbereich hineingehenden Spannungen leid geworden ist. Dazu trägt auch die äußerst schwierige Situation in den Flüchtlingslagern bei. Damit bin ich bei meinem zweiten Punkt: Ich hoffe, daß wir bald die heute noch zweifelsohne gebrauchten Mittel für das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge zugunsten anderer Förderungen für Palästina und auch für Israel zurückfahren können, weil dann das palästinensische Volk aus eigener Kraft in der Lage ist, Ausbildung, Gesundheitswesen und Flüchtlingsversorgung zu übernehmen. Wir haben natürlich die Hoffnung, daß der Ansatz unseres Haushalts so gehalten wird, wie er im letzten Jahr gewesen ist - das ist sicherlich richtig -; die Perspektive aber muß uns hier in eine andere Richtung leiten. Entscheidend ist - Kollege Möllemann hat bereits darauf hingewiesen, und ich darf es wiederholen -, daß nach Intifada und schwieriger Situation in den Lagern gerade die Jüngeren Arbeit, Ausbildung - Hochschulausbildung, Berufsausbildung -, berufliche Perspektiven erhalten müssen und daß darin ein Schwerpunkt der international unterstützten Arbeit im Gaza-Streifen und in Jericho liegen muß. Es muß auch begriffen werden, daß wirtschaftliche Perspektive nur in regionaler Zusammenarbeit liegen kann. Da gewinnt auch die Aufforderung an die arabischen Staaten, endlich den Israelboykott aufzuheben, eine ganz wesentliche Bedeutung. Ein dritter Punkt, der von großer Wichtigkeit ist: die Sicherheit. Mit dem Bild des palästinensischen Konfliktes verbindet sich bei uns, in der Öffentlichkeit und auch anderswo, sehr eng das Stichwort „Terrorismus und Gewalt" . Es ist ein ganz wesentliches Element für das Gelingen des Abkommens, daß die PLO der Gewalt abgeschworen hat. Wir appellieren an alle Gegner des Abkommens innerhalb und außerhalb der PLO, ihrerseits ebenfalls auf das Mittel der Gewalt zu verzichten. ({5}) Nach wie vor wird sich die Welt dem Terrorismus nicht beugen. Er wird zu keinen politisch sinnhaften Ergebnissen führen, sondern nur Leid über Menschen bringen. Die Gegner des Abkommens müssen wissen, daß eine instabile Lage in den Gebieten dazu führen wird, daß internationale Investitionen ausbleiben und Christian Schmidt ({6}) daß Tourismus nicht stattfinden kann. Das muß sich jeder vor Augen führen, der gegenwärtig mit dem Gedanken spielt, die Gewalt doch als Mittel seiner Artikulation einzusetzen. Hier muß an die Verantwortung der angrenzenden und weiterer Staaten appelliert werden. Der Außenminister hat namentlich den Iran angesprochen; ich füge Libyen hinzu. Ich hoffe, daß der noch offene Ausgleich mit Syrien, dem Libanon und Jordanien zustande kommt und daß somit auch dort den ablehnenden Kräften die Grundlage entzogen wird. Nun noch ein Wort zur regionalen Zusammenarbeit und zu dem, was in den besetzten - bald nicht mehr besetzten - Gebieten notwendig ist. Da werden Bürgermeister und Gemeinderäte gewählt, da wird Verwaltung gebraucht, da wird Erfahrung verlangt. Deswegen haben wir auch in unserem Antrag ausdrücklich darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, daß wir hier zusammenarbeiten und Hilfe leisten. Da können wir gute Dienste leisten. Die politischen Stiftungen sind bereits in Israel präsent. Sie sollten und werden sicherlich bei der Unterstützung der gewählten Kommunalpolitiker ein weites Betätigungsfeld finden. Ich halte das für einen ganz wichtigen Punkt. Israel und der Nahe Osten, diese Region um Israel, können ein Stabilitätsanker, eine Insel der Stabilität in einer Region werden, die von uns als Krisenhalbmond bezeichnet wird. Das ist die wahre Chance, die für uns in dieser Entwicklung liegt. Das macht diese Entwicklung auch für uns so wichtig. Sie ist nicht weit weg von uns. Es ist politisch, historisch und aus unserer Interessenlage unser europäisches Anliegen, das dort mit auf dem Tisch liegt. Dementsprechend sollten wir uns verhalten. ({7})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Nächster Redner ist unser Kollege Dr. Christoph Zöpel.

Dr. Christoph Zöpel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002604, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn fast überall in der Welt, auch bei uns, in den vergangenen zwei bis drei Wochen auf den Friedensprozeß im Nahen Osten geschaut wurde, so hat das für mich bei einigem Nachdenken fast schon etwas Erschreckendes; denn das ganz Besondere lag darin, daß die Welt wieder einmal die Chance hatte, vom Frieden fasziniert zu sein, ({0}) und die Chance zu haben, vom Frieden fasziniert zu sein, ist 1993 etwas Besonderes. Wir haben das gleich zu Beginn dieser Debatte erlebt. Völlig zu Recht hat der Herr Bundesaußenminister auch deutsche Sorgen über das formuliert, was zur Zeit in Rußland passiert. Die Verbindungen von Rußland nach Georgien und Abchasien sind bekannt. Deshalb noch einmal: Ich halte mich mit großen Worten zurück. Historische Stunde - es mag sein, daß sie es ist. Wir sollten das in einigen Jahren oder Jahrzehnten beurteilen. Das Schlimme ist, daß die historischen Ereignisse, die wirklich lange in Erinnerung bleiben, meistens unfriedliche sind. Dennoch, für alle, die die Hoffnung haben und nicht aufgeben wollen, daß der Entwicklungsstand der Menschheit so ist, daß sie ihre Probleme auf friedliche Weise lösen kann, sind das schöne Wochen, und zwar in Deutschland - das füge ich hinzu - in besonderer Weise; denn es ist nicht möglich, durch einseitige Willenserklärungen historische Verstrickungen zu lockern. Deutschland bleibt verstrickt mit der Geschichte der Juden und des Staates Israel und damit auch mit den Arabern. Wenn dieser Friedensprozeß, insbesondere zwischen Palästinensern und Israel, in diesen Wochen für Deutschland etwas bedeutet, dann auch, daß diese beiden Völker ein bißchen dazu beitragen, eine historische Verstrickung zu lockern. Wir können das auf jeden Fall einseitig nicht. Jetzt ist zu fragen: Was kann man tun? Die Regierungserklärung, die der Herr Bundesaußenminister abgegeben hat, hat die Zustimmung meiner Fraktion gefunden; Herr Kollege Duve hat das artikuliert. Der Herr Bundesaußenminister hat mir liebenswürdigerweise mitgeteilt, warum er jetzt nicht da ist. Er hat ein Gespräch mit einer chinesischen Ministerin. Ich begrüße es ausdrücklich, daß er dieses Gespräch jetzt führt. Ich will einige Anmerkungen zu dem machen, was Hilfen sein können. Wir sollten und wir müssen mit dem moralischen Zuspruch an diejenigen, die im Friedensprozeß aktiv sind, beginnen, wobei ich auch hier für vorsichtige Maßstäbe werbe. Unsere Unterstützung sollten alle finden, die zum Frieden bereit sind. Das ist die erste Stufe: Wer in Israel, in arabischen Ländern in diesen Wochen für Frieden ist, der soll unseren Zuspruch haben. Die zweite Stufe: Unsere Unterstützung sollten alle finden, die in dieser Region der Gewalt absagen. ({1}) Auf der dritten Stufe sollten die unseren Zuspruch haben, die für den Rechtsstaat - vielleicht in einem anderen Verständnis auf Grund einer anderen Rechtstradition -, für Menschenrechte, für Pluralismus eintreten. Wenn wir auf einer vierten Stufe noch diejenigen treffen, die unseren Zuspruch deshalb bekommen, weil sie für Demokratie sind, dann ist das besonders schön. Ich habe diese Reihenfolge gewählt, weil ich glaube, auch schon die ersten Stufen helfen Europäern und Arabern, besser miteinander umzugehen. Deshalb laßt uns mit dem Zuspruch schon bei denen beginnen, die ja zum Frieden sagen. Man kann dann diesen Zuspruch, den viele geben können - Abgeordnete, Regierungsvertreter, Vertreter von Organisationen und sogar jeder einzelne, wenn er z. B. als Tourist in diese Länder fährt, auch das sollte man nicht hintanstellen -, leisten, indem man das im Gespräch seinen Partnern sagt. Verstärkt wird das durch diplomatische Unterstützung. ({2}) Ich konnte erleben, mit welchem nicht unberechtigten Stolz Yassir Arafat in diesen Tagen, wenn man ihn als Vertreter einer Partei bittet - das konnte ich für meine Partei tun - „Kommen Sie doch nach Deutschland, wir laden Sie ein", sagte, er möchte dann aber mit allen sprechen. Ich glaube, er hatte recht. Ich freue mich, daß der Bundesaußenminister diese Einladung ausgesprochen hat. Ich freue mich für einen Menschen wie Abdullah Franghi, der das Leben in Vorzimmern der Macht in Deutschland erleben mußte, daß er gestern von Herrn Staatssekretär Kastrup empfangen wurde. Ich ziehe daraus eine Konsequenz, über die wir stundenlang streiten können; aber heute wird darüber nicht so gestritten: Wir müssen immer wieder fragen, wieviel Sinn es eigentlich macht, mit jemandem nicht zu sprechen. Denn über welchen Schatten muß man springen, wenn man doch miteinander spricht? ({3}) Umgekehrt kann man natürlich weiterhin Pech haben, wenn man mit jemandem gesprochen hat. Auch das ist richtig. Ich glaube, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten das Risiko, mit jemandem zu sprechen, weil es später nützt, geringer schätzen als das Risiko, mit jemandem zu sprechen, um es nachher zu bedauern. Ich komme zu den ökonomischen Hilfen. Es ist offenkundig: Überall, in den großen Staaten, auch bei den Arabern - wir sollten nicht den Unterton hineinbringen: Auch die reichen Araber müssen helfen; das tun sie jetzt ja auch -, wird zur Zeit darüber gesprochen, wie man in den Gebieten Palästinas, die jetzt in einen Prozeß hin zur staatlichen Selbständigkeit eintreten, helfen kann. Ich bin nicht unsicher, daß das zu Ergebnissen führen wird. Die Frage ist, ob die Prozeduren geeignet sind, zu dem richtigen Zeitpunkt zu den richtigen Ergebnissen zu kommen. Die Forderung nach Koordination ist so richtig wie problematisch. Wenn jetzt jeder aktivistisch wird, kann auch Unheil geschehen, zuviel des Guten getan werden, können Helfer sich physisch oder zumindest mental gegenseitig auf die Füße treten. Andererseits kann Koordination, vor allem wenn sie medial stattfindet, sehr gefährlich sein. Lassen Sie mich eine Bemerkung machen, über die man in unseren Mediengesellschaften eigentlich breit nachdenken muß. Eine Voraussetzung dafür, daß der Prozeß gelingen konnte, ist gewesen, daß das alles geheim war. Man sollte darüber nachdenken, warum es so sein muß, daß das Gute geheim sein muß, weil die Öffentlichkeit das Gute vielleicht nicht mehr möglich macht. ({4}) Zur Koordinierung: Ich bin nicht pessimistisch, daß das nicht gelingen kann. Zu den Perspektiven möchte ich gleich etwas sagen. Als erstes aber: In diesen Wochen und Monaten ist es notwendig, daß für die Menschen, die in Palästina, in Gaza und in Jericho leben, aber auch in den Gebieten, die noch auf dem Wege sind, Teile eines palästinensischen Staates zu werden, Sichtbares geschieht. Sie müssen merken: Es hat sich gelohnt. Sie merken es an der Symbolik: wenn die israelische neben der PLO-Fahne in Gaza hängt. Aber sie sollten es auch daran merken, daß Krankenhäuser neu angestrichen und drei neue Ärzte da sind, ({5}) daß es ab morgen einige Lehrer mehr in den Schulen in Gaza gibt, daß die eine oder andere Straße geteert wird, daß - was in 14 Tagen möglich ist - aus einer Wellblechhütte in Gaza ein Steinhaus geworden ist. Darauf sollten wir uns im Augenblick konzentrieren. Denn dabei kann man nichts falsch machen. Wenn es hier ein bißchen Übermaß gibt, schadet das nie. Ein unnütz gebautes Haus, das in 14 Tagen errichtet ist, kann problemfrei in zwei Jahren durch ein besseres ersetzt werden, ohne daß irgendein Verlust eingetreten ist, der Haushälter beunruhigen sollte. ({6}) Das sollten wir also tun. Dazu gibt es ein paar Voraussetzungen. Wer die Verhältnisse in Palästina kennt, weiß: Die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, die UNRWA, ist derzeit die Verwaltung dieses Landes. Das bestätigen auch die PLO und Arafat. Deshalb muß man im Augenblick gucken: Wieviel Geld braucht die UNRWA 1993, um diese Aufgaben einschließlich des Ziels, einige Lehrer mehr, bessere Krankenhäuser und mehr Ärzte zu bewältigen? Das ist das Ziel. ({7}) Herr Kollege Schmidt, ich nehme jetzt einen Satz von Ihnen auf, den ich gar nicht gewagt hätte zu formulieren, weil er vielleicht als polemisch aufgefaßt worden wäre: Friede ist allemal billiger als Krieg. Deshalb an die Haushälter bezüglich UNRWA 1993 und anderer Sofortmaßnahmen: Wenn es uns gelingt - ich werte das jetzt nicht -, aus Kriegsgründen plötzlich Geld zu haben, ohne zuerst über die Dekkung zu diskutieren, ({8}) finde ich es nicht angebracht, 1993 wegen 500 000 DM für die UNRWA zuerst nach Deckung zu fragen. ({9}) Ich füge noch eines hinzu, damit nicht gesagt wird, die Außenpolitiker kennten die Haushaltslage nicht: Bei aller Anerkennung der unglaublich schwierigen Aufgabe der Haushaltspolitiker aller Fraktionen, die Staatshaushalte in Deutschland und allen anderen westlichen Ländern der Welt zu konsolidieren, weil Konsolidierung der Staatshaushalte der westlichen Lander auch ein Beitrag zum Frieden ist - das konzediere ich den Haushältern -, ({10}) meine ich trotzdem: 500 000 DM fallen unter Ihre Bemerkung, Herr Kollege Schmidt. Frieden sollte weniger Deckungssuche nötig haben als Krieg. Das ist die haushaltspolitische Schlußfolgerung. ({11}) - Herr Kollege Rüttgers: „Sprechblasen" . Jeder sollte über seinen Tellerrand hinausgucken. Jeder Debattenbeitrag, selbst wenn es ein gutes Ergebnis gibt, kann später noch kritisch erörtert werden. Das sind keine Sprechblasen. Daß Sie das dazwischenrufen, zeigt, daß Ihre Freude über den Frieden heute schon wieder begrenzt ist. ({12})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Dr. Zöpel, Ihre Redezeit ist längst überschritten. Ich kann deswegen auch keine Zwischenfragen mehr zulassen. Bitte kommen Sie zum Schluß. ({0})

Dr. Christoph Zöpel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002604, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Rüttgers, ich sage zum Schluß folgendes: Wenn wir in diesen Debatten Zwischenrufe wie „Sprechblasen" unterlassen, sind Antworten, wie ich sie gegeben habe, nicht notwendig. Ich würde beides sehr, sehr begrüßen. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist Herr Kollege Ortwin Lowack.

Ortwin Lowack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001379, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da kommt ein weitgehend unbekannter Außenminister eines kleinen, aber feinen europäischen Landes, Norwegen, noch dazu mit Hilfe seiner Frau auf die Idee, einen schwierigen politischen Knoten zu entwirren. Es gelingt ihm sogar mit viel Glück und viel Beharrlichkeit, auch wenn sich später andere mit seinen Federn schmücken wollen. Man sieht daran, daß es auch in der heutigen Zeit durchaus möglich wäre, mit einer klaren Zielvorgabe, mit Geduld und Beharrlichkeit erfolgreich Außenpolitik zu machen. Ganz anders allerdings scheint es mit der deutschen Außenpolitik bestellt zu sein. Als wir im Golfkrieg die große Chance hatten, die arabischen Länder - an der Spitze Riad - mit Israel in irgendeiner Form näher zusammenzubringen, mußte ich erleben, daß die deutsche Botschaft damals statt 110 Botschaftsangehörigen noch nicht einmal zehn aufzubieten hatte; die deutsche Wirtschaft war gänzlich verschwunden. Die Frage des Golfkooperationsrates, ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, zusammen mit der Europäischen Gemeinschaft und mit Deutschland jetzt den entscheidenden Sprung zu machen, blieb unbeantwortet. Genauso hatte ich den Eindruck, daß man die Persönlichkeit des Ministerpräsidenten und früheren Verteidigungsministers Israels, Rabin, völlig verkannt hat, eines Mannes, der wahrscheinlich der einzige ist, mit dem dieser Friedensschluß möglich war, weil er über eine außergewöhnliche Erfahrung verfügt. Brauchen wir wirklich das, was Herr Kinkel vorhin gesagt hat, den Hinweis, daß wir dem jüdischen Volk unendliches Leid angetan hätten? Es ist unendliches Leid angetan worden, aber das jüdische Volk in Europa gibt es doch ethnisch in dieser Reinheit nicht. Das war doch gerade der Fehler der Nationalsozialisten, und wir brauchen diese Romantik gar nicht. Ich möchte fragen: Brauchen wir diese Mystik, und kann nicht die deutsche Politik ohnehin feststellen, daß wir von unserer Seite ein hohes Interesse an einer stabilen, wirtschaftlich erfolgreichen und militärisch gesicherten Entwicklung Israels haben, auch daran, daß dadurch der arabische Bevölkerungsteil richtig integriert und auch richtig mitbeteiligt werden kann? Vielleicht könnte allerdings auch Israel ab und zu ein bißchen beherzigen, was mir einmal der Direktor im Auswärtigen Amt in Riad gesagt hat: Man kann uns nicht immer als Arschlöcher bezeichnen und behandeln und dann mit uns verhandeln wollen. ({0}) - Nein, er hat es auf englisch gesagt, und ich habe mir erlaubt, es heute ins Deutsche zu übersetzen, lieber Wolfgang Bötsch. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Abkommen zwischen Israel und der PLO gibt uns doch den Hinweis, daß in der Politik viel, viel mehr möglich ist, daß wir nicht nur immer als die Zahlmeister auftreten sollten, sondern daß man oft mit geringen Mitteln erfolgreich Politik machen kann, daß Ideen, Einfühlungsvermögen und Interessenwahrnehmung auch oft weit mehr erreichen können als große politische 10-Punkte-Programme oder sonstige Programme.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. auf Drucksache 12/5723 neu. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Damit ist dieser Entschließungsantrag bei Stimmenthaltung der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/5732. Wir stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Bei Stimmenthaltung der Vizepräsident Helmuth Becker SPD-Fraktion und der Gruppe PDS/Linke Liste ist der Entschließungsantrag abgelehnt. ({0}) Meine Damen und Herren, wir stimmen jetzt noch über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zu den Verhandlungen über eine Friedenslösung im Nahen Osten ab. Das sind die Drucksachen 12/3237 und 12/5524. Der Ausschuß empfiehlt den Antrag für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist die Beschlußempfehlung einstimmig angenommen. Wir sind damit am Ende dieses Tagesordnungspunktes angekommen. Ich möchte Sie für die weiteren Debatten noch um folgendes bitten. Nach unserer Terminplanung läuft diese Plenarsitzung bis 0.30 Uhr. Ich bitte deswegen alle Redner, die vorgegebenen Redezeiten möglichst einzuhalten. Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 4 auf: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsfristen - Drucksache 12/5613 - ({1}) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung strafrechtlicher Verjährungsfristen - Drucksache 12/5637 - ({2}) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann, Ingrid Köppe, Konrad Weiß ({3}), weiteren Abgeordneten und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung von strafrechtlichen Verjährungsfristen bei DDR-Unrechtstaten - Drucksache 12/5628 - ({4}) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rolf Schwanitz, Robert Antretter, Angelika Barbe, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes - Verjährung von Straftaten nach §§ 234 a, 241 a STGB ({5}) - Drucksache 12/4349 - ({6}) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({7}) - Drucksache 12/5701 Berichterstattung: Abgeordnete Horst Eylmann Hans-Joachim Hacker Dr. Michael Luther Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem unserem Kollegen Horst Eylmann das Wort.

Horst Eylmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000508, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über die rechtstatsächliche Lage werden wir schnell Einigkeit erzielen können. Bestimmte Straftaten wurden in der DDR aus politischen Gründen nicht verfolgt, ähnlich wie früher in der NS-Zeit. Wir haben deshalb durch das Verjährungsgesetz klargestellt, daß für diese Straftaten die Verfolgungsverjährung bis zum 2. Oktober 1990 geruht hat. Das weiter hier interessierende Faktum ist die starke Überlastung der zunächst nur bedingt arbeitsfähigen Strafverfolgungsbehörden in den neuen Ländern. Sie hatte zur Folge, daß diese politisch gedeckte Kriminalität in der DDR bislang nicht in dem notwendigen Maße aufgeklärt und verfolgt werden konnte. Deshalb drohen nunmehr am 3. Oktober dieses Jahres Delikte, die einer dreijährigen Verjährungsfrist unterliegen, zu verjähren. Diese Situation, meine Damen und Herren, wirft die Frage auf: Sollen die Straftäter, über die zunächst die SED die Hand hielt und gegen die bislang nicht vorgegangen werden konnte, in den Genuß der Wohltat der Verjährung kommen, oder gebührt in einem solchen Falle dem Interesse der Rechtsgemeinschaft, den Straftäter zur Rechenschaft zu ziehen, der Vorrang? Es mag verwundern, daß wir diese Frage zehn Tage vor dem Verjährungseintritt hier debattieren, also zu einer Zeit, wo es schon eines nach Stunden ausgeklügelten Gesetzgebungsplans bedarf, um das Gesetz noch rechtzeitig vor Ablauf der Verjährungsfrist am 3. Oktober wirksam werden zu lassen. Das liegt daran, daß sowohl der Bundesrat als auch das Bundesjustizministerium sich in der Verjährungsfrage eher wie jener gern zitierte Jagdhund verhalten haben, den man zum Jagen tragen muß. Hätte das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern dieses Problem nicht mit großer Hartnäckigkeit aufgegriffen, wäre ihm der Bundesrat wohl gar nicht nähergetreten. Als es sich dann nicht mehr verhindern ließ, Farbe zu bekennen, fand er sich aber nur bereit, die für die sogenannte mittlere Kriminalität geltende fünfjährige Verjährungsfrist um drei Jahre zu verlängern. Bei der sogenannten Kleinkriminalität sah er das nicht als notwendig an, ohne in der Begründung seines Gesetzentwurfes dieser Differenzierung auch nur eine Zeile zu widmen. Die Kenntnis, daß zu dieser sogenannten Kleinkriminalität im DDR-Strafgesetzbuch auch der Bruch des Fernsprech- und Postgeheimnisses, die Wahlfälschung und das im Rahmen der politischen „Zersetzungsarbeit" übliche Anschwärzen bei der Stasi gehörten, kann man beim Bundesrat sicherlich voraussetzen. Im Bundesjustizministerium sah man vor der parlamentarischen Sommerpause offenbar auch keine Notwendigkeit, eine Verlängerung der Verjährungsfrist durch Vorlage eines eigenen Gesetzentwurfs vorzubereiten. Erst als sich Anfang September quer durch die Fraktionen dieses Hauses der politische Wille artikulierte, sich mit dem Gesetzentwurf des Bundesrates nicht zufriedenzugeben, war das Bundesjustizministerium bereit, in eine Prüfung der Verlängerung der dreijährigen Verjährungsfrist einzutreten. Es hat dann in der letzten Woche - dies soll nicht verschwiegen werden - in Zusammenarbeit mit den Ländervertretern intensiv mitgeholfen, den heute vorliegenden Gesetzentwurf zu erarbeiten. Die Zähflüssigkeit, meine Damen und Herren, die den Gesetzgebungsgang auszeichnete, hat nun wiederum auch ihre Gründe, und diese verdienen es, hier in diesem Hause offen angesprochen zu werden. Es geht nämlich darum, wie wir es mit der vielbeschworenen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit weiterhin halten wollen. In letzter Zeit mehren sich unübersehbar die Stimmen, die mehr oder weniger deutlich dafür plädieren, damit zu einem Ende zu kommen. Es wird gefordert, der Versöhnung den Vorrang vor der Vergeltung einzuräumen. Gräfin Dönhoff schreibt z. B., es sei nicht Feigheit, sondern Weisheit gewesen, daß die Polen ihre Akten gleich 1989 versiegelt hätten - eine Wertung, die mich bei allem Respekt vor dieser großen alten Dame des deutschen Journalismus schon etwas verwundert hat, denn in ihrer Logik liegt es doch wohl, die Stasiakten unter Verschluß zu nehmen und die Gauck-Behörde aufzulösen. Auch die Salzgitterakten? Wäre es vielleicht auch weise gewesen, die Akten des Reichssicherheitshauptamtes zu versiegeln? ({0}) Nun will ich nicht verschweigen, daß Gräfin Dönhoff an anderer Stelle meint, echte Straftäter müßten auch bestraft werden. Aber wie soll denn das geschehen, wenn man die Beweismittel verschließt? Man muß, meine Damen und Herren, doch wohl einige Dinge auseinanderhalten. Die große Mehrheit der Deutschen in der DDR hat sich nicht strafbar gemacht. Sie hat sich mit dem SED-Regime arrangiert, wie es die Westdeutschen nicht anders getan hätten. Aber sie hat sich bemüht, sich nicht strafrechtlich schuldig zu machen, und das war in den meisten Fällen auch möglich, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Um diese übergroße Mehrheit der Deutschen in den neuen Ländern geht es heute überhaupt nicht. Daß es ein Gebot der politischen Klugheit und auch der mitmenschlichen Solidarität ist, diesen Menschen die Hand zu reichen und ihnen Gelegenheit zu geben, in unserem Staatswesen mitzuarbeiten, sollte eigentlich selbstverständlich sein. Wenn nun aber Straftäter, um die es hier allein geht, angeklagt und vor Gericht gestellt werden, so tun das die Staatsanwälte und Richter nicht aus Vergeltungssucht, sondern weil sie Gerechtigkeit üben wollen. Wir haben kein Vergeltungs-, sondern ein Schuldstrafrecht. Deshalb ist die Alternative „Versöhnung statt Vergeltung " völlig verfehlt. Ich kenne im übrigen in den neuen Ländern kein einziges Gerichtsverfahren, aus dem man den Eindruck gewinnen könnte, das Gericht habe sich von Vergeltungsgedanken leiten lassen. Im Gegenteil ist doch eher der Eindruck verbreitet, politische Straftäter aus der DDR würden äußerst fair behandelt und eher zu milde als zu hart bestraft. Ich kann deshalb der Behauptung, es sei ein Klima der Vergeltung in der Bundesrepublik entstanden, das die politische Kultur dieses Landes beschädige und belaste, nicht beipflichten. ({1}) Eher spüre ich bei jener Minderheit, die sich gegen die SED gestellt hatte und Repressalien vielfältiger Art erdulden mußte, eine gewisse Bitterkeit darüber, daß viele der alten Bonzen schon wieder vorne an der Krippe sitzen. ({2}) Diese Bitterkeit ist nur zu verständlich, und sie hat mit Rachsucht und Vergeltung nichts zu tun. Nun wird argumentiert, wer sich in der DDR strafbar gemacht habe, sei doch zugleich Täter und Opfer des Systems. Eine individuelle Schuld, so hat Herr Bräutigam gesagt, sei kaum noch nachweisbar, und deshalb solle man doch zumindeste die kleinen Straftäter laufenlassen. Meine Damen und Herren, daß straffällig gewordene Menschen nicht nur Täter, sondern auch Opfer ihrer eigenen Biographie und ihres Umfeldes sind, ist auch sonst eher die Regel als die Ausnahme. Jeder Richter weiß das, und er berücksichtigt dies bei der Bemessung der Schuld und auch bei der Bemessung der Strafe. Es ist einfach nicht wahr, daß das politische System in der DDR jeden kleinen Straftäter entschuldigt. Da hat es nämlich wie in jeder Diktatur die verschiedensten Tätertypen gegeben: den schwachen Mitläufer, der im Mitmachen den bequemsten Weg sah, den Karrierebewußten, der schlechten Gewissens das tat, was seinem Fortkommen nutzte, den Überzeugungstäter, der glaubte, ein hehres politisches Ziel rechtfertige die Bespitzelung eines Mitbürgers, und es hat auch den üblen Charakter gegeben, der die Macht, die ihm das politische System verschaffte, dazu benutzte, seine Mitmenschen zu schikanieren. Die strafrechtliche Schuld aller dieser Täter ist durchaus unterschiedlich. Es ist Sache der Richter, sie individuell zu bewerten. Es ist höchst bequem, alles das, was in der DDR an Strafwürdigem geschehen ist, heute in einen allgemeinen Täter-Opfer-Brei zu verrühren, der schließlich keine Verantwortlichkeiten mehr kennt, allenfalls noch die Verantwortlichkeit dessen, der in Chile sitzt. Diktaturen, gleich welcher Provenienz, kommen nicht wie Hagelschauer über ein Land, sie werden von Menschen gemacht, und sie werden auch von Menschen aufrechterhalten. ({3}) Es gibt keinen Grund, diejenigen, die in einer Diktatur noch nicht einmal die eigenen Strafgesetze respektiert und Delikte begangen haben, mit einer verkappHorst Eylmann ten Amnestie - das wäre nämlich das Verjährenlassen - zu belohnen. ({4}) Das wäre eine Privilegierung für politisch motivierte Straftäter, eine höchst zweifelhafte Sache in einem Land, das zweimal innerhalb eines Menschenalters von einer Diktatur heimgesucht worden ist. Vor einer Schwamm-drüber-Mentalität kann ich nur warnen. Eine Amnestie würde nur scheinbar Rechtsfrieden bringen. Das jetzt Versäumte - unsere Erfahrungen mit der NS-Vergangenheit sollten uns das gelehrt haben - würde später wieder auf den Tisch kommen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Eylmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Elmer?

Horst Eylmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000508, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn es nicht angerechnet wird, gern.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte.

Dr. Konrad Elmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000463, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ich hätte gern noch eine Klarstellung zu Ihrem Satz: Diktaturen kommen nicht wie ein Hagelschauer über ein Land. Damit meinen Sie doch sicher nicht, daß die Ostdeutschen mehr dazu beigetragen hätten, nach dem Krieg in einer Diktatur leben zu müssen, als die Westdeutschen dazu, nach dem Krieg in einer Demokratie zu leben? So könnte es jedenfalls mißverstanden werden.

Horst Eylmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000508, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe, Herr Kollege, mit voller Absicht und aus gutem Grund beide Diktaturen erwähnt. Es hat zwischen 1945 und 1949 und in der späteren DDR Ereignisse gegeben, die vielen Deutschen nicht zur Ehre gereichen. In beiden Diktaturen hat es Menschen gegeben, die Verantwortung für diese Diktatur tragen.

Dr. Konrad Elmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000463, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Eine Nachfrage: Aber die Tatsache, daß es bei uns mit einer Diktatur startete, war doch kein besonderes Versagen der Ostdeutschen?

Horst Eylmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000508, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich gebe Ihnen völlig recht. Ich habe deutlich gemacht: Wir Westdeutschen haben nicht den geringsten Grund, uns in irgendeiner Hinsicht moralisch zu überheben. ({0}) - Nein, ich rede nicht so. Dann haben Sie es nicht verstanden. ({1}) Lassen Sie mich fortfahren, meine Damen und Herren. Natürlich weiß ich, daß für die Bewußtmachung dessen, was in den 40 Jahren der DDR geschehen ist, die Strafjustiz nur eine untergeordnete Rolle spielt. Aber es geht um ein Stück Gerechtigkeit, wofür diejenigen, die nur Opfer und nicht Täter gewesen sind, Herr Professor Heuer, ein waches Gespür haben. Dieses Stück Gerechtigkeit sollten wir nicht beiseite schieben mit dem Argument, die Beschäftigung mit der Vergangenheit störe nur bei der Bewältigung der sicherlich großen Gegenwartsaufgaben. Es ist, meine Damen, meine Herren, nicht der Wohlstand, der ein Volk erhöht. Das Streben nach Gerechtigkeit, mag es auch mühevoll sein und nie voll das Ziel erreichen, ist das, was den Rang einer staatlichen Ordnung ausmacht. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollen Hans-Joachim Hacker das Wort.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Diskussion um die Verlängerung der strafrechtlichen Verjährungsfristen ist zum Politikum geworden. Es geht um den Widerspruch zwischen der Auffassung, daß die Verlängerung von Verjährungsfristen, insbesondere kurz vor deren Ablauf, nach rechtsdogmatischen Prinzipien abzulehnen ist, und den Forderungen, daß Straftaten, die in der früheren DDR bzw. auf dem Gebiet der heutigen neuen Länder begangen wurden, weiter zu verfolgen sind. Der vorliegende Gesetzentwurf löst sicher nicht diesen Grundstreit, er führt jedoch zu einer Lösung, die meines Erachtens richtig ist. Er sieht vor, das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch in Art. 315 a dahin gehend zu ergänzen, daß Straftaten, die vor Ablauf des 31. Dezember 1992 begangen wurden und die im Höchstmaß mit einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bis zu fünf Jahren bedroht sind, frühestens mit Ablauf des 31. Dezember 1997 verjähren. Straftaten, die vor Ablauf des 2. Oktober 1990 begangen wurden und im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bedroht sind, sollen frühestens mit Ablauf des 31. Dezember 1995 verjähren. Im weiteren wird die Unverjährbarkeit für Verbrechen, die den Tatbestand des Mordes gemäß § 211 StGB erfüllen, angeordnet, wobei sich jedoch die Strafe nach dem Recht der früheren DDR bestimmt. Meine Damen und Herren, die Kontroverse um die Verjährungsverlängerung hat sich insbesondere an der Frage entzündet, ob die Verjährung überhaupt verlängert werden kann und soll und ob es rechtspolitisch vertretbar ist, die Verjährungsregelung für Straftaten, deren Verfolgung am 3. Oktober 1993 wegen des Ablaufes der Verjährungsfrist unmöglich wäre, zu verlängern. In der Beantwortung dieser Frage komme ich zu einem deutlichen Ja. Dabei verkenne ich nicht, daß gegenteilige Argumentationen auch aus verfassungsrechtlichen Prinzipien abgeleitet werden. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts stützen diese gegenteiligen Argumentationen jedoch nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat bisher nur entschie15134 den, daß die Verlängerung einer noch nicht abgelaufenen Verjährungsfrist bei Verbrechen, die mit lebenslangem Zuchthaus bedroht sind, verfassungsgemäß ist. Zweifelsfrei handelt es sich bei den nach dem geltenden Recht am 3. Oktober 1993 verjährten Straftaten nicht um Verbrechen mit einer hohen Strafandrohung. Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts sowie aus der Höhe der Strafandrohung für die vom Gesetzentwurf erfaßten Straftaten läßt sich jedoch meines Erachtens nicht der Schluß ziehen, daß eine Verlängerung der Verjährungsfristen nicht zulässig ist. Das in der Bundesrepublik Deutschland geltende Rechtsstaatsprinzip, das die belastende Rückwirkung von Gesetzen verbietet, wird durch den vorliegenden Gesetzentwurf nicht verletzt. Es geht bei der Verlängerung der Verjährungsfristen ebenso um übergeordnete Gründe des Allgemeinwohls. Die Erörterung des Gesetzentwurfs kann meines Erachtens auch folgende Fragestellungen nicht außer acht lassen. Erstens. Kann sich der Straftäter überhaupt auf eine Vertrauensschutzposition berufen, auf Grund deren die Ahndung des von ihm begangenen Unrechts ausgeschlossen ist? Hierbei ist zu beachten, daß es zum einen nicht verjährende Delikte gibt und zum anderen der Ablauf der Verjährungsfrist jederzeit durch eine vom Täter unabhängige Verfolgungsmaßnahme nach § 78c StGB unterbrochen werden kann. Der Täter hat folglich keinen Anspruch darauf, daß Verjährung eintritt. Allein der Gesetzgeber hat die Bedingungen für die Verjährung zu bestimmen. Zweitens stellt sich die Frage - ich meine, daß ist besonders wichtig für die Situation in den neuen Ländern -: Werden Rechtssicherheit und Rechtsfrieden gewahrt und befördert, wenn der Gesetzgeber den Ablauf der derzeit geltenden Verjährungsfrist zuläßt? Es ist unbestreitbar, daß sowohl im Sinne der Verfahrensökonomie als auch im Interesse des Rechtsfriedens das Rechtsinstitut der Verjährung nicht jederzeit zur Disposition gestellt werden kann und darf. Aber - das macht in unserem Falle das Vorliegen eines Sonderfalls deutlich - die von der Verlängerung der Verjährung praktisch betroffenen Straftaten wurden nach dem Willen der politischen Führung der DDR nicht verfolgt, weil der Aufrechterhaltung und Stabilisierung des politischen Regimes in der DDR auch das DDR-Recht unterworfen wurde. Straftaten, die zu einem erheblichen Teil durch das damalige MfS angeordnet wurden und sich beispielsweise als Hausfriedensbruch, als Verletzung der beruflichen Schweigepflicht oder als Verletzung des Briefgeheimnisses darstellen, waren nach meiner Auffassung eben keine Bagatelldelikte für die Betroffenen. Sie führten in vielen Fällen zu gravierenden Einwirkungen auf Lebensschicksale von Menschen, ja sie zerstörten in vielen Fällen die Menschen. Die objektiven Schwierigkeiten beim Aufbau der Justiz in den neuen Ländern und damit die Probleme einer effektiven Strafverfolgung von Delikten, die zum Teil vom früheren DDR-Staat gedeckt wurden, müssen für uns Veranlassung sein, den Zeitraum der möglichen Strafverfolgung zu verlängern. Die Chance für die von Unrechtsmaßnahmen in der DDR betroffenen Bürgerinnen und Bürger, die tausendfach Opfer waren, jetzt die Ursachen für politische Maßregelung, für politische Verfolgung ermitteln und damit die Täter feststellen zu können, muß die Möglichkeit einer Strafverfolgung einschließen. Ich bezweifle auf der anderen Seite, daß die Mehrzahl der Geschädigten Anträge auf Strafverfolgung stellen wird. Es besteht somit für die Opfer zugleich auch eine Möglichkeit, abseits von Strafmaßnahmen zu verzeihen und zu vergeben. Dieses, meine Damen und Herren, ist jedoch kein Prüfungskriterium des Gesetzgebers, sondern eine Individualentscheidung der geschädigten Bürger. Auf keinen Fall darf das Rechtsproblem der Strafverjährung nach dem Motto behandelt werden - Herr Eylmann, auch Sie sprachen es an -: Schwamm drüber, wir schauen jetzt nach vorn! Damit würde der Gesetzgeber sowohl der gesellschaftspolitischen Herausforderung nicht entsprechen wie auch gegenüber den Opferinteressen kläglich versagen. Meine Damen und Herren, mit der Annahme und Verwirklichung des vorliegenden Gesetzentwurfs wird die Aufarbeitung des DDR-Unrechtes nicht der Strafjustiz überlassen, aber die Strafjustiz wird dabei auch nicht ausgeklammert. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung über Ursachen, über den Umfang und die Auswirkungen von Unrecht in der DDR muß im Interesse der demokratischen, rechtsstaatlichen Zukunft unseres Volkes in vielfältiger Form weiterbetrieben werden. Deshalb bitte ich Sie, der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses Ihre Zustimmung zu geben. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, der nächste Redner ist jetzt unser Kollege Dirk Hansen.

Dirk Hansen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000804, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wieder einmal geht es im Deutschen Bundestag darum, ob wir Verjährungsfristen verändern. Wieder einmal stellt sich die Frage, wie wir mit unserer Vergangenheit umgehen. Wer die dramatischen Debatten im Deutschen Bundestag und in der Gesellschaft noch in Erinnerung hat, als es darum ging, die Verjährungsfristen für Schandtaten in der Zeit des Nationalsozialismus zu verlängern, wird auch jetzt nicht umhinkönnen, sich grundsätzlich mit dieser Frage zu befassen. Mir scheint, das ist keineswegs nur eine Frage für Justiz- und Rechtspolitiker. Wir stellen ja jetzt fest, daß seit einigen Wochen die Debatte um die Verjährungsfrist von Unrechtstaten in der DDR keineswegs nur von Juristen geführt wird, sondern in zunehmendem Maße von Theologen, Historikern und insbesondere von Bürgern in den neuen Ländern, die das Unrecht zu erleiden hatten und vielfach, ja sogar überwiegend, noch immer nicht wissen, in welchem Ausmaß, unter welchen Bedingungen und durch wen ihnen persönlich Unrecht geschah. Wieder einmal befinden wir uns an einer Schnittstelle der Entwicklung dessen, daß zusammenwachsen soll, was zusammengehört. Wieder stellt sich für uns alle - ich denke: im Osten wie im Westen - die Frage, ob es heißen soll: Schluß mit der unseligen Vergangenheit, Strich darunter, Schwamm drüber! Wer so denkt und verjähren lassen will, was nach bisherigem Recht verjährt, der muß, so meine ich, zugleich auch daran denken, daß er auf diese Weise womöglich Partei ergreift für die Täter, wie es Arnold Vaatz, der sächsische Umweltminister, zu Recht gesagt hat. Nein, für die Täter möchte ich nicht Partei ergreifen. Die Opfer werden dies erst recht nicht wollen, gerade weil sie ja in ganz hohem Maße noch gar nicht wissen und wissen können, wer die Täter waren. Der vorliegende Gesetzentwurf von CDU/CSU, SPD und F.D.P. weist ja ausdrücklich darauf hin, daß mit dem Hinausschieben des Eintritts der Verfolgungsverjährung die denkbare Ahndung von Straftaten nicht daran scheitern darf, daß es beim Neuaufbau der Justiz seit dem 3. Oktober 1990 so unendlich viele Schwierigkeiten gegeben hat, ohne die eine Ermittlung, Verfolgung oder gar ein Prozeß ansonsten möglich gewesen wären. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ist eben nicht schon am 3. Oktober 1990 in Kraft getreten, sondern erst vor gut anderthalb Jahren. Erst etwa ein Drittel aller Stasi-Akten ist so weit erschlossen, daß mit ihnen gearbeitet werden kann. Da beißen sich einfach die Fristen, wenn jetzt nach drei Jahren schon eine erste Verjährung einträte, da doch in den ersten anderthalb Jahren seit der deutschen Einheit noch gar nicht ermittelt werden konnte, wo und in welchem Umfang Unrecht geschehen ist. Ich fürchte sehr, daß der fatale Satz, der so oft zu hören ist, man habe Gerechtigkeit erwartet und den Rechtsstaat bekommen, neue Nahrung bekäme. Der Umgang mit dem Rechtsstaat ist im Bewußtsein nach 40 Jahren Unrechtsstaat nicht von einem Tag auf den anderen so möglich, wie sich das viele von uns im Westen vorstellen. Nein, es muß zumindest eine Chance gegeben werden, das Unrecht aufzudekken. Rainer Eppelmann - so finde ich - hat zu Recht gesagt, über Amnestie könne man erst ernsthaft nachdenken, wenn wir wüßten, was es zu vergeben gibt. Es gibt ganz unabhängig von den Bemühungen der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", der ich als Sprecher der F.D.P. angehöre, eine Vielzahl von lokalen und seriösen Ansätzen, für Aufklärung zu sorgen. Aufklärung heißt dann auch Auseinandersetzung mit Daten und Fakten. Ich unterliege nicht dem Irrglauben, der mir ein sehr deutscher zu sein scheint, daß alles wahr sei, was in den Akten steht. Der Ausgang aller Bemühungen um die Wahrheit liegt jedoch im Öffnen, im Zugänglichmachen und Erarbeiten dessen, was die Akten herzugeben vermögen. Akten allein führen leicht in die Irre, aber die gesellschaftliche Auseinandersetzung, ja das menschliche Miteinander derer, die verstrickt waren und die das Opfer staatlicher und parteilicher Obrigkeit gegen den einzelnen wurden, ist notwendig. Bei einer der zahlreichen Anhörungen, die die Enquete-Kommission inzwischen durchgeführt hat, hat mich am meisten beeindruckt, daß uns zur Auskunft, nebeneinander an einem Tisch sitzend, der ehemalige Stasi-IM und sein Opfer saßen. Das scheint mir ein Beispiel dafür zu sein, wie Vergangenheit aufgearbeitet werden kann. Ich stimme Richard Schröder sehr zu, wenn er die Beteiligten auffordert, diesen Klärungsprozeß zu betreiben. Recht hat er mit seinem Satz, die Erforschung der Geschichte sei unabschließbar. Ich stimme ihm jedoch nicht mehr zu, wenn er glaubt, zur Normalität zurückzukehren sei jetzt möglich und nötig. In seinen höchst lesenswerten Artikeln vom Februar und September dieses Jahres in der „FAZ" empfiehlt er, man müsse bald zur Normalität zurückkehren. Ich frage mich: Was ist denn normal, wenn ich am Ende dieses Jahrhunderts feststellen muß, daß Diktaturen, die in Zielsetzung und Grundlagen höchst unvergleichlich waren, in Deutschland zweimal die Chance hatten, in totalitärer Manier die Menschen zu quälen, zu verfolgen, einzusperren und zu Tode zu bringen? Kann da ein Schlußstrich gezogen werden, ein Deckel auf die Geschichte gelegt werden nach dem Motto, jetzt fange die Normalität an? Nein, mir scheint das ein Irrweg, ein Weg in eine Illusion zu sein. Es wird uns allen, im Osten und im Westen, nicht erspart bleiben, uns immer wieder der Vergangenheit zu stellen. Sowenig ich insgesamt daran glaube, daß Vergangenheit justitiell aufgearbeitet, gar bewältigt werden könnte, so ist eben doch die Akteneinsicht, die Ermittlung und auch die Anklage vor Gericht ein Weg zur Erhellung der Dunkelheit. Dabei ist es nicht entscheidend, ob dann ein Urteil möglich ist. Erst recht haben wir in einem liberalen Rechtsstaat Gott sei Dank langst Abschied vom Sühnegedanken genommen. Wenn es bei unserem Gesetzentwurf neben der Absicht, Mordtaten in Deutschland nicht mehr verjähren zu lassen, um die sogenannten minderschweren Delikte geht, wie Bespitzelung, Verleumdung, Bedrohungen, Hausfriedensbruch und Kontrollen von Briefen und Telefongesprächen, so möchte ich doch darauf hinweisen, daß es hier zum Teil nach unserem Verständnis um die Verletzung von Grund- und Menschenrechten geht. Deswegen ist es ein Hohn, wenn in den vergangenen Wochen vielfach in diesem Zusammenhang von sogenannten Bagatelldelikten die Rede war. Nein, diese Delikte standen oftmals, wenn nicht immer, im Zusammenhang mit umfassenderen Repressionsmaßnahmen. Daher ist einer Verjährung solcher Delikte von Funktionärskriminalität aus rechtsstaatlicher Sicht eine Absage zu erteilen. Wir wollen den Weg freimachen, daß Ermittlungs- und Justizbehörden normal funktionieren können. Wir wollen über Erschütterung und Betroffenheit hinaus den Weg zu Aufklärung und moralischer wie justitieller Rehabilitation weitergehen können. Wir wollen nicht verdrängen und zudeckeln, sondern überhaupt die Möglichkeit der Versöhnung auf dem Wege der Erkenntnis und Wahrheit oder wohl doch besser von Wirklichkeit bewahren. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Uwe-Jens Heuer.

Prof. Dr. Uwe Jens Heuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000891, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir hatten schon mehrfach Gelegenheit, in diesem Hause über das Verhältnis von Recht und Politik zu diskutieren. Ich glaube, daß niemand mit wachem Verstand an unseren Sitzungen längere Zeit teilnehmen oder ihnen zuhören kann, ohne zu bemerken, daß das Recht auch hier Instrument der Politik ist. Auch Sie werden nicht bestreiten, daß es hier wie überall politische Justiz in dem Sinne gibt, wie Otto Kirchheimer sie definiert hat: „Wenn gerichtsförmige Verfahren politischen Zwekken dienstbar gemacht werden, sprechen wir von politischer Justiz." ({0}) Das führt allerdings oft zu einem hohen Maß an Unaufrichtigkeit. Besonders gefährlich wird es, wenn urn offenkundig tagespolitischer Notwendigkeiten willen rechtsstaatliche Grundprinzipien in Frage gestellt werden, wenn in frevelhafter Weise augenblicklicher politischer Vorteil über rechtsstaatliches Denken triumphiert. Das war in der DDR unzweifelhaft der Fall. Das gibt es aber auch in dieser Bundesrepublik. Dafür bildet das hier zur Diskussion stehende Verjährungsgesetz ein eklatantes Beispiel. Die Juristen hatten parteiübergreifend Bedenken, die Politiker haben es parteiübergreifend durchgesetzt. Anfang dieses Jahres hatte der Bundestag das Ruhen der Verjährung für in der DDR zu Unrecht nicht verfolgte Straftaten rückwirkend für die Zeit bis zum 3. Oktober 1990 beschlossen. Für eine ganze Reihe von Straftaten - Beleidigung, Hausfriedensbruch und anderes - würde das nun in neun Tagen verjähren. Unmittelbar vor Verstreichen der Verjährungsfrist soll sie jetzt bis 1995 verlängert werden, für etwas schwerere Straftaten bis 1997. Für die erste Gruppe der Straftaten wollte das so recht niemand. Es war nicht einzusehen, sich statt mit der zunehmenden Gegenwartskriminalität mit Beleidigungen und Brieföffnungen in der DDR des Jahres 1950 zu befassen. Eine Anmerkung: Wer hat sich übrigens mit den Brieföffnungen dieser Zeit in Westdeutschland befaßt? Wann können wir die Akten des Verfassungsschutzes aus dieser Zeit einsehen? Auch war allen bekannt, daß niemand in der Lage ist, auch nur einen geringen Teil dieser Straftaten aufzuklären. Herr Eylmann hat hier nun gesagt, es sei doch schlimm, daß sich das Justizministerium in dieser Frage nicht eingeschaltet habe. Aber Herr Schäuble, der ja in der CDU keine unmaßgebliche Rolle spielt, war noch im „Spiegel", Nr. 34 dieses Jahres, entschieden dagegen. Die westdeutschen und der brandenburgische Justizminister lehnten ein solches Vorhaben gleichfalls ab. Die jetzige Entscheidung ist das Ergebnis einer Kampagne, die unter maßgeblichem Einfluß des KohlKandidaten für die Präsidentschaft, Sachsens Justizminister Heitmann, erfolgte. ({1}) - Herr Hansen hat hier jetzt gesagt: Keine Verjährung für die unbekannten Täter. Wie lange will er denn die Verjährung beseitigen - drei, fünf oder zehn Jahre? ({2}) In wenigen Wochen ist es gelungen, die Verjährung aus einem normalen Rechtsprinzip in eine „Wohltat für Verbrecher" zu verwandeln. Herr Eylmann sprach von verkappter Amnestie. Ebenso wie jetzt die Unantastbarkeit der Wohnung zum Haupthindernis der Kriminalitätsverfolgung geworden ist! Werden wir eines Tages in der Zeitung „Die Welt" lesen, daß die Folter unter bestimmten Umständen auch unabdingbar für die Bekämpfung von Verbrechern sei, wobei ich selbstverständlich sofort von Kritikern den Zusatz erwarte, daß natürlich dabei nichts ohne die Beteiligung eines Kollegialgerichts laufen dürfe? Es wurde dann in Windeseile vor 14 Tagen ein Gesetzentwurf von CDU/CSU, SPD und F.D.P. vorgelegt, der nun die doch recht abenteuerliche Rechtskonstruktion enthielt, daß die am 3. Oktober 1990 begonnene und fast abgelaufene Verjährungsfrist am 1. Januar 1993 noch einmal beginnen sollte, ohne daß irgendein äußerer Grund außer dem Willen dieser übergroßen Koalition für diesen Neubeginn angeführt werden konnte. Die erste Lesung fand dann auch ohne Aussprache statt. Am 15. September - eine Woche danach - trat der Rechtsausschuß zusammen. Das Justizministerium hatte inzwischen erfreulicherweise eine Formulierungshilfe erarbeitet, die diese abenteuerliche Rechtskonstruktion aufgab und eine Verlängerung von gut zwei Jahren vorsah, allerdings nur für den Osten. Die verfassungsmäßige Fragwürdigkeit ist offensichtlich, das Unbehagen allgemein. Das können auch die lauten Worte hier nicht übertönen. In der Diskussion wurde immer wieder vom Symbolcharakter des Gesetzes gesprochen, ein Begriff, der jeden rechtsstaatlich denkenden Juristen aufhorchen läßt. Die Justizministerin, in der ich nach wie vor eine Exponentin der den Rechtsstaat ernst nehmenden Minderheit dieses Hauses sehe, hatte in der Haushaltsdebatte erklärt, daß Strafrechtsnormen mit dem Anspruch verbunden seien, sie auch durchzusetzen. Dieses Gesetz ist ein Musterbeispiel für das Gegenteil. Warum aber macht man ein Gesetz, das kaum durchzusetzen ist, das Willkür schafft, Ungleichheit zwischen West und Ost immer weiter fortführt, das geradezu nach dem Verfassungsgericht schreit? Ich sehe vor allem zwei Gründe: Einmal ist es immer wieder nötig, die These vom Unrechtsstaat DDR zu untersetzen. Herr Eylmann hat hier gesagt, die MenDr. Uwe-Jens Heuer schen brauchten sich ja nicht strafbar zu machen. Ich frage Sie, lieber Kollege Eylmann: Womit hat sich damals Markus Wolf im Osten strafbar gemacht? Er durfte also in diesem Staat nicht Chef des Nachrichtendienstes sein. Darum geht es. ({3}) - Schreien Sie nicht, meine Herren, denken Sie nach! Das Thema soll nicht vom Tisch. Jeder, der es auf die Tagesordnung setzt, ist sich des Wohlwollens der Herrschenden sicher, Rechtsstaat hin, Rechtsstaat her. Zum anderen geht es beim politischen Strafrecht um die Demütigung und Verunsicherung Zehntausender und Hunderttausender, deren Kampfeswille ausgeschaltet werden soll. ({4}) Die Kampagne hat auch das Ziel, die Befürworter von Versöhnung und Amnestie vorzuführen. Triumphierend wurde erklärt, daß mit diesem „Blitzgesetz" -- so die „Frankfurter Rundschau" vom 15. September - endlich das Amnestie- und Versöhnungsgerede vom Tisch ist.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Dr. Heuer.

Prof. Dr. Uwe Jens Heuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000891, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Darf ich noch einen abschließenden Satz sagen?

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte sehr, ein abschließender Satz.

Prof. Dr. Uwe Jens Heuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000891, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Wenn man jetzt erst einmal neue Türen für Herrn Schaefgen und seine Ermittler öffnet, ist es um so schwerer, später auf diesem Weg innezuhalten. Viele Politiker in Regierung und Opposition wissen längst, daß es sich hier um eine Sackgasse handelt. Noch einmal ein Zitat von Herrn Kirchheimer, das meine Hoffnung auf Sinneswandel ausdrückt: Daher ist der größte Vorwurf, den man der politischen Justiz - und natürlich auch der politischen Strafgesetzgebung - machen kann, gleichzeitig ihr hauptsächliches Verdienst: daß sie niemals den Charakter der Endgültigkeit trägt. ({0}) Ich danke Ihnen. ({1}) Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, nächster Redner ist jetzt unser Kollege Dr. Wolfgang Ullmann.

Dr. Wolfgang Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002354, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein sehr kurzes Gesetz ist Gegenstand unserer Debatte. Sein Inhalt ist eine äußerst spezielle Frage des Strafrechts. Und doch - wir haben es gerade bemerkt - ist es ein Gesetzgebungsakt, den leidenschaftliche Debatten umgehen, weil es in ihm um rechtsdogmatische Grundfragen geht. Die Kritiker des Gesetzentwurfes werfen ihm Rechtswillkür vor, verweisen - wie eben - auf die Schnelligkeit des Verfahrens, die alle schon gegen das ältere Verjährungsgesetz vorgebrachten Einwände verstärkt wiederaufleben läßt. Diese Kritik ist sehr ernst zu nehmen, schon deswegen, weil sie von politisch durchaus unterschiedlichen Positionen vorgebracht wird. Eine angemessene Antwort kann nur aus dem rechtlichen Kontext kommen, in den der vorliegende Gesetzentwurf gehört. Er ist nicht nur, aber auch eine Konsequenz des Stasi-Unterlagen-Gesetzes vom 20. Dezember 1991. So ist es nur konsequent, wenn die Kritiker des Verjährungsfristengesetzes in mehr oder weniger deutlicher Form auch die Tendenz verfolgen, eine baldmöglichste Schließung der erst voriges Jahr geöffneten Akten zu verlangen oder wenigstens zu empfehlen. Aber schon hier beginnt sich ihr Irrtum abzuzeichnen. Denn ganz gewiß war jenes Gesetz aus dem Dezember 1991 ein ungewöhnlicher und in gewisser Weise sogar einzigartiger Schritt. Keineswegs sicher ist, ob wir schon jetzt über seine Auswirkungen angemessen zu urteilen vermögen. Aber ebenso klar ist auch: Dieser Schritt der Aktenöffnung ist urumkehrbar; denn dieser Schritt führte hinein in eine neue Dimension informationeller Selbstbestimmung. Er kann nicht rückgängig gemacht werden, so viele das auch gerne möchten. Die hier einmal errungene informationelle Selbstbestimmung gegenüber einem staatlichen Informationsmonopol kann nicht mehr aus der Welt geschafft werden, ich denke, schon deswegen nicht, weil sie ein für allemal eine staatliche Definitionsmacht gerade gegenüber jenem Teil unserer Persönlichkeit liquidiert hat, der der verletzlichste ist, an dem wir deswegen prinzipiell wehrlos sind, weil wir den Umgang mit ihm niemals vollständig kontrollieren können, nämlich die Unversehrtheit unseres Namens.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Dr. Ullmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Heuer?

Dr. Wolfgang Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002354, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte, Herr Kollege Heuer.

Prof. Dr. Uwe Jens Heuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000891, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Ullmann, in den 50er Jahren hat es in der alten Bundesrepublik Gesetzgebungen gegeben, derer man sich 1968 geschämt hat. Halten Sie es unter diesen Umständen für richtig, die Frage der Öffnung der Akten auch für dieses Land zu stellen?

Dr. Wolfgang Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002354, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich denke, die Frage ist zu bejahen. Es ist richtig, diese Frage zu stellen. Ich habe gesagt, welche Konsequenzen dieser Schritt haben wird, können wir beide, Herr Heuer, im Moment noch nicht überschauen. Mögen unsere Persönlichkeit noch so frei entwikkelt, unsere körperliche und seelische Unversehrtheit noch so gut gesichert sein, wie es unser Grundgesetz verlangt, wer schützt uns davor, als Feind der gesellschaftlichen Entwicklung gebrandmarkt und deswegen für moralisch oder physisch vogelfrei erklärt zu werden? Keine Leibwache wird das tun, sondern allein die grundsätzliche Öffentlichkeit staatlichen Handelns, wie sie die Öffnung der Akten erzwungen hat. Darum ist das damalige Gesetz ebensosehr ein Akt radikaler und vollständiger Dekonspiration gegenüber einer ehemals staatlich bewehrten Konspiration. Keine Macht der Welt wird wieder rückgängig machen, was diese Dekonspiration ans Licht gebracht hat: ({0}) Im Zentrum dieser Konspiration gegen die eigenen Bürger saß nicht irgendein Computer, ein bloßer Apparat; dort saßen Menschen. ({1}) Was sie bewirkten, war nicht Sicherheit, sondern Korruption gigantischen Ausmaßes, nicht Stärkung, sondern Unterhöhlung der Autorität des Staates, in dessen Namen konspiriert wurde. Bestandteil des Stasi-Unterlagen-Gesetzes - § 1 Abs. 1 Nr. 3 - ist die Möglichkeit der juristischen Aufarbeitung dieser Konspiration gegen Mitmenschlichkeit, Wahrhaftigkeit und persönliche Integrität. Allein im Dienste dieser Möglichkeit wird der vorliegende Gesetzentwurf eingebracht. Wir können es nicht zulassen, daß der von zahlreichen äußeren Umständen abhängige Stand der Aktenbearbeitung schwerwiegende und vermeidbare Ungleichheiten im Wahrnehmen dieser juristischen Aufarbeitung herbeiführt. Ob und inwieweit Betroffene von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, das unterliegt ihrer freien Entscheidung. Dem Gesetzgeber aber obliegt es, ihnen diese Entscheidungsfreiheit offenzuhalten. Gegen dieses Recht läßt sich auch nicht ein öffentliches Interesse an Versöhnung ins Feld führen. Ohne Wahrheit, meine Damen und Herren, keine Versöhnung. Den Leuten von Manifest II, Gräfin Döhnhoff und den Ihren, gebe ich zu bedenken: Versöhnung ohne Wahrheit, das müßte eine trostlose Versöhnung sein, eine Versöhnung mit trostlosen Zuständen. ({2}) Ranke hat einmal gesagt, die Wahrheit sei nie trostlos. Er konnte das wohl sagen, weil er, der illusionslose Kenner der Vergangenheit, sehr genau wußte: Etwas anderes als die Wahrheit kann niemals Basis für eine getroste Versöhnung werden. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, es gab in der Zwischenzeit den Versuch, noch Fragen zu stellen. Ich will noch einmal darauf hinweisen: Wenn die Redezeiten abgelaufen sind, können wir Zwischenfragen nicht mehr zulassen. Es gibt aber eine andere Möglichkeit - von dieser soll jetzt Gebrauch gemacht werden -: Nach § 27 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung können am Ende der ersten Runde Zwischenbemerkungen gemacht werden. Eine solche Zwischenbemerkung möchte unsere Frau Kollegin Angelika Barbe machen. Sie hat das Wort.

Angelika Barbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000091, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Heuer, ich empfand Ihre Rede als Beleidigung, und zwar in doppelter Hinsicht. Einmal mußte ich es mir - auch andere - in der DDR gefallen lassen, methodisch abgehört zu werden. Das war keine Bagatelle. Das geschah nicht nur einmal und dann später öffentlich unter Rechenschaftspflicht, sondern ich wurde systematisch abgehört. Es ist vielen anderen noch viel schlimmer gegangen. Jetzt muß ich mir von Ihnen hier sagen lassen - ich zitiere -, statt zunehmender Gegenwartskriminalität müßten jetzt Beleidigungen von 1950 behandelt werden. Ich empfinde das wirklich als eine Unverschämtheit und eine Ungehörigkeit ({0}) und den Opfern gegenüber als eine Beleidigung. Sozialdemokraten sind gerade in den 50er Jahren wegen Beleidigung ins Gefängnis gekommen oder haben dafür Jahre im Gefängnis und im Zuchthaus gesessen. Denken wir nur an die Urteile, die 1953 ergangen sind. ({1}) Zum anderen will ich Sie darauf hinweisen, daß auch künftige Generationen Schaden nehmen können, wenn staatlich verordnetes Verbrechen nicht geahndet wird. Und dies, was dort erfolgt ist, war staatlich angeordnetes Verbrechen. ({2}) Außerdem denke ich, daß es bei der jungen Generation den Eindruck entstehen lassen könnte, daß man in Deutschland staatlich begangenes Unrecht weiterhin tun könnte, ohne daß es aufgearbeitet wird. Diesem Eindruck müssen wir uns entgegenstellen. Dann, Herr Heuer, was droht denn eigentlich an Rache? Ein Jahr Gefängnis als Höchstmaß, und schließlich kommt noch Bewährung heraus. Denken wir nur an die letztens zu Ende gegangenen Prozesse. Und wofür? Für Überwachung der Wohnungen, für Diskreditierung des Rufes, für Kompromittierung, für methodische Post- und Telefonüberwachung. Mit Hilfe dieser Gesetze kommen wir an die Auftraggeber von Zersetzungsmaßnahmen erst heran, wenn wir das ganze Ausmaß der Verbrechen in den Akten ansehen können. Dann wird auch erst klar, warum es nötig sein muß, eine Verjährung, gewiß auf Zeit, nicht zuzulassen. Zum Schluß noch eines: Ich könnte mir vorstellen, weiter darüber nachzudenken, daß auf Geheiß von Staaten begangenes Unrecht überhaupt keiner Verjährung unterliegen sollte. Danke. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Nun hat unser Kollege Dietrich Mahlo das Wort zu einer Zwischenbemerkung. - Herr Kollege Professor Dr. Heuer, Sie dürfen nachher einmal antworten. - Bitte sehr, Herr Kollege Mahlo.

Dr. Dietrich Mahlo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001408, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Der Redebeitrag von Herrn Professor Heuer gibt mir Veranlassung, mich in drei Punkten gegen seinen Inhalt zu verwahren. Erstens. Ich verwahre mich gegen die Aussage, daß die Verlängerung der Verjährungsfrist innerhalb einer ganz bestimmten politischen Situation der Wiedereinführung von Folter gleichzusetzen sei. Zweitens. Ich verwahre mich gegen die Behauptung, daß die Ministerin für Justiz zu einer Minderheit der Mitglieder dieses Hauses gehöre, die rechtlich und rechtsstaatlich dächten; und ich glaube nicht, daß diese Mitglieder eine Minderheit sind. ({0}) Drittens verwahre ich mich gegen die Behauptung, die DDR sei ein Rechtsstaat gewesen. Ich bin der Ansicht, daß ein Mitglied dieses Hauses, das selbst jahrelang in der DDR Juristen ausgebildet hat, ausreichend über die Verhältnisse der DDR Bescheid weiß. Ich nehme nur ein Beispiel dafür, das Ihnen bekannt ist, Herr Kollege Heuer: daß der Verurteilte in der DDR, wenn es sich um eine politische Verurteilung handelte, nicht einmal sein Urteil und nicht einmal eine Begründung seiner Verurteilung übergeben bekam. Danke. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Abgeordneter Heuer, eine Antwort?

Prof. Dr. Uwe Jens Heuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000891, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Barbe, Sie haben gesagt, daß Sie meine Rede als eine Beleidigung empfunden haben, und Sie selber haben meine Rede als Unverschämtheit bezeichnet. ({0}) Ich weiß nicht, ob es richtig ist, auf behauptete Beleidigungen seinerseits mit Beleidigungen zu antworten. Das ist keine Lösung der Probleme. Ich habe nicht von Bagatellstrafen gesprochen. Die Fälle, wenn jemand ins Gefängnis gegangen ist, ({1}) fallen ja hier nicht darunter. Das ist offensichtlich. Es geht hier um Beleidigungen, die im übrigen folgenlos waren. Das wissen Sie wie ich. Es geht um Dinge, die nur mit Gefängnis bis zu einem Jahr bedroht waren, und nicht um andere Dinge. Sie dürfen das nicht vermischen. Ich frage Sie trotzdem: Warum soll das seit den 50er Jahren aufgerollt werden? Es wird in der Bundesrepublik auch nicht aufgerollt. Es geht jetzt um 45 Jahre für Beleidigungen u. a. Totschlag verjährt normalerweise in 20 Jahren. Warum soll das alles Jahrzehnte dauern? Das ist meine Frage. ({2}) - Staatsverbrechen? Es handelt sich um Individuen, die beleidigt haben. Das wissen Sie wie ich, und Sie sagen: Das ist Funktionärskriminalität. Das kann sich um Tausende oder Zehntausende von Leuten handeln. Sie wollen das. Ich will es nicht. Ich halte es für überflüssig und für eine unnötige Grausamkeit. ({3}) Nun noch zu der Frage: Ist die DDR ein Rechtsstaat gewesen? Ich habe das nicht gesagt. Wenn Sie meine Reden läsen, was ich Ihnen empfehlen würde ({4}) - ja, um mit mir zu diskutieren -, dann wüßten Sie, daß ich in diesem Hause mehrfach erklärt habe: Die DDR war trotz aller Fortschritte bis zum Schluß kein Rechtsstaat. Das habe ich mehrfach erklärt, und das kann ich hier noch einmal erklären. Aber sie war deshalb kein Unrechtsstaat. Wenn wir in diesem Hause je eine theoretische Diskussion haben sollten, was ich nicht erwarte, könnten wir über dieses Problem ausführlicher diskutieren. Aber in diesem Staat heute gibt es nach meiner Ansicht Dinge, die gefährlich sind. Viele von Ihnen in diesem Hause wissen das, und vielen ist es unbehaglich. Ich bitte Sie: Denken Sie darüber nach, was Sie hier machen. Sie werden diesen Prozeß schwer wieder rückgängig machen können, und Sie zerstören die Rechtsstaatlichkeit, die ich hoch schätze.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich erteile jetzt dem Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern, Herrn Seite, das Wort. Ministerpräsident Dr. Berndt Seite ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sie haben heute über die Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsfristen für SEDUnrecht zu beschließen. Für Taten, die in der DDR und auf dem Gebiet der neuen Länder bis Ende 1992 begangen wurden und mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bedroht sind, soll die Verjährung erst am 1. Januar 1993 beginnen. Wir haben das 40jährige Unrechtsregime der SED politisch und rechtlich aufzuarbeiten. Das ist eine Aufgabe von ganz Deutschland, eine Aufgabe allerdings, die uns im Osten besonders berührt und die wir in erster Linie im Osten ausführen müssen. An der Bewältigung dieser Aufgabe messen viele Bürger den freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat. Ich brauche Ihnen nicht auszuführen, daß viele Einzelentscheidungen der jüngsten Zeit auf verständnisloses, ja, sogar resigniertes Kopfschütteln stoßen. Es zeichnet den Rechtsstaat aus, daß er an Honecker Ministerpräsident Dr. Berndt Seite ({1}) und Stoph, Kessler und Mielke solche Maßstäbe rechtlicher Garantien und humanitärer Großzügigkeit anlegt, die diese Politfunktionäre uns gegenüber niemals anwandten. Das Spektrum der Straftaten reicht von den Todesschüssen an der Mauer, der Einweisung politischer Gegner in psychiatrische Anstalten bis hin zu alltäglicher Rechtsbeugung, zu Erpressung und Bespitzelung, zu Urkunden- und Wahlfälschung. Die Skala der Täter beginnt bei den Mitgliedern des Politbüros, die sich heute als bloße Befehlsempfänger der ehemaligen KPdSU darstellen. Sie reicht über die hohen und höchsten Apparatschiks, die alle Vorteile des Systems genossen haben und seine gewalttätige, unrechte Kehrseite nicht sehen wollten, bis hin zu den eifrigen Parteigängern und willfährigen Gehilfen. Und dann gibt es noch jene vielen, bei denen wirklich nicht klar ist, ob sie nicht auch zu den Opfern zu zählen sind. Unser Urteil wird noch dadurch erschwert, daß im Unterdrückungsapparat des SED-Staates der einzelne nur ein kleines, beliebig ersetzbares Rädchen war. Aber der ganze Apparat konnte nur funktionieren, weil viele einzelne bereit waren mitzumachen. Sie im Westen wissen es, und wir im Osten lernen es: Unser Strafrecht geht vom unmittelbaren Täter aus. Es bedarf schwieriger Konstruktionen wie Anstiftung, Beihilfe und mittelbarer Täterschaft, um auch die Hintermänner und Drahtzieher zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn man ihnen überhaupt etwas beweisen kann! Die Befürchtung, daß man nur die Kleinen hängt und die Großen laufen läßt, notfalls bis nach Chile, ist seit dem Urteil gegen Kessler und Streletz entkräftet. Die Täter sind wegen Anstiftung und Beihilfe zur Tötung strafrechtlich verurteilt. Der Gerechtigkeit ist damit im Grundsatz Genüge getan. Die Frage, ob und wann sie ihre Strafen antreten, steht auf einem anderen Blatt. Das betrifft allgemeine Grundsätze des Strafrechts. Viele Formen des politischen Unrechts aus der jahrzehntelangen Diktatur sind mit den Instrumenten des Strafrechts allein nicht zu fassen. So waren z. B. diejenigen, die von revolutionärer Wachsamkeit und vom unbarmherzigen Kampf gegen den allgegenwärtigen Klassenfeind predigten, für jenes Klima verantwortlich, in dem der Bespitzelungsapparat funktionierte und in dem dann auf Flüchtlinge geschossen wurde, ohne daß sie selber den Schießbefehl gegeben haben. Strafrechtlich werden wir solche Täter wohl nie belangen. Auch deshalb ist es so wichtig, daß das SEDUnrechtsregime mit seinem totalitären Ansatz, daß die DDR-Geschichte auch politisch, historisch und wissenschaftlich aufgearbeitet wird, z. B. durch die Enquete-Kommisson des Deutschen Bundestages. Diese Auseinandersetzung muß die strafrechtliche Aufarbeitung, die Bewertung nach Recht und Unrecht, ergänzen. Das ist schon deshalb unverzichtbar, um künftiger Idealisierung von 40 Jahren Realsozialismus vorzubeugen. Daneben ist es notwendig, alle Instrumente des Rechtsstaates zur Aufarbeitung des Unrechts einzusetzen; denn nur das Recht kann Schuld sühnen und den Opfern Gerechtigkeit verschaffen. Es geht nicht an, daß wir alle Täter laufen lassen, nur weil wir nicht jeden zur Verantwortung ziehen können. Nach meiner festen Überzeugung dürfen wir nicht einfach einen Schlußstrich ziehen, so bequem das auch wäre. Ich weiß, daß sich nach einer InfasUmfrage im August dieses Jahres immerhin 51 % der Ostdeutschen dafür ausgesprochen haben. Auf Grund meiner Vita bin ich der festen Überzeugung, daß es ohne eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit keine Gerechtigkeit geben wird. ({2}) Wir dürfen nicht zulassen, daß wir heute in Deutschland ein zweites Mal Gefahr laufen, die Vergangenheit zu verdrängen. Fragen wir uns doch einmal ehrlich, was wohl geschähe, wenn nach dem Nationalsozialismus das zweite totalitäre Unrechtssystem der deutschen Geschichte nicht wirklich aufgearbeitet würde! Professor Scholz hat in diesem Zusammenhang sinngemäß völlig zu Recht gesagt, ohne eine Aufarbeitung könnten künftige Generationen urteilen, daß es uns Deutschen unmöglich ist, totalitäre Systeme rechtsstaatlich zu bewältigen. Ein solcher Eindruck käme dann jedoch der Begründung wirklicher historischer Schuld gleich. Die Strafverfolgungsbehörden der neuen Bundesländer sind mit der Aufarbeitung der Taten einer 40jährigen Diktatur vor eine historisch einmalige Herausforderung gestellt. Ohne Hilfe des Gesetzgebers können sie ihr nicht gerecht werden. Sie wissen, daß wir auf Grund der Schwierigkeiten des Neuaufbaus eine große Zahl von Straftaten nicht mehr rechtzeitig verfolgen und anklagen können, wenn das geltende Recht nicht geändert wird. Die Zahl der neuen Ermittlungsverfahren übersteigt meines Wissens in allen neuen Bundesländern die Zahl der Erledigungen. Es ist damit zu rechnen, daß mit der fortschreitenden Aufarbeitung der Unterlagen der Gauck-Behörde eine Vielzahl weiterer Straftaten bekannt wird. Hinzu kommt die sogenannte Vereinigungskriminalität, also Wirtschaftsdelikte, die bei der Umstellung der Wirtschaft der DDR auf marktwirtschaftliche Verhältnisse begangen wurden. Dort sind dem Staat und der Wirtschaft Schäden in Milliardenhöhe entstanden. Eine zusätzliche Arbeitsbelastung stellten und stellen die Rehabilitierungsverfahren dar. Sie sind für die Aufarbeitung unserer Geschichte ebenso wichtig wie für die vielen Betroffenen, die damals Unrecht erlitten haben. Sie tragen dazu bei, der Nachwelt ein richtiges Bild über die Deutschen in der ehemaligen DDR zu verschaffen. Wir Deutschen in der DDR waren nicht alle SEDGenossen; bei weitem nicht alle SED-Mitglieder haben persönliche Schuld auf sich geladen. Um so Ministerpräsident Dr. Berndt Seite ({3}) wichtiger für uns alle ist es, die wirklichen Täter und die Opfer nicht in einen Topf zu werfen. Die Beseitigung von Defiziten bei Gerichten, Staatsanwaltschaften und Polizei reicht allein nicht aus, um die drohende Verjährung zahlreicher Straftaten zu verhindern. Jetzt ist der Gesetzgeber, jetzt sind Sie gefordert, das Verjährungsrecht so zu gestalten, daß eine effektive Verfolgung der DDR-Alttaten und der im Zuge des Einigungsprozesses begangenen Delikte gewährleistet ist. Ein Schritt in die richtige Richtung war das von Mecklenburg-Vorpommern initiierte Gesetz über das Ruhen der Verjährung bei SED-Unrechtstaten vom 26. März 1993. Damit wurde klargestellt, daß die Verjährung von SED-Unrechtstaten, die aus politischen Gründen nicht verfolgt wurden, bis zum Tag des Beitritts geruht hat. Diesem ersten Schritt muß ein weiterer folgen. Für die Delikte mit dreijähriger Verjährungsfrist, z. B. Hausfriedensbruch, Bedrohung, Verleumdung, Verletzung des Briefgeheimnisses, Verletzung des Berufsgeheimnisses, die mit Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr bedroht sind, ist es heute fünf vor zwölf. Wenn Sie jetzt, meine Damen und Herren nicht zustimmen, ({4}) ist die Verfolgung dieser Delikte am 3. Oktober 1993 endgültig verjährt. Dies wäre eine verkappte Teilamnestie für SED-Unrechtstaten, eine nachträgliche Verhöhnung der Opfer jener kleinen und großen Quälereien im DDR-Alltag. ({5}) Wir gehen davon aus, daß die Verlängerung der Verjährungsfrist den Zeitverlust ausgleicht, der in den Strafverfolgungsbehörden der neuen Lander durch die vereinigungs- und aufbaubedingten Schwierigkeiten entstanden ist. Die Täter dürfen doch nicht dadurch privilegiert werden, daß die Beseitigung der Trümmer ihrer Diktatur mit so viel Mühe verbunden ist. Der in den Diskussionen oft erhobene Einwand, es handle sich hier um Bagatellunrecht, ist schon im Ansatz falsch. ({6}) Der sächsische Justizminister hat zu Recht darauf hingewiesen, daß sich hinter diesen sogenannten Bagatelltatbeständen in Wirklichkeit typische StasiMethoden verbergen, die der totalitäre Staat gegen seine Bürger anwandte. Für die Opfer waren es ohnehin keine Bagatellen. Es waren zentrale Angriffe gegen ihre Person und gegen die Freiheit. Viele von ihnen sind heute gebrochene Menschen, die sich von den Diskriminierungen ihr ganzes Leben lang nicht mehr erholen werden. Ein Beispiel unter vielen aus meinem Land ist die Biographie jenes Pfarrers, der sich in der Jugendarbeit engagiert hatte. Über Jahre hinweg wurde er von der Stasi mit Drohungen in Angst und Schrecken gehalten. Die Repressalien gingen über seine eigene Person hinaus. Seine fünfköpfige Familie wurde in vollem Umfang mit erfaßt. Es gab eine Sippenhaft. Deshalb ist mir so wichtig, daß die Tat jedenfalls als Unrecht manifestiert wird, wie auch immer dann das Strafmaß ausfällt. Die Losung „Laßt verjähren, was verjährt" geht an den erlittenen Verletzungen und den immer noch anhaltenden Schmerzen der Opfer des SED-Unrechts vorbei. Frieden mit den Tätern über die Köpfe der Opfer hinweg darf es nicht geben, denn wahre Versöhnung setzt Gerechtigkeit voraus. Die Gerechtigkeit aber verlangt eine Aufklärung und Verfolgung dieser Taten. Ohne Aufarbeitung der Vergangenheit - auch über die strafrechtlichen Möglichkeiten hinaus - gibt es keine Versöhnung, keine Zukunft. Die Vergangenheit wird uns sonst eines Tages einholen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, heute geht es um die strafrechtliche Aufarbeitung oder zumindest um einen Teilaspekt davon. Geben Sie dem Rechtsstaat in den neuen Ländern die Chance, sich zu bewähren und Gerechtigkeit zu stiften! Ich danke Ihnen. ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Abgeordnete Rolf Schwanitz.

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will mich in meinen Ausführungen auf das konzentrieren, was in den letzten Wochen und Monaten das eigentlich Strittige an diesem Thema war, nämlich die Frage: Sollen mit diesem Gesetzentwurf auch die Straftaten, die nur mit einer Strafandrohung bis zu einem Jahr versehen sind, in ihrer Verjährbarkeit gehemmt werden? Sollen wir tatenlos zuschauen, daß dafür am 3. Oktober dieses Jahres eine Verjährung eintritt? Ich bin der Auffassung, daß wir dies nicht tun sollten. Ich bin der Auffassung, daß es eine tiefe Notwendigkeit gibt, diese Verjährung am 3. Oktober dieses Jahres nicht eintreten zu lassen. Ich sehe vor allem zwei Hauptgründe, die aus meiner Sicht dabei im Zentrum stehen: Erstens geht es um die Informationsblockade gegenüber den Opfern und der Öffentlichkeit, die infolge der Stasi-Konspiration auch im dritten Jahr der deutschen Einheit nach wie vor besteht. Die Konspiration, das verdeckte Ausüben dieser Straftaten, war geradezu der Nährboden für diese Kategorie von Straftatbeständen in der DDR. Wenn beim Bundesbeauftragten noch zwei Drittel der eigentlich Betroffenen - wir werden heute noch darüber reden -, die dort Anträge auf Akteneinsicht stellen, warten, da erst ein Drittel die Akten sehen konnte, dann besteht diese Blockade nach wie vor. Zweitens geht es um die schon von mehreren Kollegen angesprochene, noch immer unzureichende Arbeitsfähigkeit der ostdeutschen Justiz, die dieser Fülle von Ermittlungstätigkeit nicht gerecht wird. Ich sehe dies auch durch zahlreiche Aussagen ostdeutscher Justizminister bestätigt; auch der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern hat darauf hingewiesen. Diese beiden Punkte sind für mich die eigentlichen Hauptfragen - das Fortwirken der staatlichen Verschleierungstätigkeit und die mangelhafte Arbeitsfähigkeit der ostdeutschen Strafverfolgungsbehörden -, weshalb die Politik nicht zusehen kann und weshalb eine Verjährung nicht jetzt einsetzen darf. Wir wissen, daß es in den Diskussionen eine ganze Reihe von unterschiedlichen Positionen auch zu diesem Punkt gegeben hat. Die Meinungen waren in allen Fraktionen sehr, sehr differenziert. Für mich bestand eines der Hauptgegenargumente derer, die gesagt haben, es solle jetzt verjähren, darin, daß eine Überlastung der ostdeutschen Justiz durch diese Verlängerung der Verjährungsfrist provoziert wird. Ich habe auch im Zusammenhang mit den Auswirkungen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes mit zahlreichen Personen geredet, die ihre Akten eingesehen haben. Ich muß aus meiner Erfahrung sagen, daß ich relativ wenige Menschen getroffen habe, die nach der Akteneinsicht gesagt haben: Jetzt will ich die Strafverfolgung betreiben. Dies war ein relativ verschwindender Teil. Obwohl es sich hier im Kern um Offizialdelikte handelt, meine ich, daß vor allen Dingen der Opferhinweis der Auslöser dafür sein wird, ob die ostdeutschen Justizorgane die Strafverfolgung praktisch betreiben können oder nicht. Ich glaube deshalb, daß die Zahl der Anzeigen, die wir zu erwarten haben werden, relativ gering sein wird, daß man in diesem Zusammenhang zumindest von einer Blockade der ostdeutschen Justiz nicht reden kann. Gleichwohl - das sage ich ausdrücklich an dieser Stelle in bezug auf die gestrigen Beratungen im Rechtsausschuß des Bundestages - ist es nicht auszuschließen, daß auch dadurch zusätzliche Belastungen für die Justiz in Ostdeutschland entstehen. Ich begrüße ausdrücklich - ich rufe auch an dieser Stelle dazu auf, daß dies interfraktionell geteilt wird - die gestrige Empfehlung des Rechtsausschusses, wonach die Finanzhilfen für die ostdeutsche Justiz, die nach dem Haushaltsplan momentan bei 20 Millionen DM stehen, um 50 Millionen DM angehoben werden, so daß wir dort mit 70 Millionen DM einen effektiven Unterstützungsbeitrag leisten können. Ich glaube, dies wäre eine richtige Antwort. ({0}) Meine Damen und Herren, gerade die mit hoher Wahrscheinlichkeit geringe Anzahl von Fällen, die wir in Ostdeutschland erwarten können, darf die Politiker nicht verleiten, das Problem zu bagatellisieren. Im Kern geht es um die Entscheidungsmöglichkeit der Opfer, ob eine Strafverfolgung auch weiterhin möglich sein soll oder nicht. Diese Entscheidungsmöglichkeit, so meine ich, muß erhalten bleiben. Wer wären wir, wenn wir uns heute auf Grund der geringen Anzeigesituation in Ostdeutschland vor die zwei Drittel der Personen stellen würden, die die Informationen in Ostdeutschland objektiv noch nicht erlangen konnten, und heute vormundschaftlich zu ihnen sagen würden: Mit eurer Strafverfolgungsmöglichkeit geht es zu Ende; wir machen Schluß. Ich glaube, meine Damen und Herren, die Entscheidung des Bundestages - entgegen der ursprünglichen Absicht im Bundesrat -, heute diese Straftaten mit einem Strafmaß bis zu einem Jahr nicht der Verjährung anheimfallen zu lassen, steht in einem besonderen gesellschaftlichen Umfeld. Auch wenn es schmerzlich ist: Ich glaube, wir müssen heute ebenso über das besondere gesellschaftliche Umfeld reden, ein Umfeld, in dem die Opfer des SED-Systems nicht das Gefühl haben, daß sich das vereinigte Deutschland ihrer Interessen hinreichend annimmt. Das liegt aus meiner Sicht an verschiedenen Faktoren. Es liegt zum einen daran, daß es offenkundig Schwierigkeiten damit gibt, daß die bundesdeutsche Justiz selbst im Bereich der Politbüromitglieder, also im Bereich der Schaltzentrale der früheren Macht, mit den Mitteln des Strafrechts Verfolgung betreiben kann. Es liegt an dem Faktum, daß es die bittere Erkenntnis gibt, daß es vielen von den zahlreichen Strammstehern vor Ort - so will ich sie einmal nennen - und den Tausenden kleinen Unterdrückern in den Betrieben und in der Nachbarschaft mit einem ziemlich guten Sprung und mit großer Bravour gelungen ist, heute den Schritt in die Marktwirtschaft und zum Teil auch den Schritt in den öffentlichen Dienst zu vollziehen. Dieses Gefühl liegt weiter daran, daß eine aus meiner Sicht völlig undifferenzierte Amnestiedebatte losgetreten worden ist, in der immer noch den viel zu unberührten Westdeutschen erzählt bzw. suggeriert werden soll, im Osten gebe es eine allgemeine Hatz nach kleinen SED-Mitgliedern und nach kleinen Mitläufern. Dieses Gefühl resultiert auch - das ist sicherlich ein schmerzlicher Punkt; auch die Opfer empfinden es so - aus der großen Enttäuschung über die in weiten Teilen unzureichenden Rehabilitierungsregelungen, die wir im Bundestag verabschiedet haben. Daß sich ein Herr Stoph mit 20 DM Haftentschädigung pro Tag eine goldene Nase im Gefängnis ersessen hat, während Opfer unter sowjetischer und DDR-Herrschaft mit 10 DM abgespeist werden - so ein Zitat des CSU-Abgeordneten Koschyk diese Woche in Ostdeutschland -, können die Opfer nicht verstehen.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Schwanitz, gestatten Sie Zwischenfragen des Abgeordneten Heuer und des Abgeordneten Geis?

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte gern diesen Gedanken zu Ende führen; dann sehr gern. Herr Koschyk mag in Ostdeutschland herumfahren und so tun, als wären die kleinlichen Entschädigungsregelungen von allen unbemerkt und ohne sein Zutun vom Himmel gefallen. Die Opfer wissen aber sehr wohl, daß wir eine schmerzliche Debatte hier im Bundestag geführt haben und daß die Mehrheit dieses Bundestages, die Regierungskoalition, eine vernünftige Haftentschädigung für die Opfer fiskalischen Gesichtspunkten untergeordnet hat. Wenn einige Abgeordnete aus der Regierungskoalition heute nach Ostdeutschland fahren und so tun, als hätten sie das nicht gewollt und auch nicht gewußt, wird das die Opfer zusätzlich verbittern. ({0}) Bitte schön.

Prof. Dr. Uwe Jens Heuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000891, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Schwanitz, Sie haben soeben kritisiert - wenn ich das richtig verstanden habe -, daß Herr Stoph eine Haftentschädigung bekommt. Halten Sie es für rechtsstaatlich sinnvoll, bei der Haftentschädigung eine Differenzierung nach politischen Gesichtspunkten vorzunehmen? Man kann durchaus die Meinung vertreten, die andere Haftentschädigung sollte höher sein. Aber ist es nicht Demagogie, den Grundsatz der Haftentschädigung anzugreifen und zu fragen: Wieso bekommt dieser oder jener Haftentschädigung? Ich glaube, daß es ein rechtsstaatliches Prinzip ist: Wenn im Gesetz Haftentschädigung vorgesehen ist, bekommt sie jeder, ob er Stoph, Schwanitz oder Heuer heißt.

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Heuer, Sie haben mich falsch verstanden. Ich habe nicht gefordert, daß die Entschädigung reduziert werden sollte. Das ist nicht der Punkt. Sie waren die Wochen und Monate hier anwesend, als wir das erste SEDUnrechtsbereinigungsgesetz beraten haben. Wir haben die Forderung erhoben, daß es für die politischen Opfer in Ostdeutschland eine gleiche finanzielle Entschädigung geben muß. Die ist aber in keiner Weise gegeben. Hier setzt unsere Kritik an. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Eine Nachfrage, bitte.

Prof. Dr. Uwe Jens Heuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000891, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Schwanitz, Sie haben die Frage nicht beantwortet: Was soll dann der Hinweis auf Stoph? Sie können natürlich sagen, daß die Haftentschädigung, die normal gezahlt wird, und die andere Haftentschädigung nicht im richtigen Verhältnis stünden. Aber was soll dann der Hinweis auf Stoph?

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Hinweis ist aus meiner Sicht deshalb gerechtfertigt, weil es natürlich zwischen Tätern und Opfern offensichtlich eine Entschädigungsdifferenz gibt. Das muß von der Entschädigungsleistung her auf der Opferseite erhöht werden. Das ist der Punkt. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Abgeordneter Geis.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Schwanitz, würden Sie - ohne daß ich jetzt in eine allgemeine Ausführung über die Frage der Entschädigung einsteigen will- anerkennen, daß bei dieser Frage die gewaltige Leistung mit zu berücksichtigen ist, die vom Westen nach dem Osten geht und die darin besteht, daß dies immerhin 140 Milliarden DM im Jahr sind? Würden Sie mir zugestehen, daß es für die innere Wiedervereinigung nicht gut ist, wenn diese gewaltige Leistung ständig schiechtgeredet wird?

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Geis, selbstverständlich muß diese Aufbauleistung, wenn man von einer solchen bei der ostdeutschen Situation überhaupt noch reden kann - das sage ich einmal -, dieser finanzielle Transfer mit in die Diskussion eingeführt werden. ({0}) Das ist sicherlich so. Aber ich sage an der Stelle auch ganz deutlich: Ich war im Plenum - damals noch drüben im Wasserwerk - anwesend, als mir aus Ihrer Koalitionsfraktion eine ganze Reihe von Abgeordneten mit vehementen Worten erklärt haben, daß es einfach nicht möglich ist, mehr als diese 10 DM pro Hafttag zu zahlen. Erst durch die intensiven Bemühungen auf Bundesratsebene ist es dann im Vermittlungsverfahren gelungen, wenigstens für einen Teil der Betroffenen, nämlich für die Ostdeutschen, eine geringfügige Verbesserung zu erreichen. Da frage ich: Wo ist Ihre Argumentation? ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Schwanitz, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Hansen?

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Dirk Hansen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000804, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schwanitz, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Herr Koschyk und im übrigen auch ich in einer gemeinsamen Presseerklärung nicht nur auf das hingewiesen haben, was Sie zitiert haben, sondern in einem zweiten Abschnitt darauf verwiesen haben, daß diese Argumentation der Bundesregierung unter juristischen Gesichtspunkten richtig ist, daß es sich bei den anzuwendenden Gesetzen in Zielsetzung und Funktion um unvergleichbare Gesetze handelt, wir also ausdrücklich auf die Unterschiede im rechtstechnischen und im juristischen Sinne hingewiesen haben? Wenn Sie schon Herrn Koschyk zitieren, sollten Sie ihn vollständig zitieren.

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich nehme das zur Kenntnis. Ich habe das Zitat natürlich vor allem deswegen gewählt, weil ich hinsichtlich der Formulierung meine, daß es auch in der Polemik überzogen ist. Ich meine schon, daß der Duktus der Sprache natürlich anders ist, wenn man so etwas gegenüber den Opfern sagt - ich nehme an, daß das dort in Stollberg eine Veranstaltung vor Opfern war -, wenn man im Zusammenhang mit Stoph davon redet, daß er sich eine goldene Nase verdient. Der Duktus ist der, daß man da eine entsprechende Undifferenziertheit sieht und damit offensichtlich etwas beklagt, was man hier im Parlament so nicht vertreten hat. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Gestatten Sie eine Zusatzfrage?

Dirk Hansen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000804, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schwanitz, Sie waren in Hoheneck nicht mit dabei; das ist richtig. Ich weiß nicht, woher Sie Ihre Informationen beziehen. Das Wort von der sogenannten goldenen Nase ist von Herrn Koschyk und beispielsweise von mir und Angehörigen der Enquete-Kommission nicht gefallen, sondern es ist im Gespräch mit Opfern und mit Presseleuten gefallen. Das jemandem unterzuschieben ist der Wahrheit nicht dienlich. ({0})

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dann darf ich Ihnen sagen, daß ich mein Zitat aus der „Freien Presse", der dortigen ziemlich großen Regionalzeitung habe, in der diese Formulierung „goldene Nase " als wörtliches Zitat gekennzeichnet ist. ({0}) Meine Damen und Herren, das ist das gesellschaftliche Umfeld, in dem die Opfer diese Verjährungsdiskussion, die wir heute führen, verfolgen. Versöhnung kann nicht vom Gesetzgeber mit dem Kalender in der Hand verordnet werden. Deshalb, weil die objektiven Bedingungen der Anträge und der Justiz in Ostdeutschland es gebieten und weil die subjektive Betroffenheit im dritten Jahr der deutschen Einheit für die Opfer eher noch schwieriger geworden ist, müssen wir uns heute auf die Seite der Betroffenen, auf die Seite der Opfer stellen. Recht herzlichen Dank. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als letzter erteile ich der Ministerin Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger das Wort.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Minister:in)

Politiker ID: 11001336

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist nun fast vier Jahre her, daß die Mauer fiel und die Menschen in der ehemaligen DDR sich ihre Freiheit erobert haben. Sie haben sich für den Rechtsstaat entschieden in der Hoffnung, daß er ihnen Gerechtigkeit bringt, Gerechtigkeit auch bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der bedrückenden kommunistischen Vergangenheit. Das staatlich organisierte Unrecht der DDR hat nicht nur 40 Jahre gedauert, es hat auch alle Bereiche des Lebens erfaßt, von dem Mord an der Mauer bis hin zu dem ganz alltäglichen Kleinterror der Stasi. Der umfassenden justitiellen Aufarbeitung dieser Taten dienen die heute in zweiter und dritter Lesung zur Beratung anstehenden Gesetzentwürfe. Sie alle verfolgen das Ziel, den zeitlichen Spielraum für die Verfolgung von Straftaten zu vergrößern; denn hierfür steht kein unbegrenzter Zeitraum zur Verfügung. Die Frage, ob und in welchem Umfang der Eintritt der Verjährung für die Verfolgung solcher Taten hinauszuschieben ist, ist insbesondere in den letzten Wochen - auch kontrovers - diskutiert worden. Ich habe das Anliegen, auf diesem Wege die justitielle Aufarbeitung des SED-Unrechts weitgehend sicherzustellen, von Anfang an unterstützt. Zugleich habe ich aber auch betont, daß die Frage des Bedürfnisses für eine solche Regelung in erster Linie von den Ländern, vor allem von den neuen Bundesländern, beantwortet werden muß. Da ihnen die für die Strafverfolgung zuständigen Justizorgane unterstehen, können sie auch den Handlungsbedarf und die Möglichkeiten des Handelns am besten klären. Aus diesem Grunde wurde vom Justizministerium kein eigener Entwurf vorgelegt. Die Länder hatten sich im Juni dieses Jahres auf einen Kompromiß geeinigt, der eine auf das Beitrittsgebiet begrenzte und zeitlich befristete Verlängerung der Verjährungsfristen für Delikte der mittleren Kriminalität von bisher fünf auf acht Jahre vorsah. Wie wichtig jedoch den Menschen in den neuen Ländern gerade auch die strafrechtliche Ahndung solcher Delikte ist, die das Gesetz von ihrer Straf drohung her als weniger gravierend einstuft und die grundsätzlich innerhalb der kurzen Frist von drei Jahren verjähren, hat die daraufhin einsetzende öffentliche Debatte gezeigt: Die Opfer erwarten, daß nicht nur die Drahtzieher des Regimes zur Rechenschaft gezogen werden, sondern auch jene, die durch ständige Nadelstiche, durch zahlreiche und vielfältige kleinere Delikte, insbesondere durch Bespitzelung und Verleumdung, ein Klima der Unsicherheit, des gegenseitigen Mißtrauens und der Unterdrückung schürten. ({0}) Ich kann den Unmut der Menschen verstehen, die die Verjährung solcher Taten nicht hinnehmen wollen. Ich habe mich deshalb auch mit Nachdruck dafür eingesetzt, daß die Stellungnahme der Bundesregierung zum Gesetzentwurf des Bundesrates so vorgezogen wurde, daß noch rechtzeitig vor dem 3. Oktober 1993 im parlamentarischen Bereich die Beratung und dann auch die abschließende Beschlußfassung über diese Fragen erfolgen kann. ({1}) Ausdrücklich begrüße ich das Votum des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, das diesem Hohen Haus empfiehlt, der Verlängerung der Verfolgungsverjährung auch für solche im Beitrittsgebiet begangenen Straftaten zuzustimmen, die bislang einer dreijährigen Verjährungsfrist unterliegen, so daß ihre Verjährung zum 3. Oktober dieses Jahres drohte. Eine solche Verlängerung noch laufender strafrechtlicher Fristen ist legitim und zulässig. Es gibt dafür auch gute und sachliche Gründe. Ein wesentliBundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger cher Gesichtspunkt ist mit Sicherheit die Situation der Justiz in den neuen Ländern. Zwar kommt der Aufbau einer rechtsstaatlichen Justiz dort zunehmend voran, doch sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich Gerichte, Staatsanwaltschaften und Polizei nach wie vor in einer nicht einfach zu bewältigenden Anpassungs- und Aufbauphase befinden. Unter diesen außergewöhnlichen Bedingungen erweist sich die justitielle Aufarbeitung des DDRUnrechts und der sogenannten Vereinigungskriminalität neben der Verfolgung der allgemeinen Straftaten als eine nur schwer zu bewältigende Aufgabe. Diese Schwierigkeiten dürfen jedoch nicht dazu führen, daß Straftaten, seien es auch Fälle der geringeren und mittleren Kriminalität, in größerem Ausmaß infolge Verjährung nicht mehr verfolgt werden können; denn eine solche Art der Verjährung dient nicht dem Rechtsfrieden. Im Gegenteil, gerade die heftige Diskussion der letzten Wochen hat deutlich gezeigt, daß die Verjährung der Taten das Gerechtigkeitsempfinden der Bürger in den neuen Bundesländern empfindlich treffen und damit den Rechtsfrieden nachhaltig stören würde. Eine Rechtsordnung, die die schwierige persönliche Lage der Betroffenen nur unvollständig widerspiegelt, läuft Gefahr, ihre friedensliftende Funktion aufs Spiel zu setzen. Dies gilt vor allem auch im Blick auf jene Opfer des SED-Regimes, denen die Möglichkeit einer Sichtung ihrer Stasi-Akten bislang versagt blieb. Viele werden erst auf diesem Weg von gegen sie gerichteten Straftaten erfahren. Es wäre für die Betroffenen nicht hinnehmbar, wenn diese Delikte dann wegen Verfolgungsverjährung ungesühnt bleiben müßten. Die Erwartungen, die die Menschen in den neuen Bundesländern an den Rechtsstaat stellen, sind groß. Viele mögen seine Möglichkeiten überschätzt haben und sind angesichts der Schwierigkeiten, die eine justitielle Aufarbeitung der Unrechtstaten in den Grenzen unseres Rechtsstaats mit sich bringt, vielleicht auch enttäuscht. Auch eine Verlängerung der Verfolgungsverjährung für Fälle der geringeren und mittleren Kriminalität wird nicht dazu führen können, daß nunmehr alle von den Bürgern für strafwürdig gehaltenen Taten geahndet werden können. Das Hinausschieben des Verjährungseintritts kann nur dort zur Ahndung von Straftaten führen, wo im übrigen ein rechtsstaatlich legitimierter Strafanspruch vorhanden ist, d. h. wo auch ein entsprechender Straftatbestand erfüllt ist. Aber nicht alles von dem, was in der ehemaligen DDR geschehen und moralisch und politisch verwerflich ist, stellt auch strafrechtlich verfolgbares Unrecht dar, und nicht für jede erschreckende Entdeckung, die die Betroffenen bei der Sichtung ihrer Stasi-Unterlagen machen werden, hält der Rechtsstaat die erhoffte Antwort in Form strafrechtlicher Sanktionen bereit. Denn vieles bewegt sich auch unterhalb der Grenze des strafrechtlich Faßbaren. Das Strafrecht kann also nur einen Beitrag zur Aufarbeitung und Bewältigung der Vergangenheit leisten. Wir leisten heute mit der Beratung über die Entwürfe von Gesetze zur Hinausschiebung der Verfolgungsverjährung einen wesentlichen Beitrag. Vielen Dank. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort zu einer Kurzintervention hat Kollege Geis.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Schwanitz, ich stimme mit Ihnen überein, daß wir uns immer schwertun werden, das Unrecht, das 40 Jahre Sozialismus in der DDR hinterlassen haben, auszugleichen. ({0}) Es geht nicht nur um die, die zu Unrecht im Gefängnis eingesessen haben, sondern auch um die, die aus politischen Gründen ihren Beruf nicht mehr ausüben konnten, und schließlich auch um diejenigen, die aus politischen Gründen ihr Haus und Hof verloren haben. Sie werden mit mir übereinstimmen, daß es schwierig ist, für all dieses Unrecht gleichermaßen zu entschädigen und es im wirklichen Sinn des Wortes wiedergutzumachen. Aber ich möchte hier doch auch erwähnt haben, daß wir nach dem Ersten Unrechtsbereinigungsgesetz denjenigen, die eingesessen haben, immerhin - ich sage immerhin; ich weiß, wie gefährlich es ist, diese Zahl zu nennen, weil das Unrecht dadurch nicht ausgeglichen werden kann - 550 DM zahlen, während gleichzeitig denjenigen, die im Westen zum gleichen Zeitpunkt eingesessen haben, nur 300 DM gezahlt worden ist. Und wir sehen eine Entschädigung für die besonderen Härtefälle bis zu maximal 8 000 DM im Jahr vor. Ich weiß, daß das nicht genügend sein kann. Aber ich möchte doch darum bitten zu bedenken, daß es jetzt nicht nur um diesen einen Fall geht, sondern daß es um viele Fälle geht, in denen wir Wiedergutmachung zu leisten haben. Diese große Leistung, die von West nach Ost gebracht wird, sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Kollege Schwanitz.

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Geis, ich stimme Ihren differenzierten Worten hundertprozentig zu. Aber ich sage, bezogen auf die Kapitalentschädigung auch, daß ich es als Abgeordneter im Bundestag dann schon - ich will nicht so scharf formulieren - nicht als eine Schmach, aber doch als einen schwarzen Punkt empfinde, daß uns diese bessere Leistung, diese 550 DM pro Haftmonat vom Bundesrat im Vermittlungsverfahren aufgezwungen werden mußte. Das ist traurig gewesen. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster Ihr Kollege Ulrich Janzen.

Dr. - Ing. Ulrich Janzen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001020, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sie sehen in mir einen der Vertreter, deren ein- und ausgehende Post über Jahrzehnte kontrolliert wurden. Frau Ministerin, in diesem Zusammenhang muß ich mich an Sie wenden. Ich habe keine Schneiderausbildung genossen. Wenn Sie den Begriff Nadelstiche verwenden, dann frage ich mich: Ist es passend, in diesem Zusammenhang einen derartigen Begriff zu verwenden?

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Elmar.

Dr. Konrad Elmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000463, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Geis, sicher, wir können es nicht genug würdigen, welche Leistungen von den Westdeutschen finanziell getätigt werden. Aber ich kann es dem Hohen Hause nicht ersparen zu sagen, daß mir der Tonfall, in dem Sie das rüberbringen, nicht gefällt. Ich bitte Sie, wirklich zu realisieren - dieser Gedanke schließt an das an, womit ich heute schon einmal intervenierte -, daß Deutschland als Ganzes den Krieg damals begonnen hat und wir alle dafür zu haften haben. Es war nicht nur unser persönliches Versagen im Osten, daß dort die Diktatur herrschte, sondern es war auch die Folge der gemeinsamen deutschen Gesellschaft, die Hitler nicht verhindert hat. Deswegen darf man sich nicht nur hinstellen und sagen, das sei eine große Leistung von uns für euch, sondern eigentlich ist es ein Ausgleich, der sich aus dieser Erblast als selbstverständlich ergeben müßte. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Meine Damen und Herren, damit schließe ich die Aussprache. Bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich bekannt, daß der Kollege Professor Dr. Wolfgang von Stetten gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung eine schriftliche Erklärung zur Abstimmung vorgelegt hat.' ) Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Rechtsausschuß empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/5701, die Gesetzentwürfe des Bundesrates auf Drucksache 12/5613 und der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. auf Drucksache 12/5637 zu einem Gesetzentwurf zusammenzuführen und in der Ausschußfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der PDS/Linke Liste angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? ({0}) `) Anlage 17 Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen der PDS/Linke Liste angenommen. Unter den Buchstaben b und c wird empfohlen, die Gesetzentwürfe der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/5628 und der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/4349 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist bei Enthaltung der PDS/Linke Liste angenommen. Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf: Beratung der Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Erster Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik - 1993 - Drucksache 12/5100 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({1}) Rechtsausschuß Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine dreiviertel Stunde vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Dr. Horst Waffenschmidt.

Dr. Horst Waffenschmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002403

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zum 1. Juli dieses Jahres hat der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen der ehemaligen DDR, wie vom Gesetz vorgesehen, dem Deutschen Bundestag seinen ersten Tätigkeitsbericht vorgelegt. Ich begrüße den Bundesbeauftragten, Herrn Gauck, mit seinen leitenden Mitarbeitern hier bei uns. Bis zum 1. Juli dieses Jahres sind mehr als 1,8 Millionen Anträge auf Auskunft, Einsicht in Unterlagen und Herausgabe von Unterlagen sowie auf Überprüfung von Personen eingegangen. Zirka 800 000 Verfahren konnten bis heute abschließend bearbeitet werden. Diese Zahlen sind ein eindeutiger Beweis dafür, daß das Gesetz akzeptiert worden ist und daß auch die Akzeptanz der Behörde des Bundesbeauftragten in einer breiten Öffentlichkeit gegeben ist. Ich möchte diese Beratung zum Anlaß nehmen herauszustellen: Die Arbeit, die hier geleistet wird, ist einmalig in unserer Geschichte. Dem Bundesbeauftragten Gauck und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gebühren Dank und Anerkennung für die Arbeit, die sie leisten. ({0}) Ich denke, dieser Dank ist auch deshalb besonders auszusprechen, weil gerade in der Anfangszeit diese Arbeit unter schwierigen Bedingungen, insbesondere schwierigen räumlichen Bedingungen, geleistet werden mußte. Lassen Sie mich zweitens sagen: Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, daß die praktische Anwendung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes, das wir ja mit großer Mehrheit im Deutschen Bundestag verabschiedet haben, den gesetzlichen Erwartungen und den Intentionen des Gesetzgebers entspricht. Die von manchen prognostizierte Selbstjustiz von Betroffenen der Machenschaften und Übergriffe des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes hat nicht stattgefunden. Insbesondere die Opfer des Staatssicherheitsdienstes sind sehr verantwortungsbewußt mit den ihnen zur Verfügung gestellten Informationen umgegangen. Dies mag manchem Opfer sicherlich schwergefallen sein. Ich denke, wir schulden gerade den schwer betroffenen Opfern für diese Verhaltensweise unseren Respekt. ({1}) Im Zusammenhang mit dem Bericht ist festzustellen, daß der personelle Aufbau der Behörde inzwischen durch die Besetzung der ca. 3 300 Planstellen nahezu abgeschlossen ist. Ich will gern noch zwei Daten nennen. Mehr als zwei Drittel der Beschäftigten der Behörde sind Frauen. Der weitaus überwiegende Teil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, nämlich fast 96 %, konnte aus den neuen Bundesländern für diese Arbeit gewonnen werden. Ich finde, es ist eine gute Sache, daß sie hier mitarbeiten. ({2}) Der Innenausschuß des Deutschen Bundestages hat sich schon eingehend mit den vorgetragenen Informationen des Bundesbeauftragten befaßt. Mir ist wichtig, hier mitzuteilen, daß man zu dem Ergebnis kam, daß kein Novellierungsbedarf für das Gesetz besteht. Es ist zumindestens in der aktuellen Situation nicht geboten, vielfältige Änderungen vorzunehmen. Es mag die Notwendigkeit kleiner Ergänzungen geben, die einmal aufzunehmen sind. Herr Gauck hat in seinem Bericht darauf hingewiesen. Aber im großen und ganzen hat sich dies ja auch in seiner Struktur einmalige Gesetz bewährt. Ich glaube, es gab einen guten Start, wie sich aus diesem ersten Bericht, ergibt. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einen Punkt aufgreifen, der in engem Zusammenhang mit dem Tagesordungspunkt steht, den wir vorher behandelt haben. Einige Kritiker haben ja in der Vergangenheit wiederholt öffentliche Auseinandersetzungen zum Anlaß genommen, den Schluß der Stasi-Debatte und die Schließung der Akten zu fordern, die in der Gauck-Behörde liegen. Ich meine, dies wäre ein Schlag ins Gesicht der Stasi-Opfer und all derjenigen Landsleute aus der ehemaligen DDR, die durch ihre friedliche Revolution die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes in Frieden und Freiheit erst ermöglicht haben. Ich meine, die Akten müssen weiter bearbeitet werden. ({3}) Ich halte es auch für rechtsstaatlich unerträglich, einfach über die Stasi-Herrschaft vorschnell den Mantel des Vergessens zu breiten. Ich glaube, das, was wir in wichtigen Beiträgen in der letzten Stunde gehört haben, unterstützt das. Die historische, juristische und politische Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes sowie des SED-Regimes ist, so meine ich, unsere Pflicht, gerade auch in einem Rechtsstaat. Deshalb müssen Recht und Gesetz ihren Lauf nehmen. Ich wünsche dem Bundesbeauftragten Gauck und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern namens der Bundesregierung das Beste für die weitere Arbeit. Ich hoffe, daß wir mit dem, was hier zu bearbeiten ist, nicht nur dem Recht und dem Gesetz dienen, sondern auch dem miteinander der Menschen in unserem jetzt wiedervereinigten Vaterland. Herzlichen Dank. ({4})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Jetzt hat das Wort unser Kollege Rolf Schwanitz.

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben in § 37 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes hineingeschrieben, daß der Bundesbeauftragte zum 1. Juli diesen Jahres einen Tätigkeitsbericht vorzulegen hat. Ich bin sehr froh, daß wir das getan haben, gibt es uns doch heute Gelegenheit, die dort geleistete Arbeit im Parlament zu würdigen. Uns liegt, wie ich meine, ein beeindruckendes Zeugnis einer außergewöhnlichen und dringend notwendigen Tätigkeit der Behörde vor. Es ist in den letzten drei Jahren, aber auch seit dem Inkrafttreten des Stasi-Unterlagen-Gesetzes von der Behörde des Bundesbeauftragten und vor allen Dingen von den dortigen Mitarbeitern ein enormes Maß an Arbeit geleistet worden. Nahezu aus dem Stand ist eine auch in der Konstruktion einzigartige Bundesbehörde entstanden, betraut mit einer der schwierigsten und politisch sensibelsten Aufgaben. Anders als bei anderen Dienststellen, beispielsweise bei den Außenstellen der Bundesministerien in Berlin, gab es keine vergleichbare Bundesbehörde, an die man sich quasi in der Organisationsstruktur hätte anlehnen können. Es gab keinen Stab von altgedienten Mitarbeitern, keine Westimporte, die die personellen Lücken hätten füllen oder gar den Grundstock für das Personal der neuen Behörde hätten bilden können. Wie bei keiner anderen Behörde sah sich der Bundesbeauftragte von Anfang an einer enormen Erwartungshaltung der Menschen und vor allen Dingen der Opfer ausgesetzt. Mit all diesen Schwierigkeiten und den von uns Unbeteiligten wahrscheinlich nur ansatzweise nachzuvollziehenden Problemen ist die Behörde des Bundesbeauftragten in den zurückliegenden eineinhalb Jahren seit Inkrafttreten des Stasi-Unterlagen-Gesetzes insgesamt außerordentlich gut zurechtgekommen. Die Behörde des Bundesbeauftragten hat damit nicht nur ein Vermächtnis der letzten frei gewählten Volkskammer der DDR erfüllt; sie hat gleichzeitig einen unverzichtbaren Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit im vereinigten Deutschland geleistet. ({0}) Meine Damen und Herren, wer den Bericht liest und damit von den Schwierigkeiten erfährt, mit denen sich die Behörde herumzuschlagen hatte, den katastrophalen Lagerungssituationen der übernommenen Akten, den riesigen Einstellungs- und Qualifizierungsproblemen beim dortigen Personal, den teilweise unzumutbaren Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten in der Behörde und den enormen Liegenschaftsproblemen - gerade wir Ostdeutschen können sagen, was es heißt, dort so eine Behörde aufzubauen -, der weiß, daß all dies ohne das unermüdliche Engagement - ich betone das ausdrücklich - und ohne die hohe Motivation der Mitarbeiter der Behörde in Berlin und in den 15 Außenstellen nicht hätte bewältigt werden können. Für diese verdienstvolle Leistung sagen wir dem Bundesbeauftragten und vor allem seinen Mitarbeitern unseren aufrichtigen Dank. ({1}) Der Tätigkeitsbericht ist auch Anlaß, auf unsere eigenen Diskussionen zurückzuschauen, die wir im Bundestag führten, als wir am Stasi-UnterlagenGesetz arbeiteten. Es muß sicherlich festgestellt werden, daß viele Befürchtungen, aber auch viele Erwartungen, die wir bei den Beratungen des Gesetzes hatten, nicht eingetreten sind. Beispielsweise hatten wir Angst vor einem Rachefeldzug der Opfer gegenüber den Tätern. Er hat glücklicherweise nicht stattgefunden. Aber auch die Hoffnung auf eine schnellere Versachlichung der Diskussion, in der vor allem das Bekenntnis der Täter eine Voraussetzung für eine schnellere Versöhnung hätte sein können, ist nicht in Erfüllung gegangen. Dennoch war die mutige Grundsatzentscheidung des Bundestages, diese Akten zu öffnen, richtig. Wir wissen, daß unsere osteuropäischen Nachbarn einen anderen Weg gegangen sind. Es steht uns hier nicht an, eine Note zu verteilen und diese irgendwie mit Ratschlägen zu versehen. Wir wissen aber auch, daß dadurch eine Befriedung nicht erreicht werden kann und daß das Herrschaftswissen der früheren Geheimdienste nicht gebrochen werden konnte. Die konsensuale Verabschiedung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes hier im Deutschen Bundestag gehört deshalb mit Sicherheit zu den erfolgreichsten Ergebnissen in der 12. Legislaturperiode dieses Hauses, auch wenn wir alle wissen, daß der Bundestag damit natürlich keine problemfreie Regelung auf den Tisch gelegt hat. ({2}) Im Rahmen dieses Rückblicks stoßen wir auf einige alte Diskussionen, die heute zum Teil in einem völlig anderen Licht erscheinen. Ich will dafür drei Beispiele anführen. Erstens gehört dazu mit Sicherheit die Presseregelung. Wie groß war die Angst der Medien, durch das Stasi-Unterlagen-Gesetz in ihren Nutzungsmöglichkeiten beschränkt zu werden! Damals lief eine regelrechte Kampagne gegen die Fraktionen; da sind Diffamierungen einiger Kollegen, sie betätigten sich als Maulkorbverfechter, aufgebrochen und diesen Kollegen angetan worden, bis die Strafvorschrift, die wir in den § 44 des Gesetzes eingebaut hatten, von uns noch schnell unter diesem öffentlichen, vor allen Dingen medienseitigen, Druck gelockert worden sind. ({3}) Die eigentliche Aktennutzung durch die Medien erfolgt heute offensichtlich aus Beständen, die sich außerhalb der Behörden des Bundesbeauftragten befinden. ({4}) Ob hier üppige Bestände bei den Medien existieren oder ob ehemalige Führungsoffiziere ihr 1990 ererbtes Diebesgut feilbieten, bleibt dahingestellt. ({5}) Zweitens ist jedoch richtig, daß die Anzeige- und Herausgaberegelung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes insbesondere im Medienbereich ins Leere laufen. Wenn in den vergangenen eineinhalb Jahren bei der zum Teil sehr intensiven Medienberichterstattung, die wir vor allem über aktengestützte Stasi-Enthüllungen erlebt haben, von den 170 Rückführungsfällen, die im Bericht aufgeführt sind, nur 24 auf Vertreter der Medien entfallen und von diesen 24 Fällen bisher offensichtlich nur ein Viertel unstrittig, also im Sinne der Rückführung geklärt, ist, bedeutet das eine komfortable Situation für die Medien, um es schwach auszudrücken. Meine Damen und Herren, drittens sollte noch einmal auf Befürchtungen, vor allem aus den Reihen der Bürgerbewegungen, bezüglich einer Aussonderung und Sperrung von Akten durch das Bundesministerium des Innern eingegangen werden. Daß diese Befürchtungen bisher in noch keinem Fall Realität geworden sind, hat sicher auch Vertrauen geschaffen und die Akzeptanz dieser Regelungen, die wir im Gesetz eingebaut haben, erhöht. Meine Damen und Herren, zum Abschluß will ich noch auf zwei Bereiche eingehen, die in der Fülle der vor uns liegenden Informationen als interessante Ergänzung unserer bisherigen Vorstellungen erscheinen. Mit dem Tätigkeitsbericht liegt der Öffentlichkeit erstmals eine detaillierte Aussage über den Umfang der 1989 und 1990 erfolgten Aktenvernichtung durch die früheren Stasi-Mitarbeiter vor; dies zumindest für jenes Material, das die Bürger beim Besetzen der Stasi-Zentrale in Berlin sowie beim Besetzen der Bezirksverwaltungen und der vielen Kreisdienststellen des MfS noch in vorvernichteter Form, meist in Säcke hineingestopft, angetroffen haben. Man kann sich unschwer vorstellen, welche Mühe es den Mitarbeitern beim Bundesbeauftragten und den zahlreichen Helfern auch von anderen Behörden aus der Bundesebene gemacht haben muß, jene 17 200 Säcke mit vorvernichtetem Material zu sichten und, soweit möglich, die noch rekonstruierbaren Teile in den Aktenbestand zu reintegrieren. Daß am Ende dabei aktenkundig wird, daß selbst im Prozeß der Aktenvernichtung das Ministerium für Staatssicherheit nicht planlos vorgegangen ist, sondern nach strukturellen Prioritäten vernichtet hat, um seine Arbeitsweise und vor allem seine bisherige Tätigkeit, das, was da im einzelnen gelaufen ist, optimal vor den Bürgern zu verbergen, unterstreicht für uns eindrucksvoll, daß die mutige Entscheidung des Bundestages zur Aktenöffnung hierauf die einzige richtige Antwort gewesen ist, meine Damen und Herren.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Schwanitz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schnittler?

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Prof. Dr. Christoph Schnittler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002051, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schwanitz, Sie haben zweimal diese Gesetzesinitiative, das Stasi-Unterlagen-Gesetz, mit dem Attribut „mutig" versehen. Meinen Sie denn nicht, daß ein Gesetz in dieser Art und Weise die einzige mögliche Reaktion war, um Gerechtigkeit zu schaffen? ({0}) Meinen Sie tatsächlich, daß in einem freien Staat wie der Bundesrepublik Deutschland zum Schaffen von Gerechtigkeit ein solcher besonderer Mut gehört? Das überrascht mich etwas.

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich teile Ihre Auffassung. Ich stehe - ich habe versucht, das deutlich zu machen - sehr wohl dazu, daß wir diese Lösung hier im Parlament gefunden haben. Aber wer nach Osteuropa schaut, wer schaut, wie die Tschechische Republik und die Polen damit umgehen, der weiß, glaube ich, daß unsere Regelung keine Selbstverständlichkeit ist. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hirsch?

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schwanitz, erinnern Sie sich entgegen der Bemerkung meines Kollegen Professor Schnittler daran, wie sehr auch in diesem Hause und in allen Parteien die Frage heftig umstritten war, ob die Akten für jedermann geöffnet oder nur für die Verwaltung geöffnet werden sollten oder ob man sie nicht vernichten sollte? Erinnern Sie sich ebenso wie wir daran, daß der spätere Bundesbeauftragte Gauck einen wesentlichen Anteil daran hatte, daß auch die Zögerer in allen Fraktionen davon überzeugt wurden, daß in der Tat die Offenheit der einzige Ausweg war, um das schwelende und wachsende Mißtrauen in Teilen unserer Gesellschaft zu beseitigen? ({0})

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Dr. Hirsch, ich kann dem nur voll zustimmen: So war dies. Ich erinnere mich noch an die Vorgeschichte, die abgelaufen ist, bevor wir hier mit diesem Gesetzgebungsakt befaßt waren, beispielsweise damals bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag, wo man an verantwortlicher Stelle schon relativ bereit war, eine Entscheidung zu treffen, die wir aus unserer heutigen Sicht auf keinen Fall gutgeheißen hätten. Das verdeutlicht ganz eindrücklich, daß dort tatsächlich sehr kontroverse Diskussionen stattgefunden haben. Ich stimme Ihnen auch im zweiten Teil völlig zu. Ich glaube, ohne die große Sensibilität und Offenheit und ohne die günstige Personalfügung, die sich an der Spitze der Behörde getan hat, wäre dies sehr viel schwieriger geworden.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckel?

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Auch ich gehöre zu denen, die dieses Gesetz sehr begrüßen. Aber damit wir hier nicht nur Lobreden halten, möchte ich die Frage stellen, ob meine Annahme richtig ist, daß es auch in anderen Bundesbehörden noch Materialien gibt, die nach diesem Gesetz eigentlich in die hier zu verhandelnde Bundesbehörde gehören, und was dafür getan werden müßte oder könnte, damit dies endlich befolgt wird. ({0})

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Frage, Herr Kollege Meckel, sehe ich im eigentlichen Sinne nicht an mich gerichtet. Aber ich kann auch dort eigentlich nur meiner Zustimmung Ausdruck verleihen. Es ist so. Wir haben eindeutige Herausgabevorschriften in dieses Gesetz eingebaut. Die zahlreichen Diskussionen, die wir in den vergangenen Monaten hatten, sind, meine ich, Anlaß, hier noch einmal festzustellen, daß die Regelungen, die wir im Gesetz haben, richtig sind, nämlich diese Behörde, die sich mit großer Sachkompetenz, mit großem Vertrauen und auch großer Professionalität dieses Aktenbestandes angenommen hat, als die Stelle zu betrachten, an die sämtliche Unterlagen gelangen müssen, die irgendwie in Verbindung mit den Stasi-Unterlagen stehen und die in den Definitionsbereich des Gesetzes hineinkommen. Ich hoffe sehr, daß wir insbesondere im Innenausschuß über alle Fraktionsgrenzen hinweg einen Konsens erzielen werden. Wir werden uns bemühen, daran zu arbeiten. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Gestatten Sie eine Zusatzfrage?

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sind Sie mit mir der Meinung, daß es vielleicht gut wäre, wenn sich auch der Staatssekretär in dieser Frage äußern würde?

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Meckel, dem Rededrang jeder Person hier sind keinerlei Grenzen gesetzt. ({0}) - Gut, aber so etwas kann man auf Koalitionsseite ein bißchen arbeitsanteilig gestalten. Ich denke, daß dies vor allen Dingen auch deswegen sehr hilfreich wäre, weil ich zumindest nach den Beratungen im Unterausschuß für die Stasi-Akten, die wir gestern hatten, den Eindruck hatte, daß dieser Vertrauensbonus, der der Behörde eindeutig zuzubilligen ist, über alle Fraktionsgrenzen hinweg besteht und daß man das für sonstige Aktenbestände durchaus unterstreichen könnte.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmieder?

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Dr. Jürgen Schmieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002027, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schwanitz, teilen Sie meine Auffassung, wenn ich sage, daß, wenn man versucht, den Begriff der Kopien auf zuweichen, es sich hierbei um Dünnbrettbohrerei handelt? Im Stasi-Unterlagen-Gesetz steht, daß Originalunterlagen, die der Stasi gehörten, dem Bundesbeauftragten zu überstellen sind. Ich bin der Meinung, das gilt für Kopien jeglicher Art. Einige Leute behaupten jetzt, wenn die Kopie ein Dritter gezogen habe, gelte diese Passage nicht. Wie stehen Sie dazu? Ich bin der Meinung, das ist Dünnbrettbohrerei.

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Schmieder, das ist ein Punkt, den wir schon 1991 diskutiert haben, als wir bei der Gesetzesberatung waren. Ich denke, an dem, was Sie sagen, ist eine Menge dran. Aber ich muß Ihnen ganz ehrlich gestehen: Solange ich nicht weiß, ob es sich bei dem in Rede stehenden Aktenbestand, um den es hier ja bei den Zwischenfragen gegangen ist, überhaupt um den Definitionsbereich der Kopien dreht, tue ich mir sehr schwer, das jetzt auf den Punkt zu bringen. Das sind Fragen, die wir endlich einmal geklärt haben müssen. Ich schaue dieser Schwebesituation und dieser vagen Öffentlichkeitsarbeit mit großer Skepsis entgegen. Meine Damen und Herren, außerordentlich dankbar bin ich für die detaillierten Aussagen des Berichtes zum Erschließungsgrad der Akten. Wir alle erinnern uns an den Unmut und an die Ungeduld der Bürger, wenn sie auf ihren Auskunftsbescheiden, die sie von der Behörde erhalten, immer jenen kleinen Hinweis finden, wonach die Auskunft unter dem Vorbehalt der bisherigen Aktenerschließung steht. Wenn es tatsächlich so ist, daß von den 48 km Akten in der Berliner Zentrale erst 48 % und von den 74 km Akten in den Außenstellen erst 58 % erschlossen sind, wissen wir nun, wie notwendig dieser Hinweis ist. Auch hoffen wir, daß die enormen Bestände an Mikrofiches und Rollfilmen in einem Umfang von umgerechnet 47 km Aktenbeständen vor allem im Bereich der 1989 und 1990 vernichteten Materialbestände wichtige Lücken schließen helfen werden. Meine Damen und Herren, wer den Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten liest, der wird vor allem zwei Grundempfindungen dabei haben. Das ist zum einen die Hochachtung vor der bisher unter äußerst erschwerten Bedingungen geleisteten Arbeit, und das ist zum anderen die Erkenntnis, daß noch ein erhebliches Maß an weiteren Aufgaben auch in den nächsten Jahren der Behörde verbleibt. Damit diese Arbeit geleistet werden kann, die ja, wie wir alle wissen, zumindest teilweise auch in politisch brisante Bereiche hineinstößt, benötigen die Mitarbeiter des Bundesbeauftragten auch weiterhin unsere intensive Unterstützung. Der Deutsche Bundestag, der sich 1991 nach einer schwierigen Diskussion jener guten Entscheidung zugewandt hat, ist dies den Bürgern und den Betroffenen schuldig. Recht herzlichen Dank. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Kollege Hartmut Büttner.

Hartmut Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000303, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man als dritter Redner in einer so wichtigen Debatte sprechen darf, dann kann man eigentlich einige Dinge nur wiederholen. Den Dank zu wiederholen, das möchte ich allerdings ausdrücklich an den Beginn meiner Rede stellen. ({0}) Herr Gauck und Herr Geiger, ich denke, Sie haben in der Tat im Interesse der Menschen in den jungen Bundesländern eine Arbeit geleistet, die mit Augenmaß, mit Standhaftigkeit und mit Engagement vollbracht worden ist. Das sollte man noch einmal ausdrücklich sagen. Ich glaube auch, daß es in der Aufbauphase sehr schwierig war, es allen recht zu machen. Dafür war die Aufgabe in der Tat zu umfassend. Es sind die Daten und Zahlen genannt worden: von 52 Mitarbeitern auf über 3 200. Vergessen wir hier auch nicht die Kräfte aus Bundesgrenzschutz und Bundeswehr, die uns geholfen haben. Ich glaube, es war sehr wichtig, daß wir gerade diese Kräfte in der Übergangszeit haben einsetzen können. Ein Dank auch an die Mitarbeiter aus diesem Bereich. Meine Damen und Herren, in Berlin und in den Außenstellen befinden sich 180 km Akten, wie wir jetzt genauer wissen. Zu Beginn der Aufarbeitung war gerade einmal ein Drittel erschlossen. Jetzt sind es schon 80 %. Auf die räumliche Situation ist Bezug genommen worden. Es war in der Tat nicht einfach, was wir hier gerade in Form der Liegenschaften erlebt haben. Viel ist getan worden. Für Benutzer und Behördenmitarbeiter wurden die räumlichen Bedingungen inzwischen erheblich verbessert. Trotzdem müssen teilHartmut Büttner ({1}) weise noch immer Gebäude mit 95 % Luftfeuchtigkeit als Archiv und Arbeitsstätte dienen. In Frankfurt/Oder kann im Bunker des Außenarchivs noch heute keine Klimaanlage eingeschaltet werden, weil sonst die Aktenblätter durch die Gegend fliegen würden. Das Personal muß alle zwei Stunden eine Zwangspause einlegen, um zumindest einmal ein kurzes Durchlüften zu ermöglichen. Wir wissen, meine Damen und Herren, daß uns die Enge des Sparhaushaltes 1994 auch bei einer weiteren Erneuerung der Räumlichkeiten keine großen Sprünge erlaubt, aber immerhin wird es zu weiteren kontinuierlichen baulichen Verbesserungen auch im nächsten Jahr kommen. Daß uns die Erledigungszahlen teilweise immer noch als zu gering erscheinen, daß uns immer noch zahlreiche dringende Fälle von Überprüfungen, von Anfragen und Rehabilitierung unter den Nägeln brennen, ist wahr. Genauso wahr ist, daß in diesen wenigen Monaten des Aufbaus und des Bestehens der Behörde - und es sind 21 Monate; 21 Monate! - in der Tat Ungewöhnliches gleichzeitig geleistet wurde: der personelle Aufbau, der bauliche und der fachlich-inhaltliche Aufbau der Behörde, die Mitarbeit am Stasi-Unterlagen-Gesetz und, meine Damen und Herren, die Sicherung, Sichtung und Aufbereitung der ungeordneten, vor der Vernichtung geretteten Aktenbestände und gleichzeitig - es ist darauf hingewiesen worden - die Abarbeitung der nunmehr nahezu 1,9 Millionen Anträge auf Überprüfung, Akteneinsicht; und denken wir auch an die zahlreichen Sonderaufträge. Wenn man die ganzen Daten, die hier zusammengetragen worden sind - die eine Million zentral gelagerten Fotos, die 147 000 Tondokumente, die 10 000 Magnetbänder, die Tausende Kilometer Film, die Millionen von Karteikarten - noch einmal nennt, kann man die Dimension der zu erledigenden Aufgaben einigermaßen erfassen. Daß es trotz dieser gewaltigen Materialfülle und der geschilderten Schwierigkeiten in diesen 21 Monaten immerhin schon gelungen ist, von den 1,9 Millionen Anfragen bereits 800 000 zu erledigen, ist fast unglaublich. Diese Zahlen dokumentieren auch, daß die Menschen in Deutschland die Möglichkeit des Gesetzes nutzen. Die politische Streitfrage, die hier schon eine Rolle spielte, ob man die rechtsstaatswidrig durch Bespitzelung, Abhören und Pressionen entstandenen Akten nicht lieber hätte vernichten sollen, beantwortet sich so von selbst. Die Abstimmung mit dem Antragsvordruck verdeutlicht, daß die politische Grundsatzentscheidung im Jahr 1991, die Akten zu öffnen und eben nicht zu vernichten, richtig war. Es war richtig, das Stasi-Opfer in den Mittelpunkt des Gesetzes zu stellen. Seine Interessen - das gilt auch für die Zwischenfragen, die wir vorhin gehört haben - überlagern alle anderen Interessen. ({2}) - Ich bedanke mich für die Zustimmung. Nur über die Stasi-Akte ist für viele Menschen die langersehnte Rehabilitierung und Wiedergutmachung erreichbar. Nur über die MfS-Unterlagen können Straftaten ermittelt und Täter überführt werden. Und das für mich Wesentliche, meine Damen und Herren: Nur über diesen widerlichen Haufen aus menschlichen Schicksalen, Banalitäten und Kontrollwut ist es für viele Ex-DDR-Bürger möglich, zu Frieden mit sich selbst und ihrer Umwelt zu kommen. Die Entlarvung der Spitzel im Bekanntenkreis führte bisher in keinem Falle zu Gewalt gegen die Täter von gestern. Die Bedenken, die auch ich - und dazu bekenne ich mich - zuächst mit der Nennung der Spitzelklarnamen gegenüber den Betroffenen hatte, waren offensichtlich unbegründet. Wir hatten als Gesetzgeber Vertrauen investiert. Die Bürger haben dieses Vertrauen bisher voll gerechtfertigt. Bei der Einsicht in die eigene Akte gibt es häufig Tränen, Betroffenheit und Erschütterung, aber bisher in keinem einzigen Fall Rache oder Gewalt. Und dem inneren Frieden in Deutschland sind wir mit dieser Art der Vergangenheitsbewältigung sicher ein Stück nähergekommen. Meine Damen und Herren, das gilt leider nicht für die rechtliche Aufarbeitung der 40 Jahre DDR. Die Hoffnung der Menschen, die Peiniger und Verantwortlichen der SED-Diktatur würden im Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland umgehend zur Rechenschaft gezogen werden, ist - das darf man auch vor dem Deutschen Bundestag sagen - wohl leider weitestgehend enttäuscht worden. Vielleicht war auch die Erwartungshaltung überzogen. Der Rechtsstaat konnte sicher nicht leisten, was andere bereits versäumt hatten. Heute wissen wir, daß in der Zeit der friedlichen Revolution manche Chance nicht genutzt wurde. So steht uns lediglich das Strafrecht der ehemaligen DDR als Maßstab für Verfehlung und Verbrechen zur Verfügung. Auch dies ist durch die erste frei gewählte Volkskammer - aus zugegeben guten Gründen - teilweise noch entschärft worden. Ich denke hier z. B. daran, daß der Tatbestand der Untreue im DDR-Strafgesetzbuch vergeblich zu suchen ist. Das wäre vielleicht heute die einzige Handhabe, um Verantwortliche wie den Stasi-Offizier Alexander SchalckGolodkowski einer Bestrafung zuzuführen. Der Rechtsstaat kann nur die persönliche Verfehlung des einzelnen mit Gesetzen, die zum Zeitpunkt der Tat bestanden, ahnden. Das macht es uns so schwierig, die Hauptverantwortlichen in Politbüro und Stasi-Zentrale einer Bestrafung zuzuführen. Der Mauerschütze ist identifizierbar. Dem Befehlsgeber und eigentlichen Täter im Hintergrund seine individuelle Schuld nachzuweisen fällt den Justizbehörden sichtbar schwer.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Meckel?

Hartmut Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000303, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Darf ich den Gedanken zu Ende führen, Herr Meckel? Dann gern. Das ist der Grund für die tiefe Unzufriedenheit und Resignation, die viele Menschen in den jungen Bundesländern erfaßt hat. Um so wichtiger - Herr Meckel, wenn ich diesen Gedanken noch anfügen darf - ist auch hier die Funktion der Gauck-Behörde. Es gelingt, zumindest Bröckchen der Gerechtigkeit festzuhalten. Die Möglichkeit, bei Einsicht in die eigene Akte festgestellte Straftaten anzuzeigen, darf deshalb den Menschen nicht auch noch genommen werden. Deshalb wäre es ein verheerender Schlag gegen das Rechtsstaatsempfinden der neuen Bundesbürger, wenn es mitten in der jetzt anlaufenden Aufarbeitung zu einer QuasiAmnestie durch Verjährung käme. Nach unserer heutigen Entscheidung hoffe ich, daß das auch im Bundesrat so gesehen wird. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Meckel.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Abgeordneter, ich kann das meiste, das Sie soeben hier gesagt haben, unterstreichen, möchte aber doch fragen, ob dies nicht in einem gewissen Widerspruch zu der Abstimmung im KoKo-Untersuchungsausschuß steht, der durch Ihre Koalitionsstimmen gestern zum Erliegen gekommen ist. Sie haben diese Untersuchung, die genau für das, was Sie eben gesagt haben, dringend notwendig gewesen wäre, kaputtgemacht, um dann hier eine Rede zu halten, daß an dieser Stelle eigentlich etwas getan werden müßte. Dies halte ich nicht für glaubwürdig.

Hartmut Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000303, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Meckel, Sie sind falsch informiert. Wir haben hier einen anderen Punkt anzusprechen. Wir haben wegen Nichterreichbarkeit dieser Akten - weil sie sich im Ausland befinden - den Hinweis gegeben: Wenn erstens sichergestellt werden kann, daß es diese Akten gibt, und wenn sie zweitens auch beigebracht werden können, dann wollen wir diese Akten haben. Aber den Beweis, daß es diese Akten gibt und daß sie an der Stelle sind, wo Sie sie vermuten, konnte die SPD-Fraktion nicht bringen. Mit dem Minderheitenvotum Ihrer Fraktion ist nichtsdestotrotz die Anfrage an die Bundesregierung gestellt worden. Sie wird auftragsgemäß dazu Stellung nehmen und auftragsgemäß danach handeln. Ich hoffe, daß wir, wenn es diese Akten gibt, sie dann bei Herrn Gauck zusammenführen können. ({0}) Meine Damen und Herren, bei der rechtlichen Aufarbeitung sind allerdings die Spielräume des Stasi-Unterlagen-Gesetzes noch keineswegs voll ausgeschöpft worden. Gerade für die Arbeit der zentralen Ermittlungsstelle für die Regierungs- und Vereinigungskriminalität in Berlin wäre die Abordnung weiterer Staatsanwälte und Kriminalbeamter in die Behörde des Sonderbeauftragten von großer Bedeutung. Allerdings ist Voraussetzung, daß die Bundesländer ihre Anstrengungen bei der Zurverfügungstellung von Personal nicht gerade jetzt erlahmen lassen, wie es den Anschein hat. Der Tätigkeitsbericht - das ist schon besprochen worden - bietet uns natürlich auch Anlaß, darüber nachzudenken, ob nicht eine Novellierung des Gesetzes notwendig sein wird, sicherlich nicht in den Grundstrukturen, auch nicht in der Organisation der Behörde; beides, denke ich, hat sich bewährt. Ergänzungs- und Anderungsbedarf haben wir sicherlich in einigen praktischen Fällen. Mit der notwendigen Privatisierung von Teilen des öffentlichen Dienstes wie Bahn und Post ergeben sich neue Fragen für die Personenüberprüfungen. Die Nutzung des zentralen Einwohnerregisters der alten DDR ist für die Arbeit der Gauck-Behörde unverzichtbar. Für die Identifizierung von Stasi-Tätern ist die dort enthaltene Personenkennzahl unbedingt notwendig. Ich denke auch, meine Damen und Herren: Der Deutsche Bundestag muß hier umgehend zu einer gesetzlichen Regelung kommen. Wir sind dazu bereit. ({1}) Daneben wird zu überprüfen sein, ob es nicht möglich ist, die Unterlagen zu Personen aus der rechtsextremistischen Szene der ehemaligen DDR den zuständigen Behörden zugänglich zu machen. Ebenso besteht nach Ansicht des Bundesbeauftragten Handlungsbedarf im Bereich der gemeinsamen Akteneinsicht für Ehepaare oder bei behinderten Personen, wohl auch bei der Einsicht in die eigene Justizakte, was alles bisher nicht möglich ist. Ein weiteres ungelöstes Problem - auch darauf ist schon Bezug genommen worden - sind die immer noch in Medien, bei Privatpersonen und, Herr Meckel, auch bei öffentlichen Stellen vagabundierenden Stasi-Akten. Die publizistische Anprangerung von 5 000 vermeintlichen Stasi-Mitarbeitern in Halle zählte dabei zu den traurigen Höhepunkten. Ebenso unerträglich ist, daß die Akten zumeist erst nach intensiver Nutzung dem Bundesbeauftragten übergeben werden. Der Regelfall ist, daß erst am Tag nach einer Fernsehsendung das Vorhandensein der Unterlagen angezeigt wird. Sicherlich muß man sich deshalb auch darüber Gedanken machen, ob die Strafvorschrift des § 44 tatsächlich greift und ob diese nicht verändert werden muß. Trotzdem bin ich skeptisch, ob wir den Startschuß zu einer generellen Novellierung geben sollten. ({2}) Zu viele Begehrlichkeiten dürften geweckt werden, um die politische Grundlinie des Stasi-UnterlagenGesetzes aufzuweichen oder zu verändern. Es gibt natürlich Kreise, denen die ganze Richtung nicht paßt. Die Zahl der heimlichen und offenen Kritiker ist weit gestreut. Sie reicht von - darf ich sie so bezeichnen? - ordojuristischen Saubermännern, über das Pen-Zentrum bis hin zu Gegenden, wo sich Fuchs und Diestel treffen; sie umfaßt einen betroffenen Ministerpräsidenten genauso wie vermeintliche Hartmut Büttner ({3}) Pragmatiker, die gerne einen Strich unter die Bewältigung der jüngsten Vergangenheit zögen. ({4}) Sie, von der SPD, hätten auch klatschen können. ({5}) Beinahe unterschlagen allerdings hätte ich die ehemaligen Stasimitarbeiter selbst sowie die Kompagnons und Zöglinge des Stasi-Auftraggebers, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Heute heißt sie, glaube ich, PDS. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz, meine Damen und Herren, hat sich bewährt. Es ist gewachsen im Spannungsfeld zwischen den klassischen Regelungsformen des Rechtsstaates und den Erfordernissen einer nicht zu Ende gebrachten friedlichen Revolution. Wir sollten in dieser Debatte aber auch nicht vergessen: Das Ministerium für Staatssicherheit war kein aus der Kontrolle geratener Wildwuchs. Die Stasi hat weder vor Mord noch vor Terror zurückgeschreckt. Das Ausmaß des Überwachungssystems läßt uns auch heute noch den Atem stocken. Die Stasi war Schwert und Schild der Staatspartei SED und Büttel einer Diktatur. Das ist die eigentliche Mahnung der Aktenberge: Lassen wir es in Deutschland nie wieder zu Diktaturen kommen! ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Jürgen Schmieder das Wort.

Dr. Jürgen Schmieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002027, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der erste Jahresbericht des Beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR liegt vor. Die wichtigste Aussage ist: Das Stasi-UnterlagenGesetz funktioniert. Es bietet gute Rahmenbedingungen für die Arbeit der Behörde. Es war durchaus sinnvoll, daß wir als Gesetzgeber die jährliche Berichtspflicht des Bundesbeauftragten im Gesetz verankert haben; denn so haben wir jetzt die Möglichkeit einer Ergebniskontrolle, die auch die Bewertung unserer Arbeit als Gesetzgeber einschließt. Neben einer exakten Aufarbeitungs- und Recherchetätigkeit mußte das Gesetz auch und vor allem eine Überführung der Hauptdrahtzieher und der Stasimitarbeiter - egal, ob offiziell oder inoffiziell -, die Schuld auf sich geladen haben, ermöglichen. Den Opfern der Machenschaften der Stasi sollten weitestgehend alle nur denkbaren Möglichkeiten eingeräumt werden unter Berücksichtigung der dadurch eventuell eintretenden Folgen. Die Sorge um die Wahrung des inneren Friedens und das aus dem Grundsatz informationeller Selbstbestimmung abgeleitete Recht der Opfer der Staatssicherheit auf Kenntnis ihrer Akten war gegeneinander abzuwägen. Welche Folgen die eingeschränkte Offenlegung der Akten haben würde, wie die Betroffenen mit Informationen über Personen, die sie seinerzeit bespitzelt hatten, umgehen würden, war nicht präzise vorauszusagen. Ich bin heute froh, daß das Stasi-Unterlagen-Gesetz nicht nur die Auskunft an Bürger, sondern auch das Akteneinsichtsrecht beinhaltet; denn anfangs war die Zahl derer, die die Akten unter allen Umständen deckeln wollten und sogar über eine Amnestie nachdachten, nicht gerade klein. Wir haben damals gut daran getan, den Bürgern im Osten der Republik - sie waren ja von der Stasibespitzelung am meisten betroffen - die eben erstrittene Freiheit nicht schon wieder durch ein Gesetz zu nehmen. Jeder Bürger ist mündig und kann selbst entscheiden, inwieweit er Aufklärung wünscht und welche weiteren Schritte er aus einer eventuellen Akteneinsicht für sich selbst ableitet. Dieser Grundsatz - davon zeugt der Bericht - war und ist gut. Jetzt gibt es schon wieder vereinzelte Stimmen in allen Lagern, die die Akten der Stasi gern deckeln würden. Der Zeitpunkt ist aber noch nicht reif. Die Behörde des Bundesbeauftragten hat erst seit geraumer Zeit volle Besetzung. An dieser Stelle möchte ich Herrn Gauck, Herrn Geiger und allen Mitarbeitern der Behörde ausdrücklich für die bisher geleistete Arbeit und auch für das sensible Gespür bei der Betreuung der Opfer danken. ({0}) Ich möchte nicht nur danken. Ich möchte einen Schritt weitergehen und Herrn Gauck und seine Behörde der vollen Unterstützung durch die F.D.P.Fraktion versichern. ({1}) Dies gilt jetzt und für die weitere Arbeit. Bisher konnte trotz des hohen Arbeitseinsatzes erst etwa ein Drittel der Anträge auf Auskunft und Akteneinsicht abgearbeitet werden. Die große Zahl der noch unbearbeiteten Anträge fordert ganz einfach eine Weiterführung der Arbeit der Behörde. Außerdem muß jedem Bürger das Recht erhalten bleiben, nach erfolgter Akteneinsicht gegen seine Peiniger auch entsprechend vorgehen zu können. Die Detailpunkte, die im Stasi-Unterlagen-Gesetz als Schönheitskorrektur wünschenswert wären, rechtfertigen aus meiner Sicht keine Novellierung des Gesetzes. Hier sind sich die Innenpolitiker eigentlich fraktionsübergreifend einig. ({2}) Die Gefahr, eine mögliche Novellierung könnte dazu benutzt werden, den Schluß der Debatte zu fordern, ist nicht von der Hand zu weisen. Wir sollten daher das Gesetzespaket nicht wieder aufbinden. Die Probleme, die wir klären müssen, sind auch im Rahmen anderer Gesetze oder Bestimmungen noch zu regulieren. Wichtig wäre, daß der Bundesbeauftragte Informationen aus dem Zentralen Einwohnerregister der ehemaligen DDR in seine Arbeit einbeziehen kann und auch das Recht erhält, diese Informationen für eine eventuell notwendige Aufklärung und Strafver15154 folgung an die zuständigen Behörden weiterzugeben. ({3}) Gleichfalls sollte überlegt werden, ob die Schwärzungen in den Kopien, die dem Bürger bei Akteneinsicht vorgelegt werden, bis ins letzte Detail aufrechterhalten werden müssen. Es ist ziemlich fragwürdig, wenn bei der Akteneinsicht des Bürgers X in der zu seiner Person angelegten Akte der Name Honecker geschwärzt wird. Hierzu ist die Behörde jetzt aber verpflichtet, da es sich bei Honecker um einen sogenannten Dritten handelt. Apropos Dritter. Es gibt beklagenswerte Personen, über die Dritte Berichte und Informationen geliefert haben, so daß der Eindruck entstehen könnte, daß sie selbst für die Stasi gearbeitet hätten, nur weil die Stasi unter ihrem Namen eine Akte führte. In Wirklichkeit sind diese Personen aber eben nur von Dritten abgeschöpft worden. Mein Parteifreund Lüder ist ein Beispiel hierfür. ({4}) Der Begriff „Abschöpf-IM" ist noch nicht eingeführt; aber auch hierin sehe ich keinen Grund, der eine Novellierung des Gesetzes rechtfertigen würde, denn es handelt sich wahrscheinlich nur um einen begrenzten Personenkreis. Aber ein Appell an die Medien scheint angebracht. Bei Auftauchen eines Verdachts sollte nicht sofort eine Vorverurteilung erfolgen und der Stab über jeden ins Gerede gebrachten Menschen gebrochen werden. Es sind leider viel zu viele dümmliche und bösartige Gerüchte im Umlauf. ({5}) Vor einer Bewertung und damit auch vor jeder öffentlichen Diskussion sollte nicht nur, sondern muß eine ordnungsgemäße Sachrecherche erfolgen. Soviel Zeit muß sein, und dieses Verfahren fordert der Rechtsstaat von uns allen. Danke. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Ulla Jelpke das Wort.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wem es darauf ankommt, auf anschauliche Art und Weise Abläufe, Auf- und Ausbau der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes kennenzulernen, der wird mit diesem Tätigkeitsbericht nicht schlecht bedient. ({0}) Deutlich wird, welch riesigen Aufwand die Archivierung und Bearbeitung der Unterlagen erforderte. Unübersehbar ist aber auch, daß die Konzeption der Behörde erst in zweiter Linie auf die Aufarbeitung der individuellen Geschichte zielt. Rund 200 000 bis Mai 1993 erledigten Anträgen auf Akteneinsicht stehen etwa 430 000 erledigte Überprüfungen im öffentlichen Dienst gegenüber. Zu diesen über 400 000 staatlich gewollten Überprüfungen müssen noch einmal über 30 000 Ersuche von Gerichten, Organisationen und Privatwirtschaft hinzugezählt werden. Das Mißverhältnis von Bürger- und Staatsinteressen, das am Beginn der Aufarbeitung der Geschichte des MfS stand, hat sich also fortgesetzt. Lange bevor die Bürgerinnen und Bürger in die Akten Einsicht nehmen konnten, arbeiteten staatliche Stellen, Sicherheitsbehörden und Medien mit den Unterlagen. Damals wie heute wurde im Windschatten berechtigter Interessen an individueller und gesellschaftlicher Aufarbeitung die staatlich gewollte Abrechnung durchgesetzt. Meine Damen und Herren, es ist ja richtig: die großen Auseinandersetzungen um die Arbeit der Behörde sind in einigen Bereichen geschäftiger Routine gewichen. Die einmal durchgesetzten Regeln wurden gezwungenermaßen akzeptiert. ({1}) - Es stimmt nicht, daß wir das völlig abgelehnt haben. Die andere Seite ist, daß Sicherheitsbehörden, staatliche Stellen und Medien jederzeit nach Belieben mit dem Stasi-Gespenst Politik treiben können. In den letzten Wochen wurde der Bundesbeauftragte regelrecht an der Nase herumgeführt, und zwar in bezug auf die Stasi-HVA-Akten. Entweder waren sie vom CIA, vom KGB oder von Mossad bzw. sollen gelegentlich alle zusammengearbeitet haben. Ganz kühl wurden alle Forderungen des Bundesbeauftragten nach Herausgabe dieser Unterlagen abgelehnt. In aller Öffentlichkeit wurden Details aus Ermittlungsverfahren gehandelt, während die zuständige Behörde im Regen stehenblieb. Selbst wenn einige der Unterlagen dem Bundesbeauftragten jetzt zur Verfügung gestellt werden, ist zu sagen, daß sie ihren innenpolitischen Zweck erfüllt haben. Hier treten meines Erachtens die Geburtsfehler der Behörde zutage. Bis heute sind Akten, die vor dem 3. Oktober 1990 an Gerichte und Staatsanwaltschaften gingen, nicht zurückgegeben worden, teilweise wurde sie an andere Behörden weitergegeben. Das sind eindeutige Verstöße gegen die gesetzlichen Vorschriften. In anderen Fällen ist nach Aussagen des Bundesbeauftragten nicht mehr nachzuvollziehen, wo sich Unterlagen befinden; Akten sind einfach weitergeleitet worden. Warum gibt es dazu eigentlich keine deutliche Kritik im Tätigkeitsbericht? Es ist auch daran zu erinnern, daß zu Beginn des Behördenlebens vagabundierende Unterlagen bei Geheimdiensten, Polizei und Medien waren. Meine Damen und Herren, statt die Debatte um die wahren Herren der Aufarbeitung endlich anzufangen, kündigt der Bundesbeauftragte Wahlkampf an. Eines seiner vorrangigen Ziele im Bericht lautet, vor den nächsten ... Kommunalwahlen alle kommunalen Mandatsträger überprüft zu haben und die besonders sensiblen Schul- und Hochschulbereiche sowie den Polizei- und Justizvollzugsdienst bei den Überprüfungen stärker zu berücksichtigen. ({2}) So wird im Osten weiter überprüft werden, während sich die Befugnisse der Geheimdienste und der Polizei in Gesamtdeutschland ins Unermeßliche steigern. ({3}) - Ich erinnere an den großen Lauschangriff, den Sie vorhaben. Regierung und Sicherheitsbehörden werden nach Belieben Ermittlungsverfahren und Anklagen mit Stasi-Unterlagen produzieren, ({4}) während westliche Geheimdienstchefs bei Prozessen mit eingeschränkten Aussagegenehmigungen auftreten. Vielen Dank. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Ingrid Köppe das Wort.

Ingrid Köppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001159, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch die Bundestagsgruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist der Meinung, daß sich die Behörde des Bundesbeauftragten zur Verwaltung der Stasi-Unterlagen bei der Aufgabe, diese Akten zu sichten, zu verwalten und zugänglich zu machen, im großen und ganzen bewährt hat. Wir meinen, daß die Behörde weiterhin so ausgestattet werden muß, daß sie den berechtigten Erwartungen vor allem der Stasi-Opfer angemessen gerecht werden kann. Wir können allerdings in diesem Tätigkeitsbericht auf der Seite 23 lesen, daß „wegen der Kürzung von Haushaltsmitteln ... dringend erforderliche Bau- und Bauunterhaltungsmaßnahmen zurückgestellt werden, so daß ... Mitarbeiter der Behörde in eigentlich unzumutbaren Arbeitsumfeldern eingesetzt ... werden" . Der Bundesbeauftragte hatte in der Vergangenheit sowohl dem Innen- als auch dem Haushaltsausschuß eine lange Liste von Objekten vorgelegt, die baufällig sind. Wir wissen, daß in einigen Außenarchiven die Stasi-Akten von der Vernichtung durch Nässe bedroht sind. Für das Haushaltsjahr 1994 hat der Bundesbeauftragte für die Behörde 54 Millionen DM vorn Bundestag erbeten. Sieht man sich den Haushaltsansatz für 1994 im Einzelplan 06 an, findet man unter der Rubrik „Neu-, Um- und Erweiterungsbauten" 4 Millionen DM und unter der Rubrik „Baumaßnahmen" 15 Millionen DM. Das heißt: Gerade ein Drittel dessen, was als notwendig befunden wird, will der Bund genehmigen. Wenn wir hier im Parlament aber fraktionsübergreifend die Aufarbeitung dieser Stasi-Akten bejahen, denke ich, sollten wir uns auch gemeinsam darum bemühen, daß der Behörde die notwendigen Gelder zur Verfügung gestellt werden. ({0}) Ein anderes Problem. Der Tätigkeitsbericht weist auf Seite 48 aus, daß die Bundesregierung sowie ihr nachgeordnete Ämter und Behörden entgegen ihrer Verpflichtung aus dem Stasi-Unterlagen-Gesetz 347 laufende Meter noch immer nicht an die Behörde abgegeben haben. ({1}) Das ist ein Stapel, höher als der Berliner Fernsehturm. Man kann sich kaum vorstellen, wie viele Akten das sind. Hinzu kommen jetzt allerdings noch jene Akten, die die Bundesregierung vor kurzem aus dem Ausland erhalten hat. Wir haben schon lange vor der Sommerpause beantragt, daß über diesen Vorgang öffentlich berichtet werden soll. Wir haben es im Innenausschuß versucht. Es ist gescheitert. Leider hat die SPD zu Beginn dieses Monats beantragt, daß der Vorgang lediglich in der Parlamentarischen Kontrollkommission behandelt werden soll. Ich bin nach wie vor der Meinung, daß das keine Sache für die Parlamentarische Kontrollkommission ist, sondern für den Innenausschuß. Ich habe gehört, daß gestern entschieden wurde, daß der Innenausschuß nächste Woche über diesen Vorgang erstmalig informiert werden soll. Viele Fragen sind in diesem Zusammenhang noch offen, u. a.: Woher stammen diese Akten, stammen sie aus Rußland, oder aus Amerika? Was sind das für Unterlagen? Das möchten wir gern sehr genau wissen. Vor allem: Warum wurde die Übergabe dieser StasiUnterlagen an die Gauck-Behörde verzögert? Wir kennen seit der Diskussion um das StasiUnterlagengesetz die Zugriffswünsche der Geheimdienste auf Stasi-Akten. Das vor allem macht uns mißtrauisch, wenn wir hören, daß sich jetzt Unterlagen bei der Bundesregierung befinden und die Regierung zunächst ablehnt, diese Unterlagen der Behörde zu geben. Das Stasi-Unterlagengesetz regelt eindeutig, daß Stasi-Akten in die Gauck-Behörde gehören. Ich denke, das gilt auch für die Bundesregierung. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Waffenschmidt hat noch einmal um das Wort gebeten. Ich gebe es ihm gerne. Bitte sehr.

Dr. Horst Waffenschmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002403

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Noch einmal zu den schon oft angesprochenen Akten beim Verfassungsschutz, die zur Gauck-Behörde kommen sollen. Ich darf dazu folgendes sagen. Erstens. Mein Kollege Staatssekretär Priesnitz hat inzwischen dem Beauftragten Gauck mitgeteilt, daß die in Rede stehenden Unterlagen an seine Behörde gegeben werden sollen. Herr Gauck hat mir soeben selbst bestätigt, daß das so ist. Zweitens hat heute mein Staatssekretärkollege Schelter in einer Runde mit Mitgliedern des Deutschen Bundestages diese Absicht noch einmal bestätigt. Drittens hat mir soeben der Direktor der Gauck-Behörde, Herr Geiger, gesagt, daß er bereits eine erste Einsichtnahme der Akten vorgenommen und auch mit dem Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz über die Übergabe dieser Akten gesprochen hat. Ich bin der Meinung, damit sind wichtige Informationen gegeben, so wie sie gewünscht worden sind. Herzlichen Dank. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/5100 auf die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. - Dieser Überweisung stimmt das Haus zu. Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der agrarsozialen Sicherung ({0}) - Drucksache 12/5700 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Finanzausschuß Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von anderthalb Stunden vor. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann können wir mit der Debatte beginnen. Zunächst einmal hat die Abgeordnete Frau Gertrud Dempwolf das Wort.

Gertrud Dempwolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000371, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was lange währt, wird endlich gut. ({0}) - Ich hoffe es; es liegt bei Ihnen. Ich freue mich, daß wir heute den Entwurf der Koalitionsfraktionen zur Reform der agrarsozialen Sicherung in die parlamentarische Beratung geben können. Die Landwirtschaft hat für unser Land sehr viel geleistet, und ohne den Einsatz der Bauern und der bäuerlichen Familien hätte unser Land ein anderes Gesicht. Wir alle wissen, daß wir es mit einem Strukturwandel im landwirtschaftlichen Bereich zu tun haben, der es erforderlich macht, auch die Alterssicherung der Landwirte den veränderten Gegebenheiten anzupassen. Als wir 1957 die Altershilfe für Landwirte einführten, kamen noch 2,2 Beitragszahler für die Rente eines Landwirtes auf; heute sind es noch 0,8 Beitragszahler. Wenn man diese Entwicklung hochrechnet, so haben wir in zehn Jahren Beitragssätze, die dreimal so hoch sind wie heute. Die Altersversorgung der Landwirte ist ja nur eine Teilversorgung. ({1}) Sie liegt bei Ledigen bei 700 Mark monatlich und bei Verheirateten um 1 100 Mark monatlich. Der andere Teil des Lebensunterhalts wird vom Hofnachfolger getragen, der den Altenteiler in gesunden und in kranken Tagen zu versorgen hat. ({2}) Und trotzdem: Gerade darum müssen wir dafür sorgen, daß die Alterssicherung, diese kleine Alterssicherung der Landwirte, auch für die Zukunft auf eine solide finanzielle Grundlage gestellt wird. Neben diesem grundsätzlichen Ziel ist das Hauptanliegen unseres Entwurfs die eigenständige Absicherung der Bäuerinnen in der Alterssicherung der Landwirte. ({3}) - Ich freue mich über den Beifall, und ich möchte dabei sagen: Jochen Fuchtel ist einer der ganz Eifrigen, der auch immer wieder in der Kommission mit darauf hingearbeitet hat. Die Bäuerin erhält künftig nach unserer Vorlage eine gleich hohe Altersrente wie der Mann. ({4}) - Der hat ja keine zu Hause, Herr Heyenn. Das bedeutet zweimal 700 Mark für beide, und das sind 300 Mark mehr als bisher. Warum sage ich Ihnen diese Summe? - Ich sage sie Ihnen, damit Sie wissen: Es ist weiß Gott keine Höchstpension, über die wir hier reden. ({5}) Seit mehr als 20 Jahren ist die eigenständige Rente für die Landfrauen ein Thema der Verbände vor Ort, und dieses Thema wurde auch immer mit sehr viel Sympathie von allen Seiten unterstützt und getragen. ({6}) Die Bäuerin erhält auch einen eigenen Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente. ({7}) Das bedeutet: Wir sorgen dafür, daß auch die Bäuerinnen in Zukunft den Frauen in anderen Berufszweigen gleichgestellt werden. Das ist ein Stück Gleichberechtigung, und ich nehme an, auch die Frauen in der SPD werden das so sehen. ({8}) Wir alle wissen, welch hohe Anforderungen an die Bäuerinnen gestellt werden. Ihr Arbeitsalltag im landwirtschaftlichen Familienbetrieb ist schwer. Keine Bäuerin kennt die 38-Stunden-Woche, 62 % der Frauen arbeiten 40 und mehr Stunden wöchentlich und 85 % auch an den Wochenenden in ihren Betrieben. Feldarbeiten, Ernte einfahren, Versorgung des Viehs - ohne die Mithilfe der Bäuerinnen wären viele Betriebe heute nicht mehr existenzfähig, weil die Arbeitskräfte einfach nicht zu bezahlen sind. Nach der Erwerbsarbeit kommt die Arbeit im Haushalt, die Sorge für die Kinder, und es ist nicht zu vergessen: In 43 % unserer bäuerlichen Haushaltungen wird auch die ältere Generation am Tisch noch mitversorgt. Das heißt aber nicht, daß wir die Bäuerinnen durch die geplante Reform in das vorgesehene neue Sicherungssystem hineinzwingen wollen. Vielmehr kann jede Frau bis Ende 1995 selbst entscheiden, ob sie eigenständig versichert sein will oder nicht. Wichtig ist uns dabei: Die eigenständige Versicherung der Bäuerin wird nur in der Altersversicherung gelten. In der Krankenkasse bleibt sie mitversichert. Selbstverständlich bleibt auch die Anerkennung von Berücksichtigungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung von der Reform unberührt. Begünstigt werden heute alle aktiven Bäuerinnen. Die Ehejahre, in denen der Ehemann vor Inkrafttreten der Reform Beiträge zur Alterssicherung gezahlt hat, werden - und ich weiß, daß ist Ihr Kritikpunkt - der Ehefrau, die am 1. Januar 1995 noch nicht 65 Jahre alt ist, als Beitragsjahre angerechnet, ohne daß sie hierfür Beiträge entrichten muß. ({9}) Ich freue mich sehr, daß der SPD-Landwirtschaftsminister in Niedersachsen sich in der Presse öffentlich geäußert hat. Herr Funke unterstützt dieses - wie man es nennt - „Rentengeschenk" . Ich weiß natürlich auch, daß er in der Zwischenzeit schon wieder zurückgepfiffen wurde. ({10}) Ist die Bäuerin bei Inkrafttreten des Entwurfs bereits erwerbsunfähig, so erhält sie sofort einen Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente. Wir wollen außerdem, daß die agrarsoziale Sicherung gerechter und familienfreundlicher wird. Mit der Reform soll sich die Beitragsbelastung mehr als bisher an den tatsächlichen Einkommensverhältnissen orientieren, nämlich an dem zu versteuernden Einkommen bei buchführenden Betrieben. Bei nicht-buchführenden Betrieben wird das Einkommen auf der Grundlage eines korrigierten Wirtschaftswertes ermittelt, der auf die Ertragsfähigkeit des Betriebes abstellt. Wer nicht mehr als 40 000 bzw. bei Ehegatten 80 000 DM jährliche Gesamteinkünfte, also auch Einkünfte aus Verpachtung, Vermietung, Kapitalvermögen usw. erzielt, ist zuschußberechtigt. Ich kann nicht erkennen, daß diese Zuschußgrenze zu hoch liegt. Ich hatte für eine höhere Grenze plädiert. ({11}) Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß unsere Bauern seit Jahren währungsbedingte Einkommensverluste hinnehmen mußten. Sie erhielten dafür ab 1989 - vorher war es etwas mehr - einen 5%igen Einkommensausgleich über die Umsatzsteuer. Diese Direktzahlungen müssen aber nach den Vorgaben der EG in den Jahren 1993 bis 1995 abgebaut werden, so daß wir es für recht und billig halten, die freiwerdenden Bundesmittel den Landwirten zu erhalten und in das agrarsoziale Sicherungssystem einfließen zu lassen. ({12}) Diese Bundesmittel erzielen zusammen mit den Vergrößerungen des Kreises der Beitragszahler durch die Einbeziehung der Bäuerinnen eine Stabilisierung des Beitrages bei 291 DM monatlich bis 1997. Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich hier auch einmal folgendes sagen: Bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag können wir heute die Renten noch nicht berechnen. Das können wir auch bei den anderen Renten nicht. Es ist gut, wenn wir wissen, daß wir bis 1997 diese Renten stabil halten können. Ich kann Ihnen heute auch noch nicht sagen, was im Jahr 2010 ist. Das können Sie sicherlich auch nicht. Auch in den folgenden Jahren wird es möglich bleiben, den erforderlichen Beitrag deutlich unter dem Niveau zu halten, das sich ohne Reform zwangsläufig einstellen würde. Die hierfür benötigten Bundesmittel belasten also den Haushalt nicht zusätzlich. So steht die Reform der Alterssicherung mitnichten im Widerspruch zu insgesamt notwendigen Einsparungen im Bundeshaushalt. ({13}) Wenn Frau Matthäus-Maier findet, daß die Rente für die Bäuerin, dieses Reformwerk ein Stück aus dem Tollhaus sei, so muß sie zur Kenntnis nehmen, daß die in der Reform eingesetzten Bundesmittel auch schon bisher der Landwirtschaft zuflossen und durch ihre Einbettung in das System der Alterssicherung der Landwirte eine gerechte Verwendung finden. Im übrigen darf ich die Kollegen von der Opposition daran erinnern, daß wir mit der Rentenreform 1992 alle miteinander, auch Sie, einen Bundeszuschuß zur Rentenkasse beschlossen haben. Hier wird also kein Sondergeschenk für die bäuerliche Familie „gebastelt" , wie Sie es im Lande so gerne darstellen. In Niedersachsen gibt es eine Beschlußempfehlung aller im Parlament vertretenen Fraktionen, die viele Punkte enthält, die wir heute vorlegen. Wie ich heute morgen erfahren habe, wird das Land Niedersachsen trotzdem gegen das Votum seines eigenen Landesparlaments stimmen. ({14}) Ich bin gespannt, wie man diesen Tatbestand anschließend auf den großen Landvolkveranstaltungen erklären wird. Schöne Worte gab es für die Landwirte und die bäuerlichen Familienbetriebe bisher schon immer. ({15}) - Stimmen Sie mit uns, dann tun Sie etwas Vernünftiges. Unser Entwurf sieht auch vor, daß Nebenerwerbslandwirte, die ihr überwiegendes Einkommen außerlandwirtschaftlich verdienen, in Zukunft nicht mehr im System der agrarsozialen Versicherung versichert sein müssen; dazu werden meine Kollegen noch weiteres ausführen. Meine lieben Kollegen und Kolleginnen - auch von der Opposition -, ich habe eine herzliche Bitte: Lassen Sie uns diesen Entwurf zügig beraten, damit die Alterssicherung der Landwirte für die Zukunft auf eine solide finanzielle Grundlage gestellt wird und damit die Bäuerin endlich das erhält, was sie auch verdient! Ich bitte Sie ganz herzlich darum, unserem Entwurf zuzustimmen und dieses Vorhaben mitzutragen. Dann ist mir um die soziale Sicherung für die Zukunft nicht bange. Ich danke Ihnen. ({16})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Günther Heyenn.

Günther Heyenn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000897, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Dempwolf, wir Sozialdemokraten befürworten und fordern eine Reform der agrarsozialen Sicherung schon lange. Deswegen bin ich ein wenig verwundert, daß über das, wofür Sie zehn Jahre gebraucht haben, nun auf einmal morgen abschließend entschieden werden soll. Wir haben im Prinzip auch gar nichts dagegen, Geschenke zu verteilen, und zwar dann, wenn Geschenke finanziert sind, wenn klar ist, wer die Rechnung bezahlt, vor allem aber dann, liebe Bäuerin Fuchtel, wenn nicht gleichzeitig die einen beschenkt und den anderen, denen schon heute häufig das Notwendigste fehlt, weiter genommen werden soll. ({0}) Das, was heute als Entwurf vorliegt, genügt diesen Ansprüchen nicht. Hier wird nicht die agrarsoziale Sicherung reformiert, hier sollen die Landwirte rechtzeitig vor den Wahlen des nächsten Jahres beglückt werden. Mehr als 1,6 Milliarden DM für vier Jahre schwer ist dieses Geschenk, und zwar für die Landwirte in den alten Ländern. Die Bäuerinnen und Bauern in den neuen Ländern gehen leer aus. ({1}) Dies scheint für die Koalition aber ebenso von nachrangiger Bedeutung zu sein, wie es ihr gleichgültig ist, daß dieses Reformprojekt

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Günther Heyenn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000897, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- diesen Satz noch zu Ende, dann gern - bereits zu Beginn des nächsten Jahrzehnts vollständig aus den Fugen geraten und finanziell explodieren wird.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Wenn ich mich Ihrer Terminologie anschließe, dann bittet die Bäuerin Fuchtel jetzt um eine Zwischenfrage. Bitte sehr.

Hans Joachim Fuchtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000616, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Heyenn, sind Sie sich im klaren darüber, daß die Bäuerin in den neuen Bundesländern als gewerbliche Arbeitnehmerin bereits durch diesen Umstand eine sehr gute Absicherung erhält, wenn sie Rentenempfängerin wird, und deswegen überhaupt kein Grund dafür bestand, die vorgesehene Regelung auf die neuen Länder zu übertragen? ({0})

Günther Heyenn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000897, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich wiederhole mich: Mit dieser Reform bedenken Sie die Bäuerinnen in den alten Bundesländern, mit dieser Reform - unabhängig einmal von der bisherigen sozialen Sicherung in den neuen Ländern - gehen die Bäuerinnen in den neuen Ländern weitgehend leer aus. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Günther Heyenn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000897, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, Herr Präsident, ich möchte fortfahren.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Es tut mir leid, es ist das gute Recht des Redners, das abzulehnen. - Herr Abgeordneter, fahren Sie fort.

Günther Heyenn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000897, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich will Ihnen, die Sie sich jetzt so erregen, ganz klar sagen: Wir Sozialdemokraten wollen die agrarsozialen Sicherungssysteme langfristig stabilisieren. Wir wollen dabei - das muß auch ganz deutlich gesagt werden - die landwirtschaftliche Alterssicherung allmählich den Regelungen der gesetzlichen Rentenversicherung anpassen. ({0}) Wir wollen für die im Betrieb tätigen Landfrauen eine eigenständige soziale Sicherung schaffen. Wir müssen eh die soziale Sicherung der Frauen insgesamt neu regeln. Aber, meine Damen und Herren, diese Reform wollen wir den Prinzipien von Solidität und Solidarität entsprechend gestalten. Lassen Sie mich zur Solidarität etwas sagen. Wir hatten gestern im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung eine Anhörung über ein Vorhaben der Koalition: 20 Milliarden DM Kürzungen zu Lasten der Arbeitnehmer. Sie wollen die Sozialhilfe einfrieren, das Arbeitslosengeld kürzen, die Arbeitslosenhilfe befristen - und das für Menschen, die auch alle etwas geleistet haben. Sie haben sich offensichtlich zum Ziel gesetzt, meine Damen und Herren, die Belastungsgrenzen für die Stabilität in unserer Gesellschaft zu erproben. Sie kürzen, Sie streichen, Sie strecken bei denen, die es sich am wenigsten leisten können. Sie treiben immer mehr Menschen in die Armut und an den Rand unserer Gesellschaft. ({1}) Gleichzeitig treten Sie hier als Wohltäter auf und tun so, als sei das Geld in Hülle und Fülle vorhanden. Wie anders ist es denn zu verstehen, daß selbst die Beiträge zur landwirtschaftlichen Alterssicherung von Familien mit einem Einkommen von 75 000 DM aus Bundesmitteln bezuschußt werden sollen? Und das bei einem Höchstbeitrag von gerade mal 291 DM bei Einkommen von über 40 000 bis 80 000 DM. Damit wird der Einheitsbeitrag ab 1994 zwar um 10 DM oder 3,6 % angehoben.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Heyenn, lehnen Sie jetzt grundsätzlich die Beantwortung von Zwischenfragen ab? Dann brauche ich Sie nicht immer wieder zu unterbrechen.

Günther Heyenn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000897, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, grundsätzlich.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen und zu respektieren.

Günther Heyenn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000897, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber nur zum Vergleich: Der Beitrag in der Rentenversicherung soll im nächsten Jahr von 17,5 auf 19,2 % angehoben werden. In Prozent ausgedrückt entspricht das einer Steigerung von 9,7. Die hiermit vorgesehene Erhöhung führt bei einem Arbeitnehmer mit ebenfalls 40 000 DM Jahreseinkommen zu Mehrbelastungen von rund 57 DM. Lassen Sie mich noch einen weiteren Vergleich zur Rentenversicherung anführen. Die sozialen Sicherungssysteme in der Bundesrepublik sollten uns alle gleich lieb und gleich teuer sein, Herr Kollege. 100 DM Beitrag in der Rentenversicherung bringen zur Zeit eine Monatsrente von 51 Pfennig. In der landwirtschaftlichen Altershilfe bringt ein Beitrag von 100 DM eine Rente von 1,33 DM im Monat. Wie ich meine, ist das ein sehr unterschiedliches LeistungsPreis-Verhältnis. ({0}) Wie anders ist es denn zu verstehen, daß Sie allein die Tatsache, mit einem Landwirt verheiratet zu sein, als rentensteigernd anerkennen wollen, wenn Sie die mit einem landwirtschaftlichen Unternehmer zurückgelegten Ehejahre ohne jede nachträglich zu entrichtende Mark als Beitragsjahre anerkennen wollen. Ich muß Ihnen eines zugeben: Das Vorhaben ist attraktiv, attraktiv für diejenigen, die davon profitieren, ohne Zweifel. Wenn man sich ein Landwirtsehepaar denkt, das am 1. Oktober 1957 verheiratet war und wo die Ehefrau 38 Jahre mal 12 Monatsbeiträge gespart hat, hat dieses Ehepaar nach Ihrem Willen, solange beide Ehepartner leben, zukünftig gut 400 DM mehr Alterseinkommen. Im Falle des Todes sind es für den Hinterbliebenen knapp 500 DM mehr im Monat. Dies wäre das Ergebnis Ihres Vorschlags der rückwirkenden beitragsfreien Anrechnung von Ehejahren mit landwirtschaftlichen Unternehmern. Zweifelsohne ist das ein Angebot, das sich sehen lassen kann. ({1}) - Die ganze Wahrheit kommt jetzt: Was soll eigentlich die jetzt arbeitslos gewordene Frau in Bergkamen, die auch viel geleistet hat, dabei empfinden? Was soll die auf Sozialhilfe zurückgestufte Langzeitarbeitslose in Rostock dabei empfinden? Was soll die unmittelbar von Armut bedrohte Sozialhilfeempfängerin in Hamburg dabei empfinden? Um in ein anderes Feld überzuwechseln: Jemand war Handwerksmeister; dessen Frau hat bei ihm ihr Leben lang mitgearbeitet, vergleichbar einer Landwirtsfrau. Wie steht es mit deren Alterssicherung ohne Beitragsleistung? Was soll dort empfunden werden? Lassen Sie mich im System bleiben: Wie wollen Sie eigentlich einer bäuerlichen Familie, bei der von beiden Seiten mehr als 25 Jahre lang Beiträge gezahlt und damit Anwartschaften erworben wurden, erklären, daß sie mit keiner Mark mehr Rente zu rechnen hat als diejenigen Familien, bei denen nur einer Beiträge gezahlt hat? Deshalb sage ich: Das, was hier unter dem Stichwort einer eigenständigen Alterssicherung der Bäuerinnen zu verkaufen versucht wird, ist nicht nur zutiefst ungerecht, es ist auch dazu angetan, das Vertrauen in unser System der Sozialversicherung in Gänze zu beeinträchtigen: Die Beitragsbezogenheit wird in Frage gestellt, der Beitragszahler bzw. die Beitragszahlerin wird bestraft. Der sozialen Stabilität in unserem Land dient das nicht. Ich komme zur Solidität des Vorhabens. Frau Dempwolf hat vorsorglich darauf abgehoben und gesagt: Wissen wir denn, was ab 1997 ist? - In der Rentenversicherung muß Jahr um Jahr von der Bundesregierung eine Vorausschau für 15 Jahre vorgelegt werden, nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Ich vermute, warum Sie hier zögern: Sie können nicht vorausberechnen, weil Sie Gefahr laufen, daß dann möglicherweise schwarz auf weiß bescheinigt wird, in welch erheblichem Umfang entweder die Beiträge der Landwirte bzw. der Landwirtinnen steigen oder in welchem Umfang die Bundeszuschüsse steigen müssen, möglicherweise in schwindelerregende Höhen. Möglicherweise wird auch bescheinigt, daß das System insgesamt zusammenbricht. Eine Prognose nur für fünf Jahre verdient nicht mehr als das Prädikat „ungenügend". Sie haben offenkundig Angst davor, einzuräumen, daß das hier vorgelegte Reformvorhaben finanziell nicht stabilisiert, sondern destabilisiert. Aber lassen Sie mich zum Schluß etwas Verbindendes sagen, liebe Frau Dempwolf. ({2}) - Ich habe das eingangs auch gesagt, lieber Herr Fuchtel. - Wir wollen gemeinsam eine Reform der agrarsozialen Sicherung. Dazu bieten wir unsere Mitarbeit an. Aber der vorliegende Entwurf - ich habe das deutlich gemacht; Frau Weiler und Herr Wimmer werden das ergänzen - kann unsere Zustimmung nicht finden. Er ist - ich habe es dargelegt - sozial ungerecht. Er ist - auch das habe ich dargelegt - finanziell solide. ({3}) - Ich will das sofort korrigieren. Falls Sie mir zugehört haben, wissen Sie, daß dies ein Versprecher war, denn es wäre im Verhältnis zu dem, was ich zuvor gesagt habe, so unlogisch, wie Ihre Politik häufig ist. Dieser Entwurf ist finanziell unsolide. Er bedarf einer grundlegenden Überarbeitung. Nachdem Sie zur Vorlage dieses Entwurfs zehn Jahre benötigt haben, sollten wir ihn zusammen gründlich überarbeiten. Wir sollten uns die nötige Beratungszeit gönnen. Sie hatten zehn Jahre Zeit. Ich glaube, wer die Belastungen kennt, die dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung derzeit durch die Problematiken von Pflegeversicherung, Arbeitszeit usw. zugemutet werden, weiß ganz eindeutig, daß wir die Grundzüge bis ins kommende Frühjahr hinein werden beraten müssen. Die Überweisung zur Mitberatung an den Agrarausschuß, die Sie, Herr Kollege Fuchtel, fordern, mag ich deswegen nicht vornehmen, weil ich Ihnen ganz eindeutig sagen muß: Die sozialen Sicherungssysteme in der Bundesrepublik gehören in eine Hand. Sie gehören in das Bundesarbeitsministerium. ({4}) Daß wir die Agrarier gleichwertig beteiligen, ist selbstverständlich. Wir sollten eine gemeinsame Anhörung durchführen, bei der beide Ausschüsse völlig gleichberechtigt sind. Aber lassen Sie uns das in Ruhe tun, vielleicht kommen wir ja gemeinsam noch zu einem vernünftigen Ergebnis. Vielen Dank fürs Zuhören. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Ulrich Heinrich das Wort. ({0})

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! - Kann man das Pult vielleicht ein bißchen herunterfahren?

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, es gibt mehrere Knöpfe; die können Sie selber bedienen.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Darauf lasse ich mich lieber nicht ein. ({0}) Herr Kollege Heyenn, Sie haben hier als Vorsitzender des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung eine Rede gehalten; ({1}) Sie haben unter Beweis gestellt, daß Sie das Wesen einer berufsständischen Sozialversicherung, in diesem Fall für die Landwirtschaft, nicht durchdrungen haben. ({2}) Sie sind von Vergleichen ausgegangen, die in dieser Form einfach nicht statthaft sind. ({3}) Herr Kollege Heyenn, wenn Sie Beispiele und Vergleiche vorlegen, bei denen Sie von der Sozialhilfe und dem Arbeitslosengeld reden, wenn Sie dem auf der anderen Seite die notwendige und richtige Einbindung der Bäuerinnen in eine Alterssicherung gegenüberstellen und dabei auch noch hinsichtlich der rückwirkenden Berechnung bei der Rente von einem sozialpolitischen Tollhaus sprechen - so hat es eine Kollegin von Ihnen gesagt -, dann haben Sie die Rentenanpassung Ost noch nicht verinnerlicht. ({4}) Denn was haben wir bei der Rentenanpassung Ost gemacht? Wir haben genau das gemacht, was wir hier, in diesem Reformwerk, ebenfalls tun. ({5}) Ich darf ein klein wenig zurückblenden. Denn ich habe auch aus dieser Rede heraus gehört, daß viele noch nicht verstanden haben oder nicht verstehen wollen, welche Geschichte die deutsche Landwirtschaft und die deutschen Sozialversicherungssysteme hinter sich haben und in welcher Situation sie sich derzeit befinden. ({6}) Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, hat eine lange Vorgeschichte. Bei der Regierungserklärung 1987 hat Bundeskanzler Helmut Kohl eine von den Landfrauen und dem Berufsstand geforderte Agrarsozialreform versprochen. Aber wegen Überlastung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung - Frau Dempwolf, wir haben beide damals dem Ausschuß A und S angehört; es waren zu behandeln die Rentenstrukturreform, die Gesundheitsreform und die Novelle zum AFG - wurde damals nichts daraus. Es war keine Zeit. Nach der Bundestagswahl 1990 wurde in der Regierungserklärung von Helmut Kohl ebenfalls eine Reform versprochen. Wir haben in der Koalitionsvereinbarung festgelegt: Die Bundesregierung wird eine Reform des agrarsozialen Sicherungssystems durchführen, um eine gerechtere Ausgestaltung u. a. durch eine stärkere Berücksichtigung der einzelbetrieblichen Leistungsfähigkeit zu erreichen sowie die finanzielle Stabilisierung des Systems zu gewährleisten. Dabei wird auch die Frage der besseren sozialen Absicherung der Bäuerinnen einbezogen. Gesagt, getan. 1991 wurde zur inhaltlichen Vorbereitung dieses Reformwerks eine Koalitionsarbeitsgruppe eingerichtet, die bis September 1992 in vielen intensiven Diskussionen und Klausuren die Eckwerte vorgelegt hat, ein Papier, auf dessen Grundlage dieser Gesetzentwurf ausgearbeitet worden ist. Wegen der finanziellen Unsicherheit im Zusammenhang mit dem FKP, mit dem Spar- und Konsolidierungsprogramm, mit dem Nachtragshaushalt 1993 und mit dem Haushalt 1994 ist leider Gottes die Beratung des Gesetzes im Bundeskabinett erst in allerletzter Sekunde vor Beginn der Sommerpause erfolgt. Aber festzuhalten bleibt, daß der Gesetzentwurf bereits im Dezember 1992 fix und fertig auf dem Tisch war. ({7}) Ich meine, wir sind uns alle einig: Die Reform ist sehr notwendig. Dieser lange Vorlauf ist natürlich vor dem Hintergrund eines Strukturwandels in der Landwirtschaft zu sehen, verbunden mit der derzeitigen Einkommenssituation in der Landwirtschaft, die so schlecht ist wie noch nie und die von einer Finanzkrise der öffentlichen Haushalte und einer damit gleichzeitig verbundenen tiefen Rezession begleitet ist. Die Säule „Agrarsozialpolitik" droht Risse zu bekommen, wenn wir ihre Tragkraft nicht stabilisieren. Allein 20 000 Beitragszahler verlassen jährlich die Alterskasse. Der zügige Strukturwandel verringert die Zahl der Beitragszahler, aber nicht die der Leistungsempfänger. Heute kommen auf 100 Beitragszahler schon über 120 Leistungsempfänger. Viele Nebenerwerbslandwirte wollen nicht in beiden Sozialsystemen, in der gesetzlichen Rentenversicherung und in der landwirtschaftlichen Altersversicherung, bleiben. Die Beitragssteigerungsraten sind viel zu hoch, ihre Hebung berücksichtigt die einzelbetriebliche Leistungsfähigkeit viel zuwenig. Die fehlende eigenständige Sicherung der Bäuerin erweist sich immer mehr als Handicap in einer unter vielfachem Umstrukturierungsdruck stehenden Landwirtschaft. Ich bezeichne deshalb die Agrarsozialpolitik als eine der Hauptsäulen der nationalen Agrarpolitik, in der wir unseren nationalstaatlichen Spielraum nutzen müssen, um eine moderne Landwirtschaft, ein Sozialversicherungssystem für die Zukunft zu installieren. ({8}) Mit dieser Reform wird die Weiterentwicklung der Altershilfe für Landwirte ein echtes Sozialversicherungssystem. - Das Wort „Altershilfe" signalisiert schon den Hilfe-Gedanken. - Wir haben es hier mit einem Sozialversicherungssystem zu tun, das für die Bäuerinnen und die Bauern gelten soll, und zwar nicht nur für die in der alten Bundesrepublik, sondern auch für die in den neuen Bundesländern. Damit werden die heute altertümlichen Verhältnisse in weiten Teilen der derzeitigen Gesetzeslage abgelöst. Das Herzstück dieser Reform - Frau Kollegin Dempwolf hat es bereits ausgeführt - ist die Einführung einer eigenständigen, auf einigen Beiträgen basierenden Alterssicherung der Bäuerinnen. ({9}) In Zukunft zahlt die Bäuerin, wenn sie sich für eine eigenständige Versicherungspflicht entscheidet, eigene Beiträge. Dafür erwirbt sie einen eigenen Rentenanspruch, der sie mit dem Mann quasi gleichstellt, wenn die Zahl der Versicherungsjahre gleich ist. Somit werden alle derzeitig bestehenden Lücken bei den Bäuerinnen beseitigt. Ich möchte hier noch ganz besonders die Erwerbsunfähigkeit ansprechen. Es ist ein Skandal, Herr Kollege Heyenn, wenn Sie die rückwirkende Anrechnung von Versicherungsjahren kritisieren und offensichtlich nicht zur Kenntnis nehmen wollen, daß Bäuerinnen bei der Erwerbsunfähigkeit heute ohne einen Pfennig dastehen. Herr Kollege Heyenn, ich bitte Sie, daß Sie mit Ihrem sozialen Gewissen ins Reine kommen; denn das kann doch nicht wahr sein! Wo kommen wir denn in einem Sozialstaat hin, wenn wir diese Verhältnisse nicht angehen und hier nicht entsprechend massive Verbesserungen vornehmen wollen? ({10}) - - Sie bekommen nur dann Rente, wenn sie auch Rentenzeiten nachweisen können. Das brauche ich Ihnen doch nicht zu sagen. Es muß auch bei Erwerbsunfähigkeit eine Rentenzeit nachgewiesen werden. Das geht nicht, wenn ich hier nicht eine Berücksichtigung von Versicherungsjahren einbaue. Ich habe es eingangs schon gesagt, Herr Kollege Heyenn: Ich finde es bemerkenswert, wie wir hier in diesem Haus die Rentenanpassung Ost gemeinsam gemacht haben. Wir wußten, daß es eine teure Sache wird. Wir waren aber von der Notwendigkeit zutiefst überzeugt. Ich frage Sie: Was ist denn jetzt anders? Wir nehmen hier eine Reform zugunsten der Bäuerinnen vor. Von dieser Notwendigkeit sind wir überzeugt. Deshalb machen wir hier eine entsprechende Anpassung. Gleichzeitig muß man - Sie haben das nicht getan - auch sagen: Der Verheiratetenzuschlag fällt natürlich weg. Außerdem wird die volle Rentenhöhe erst im dritten Jahr bezahlt. Auch das muß man hier sagen. Sonst sagt man doch nur einen Teil der Wahrheit. Ich verstehe in dieser Frage wirklich nicht Ihre Kritik, Herr Kollege Heyenn. ({11}) Ich möchte einen ganz wichtigen Punkt ansprechen, und zwar erstens, wie sich die SPD in bezug auf die Frauenpolitik in der Vergangenheit immer zu Wort gemeldet hat, ({12}) und zweitens, wie die SPD im Falle der Pflegebedürftigkeit argumentiert, bei der wir ohne Beiträge Leistungen erbringen. Wo liegt denn da der Unterschied zu dem, was wir hier tun? Hier haben wir immerhin noch eigene Beiträge - zugegebenermaßen geringe -, die dann zu einer Leistung führen. Ich werde einfach den Verdacht nicht los, Herr Kollege Heyenn, daß Sie vermuten, daß von dieser Reform nur eine relativ geringe Wählerklientel betroffen ist. Das ist das Schäbige an der Diskussion, die Sie hier führen. Das ist absolut schäbig. ({13})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Heinrich, der Abgeordnete Heyenn möchte jetzt eine Zwischenfrage stellen.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte, Herr Kollege.

Günther Heyenn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000897, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Heinrich, gestehen Sie mir zu, daß Sie sich soeben ein wenig vergaloppiert haben und daß es gerade für die F.D.P. sehr problematisch ist, mit der Wählerklientel zu argumentieren, da doch ihre gesamte Politik nur auf ihre Wählerklientel ausgerichtet ist? ({0})

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Heyenn, uns zwei unterscheidet u. a., daß ich mit dem Vorwurf leben kann, Sie aber offensichtlich nicht. ({0}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Kritik, die sich an der Einkommensgrenze für den Beitragszuschuß festmacht, ist für mich ebenfalls nicht nachvollziehbar. ({1}) Die Altershilfe der Landwirte ist das einzige Alterssicherungssystem, in dem bei der Einkommensberechnung nicht nur auf das Erwerbseinkommen abgehoben wird, sondern auch alle anderen steuerpflichtigen Einkommen angerechnet werden. Herr Kollege Heyenn, sagen Sie mir bitte, ob das in einem anderen Bereich genauso ist. Sagen Sie mir, ob in einem anderen Bereich Einkommen aus Vermietung und Verpachtung sowie Einkommen aus Kapitaleinkünften oberhalb der Freigrenzen ebenfalls angerechnet werden! Das ist nicht der Fall. Hier haben wir das erste Mal etwas vollzogen, um mehr Gerechtigkeit in den Bereichen zu bekommen, in denen wir mit Beitragszuschüssen arbeiten. Insofern geht auch hier die Kritik nach meinem Dafürhalten völlig ins Leere. ({2}) Wir haben bei dieser Reform allergrößten Wert darauf gelegt, uns, wo es irgend möglich war, an dem bestehenden Rentenrecht zu orientieren. Dies gilt z. B. für die Rentenformel - wir nennen dies Strukturfaktor -, bei der wir eine gewisse Automatik erreicht haben. Es geht darum, wie sich bei veränderten strukturellen Zahlen der Staatszuschuß entsprechend entwickeln soll. Dies gilt auch für die neu eingeführte Linearisierung und für die Versicherungszeiten bei Bezug einer Erwerbsunfähigkeitsrente. Alle diese und weitere Dinge haben wir mit dem bestehenden Rentenrecht angeglichen und harmonisiert. Besonders betroffen sind von diesen Änderungen natürlich in bezug auf die Neudefinition des versicherten Personenkreises die Nebenerwerbslandwirte. Wir haben uns von dem Gedanken leiten lassen - deshalb auch berufsständisches Sicherungssystem -, daß ein eigenständiges berufsständisches System auch tatsächlich nur denen zusteht, die nicht schon anderweitig ausreichend abgesichert sind. Wir haben daher eine Ausschlußgrenze für diejenigen festgelegt, die 80 % der Bezugsgröße übersteigen. Das sind im Jahre 1995 etwa 3 300 DM Bruttomonatseinkommen. ({3}) - Ja, ich weiß, Sie wollen eine höhere Grenze, Herr Kollege Hornung. Aber diese steht im Gesetzentwurf, der nun zur Beratung ansteht. Sichergestellt ist jedoch, daß derjenige, der bereits in der Alterssicherung der Landwirte versichert ist, so lange versichert bleibt, bis die Wartezeit von 15 Jahren für eine Altersrente erreicht ist und er damit die Voraussetzungen erfüllt hat. Eine lückenlose Beitragszahlung ist künftig nicht mehr erforderlich. Der Ausschluß des Nebenerwerbslandwirts führt jedoch nicht dazu, daß auch der Ehegatte - dies ist in der Regel die Frau - die eigenständige Sicherung verliert. Sie bleibt versichert und zahlt eigene Beiträge, solange sie nicht über ein entsprechend hohes außerlandwirtschaftliches Einkommen verfügt. Sie bekommt dann eine eigenständige Rente. Falls die außerlandwirtschaftlichen Einkünfte nachhaltig wieder unter die Grenze fallen, wird die betroffene Person erneut in die Altershilfe auf genommen. Ich nenne das ein auf die Zukunft hin ausgerichtetes modernes Sozialversicherungssystem, mit dem diesen Wechselwirkungen entsprechend Rechnung getragen wird. Wir können das, glaube ich, wirklich gutheißen. In dieser kurzen Zeit von gut 10 Minuten kann man natürlich nicht das gesamte Gesetz darstellen. Ich möchte aber zur Finanzierung noch folgendes sagen: Wir brauchen kein zusätzliches Geld vom Finanzminister, sondern nur einen Teil des ehemaligen Währungsausgleichs, der der Landwirtschaft übrigens - so ist der Koalitionsvereinbarung festgelegt - ganz erhalten bleiben soll. Dies ist nach dem heutigen Stand der Dinge nicht machbar. Das erkennen wir, das müssen wir leider erkennen; das versteht sich von selbst. Aber die etwa 25 % des gesamten Volumens, die wir in der Alterssicherung der Landwirte dafür brauchen, sind unabdingbar. ({4}) Das Kunststück möchte ich einmal sehen, wie ohne dieses Geld eine verantwortungsvolle Reform bewerkstelligt werden soll. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Heinrich, ich möchte mich nicht dem Verdacht aussetzen, Sie zu bevorzugen, was die Redezeit anbelangt. Sie haben die Ihre deutlich überschritten. - Vor der Minutenzahl steht ein Minus.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich habe das als Guthaben verstanden und gedacht, daß mein Guthaben steigt. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das ist wie mit dem Minuswachstum. Also, es hilft nichts. Ich möchte Sie bitten, zum Schluß zu kommen.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lassen Sie mich zum Schluß noch einen Appell an den Bundesrat richten. Er ist hier leider nicht vertreten, aber ich hoffe, daß bedeutende Reden auch nachgelesen werden. ({0}) Nachdem der auslaufende soziostrukturelle Einkommensausgleich heute schon von einer Reihe der Bundesländer nicht mehr mitgetragen wird, darf nicht durch eine Blockade des Bundesrates die ohnehin zu 100 % vom Bund finanzierte Reform zerstört werden. Ich bitte den Bundesrat ganz herzlich, daß er sich in die Materie einliest, daß er sich mit den Fakten auseinandersetzt; denn dann wird er automatisch zu einer besseren Entscheidung kommen als vor kurzem erst der Finanzausschuß des Bundesrates. Ich bedanke mich bei Ihnen ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. Ich hoffe, daß wir in den nächsten Wochen zu einer konstruktiven Beratung kommen und das Ziel erreichen, daß wir 1994 die notwendigen Änderungen auf den Weg bringen und daß 1995 die Gesamtreform zum Wohle unserer Landwirtschaft wirksam werden kann. Danke schön. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Fritz Schumann das Wort. ({0})

Dr. Fritz Schumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002114, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Warten Sie ab! - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesrepublik Deutschland gehört zu der Minderheit der Länder in der Europäischen Gemeinschaft, die ein sektorales Sondersystem der agrarsozialen Sicherung haben. Die bevorstehende und schon lange angekündigte Reform der Agrarsozialgesetzgebung - Herr Heinrich hat ja eben noch einmal begründet, warum es so lange gedauert hat - hält aber nach unserer Auffassung in dem uns vorliegenden Entwurf nicht das, was sie verspricht, und ist erst recht nicht geeignet, ein wirklich modernes und den neuen Ansätzen gerecht werdendes agrarsoziales Sicherungssystem zu gewährleisten. Auch wenn es im Detail, z. B. was die eigenständige Sicherung der Bäuerinnen anbelangt, durchaus fortschrittliche Lösungen gibt - das möchte ich hier sagen; ich halte das für seit langem überfällig -, bleiben doch zunächst ein paar prinzipielle Fragen. Erstens. Trotz der These im neuen Agrarkonzept unseres Bundeslandwirtschaftsministers, daß der Agrarsektor Teil der Gesamtwirtschaft ist und denselben gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, aber auch Anpassungszwängen wie die übrige Wirtschaft unterliegt, wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Praxis eines sektoralen Sondersystems fortgesetzt. ({0}) Damit wurde die Chance einer wirklichen Reform zur Gestaltung eines modernen Sozialsystems vertan; so schätze ich das ein. Die dem landwirtschaftlichen Sondersystem zugrunde liegende Philosophie der Verknüpfung der Alterssicherungsfunktion mit agrarstrukturellen und einkommenspolitischen Funktionen ist eher ein Nachteil als ein Vorteil. Diese Verknüpfung macht das System nur schwerfällig, erzeugt unnötige Bürokratie und trägt schwerlich zur allgemeinen Akzeptanz in der gesamten Bevölkerung bei. Sie wissen auch, Herr Hornung, daß es in der übrigen Bevölkerung eine Menge Diskussionen zu diesen Fragen gibt. ({1}) Wir sind uns bewußt, Herr Hornung, daß der notwendige Strukturwandel unbedingt sozial begleitet werden muß. Da gibt es keinen Zweifel; auch ich sehe das so. Deshalb plädieren wir für eine Reform, die auch die Landwirte in die allgemeine soziale Sicherung einordnet. Eine Konsequenz daraus wäre, die finanziellen Mittel zur sozialen Abfederung des agrarstrukturellen Wandels in einen agrarstrukturellen Anpassungsfonds zu überführen. Das würde zweifellos einen zielgerichteteren und flexibleren Einsatz dieser Mittel als gegenwärtig ermöglichen, was angesichts knapper Kassen besonders geboten ist. Das ist auch heute hier zum Ausdruck gekommen. ({2}) Zweitens. Der Gesetzentwurf provoziert neue Konflikte, und zwar sowohl zwischen Ost und West wie auch zwischen den verschiedenen Unternehmensformen, und ist eine Fortsetzung der bloßen Übertragung Dr. Fritz Schumann ({3}) des Werte-, Rechts-, Wirtschafts- und Sozialsystems ohne Analyse des Gegebenen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Dr. Schumann, der Abgeordnete Ulrich Heinrich möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. - Bitte.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Kollege Dr. Schumann, Sie haben mit wenigen dürren Sätzen gerade ein neues Konzept vorgestellt. Ist Ihnen bewußt, daß das, was Sie vorgestellt haben, aus EG-rechtlichen Gründen nicht machbar ist? Wissen Sie nicht mehr, daß wir den soziostrukturellen Einkommensausgleich aus EG-rechtlichen Gründen abbauen mußten?

Dr. Fritz Schumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002114, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Heinrich, ich bedanke mich für die Frage. Es wäre mir natürlich möglich, das nicht nur in dürren Sätzen, sondern in viel längeren Sätzen darzustellen, wenn ich mehr Redezeit hätte. Aber ich werde natürlich die Gelegenheit nutzen, bei der Anhörung und bei der Diskussion im Ausschuß - ich muß hier sagen: dort habe ich ja ausreichend Zeit, mich zu artikulieren - unsere Ansätze weiter zu erläutern. Was den soziostrukturellen Einkommensausgleich und die Abschaffung aus EG-rechtlichen Gründen anbelangt, haben Sie natürlich recht. Aber ich sehe trotzdem Möglichkeiten, das einzuordnen. Vergleichen Sie doch einmal unser System mit den Sozialsicherungssystemen in anderen EG-Staaten. Ich habe mich bei den Vorbereitungen auf die heutige Rede einmal damit befaßt. Ich sehe hier Möglichkeiten, dort Anpassungsprozesse zu begleiten, auch mit anderen Fonds und anderen Maßnahmen. Es käme auf den Versuch an, dort wirklich einmal anzusetzen. Ich setze meine Rede fort: Zu diesem Dilemma kommt es, obwohl die Bundesregierung der vielfältigen Agrarstruktur Ost Rechnung zu tragen versucht. Ihr Lösungsansatz - einerseits Einordnung der Wieder- und Neueinrichter von Einzelbetrieben und Mitunternehmern in Personengesellschaften in die landwirtschaftliche Altershilfe, andererseits Belassung der Beschäftigten der juristischen Personen, und zwar auch der Genossen und Gesellschafter, also der Miteigentümer, in der allgemeinen gesetzlichen Rentenversicherung - schafft folgende Probleme: a) Die neuen Länder werden nur in geringem Maße an den Bundesmitteln für die Altershilfe partizipieren, weil die Zahl der in dieses System Einzubeziehenden im Verhältnis zu den alten Bundesländern äußerst gering ist. ({0}) - Das ist nicht falsch, Herr Hornung. Hinzu kommt, daß diese noch viele Jahre keine Leistungsbezieher, sondern lediglich Beitragszahler sein werden. Es gibt Veröffentlichungen, die davon sprechen, daß in den nächsten 15 Jahren im wesentlichen nur Beiträge gezahlt werden. Ich kann das im Moment nicht nachvollziehen; ich sage es nur. Anders ausgedrückt: Da die für die Agrarsozialreform benötigten Bundesmittel nicht zusätzlich, sondern aus Haushaltsumschichtungen gewonnen werden - konkret aus dem Wegfall des soziostrukturellen Einkommensausgleichs West und der Anpassungshilfen Ost -, verliert der Osten im Vergleich zu heute effektiv an Mitteln. b) Da nur die landwirtschaftliche Altershilfe erheblich mit Bundesmitteln bevorzugt wird, kommt die große Mehrheit der in juristischen Personen tätigen Landwirte nicht in den Genuß dieser Subventionierung. Das heißt: die wiederholt proklamierte Chancengleichheit wird durch dieses Gesetz in der jetzigen Fassung nicht gewährleistet. Das trifft auch für die Frauen im Osten zu, deren Renten natürlich gesichert sind; sie haben aber auch jahrelang Beitrag gezahlt. Auch das muß man hier deutlich sagen. Sie hatten die Möglichkeit dazu, aber sie haben das auch eingezahlt, und dafür ist das sicher - ({1}) - Das haben Sie doch zu verantworten, nicht wir.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Dr. Schumann, ich habe jetzt die Wünsche von zwei Abgeordneten, des Abgeordneten Georg Gallus und des Abgeordneten Hornung, eine Frage zu stellen. - Bitte sehr, Herr Abgeordneter Gallus.

Georg Gallus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000628, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Kollege Schumann, glauben Sie nicht , daß der jetzige Gesetzentwurf nichts weiter ist als ein Gerechtigkeitsnachvollzug für die Leistung, die Bäuerinnen im Westen mindestens im gleichen Maße erbracht haben wie die Bäuerinnen im Osten, die durch ihre Tätigkeit in ihren Kolchosen von Anfang an versichert waren? Das muß man doch sehen! Oder glauben Sie, daß unsere Bäuerinnen auf ihren Höfen weniger geleistet und gearbeitet haben? ({0})

Dr. Fritz Schumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002114, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Gallus, was eine Bäuerin leisten muß, kann ich, glaube ich, ein bißchen nachvollziehen. Ich bin auf dem Bauernhof groß geworden und habe gesehen, was alles meine Mutter mit vier Kindern an Arbeit im Stall machen mußte, zumindest bis es zur Kollektivierung kam. Das war 1960. Das habe ich schon noch bewußt miterlebt. Ich weiß, wie schwierig das für Bäuerinnen war. Ich bin der letzte, der das den Bäuerinnen nicht gönnt. Ich habe auch eingangs gesagt, ich halte diese Lösung der eigenständigen sozialen Sicherung der Bäuerinnen und der Sicherung ihrer Renten für das fortschrittlichste an diesem Gesetz. Dabei bleibe ich, daß das eine sehr gute Lösung ist. Die war überfällig, schon lange überfällig. Darüber sind wir uns einig. Ich will an keiner Stelle einer Bäuerin etwas vorenthalten. Ich verwahre mich nur dagegen, daß als Begründung genommen wird: Im Osten ist das ja schon alles klar. Ich habe dazu gesagt, sie haben jahrelang Beitrag dafür gezahlt, und Sie selbst oder einige Ihrer Redner haben auch gesagt, es ist zum Teil freiwillig darauf Dr. Fritz Schumann ({0}) verzichtet worden, Beiträge zu entrichten, obwohl es Möglichkeiten gegeben hätte. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Hornung, bitte sehr.

Siegfried Hornung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000961, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dr. Schumann, ist es nicht wirklich falsch, wenn wir, diejenigen, die mit der Materie vertraut sind, jetzt auf dieser Ebene einen Keil zwischen das ehemalige Sozialversicherungssystem im Osten und das im Westen treiben wollen? Im Osten waren die Bäuerinnen auf Grund ihrer Arbeitnehmertätigkeit versichert und haben glücklicherweise auf Grund des Rentenüberleitungsgesetzes an diesen positiven Entwicklungen teilgenommen. Die Bäuerinnen im Westen sind bislang nicht versichert. ({0}) Und nun wird entgegen allen anderen Behauptungen mit der Einführung der Altershilfesicherung bei allen Bäuerinnen in der gesamten Bundesrepublik - es gibt kein Ost, kein West mehr - dieses System, das wir jetzt in einem Gesetzentwurf auf dem Tisch liegen haben, eingeführt. Damit gibt es keine Ungerechtigkeiten, sondern damit führen wir für die Landwirtschaft, spezifisch gesehen, ein sehr gutes System fort. ({1})

Dr. Fritz Schumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002114, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Hornung, auch Ihnen möchte ich noch einmal sagen: Ich bin der letzte, der gegen die soziale Sicherung und die Alterssicherung der Bäuerinnen ist. Ich habe hier darüber gesprochen, daß es auf Grund der Tatsache der Zugehörigkeit, der Beitragszahlung, der Einordnung in die verschiedenen Systeme Unterschiede zwischen Ost und West geben wird, auch wenn wir nicht mehr Ost und West haben. Es gibt sie ganz einfach. Sie sind aus der Geschichte, aus der Tradition begründet, und sie sind aus der Bewirtschaftungsweise und aus den gegenwärtigen Strukturen begründet. Ich möchte, daß wir in der weiteren Diskussion über dieses Gesetz darauf eingehen. Deswegen habe ich diese Probleme hier angesprochen. Ich möchte, daß wir das noch einmal genau ausdiskutieren. Es geht mir überhaupt nicht darum, die Bäuerinnen auszugrenzen. Es wäre doch töricht, wenn ich so etwas verlangen würde. Soweit verstehe ich das auch.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Die nächste Bitte kommt vom Abgeordneten Michels. Sind Sie bereit, auch diese Frage zu beantworten? - Bitte schön.

Meinolf Michels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001502, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dr. Schumann, mit Sicherheit kann man auch in so einer Situation solches und solches herausarbeiten. Diesen Vorwurf, den Sie gerade gemacht haben, habe ich auch schon von anderer Stelle gehört. Deshalb habe ich mich gemeldet. Halten Sie es nicht für falsch, daß wir diese gewissen Unterschiede, die sich einfach aus der Vergangenheit ergeben, immer wieder herausarbeiten und dabei außer acht lassen, daß gerade die Landwirtschaft im Osten nach der Wende eigentlich von allen Wirtschaftszweigen am besten an unsere hiesige Situation Anschluß gefunden hat? ({0})

Dr. Fritz Schumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002114, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Das wäre ein Thema für eine Agrarstrukturdebatte und für den Agrarbericht, Herr Michels. ({0}) Das alles kann man nicht so einfach beantworten. Dafür reicht sicherlich auch die Zeit nicht. Natürlich hat die Landwirtschaft im Osten Anschluß gefunden. Der Landwirtschaft ist es wahrscheinlich besser als der Industrie gelungen, auf Grund der strukturellen Voraussetzungen, die dort gegeben waren, inzwischen eine Basis zu schaffen und sich zu etablieren. Wir wären froh, wenn es auch im Industriebereich so wäre. Darüber sind wir uns völlig einig. Das sehe ich auch so. Ich gehöre auch nicht zu denen, die das fortwährend kritisieren. Das wissen Sie auch, Herr Michels. Mir geht es um die Differenzen, die in diesem Gesetz stecken. Sie müssen mir doch zugestehen, daß ich darüber rede. Das ist mein Thema. Daß Sie über etwas anderes reden als ich, ist doch völlig klar. Ich stelle bier das zur Debatte, was ich zur Zeit als Unterschiede zwischen Ost und West sehe, und möchte, daß es zu einer Mittelumverteilung kommt. Das möchte ich gern diskutiert haben. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun fahren Sie wieder auf Kosten Ihrer normalen Redezeit fort. Bitte schön!

Dr. Fritz Schumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002114, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Danke schön, Herr Präsident! Ich komme jetzt eigentlich zu dem Thema, über das wir eben so ausführlich diskutiert haben. Gerade hier wird sichtbar, daß die Verknüpfung der sozialen Sicherung mit agrarstruktur- und einkommenspolitischen Zielstellungen unter den Bedingungen einer fast ausschließlich familienbetriebsorientierten Landwirtschaft wie in den alten Ländern noch schlecht und recht funktionieren mag. Da gebe ich Ihnen völlig recht. Herr Heinrich, das war ja auch Ihre Eingangsfrage. Im Osten mit seiner auch langfristig - so glaube ich zumindest - völlig anderen Agrarstruktur wird deutlich, daß diese Verknüpfung nicht mehr zeitgemäß ist. Erhebliche Zweifel bestehen auch daran, ob bei den neuen Einzelunternehmen der neuen Länder bestimmte Elemente der Alterssicherung des Westens, wie die Verknüpfung der Rente mit der Hofabgabe, nach den gleichen Prinzipien ablaufen werden wie bei den bäuerlichen Familienbetrieben. Ich glaube, daß auch bei den Wieder- und Neueinrichtern, die selbständig und eigenständig wirtschaften, der Bauernhof Dr. Fritz Schumann ({0}) als Struktureinheit und Sozialgemeinschaft, wie wir ihn kennen, den auch ich kennengelernt habe, auf dem ich großgeworden bin, heute nicht mehr so existiert. Es sind Unternehmen entstanden, die nach anderen Gesichtspunkten, nach Pachtsystem, funktionieren. Ich sage nur einmal als Beispiel: Bei meinen drei Wiedereinrichtern im Dorf sind die Frauen Angestellte im öffentlichen Dienst, und sie denken mitnichten daran, Bäuerinnen zu werden. ({1}) - Das sollen sie ja auch nicht. Derjenige, der dort arbeitet, sieht das als Unternehmen an, betreibt es als Unternehmen und wird nach Ablauf des zwölfjährigen Pachtvertrages vielleicht eine andere Entscheidung fällen. Ich halte das für gut. Ich möchte nur, daß wir das in der zukünftigen Debatte auch berücksichtigen. ({2}) - Eben nicht, Herr Heinrich. Ich kann das so nicht herauslesen. Lassen Sie mich noch einen letzten Gedanken einbringen. Ich glaube, daß es auch an der Zeit wäre, auf dem Gebiet der landwirtschaftlichen Unfallversicherung etwas zu tun. Hier gibt es recht unrühmliche Dinge, die auch aus der Einigung herrühren. Ich spreche hier ein Thema an, das Sie sicherlich alle kennen: daß die Beiträge und die Zuordnungsgrößen damals auf ganz anderen Grundlagen festgelegt wurden, als sie sich heute darstellen. Ich halte es für sehr wichtig, daß wir dieses Problem noch einmal angehen. Zum Schluß möchte ich noch einmal betonen, daß ich die eigenständige soziale Sicherung der Bäuerinnen als das progressivste Element dieses Gesetzes sehe. Ich wünsche mir, daß in der fachlich-sachlichen Diskussion hier noch Dinge ausgeräumt werden und daß wir das gemeinsam angehen können. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Als nächster spricht der Abgeordnete Albert Deß.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Agrarsozialpolitik ist einer der wenigen Bereiche in der Agrarpolitik, die noch weitgehend national gestaltet werden können. Der Kollege Heinrich hat das angesprochen. Die Bundesregierung und die Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. nutzen diesen Spielraum, um das System einer eigenständigen Sozialversicherung für unsere bäuerlichen Familien fortzuentwickeln. Die Einführung der Landwirtschaftlichen Alterskasse am 1. Oktober 1957 hat viel dazu beigetragen, daß der Strukturwandel in der Landwirtschaft sozial abgefedert werden konnte. Es war und ist in unserem Land immer wieder die CDU/CSU, die auch im Sozialbereich dazu beigetragen hat, daß die von Ludwig Erhard konzipierte soziale Marktwirtschaft verwirklicht und weiterentwickelt wurde. ({0}) Mit der Einbringung des heutigen Gesetzentwurfs zur Reform der agrarsozialen Sicherung wird insbesondere die landwirtschaftliche Altershilfe langfristig finanziell stabilisiert. Die Landwirtschaft darf auch in einer Situation, in der gespart werden muß, und in einer schwierigen Phase des Strukturwandels nicht alleingelassen werden. Der von einer Koalitionsarbeitsgruppe unter Leitung des Parlamentarischen Staatssekretärs Rudolf Kraus ausgearbeitete Entwurf berücksichtigt sehr wohl die schwierige Haushaltslage. Finanzmittel, die bisher als Aufwertungsausgleich an die deutsche Landwirtschaft gewährt wurden, werden in den Agrarsozialbereich umgeschichtet. Deshalb ist der Vorwurf des SPD-Kollegen Heyenn, daß der Gesetzentwurf erhebliche Geschenke zugunsten der Bauern vorsehe, meiner Ansicht nach nicht mehr als billige Polemik. ({1}) Schade, daß er nicht mehr hier ist! Wenn er die Frage stellt, wie es um die innerlandwirtschaftliche Solidarität bestellt sei, so kann dies leicht beantwortet werden. So bekommt z. B. ein 80-Hektar-Betrieb, der 70 000 DM Familieneinkommen erwirtschaftet, 1993 über den soziostrukturellen Einkommensausgleich - nur so ist dieses Einkommen möglich - ca. 11 000 DM, wenn sich das Bundesland an der Finanzierung beteiligt; das ist bei den SPD-geführten Ländern leider meistens nicht der Fall. ({2}) Diese 11 000 DM fallen ab 1996 weg. Wenn dieser Ausgleichsbetrag wegfällt, vermindert sich das Betriebseinkommen in diesem Fall um 15,7 % auf 59 000 DM. Bei zwei Beitragszahlern fällt somit pro Person ein Betriebseinkommen von 29 500 DM an, so daß dieser Betrieb monatlich 204 DM Beitragszuschuß erhält. Das ergibt für diesen Betrieb pro Jahr insgesamt 2 448 DM Beitragsentlastung. Statt 11 000 DM über den soziostrukturellen Einkommensausgleich erhält er 2 448 DM Beitagsentlastung. ({3}) Außerdem wird für die Zuschußberechnung in Zukunft das Gesamteinkommen des Versicherten herangezogen. Dies bedeutet, daß Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung sowie aus Kapitalvermögen berücksichtigt werden. Ist dies etwa kein Beitrag zur innerlandwirtschaftlichen Solidarität? ({4}) Anscheinend tun sich SPD-Sozialpolitiker mit landwirtschaftlichen Zusammenhängen schwer. Sonst würden sie nicht so unqualifiziert daherreden, wie dies heute geschehen ist. ({5}) Albert DeB Solche Aussagen aber, Herr Kollege Gallus, tragen mit dazu bei, daß für die Bäuerinnen und Bauern in unserem Land nicht schwer zu erkennen ist, daß ihre Anliegen bei der CDU/CSU und auch bei großen Teilen der F.D.P. besser aufgehoben sind. ({6}) Ich kann Herrn Möllemann natürlich nicht mit einschließen. Auch wenn wir zur Zeit nicht in der Lage sind, alle Wünsche der bäuerlichen Berufsvertretungen in diesem Gesetzentwurf zu erfüllen, waren wir in der Koalitionsarbeitsgruppe bestrebt, die Reform der Agrarsozialpolitik praxisgerechter zu gestalten. Einem jahrelang vorgetragenen Wunsch vieler Nebenerwerbslandwirte, die Beitragszahlung zur landwirtschaftlichen Alterskasse einstellen zu können, wurde Rechnung getragen. ({7}) Die Altersgeldanwartschaft bleibt dabei nach 15 Beitragsjahren erhalten, und das ist sehr wichtig. Gibt ein Nebenerwerbslandwirt seine außerlandwirtschaftliche Tätigkeit auf, um wieder im Vollerwerb tätig zu sein, kann die Beitragszahlung wieder aufgenommen werden. Damit wurde das bisher starre System bei der Anwartschaft auf Altersgeld in Anlehnung an das System der Rentenversicherung flexibler gestaltet. ({8}) Sollten im Zuge der Ausschußberatungen noch Änderungen am Gesetzentwurf vorgenommen werden, würde ich mich als CSU-Vertreter darüber freuen, wenn die Ausschlußgrenze für Nebenerwerbslandwirte, die als Kompromiß im vorliegenden Gesetzentwurf auf 80 % der Bezugsgröße festgelegt wurde, noch angehoben werden könnte, um Härten beim Ausschluß aus der Altersversorgung zu vermeiden. Ich bin auch bereit, einer freiwilligen Weiterversicherung zuzustimmen. Dabei wäre selbstverständlich ein Beitragszuschuß ausgeschlossen. ({9}) Durch die Möglichkeit, daß sich auch Bäuerinnen sowohl im Haupterwerb als auch im Nebenerwerb durch einen eigenen Beitrag einen Altersgeldanspruch sichern können, wird eine bessere soziale Absicherung der bäuerlichen Familien erreicht. Die Anrechnung der Beitragsjahre des Ehemannes auf die der Bäuerin bei der Altersversorgung ist mehr als berechtigt, da in diesem Fall der Ehegattenanspruch wegfällt und ein eigener Beitrag gezahlt wird. ({10}) Der Vorwurf der SPD, hier würden Geschenke verteilt, geht auch hier an der Realität vorbei. Auch hier wird versucht, eine Neiddiskussion zu entfachen. Mit dem Gesetzentwurf wird die Krankenversicherung auf den Personenkreis beschränkt, dessen beruflichen Schwerpunkt die Landwirtschaft bildet. Ausgeschlossen sind daher in Zukunft im wesentlichen Beamte, Selbständige, die im Hauptberuf nicht Landwirte sind, sowie Arbeitnehmer, deren Einkommen die Versicherungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung übersteigt. Zusammenfassend kann gesagt werden: Mit dem heutigen Gesetzentwurf zur agrarsozialen Sicherung wird ein neuer Meilenstein in der Agrarsozialpolitik gesetzt. Ich bedanke mich bei allen Kolleginnen und Kollegen, die in der Koalitionsarbeitsgruppe mitgearbeitet haben. Alle waren bestrebt, einen Kompromiß zu finden, der dazu beiträgt, daß die Koalitionsvereinbarung zur Agrarsozialpolitik zum 1. Januar 1995 und im vorgezogenen Teil bereits zum 1. Januar 1994 umgesetzt werden kann. Es liegt jetzt auch an der SPD, daß durch eine zügige Beratung dieses Gesetz termingerecht in Kraft treten kann. Ich glaube, es wäre unglücklich, wenn wegen dieses Gesetzentwurfes eine Ost-West-Diskussion einsetzen würde. Das wäre nicht im Interesse der Bauern im Osten und im Westen unseres Landes. Das möchte ich an die Adresse von Herrn Schumann sagen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Hermann Wimmer das Wort.

Hermann Wimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002522, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wäre natürlich jetzt interessant, auf einige Punkte meiner Vorredner einzugehen. Ich erspare es mir aber, weil ich etwas mehr zur Sache sagen will. ({0}) - Ich würde auch sehr gerne auf Sie eingehen, Herr Heinrich, weil ich glaube, daß Lautstärke in den Ausführungen nicht darüber hinwegtäuschen kann, daß Sie in der Agrarsozialpolitik zehn Jahre geschlafen haben. ({1}) Ich stelle fest, daß das Agrarsozialreformgesetz 1995 den Erwartungen nicht gerecht wird. Seit zehn Jahren verspricht die Koalition eine große, umfassende Agrarsozialreform. Die Debatte darüber hat uns ja in den letzten zehn Jahren begleitet. Wenn ich sehe, was jetzt geboren wurde, stelle ich fest, daß man dieser großen Aufgabe nicht gerecht wird. Ich bin ja auch der festen Überzeugung, daß die Agrarsozialreform zwingend notwendig ist, daß man Auswüchse und Entgleisungen der letzten Jahrzehnte einfangen muß und daß man dort, wo Lücken vorhanden sind, zielgerichtet einen Ausbau herbeiführen muß. Ich bin der festen Überzeugung, daß das notwendig ist. ({2}) Nur: Die Flickschusterei, die bisher betrieben worden ist, haben Sie zu vertreten. Bei der Debatte 1986 hat der Kollege Schorlemer noch ausgeführt, es sei nur eine Übergangslösung, denn bald würden die Überle15168 Hermann Wimmer ({3}) gungen zu einer Gesamtreform einsetzen, und denen sollte man nicht vorgreifen. Das liegt fast acht Jahre zurück; die Zeit haben Sie verstreichen lassen. Ich bin auch der festen Überzeugung, daß eine Lösung der Agrarsozialreform vor Jahren leichter gewesen wäre als in der heutigen Zeit. Das haben Sie zu vertreten. ({4}) Die Landwirte und die im Agrarbereich Tätigen wissen, daß man sich auf die Sozialdemokraten in der Agrarsozialpolitik verlassen kann. Gegen viele Widerstände - leider auch seitens der landwirtschaftlichen Verbände - haben wir 1957 das Gesetz über die Altershilfe für Landwirte mit erarbeitet und gemeinsam verabschiedet. Es wäre für manchen gut, er würde die Protokolle aus der damaligen Zeit nachlesen; dann würde er heute manchmal zu anderen Überlegungen und Schlüssen kommen. ({5}) Wir haben 1972 unter der Kanzlerschaft Willy Brandts die landwirtschaftliche Krankenversicherung als dritte Säule der agrarsozialen Sicherung geschaffen. Damit war ein Sicherungssystem erstellt, daß die Risiken Alter, Krankheit und Unfall angemessen absichern sollte. Die soziale Lage der landwirtschaftlichen Familien hat sich mit diesen Gesetzen damals erheblich und entscheidend verbessert. ({6}) Dennoch muß das System der agrarsozialen Sicherung immer wieder daraufhin überprüft werden, ob es den wechselnden Anforderungen noch gerecht wird. ({7}) Im Ergebnis haben wir in der Vergangenheit immer wieder Weiterentwicklungen, vor allem bei der Altershilfe der Landwirte, vorgenommen. Ich erinnere an die Zeit der sozialliberalen Koalition. ({8}) - Ich zähle auf, Herr Gallus: 1970 die Nachentrichtungszuschüsse zur gesetzlichen Rentenversicherung, 1973 die Dynamisierung der Altersgelder und der anderen Geldleistungen analog dem Verfahren in der gesetzlichen Rentenversicherung, 1975 das Waisengeld für Voll- und Halbwaisen und 1980 das Hinterbliebenengeld und die Übergangshilfe für die jüngeren Witwen und Witwer landwirtschaftlicher Unternehmer. Das war alles in der Zeit der sozialliberalen Koalition. Wir lassen uns nicht in der Ecke stellen und möchten nicht, daß Sie den Eindruck erwecken, wir würden aus Wahlüberlegungen Agrarsozialpolitik für die Landwirtschaft vergessen. ({9}) Wenn Herr Heinrich sagt, er fühle sich durch den Vorwurf nicht betroffen, dann gestehe ich ihm das zu. Daß sich aber der Kollege Heyenn betroffen fühlt, bitte ich zu verstehen, weil beide aus unterschiedlichen Parteien mit anderen Auffassungen kommen. Auch das Dritte Agrarsoziale Ergänzungsgesetz von 1985 möchte ich hier nennen. Dem haben wir zugestimmt und mit den damals erstmals eingeführten Beitragszuschüssen für landwirtschaftliche Familien mit niedrigen Einkommen sicherlich einen vernünftigen Anfang gesetzt. Wir waren also immer Treibende, auch in der Sozialpolitik für die Landwirte. ({10}) - Lesen Sie die Protokolle nach. Herr Hornung, Sie werden sich noch an den Entschließungsantrag der SPD-Fraktion vom 4. Juni 1986 erinnern; wenn nicht, stelle ich ihn Ihnen gern zur Verfügung. ({11}) Dort heißt es, Sie können weder eine grundsätzliche Kurskorrektur der Agrarpolitik noch eine Reform der agrarsozialen Sicherungssysteme durch das damalige Beitragsentlastungsgesetz ersetzen. Wir haben damals gefordert, die große Reform endlich vorzunehmen. Ich nenne ein paar Punkte, die auf jeden Fall korrigiert werden müssen und in der Zwischenzeit zu erheblichen Veränderungen geführt haben: Erstens. Das Verhältnis zwischen der Zahl der Beitragszahler und der der Leistungsempfänger war schon damals beinahe 1 : 1; zwischenzeitlich hat es sich weiter verschlechtert. Als Folge stiegen natürlich die Beitragslasten für die Familien in der Landwirtschaft, aber auch die Kosten für den Bund gewaltig an. Zweitens. Der nichtlineare Anstieg der Geldleistungen bei Aufrechterhaltung des Prinzips Einheitsbetrag/Einheitsleistung war dem ursprünglichen Charakter des „Bargeldzuschusses" vielleicht angemessen; heute ist das überholt. Für eine Teilsicherung haben die Leistungen der Altershilfe im übrigen inzwischen eine durchaus respektable Größe erreicht; das ist bereits angeführt worden, so daß ich es nicht zu wiederholen brauche. Drittens. In der Regel ist nur der landwirtschaftliche Unternehmer direkt versichert. Für die auf dem Hof tätigen Landfrauen bestehen nur abgeleitete Ansprüche. Bei einer stärkeren Nachprüfung ergäben sich vermutlich rechtliche Bedenken. Vor allem die Landfrauenverbände fordern daher seit langem zu Recht die eigenständige Absicherung der Landfrauen. ({12}) Wer die Politik der Sozialdemokraten verfolgt, wird feststellen, daß wir seit langem für eine Absicherung der Frauen in der Landwirtschaft eintreten. Natürlich gibt es auch landwirtschaftliche Besonderheiten, die in dem eigenständigen System zu rechtfertigen und auch zu wahren sind. Hermann Wimmer ({13}) Damit jedoch keine Mißverständnissse über diese Besonderheiten aufkommen, möchte ich hier einen Satz des Kollegen Bredehorn aus der letzten Agrardebatte wiederholen. Er sagte: Ich sage Ihnen ganz deutlich:... Agrarsozialpolitik darf keine Einkommenspolitik sein. Das muß man sehr gut auseinanderhalten. Das müssen Sie etwas klarer sehen. ({14}) - Das, was der Kollege Bredehorn gesagt hat, ist voll und ganz zu unterstreichen. Wenn der Kollege Bredehorn sagt „Das müssen Sie etwas klarer sehen", dann hat er bestimmt nicht uns gemeint, sondern die CDU/CSU. Es geht darum, ob Sie bereit sind, die Erklärung meiner Kollegin Matthäus-Maier zu verinnerlichen, als sie im Plenum während der Agrardebatte Stellung genommen und gesagt hat „Agrarsozialreform ja, aber nicht so"; das ist der Kernsatz, zu dem auch ich stehe. ({15}) - Herr Gallus, Ihr Weltbild ist sicherlich auch nicht auf eine große Mehrheit der Bevölkerung zu übertragen. ({16})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Herren, eine lebhafte Debatte ist recht wertvoll, aber diese Dialoge werden dem nicht unbedingt gerecht.

Hermann Wimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002522, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren, unter dem Druck der Landtagswahlen ist damals ein Beitragsentlastungsgesetz beschlossen worden, das auf Druck der EG-Kommission 1990 einkassiert wurde. Die Ergebnisse des 4. ASEG kennen Sie selbst. Der Bauernverband nennt die jetzige Auswirkung „absurd". ({0}) Ich will hier nicht auf alle Einzelheiten des Werdegangs eingehen, aber doch feststellen, daß die Koalition bisher, was den großen Wurf betrifft, eine schlechte Leistung geboten hat. ({1}) Nun haben Sie im dritten Anlauf nach zweimaligem Rückzug aus dem Kabinett zumindest einen Gesetzentwurf vorgelegt. Er enthält durchaus Bereiche, denen wir zustimmen, z. B. die Linearisierung der Anwartschaften oder die grundsätzliche Schaffung der eigenständigen Sicherung der Landfrauen. Ich möchte mich auf die Teile Ihres Entwurfs konzentrieren, die nach unserer Auffassung geändert werden müssen, damit die Reform sozial gerecht und zukunftsfest wird. Da ist zunächst die Frage des Verhältnisses zwischen Beiträgen und Leistungen. Nach unserer Auffassung sollte für gutverdienende landwirtschaftliche Unternehmer ein Beitrags-Leistungs-Verhältnis wie in der gesetzlichen Rentenversicherung eingeführt werden. ({2}) Das könnte z. B. dadurch geschehen, daß man den Einheitsbeitrag in der Alterssicherung der Landwirte an den notwendigen Beitrag in der gesetzlichen Rentenversicherung für vergleichbare Leistungen koppelt. Auch die Leistungsseite der Alterssicherung ist schließlich an die Leistungsentwicklung der Rentenversicherung gekoppelt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Wimmer, das veranlaßt den Abgeordneten Hornung, Ihnen eine Frage zu stellen. Sind Sie bereit, diese zu beantworten?

Hermann Wimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002522, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte sehr.

Siegfried Hornung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000961, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Wimmer, Sie wissen doch, daß die Altershilfe - zukünftig: die Alterssicherung - ein eigenes System ist, das sehr wohl Elemente der Rentenversicherung übernehmen will, daß aber ganz gewichtige Elemente in diesem spezifisch bäuerlichen System bleiben, etwa die Hofabgabe und die Betriebs- und Haushaltshilfe, und daß wir an dem Grundsatz „gleicher Beitrag und gleiche Leistung" festhalten wollen und lediglich dort, wo es die sozialen Verhältnisse nicht zulassen, eine Beitragsentlastung einführen.

Hermann Wimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002522, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben mit der Darstellung recht. Die letzte Konsequenz, die Sie daraus ziehen, teile ich nicht. Denn für mich ist bei der Beitragsentlastung eine entscheidende Frage, wie hoch das Einkommen in der jeweiligen Familie ist. Ob einige, die ich hier sitzen sehe, in die Beitragsentlastung einbezogen werden müssen, bezweifle ich sehr; das gilt auch für den, der gerade steht: Sie. ({0}) Es ist äußerst ungewöhnlich - darauf ist schon hingewiesen worden -, daß der Gesetzentwurf nur Berechnungen bis zum Jahre 2000 enthält. Im Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung steht: Angesichts des unumstrittenen Tatbestandes, daß Einrichtungen der Alterssicherung Langfristcharakter besitzen, sind insbesondere auch längerfristig orientierte Berechnungen über ihre finanzielle Entwicklung wichtig. Halten Sie sich gefälligst an den Bericht der Bundesregierung, und seien Sie bereit, über das Jahr 2000 hinaus Berechnungen anzustellen! Hermann Wimmer ({1}) Die Koalition will den Einheitsbeitrag in der Alterssicherung nur bei Gesamteinkommen über 40 000 DM bzw. 80 000 DM bei Verheirateten erheben. Unterhalb dieser Einkommensgrenzen wird der Einheitsbetrag durch Zuschüsse weiter vermindert. Das ist bei niedrigen Einkommen aus agrarpolitischen Gründen gerechtfertigt. ({2}) Die Landwirtschaft befindet sich in einer schweren Strukturkrise, die durch die Politik dieser Regierung noch verschärft worden ist. Ich möchte hier auf die Regelung für die Landfrauen nur ganz kurz eingehen, weil das meine Kollegin noch ausführlich machen wird. Die SPD hat die Forderung nach einer eigenständigen Sicherung der Landfrauen mit eigenen Beiträgen noch vor den Koalitionsparteien erhoben. Dazu stehen wir auch heute noch. Wir wenden uns aber entschieden gegen die von Ihnen geplante Berücksichtigung von Ehejahren mit landwirtschaftlichen Unternehmern als volle Beitragsjahre, und zwar ohne jede Nachentrichtung. Dieses Verfahren bewirkt eine rückwirkende deutliche Erhöhung der Anwartschaften und ist nach meiner Auffassung extrem ungerecht. ({3}) Es gibt bisher schon die Möglichkeit des „Ehegattenhofes", wo beide Ehegatten Beiträge gezahlt und beide Ansprüche erworben haben. Wie wollen Sie denen erklären, daß Sie das jetzt allen anderen nachträglich nachreichen wollen? Extrem ungerecht ist das z. B. auch gegenüber den Ehegatten von Handwerkern und anderen Selbständigen. ({4}) - Manches muß man bei Ihnen oft wiederholen. Irgendwann bleibt es hängen. Es führt kein Weg daran vorbei: Die Ausgestaltung der eigenständigen Sicherung der Landfrauen muß mit der angestrebten Reform der Alterssicherung der Frauen insgesamt in der gesetzlichen Rentenversicherung abgestimmt werden. Die eigenständige Sicherung der Landfrauen muß auch zukunftsfest sein. Das heißt, sie muß auch langfristig von den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern finanzierbar sein. Genau diesem Anspruch der nachhaltigen Gestaltung der eigenständigen Sicherung wird der Gesetzentwurf nicht gerecht. Natürlich ist zu erwarten, daß zunächst viele ältere Landfrauen die geschaffenen Möglichkeiten wahrnehmen. Davon gehe ich aus. Wie wird es jedoch nach dem Jahr 2000 aussehen? Ob die jüngeren Landfrauen dann auch noch davon überzeugt sind, bezweifle ich.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Kollege Wimmer, das rote Licht, das vor Ihnen aufblinkt, hat hier keine andere Bedeutung als im Wasserwerk und im alten Plenarsaal. Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie langsam zum Schluß kommen müssen.

Hermann Wimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002522, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich muß noch zwei Punkte ansprechen und werde es so kurz machen, wie es irgend geht. Eine vernünftige Lösung wäre z. B., den Ehegatten landwirtschaftlicher Unternehmer bei der Einführung der Reform die Hälfte der dann erreichten Beitragszeiten des versicherten Unternehmers als Anwartschaft anzurechnen, vorausgesetzt, sie entscheiden sich für die Alterssicherung der Landwirte und sind im Betrieb tätig. Damit wäre gewährleistet, daß die Leistungen nach dem neuen Recht nicht niedriger als diejenigen nach dem alten wären. Das wäre eine vernünftige Lösung. Grobe Ungerechtigkeiten gibt es auch im Verhältnis zu den Betrieben in den neuen Ländern - nicht mit den bäuerlichen Familienbetrieben, aber dort, wo es sich um juristische Personen handelt. Das sollte man im Ausschuß noch einmal sehr sorgfältig diskutieren. Ich glaube, es lohnt sich, darüber zu reden, ({0}) weil ich meine, wir sollten bei einer Neuregelung auch den Versuch unternehmen, Ungerechtigkeiten zu beseitigen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Kollege Wimmer, Sie überschreiten jetzt aber wirklich in einem großen Umfang Ihre Redezeit.

Hermann Wimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002522, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zwei Punkte sind nicht aufgegriffen worden. Das ist einmal der Punkt der Neuregelung der Organisationsstruktur der einzelnen Träger. Hier müßte gemeinsam mit Ländern und Selbstverwaltungsorganen nach neuen Formen gesucht werden - 60 Träger allein in der Landwirtschaft scheinen mir bei den heutigen technischen Möglichkeiten zuviel zu sein -, aber das muß gemeinsam mit den Ländern geschehen. Wir sind zu einer positiven Mitarbeit bereit. ({0}) Wir werden dort, wo wir Kritik haben, auch unsere Änderungsanträge einbringen. Wenn es zu keinen großen Veränderungen kommt, werden wir nicht zustimmen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Günther Schartz das Wort.

Günther Schartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir leben in einer Zeit, in der die öffentlichen Finanzen und auch die Finanzierung des öffentlichen Sozialsystems im Zentrum der öffentlichen Diskussion stehen, und deswegen halte ich es schon für erwähnenswert, daß die Bundesregierung heute hier einen Gesetzentwurf vorlegt, der auch zusätzliche Belastungen für den Günther Schartz ({0}) Bundeshaushalt mit sich bringt. Das sind erhebliche Finanzverpflichtungen des Bundes, ({1}) und wir Bauern haben, verehrte Kollegin, glaube ich, ein Anrecht auf diese zusätzlichen Finanzleistungen des Bundes. Es gibt keine Berufsgruppe in der Bundesrepublik Deutschland, die so viel an Lasten des Industriestaates Bundesrepublik Deutschland, die so viel an Lasten der Gemeinsamkeit in Europa zu tragen hatte wie die deutsche Landwirtschaft. ({2}) Wenn die Verpflichtung unseres Grundgesetzes, daß wir ein sozial ausgerichteter Staat sind, überhaupt noch einen Sinn haben soll, so muß auch die soziale Sicherung der Landwirtschaft in Vergleich mit der sozialen Sicherung in anderen Bereichen gesetzt werden. Dies ist ein Punkt, den Kollege Heyenn außer acht gelassen hat. Ich erlaube mir diese persönliche Bemerkung: Es wäre eigentlich richtig gewesen, wenn er einer Debatte, die er so unsachlich verschärft hat, auch beigewohnt hätte.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Schartz, entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche. Der Abgeordnete Heyenn hat sich bei mir mit überzeigenden Gründen entschuldigt. Die Koalition hat eine Sondersitzung des A- und S-Ausschusses einberufen, und der ist verpflichtet, diese zu organisieren. Ich glaube, daß wir diesen Vorwurf hier im Plenum keinesfalls erheben dürfen. ({0})

Günther Schartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, das habe ich nicht gewußt. Herr Präsident, ich ziehe dann natürlich diesen Vorwurf gerne zurück. ({0}) Meine Damen und Herren, der Strukturwandel ist ein zentrales Element in unserer Wirtschaftsordnung, und eine leistungsfähige Wirtschaft ist auf den Strukturwandel angewiesen. Die deutsche Landwirtschaft - meine Damen und Herren, das zeigt ein Rückblick auf die vergangenen drei Jahrzehnte - war diesem Strukturwandel in einer Art und Weise unterworfen, die sich mit all den menschlichen Problemen heute sicher niemand mehr vorstellen kann, und sie wird auch weiter dem Strukturwandel unterworfen sein, denn dieser Strukturwandel ist weder abgeschwächt, noch ist zu sehen, daß er abgeschwächt wird. Die Notwendigkeit des Strukturwandels wird also von mir durchaus bestätigt, aber ich weise darauf hin, daß es einzelne Bereiche der Wirtschaft gibt, bei denen bestimmte Produktionsbedingungen, historisch bedingte Entwicklungen und auch bestimmte Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft diesen Strukturwandel zu einem sozialen Schwerpunkt in der Krise für einen besonderen Berufsstand machen. Dies zeigt sich ja auch in der Bergbaukrise, die wir zur Zeit haben, und in den Demonstrationen der Bergarbeiter an der Ruhr. ({1}) Auf jeden Fall zeigt sich, daß die Landwirtschaft ohne Hilfe des Staates, der öffentlichen Hand - oder wie auch immer man das nennen mag - diesen Strukturwandel nicht hinter sich bringen kann. Der Beruf des Landwirts hat viel an Attraktivität verloren. Gerade die Medien, die Politik, die Gesellschaft, wer auch immer es sein mag, stellen die vielfältige Bedeutung der Landwirtschaft nicht vollständig und abgewogen dar. Ich möchte sagen, die Bereitschaft, Landwirt in einem Land wie der Bundesrepublik Deutschland zu sein, ist eine wirtschaftliche Frage, aber es ist auch eine psychologische Frage, wie sich der Landwirt in die Industriegesellschaft eingebettet sieht. Es ist für mich erschreckend, wie die Zahl der jungen Menschen zurückgeht, die noch Bauer bleiben wollen. Ich nehme als Beispiel mein Heimatland Rheinland-Pfalz. Das Land Rheinland-Pfalz hat 50 000 landwirtschaftliche Betriebe, 22 000 davon sind Haupterwerbsbetriebe. Im ersten Lehrjahr sind im ganzen Land Rheinland-Pfalz nur noch 140 junge Leute bereit, eine Ausbildung als Bauer oder Winzer zu beginnen. Dies muß doch die Öffentlichkeit wachrütteln, sowohl die wirtschaftliche wie auch die gesellschaftliche Bedeutung der Landwirtschaft zu sehen. Meine Damen und Herren, ich will auf ein Problem hinweisen, das für die gesamte deutsche Wirtschaft gilt. Wir sind dabei, über den Industriestandort Bundesrepublik Deutschland zu diskutieren. Dieselben Probleme, die der Industriestandort Deutschland zur Zeit sichtbar zu ertragen hat, hat die deutsche Landwirtschaft schon seit 30 Jahren zu ertragen. Die Gefahr, daß die deutsche Landwirtschaft austrocknet, wenn wir nicht andere Bedingungen schaffen, ist ohne Zweifel vorhanden. Ich meine, daß damit auch die Grundsätze der Agrarsozialpolitik, wie sie 1957 beschrieben worden sind, geändert werden müssen. Damals ist man davon ausgegangen, daß für den alten Bauern noch ein weiter wirtschaftender Betrieb die Grundversorgung übernimmt. Bei den Zahlen, die ich eben genannt habe, ist dies nicht mehr der Fall. Deswegen muß auch die Zielsetzung der agrarsozialen Sicherung neu bedacht werden. Ich weiß wohl, daß dies nicht in einem Schritt geht, aber ich meine, es gehört ganz sicher und ohne jeden Zweifel ein Ausbau der Leistungen und eine Einbeziehung der Bäuerin durch einen eigenen Rentenanspruch mit dazu. Ich weiß auch - ich sage das auch als Präsident eines Landesbauernverbandes -, daß die zögerliche Haltung mancher Berufsvertreter die Gesetzesberatungen in einen Zeitraum hineingeschoben hat, in dem die Finanzierung schwieriger ist, als sie vor einem oder zwei Jahren gewesen wäre.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Schartz, der Abgeordnete Oostergetelo wollte gern eine Frage stellen, wenn Sie damit einverstanden sind.

Günther Schartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, natürlich, bitte sehr.

Jan Oostergetelo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001650, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, weil Sie mit Ihrer Bemerkung wirklich den Kern getroffen haben - das sage ich über alle Parteigrenzen hinaus -: Es ist so, wie Sie es aus Ihrem Land geschildert haben, daß wir nur noch wenige haben, die bereit sind, Landwirt zu werden. Ich kenne kein Land, wo es nicht ähnlich ist. Wenn wir da jetzt nicht aufpassen, wird das unsere Gesellschaft noch einmal teuer zu stehen kommen. Da bin ich völlig Ihrer Meinung. ({0}) Wenn das so ist, frage ich Sie, aber auch uns alle, ob wir nicht bei den beschränkten Möglichkeiten, die wir haben, in der Förderstruktur auch irdendwo Obergrenzen haben müssen, damit im mittleren Bereich überhaupt noch eine Perspektive bleibt. ({1})

Günther Schartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Oostergetelo, ich bedanke mich für diese Frage. Die Antwort ist für mich nicht ganz leicht, aber ich will sie trotzdem ganz deutlich geben. Ich stimme mit Ihnen überein, daß das ganze Land, daß alle Menschen in der Bundesrepublik Deutschland irgendwann mit Erschrecken feststellen werden, daß die Versorgung mit gesunden, in Deutschland erzeugten Nahrungsmitteln und die Erhaltung der Kulturlandschaft in Deutschland nicht mehr sichergestellt sind. Dies wird dann schwer zu reparieren sein. Das zweite, was Sie mich ganz konkret gefragt haben - und ich weiß wohl, daß Sie hier den Daumen auf eine bestimmte Lücke gelegt haben -: Ich war mein Leben lang im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen in meiner Fraktion und im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen im Deutschen Bauernverband für eine Präferierung der Förderung der landwirtschaftlichen Familienbetriebe. Darum muß Strukturpolitik ausgerichtet werden, und ich scheue mich nicht, das hier auf ihre Frage deutlich zu sagen. ({0}) Ich darf, mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident, fortfahren. Ich möchte auf die Einkommenssituation der Landwirtschaft eingehen, die Kollege Heyenn eben absolut vernachlässigt hat und aus einer ideologischen Ecke betrachtet hat, die ich nicht begreifen kann. Es ist so - das weist der Agarbericht aus -, daß das verfügbare durchschnittliche Haushaltseinkommen der deutschen Haupterwerbsbetriebe als die hierbei wirlich aussagekräftige Einkommensgröße, 56 000 DM beträgt. Das durchschnittliche Einkommen nichtlandwirtschaftlicher selbständiger Unternehmerhaushalte beträgt 151 000 DM, immer auf die Familie bezogen. Wenn man das auf das verfügbare Einkommen je Haushaltsmitglied umrechnet, dann ergibt sich, daß die landwirtschaftlichen Familienmitglieder mit rund 14 000 DM verfügbarem Jahreseinkommen am Ende der Skala stehen, noch weit unter dem Einkommen der Arbeitnehmer mit 22 000 DM. Wenn man den Begriff Einkommen einmal nach dem landwirtschaftlichen Wirtschaftsrecht aufschlüsselt, wenn man weiß, daß von diesem Einkommen nicht nur die Familie versorgt werden muß - wir Bauern haben größere Familien zu versorgen als andere; wir haben Gott sei Dank noch die Kinder, die in dem Wirtschaftsprozeß der Zukunft auch für andere außerhalb der Landwirtschaft erwerbstätig sein können -, sondern auch die umfangreichen Investitionen in der Landwirtschaft bezahlt werden müssen, dann weiß man auch, daß für private Zwecke einem Bauern im Vollerwerb jährlich nur 10 000 DM zur Verfügung stehen. Aus dieser Sicht gesehen verstehe ich nicht, was Kollege Heyenn gesagt hat. Herr Präsident, Sie mahnen mich. Ich will versuchen, in wenigen Sätzen deutlich zu machen, was ich sagen will. Ich halte dieses Gesetz unter den gegebenen Umständen für einen großen Fortschritt. Dies muß fortgesetzt werden. Ich halte es für einen großen Wurf, daß besonders Bäuerinnen einbezogen werden. Ich halte es in der heutigen wirtschaftlichen Situation der Bauern für unbedingt notwendig, daß auch die Beiträge für die Bauern stabilisiert werden. Das ist in diesem Gesetz vorgesehen. Ich will mich einer Bemerkung meines Kollegen Hermann Wimmer anschließen. Im Zeitalter moderner Technik und Kommunikation und Rationalisierung von dem wir wissen, daß die Zahl der Bauern täglich zurückgeht, müßten auch wir Bauern neben der Politik die Kraft haben, neue Organisationsformen zu schaffen. Das heißt konkret: Ein Sozialversicherungsträger für ein Bundesland ist für meine Begriffe absolut ausreichend. Ich appelliere nicht nur an die Politik, sondern auch an die Bauern, daß wir die Kraft haben, auch das durchzusetzen. Ich bedanke mich. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort erteile ich nunmehr der Abgeordneten Barbara Weiler.

Barbara Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich möchte, weil die Redezeit insgesamt gleich zu Ende ist, einen Dank an eine Gruppe richten, die bisher vergessen worden ist und in der Debatte bisher von keinem erwähnt wurde, nämlich an die Bäuerinnen selbst. ({0}) Herr Fuchtel, Sie müssen ehrlich sein, dieses Gesetz, das nun über zehn Jahre gebraucht hat, wäre heute noch nicht auf dem Tisch, ({1}) wenn die Bäuerinnen im letzten Jahr nicht die Kampagne zur sozialrechtlichen Gleichstellung durchgeBarbara Weiler führt hätten, und zwar bundesweit und mit hohem Engagement und hoher Kompetenz. ({2}) Ich denke, es ist notwendig, daß man das hier einmal sagt. Diesem Dank könnten Sie sich von den Regierungsfraktionen anschließen. Als Überschrift für das Gesetz möchte ich sagen: Als Diskussionsgrundlage okay, akzeptiert; zustimmungsreif, Kollegin Dempwolf, ist es noch nicht. ({3}) In der Debatte ist meine Kollegin Ingrid MatthäusMaier häufig zitiert worden. ({4}) Erlauben Sie mir, da sie nicht hier sein kann, daß ich drei Sätze aus ihrer Presseerklärung vom 20. Juli zitiere. ({5}) - Ja. ({6}) Die Überschrift: Beschlüsse der Bundesregierung zur neuen Agrarrente sind ein finanzpolitisches Stück aus dem Tollhaus - Agrarsozialreform muß und kann aufkommensneutral finanziert werden ({7}) Die SPD ist grundsätzlich dafür, daß die Bäuerinnen eine eigenständige soziale Alterssicherung erhalten. Allerdings muß sichergestellt sein, daß in Zeiten knappster Kassen keine zusätzlichen Milliarden-Subventionslöcher entstehen. Die SPD fordert die Regierung auf, die soziale Alterssicherung für Bäuerinnen so auszugestalten, daß es nicht zu immer neuen Dauersubventionen im Bundeshaushalt kommt. Dieses Gesetz ist leider keine Reform in dem Sinne, wie wir es uns gewünscht hätten, denn es zementiert nicht nur bestehende Ungerechtigkeiten, es fügt auch neue hinzu. Sozial ist es auch nicht, da es Landwirte mit höheren Einkommen immer noch stärker begünstigt als andere. Mir macht diese neue Finanzierung deshalb Sorge, Herr Kollege, weil in der Bevölkerung, wie Sie alle wissen, ein Vorurteil besteht - ich sage extra: ein Vorurteil besteht -, daß die Landwirtschaft ein Faß ohne Boden ({8}) und ein großer Subventionsempfänger ohne Leistung wäre. Ich bin nicht der Meinung. Ich erlebe zu Hause im Vogelsberg und in der Rhön, welch eine unwahrscheinliche Aufgabe und welchen Einsatz die Bauern und Bäuerinnen dort leisten. Aber mit solchen Gesetzen, wie Sie sie hier vorgelegt haben, schüren Sie eigentlich dieses Vorurteil. ({9}) Natürlich brauchen wir eine Agrarsozialreform. Wir sind auch dafür, daß sie in dieser Legislaturpenode kommt. Sie muß sozial gerecht sein und nicht zuletzt solide finanziert werden. Ebenso selbstverständlich muß ein zentrales Anliegen dieser Reform sein, daß endlich die soziale Sicherung der Landfrauen durch eigenständige Beiträge und Rentenansprüche deutlich verbessert wird. 80 % der Bäuerinnen leisten vor allem in den Nebenerwerbsbetrieben einen entscheidenden Anteil der Arbeit auf dem Hof. Trotzdem sind sie bisher im Alter vom Ehemann finanziell abhängig. Wichtig ist auch, daß künftig eine kontinuierliche Versicherungsbiographie mit vernünftigen Konditionen für die Landfrauen geschaffen wird. Hierbei muß beachtet werden, daß die Ausgestaltung der eigenständigen Sicherung mit der angestrebten Reform der Alterssicherung der Frauen in der gesetzlichen Rentenversicherung abgestimmt ist, zu der sich das Parlament verpflichtet hat. Die nachträgliche Berücksichtigung von Beitragsjahren, wie sie der Entwurf vorsieht, führt aber zu grotesken Verzerrungen und schafft ein Präjudiz für die angesprochenen Reformen, das zu unerfüllbaren Erwartungen führen muß. Eine rückwirkende Doppelanrechnung bereits gezahlter Beiträge wäre in der gesetzlichen Rentenversicherung undenkbar und ist auch nicht vorgesehen. Herr Hornung, Sie haben eben dem Kollegen von der PDS vorgeworfen, er würde hier einen neuen Konflikt Ost-West heraufbeschwören. Das fände ich auch nicht zulässig. Aber Sie vergessen, daß es mit diesem Gesetz auch einen Konflikt zwischen den Frauen, die Beiträge gezahlt haben, und den Frauen im Westen, die nicht gezahlt haben, geben kann. ({10}) - Ja eben, aber mit Ihrem Gesetz wird das verschärft. Ehegatten, die beide ihren Beitrag in die Alterskasse gezahlt haben, muß es makaber erscheinen, daß alle anderen diese doppelten Anwartschaften jetzt sozusagen umsonst bekommen sollen. Das ist sozialpolitisch nicht vertretbar. Auf diese Weise wird auch Ihr Ziel verfehlt, die Finanzierung der Altersversorgung langfristig abzusichern. Was Sie planen, ist ein unrealistisches Zuschußgeschäft in Milliardenhöhe. Ich erlaube mir, noch einmal den Kollegen Heinrich zu zitieren. Auf einer Veranstaltung, auf der wir Mitte letzten Jahres gemeinsam waren, hat er gesagt: Wir müssen aus der Sonderrolle Landwirtschaft heraus. Betriebe, die dazu in der Lage sind, müssen sich stärker selbst beteiligen. Der Perso15174 nenkreis, der von dem hochsubventionierten System profitiert, muß enger gezogen werden. ({11}) Ich denke, mit diesem Agrarreformgesetz ist das nicht erreicht. Noch etwas: Wir wissen alle, welche großen Belastungen die Landfrauen, die Bäuerinnen vor Ort haben. Neben dieser Agrarsozialreform, die sicher notwendig ist und an der wir auch zügig mitarbeiten werden, gäbe es natürlich auch eine Reihe von anderen politischen Maßnahmen, die die Arbeit der Bäuerinnen sehr entlasten könnten. Damit meine ich vor allen Dingen die Pflegeversicherung. Das beschämende Gezerre um die Finanzierung wird auch auf den Rücken der Bäuerinnen ausgetragen. ({12}) Denn die Bäuerinnen und die Bevölkerung in den ländlichen Regionen sind von der Pflegeversicherung und von der Unterstützung, wenn wir sie endlich haben, ganz besonders betroffen. ({13}) Sie wissen genau, daß die Landfrauen, die Bäuerinnen dies auch ständig fordern. ({14}) - Dann machen Sie es endlich; Sie zerren das doch ständig hin und her. Bei der Berechnung des Beitragszuschusses - darauf möchte ich zum Schluß zurückkommen - muß das gesamte Einkommen beider Ehegatten voll berücksichtigt werden. Dazu ist eine gemeinsame Veranlagung notwendig. Die im Gesetzentwurf vorgesehene individuelle Veranlagung bei Gleichverteilung auf beide Personen muß entfallen, da sie Manipulationen zugunsten von Landwirtschaftsehepaaren mit hohem außerlandwirtschaftlichem Einkommen ermöglicht. Das sind Punkte, von denen ich denke, daß wir sie im Laufe der Beratung noch korrigieren können. Auch wir Sozialdemokraten halten Beitragszuschüsse an landwirtschaftliche Familien mit niedrigem Einkommen aus sozial- und agrarpolitischen Gründen für gerechtfertigt, um die schwere Strukturkrise in der Landwirtschaft abzumildern. Angesichts der Einsparbeschlüsse im Sozialbereich ist es jedoch unverantwortlich, daß Höfe, die z. B. 75 000 DM im Jahr erwirtschaften, noch zusätzliche Bundesmittel für die Alterskasse erhalten sollen. Lassen Sie mich zusammenfassen: Die agrarsoziale Sicherung ist eine notwendige Reform, eine dringende Reform. Es wäre in der Tat zu wünschen, daß wir einen Konsens finden. Wir sind dazu bereit. Wir hoffen, ja wir erwarten, daß Sie in den bevorstehenden Ausschußberatungen, bei der Anhörung der Fachverbände und vielleicht auch mit Hilfe der zuständigen Fachministerien von einigen -

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Abgeordnete, der Abgeordnete Heinrich möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen.

Barbara Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bei den letzten drei Worten finde ich das nicht gerade passend. Ich wiederhole: Wir erwarten, daß Sie in den Beratungen unter Zuhilfenahme der Fachkenntnisse in den Ministerien von einigen absurden Artikeln im Gesetz Abstand nehmen. Dann werden wir auch zustimmen. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Parlamentarischen Staatssekretär Rudolf Kraus das Wort.

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann mich sicher auf einige grundsätzliche Positionen beschränken. Ich möchte auf einige Argumente eingehen, die von seiten der Opposition als Kritik an diesem Gesetz vorgetragen worden sind. Zunächst einmal möchte ich sagen, daß ich sehr froh darüber bin, daß auch von seiten der SPD ganz offensichtlich die Notwendigkeit der Reform erkannt ist und daß in vielen Bereichen offenbar die Bereitschaft besteht, mit uns gemeinsam eine Linie zu finden, die wir dann auch beim Bundesrat durchsetzen können, obwohl dort die Irritationen groß geworden sind: Ursprünglich gab es Zustimmung, die aber zwischenzeitlich wieder zurückgezogen wurde. Es ist offensichtlich ein Problem Ihrer Partei, daß einheitliche Meinungsäußerungen nicht so leicht herzustellen sind. Zunächst einmal zum Hauptpunkt: Handelt es sich hier um ein Gesetz, durch das Neuausgaben zugunsten einer bestimmten Personengruppe erfolgen? Genau das ist nicht der Fall. Wir alle wissen, daß für den soziostrukturellen Einkommensausgleich ursprünglich Gelder in der Größenordnung von 2 Milliarden DM zur Verfügung standen. Diese agrarsoziale Reform wird zwischen 500 und 600 Millionen DM pro Jahr ab 1995 kosten, d. h. einen Bruchteil des Geldes, das bisher der Landwirtschaft über direkte Einkommensbeihilfen zugute gekommen ist. Ein ganz erheblicher Teil dieser Gelder ist ganz im Sinne der Einsparpolitik bereits dem Rotstift zum Opfer gefallen. Wenn man ehrlich ist, muß man das, was hier getan wird, in direkte Beziehung zu dem setzen, was früher insgesamt getan wurde. Man muß sehen, wieviel hier bereits eingespart wurde. ({0}) - Bitte schön, gern.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Wimmer, bitte schön.

Hermann Wimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002522, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, glauben Sie nicht, daß es Schwierigkeiten mit allen anderen gesellschaftlichen Gruppen in der Hermann Wimmer ({0}) Republik geben wird, wenn man den Versuch unternimmt, Gelder aus einem anderen Haushaltsbereich in die Sozialpolitik zu packen? Glauben Sie nicht, daß der Versuch, Einkommenspolitik verstärkt über Sozialpolitik zu betreiben, seine Grenzen hat?

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Erstens einmal, Herr Kollege Wimmer: Natürlich hat es seine Grenzen, Einkommenspolitik über soziale Systeme betreiben zu wollen. Aber Sie wissen genausogut wie ich, daß es andere Wege, diese Einkommensbestandteile der landwirtschaftlichen Bevölkerung zu erhalten, nicht gibt. Auch ich glaube natürlich, daß es schwierig ist, so etwas zu erklären. Deswegen bemühe ich mich ja, auch hier das zu tun. Daß es aber schwierig ist, Ihnen als einem angeblichen Fachmann das zu erklären, überrascht mich. ({0}) - Wir wollen hier nicht beleidigend sein; das ist nicht nötig. Lassen wir es! ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sehen keine andere Möglichkeit als die, diesen Einkommensausgleich, Herr Kollege Wimmer, über das Sozialsystem zu transportieren. Soweit mir bekannt ist, ist das ja früher auch eine Forderung von Ihnen gewesen. Es ist ja auch von der Opposition immer wieder gefordert worden, man sollte die bäuerliche Bevölkerung und die bäuerlichen landwirtschaftlichen Betriebe erhalten. Man will keine Agrarindustrie und keine Großfarmen. Man will keine mengenmäßige Ausweitung der Produktion. ({2}) Man will keine Erhöhung der Produktivität zu Lasten der Natur. Wenn das alles richtig ist, muß man doch einen Einkommensausgleich für die Landwirtschaft bereitstellen, um genau diese negative Entwicklung zu vermeiden, bei der auch Sie der Meinung sind, daß man sie vermeiden muß. Wenn man das will, muß man letztlich auch diesen Weg akzeptieren. ({3}) Ich komme zum zweiten Punkt, der sehr kritisiert worden ist, nämlich zu der Frage der Zurechnung der Verheiratetenzeiten für die Bäuerin. Ich lasse nicht gelten, daß man sagt: Was sagen die Handwerkerfrauen dazu? Das ist deshalb kein Vergleich, weil es bei der Versicherung der Handwerker eben keinen Verheiratetenzuschlag gibt. Das ist eine Einmaligkeit im System der landwirtschaftlichen Altersversorgung. Das gibt es nirgends sonst. ({4}) Wenn man das abschaffen will, dann muß man das sagen. Herr Wimmer, Sie sind doch mit Sicherheit nicht der Meinung, man soll den Verheiratetenzuschlag ersatzlos streichen, so wie Ihre Kollegen das offensichtlich meinen. Sie haben immerhin gesagt, man sollte 50 % der Beitragszeit zurechnen. Das ist immerhin ein Teil. Wir sind der Meinung, daß man diese Regelung ganz erhalten muß, und nehmen dabei in Kauf, daß der eine oder andere dabei einen echten Vorteil hat. Warum, glauben Sie, können wir das in Kauf nehmen? Als man die Handwerkerversicherung eingeführt hat, waren die Einstiegsbedingungen für den, der sich neu versichern lassen wollte, ganz hervorragend. Das ist völlig unbestritten. Wenn wir die Pflegeversicherung einführen, und zwar entweder nach Ihrem System oder nach unserem, werden diejenigen, die nahe am Risiko sind, ungewöhnlich günstige Einstiegsmöglichkeiten haben, jedenfalls gemessen an dem, was versicherungsmathematisch notwendig wäre. Es ist geradezu ein Kennzeichen der Einführung neuer umlagefinanzierter Systeme, daß die Einstiegsbedingungen recht günstig sind. ({5}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich halte es für absolut gerechtfertigt, die Verheiratetenzeiten den Bäuerinnen zuzurechnen, wenn man gleichzeitig berücksichtigt, daß in Zukunft eben von den Bäuerinnen einkommensabhängig eigene Beiträge für ihre eigenständige Sicherung zu bezahlen sind. Ich denke, daß deshalb richtig ist, was wir hier vorgeschlagen haben, und ich denke, daß wir noch einmal darüber reden sollten, ob es nicht einsichtig ist, so zu verfahren, wie wir das meinen. Noch ein Wort zu den Bäuerinnenrenten in den neuen Ländern: Ich möchte keine Neiddiskussion beginnen. Tatsache ist, daß die Renten der Frauen, die in der Landwirtschaft in den neuen Ländern beschäftigt sind, mit Sicherheit ein ganzes Stück besser sind als das, was hier von uns vorgesehen ist, ({6}) nicht nur deswegen, weil dort immer Beiträge bezahlt worden sind. ({7}) Die Bäuerinnenrenten und die Renten für die Angestellten und Arbeiter in der Landwirtschaft der neuen Länder sind ja auch deswegen relativ gut und besser als die, die hier gezahlt werden, weil es eben nicht nur auf die Zeiten ankommt, in denen man eingezahlt hat, sondern weil die sogenannten Sozialzuschläge und die Auffüllbeträge eine ganz maßgebliche Rolle spielen.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Frage der Abgeordneten Weiler?

Barbara Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ist Ihnen klar, daß die Rentenbeiträge der Bäuerinnen und der anderen Rentnerinnen in Ostdeutschland vor allen Dingen auch deshalb relativ gut sind, weil diese Frauen die Möglichkeit hatten, eine kontinuierliche Erwerbs- und Beitragsbiographie aufzubauen, die in Westdeutschland nicht möglich war?

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Frau Kollegin, das ist überhaupt kein Widerspruch zu dem, was ich vorhin sagte. Sie erkennen mit mir gemeinsam an, daß die Versorgung dort ganz hervorragend ist. Die Gründe dafür habe ich genannt. Deswegen bin ich der Meinung, daß in dieser speziellen Frage ein kleinliches Schielen der neuen Lander auf die alten Lander in keiner Weise gerechtfertigt ist. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die anderen Dinge sind bereits von meinen Vorrednern ausgiebig und sehr eingehend betrachtet worden. Ich möchte mich deshalb auf ein Schlußwort beschränken. Wir denken, daß auf jeden Fall festgehalten werden kann: Erstens wird durch die Reform der Bundeshaushalt nicht zusätzlich belastet. Diese Reform steht deshalb im Einklang mit den Erfordernissen der notwendigen Haushaltskonsolidierung. Zweitens entspricht die Reform der Zielsetzung der Bundesregierung und der Koalition, an die Stelle des Ausbaus den Umbau unseres Sozialversicherungssystems zu setzen. Drittens wird die Reform der besonderen Rolle, die der Bäuerin in den landwirtschaftlichen Familienbetrieben zukommt, in vollem Umfang gerecht. Ich hoffe, daß wir anläßlich der Beratungen in den Ausschüssen und auch mit der Opposition noch zu einer Meinungsfindung kommen können, die es möglich macht, dieses Gesetz doch noch gemeinsam zu verabschieden. Ich bedanke mich. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 12/5700 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. - Damit ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: Fragestunde - Drucksache 12/5692 Wir haben noch elf Fragen. Unmittelbar an diese elf Fragen beginnt die Aktuelle Stunde. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern auf. Die Fragen 17, 18 und 19 der Kollegen Uwe Lambinus und Gernot Erler werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft auf. Die Beantwortung der Fragen erfolgt durch den Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Heinrich Kolb. Zunächst die Frage 20 des Abgeordneten Werner Ringkamp: Wie beurteilt die Bundesregierung - insbesondere vor dem Hintergrund des das deutsche Sozialversicherungssystem prägenden sog. Generationenvertrages - den Sachverhalt, daß das Bundesministerium für Wirtschaft zusammen mit dem Land Mecklenburg-Vorpommern die Kosten wirtschaftlicher Beratung kleiner und mittlerer Unternehmen durch Rentner, Ruheständler und Pensionäre ({0}), die bei zwei bestimmten Seniorenexpertenorganisationen aufgelistet sein müssen, mit bis zu 15 000 DM Subventionen für Reise- und Nebenkosten fördert, während die Kosten der wirtschaftlichen Beratung derselben kleinen und mittleren Unternehmen durch aktiv tätige Unternehmens-, Betriebs- und vergleichbare Berater seitens des Bundesministeriums für Wirtschaft mit höchstens 4 000 DM Subvention gefördert werden?

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Herr Kollege, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Die Senior-Experten leisten mit ihrem hohen persönlichen Engagement einen wichtigen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufbau in Ostdeutschland. Angesichts der schwierigen Lage vieler Existenzgründer sowie kleiner und mittlerer Unternehmen bei der raschen Einführung der Sozialen Marktwirtschaft in den neuen Ländern mußten alle Ressourcen für die Beratung dieser Unternehmen ausgeschöpft werden. Die Auflage des Senior-Experten-Programms des Bundes ist daher gerechtfertigt und erforderlich, es wurde allerdings von vornherein befristet und degressiv angelegt. Die Erfahrungen mit dem Senior-Experten-Programm sprechen für die Notwendigkeit der Seniorenhilfe. Die Resonanz, insbesondere positive Meinungsäußerungen der Begünstigten, belegen den Erfolg. Der Durchschnittswert einer Beratung über das Bundesprogramm beträgt etwa 2 600 DM. Die Förderung fließt den Trägerorganisationen für Aufwendungen im Zusammenhang mit der Projektdurchführung zu. Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat das seit 1990 bestehende Bundesprogamm durch ein eigenes Programm ergänzt. Die Ausgestaltung dieses Programms unterscheidet sich jedoch hinsichtlich Zweck und Durchführung. Die Förderung kann hier im einzelnen tatsächlich bis zu 15 000 DM betragen. Hierbei handelt es sich aber um einen maximalen Wert, der nur erreicht wird, wenn ein Einsatz extrem lange dauert. Im übrigen steht für die Beratung durch aktiv tätige Berater eine erheblich umfangreichere Förderung zur Verfügung. So kann ein Unternehmen für verschiedene Beratungsleistungen kumulativ eine Förderung von bis zu 39 000 DM in Anspruch nehmen. Im Bundeshaushalt 1993 - dies macht die unterschiedliche Gewichtung auch noch einmal deutlich - stehen insgesamt 12,5 Millionen DM für Unternehmensberatungen zur Verfügung; davon lediglich 1,5 Millionen DM für Seniorendienste. Ich glaube, dies spricht für sich selbst. Eine nennenswerte Wettbewerbsverzerrung oder gar eine Benachteiligung kommerzieller Unternehmensberatung ist angesichts der Sachlage und auf Grund der Zahlen nicht erkennbar.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Wir kommen zur Frage 21 des Abgeordneten Ringkamp: Welche Maßnahmen beabsichtigt die Bundesregierung zu treffen, damit wirtschaftlicher Wettbewerb um Arbeitsaufträge zwischen Rentenbeziehern und jenen, die durch Arbeit Einkommen zwecks Bestreitung ihres eigenen Unterhalts und Heranziehung zur Bezahlung der Renten erzielen müssen, abgestellt und zukünftig vermieden wird?

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Herr Kollege, im Zusammenhang mit der zuvor gestellten Frage sind keine Maßnahmen nötig, da, wie ich ausgeführt habe, eine Beeinträchtigung des Wettbewerbs oder auch des Generationenvertrags nicht ersichtlich ist.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Wir kommen zur Frage 22 des Abgeordneten Erich G. Fritz: Was hat die Bundesregierung seit der Stahldebatte am 10. März 1993, in der sie vom Deutschen Bundestag aufgefordert worden ist, sich für faire Marktchancen der deutschen Stahlindustrie einzusetzen, getan, um neue Subventionen für die Stahlindustrie in Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaft zu verhindern?

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Herr Kollege Fritz, die Bundesregierung besteht in den Beratungen in Brüssel über die Stahlproblematik auf einer strikten Einhaltung der Beihilfedisziplin in der Gemeinschaft. Dort, wo Beihilfen letztlich gewährt werden, muß ein angemessener Kapazitätsabbau erfolgen. Sie unterstützt zudem die Kommission in ihren Bemühungen, mögliche Subventionsfälle rückhaltlos zu klären. Diese Haltung hat die Bundesregierung auch nachdrücklich bei der Diskussion der Stahlproblematik im EG-Ministerrat am 4. Mai und zuletzt vorgestern, am 21. September 1993, vertreten.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, im Stahlrat, der wohl vorgestern getagt hat, standen ja sowohl die Subventionspraxis als auch die Frage der Zukunft von EKO-Stahl zur Diskussion. Gibt es eine Änderung der Haltung der Bundesregierung zur Koppelung von Zustimmungen zu Subventionen und Kapazitätsabbau im Hinblick auf die Haltung der EG zu EKO?

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Herr Kollege Fritz, es gibt keine Änderung der Haltung. Wir werden nachdrücklich auch künftig dafür eintreten, daß Subventionen an Kapazitätsabbau gekoppelt sein müssen. Wir werden aber auch weiterhin in Brüssel deutlich machen, daß wir EKO in dieser Hinsicht für anders gelagert halten.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Zusatzfrage vom Kollegen Weiermann.

Wolfgang Weiermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002447, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß der Wirtschaftsausschuß des Deutschen Bundestages im November des letzten Jahres einstimmig einen Beschluß mit dem Inhalt gefaßt hat, daß der deutsche Bundeswirtschaftsminister in der Europäischen Gemeinschaft so lange keinen Beschlüssen für Subventionen in anderen EG-Ländern zustimmen möge, bis die Interessen der deutschen Stahlindustrie eine entsprechende Berücksichtigung finden? Ist Ihnen das bekannt? Wenn Ihnen das bekannt ist: Wie werden Sie in den weiteren Verhandlungen vorgehen? Dies frage ich, weil die Stahlindustrie in der gegenwärtigen Phase --- bei einem Verlust von kalendertäglich zwischen 1 und 2 Millionen DM - eine dreiviertel Milliarde an Verlusten in den jeweiligen Bereichen - nicht insgesamt, da ist es noch mehr - zu verzeichnen hat und vermutlich das Ende des Jahres kaum noch überleben kann. Wie werden Sie vorgehen?

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Herr Kollege, genau das, was Sie als Beschlußlage hier zitiert haben, ist das, was den Handlungen der Bundesregierung zugrunde liegt. Das werde ich auch in der Beantwortung der Frage 23 des Kollegen Fritz noch einmal deutlich machen. Es sind zwischenzeitlich keine neuen Beihilfen - außer für ostdeutsche Unternehmen - gewährt worden, und ich denke, die sollten hier nicht in Diskussion stehen. Ich will auch noch darauf hinweisen, daß die Gelegenheit besteht, in der Sitzung des Bundestagsausschusses für Wirtschaft am 29. September, d. h. in der nächsten Woche, die Stahlproblematik noch einmal im Detail zu diskutieren. Dann wird sicher auch hierzu noch entsprechend beizutragen sein.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Wir kommen zur Frage 23 des Abgeordneten Fritz: Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung darüber vor, ob und in welchem Umfang von der EG-Kommission neue Subventionen genehmigt worden sind?

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Herr Kollege Fritz, die Kommission hat nach hiesiger Kenntnis - zu den Ergebnissen der Tagung vorgestern komme ich gleich noch - außer für ostdeutsche Unternehmen keine neuen Beihilfen genehmigt. Die größeren Beihilfefälle, insbesondere für die italienische und spanische Stahlindustrie, die derzeit zur Entscheidung anstehen, müssen zudem vom Ministerrat einstimmig gebilligt werden. Der Ministerrat hat über diese Beihilfen bereits im Dezember 1992 sowie im Mai 1993 und vorgestern diskutiert, ohne daß es zu einer Genehmigung kam. Dabei geht es auch um EKO-Stahl; das ist bereits zitiert worden. Mit Entscheidungen ist erst im November dieses Jahres zu rechnen. Am 21. September spielten die Beihilfefragen bei der Tagung des Rates naturgemäß wieder eine wichtige Rolle. Es wurde wiederum über die Beihilfeanträge von Italien, Spanien, auch von EKO diskutiert. Entscheidungen wurden auch jetzt nicht getroffen. Zu zwei kleineren Beihilfefällen - einer davon betrifft die Bundesrepublik Deutschland - wurde ein „avis favorable" erteilt. Das heißt, hier sind weitere Klärungen sachlicher und rechtlicher Art erforderlich, so daß die beschriebene Sachlage nach wie vor gilt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Zusatzfrage, Herr Fritz.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß der Bundeswirtschaftsminister in den letzten Wochen Gespräche mit Vertretern sowohl der deutschen Stahlunternehmen als auch der Gewerkschaften geführt hat? Welche Übereinstimmungen gibt es bei diesen Gesprächen, die unter Umständen eine abgestimmte deutsche Position bei den Gesprächen in Brüssel möglich machen?

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Der Bundeswirtschaftsminister steht ständig im Gespräch - ich bin in vergangenen Fragestunden auch schon nach konkreten Terminen gefragt worden; ich habe sie auch heute hier nicht zur Verfügung - sowohl mit Unternehmensvertretern als auch mit den Vertretern der Gewerkschaften. Ich kann nur wiederholen, daß der Wirtschaftsminister auch in Zukunft alles tun wird, um in seinen Verhandlungen in Brüssel die Position der deutschen Stahlindustrie zu stärken. Ich denke, daß hier die Interessen der Unternehmen und der Arbeitnehmer letztlich gleichgelagert sind, d. h. möglichst ungestörter subventionsfreier Wettbewerb.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Noch eine weitere Frage.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, die deutschen Stahlunternehmen haben im Frühjahr angekündigt, bis zum Herbst dieses Jahres ein Konzept vorzulegen. Wenn ich recht informiert bin, beginnt der Herbst heute. Ein solches Konzept ist bisher nicht auf dem Tisch. Es ist auch nicht einfach für Konkurrenten, sich auf ein solches Konzept zu einigen. Sehen Sie eine Möglichkeit für den Bundeswirtschaftsminister, ein solches Konzept zu moderieren?

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Herr Kollege Fritz, die Bundesregierung ist wie bisher schon bereit, in konkreten Einzelfällen zu vermitteln. Ich bitte aber um Ihr Verständnis, daß es nicht Aufgabe der Bundesregierung sein kann, die Umstrukturierungspläne privater Unternehmer zu entwickeln, voranzutreiben und zu koordinieren. Das liegt in der Verantwortung der Unternehmen und ihrer Organe. Diese Verantwortung kann auch in schwierigen Zeiten nicht bei der Bundesregierung abgegeben werden.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Zusatzfrage vom Kollegen Weiermann.

Wolfgang Weiermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002447, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ist es nicht gerade wegen dieser Situation, daß es bislang zu keiner Klärung auf dem Stahlmarkt gekommen ist, zwingend notwendig, der Forderung nachzukommen, in der Bundesrepublik Deutschland eine von der IG Metall und von Arbeitnehmern verlangte Stahlkonferenz durchzuführen? Wäre das diesmal nicht sinnvoll?

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Herr Kollege, ich teile Ihre Einschätzung nicht. Ich kann nur wiederholen, was ich eben schon gesagt habe: Es ist zuerst und vor allem Aufgabe der Unternehmen, entsprechende Konzepte zu entwickeln und zu koordinieren.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Zweite Zusatzfrage.

Wolfgang Weiermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002447, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Würden Sie dann bitte zur Kenntnis nehmen, daß bei einer weiteren Zurückhaltung der Bundesregierung, die unverständlich ist, weit mehr als die zunächst erwarteten 40 000 Arbeitsplätze, die bei einer Rückführung der Produktion ohnehin in Frage stünden, verlorengehen? Ist es gut, wenn die Bundesregierung so verfährt?

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Herr Kollege, ich nehme das zur Kenntnis, aber ich teile auch hier Ihre Einschätzung nicht.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Damit käme ich zur Frage 24 des Abgeordneten Michael von Schmude. - Ich sehe ihn nicht. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen. - Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär. Ich komme zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Die Fragen 25, 26, 27 und 28 werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich komme zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Frauen. Die Fragen 29 des Abgeordneten Claus Jäger, 30 der Abgeordneten Monika Ganseforth und 31 des Abgeordneten Jürgen Augustinowitz werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. ) Ich komme zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Manfred Carstens bereit. Die Frage 32 des Abgeordneten Fuchtel wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich komme zur Frage 33 der Abgeordneten Margrit Wetzel: Bezugnehmend auf meine schriftliche Frage 97 in Drucksache 12/5443 frage ich die Bundesregierung, ob sie bereit ist, ihren Informationsstand dem der öffentlichen Diskussion anzunähern und mir mitzuteilen, welche Abmessungen ({0}) und welche Geschwindigkeiten die von HDW ({1}) für APL ({2}) projektierten 5 234-TEU-Containerschiffe haben werden?

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Die jetzt von American President Line in Auftrag gegebenen Schiffe können insgesamt 5 234-TEU-Container befördern. Der Entwurfstiefgang beträgt 12 m, der maximale Tiefgang 14 m. Die Windangriffsfläche beträgt 6 695 m2 bei 12 m Tiefgang und 6 161 m2 bei 14 m Tiefgang. Die übrigen Abmessungen betragen: Länge zwischen den Loten 262 m, Breite 40 m. Die Höchstgeschwindigkeit dieser Schiffe auf offener See beträgt 24 Knoten. Für die Revierfahrten gelten aber die Revier- bzw. sicherheitsspezifischen Geschwindigkeiten, die weit unter der Höchstgeschwindigkeit liegen. Frau Präsidentin, Frau Abgeordnete Dr. Wetzel, es wird zu empfehlen sein, daß ich die nächste Frage sofort mitbeantworte, weil diese Abmessungen auch dort genannt sind.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Bitte sehr.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bitte um getrennte Beantwortung, weil das, glaube ich, sonst mit den Zusatzfragen nicht hinzubekommen ist.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Doch, Sie haben auch dann vier Fragen. *) Die Antworten auf die Fragen 30 und 31 siehe 175. Sitzung, Seite 15113

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es wäre für mich von der sachlichen Ordnung her einfacher, wenn ich meine Fragen getrennt stellen darf. Herr Staatssekretär, mit welcher konkreten Geschwindigkeit werden die Schiffe dieser Größenordnung im Revier fahren, welche Umsteuerzeiten ergeben sich aus dieser Geschwindigkeit, und welcher dadurch bedingte Stoppweg ergibt sich für Schiffe dieser Größenordnung?

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Wir haben es bei diesen Fragen damit zu tun, daß, sobald man in ein Revier kommt, entweder schiffahrtspolizeiliche Vorschriften gelten und/oder Lotsendienste bereitstehen, die das genau regeln.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Weitere Zusatzfrage.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin mit der Antwort nicht zufrieden, Herr Staatssekretär, weil die Lotsendienste weiß Gott nichts mit dem Stoppweg zu tun haben. Ich möchte Sie bitten, das zu recherchieren und gegebenenfalls schriftlich zu beantworten. - Ich meine die Fragen wirklich ernst; sie sind sehr konkret. Meine zweite Frage wäre: Welcher Driftwinkel ergibt sich bei starkem Seitenwind für diese Schiffe, welche Fahrwasserbelegung ergibt sich daraus in den Revieren, und ist Begegnungsverkehr gleichartiger Schiffe unter diesen Bedingungen dann noch möglich?

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Dabei kommt es, Frau Präsidentin - das werden auch die Kolleginnen und Kollegen des Hohen Hauses nachvollziehen können -, ganz auf den Einzelfall an. ({0}) Den will ich gern einmal in Form eines besonderen Beispiels darstellen, und ich kann Ihnen dazu eine schriftliche Antwort zusagen. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Zusatzfrage des Kollegen Ewen.

Carl Ewen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000504, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, Ihre Ausführungen machen deutlich, daß bei Schiffen dieser Größenordnung die Revierfahrt möglicherweise so gefährlich wird, daß der Zugang zu den deutschen Nordseehäfen erschwert ist, so daß daraus automatisch ein Bedienen des Hafens Rotterdam erfolgt. Können Sie sicherstellen, daß das Revier so ausgebaut wird, daß Hamburg bzw. Bremerhaven erreicht werden können?

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Herr Abgeordneter Ewen, das kann man nicht auf jeden Fall und für jeden Vorgang sicherstellen. Denn die Frage 34, die gleich noch beantwortet wird, zielt auf noch größere Schiffe mit noch mehr Tiefgang ab. Irgendwo ist natürlich die Kapazität auch einmal zu Ende, zu einem Hafen zu kommen. Wir wissen ja, daß z. B. Rotterdam einen Tiefgang von 23 m hat. Es gibt in Deutschland überhaupt keinen Hafen, der eine solche Tiefe bietet. Insofern kann ich das seitens der Bundesregierung natürlich nicht für jeden Fall sicherstellen.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Zusatzfrage?

Carl Ewen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000504, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Daraus ergibt sich die Frage, ob dann, wenn Sie schon die Vermutung äußern müssen, daß sowohl das Elberevier wie auch das Weserrevier nicht ausreichen könnten, das Jaderevier und der Tiefwasserhafen Wilhelmshaven so ausgebaut werden können, daß solche Containerschiffe dorthin geleitet werden können, damit Großverkehre der Zukunft nicht an deutschen Häfen vorbeigehen.

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Das ist eine sehr wichtige Frage, die man natürlich auch an eine solche Fragestellung anhängen kann. Man könnte jetzt den Rest der Fragestunde mit schiffahrtspolitischen Fragen bedienen. Aber es ist in der Tat so, Kollege Ewen, daß man Wilhelmshaven mit Sicherheit anfahren könnte. Wir haben aber auch an der Unterweser bis Bremerhaven 13,30 m einlaufend, an der Unterelbe 13,5 m einlaufend. Insofern ist das schon auch aus meiner Sicht eine sehr wichtige Fragestellung, um die es hier geht, da man irgendwo an den Punkt kommt, wo es Schiffe geben könnte, die an wichtige deutsche Häfen nicht mehr herankommen. Aber diese Frage stellt sich nicht nur hier bei uns in Deutschland, sondern die Fragestellung gibt es überall in der Welt. Da muß es auch zu irgend einem Zeitpunkt einmal erlaubt sein, zu fragen, ob man die Flüsse nach den Schiffen richten muß oder die Schiffe nach den Flüssen. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Wir kommen zur Frage 34 der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel: Ebenfalls bezugnehmend auf meine schriftliche Frage 97 in Drucksache 12/5443 frage ich ergänzend, ob die Bundesregierung bereit ist, Informationen über mögliche Abmessungen und Geschwindigkeiten für Schiffsbau- bzw. Forschungsprojekte in Größenordnungen von 6 000-8 000 TEU-Schiffen hinsichtlich öffentlicher Äußerungen ({0}) oder Publikationen ({1}) oder vorliegender konkreter Forschungsprojekte einzuholen und mir in Gestalt einer Antwort auf diese Frage zu übermitteln?

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Der jetzt gebaute „American President Line"-Typ läßt sich problemlos durch Verlängerung um eine Laderaumlänge auf eine Kapazität von 6 000 TEU bringen. Die Vergrößerung der Schiffslänge beträgt in diesem Falle etwa 25 m. Die übrigen Daten, wie in der Frage 33 beschrieben, ändern sich dadurch nur unwesentlich. Ich füge aber hinzu: Zur Zeit kennen wir keinerlei Anfragen bei Werften für derartige Schiffe. Aber theoretisch wäre es möglich, das so auszubauen. Daß es irgendwann einmal so kommt, will ich nicht ausschließen.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Zusatzfrage?

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kann die Regierung versuchen, mir innerhalb einer angemessenen Zeit zu bestätigen oder gegebenenfalls zu widerlegen, daß bei beabsichtigten Vorhaben, Containerschiffe der 7. oder 8. Generation zu bauen, Längen, die wesentlich höher als 300 m sind, aus Gründen unzureichender Materialfestigkeit nicht gehen und deshalb Breiten von 45 bis 50 m bzw. Tiefgänge zwischen 15 und 18 m notwendig werden?

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Ich antworte darauf: Ja. Wir werden das schriftlich mitteilen, entweder widerlegen oder bestätigen oder im Einzelfall bestätigen oder widerlegen.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. Ich habe noch eine zweite Zusatzfrage. Sie hatten eben schon den Hafen Rotterdam erwähnt. Welche europäischen Häfen gibt es, deren Tiefgangsverhältnisse ein Laden und Löschen in den Häfen für Containerschiffe der 7. und 8. Generation überhaupt zuließen, oder wären solche grundsätzlich nur im Offshore-Bereich denkbar?

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Ganz überwiegend nur im Off-shore-Bereich. Aber wenn es da Häfen gibt, teile ich Ihnen bei der Gelegenheit auch das schriftlich mit.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Die Fragen 35 des Abgeordneten Uwe Lambinus und 36 und 37 des Abgeordneten Albrecht Müller ({0}) werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. - Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. Ich komme zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek bereit. Ich rufe die Frage 38 des Abgeordneten Georg Gallus auf: Was unternimmt die Bundesregierung, um die Misere bei der Entsorgung des Verpackungsmülls angesichts immenser Probleme und Kosten insbesondere beim Recycling von Kunststoff dauerhaft zu beheben?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Frau Präsidentin! Herr Kollege Gallus! Mit der Verpackungsverordnung hat die Bundesregierung erreicht, daß Verpackungen nicht mehr als Abfall in den Müll gelangen, sondern in steigendem Umfang als Wertstoffe erfaßt und einem Recycling zugeführt werden. Die bisher erzielten Sammelmengen haben dabei alle Erwartungen übertroffen. Dies hat bei der Verwertung von Kunststoffverpackungen zu Engpässen geführt. Jedoch sind auch in diesem Bereich bereits erhebliche Fortschritte erzielt worden. Wurden im Jahr 1991 nur etwa 21 000 t Kunststoffverpackungen verwertet, so stehen in diesem Jahr bereits Kapazitäten in Höhe von 160 000 t zur Verfügung - mit deutlich steigender Tendenz. Diese Zahlen zeigen, daß der von der Verpackungsverordnung ausgehende Handlungsdruck bereits erhebliche Verbesserungen bei der Verwertung von Kunststoffen bewirkt hat. Es ist daher nicht Absicht der Bundesregierung, bei den noch bestehenden Verwertungsproblemen den Handlungsdruck von den betroffenen Wirtschaftskreisen zu nehmen. Mit Blick auf das Verursacherprinzip muß die Verantwortung für die Entsorgung der Produkte vielmehr bei der Wirtschaft bleiben. Die Problemlösungen sind daher von ihr in eigener Verantwortung anzugehen.

Georg Gallus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000628, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, ich habe den Medien entnommen, daß beim Kunststoffrecycling - und was da alles stattfindet - vorgesehen ist, den Kunststoff wieder zu Öl zu machen. Da kostet die Tonne 800 DM. Das kam im Fernsehen. Höchstwahrscheinlich wird das Öl dann anschließend verbrannt. Ich weiß nicht, was damit gemacht wird. Meine Frage ist, ob der Umweltminister schon eine Ökobilanz über diesen vorgesehenen Kreislauf erstellt hat. ({0})

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Herr Kollege Gallus, Sie sprechen im Falle der Hydrierung von einer sogenannten rohstofflichen Verwertung. Zur rohstofflichen Verwertung gibt es noch keinerlei Ökobilanzen. Es gibt eine erste Untersuchung zur Energiebilanz, deren Ergebnis in Relation zur Verbrennung positiv ausfällt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Zweite Frage.

Georg Gallus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000628, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, wann wird die Bundesregierung einheitliche Verwertungsvorschriften für alle Verpackungsarten schaffen und die Privilegierung des Kunststoffs beseitigen?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Die Bundesregierung hat nicht die Absicht, auch bei den jetzt anstehenden bzw. geführten Gesprächen zur Novellierung der Verpackungsverordnung zum reinen Ordnungsrecht zurückzukehren und generell Verbote auszusprechen. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich komme zur Frage 39 des Abgeordneten Gallus: Wie fördert die Bundesregierung die Verwendung von Verpackungen, die aus nachwachsenden Rohstoffen vorwiegend auf Stärkebasis hergestellt sind und kostengünstig dezentral auf dem Wege der Kompostierung entsorgt werden könnten, aber in der ab Oktober 1993 geltenden gestaffelten Gebührenordnung des Dualen Systems fehlen?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Herr Kollege Gallus, die Bundesregierung sieht zur Zeit keine Veranlassung, bestimmte Verpackungsmaterialien, z. B. solche aus nachwachsenden Rohstoffen, besonders zu fördern. Die Gründe liegen zum einen darin, daß bisher noch keine Ökobilanzen vorliegen, die eine grundsätzliche Überlegenheit von Verpackungen aus nachwachsenden Rohstoffen gegenüber anderen Verpackungswerkstoffen belegen, zum anderen aber auch in der Überzeugung, daß nicht unnötig in den von der Verpackungsverordnung geschaffenen Bereich der neuen Produktverantwortung der Wirtschaft eingegriffen werden sollte. Der Entsorgungsweg der Verpackungsprodukte aus nachwachsenden Rohstoffen über das Verfahren der Kompostierung wird kritisch bewertet, da schon jetzt außerordentliche Probleme beim Absatz der stark steigenden Komposte aus verschiedensten Herkünften bestehen. Eine starke Zunahme von Kompostmengen aus Verpackungen würde diese Situation noch weiter verschärfen.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Eine Zusatzfrage.

Georg Gallus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000628, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, glauben Sie nicht, daß es unter Umständen sinnvoller sein kann, sich mehr um Verpackungsmaterial aus nachwachsenden Rohstoffen - auch was die Forschung anbetrifft - und deren Verwertung zu kümmern, als aus Ö1 Kunststoff und aus Kunststoff dann wieder Öl zu machen und das Öl dann zu verbrennen, während das andere zumindest dezentral in den Gemeinden über die Kompostierung entsorgt werden könnte? ({0})

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Herr Kollege Gallus, ich gebe Ihnen grundsätzlich recht. Sie wissen aber, daß hier noch ein erheblicher Forschungsbedarf besteht. Um die Dinge in der Entwicklung weiter klären zu können, wurde ja - ich glaube: noch in Ihrer Verantwortung - die Fachagentur für nachwachsende Rohstoffe gegründet. Wir hoffen, daß wir dafür bald einen Ort finden, damit diese Fachagentur auch wirksam werden kann. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich komme zu Frage 40 des Abgeordneten Dr. Harald Kahl: Kann die Bundesregierung Auskunft darüber geben, ob und wann mit einer EG-Richtlinie zu rechnen ist, die eine einheitliche Grundlage für die Verbrennung von ölhaltigen Betriebs- und Arbeitsmitteln, Farbresten sowie Lackschlämmen, die mit Sägespänen versetzt als sogenannter „Ersatzbrennstoff" nach Inbetriebnahme der dafür erforderlichen Aufbereitungsanlagen zum Beispiel von Thüringen in Zementwerke nach Belgien gefahren werden sollen, vorsieht?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Herr Kollege Kahl, die Umweltminister der Europäischen Gemeinschaft haben sich auf ihrer Tagung am 28. und 29. Juni dieses Jahres auf die Richtlinie über die Verbrennung gefährlicher Abfälle, die sich sehr stark an der fortschrittlichen deutschen Verordnung über Abfallverbrennungsanlagen orientiert, geeinigt. Die Richtlinie erfaßt in Übereinstimmung mit unserer nationalen Verordnung auch die Mitverbrennung von gefährlichen Abfällen in Anlagen, die primär einem anderen Zweck dienen, z. B. Zementwerke. Allerdings ist noch nicht abschließend geklärt, ob es sich bei den von Ihnen genannten Abfallarten um gefährliche Abfälle im Sinne der EG-Richtlinie handelt, da eine Liste dieser gefährlichen Abfälle zur Zeit von der EG-Kommission erst erarbeitet wird. Insoweit besteht bisher noch keine vollständige Harmonisierung. Dabei kommt es jedoch nicht darauf an, ob ein solcher Stoff lediglich als Ersatzbrennstoff bezeichnet wird. Maßgeblich ist allein, ob der Abfallbegriff der Europäischen Gemeinschaft erfüllt ist.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Dann komme ich zu Frage 41 des Abgeordneten Horst Kubatschka: Wie viele Risse wurden bei der Jahresrevision im Kernkraftwerk Isar 1 ({0}) festgestellt, und wird die Bundesregierung dafür Sorge tragen, daß im Kernkraftwerk Isar 1 ein lückenloses Überwachungsprogramm - wie seit einem Jahr im baugleichen Reaktor Brunsbüttel - durchgeführt wird?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Herr Kollege Kubatschka, in der diesjährigen Jahresrevision des Kernkraftwerkes Isar I wurde ein umfangreiches Sonderprüfprogramm an den austenitischen Rohrleitungssystemen durchgeführt. Dabei war vorrangig der Nachweis der Betriebssicherheit insbesondere für den folgenden Betriebszyklus zu führen. Durch zerstörungsfreie Prüfungen war die Rißfreiheit nachzuweisen, wobei die Prüftiefe entsprechend den Anforderungen gestaffelt wurde, und zwar von 100 % Prüfumfang im Bereich der druckführenden Umschließung im Sicherheitsbehälter bis zu einem geringeren Prozentsatz im Bereich von kaltgehenden Leitungen außerhalb des Sicherheitsbehälters. Lediglich bei der Untersuchung der austenitischen Rohrleitungen des Lagerdruckwassersystems für die Kühlmittelpumpen, das jedoch in Zukunft wegen des Umbaus der Zwangsumwälzpumpen vollständig entfällt, wurden 23 Anrißbefunde festgestellt. Diese Befunde haben die Sicherheit des Kernkraftwerkes Isar I zu keinem Zeitpunkt beeinträchtigt. Trotzdem wird den Ursachen der Befunde in einem bereits laufenden Untersuchungsprogramm nachgegangen. Alle übrigen austenitischen Rohrleitungssysteme waren frei von Rißbefunden. Auf Grund der Ergebnisse der Untersuchungen an den austenitischen Rohrleitungen bestanden keine Bedenken gegen eine Wiederinbetriebnahme des Kernkraftwerks Isar I. Die Zustimmung zum Wiederanfahren des Kernkraftwerks wurde von der zuständigen Aufsichtsbehörde am 31. August 1993 erteilt. Das Bundesumweltministerium und auch der zuständige Fachausschuß der Reaktorsicherheitskommission hatten nach der erfolgten Unterrichtung durch die Aufsichtsbehörde über die Ergebnisse der Prüfung ebenfalls keine Bedenken gegen den Weiterbetrieb dieser Anlage. Die atomrechtliche Aufsichtsbehörde hat bis zur nächsten Revision im Jahre 1994 die Überarbeitung des Konzepts der wiederkehrenden Prüfungen und eine abschließende Ursachenklärung der Rißbefunde im Kernkraftwerk Isar I angeordnet. Ein Programm für die wiederkehrenden Prüfungen der austenitischen Schweißnähte wird rechtzeitig vor dem nächsten Revisionsstillstand vorgelegt werden. Auch für das Kernkraftwerk Brunsbüttel ist ein entsprechendes Prüfkonzept derzeit erst in der Bearbeitung und kann daher nicht als Maßstab für Prüfungen im Kernkraftwerk Isar I herangezogen werden.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Zusatzfrage.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, die Bayernwerke AG, einer der Betreiber des Kernkraftwerks Isar I, teilte Ende August mit, alle Schweißnähte mit Anrissen hätten sich im Bereich der Druckwassersysteme befunden, wie Sie jetzt bestätigt haben, und seien - jetzt folgt ein Zitat - „auf Grund ihrer Einbaugeometrie sowie der spezifischen Temperatur15182 und Druckverhältnisse einem zwar niedrigen, aber gegenüber anderen Leitungen erhöhten Spannungsniveau unterworfen gewesen". Teilt die Bundesregierung auf Grund dieser Aussage meine Meinung, daß zumindest ein Teil der entdeckten Risse betriebsbedingt sind?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Die Ergebnisse der Untersuchung, ob es sich um betriebsbedingte oder um herstellungsbedingte Risse handelt, liegen noch nicht vor. Ich möchte aber noch einmal betonen, daß das entsprechende Lagerwasserdrucksystem nur zur Schmierung der Kühlwasserpumpen bestimmt und es ohnehin vorgesehen war - das wird man auch noch in anderen Kraftwerken überprüfen -, dieses System komplett auszutauschen.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Zusatzfrage.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wie sind die Sicherheitsvorrichtungen im KKI I bei einem vollständigen Abriß von Rohrleitungen auszulegen?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Kollege Kubatschka, diese Frage müßte ich Ihnen schriftlich beantworten.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Gibt es weitere Fragen? - Herr Fuhrmann, bitte.

Arne Fuhrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000619, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, sind Sie möglicherweise doch in der Lage, dem Hohen Haus zu sagen, welche Ursachen zu den Rissen geführt haben?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Ich muß hier noch einmal betonen, daß es keine abschließende Beurteilung gibt, weder bei der Frage „herstellungsbedingt" noch bei der Frage „betriebsbedingt". Es gibt allerdings beim jetzigen Stand der Untersuchungen eine Tendenz, die eventuelle Rückschlüsse auf eine Ursache im Bereich der Wasserchemie, nämlich des sehr hohen Wasserstoffgehalts des dort im System befindlichen Wassers, zuläßt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Es gibt noch eine Zusatzfrage.

Horst Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001996, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ich habe eine Frage in bezug auf die Risse. Wie war deren Beschaffenheit?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Herr Kollege, Sie wissen ja, daß es sich um Röntgenbefunde im Mikrobereich handelt. Ich verweise auch hier darauf, daß Sie sich die Veröffentlichungen zuschikken lassen sollten, wenn eine abschließende Beurteilung im Ausschuß - „Druckführende Komponenten der Reaktorsicherheitskommission" - veröffentlicht worden sein wird.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Die Frage 42 wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Vielen Dank, Herr Staatssekretär Wieczorek. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Forschung und Technologie. Die Fragen 43, 44 und 45 werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts. Auch die Fragen 46, 47, 48 und 49 werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Damit schließe ich die Fragestunde. Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde Begründung der Bundesregierung für ihr Fernbleiben von vereinbarten Verhandlungen am 18. September 1993 über ein Pflegegesetz Diese Aktuelle Stunde wurde von der SPD verlangt. Ich erteile als erstem dem Abgeordneten Rudolf Dreßler das Wort.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die SPD-Fraktion hat für heute eine Aktuelle Stunde im Parlament beantragt, um die Bundesregierung zu zwingen, ihre Beweggründe öffentlich zu machen, warum das so wichtige Pflegegesetz im Hickhack zwischen Kanzler Kohl und Außenminister Kinkel zerrieben wird. Wie die Regierung, wie CDU/CSU und F.D.P. mit einer zentralen gesellschaftspolitischen Aufgabe dieser Bundestagsperiode umgehen, ist unverantwortlich unserem Land gegenüber und stellt die Regeln der parlamentarischen Demokratie auf den Kopf. ({0}) Das Anliegen Hunderttausender pflegebedürftiger Menschen wird mit den Mitteln der politischen Ranküne diskreditiert, ja, es wird mit Füßen getreten. Die Ereignisse des letzten Wochenendes lieferten dafür ein beredtes Beispiel und stellten den würdelosen Höhepunkt in einer traurigen Entwicklung dar. Die Bundesregierung und die Koalitionsparteien weigerten sich, in konkreten Sachgesprächen mit der SPD zu versuchen, eine gemeinsame und tragfähige Lösung für die geplante Pflegeversicherung zu finden, in Sachgesprächen, meine Damen und Herren, die vorher unter den beteiligten Parteien mit der Bundesregierung vereinbart worden waren. Die Aufforderung von Bundesminister Seehofer, die SPD möge sich endlich mit der Koalition um eine sachgerechte Lösung bemühen, wirkt angesichts seiner eigenen Gesprächsverweigerung nicht einmal mehr komisch. Ich frage: Ist so eine intellektuell deprimierende Reaktion eines Bundesministers Dreistigkeit oder Hilflosigkeit? Ich glaube, bei dem Zustand der Bundesregierung trifft wohl beides zu. ({1}) Meine Damen und Herren, wenn der gleiche Minister die SPD-Länder auffordert, sich der gemeinsamen Verantwortung bewußt zu sein, so weise ich dies als grobe Anmaßung zurück. Wer wurde denn eigentlich der gemeinsamen Verantwortung nicht gerecht? Diejenigen, die - wie SPD-Länder und BundestagsfrakRudolf Dreßler tion der SPD - am vereinbarten Verhandlungstisch saßen, oder diejenigen, die - wie CDU/CSU, F.D.P. und Bundesregierung - die vereinbarten Verhandlungen boykottierten? ({2}) Es gibt in London ein Theater, das sich rühmt, seit Jahren mit großem Erfolg ein und dasselbe Stück zu spielen: „The Mouse Trap", „Die Mausefalle", von Agatha Christie. In Bonn gibt es eine Regierung, die sich nicht schämt, seit Jahren mit anhaltendem Mißerfolg ein und dasselbe Polittheater abzuspulen mit dem Namen „Die Pflegeeinigung von Helmut Kohl und Otto Graf Lambsdorff". Nur, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der F.D.P., wo in London profilierten Schauspielern der Beifall des Publikums gilt, breitet sich in Bonn mittlerweile blanke Fassungslosigkeit über das Wirken politischer Laienspieler aus. ({3}) Damit das klar ist: Die SPD will eine soziale Pflegeversicherung: erstens solidarisch finanziert, ({4}) zweitens mit angemessenen Leistungen und drittens für alle verpflichtend. Seit zwei Jahren liegen dazu wortgleiche Gesetzentwürfe in Bundestag und Bundesrat vor. Es ist doch mit Händen zu greifen, daß die F.D.P. an der Pflegeversicherung überhaupt kein Interesse hat. ({5}) Was für die F.D.P. gilt, das gilt in gleichem Maße auch für große Teile der Union, für die Mittelstandsvereinigung und den Wirtschaftsrat. Auch sie wollen in Wahrheit keine Pflegeversicherung, auch sie sind sich nicht zu schade, das Vorhaben durch allerlei zwielichtige Manöver zu hintertreiben. ({6}) Dies, meine Damen und Herren, war der eigentliche Grund für den Verhandlungsboykott der Koalitionsparteien. Daß der kleine Koalitionspartner F.D.P. am vergangenen Wochenende CDU/CSU und Bundesregierung wie einen Tanzbär am Nasenring durch die Manege geführt hat, mögen manche für blamabel halten; mir ist das relativ gleichgültig. Wer auch wen immer düpiert haben mag, wenn das gesamte Manöver zu Lasten Hunderttausender hilfsbedürftiger Menschen geht, dann ist ein solches Verhalten würdelos. ({7}) Ich füge ganz leise hinzu: Vergeblich haben viele nach der Richtlinienkompetenz des Kanzlers gerufen, die diesem Trauerspiel ein Ende setzen sollte. CDU/ CSU und F.D.P. als Parteien des Verhandlungsboykotts ({8}) offenbarten mit ihrer Gesprächsabsage allerdings noch etwas: Sie fühlten sich nämlich dem inhaltlichen Ringen mit der SPD um eine tragfähige Pflegeversicherung schlichtweg nicht gewachsen. ({9}) Wenn dann aus Kreisen der F.D.P. zu hören ist, man wolle nicht Opfer von inhaltlichen Gesprächen zwischen SPD und Union werden, so läßt das Rückschlüsse auf den Zustand der Regierung zu.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ihre Redezeit ist beendet.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Deshalb sage ich Ihnen: Es wird Ihnen nicht gelingen, in diesem Falle weiterhin so zu tun, als könnten Sie einen Spalt zwischen die Arbeitnehmerschaft, die alles allein bezahlen soll, und die Pflegebedürftigen setzen. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Gleiches Recht für alle! Als nächster spricht der Abgeordnete Karl-Josef Laumann.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann die Aufgeregtheit der SPD darüber, daß die Verhandlungen am Wochenende nicht zustande gekommen sind, gar nicht verstehen. In einer parlamentarischen Demokratie ist es noch immer so, daß wir die Gesetze im Ausschuß und im Parlament beraten. ({0}) Da sind alle beteiligt. Ich denke, da haben Sie auch die Möglichkeit mitzuwirken. Ein weiterer Punkt lautet: Das Ziel Ihrer Aktuellen Stunde ist sehr durchsichtig. Sie wollen hiermit versuchen - es ist Ihr gutes Recht, das zu versuchen -, in der Öffentlichkeit deutlich zu machen, daß wir uns in der Regierungskoalition schwertun, die Pflegeversicherung und vor allem ihre Finanzierung sicherzustellen. Diese Aktuelle Stunde macht aber auch deutlich, daß Sie nicht mehr in der Lage sind und nicht die Kraft aufbringen, diesen Sozialstaat umzubauen, ({1}) weil Sie nicht bereit sind, über eine Kompensation nachzudenken. Sie, die SPD, beharren auf Besitzstandsdenken, und Sie sind es auch, meine Damen und Herren, die wegen dieses Besitzstandsdenkens eine Kompensation der Kosten, die durch eine neue Versicherung entstehen, nicht wollen. Sie betreiben Sozialpolitik - so habe ich den Eindruck -, wie das in den 60er und 70er Jahren möglich war: Probleme, die es anzugehen gilt, durch Draufsatteln auf die Lohnnebenkosten, auf menschliche Arbeit zu lösen. Ich glaube, daß die Bürger in diesem Land sehr genau wissen, daß ein Draufsatteln auf die Kosten der menschlichen Arbeit so nicht mehr möglich ist. ({2}) Von daher zeigt das Ringen in meiner Partei, um eine Kompensation zu finden, daß wir eine verantwortungsvolle Politik insbesondere für die Arbeitnehmer in diesem Land machen. ({3}) Denn sie sind auf Arbeitsplätze angewiesen und erst in zweiter Linie auf Sozialpolitik. ({4}) - Arbeiterverräter ist derjenige, der Arbeitsplätze zu teuer macht, so daß es dann keine mehr gibt. ({5}) Ich denke, daß der Vorschlag, den wir gefunden haben, die Lohnfortzahlung an zehn Feiertagen in Deutschland um 20 % abzusenken ({6}) oder die Möglichkeit zu nutzen, daß derjenige, der den Lohnverzicht nicht haben möchte, auf Freizeit verzichtet, indem er zwei Urlaubstage einsetzt, wirklich eine sozialverträgliche Kompensation ist. ({7}) Ich habe in dieser Woche zwei Besuchergruppen von der KAB hier in Bonn gehabt. Das sind alles Leute, die an der Werkbank stehen. Sie haben mir gesagt: Eine solche Kompensation ist in Ordnung; wir sind bereit, sie zu tragen, damit es die Familien, die pflegebedürftige Angehörige haben, zukünftig in Deutschland besser haben. ({8}) Ich kann am Anfang der Beratungen, die wir in der nächsten Woche im Ausschuß und in den folgenden Wochen in Parlament und Ausschuß haben werden, an Sie, die SPD, eigentlich nur appellieren: ({9}) Seien Sie sich der Verantwortung, die Sie mit Ihrer Bundesratsmehrheit auch in diesem Gesetzgebungsverfahren haben, bewußt. ({10}) Ich kann Sie nur davor warnen, die Pflegeversicherung, ({11}) die die Situation von Hunderttausenden von Familien, die pflegebedürftige Angehörige haben, verbessern wird, zu boykottieren, weil es in Ihren Köpfen anscheinend nicht vorstellbar ist, auf ein bißchen zu verzichten, um Spielräume für neue wichtige Aufgaben zu bekommen. ({12}) Sie werden sich damit abfinden müssen, daß meine Partei zusammen mit dem Koalitionspartner diesen Weg unerschrocken gehen wird. ({13}) Sie werden in dieser Frage die Straße nicht gegen uns aufbringen; denn die Leute sind vernünftiger als Ihre Partei. Schönen Dank. ({14})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächste hat die Abgeordnete Dr. Gisela Babel das Wort.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Aktuelle Stunde auf Verlangen der SPD findet statt, weil sie von der Regierung gern wissen will, warum sie am Wochenende nicht in den Westerwald gezogen ist. Die Aktuelle Stunde bietet aber für uns in der Koalition, besonders für die F.D.P., die Chance, die SPD zu fragen, welche Ziele sie bei dem Thema Pflege verfolgt. ({0}) Meine Damen und Herren, ich will es für die Koalition noch einmal ganz einfach sagen: F.D.P. und CDU/CSU wollen eine Pflegeversicherung. ({1}) Dieser Wille ist ungebrochen. Wir wollen sie in Verantwortung für die pflegebedürftigen Menschen in unserem Land. Wir wollen sie im Umlageverfahren mit einem Beitragssatz von 1,7 %. Wir wollen in diesem Umfang Leistungen gewähren. Wir haben einen zweiten wichtigen Punkt: Wir wollen die Pflegeversicherung in zwei Stufen einführen. Wir sagen: Die ambulante Pflege hat Vorrang. Sie muß zuerst kommen, damit die Leistungen zunächst in die Familien und in die Gemeindekrankenstationen gehen. Danach soll die stationäre Pflege drankommen. ({2}) Und der dritte Punkt: Die Koalition ist sich einig, daß die gestiegenen Lohnkosten zur Hälfte ausgeglichen werden sollen. Dazu liegen Vorschläge auf dem Tisch. Jetzt komme ich zur SPD. Was will die SPD? ({3}) Sie konnte sich, wie wir im nachhinein noch viel, viel klarer hörten als vielleicht von vornherein für alle offensichtlich, nicht einigen, was sie eigentlich in diesen Verhandlungen an Kompensation anbieten wollte. Sie hat im Gegenteil gesagt, daß das Wort Kompensation im sozialdemokratischen Wörterbuch nicht vorkommt. Meine Damen und Herren, nun gibt es ja vielleicht auch auf der Oppositionsseite die Möglichkeit, ein Fremdwort zu lernen, ({4}) aber die Tatsache, daß Sie die Kompensation ablehnen, möchte ich doch zum Anlaß nehmen, Ihnen einmal vorzuführen, was das für eine Politik ist. Sie wollen die Kosten für die Pflegeversicherung auf den Lohn draufpacken. Dann darf ich Sie vielleicht doch einmal fragen: Wissen Sie eigentlich, was in unserem Land vorgeht? ({5}) Aufruhr und Angst im Ruhrgebiet um Arbeitsplätze, Entlassungsankündigungen von Daimler-Benz, Investitionsentscheidungen von Bosch im Ausland, ({6}) vier Millionen Arbeitslose. Mittlerweile fürchtet in diesem Land jeder zweite Arbeitnehmer um seinen Arbeitsplatz. Und in dieser Situation wollen Sie die Lohnkosten ohne Ausgleich erhöhen! ({7}) Meine Damen und Herren, was ist das für eine Politik, die so verantwortungslos ({8}) die Arbeitsplätze gefährdet, die Lohnkosten erhöht ohne Ausgleich? Jetzt komme ich zu den inhaltlichen Punkten. Da fallen Ihnen nur zwei Dinge ein: Die Pflegeversicherung, sagt die SPD, braucht höhere Leistungen. Wie schön, wie einfach! ({9}) Und Sie sagen, die stationäre Pflege muß auch gleich in Kraft treten. Auch dazu kann man nur sagen: Wie schön und wie einfach! Nebenbei wollen Sie dann auch noch möglichst die Versicherungsgrenze für die Krankenversicherung sprengen. Aber das Schlimmste ist - das wird uns erschrekkend klar -: Sie wollen das überhaupt nicht ausgleichen, Sie wollen keine Kompensation. ({10}) Und die Konsequenz: Die Koalition kann mit einer solchen Opposition überhaupt keine Vereinbarungen treffen. Nein zur Kompensation, aber Ja zu einer unbezahlbaren Pflege - das ist eine Politik, die geradezu unglaublich leichtfertig ist. Im übrigen will ich feststellen, daß die Kompensation für die Koalition ein Mittel des Ausgleichs der Pflegeversicherung ist. Sie kommt nicht für sich allein in Frage; ich will das noch einmal festhalten. ({11}) Aus Ihrer Oppositionsrolle heraus kann ich das noch verstehen, aber wenn die Bundesländer jetzt sagen, wir wollen die Pflegeversicherung scheitern lassen, muß ich nun doch den Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz fragen: ({12}) Sie sagen, es geht Ihnen um pflegebedürftigte Menschen? Dann sorgen Sie dafür, daß die Weichen so gestellt werden, daß die Pflegeversicherung in Deutschland verabschiedet wird. Ich bedanke mich. ({13})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Ilja Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hier wird immer gesagt, daß die Pflegeversicherung den Menschen helfen wird. So, wie es jetzt vorgeschlagen wird, hilft es niemandem von den Betroffenen. Reden Sie mit den Betroffenen! Ich möchte mich nicht lange über den Hickhack auslassen, ob nun jemand in irgendein Schloß kommt und dort in einem ziemlich exklusiven Kreis mit dem anderen diskutiert oder nicht. Mir geht es darum, daß den Menschen, die assistierende Hilfe brauchen, um selbstbestimmt leben zu können, geholfen wird. Herr Blüm, Sie erzählen im Fernsehen, daß es keine Kompensation ohne Widerstand geben wird. Wenn dem so ist, dann haben Sie doch endlich den Mut, gegen den Widerstand derer aufzutreten, denen es ausschließlich um die Kompensation geht. Haben Sie den Mut, die Kompensation fallenzulassen! ({0}) - Vielen Dank den Kollegen von der SPD. Haben Sie doch einmal den Mut in den Mittelpunkt Ihres Denkens und Handelns die Menschen zu stellen, für die assistierende Pflege Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben ist, und nicht einen Kostenfaktor in irgendeiner Wirtschaft! Haben Sie den Mut, den Menschen ihren objektiven Nachteil, soweit das durch Geld überhaupt geht, wenigstens teilweise auszugleichen, den Nachteil, der darin besteht, daß sie ohne eine wirksame assistierende Hilfe nichts mehr selbst bestimmen können. Herr Minister, haben Sie den Mut, den gordischen Knoten durchzuhauen, der diejenigen, die assistierende Pflege leisten, ihrerseits wieder in ein äußerst vertracktes und menschlich sehr belastendes Abhängigkeitsverhältnis zu denen bringt, denen sie die Hilfe zur Selbstbestimmtheit bieten. Geben Sie ihnen ordentlichen Lohn, geben Sie ihnen Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung. Wenn Sie gerade sagten, jeder müsse ein bißchen verzichten, dann frage ich: Warum sollen denn nicht die Millionäre verzichten? Wir verlangen doch gar nicht, daß die Unternehmen besteuert werden. ({1}) Die Millionäre sollen ein bißchen mehr abgeben! ({2}) - Nein. Wenn die Leute, die im Jahr mehr als 1 Million DM zu versteuern haben, ein halbes Prozent mehr von ihrem Einkommen abgeben, dann werden sie nicht arm davon, dann können sie sich immer noch ihre Brötchen kaufen. Aber diejenigen, die keine Arbeit haben, brauchen jede Mark. Haben Sie, Herr Blüm, und haben Sie von der Regierung doch bitte endlich den Mut, die objektiven Nachteile von den schwachen Schultern der einzelnen auf die Allgemeinheit zu übertragen! Hier muß der Staat endlich sein Engagement verstärken und darf sich nicht zurückziehen, wenn dieser Sozialstaat nicht ganz und gar vor die Hunde gehen soll. In der Frage der Pflegeabsicherung zeigt sich an einem ganz praktischen Beispiel, warum wir Menschen mit Behinderung mit so großem Nachdruck und nicht ganz und gar erfolglos auf ein Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsgesetz abheben und warum wir darum kämpfen, daß in der Verfassung Nachteilsausgleiche für diejenigen vorgesehen werden, die diese Nachteile nicht anders als mit der Kraft der Gemeinschaft ausgleichen können. Ich appelliere schon an dieser Stelle ausdrücklich an Sie, meine Damen und Herren, bei der Abstimmung über das Grundgesetz in Art. 3 diesen Nachteilsausgleich und das Diskriminierungsverbot für Menschen mit Behinderung aufzunehmen. Es ist doch kein Zufall, daß eine steuerfinanzierte Lösung von den Experten hinter halb vorgehaltener, aber doch nicht ganz und gar verdeckter Hand als die eigentlich beste Lösung genannt wird. Sie ist nur leider von der falschen Partei, nämlich von der PDS/ Linke Liste, vorgeschlagen worden. Aber wenn es Ihnen um die Menschen geht, kann das nicht das einzige Kriterium sein. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Konrad Weiß das Wort.

Konrad Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002461, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den vergangenen Monaten wurde die Diskussion um die Einführung - oder ich sollte besser sagen: die Verhinderung - einer sozialen Pflegeabsicherung ausschließlich auf die Fragen der Finanzierung verkürzt. Die SPD, die ein weiteres Mal große Koalition spielen und mit der CDU/CSU in dieser Frage außerparlamentarisch klüngeln wollte, hat sich einen blamablen Korb geholt. Das wäre ja nicht weiter schlimm, würden nicht durch das endlose taktische Geplänkel jeden Tag aufs neue Menschen enttäuscht und verbittert, die dringend auf Hilfe warten. Sowohl Sie, Herr Schäuble, wie Sie, Herr Scharping, haben in der Haushaltsdebatte vor 14 Tagen gefühlvoll - fast unter Tränen, möchte ich sagen - an die Betroffenen erinnert, aber den Worten sind keine Taten gefolgt. Die Absicht des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, die Pflegesozialversicherung mit Beginn des neuen Jahres wirksam werden zu lassen, ist kaum noch realisierbar. Ich weiß die Bemühungen von Norbert Blüm durchaus zu schätzen, sich durch den Parteipuddingberg zu beißen, der, alles erstikkend, über diesem wichtigen Reformprojekt wabert. Aber wieder einmal erweist sich, daß diese Bundesregierung und die sie tragenden Parteien nicht in der Lage sind, zukunftsweisend zu denken und zu handeln, und immer nur dann ein paar Schritte vorwärts stolpern, wenn sie dazu geprügelt werden. Dazu kommt, daß auch die Sozialbürokraten die betroffenen Menschen immer mehr aus den Augen verlieren. Ich denke da an die geplanten erneuten Kürzungen von Sozialleistungen, insbesondere die massiven Angriffe auf das Sozialminimum. Ich denke auch an die 1,8 Millionen Kinder, die in Deutschland schon jetzt auf Sozialhilfe angewiesen sind - eine beängstigende Zahl und ein kritisches Potential für künftige Konflikte. Dies gilt auch für die Pflegeversicherung, gegen die wir so, wie sie jetzt konzipiert ist, erhebliche Bedenken haben. Dennoch bin ich zu Kompromissen bereit, wenn dadurch der Einstieg in die Pflegesozialversicherung ermöglicht wird. Die Kritik des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und auch unsere Vorschläge sind Ihnen bekannt. Ich will einige Punkte dennoch nennen. Nach unserer Auffassung sind im Koalitionsentwurf die Eingangsvoraussetzungen für die Leistung unrealistisch hoch angesetzt. Eine allgemeine Pflegebedürftigkeit bleibt prinzipiell unberücksichtigt. Auf diese Weise wird der Grundsatz des Vorrangs der Prävention auf das gröbste verletzt. Es ist völlig unbefriedigend, wenn Menschen mit allgemeiner Pflegebedürftigkeit auf unsichere Ermessensentscheidungen der Sozialämter verwiesen werden. Eine solche Schlechterstellung kann nicht im Interesse des Gesetzgebers liegen und muß daher ausgeschlossen werden. Ich möchte erneut dafür plädieren, bedarfsgerechte Leistungen für alle Menschen vorzusehen, die fremder Hilfe bei der Bewältigung ihres Alltags bedürfen. Zum einen wird die ohnehin schwierige persönliche Situation der Betroffenen durch ein ungenügendes Leistungsangebot erschwert, zum anderen provoziert eine derart kurzsichtige Ausgabenpolitik langfristige Folgekosten, die ansonsten möglicherweise vermeidbar wären. Die Vorstellung der Koalition, im Sinne des Subsidiaritätsprinzips auch den Pflegebereich teilweise der privaten Vorsorge zu überantworten, halte ich für fragwürdig. Nicht nur in den neuen Bundesländern, aber besonders dort sind viele Menschen eben nicht in der Lage, zusätzlich 20 oder 30 DM für die Prämien einer privaten Pflegezusatzversicherung aufzubringen. Für die wachsende Zahl von Arbeitslosen, Vorruheständlern und Sozialhilfeempfängern ist ein solcher Betrag vielfach unerschwinglich. Natürlich ist eine bedarfsgerechte Ausgestaltung des Leistungsrechts mit erheblichen Mehrkosten verbunden. Nach Auffassung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN war es unverantwortlich, der Wirtschaft frühzeitig zu signalisieren, eine Absicherung des Konrad Weiß ({0}) Pflegerisikos sei zum Nulltarif zu haben. Das Verfahren, bei leerem Konto mit dickem Scheckbuch zu wedeln, erinnert fatal an die Finanzierung der deutschen Einheit. Die immer neuen Finanzierungsmodelle, die aus dem hohlen Bauch gezaubert werden, machen das Ganze nicht besser. Richtig wäre gewesen, sich mit diesem Thema seriös und vorausschauend auseinanderzusetzen und dabei die wahren Kosten nicht zu bagatellisieren, sondern sie offenzulegen und zu begründen. Ich bin überzeugt, daß eine wirksame Anschubfinanzierung möglich gewesen wäre, wenn Theo Waigel endlich die Finanzämter auf Vordermann gebracht hätte und die Milliarden an Steuern, die von deutschen Unternehmen und deutschen Wohlstandsbürgern der Allgemeinheit hinterzogen werden, einsammeln würde. Es wird höchste Zeit, daß in der Finanzierungsdebatte endlich darauf verzichtet wird, die Popanze Lohnnebenkosten und Mißbrauch von Sozialleistungen zu bemühen. Der Mißbrauchsdebatte wird mangels Beweisen hoffentlich bald die Luft ausgehen. Bei den Lohnnebenkosten ist zu bedenken, daß ihre relative Höhe maßgeblich nicht zuletzt durch die Selbstbedienungsmentalität der Bundesregierung verursacht ist. Notwendig wäre, den Versicherungszweigen diese Kosten aus Bundesmitteln zu erstatten, die sie aus der Rentenversicherung zusätzlich hätten. Die resultierende Entlastung bei den Sozialversicherungsbeiträgen würde die Belastung durch die Pflegeversicherung bereits abdecken.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Weiß, ich bin in der Aktuellen Stunde gezwungen, ganz korrekt zu verfahren. Meine übliche Großzügigkeit kann ich nicht walten lassen.

Konrad Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002461, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluß. Ich bitte, den letzten Satz noch sagen zu dürfen, Herr Präsident. Darüber hinaus sollten den Versicherungsträgern Aufwendungen für versicherungsfremde Leistungen, die aber unbestritten gesellschaftlich notwendig sind, aus Bundesmitteln generell erstattet werden. Ich danke für Ihre Geduld.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes, Herrn Friedrich Bohl, das Wort.

Friedrich Bohl (Minister:in)

Politiker ID: 11000230

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es geht in dieser Aktuellen Stunde formal darum, weshalb es zu den Gesprächen am vergangenen Wochenende in Sachen Pflegeversicherung nicht gekommen ist. Materiell geht es darum: Wie soll und wird die Pflegeversicherung parlamentarisch über die Bühne gehen? Zu beiden Punkten will ich etwas sagen. Die Frage, warum es am vergangenen Wochenende nicht zu den Gesprächen gekommen ist, kann nur vor dem Hintergrund der bis zu jenem Zeitpunkt eingetretenen Entwicklung beantwortet werden. Es war so, daß sich am Freitag, dem 10. September, die Fachleute der drei Fraktionen dieses Hohen Hauses zusammengefunden haben und auch dort schon ein Dissens sichtbar wurde, weil das, was dort angedacht war, bei den Fraktionsführungen schon auf Bedenken stieß und insoweit am 10. September keine umfassende Vereinbarung getroffen werden konnte. Wahr ist, daß sich bis zum Freitag, dem 17. dieses Monats, dann sozusagen eine Szenerie aufbaute, die den Eindruck erweckte, als würde es am Wochenende, am Samstag beginnend, in Windhagen diese Verhandlungen geben. Aber eine verbindliche Zusage der Koalition lag schon deshalb nicht vor, weil sich die Koalition erst am 17. September damit abschließend befaßte. ({0}) - Es kann ja sein, daß man Vorsorge trifft. Aber es muß ja möglich sein, verbindliche Absprachen abzuwarten. Ich will ganz emotionslos den Sachverhalt darstellen, weil Sie, Herr Kollege Dreßler, in den letzten Tagen natürlich den Versuch unternommen haben, die eigene Konzeptionslosigkeit in der Pflegeversicherung dadurch zu überdecken, ({1}) daß Sie uns vorwerfen, Verhandlungen nicht begonnen zu haben. ({2}) Meine Damen und Herren, wahr ist, daß wir in der Koalition und der Regierung der Auffassung waren, daß die Szenerie, die sich entwickelt hat - nicht zuletzt durch Ihre aktive Mithilfe, Herr Kollege Dreßler -, der Sache nicht gerecht werden konnte. Wir waren und sind der Auffassung, daß es am vergangenen Wochenende richtig gewesen wäre, sozusagen im kleinen Kreis auszuloten, welche Fragen noch geklärt und gegebenenfalls entschieden werden müssen und wie es mit der Kompensation steht. Wir wollten sozusagen nicht den zweiten Westfälischen Frieden in den Tagen dort mit großer Verhandlungsdelegation behandeln, sondern wollten im kleinen Kreis ausloten, welche Möglichkeiten noch bestehen. Ich habe Sie, Herr Kollege Dreßler, und auch Sie, Herr Ministerpräsident Scharping, in Ihrer Eigenschaft als SPD-Vorsitzender am Freitag, dem 17. September, angerufen, und Ihnen angeboten, daß sich eine Verhandlungs- oder Gesprächsdelegation der Koalition und der Bundesregierung von drei Personen mit einer gleich starken Verhandlungs- oder Gesprächsdelegation von Ihnen treffen könne. Dieses Angebot haben Sie - nach dem Vorlauf kann ich das auf Grund Ihrer Position durchaus nachvollziehen - unser Angebot abgelehnt. Das ist die Tatsache. ({3}) Wenn Sie ein Gesprächsangebot ablehnen, dann sind wir nicht die Parteien des Verhandlungsboykotts, sondern wir sind die Parteien von Handlungsfähigkeit in der Pflegeversicherung. ({4}) Das ist der Sachverhalt. Es ist sehr erfreulich, daß Sie diese Aktuelle Stunde beantragt haben, weil damit offensichtlich zum ersten Mal die Chance besteht, diesen weithin unbekannten Sachverhalt auch einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. ({5}) Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang ist als zweites die entscheidende Frage zu stellen, wie es denn nun die SPD mit der Kompensation hält. Zu meinem großen Erstaunen muß ich feststellen, daß das Bemerkenswerteste, das bisher zu diesem Punkt heute in der Aktuellen Stunde gelaufen ist, folgender Vorgang war: Als eben der Kollegen Seifert von der PDS erklärte, man wolle keine Kompensation, kam vom linken Block des Hohen Hauses stürmischer Beifall. Ich sehe, daß dem nicht widersprochen wird, ({6}) - Herr Dreßler bestätigt es. ({7}) Ich frage Sie, Herr Ministerpräsident Scharping, als den Vorsitzenden der SPD: Will die SPD in der Pflegeversicherung die Kompensation, ja oder nein? Das ist die Frage, die hier zu beantworten ist. ({8}) Meine Damen und Herren, ich glaube, die Koalition hat einen moderaten und gangbaren Weg zur Kompensation vorgeschlagen. Die Sozialleistungen in Deutschland brauchen nun bei Gott weltweit keinen Vergleich zu scheuen. Wenn Sie den Eindruck erwekken, als werde mit dieser Kompensationsregelung die berühmte Brandfackel in den Sozialstaat geworfen, dann muß ich wirklich mit Frau Kollegin Babel fragen: In welcher Welt leben Sie eigentlich? ({9}) Wir sind der Auffassung, daß alle zur Pflegeversicherung beitragen müssen, damit Menschen in Not geholfen werden kann. Erstmals soll es ein Pflegegeld für alle geben, die zu Hause Angehörige pflegen. ({10}) Erstmals gibt es eine Altersversicherung für die Pflegepersonen. Erstmals gibt es für alle einen Anspruch auf ambulante Pflegeeinsätze zu Hause. Erstmals zahlt eine Sozialversicherung bei Heimpflege. Das sind doch wirklich weitreichende und ganz neue Seiten in der Sozialgeschichte, die wir schreiben und von denen Sie sich hier abmelden. Ich glaube, am meisten ärgert Sie, daß Sie 13 Jahre lang, als Sie die Verantwortung trugen, dieses Thema überhaupt nicht gesehen haben. Diese Koalition handelt, und diese Koalition wird es auch durchsetzen. ({11}) Ich kann nur sagen: Sie werden mit dem, was Sie an destruktiver Kritik gerade in den letzten Tagen hierzu wieder vorgetragen haben, scheitern. Ich bin der festen Überzeugung, daß Sie im Moment vielleicht ganz eindrucksvoll ihre kämpferischen Sprüche vortragen können, aber die Menschen draußen im Lande, insbesondere die 1,6 Millionen Pflegebedürftigen, werden dafür kein Verständnis haben. Die wollen Sachlichkeit in diesem Hohen Hause, und die wollen endlich eine vernünftige Regelung. Die wird diese Koalition herbeiführen. ({12}) Ein letztes, meine Damen und Herren. Ich finde, es muß endlich Klarheit darüber geschaffen werden, wie Sie es mit der Kompensation meinen. ({13}) Ich habe Sie eben schon angesprochen, Herr Ministerpräsident Scharping. Ich höre, daß Sie nach mir zu diesem Thema sprechen. Ich fordere Sie, Herr Ministerpräsident Scharping, auf: Erklären Sie, welche Position die SPD zur Kompensation in der Pflegeversicherung einnehmen will. ({14})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Darum erteile ich nunmehr dem Ministerpräsidenten des Landes Rheinland-Pfalz, Rudolf Scharping, das Wort. Ministerpräsident Rudolf Scharping ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, in welch eigenartiger Lage sich ein Mitglied des Bundesrates befindet. Da soll morgen im Bundesrat über ein Gesetz verhandelt werden, das die Koalition eingebracht hat und das im Prinzip aus zwei Teilen besteht, nämlich dem, was hier Pflegeversicherung genannt wird, und dem, was Entgeltfortzahlungsgesetz genannt wird. Sie haben sich bei der Bezeichnung von Gesetzen etwas Besonderes angewöhnt: „Gesetz zur Begrenzung der Mietpreissteigerung" bedeutet, daß die Mieten erhöht werden; „Entgeltfortzahlungsgesetz" bedeutet, die Entgeltfortzahlung wird eingeschränkt. ({1}) Man muß sich bei Ihnen ja daran gewöhnen, daß „1984" und George Orwell vorbei sind. „New speak" ist mittlerweile eine gängige Floskel. Wenn Sie einem Gesetz einen Titel geben, kann man sicher sein, Sie wollen das Gegenteil dessen erreichen, was der Titel signalisiert. ({2}) Das ist aber noch nicht alles; es geht ja noch ein gutes Stück weiter. ({3}) Wenige Tage vor der Verabschiedung dieses Gesetzes kommt die Koalition, die es eingebracht hat - nach ihrem eigenen Bekunden nach sorgfältiger Überlegung und wohldurchdacht -, zu dem Ergebnis, das alles sei nun wirklich der Schnee von gestern, das Karenztagegesetz komme weg und statt dessen werde man in die Lohnfortzahlung an Feiertagen - unspezifisch gesagt - eingreifen. Ministerpräsident Rudolf Scharping ({4}) Ich halte es für einen - ganz vorsichtig gesagt - sehr kümmerlichen Umgang mit Verfassungsorganen, den ({5}) Gesetzentwurf einer Bundesregierung beraten zu sollen, von dem dieselbe Bundesregierung und die sie tragende Koalition sagen, so ernst sei es nun wirklich nicht gemeint gewesen, es komme etwas ganz anderes. ({6}) Sie sollten sich einmal überlegen, was das alleine für den Umgang von Verfassungsorganen miteinander bedeutet. Es ist ja nicht so, daß Sie lange überlegt hätten. Der Kollege Blüm tut mir ja fast leid. ({7}) Es ist zwar in diesem Hause üblich geworden, aus allen möglichen Gesprächen zu berichten. Ich werde mich dennoch nicht daran beteiligen. Aber einen sicheren Eindruck habe ich: Sie hatten nicht mit dem mangelnden Willen der SPD zu verhandeln, zu kämpfen. Es war nur die Frage, ob die Mittelstandsvereinigung, der Wirtschaftsrat der CDU oder die F.D.P. am Ende diejenigen sein würden, die Herrn Blüm seine Ziele wegschießen würden, und zwar nach der Methode: Alles darf passieren, nur darf Norbert Blüm, der ein sozialpolitisch versierter Mann ist, mit der SPD unter keinen Umständen verhandeln; denn es könnte etwas herauskommen, was den genannten Herrschaften nicht passen würde. Das war doch die Ursache. ({8}) Ich muß Ihnen ehrlich sagen: Ich halte es für ein Stück aus dem Tollhaus, erst Gespräche miteinander zu führen, dann Verhandlungen auf den Weg zu bringen, sorgfältig zu sondieren, Herr Kollege Bohl - daran war ich ein bißchen beteiligt -, sich dann in Sondierungsgesprächen zusammenzusetzen, zu vereinbaren, daß man verhandelt, auch den Katalog dessen, worüber man verhandeln will, sogar die Reihenfolge, in der verhandelt wird, zu vereinbaren und dann zu kommen und zu sagen: Das alles war nicht ernst gemeint, jetzt beginnen wir bei dem Schritt Sondierung noch einmal von vorn. Wenn Sie sich selber nicht ernst nehmen, dann seien Sie bitte verständnisvoll, wenn wir sagen: Wir nehmen uns noch ernst. Verhandlungen, die Sie vereinbart haben, sollten Sie dann auch führen. ({9}) Wenn Vertreter der Koalition an dieses Pult kommen und Ihre besondere sozialstaatliche Verantwortung beschwören: Ich will Ihnen wirklich nicht zu nahe treten, aber sich in einer Zeit, in der Lohnersatzleistungen gekürzt werden, in der das Wohngeld gekürzt wird und andere Sozialleistungen gekürzt werden sollen, hier hinzustellen und zu sagen, daß man ansonsten der heftigste Verfechter des Sozialstaates sei, ist auch schon ein Stück dreist. ({10}) Denn das, was Sie vorgelegt haben, kann man so beschreiben, wie Sie das tun, Herr Bohl. Man kann es auch anders beschreiben, nämlich aus der Sicht der Menschen. Ich bin nun wirklich sehr erstaunt. Ich war bei der Haushaltsberatung des Deutschen Bundestages hier und habe zu diesem Zeitpunkt - das kann man im Protokoll nachlesen - bei der CDU/CSU Gelächter geerntet, weil ich darauf hingewiesen habe, daß man zunächst aus der Sicht der betroffenen Menschen und nicht aus der Sicht der Finanzierung argumentieren soll. Da haben Sie alle nur laut gelacht. Nun stelle ich fest, daß Sie wohl begriffen haben, daß man etwas stärker an die denken soll, über die da geredet wird. Wie sieht das aus mit der häuslichen Pflege? Welche Verbesserung steckt gegenüber dem gegenwärtigen Zustand in Ihrem Gesetzentwurf? ({11}) - Verehrte Frau Kollegin Babel, ich will Ihnen gern nachher noch etwas zur Kompensation sagen; aber ich glaube, Sie sollten sich einmal überlegen, wie glaubwürdig Sie sind, wenn Sie erst die Verhandlungspapiere unterschreiben und dann hinterher hier so reden, wie Sie geredet haben. ({12}) Deswegen will ich zunächst einmal etwas zu dem sagen, was kompensiert werden soll; denn ich bin ja mit Norbert Blüm völlig einverstanden. Er hat ja abends mit mühsam beherrschter Stimme im Fernsehen sehr deutlich gesagt, er habe volles Verständnis für die Haltung der SPD, daß man zuerst das Produkt kennen müsse, bevor man über den Preis zu reden beginne. ({13}) - Die Union darf ruhig klatschen, wenn man ihren Arbeitsminister zitiert. Das sollte sie nicht hindern. ({14}) Im übrigen sage ich etwas zu dem Produkt selbst. Die Leistungen in der häuslichen Pflege bedeuten, wenn Sie die Schwerstpflegebedürftigen betrachten - das habe ich Ihnen schon vorgerechnet -, 997 DM plus 200 DM aus dem, was die Krankenversicherung heute leistet; das macht 1 197 DM. Der eigentliche Skandal ({15}) steckt darin, daß ihre Festlegung auf 1 200 DM eine Festlegung ohne Dynamisierungsmöglichkeiten ist, was dazu führen würde, daß Ihr Gesetzentwurf im Jahre 1994 eine Verbesserung um 3 DM im Monat bedeuten und - normale Dynamisierung unterstellt - im Jahre 1995 eine Verschlechterung um 10 bis 12 DM im Monat bewirken würde. ({16}) Damit müssen Sie sich auseinandersetzen. ({17}) Ministerpräsident Rudolf Scharping ({18}) Das zweite ist, daß aus dem, was Sie Pflegeversicherung nennen, insgesamt 460 000 bis 470 000 Menschen herausfallen werden ({19}) und daß Sie mit den Leistungen, die Sie da beschwören, wirksame Hilfe für pflegebedürftige Menschen weder in der häuslichen noch in der stationären Pflege erreichen. ({20}) Wenn Sie in Ihrem Gesetzentwurf regeln, daß bestimmte Alterskrankheiten, z. B. jene, die mit einem psychiatrischen Erscheinungsbild verbunden sind, nach Ermessensentscheidungen in den Kreis der Pflegebedürftigkeit einbezogen werden oder nicht, dann will ich Ihnen sagen, was das in der Praxis der Sozialämter bedeutet. Ein wenig Erfahrung traue ich mir mittlerweile zu. Ich weiß nicht, wie viele von Ihnen, die hier dauernd schöne Zwischenrufe machen und das für intelligent halten, was sie dazwischenrufen, ({21}) jemals in der Lage gewesen sind, mit den Menschen zu reden, die sich beispielsweise in Altenheimen mit dieser Situation auseinandersetzen müssen. ({22}) Das dritte ist, daß Sie unbeschadet all dessen einen Versichertenkreis wählen, der den wirklichen Bedürfnissen in keiner Weise gerecht wird. Was jemand aus den Reihen der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft hier redet, das finde ich besonders beachtlich. Offenkundig ist bei Ihnen die Angst vor der Farbe Rot so ausgeprägt, daß Sie nicht einmal mehr schamrot werden können; ({23}) denn das müßten Sie eigentlich, Herr Kollege Laumann, angesichts dessen, was Sie hier gesagt haben. Dann kommt der nächste Punkt, nämlich die Frage: Wie wird denn finanziert? Was schlagen Sie da vor? ({24}) Wenn die Vertreter einer Wirtschaftspolitik, die dafür mitverantwortlich - ich sage: mitverantwortlich, nicht: allein verantwortlich - sind, daß in diesem Land fünf Millionen Arbeitsplätze fehlen, daß es eine wachsende Zahl von Sozialhilfeempfängern gibt, leider Gottes auch unter Kindern, wenn sie sagen: weil wir das so mit zu verantworten haben, darf jetzt in Sachen Belastung von Arbeitsplätzen nichts geschehen, dann schlagen sie sich, finde ich, selbst ins Gesicht. Was Sie tun, ist eine massive Provokation der Arbeitnehmer durch die Art der Finanzierung. ({25}) Das wird dazu führen, daß es - und das halte ich mit Blick auf den Zustand unseres Gemeinwesens allerdings für hoch bedenklich - zu einer erheblichen Verschärfung der Tarifverhandlungen kommen wird, die am Ende dieses Jahres und zu Beginn des nächsten Jahres anstehen. ({26}) Das wird besonders dadurch bewirkt, daß Sie eine Überkompensation vorschlagen, die im Ergebnis nur dazu führt, daß die Arbeitnehmer insgesamt nicht nur den Arbeitnehmeranteil an der Pflegeversicherung zahlen sollen, sondern auch den Arbeitgeberanteil vollständig und noch einige Milliarden obendrein. ({27}) Wenn dann, wie ich heute in entsprechenden Nachrichtenagenturen gelesen habe, der Kollege Solms und andere aus diesem Hause öffentlich verkünden: auch wenn es nicht zu einer Pflegeversicherung komme, werde auf jeden Fall der Eingriff in die Tarifautonomie vorgenommen und auf jeden Fall die Lohnkürzung an Feiertagen gemacht, dann wird der eigentliche Charakter dieser Operation deutlich. ({28}) Sie wollen etwas ganz anderes erreichen, als die Pflegeversicherung zu finanzieren. ({29}) Es wird dann häufig mit den Lohnnebenkosten argumentiert. ({30}) - Vielleicht kann man über den Zusammenhang einen kurzen Moment miteinander nachdenken. Ich muß Ihnen sehr deutlich zwei Dinge sagen. Sie sagen, die Lohnnebenkosten behindern die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. ({31}) Schauen Sie sich doch bitte einmal in einer nun allerdings kapitalintensiven Wirtschaft an, wie hoch der Anteil von Lohnkosten im fertigen Produkt ist! Überlegen Sie einmal, wie sich dieser Prozentsatz von 20 %, 30 % auf das auswirkt, was an Lohnnebenkosten im Produkt steckt, und wieviel davon gesetzlich festgelegt worden ist! Sie werden darauf kommen, daß in einem normalen Maschinenbauunternehmen, in der normalen Automobilbranche und in anderen Bereichen der Anteil der Lohnnebenkosten im fertigen Produkt bei 3 bis 4 % liegt. ({32}) - Auch zu dem Punkt will ich Ihnen gleich noch etwas sagen. Das sage ich Ihnen aus folgendem Grund: Sie haben eine Wirtschafts- und Finanzpolitik betrieben, die dank hoher Verschuldung zu hohen Zinsen geführt hat und die wegen der hohen Zinsen den Außenwert der D-Mark erheblich beeinflußt hat. Es ist gänzlich unglaubwürdig, eine Wirtschaftspolitik zu betreiben, die den Außenwert der D-Mark um 15 % in zwei Jahren erhöht, aber gleichzeitig den relativ geringen Anteil der Lohnnebenkosten im fertigen Produkt zu Ministerpräsident Rudolf Scharping ({33}) beklagen. Wer über Wettbewerbsfähigkeit redet, der sollte das ein bißchen sorgfältiger tun. ({34}) Im übrigen wissen Sie ja von uns, daß wir sehr dafür sind, Lohnnebenkosten zu senken. ({35}) Ich habe hier in der Haushaltsdebatte einen Vorschlag dafür gemacht. Ich habe das am Beispiel der Arbeitslosenversicherung dargestellt. Allerdings will ich Sie auch noch auf folgendes hinweisen. Sie können doch nicht auf der einen Seite den Anstieg der Lohnnebenkosten beklagen und auf der anderen Seite auch eine Sozialpolitik betreiben, die am Ende dieses Jahres alleine den Rentenversicherungsbeitrag um ca. 2 % anheben wird. Wo ist denn da die innere Logik Ihrer Politik? ({36}) Das Schlimme an dieser Koalition ist doch, daß sie im Widerstreit der Interessen zwischen CDA, Mittelstandsvereinigung, Wirtschaftsrat, F.D.P. und allem, was da sonst noch hineinspielen mag, zu einer stringenten geradlinigen Politik überhaupt nicht mehr fähig ist. ({37}) Sie können doch mit den wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen dieses Landes gar nicht mehr verantwortungsbewußt umgehen. Das Beispiel der Diskussion über die Pflegeversicherung ist ja nicht nur ein Beispiel, das Arbeitnehmer betreffen wird. Es betrifft ja auch Arbeitgeber. Die Herren vom Wirtschaftsflügel sollte doch zumindest nachdenklich machen, daß auch die deutschen Arbeitgeber mit Blick auf den sozialen Frieden und mit Blick auf den verfassungswidrigen Eingriff in die Tarifautonomie vor dem Weg warnen, den Sie jetzt gefunden haben. Auch das wird ein Holzweg bleiben. ({38}) Ich füge hinzu, was Ihnen die Wohlfahrtsverbände zu diesem Thema gesagt haben. Sie dürfen nicht erwarten, daß wir Sie aus den selbstgestellten Fallen befreien, wenn Sie das auch noch mit der Erwartung verbinden, wir sollten einen freundlichen Diener machen und uns dafür entschuldigen, daß wir eine klare gemeinsame Linie haben und Sie unfähig sind, eine gemeinsame Position in dieser Frage zu formulieren. ({39}) - Erst kommt das Produkt, und dann kommt der Preis, verehrter Herr Zwischenrufer. Vor diesem Hintergrund sage ich Ihnen mit aller Deutlichkeit: Rechnen Sie bitte ja nicht damit, daß wir am Ende - gleichgültig, wo darüber abgestimmt wird - ein Produkt akzeptieren, das unter einem völlig falschen Etikett segelt, das sich Pflegeversicherung nennt, aber an der grundlegend schwierigen Situation der Pflegebedürftigen, ihrer Angehörigen und der Pflegekräfte in den Altenheimen nichts wirksam ändert. Das werden wir nicht tun. ({40}) Sie betreiben ja beim Titel eines jeden Gesetzes Etikettenschwindel. In diesem Fall werden wir ihn verhindern können. Dazu sage ich Ihnen gleich und wiederhole ich auch hier - für den Fall, Herr Kollege Bohl, daß Sie es bei der Debatte über den Haushalt Ihrer Bundesregierung nicht gehört haben -, was ich bereits gesagt habe: Erstens. Wir sind nicht der Blindenhund, um Sie aus der selbstverschuldeten Lage herauszuführen. Zweitens. Wir sind bereit, zuerst über den Inhalt einer Pflegeversicherung und dann über die Finanzierung zu reden, und zwar ohne Vorbehalt und mit einer einzigen Grenze: Es darf keinen Eingriff in die Tarifautonomie geben, egal, an welcher Stelle Sie ihn planen. Es wird ihn mit uns und unseren politischen Möglichkeiten nicht geben. Wir werden das so gut, wie wir können, bekämpfen. ({41}) Da eine alte Weisheit sagt, daß die Unterwerfung mit der Annahme der Fragestellung beginnt, erwarten Sie bitte nicht, daß wir uns Ihren Fragestellungen unterwerfen! Wir sind bereit, über die Frage der Finanzierung unter Einbeziehung aller Möglichkeiten zu reden, wenn Sie mit uns gemeinsam dafür gesorgt haben, daß den Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, die Pflege brauchen oder die Pflege leisten, ein anständiges solidarisches Gesetz zur Verfügung gestellt wird, das ihre Situation wirklich verbessert, statt daß es nur so tut, als ob. ({42})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Ministerpräsident, Sie haben mehr oder weniger unbeabsichtigt ({0}) die Redezeit, die in der Aktuellen Stunde nach Nr. 7 Abs. 2 unserer Richtlinien genannt ist, deutlich überschritten. Ich erteile deswegen dem Abgeordneten Peter Struck zur Geschäftsordnung das Wort.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da in der Tat überraschend ({0}) der Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz die in der Anlage 5 der Geschäftsordnung vorgesehene Redezeit überschritten hat - ich finde aber, aus guten Gründen überschritten hat -, ({1}) beantrage ich, die Aussprache zu eröffnen. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile dem Abgeordneten Jürgen Rüttgers ebenfalls zur Geschäftsordnung das Wort.

Dr. Jürgen Rüttgers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001899, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Regelungen, die für die Aktuelle Stunde geschaffen worden sind, sehen vor, daß der Übergang in eine Debatte dann ermöglicht werden sollte, wenn jemand, der nach dem Grundgesetz das Recht dazu hat, die Zeit überschreitet. Das, was wir hier gerade erlebt haben, ist nichts anderes als eine Manipulation dieser Regeln. Deshalb beantrage ich - wir werden darüber im Ältestenrat noch zu reden haben -, die jetzt stattfindende Debatte auf eine Stunde zu begrenzen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, Sie haben den Antrag des Geschäftsführers der CDU/CSU-Fraktion gehört. Ich frage zunächst die Opposition, ob sie mit diesem Vorgehensvorschlag einverstanden ist. ({0}) - Das ist nicht der Fall. Ich muß darüber abstimmen lassen. Wer für eine Debattenzeitbegrenzung auf eine „Bonner Stunde", also eine Stunde und ein paar Minuten, ist, ({1}) den bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Es ist so beschlossen. Ich erteile dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Norbert Blüm das Wort.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe eine Hoffnung, nämlich daß der weitere Fortgang der Debatte über die Pflegeversicherung nicht ein Wettbewerb wird, wer der bessere, wer der schlechtere Mensch ist, daß es nicht zu einem Hickhack von Rechthaberei kommt, sondern daß es ein Wettbewerb wird, wie wir den Hilfsbedürftigen am besten helfen. ({0}) Ich sage das nach allen Seiten: Ich war und bin für den Versuch der Einigung. Er ist immer besser als Streit. Die Pflegeversicherung ist schließlich kein Gesetz wie hundert andere. Sie ist ein neues Kapitel der Sozialversicherung. Da ist es immer gut, sich um ein breites Fundament zu bemühen. Ich verstehe deshalb die Enttäuschung all derer, die auf den Einigungsversuch in der letzten Woche gesetzt hatten; ich gehöre zu ihnen. Ich hoffe nicht, daß der Streit das letzte Wort in der Debatte über die Pflegeversicherung hat. Ich füge allerdings hinzu: Das Notwendige muß gemacht werden. Ohne Streit ist es besser; aber wenn es nicht ohne Streit geht, dann eben mit Streit. Konsens ist erwünscht, aber dadurch entfällt nicht der Handlungsbedarf. ({1}) - Nein, unter Konsens verstehe ich den Einigungsversuch. Ich verstehe darunter nicht, daß einer sagt, was die anderen machen sollen, sondern daß man Einigung versucht. Dafür gibt es sicherlich Grenzen. Ich appelliere an Sie, in den parlamentarischen Beratungen diesen Einigungsversuch nicht Geschäftsordnungsdebatten zu opfern. Herr Kollege Scharping - ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Minister, der Abgeordnete Rüttgers bittet um eine Zwischenfrage.

Dr. Jürgen Rüttgers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001899, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, können Sie sich erklären, ob es ein besonderer Ausdruck der Hochachtung gegenüber diesem Haus ist, daß Ihr Vorredner unmittelbar nach seiner Rede den Plenarsaal verlassen hat? Oder ist das die Gesprächsbereitschaft der SPD zur Lösung dieses Problems? ({0})

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Auch ich hätte mir gewünscht, daß mein Vorredner den Dialog auch in diesem Saale fortführt. ({0}) Ich will zu den inhaltlichen Fragen dennoch einige Bemerkungen machen. Ministerpräsident Scharping hat unseren Entwurf wegen minderer Leistung kritisiert. Herr Ministerpräsident Scharping, ausweislich der Rechnungen umfaßt der Entwurf der Koalitionsparteien um ein Finanzvolumen von 25,8 Milliarden DM; Stand 1991. Das ist 1 Milliarde DM mehr, als die SPD mit ihrem Einnahmekonzept zustande bringt. Sie haben zwar eine höhere Beitragsbemessungsgrenze, aber einen niedrigeren Beitrag. Deshalb gebietet es die Ehrlichkeit, zu sagen: Man kann nicht mit weniger Einnahmen mehr Leistungen bezahlen. Das gehört zum Einmaleins. ({1}) - Ich freue mich, daß der Herr Ministerpräsident in den Saal zurückgekehrt ist. Herr Ministerpräsident, ich will ja den Dialog hier führen. ({2}) Ich will noch einmal festhalten: Sie haben geringere Einnahmen und versprechen höhere Leistungen. ({3}) Wie wollen Sie das erklären? Es bleibt dabei: Sie haben insgesamt weniger Einnahmen und versprechen mehr Leistungen. Das ist der Versuch, aus einem Suppentopf, der weniger gefüllt ist als der unsrige, mehr Teller zu füllen. Das geht nicht. Sie haben weniger Einnahmen und wollen mehr ausgeben. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Bundesminister - Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Nein, ich möchte das im Zusammenhang darstellen. Darf ich im Zusammenhang reden? ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Sie bringen Ihren Gedanken zu Ende, und dann sind Sie bereit, die beiden Zwischenfragen zu beantworten. Bitte sehr.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Auch der zweite Teil, Herr Ministerpräsident: unsere Leistungen seien nicht dynamisiert, trifft nicht zu. § 26 unseres Entwurfes ist mit dem Wort „Dynamisierung" überschrieben. Natürlich werden unsere Leistungen angepaßt. Der Beitragssatz beträgt 1,7 %. Mit jeder Lohnerhöhung, wie jeder weiß, wachsen bei gleichbleibendem Beitragssatz die Einnahmen und damit auch die Ausgabenmöglichkeiten. Schon heute können mit 1,7 % im Jahre 1993 höhere Ausgaben für die stationäre Versorgung bezahlt werden als 1991. Schon heute wären es zwischen 400 und 500 DM mehr. Es ist also richtig - vielleicht können wir das schon aussagen; wie gut ist es doch, Dialog zu haben -, daß unser Gesetz mit Dynamisierung arbeitet. Sie haben darüber hinaus, Herr Ministerpräsident, die Finanzierung der Investitionskosten völlig im unklaren gelassen. 1,8 Milliarden, das ist ganz wichtig, obwohl unser Entwurf davon ausgeht, daß die Länder von den 7 bis 8 Milliarden, die sie sparen, mindestens 3 Milliarden für die investive Förderung zur Verfügung stellen. Das ist noch einmal mehr als bei Ihnen! ({0}) Das verfährt nach der Methode des Schulmeisterleins Wutz, dessen Einnahmen und Ausgaben immer ausgeglichen waren, weil er nur die Ausgaben aufgeschrieben hat. Nein, es kommt darauf an, Einnahmen und Ausgaben in Einklang zu bringen. Und das stimmt bei Ihnen nicht. Es stimmt wirklich nicht. Was den Personenkreis anbelangt: Auch da haben wir dazugelernt. Warum darf man im Beratungsverfahren nicht dazulernen? Eine Volksversicherung ist - streitfrei - verfassungsrechtlich nicht möglich. Deshalb haben Sie einen Vorschlag, der verfassungsrechtlich nicht möglich ist. Insofern wäre es schon gut, wir würden uns auch bei den Beratungen im Ausschuß wirklich der Klärung von Sachfragen zuwenden. Was im übrigen das Verhältnis -

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Bundesminister, es gab ja den Wunsch nach Zwischenfragen.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Ja, bitte, dann wenden wir uns jetzt den Zwischenfragen zu.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Gut. - Dann zunächst Herr Dr. Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Bundesminister, wenn Sie hier so eindringlich schildern, wie wichtig es ist, ordentliche Einnahmen zu haben, warum plädieren Sie dann nicht dafür, wirklich alle auf eine verfassungskonforme Weise einzubeziehen und keine Bemessungsgrenze, weder die der Krankenversicherung noch die der Rentenversicherung, zu nehmen, sondern in einer steuerfinanzierten Lösung alle Menschen einzubeziehen? Je mehr sie verdienen, desto mehr müssen sie einzahlen.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Darüber ist ja auch in der sozialpolitischen Debatte viel gestritten worden. Ich erkläre mich für das bewährte sozialpolitische Modell, das mit Beiträgen Leistungsansprüche auslöst. Ich glaube, ein steuerfinanziertes System kommt einem versorgungsstaatlichen Denken sehr viel näher. ({0}) Vor allen Dingen ruft es die Gefahr hervor, daß diese Ansprüche dann im Wettbewerb mit Straßenbau, Bildung, Universitätsbau Jahr für Jahr neu ausgehandelt werden müssen. Ich glaube, es liegt ein viel stärkerer emanzipativer Gedanke zugrunde, sich mit Beitragsleistungen Ansprüche zu erwerben. ({1}) - Nein, das ist das alte bewährte Sozialversicherungssystem, ein Solidaritätssystem. Dem gebe ich den Vorzug, wobei wir ja die Ergänzung durch die Sozialhilfe haben. Deshalb, Herr Ministerpräsident Scharping - ich bin ja in einem Dialog -: Sozialhilfe und Sozialversicherung sind nie in dem Sinne gedacht, daß beide Leistungen aufeinandergestapelt werden, sondern die Leistungen der Sozialversicherungen werden wie in der Renten-, wie in der Kranken-, wie in der Arbeitslosenversicherung so auch in der Pflegeversicherung angerechnet. Das ist überhaupt nichts Neues, sondern ein bewährtes Prinzip unseres Sozialstaates.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun Herr Dr. Struck.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, darf sich Sie angesichts der Tatsache, daß der Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz für eine halbe Minute den Saal verlassen hat, ({0}) fragen: Halten Sie nicht mit mir die Frage des Kollegen Rüttgers für billige Polemik, die nur die inhaltlichen Schwächen überdecken soll? ({1})

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Da wir keine inhaltlichen Schwächen haben, gibt's auch nichts zu verdecken. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Fahren Sie in Ihrer Rede fort, Herr Bundesminister.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Ja. - Ich möchte nun zu dem Thema Kompensation kommen. Meine Damen und Herren, ich finde, daß zur Pflegeversicherung, und zwar nicht als Beiwerk, in der Tat der finanzielle Ausgleich für die Wirtschaft gehört. Das möchte ich noch einmal erklären. Der Arbeitgeberbeitrag ist kein Beitrag, den der Arbeitgeber aus seiner privaten Schatulle bezahlt, weshalb wir ihm jetzt dieses schwere Opfer womöglich entgelten wollen, sondern der Arbeitgeberbeitrag ist ein Lohnkostenbestandteil, und deshalb sind an dieser Entlastung Arbeitnehmer wie Arbeitgeber interessiert, weil wir Arbeitsplätze erhalten wollen. Das heißt es doch! ({0}) Ich gebe zu, das Wort „Arbeitgeberbeitrag" führt in der Öffentlichkeit vielleicht in die falsche Richtung, als ginge es um eine private Entlastung der Arbeitgeber. Der Arbeitgeberbeitrag ist ein Lohnkostenbestandteil; er könnte sogar auf den Arbeitnehmerbeitrag draufgeschlagen werden; das Ganze könnte Arbeitnehmerbeitrag genannt werden. Dabei hätte sich überhaupt nichts verändert. Es geht darum, daß in dieser Zeit die Lohnkosten in der Tat nicht steigen dürfen, weil sonst die Sozialpolitik ihre eigene Quelle verschütten würde. Das wäre keine Sozialpolitik, sondern eine unsoziale Politik gegen die Arbeitslosen. ({1}) Insofern muß man sich hier für die Kompensation nicht entschuldigen, als hätten wir ein schlechtes Gewissen. Sie ist Bestandteil einer sozialen Politik. Wir haben nun die Selbstbeteiligung in der Lohnfortzahlung gegen die Einschränkung der Lohnzahlung an Feiertagen ausgewechselt. Was gibt es eigentlich darüber zu klagen? Das ist doch das Normalste eines parlamentarischen Systems. Herr Ministerpräsident, Sie beklagen sich darüber. Seien Sie doch froh darüber, daß in der parlamentarischen Beratung Diskussionen aufgenommen werden. Würden wir es nicht machen, wären Sie heute auf gestanden und hätten gesagt: Die Regierung ist überhaupt nicht lernfähig. Nun haben wir es gemacht; und nun seien Sie doch froh, daß wir in der Beratung auf Argumente eingehen. Nur, es führt kein Weg an Einschränkungen vorbei. Ich kenne überhaupt keine Kompensation, die leichtfiele. Denn dann wäre es nämlich keine Kompensation. Jetzt frage ich, ich frage auch Sie, Herr Ministerpräsident, ganz eindringlich: Ist das wirklich der Grund zu einer solchen geradezu mit abendländischem Pathos vorgetragenen Entrüstung über den bescheidenen Vorschlag zur Kompensation, den wir machen, bei den zehn bundeseinheitlichen Feiertagen 20 % des Lohns zurückzunehmen? Wer das nicht will, kann dafür zwei Tage Urlaub weniger nehmen. Wissen Sie, welche Einschränkung das für einen Durchschnittsverdiener ist? Es ist eine Einschränkung. Ich sage ja nicht, es falle leicht. Für einen Durchschnittsverdiener im Westen sind es netto 18 DM im Monat, im Osten netto 13 DM. Das ist eine schwere Einschränkung; aber gemessen am Los der Hilfsbedürftigen ist es eine milde Gabe. ({2}) Wer die 13 Mark nicht bezahlen will, soll auf Urlaub verzichten. Darm muß er halt ein paar Stunden mehr arbeiten. Mir hängt eine solche Debatte in der Tat schon zum Hals heraus: Immer dieses Pathos der Hilfsbereitschaft. Nicht jeder, der „Herr, Herr!" sagt, kommt ins Himmelreich, und nicht jeder, der sozial redet, ist wirklich sozial. Da muß auch etwas gemacht werden. Mit schönen Worten ist den Hilfsbedürftigen nicht geholfen. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Bundesminister - Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Nein, jetzt machen wir da noch einmal weiter. Ich bin es wirklich leid. Ich bin diese Betroffenheitslyrik leid. Von einer Betroffenheit zur nächsten; das Problem besichtigen und weiterreisen? Laßt uns das Problem lösen! Und das geht nicht ohne Umstellungen im Sozialstaat. Aufgesattelt kann er nicht werden; sonst ruinieren wir den Sozialstaat, auf den die Arbeitnehmer und die Hilflosen am meisten angewiesen sind. - So. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Darf ich - Dr. Norbert Blüm, Minister für Arbeit und Sozialordnung: Jetzt machen wir da noch weiter. 18 Mark, 13 Mark sind Geld. Ich sage nicht, das sei kein Geld. Aber jeder kann morgen pflegebedürftig sein. Und dann bezahlt er nicht 18 Mark, sondern dann wird seine Familie aus dem Gleis geworfen, und er ist Sozialhilfeempfänger. Es ist ein Gebot der Solidarität, daß dieses unwürdige Spiel in der Pflege aufhört. Und dafür müssen auch Opfer gebracht werden. Wir sind doch geradezu ein Wohlstandsland. Es ist ja fast ein Almosen, was wir hier als Kompensation anbieten: Zwei Tage weniger Urlaub. ({0}) Nein, lieber Kollege Büttner; jetzt bin ich wirklich in Form. ({1}) Ich bin Gewerkschafter. Ich schäme mich fast: Die Tinte, mit der wir die Kompensation niedergeschrieben haben, ist noch nicht trocken, da sind schon die Protestzüge unterwegs. Wo haben die eigentlich einmal für die Pflegebedürftigen protestiert? Wo waren die denn 20 Jahre? ({2}) Ich habe an vielen Mai-Demonstrationen teilgenommen; ich werde auch im nächsten Jahr und, wenn es sein muß, immer teilnehmen. Aber ich habe stets gesehen: Die Gefahr ist groß, daß für den Besitzstand derjenigen gekämpft wird, die im System sind, und die, die draußen sind, mit schönen Worten abgespeist werden. ({3}) Einen so eindrucksvollen Protest wie den jetzigen gegen die Kompensation habe ich vom DGB und der DAG noch nie erlebt. Das bedauere ich als Mitglied der IG Metall. ({4}) Ich will ja nicht sagen, es wäre leicht, zwei Tage Urlaub zu opfern. Aber das sind zwei Tage in einem Land, das mit über 30 Tagen Urlaub im Jahr eine Spitzenstellung hat, in einem Land, das in ganz Europa mit die meisten Feiertage hat, in einem Land mit der kürzesten Jahresarbeitszeit unter allen Industrienationen, ({5}) in einem Land mit der niedrigsten Lebensarbeitszeit. Viermal Spitzenstandard: Längster Urlaub, größte Feiertagszahl, niedrigste Jahresarbeitszeit und kürzeste Lebensarbeitszeit! Und da seid ihr nicht bereit, 13 Mark für die Pflegebedürftigen zu opfern! Ich finde, das ist eine sehr kleinkarierte Gesellschaft. ({6}) Jetzt noch zur Tarifautonomie: Ich werde die Tarifautonomie auch gegen manche Versuchungen - ich kenne sie selbst in den eigenen Reihen - immer verteidigen. Es kann aber nicht so sein, daß die Tarifautonomie ihre Schutzräume immer enger und enger zieht, bis sie am Schluß eine Fesselung des Gesetzgebers darstellen. Dann könnten wir uns verabschieden. Dann könnten wir nur einen Wettbewerb darüber führen, wer mehr draufsattelt. Es kann doch nicht Sinn der Tarifautonomie sein, daß sie dem Gesetzgeber jede Handlungsmöglichkeit versagt. Es gibt einen Kernbereich, den ich immer verteidigen werde. Wenn es aber beim Feiertag - die Lohnzahlung an Feiertagen ist ja durch ein Gesetz festgelegt - Konflikte mit dem Tarif geben sollte, müssen wir uns doch bewegen können. Sonst können wir uns als Parlament abmelden; dann kann der Tarifpartner das Parlament ersetzen. ({7}) Was die Entgeltfortzahlung anbelangt, so lassen Sie uns das Gesetz, auch wenn die Selbstbeteiligung gestrichen ist, noch im Spiel behalten. Es gibt darin nämlich wichtige Sachen; insofern ist es ein Gesetz, das den richtigen Namen trägt. Im heutigen Entgeltfortzahlungsrecht werden Arbeiter und Angestellte immer noch unterschiedlich behandelt, nach heutigem Lohnfortzahlungsrecht ist die Lohnfortzahlung in den neuen Ländern gar nicht gesetzlich abgesichert. Wieso bezeichnen Sie es als Rückschritt, wenn wir das Gesetz im Spiel, im parlamentarischen Beratungsraum lassen? Der langen Rede kurzer Sinn: Ich würde alles dafür tun, daß die Debatte über die Pflegeversicherung nicht in einer unwürdigen Rechthaberei endet. Wir haben in unserem Gesetz schon viele Nachbesserungen vorgenommen. Ich sitze nicht auf dem hohen Roß und behaupte, daß das Gesetz nicht besser werden könnte. Ich fürchte aber, daß wir denjenigen, um die es geht, nicht helfen, wenn sich jeder auf das hohe Roß des Prestiges setzt; da stimme ich Ihnen nämlich uneingeschränkt zu. Der ganze Streit über die Bezahlerei, über § 36 Abs. 3 ist für die im Pflegeheim geradezu eine makabre Veranstaltung. Ich werde mich, wenn es sein muß, an jedem Streit beteiligen. Auch wenn die ganze Welt wackelt und wenn alle Besitzstandsverteidiger ihre Festungsmauern hochziehen: Die Pflegeversicherung muß kommen - und sie bewegt sich doch. ({8})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Hermann Otto Solms.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann jedes Wort, das der Kollege Norbert Blüm hier gesagt hat, voll unterschreiben. ({0}) Ich will deswegen noch einmal darauf hinweisen, daß ich es einfach unanständig finde, Herr Dreßler, ({1}) Dr. Hermann Otto So1ms wenn den politischen Gegnern unterstellt wird, sie wollten ein bestimmtes Ziel nicht oder nicht so sehr wie man selber. Alle demokratischen Parteien in diesem Hause wollen, und zwar mit voller Kraft und voller Energie, eine ({2}) Pflegeversicherung einführen. Es geht doch nicht um das Ob, sondern um das Wie einer solchen Pflegeversicherung. ({3}) Es geht natürlich auch darum, wie sie finanziert wird, damit unsere Finanzen nicht noch stärker in Unordnung geraten, als sie es aufgrund der Gesamtentwicklung und der deutschen Einheit sind. Deswegen darf ich Ihnen sagen: Der einzige Unterschied in der Behandlung der Materie zwischen Norbert Blüm und mir liegt darin, daß er größeres Vertrauen in Verhandlungen mit Ihnen gesetzt hat, als ich das tue. ({4}) Und die Debatte beweist, daß ich bei der Beurteilung dieser Frage recht gehabt habe. ({5}) Es ist eben nicht richtig, was Frau Babel von Herrn Scharping unterstellt wurde, daß nämlich die Vereinbarungen unterzeichnet gewesen wären. Wir hatten unsere Zustimmung dazu nicht gegeben. Im übrigen ist das eine Nebensache. Es geht in der Sache darum, wie die Pflegeversicherung aussehen soll. Es geht darum, ob Sie den Mut dazu haben, auch Ihren Anhängern zu sagen, daß wir Leistungen nicht umsonst, nicht zusätzlich verteilen können, sondern daß sie finanziert werden müssen. ({6}) Dann müssen Sie auch sagen, aus welchen Quellen sie finanziert werden und wen das belastet. Wenn Sie den Pflegebedürftigen - das ist eine der ärmsten Gruppen in dieser Gesellschaft ({7}) helfen wollen, dann kann das doch nicht heißen, daß Sie vergessen, zu sagen, wen Sie dafür belasten müssen. Sie wissen, daß die größte Not, die stärkste Verwerfung in diesem Lande gegenwärtig darin liegt, daß wir zuwenig Arbeitsplätze haben, zusätzlich Arbeitsplätze verlieren. In der ganzen westlichen Welt weiß man nicht, wie man die steigende Sockelarbeitslosigkeit bekämpfen soll; und in der Situation verweigern Sie die Diskussion darüber, wie man die zusätzliche Belastung der Arbeitsplätze vermeiden kann! ({8}) Das ist für mich aus der Sicht einer Arbeitnehmerpartei, die Sie ja noch immer sein wollen, eine tiefe Enttäuschung. Das muß ich hier ganz eindeutig sagen. ({9}) Ich habe mir natürlich auch Ihren Entwurf genau angeschaut und habe überlegt, welche Elemente in dem SPD-Entwurf dazu beitragen könnten, daß der Kompromiß, den wir, CDU/CSU und F.D.P., nach langen, schwierigen Verhandlungen erreicht haben, verbessert werden könnte. Mir ist wirklich kein Punkt aufgefallen. ({10}) Jetzt kommen wir zu den wesentlichen Punkten. Der Vorrang der häuslichen Pflege ist ein wirklich humanes Anliegen; denn Sie wissen, daß alle Pflegebedürftigen, wenn immer es möglich ist, bis zum Ende ihres Lebens zu Hause verbleiben wollen. ({11}) Wie wollen Sie da sicherstellen, wenn Sie gleichzeitig die stationäre gegenüber der häuslichen Pflege begünstigen? ({12}) Die Infrastruktur für die häusliche Pflege ist ja noch gar nicht entwickelt; also müssen Sie auch einen zeitlichen Vorrang für die häusliche Pflege einrichten, damit sie überhaupt im Vergleich mit der stationären Pflege wettbewerbsfähig sein kann. ({13}) Wie halten Sie es denn mit der Möglichkeit der Kostenexplosion? Sie halten ja immer noch am Kostendeckungsprinzip fest, obwohl wir doch bei der Gesundheitsreform gelernt haben, daß wir mit diesem Prinzip finanziell an die Wand laufen. ({14}) Das geht doch gar nicht. Die Holländer haben uns gezeigt: Dieses Prinzip hat dazu geführt, daß in wenigen Jahren die Kosten auf das Mehrfache angestiegen sind, so daß sie nicht mehr finanzierbar sind. Also müssen wir doch eine Bremse gegen die Gefahr dieser Kostenexplosion einrichten. In Ihrem Entwurf ist dazu nichts enthalten. ({15}) Dann kommt die Kompensation, meine Damen und Herren. Herr Blüm hat das Notwendige dazu gesagt. ({16}) Wir halten es für unausweichlich, daß die zusätzliche Belastung der Arbeitsplätze ausgeglichen wird. Das muß man tun, um in der Arbeitsplatzpolitik Fortschritt zu erzielen. Schließlich geht es um die Frage des Kreises der Versicherten. Herr Scharping hat behauptet, der Kreis der Versicherten sei bei uns so eng beschnitten, daß es unsoziale Auswirkungen hätte. ({17}) Er hat den Gesetzentwurf offensichtlich nicht gesehen, nicht verstanden; ({18}) denn bei uns werden 98 % aller Menschen versichert, ({19}) und zwar in der gesetzlichen und in der privaten Krankenversicherung. 98 % werden pflichtversichert! Da können Sie nicht von einer sozialen Fehllage reden. ({20}) Die Sache mit der Überkompensation hält nun wirklich keiner Betrachtung stand. Herr Blüm hat auch darauf hingewiesen. Die Betroffenen haben das freie Recht, zwei Urlaubstage anstatt der Kompensation zu wählen. Zwei Urlaubstage sind nun wirklich kein Opfer in einem Land, in dem es bis zu 14 oder 15 Feiertage sowie 30 und mehr Urlaubstage im Jahr gibt. Meine Damen und Herren, es hilft nichts: Die Auseinandersetzung mit Ihrem Entwurf zeigt, daß in ihm keine Verbesserungsmöglichkeit enthalten ist. Eine Behandlung außerhalb des verfassungsmäßig vorgegebenen Weges macht dann auch keinen Sinn. Schließlich haben die Verfassungsväter gute Gründe gehabt, warum sie diesen Weg so vorgeschrieben haben. Die Mehrheit im Deutschen Bundestag entscheidet; dann kommt das Gesetz in den Bundesrat, wobei sich die Länder aus Sicht der Länderinteressen damit zu befassen haben. ({21}) Lernen Sie das bitte einmal: aus Sicht der Länderinteressen, nicht aus Sicht der parteipolitischen Interessen. ({22}) Deswegen sitzen im Bundesrat nicht Vertreter des Parlaments oder der Landesparlamente, sondern dort sitzen Vertreter der Landesregierungen. Das alles ist verfassungsmäßig sehr gut ausgedacht. Dieser verfassungmäßige sauber vorgeschriebene Weg ist der Weg, den wir für den richtigen halten. ({23}) Abschließend möchte ich deshalb sagen: Wenn Sie, Herr Dreßler, hier aus der Emotion heraus androhen, ({24}) daß es auch im Bundesrat keine Zustimmung geben könne, was auch immer passieren würde, ({25}) dann treiben Sie ein leichtfertiges Spiel mit den Interessen der pflegebedürftigen Menschen in diesem Land. ({26}) Denn nachdem wir nun diesen Gesetzentwurf eingebracht haben, in den Ausschüssen intensiv diskutieren und natürlich auch bereit sind, auf alle wichtigen Argumente einzugehen ({27}) und Änderungen vorzunehmen, kann das Pflegegesetz nur noch an dem Widerstand der SPD scheitern, der dann parteipolitisch motiviert wäre. Ich warne Sie: Diese Diskussion führen wir dann gern. Vielen Dank. ({28})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Ottmar Schreiner das Wort.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will nur einen Satz auf den kuriosesten Beitrag dieses Nachmittags verwenden, der vom Chef des Bundeskanzleramtes stammt. Er hat die SPD mit der Bemerkung kritisiert, die Verhandlungsdelegationen seien zu aufgeplustert gewesen. Diese Bemerkung qualifiziert Herrn Bohl für einen Beitrag ({0}) - das ist wirklich eine Nebensache, ich möchte das nur einmal ausführen - in der Lach- und Schießgesellschaft. Denn die SPD ist mit einem ganz anderen Vorschlag hineingegangen. Die Zehnerzahl war der ausdrückliche Wunsch der Koalition, mit der Begründung, man könne die verschiedenen Binnenelemente der Koalition sonst nicht ausreichend bündeln. Ich will das nur anführen; es lohnt nicht, darüber zu reden. ({1}) Ich komme zu dem zentralen Vorwurf, der SPDVorschlag gebe keine Antworten auf die kritische Entwicklung der Arbeitskosten, der Lohnnebenkosten, gefährde Arbeitsplätze; dann wurden Firmen angeführt, deren Arbeitsplätze jetzt gefährdet sind und deren Arbeitsplätze jetzt wegbrechen. Wenn Sie politisch Verantwortliche haben wollen, müssen Sie im Hinblick auf die Arbeitskosten auf sich selbst zeigen. Das nur am Rande. ({2}) Minister Blüm hat völlig richtig gesagt, daß die Arbeitgeberbeiträge ({3}) - ich würde mich jetzt sehr bremsen, ich bringe gleich Kronzeugen - erweiterter Lohnbestandteil sind, daß es keine echten Arbeitgeberbeiträge sind, sondern daß sie zum erweiterten Lohnbestandteil gehören. Genau darauf nimmt der Finanzierungsvorschlag des SPD-Gesetzentwurfes Rücksicht. Wir haben vorgeschlagen: anteilige Finanzierung - Arbeitgeberbeitrag, Arbeitnehmerbeitrag. Das wäre überhaupt nichts Neues gewesen. Das Problem ist, daß der Bundesminister Blüm falsche Schlußfolgerungen aus dem Finanzierungsvorschlag der SPD zieht. Jetzt will ich zwei Kronzeugen aus den Koalitionsreihen für den Finanzierungsvorschlag der SPD-Pflegeversicherung benennen: Der eine ist Vizepräsident Cronenberg, der andere ist der Obmann der CDU/ CSU im Ausschuß für Arbeit und Soziales, der Kollege Warrikoff. Ich zitiere jetzt aus dem Protokoll der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales anläßlich der Anhörung des SPD-Pflegegesetzentwurfes im vorigen Jahr. Ich zitiere den Kollegen Warrikoff. Er fragt eine Sachverständige: Frau Jüttner, die Arbeitgeber wehren sich gegen das Umlageverfahren mit der Begründung, daß die Lohnnebenkosten oder, etwas weiter gefaßt, die Lohnkosten insgesamt steigen. Nun frage ich mich, ob nicht die Gewerkschaften ... wie in jüngster Vergangenheit versuchen, auf der Lohn- oder Vergütungsseite insgesamt herauszuholen, was herauszuholen ist, und daß letzten Endes in den Verhandlungen mit den Arbeitgebern der Arbeitgeberanteil für Pflege mit eingeht. Ich stelle jetzt die Behauptung auf ..., daß, da die Obergrenze ohnehin festliegt, der Arbeitgeberanteil zur Pflege gar nicht zu einer Erhöhung der Lohnkosten insgesamt führt. Ich behaupte also: In den Tarifverhandlungen haben die Arbeitgeber einen oberen Plafond, den sie nicht überschreiten zu können glauben. Dieser obere Plafond wird durch Lohnzahlungen oder aber durch Lohnersatzzahlungen erreicht, z. B. durch die Pflegeumlagen. Das ist genau die Position der letzten hundert Jahre. Sie können den Produktivitätsfortschritt, bezogen auf die Arbeitnehmerseite, in dreierlei Varianten weiterreichen. Das eine ist die Variante Reallohnsteigerung. Die zweite Variante heißt Arbeitszeitverkürzung. Die dritte Variante heißt Finanzierung von sozialen Leistungen, die betriebliche Kosten verursachen. Sie können die Varianten auch kombinieren. Diese Grundeinschätzung des Kollegen Warrikoff, die eigentlich eine ökonomische Binsenweisheit allererster Güte ist - mehr ist das nicht -, wird vom Kollegen Julius Cronenberg einen Tag vorher - Hut ab, Herr Kollege - mit der Bemerkung geteilt, daß die Arbeitgeberbeiträge „Kosten wie Lohn und Material sind" und „letztlich auch in der Lohnfindung ihren Niederschlag finden". Das ist präzise das, was ich soeben von Herrn Warrikoff zitiert habe. ({4}) - Das ist der Finanzierungsvorschlag der SPDBundestagsfraktion. Wenn der Minister Blüm einen letzten Rest von Realitätsbewußtsein gehabt hätte, anstatt sich vollständig zu verrennen, hätte er mit den Tarifparteien geredet und gefragt, ({5}) ob dieser Weg, der über hundert Jahre getragen hat, auch bei der Finanzierung der Pflege tragen könnte. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Schreiner, der Abgeordnete Blüm möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schreiner, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich mit den Sozialpartnern nicht einmal, sondern mehrfach gesprochen habe und nicht zu diesem Ziel, das auch ich begrüßt hätte, gekommen bin?

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin bereit, zur Kenntnis zu nehmen, was ich über diese Gespräche in Erfahrung gebracht habe. ({0}) Sie können mir das gerne bestätigen. ({1}) Herr Präsident, ich bitte mir diese Zeit nicht anzurechnen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Die Uhr läuft nicht mehr. Ich habe sie gestoppt. Sie können in aller Ruhe auf den Abgeordneter Blüm eingehen.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe zufälligerweise über diese Gespräche in Erfahrung gebracht, daß die Gewerkschaften bereit gewesen seien - ({0}) - Haben Sie Bohnen in den Ohren? Er redet von seinen Gesprächen mit den Tarifparteien. Sitzen Sie auf Ihren Ohren, oder was ist hier los? Ich habe in Erfahrung gebracht, daß die Gewerkschaften signalisiert hatten, daß für den Fall einer solidarischen Pflegeversicherung im traditionellen Umlageverfahren, ({1}) das bei ihnen natürlich Berücksichtigung finden würde, wenn es darum ginge, über die Lohnerhöhungen des anstehenden Tarifjahres zu reden. Mir ist zudem gesagt worden, auch die Arbeitgeberseite habe bei den Gesprächen an Ihrem Tisch entsprechende Zustimmung signalisiert, sei dann aber von den Verbandsoberen in den Zentralen mit der Begründung zurückgepfiffen worden: Es geht der Arbeitgeberseite nicht um die 0,75 % oder 0,6 % oder 0,8 % Beitragsvolumen, sondern es geht der Arbeitgeberseite prinzipiell darum, die erreichten sozialen Errungenschaften im Sinne sozialer und solidarischer Absicherung insgesamt zurückzudrehen in Richtung Privatisierung. Das ist mein Kenntnisstand. ({2}) Das ist der eigentliche Grund, warum die F.D.P.Freunde Sie am vergangenen Wochenende in die Jauchegrube geschmissen haben. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das wiederum veranlaßt den Abgeordneten Grünbeck, eine Frage zu stellen, vorausgesetzt, Sie sind bereit, sie zu beantworten.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wollte er sie wegen des Zitats an Sie richten oder an mich?

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich glaube nicht - bedauerlicherweise, muß ich sagen -, daß der Präsident in den Dialog einbezogen werden kann. - Bitte schön, Herr Abgeordneter.

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schreiner, würden Sie bereit sein, Ihre Aussagen zu korrigieren, daß der Abbruch oder die Verminderung von Arbeitsplätzen nicht nur in unmittelbarem Zusammenhang mit den innerparteilichen Streitigkeiten hier in diesem Hohen Hause zu tun hat, sondern daß dieser Streit in keinem anderen Wettbewerbsland stattfindet und wir dadurch ständig Gefahr laufen, daß wir durch die Erhöhung der Kosten international nicht mehr wettbewerbsfähig sind und dadurch eine wirklich asoziale Politik betreiben, indem wir Arbeitsplätze sukzessive durch überzogene Forderungen kaputtmachen? ({0})

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Grünbeck, ich bin für die Frage sehr dankbar, weil zumindest die Antwort auf meine Redezeit nicht angerechnet wird. ({0}) Es wird von uns nicht bestritten, daß wir seit 1991 eine kritische Lohnstückkostenentwicklung haben. ({1}) Es ist aber auch nicht zu bestreiten, daß in den letzten 20 Jahren die Lohnstückkosten - und das ist das einzige wirklich brauchbare internationale Vergleichskriterium - unterproportional gestiegen sind. Wenn man jetzt fragt, warum dann in den letzten beiden Jahren kritische Entwicklungen eingetreten sind, dann stoßen Sie ganz schnell auf die grundverkehrte Finanzierung der deutschen Einheit durch die Bundesregierung über die sozialen Sicherungssysteme. Das ist doch das Problem! ({2}) Jetzt sage ich Ihnen dazu, Kollege Grünbeck: Als die Koalition vor wenigen Jahren die Lohnnebenkosten in Gestalt der Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung massiv erhöhte, war das den Arbeitgeberfunktionären noch nicht einmal eine Presseerklärung wert - den gleichen Arbeitgeberfunktionären, die jetzt seit Monaten und Jahren heftigst gegen die Finanzierung der Pflegeversicherung polemisieren. Nochmals: Wir haben ausgerechnet, daß allein nach unseren Überlegungen etwa 4 Prozentpunkte bei den sozialen Sicherungsleistungen eingespart werden könnten, wenn man die Finanzierung dahin legte, wo sie hingehört - nämlich in eine gerechte Steuerfinanzierung. In der Haushaltsdebatte dieses Bundestages hat auf eine Anfrage des Kollegen Büttner vor wenigen Tagen der Bundeswirtschaftsminister Rexmann - ({3}) = Rexrodt gesagt, und ich zitiere jetzt Herrn Rexrodt: Wenn es aber darum geht, die Arbeitslosenversicherung umzubauen in die Richtung, daß bestimmte Leistungen herausgenommen und beispielsweise dem Steuerzahler übertragen werden, sind wir zu Gesprächen bereit. Das ist einer der Vorschläge zum Umbau unseres Sozialsystems. Es ist eine Menge dran und kann dazu führen, daß wir die Beiträge senken können. Dies würde ein Beitrag dazu sein, daß wir die Lohnzusatzkosten senken können. - Das ist immer noch Originalton Rexmann. Ich könnte Ihnen jetzt Herrn Blüm aus der gleichen Debatte zitieren.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Schreiner, ich verstehe ja, daß Sie es geschickt versuchen, Ihre fünf Minuten Redezeit durch die hervorragenden Vorlagen der Fragesteller ({0}) künstlich ordentlich zu verlängern, aber Sie müssen auch mich verstehen, daß es eine Grenze gibt, ab der ich das dann auf die Redezeit anrechnen muß. Wir einigen uns jetzt einmal so: Der Abgeordnete Grünbeck will noch eine Zwischenfrage stellen, und Sie antworten kurz und präzise, und ab da wird wieder auf die Redezeit angerechnet. Im übrigen erlaube ich mir bei der Gelegenheit den Hinweis, daß Ihre Bemerkung „Sitzen Sie auf ihren Murmeln?" bei Durchsicht des Protokolls vielleicht zweckmäßigerweise - weil unparlamentarisch - gestrichen werden kann.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Darf ich das kurz klarstellen?

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte, ja.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe nach meiner Auffassung nicht „Murmeln", sondern „Bohnen" gesagt, aber wenn Sie „Murmeln" sagen, bin ich auch damit einverstanden und bitte auch nicht um Streichung. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Dann ist das hier oben falsch angekommen. Beim einen wie beim anderen lohnt es sich um der Fairneß willen zu streichen. Jetzt hat der Abgeordnete Grünbeck die Gelegenheit, eine Frage zu stellen, und der Abgeordnete Schreiner die Möglichkeit, diese präzise zu beantworten, und dann würde die Uhr wieder laufen.

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Obwohl ich allerhöchste Bedenken zu Ihren Ausführungen über die Lohnstückkosten in der heutigen Zeit habe: Wären Sie bereit, ein Angebot von mir anzunehmen, als Controller und als Unternehmensberater in meine Firma zu kommen und dort einmal die Kostensituation zu studieren und dann dem Deutschen Bundestag darüber zu berichten? ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich weiß nicht, ob solche Werbeaktionen unangenehme Folgen haben können, Herr Abgeordneter Grünbeck. - Bitte schön.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Grünbeck, ich sage Ihnen sofort zu. Ich erinnere Sie nur an das bislang von Ihnen nicht eingelöste Versprechen, mir bei Gelegenheit eine Filiale Ihres Unternehmens in meinem Wahlkreis aufbauen zu wollen. Das bringt mich dazu, das einmal in Erinnerung zu rufen. Noch einmal zu den Lohnnebenkosten, weil Minister Blüm - ich will das jetzt nicht mehr zitieren, weil die Uhr weiterläuft -, genau das gleiche vor wenigen Tagen in der Haushaltsdebatte gesagt hat.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Die Uhr läuft jetzt wieder.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, danke schön, Herr Präsident. Wenn der Bundeswirtschaftsminister und der Bundesarbeitsminister, die ja im wahrsten Sinne keine sehr innige Freundschaft pflegen - das ist auch richtig -, in dieser zentralen Frage der Absenkung der Lohnnebenkosten um mehrere Prozentpunkte - jedenfalls deutlich mehr, als die Pflege insgesamt kosten würde - vor wenigen Tagen im Deutschen Bundestag vorgetragen haben, das müsse jetzt gemacht werden, dann frage ich Sie, wann Sie es denn machen wollen. Das ist doch die Frage: Wann machen Sie es denn? Dann würde nämlich Ihre gesamte zusätzliche Agitation gegen die Finanzierungsproblematik der Pflege in sich zusammenbrechen, weil Sie mehr als das doppelte Volumen dessen, was die Pflegeversicherung insgesamt jährlich kosten würde, aus den Lohnnebenkosten, aus den Arbeitskosten insgesamt herausbewegen könnten. Warum machen Sie es nicht? ({0}) Was soll hier die gesamte dumpfe Agitation gegen gestiegene Arbeitskosten, gegen Lohnzusatzkosten, was soll das alles, wenn Sie die eigenen Möglichkeiten, die Sie haben, zwar ständig öffentlich proklamieren, aber nicht umsetzen? ({1}) In diesem Zusammenhang noch ein, zwei Sätze zu den Erkenntnissen von Minister Blüm, es gehe um Almosen, um kleine Opfer der Arbeitnehmer. Ja, der Kollege Schlaumann hat gesagt, sie müßten auf ein bißchen verzichten. Ich will Ihnen das jetzt noch einmal in wenigen Sätzen vorrechnen. ({2}) Die gesellschaftliche Lohnquote, und zwar die bereinigte Lohnquote, d. h. der Anteil der Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinneneinkommen am gesellschaftlichen Gesamteinkommen, ist von 1982 bis jetzt von damals 77 % auf jetzt 71 % abgesunken. Wenn wir die gleiche Verteilungsquote wie 1982 hätten, hätten heute ein Arbeitnehmer und eine Arbeitnehmerin im Schnitt ca. 420 DM am Monatsende mehr in ihrer Einkommenstüte. Ich will nur darauf hinweisen, daß man über Almosen redet, die man den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern abverlangt, nachdem man in 10 Jahren eine rabiate und radikale gesellschaftliche Umverteilungspolitik zu Lasten der Arbeitnehmerschaft gemacht hat. Daran darf man erinnern. ({3}) Der zweite Punkt: Es geht ja nicht nur um die Lastenverteilung, sondern es geht darum, daß, soweit ich das übersehe, zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik ein Bundesarbeitsminister einen Gesetzentwurf begrüßt, der in den Kernbereich der Tarifautonomie eingreifen und sie schwerstens beschädigen würde, wenn dieses Gesetz verabschiedet würde. ({4}) Die Lohnfindung ist der originäre Teil der Tarifautonomie. Über diesen Gesetzentwurf würden die pauschalen Monatseinkommen von über 70 % aller Beschäftigten schlicht und einfach um einen Betrag in einer erheblichen Größenordnung nach unten abgestuft werden. Das heißt, die vorangegangenen Tarifgespräche würden ad absurdum geführt werden. Sie könnten dann im Ergebnis immer dann, wenn es Rexmann aus anderen Gründen gefallen könnte, erneut hier gesetzlich operieren, um in die Tarifautonomie einzugreifen. Das ist doch der entscheidende Punkt, wo ich nicht begreifen kann, daß ein Bundesarbeitsminister diese massiven Eingriffe in die Kernbestandteile der Tarifautonomie nicht nur in Kauf nimmt, sondern auch noch positiv begrüßt. Das ist absolut nicht mehr nachvollziehbar. ({5}) Wir haben eine ganze Reihe von Bedenken gegen den Pflegeversicherungsentwurf der Koalition in seiner Substanz vorgetragen. Ich will noch ein, zwei Punkte kurz wiederholen, weil sie besonders bemerkenswert sind. Der Gesetzentwurf der Koalition läßt 465 000 Menschen, die derzeit ambulanter Pflegeleistungen bedürfen, aus dem Pflegeversicherungsgesetz herausfallen. Die Leistungen bei ambulanter Pflege sind zu gering und werden dem Vorrang dieser Hilfe, die auch von uns gewollt ist, nicht gerecht. Ich habe jetzt noch eine Minute und will die übrigen Punkte weglassen. Ich nehme an, daß die Nachredner darauf eingehen. Ich will nur noch einen Satz zum Verfahren sagen, weil angemahnt worden ist, in einer parlamentarischen Demokratie müßten der Ausschuß und das Parlament hinreichend Gelegenheit haben, sich mit dem Gesetzentwurf zu befassen. Ich will nur ganz kurz andeuten, daß uns heute vormittag von der Koalition gesagt worden ist, es gebe überhaupt keine Anhörung, es gebe kein Recht der Minderheit auf eine Anhörung zu dem neuen Kompensationsvorschlag. Er ist substantiell aber etwas völlig anderes als der alte Vorschlag der Einführung von Karenztagen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Schreiner, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie langsam zum Schluß kommen würden. ({0}) Ich bin, mit Verlaub gesagt, sehr großzügig gewesen, was die Nichtanrechnung der Redezeit für die Antworten auf die Fragen anbelangt.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Vizepräsident. Dann will ich noch ganz kurz andeuten, daß, wenn die Koalition unter grober Mißachtung der Geschäftsordnung der Opposition ihr Minderheitenrecht auf eine Anhörung nehmen will, dies jedenfalls auf eine quasi diktatorische Inanspruchnahme der eigenen Mehrheit in diesem Parlament hinausläuft. Schönen Dank. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte, Herr Rüttgers.

Dr. Jürgen Rüttgers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001899, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Entschuldigen Sie bitte, Herr Präsident, aber dieser Vorgang scheint mir schwerwiegend zu sein. Es ist, wenn ich es richtig verstanden habe, von dem Herrn, der gerade geredet hat, gesagt worden, daß hier eine quasi diktatorische Inanspruchnahme der Mehrheit in diesem Hause stattfinden würde. Ich halte diesen Vorgang für unglaublich. Ich meine, Herr Präsident, daß er nicht einfach übergangen werden kann und auch entsprechende Konsequenzen seitens des Präsidiums haben muß, die über eine normale Rüge hinausgehen. Ich halte es für unglaublich, was hier gerade passiert ist. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, ich werde diesen Vorfall hier nicht untersuchen. Wir werden uns im Ältestenrat darüber unterhalten. Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Hans-Joachim Fuchtel das Wort.

Hans Joachim Fuchtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000616, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem Herrn Parteivorsitzenden der SPD scheint die Bonner Luft gar nicht gut zu bekommen, denn wenn wir auf seinen Platz sehen, so stellen wir fest, daß er schon wieder verschwunden ist. Ich denke, ihm hätte es ganz gut getan, wenn er hier noch etwas zugehört hätte, denn wir haben aus dieser Debatte etwas gelernt. Wir haben nämlich nach dieser Debatte die Feststellung zu treffen, daß die SPD in keiner Weise eine Kompensation für die Pflegeversicherung anzubieten hat. ({0}) Wenn Herr Scharping vorher gesagt hat: „Erst das Produkt, dann der Preis", dann muß ich sagen: Das Produkt ist doch schon längst auf dem Markt. Wenn er dann keinen Preis nennt, dann ist das eben eine Nullnummer, die er anzubieten hat, und nicht mehr. ({1}) Das muß allen Beteiligten einmal klar werden. Dann sieht man, wer hier konzeptionell Sozialpolitik macht und wer hier destruktiv Sozialpolitik macht. ({2}) Wenn er hier noch rügt, daß wir von den Karenztagen abgegangen sind und jetzt einen anderen Lösungsvorschlag anbieten, so muß ich sagen: Dies zeigt Flexibilität. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der SPD, nur halb so flexibel wären, dann wären wir schon ein ganzes Stück weiter. ({3}) Meine Damen und Herren, Sie können an einer Frage nicht vorbeigehen, nämlich: Können wir verantworten, im Jahr 1993 ein Pflegegesetz ohne Ausgleich der Belastung für die Wirtschaft zu beschließen? Die Antwort heißt nein. Es wäre ein völlig falsches Signal, das wir aussenden würden, wenn wir in der jetzigen Situation ein Gesetz ohne Kompensation beschließen würden. Das hätte man nicht einmal in den 70er Jahren beschließen dürfen. Sie haben auch keines zustande gebracht. ({4}) Meine Damen und Herren, was an dieser Geschichte besonders übel ist, ist, daß Sie von der SPD das alles wissen, aber aus parteitaktischen Gründen dagegenhandeln. In der Haushaltsdebatte werfen Sie uns zuwenig Hilfe für die Beseitigung der Arbeitslosigkeit vor, in der Pflegediskussion tun Sie alles, um mehr Arbeitslosigkeit zu produzieren. ({5}) - Wir tagen heute nacht sowieso schon bis 3 Uhr. Da müssen wir nicht noch durch Zwischenfragen eine Verlängerung der Debattenzeit herbeiführen. Aber um 3 Uhr sind Sie, Herr Büttner, nicht mehr hier. - Meine Damen und Herren, das ist schlichtweg para15202 dox. Sie von der SPD hätten wirklich allen Grund dafür, richtig rot zu werden. Tatsache ist, die Sozialdemokraten wollen ihre Unfähigkeit zum Umbau der sozialen Prioritäten überspielen. Deswegen sind sie gegen alles. Das ist der wahre Grund. Das aber geht dann nicht, wenn man in den Ländern Verantwortung trägt. Darm steht man nämlich vor der Notwendigkeit, doch ein Stück an konstruktiver Politik zu übernehmen. Genau dies tun Sie nicht. Sie ziehen sich ganz billig aus der Affäre. Meine Damen und Herren, Aufgabe der aktuellen Sozialpolitik ist es, die Menschen von der Notwendigkeit des Umbaus der sozialen Prioritäten zu überzeugen, damit den demographischen Entwicklungen der Gesellschaft Rechnung getragen werden kann. Sie tun das Gegenteil. Sie verhindern die Solidarität mit der älteren Generation und steuern damit auf einen Generationenstreit größten Ausmaßes zu. ({6}) Gott hat doch auch Ihnen die Augen vorne angebracht, damit Sie in die Zukunft schauen. Aber Sie machen damit das Gegenteil. Meine Damen und Herren, Sie handeln hier nicht nur gegen die Interessen der älteren Generation, Sie handeln damit auch gegen die Interessen der jüngeren Generation. Diese Politik wird Sie noch schneller einholen als Ihre Versäumnisse in der Asylfrage. ({7}) Die SPD scheint das alles aber nicht zu stören. Ich frage mich, mit welcher Ethik Sie das vor sich selbst rechtfertigen. Das bleibt wohl Ihr Geheimnis. Vielmehr setzen Sie als Freunde einer Politik der Demoskopie darauf, daß niemand etwas hergeben muß, und Sie meinen, es gehe ohne jegliche Einschränkung. Damit möchten Sie Ihre Konzeptionslosigkeit überdecken. Sie möchten dies mit einer Strategie des lachenden Dritten kaschieren: Entweder, so ist Ihre Hoffnung, macht die Union das mit Ihnen und bekommt dann einen kräftigen Hauskrach mit der F.D.P., oder die Gesetzgebung der Koaltion wird schlichtweg verhindert. In diesem Spiel holzen Sie wie niemals zuvor. Aber, meine Damen und Herren, wir sind nicht auf dem Bolzplatz, sondern im deutschen Parlament. Ich habe Sie nochmals aufzufordern: Legen Sie endlich Ihren Vorschlag für die Kompensation vor, damit wir ernsthaft über eine Gesetzgebung verhandeln können! Vielen Dank. ({8})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Petra Bläss das Wort.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist beschämend, daß eine solch sensible Problematik wie die Pflegeabsicherung erst ewig verschleppt und dann mit einem entwürdigenden Hickhack behandelt wird. Das praktizierte Verfahren stellt die parlamentarische Demokratie auf den Kopf. Denn die Mehrzahl der Abgeordneten, auch des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, wird letztlich zum Stimmvieh degradiert. Sie sind z. B. in Anhörungen zum Hausaufgabenmachen zu schon nicht mehr aktuellen Regelungen verdonnert, während im stillen Kämmerlein oder in Urlaubsparadiesen schon an neuen Varianten gestrickt wird bzw. werden sollte. Die dann letztlich geltenden Regelungen werden ohne viel Federlesens parlamentarisch durchgepeitscht. Das kennen wir bereits von anderen Gesetzen. Ich erinnere nur an das Rentenüberleitungsgesetz. Anstatt Anhörungen parlamentarische Höhepunkte sein zu lassen, wo an Prüfsteinen die Tauglichkeit der vorgeschlagenen Varianten gemessen wird, stehen sie derzeit permanent auf der Tagesordnung. Momentan wird sehr hektisch und fast olympiaverdächtig daran gebastelt, einen Termin in der nächsten Woche für eine Anhörung der neuen Koalitionsvorschläge zu finden. Selbst die immer wieder anreisenden Sachverständigen können diese Verfahrensweise wohl kaum mehr ernst nehmen. Noch zwei Anmerkungen zu den Anhörungen: Ostdeutsche Vereine und Verbände direkt Betroffener werden meist erst nach unserer Intervention zugelassen. Und es ist schon makaber, wenn bei einer öffentlichen Anhörung zur Pflegeabsicherung nicht einmal Bedingungen dafür gegeben sind, daran mit Rollstühlen teilnehmen zu können. ({0}) Meines Erachtens ging es doch in sämtlichen Anhörungen um die zentrale Frage: Was ist alles für eine bedarfsgerechte Pflege hinsichtlich des betroffenen Personenkreises, des Leistungsumfangs und der Absicherung der Pflegekräfte notwendig, und wie ist das solidarisch zu finanzieren? Darauf waren die vorgelegten Gesetzentwürfe zur Pflegeabsicherung zu überprüfen. Bei dieser Meßlatte ist der Koalitionsentwurf in jeder Hinsicht durchgefallen. Das konnten wir am vergangenen Donnerstag und Freitag ja erleben, denn weder für Pflegebedürftige noch für Pflegende bietet er einen wirklich emanzipatorischen Pflegeansatz, ganz zu schweigen von Ihren unsäglichen Kompensationsvorschlägen. ({1}) - Ich denke, diese Frage aus Ihren Reihen ist typisch, weil in diesem Hause leider nicht von einem wirklich emanzipatorischen Pflegeansatz ausgegangen wird. Was die Höhe der Sozialausgaben in diesem Lande betrifft, so konnten wir gestern in der Anhörung zum SKWPG zu den Sozialkürzungen vom DIW vernehmen, daß der Standort Deutschland wirklich nicht in Gefahr ist, was die Höhe der Sozialausgaben betrifft. Zur unsäglichen Mißbrauchsdebatte nur die kurze Anmerkung: Sie hat weder Hand noch Fuß; das haben die letzten Anhörungen erneut gezeigt. Trotzdem wird daran festgehalten, einfach um die Leute in diesem Lande nach wie vor zu verunsichern und zu entsolidarisieren. Zu der Behauptung, es sei kein Geld da, möchte ich das Argument wiederholen, das der Bund der SteuerPetra Bläss zahler bringt: In diesem Lande werden jährlich Steuern in Höhe von 130 Milliarden DM hinterzogen. Nur 10 % würden ausreichen, um Ihren Vorschlag zur ersten Runde einer Pflegeabsicherung finanzieren zu können. Das derzeitige Hickhack um Karenztage, Feiertage und Urlaubskürzung verdeckt, um was es eigentlich geht: um den Einstieg in den Ausstieg aus dem Sozialstaat. Jede Art von Kompensation belastet allein die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Der derzeit vorliegende Vorschlag der Lohnkürzung an zehn Feiertagen bzw. des Verzichts auf zwei Urlaubstage entlastet die Arbeitgeber noch mehr als das Karenztagemodell. Die Arbeitgeber machen dabei sogar ein Plus, denn sie wirtschaften genau das Geld in ihre Taschen, das auf der anderen Seite gebraucht würde. Dies alles vergißt, um wen es in dieser Frage eigentlich geht, nämlich um die Verbesserung der Lage derer, die der Pflege und der Hilfe bedürfen, und derer, die aufopferungsvoll diese Arbeit leisten, um Menschen also, um deren Schicksal in der Bundesrepublik schon seit mittlerweile 20 Jahren gepokert wird. Ich danke. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Damit ist der Zusatzpunkt, der als Aktuelle Stunde begann und als normale Debatte endete, beendet. Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 21 a bis k auf: Überweisungen im vereinfachtenVerfahren a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Fortführung von Unterstützungen der Bürger der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik bei Gesundheitsschäden infolge medizinischer Maßnahmen ({0}) - Drucksache 12/4874 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({1}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes - Drucksache 12/4875 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr ({2}) Rechtsausschuß Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften über den Jahresabschluß und den konsolidierten Abschluß von Versicherungsunternehmen ({3}) - Drucksache 12/5587 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({4}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank - Drucksachel2/5169 Überweisung svorschlag: Finanzausschuß ({5}) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen des Übereinkommens vom 24. Mai 1983 zur Gründung einer europäischen Organisation für die Nutzung von meteorologischen Satelliten ({6}) - Drucksache 12/5277 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr ({7}) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Post und Telekommunikation Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zeiten Zusatzprotokoll vom 17. November 1992 zum Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Förderativen Republik Brasilien über den Seeverkehr - Drucksache 12/5447 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr ({8}) Auswärtiger Ausschuß g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Änderungsprotokoll vom 6. Februar 1992 zu dem Europäischen Übereinkommen zum Schutz von Tieren in landwirtschaftlichen Tierhaltungen - Drucksache 12/5469 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({9}) Ausschuß für Gesundheit h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1993 ({10}) - Drucksache 12/5472 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({11}) Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg i) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anderung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes, des Wohnungsbindungsgesetzes und anderer wohnungsrechtlicher Vorschriften ({12}) - Drucksache 12/5473 - Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ingomar Hauchler, Joachim Poß, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Abschaffung der steuerlichen Absetzbarkeit von Bestechungs- und Schmiergeldern - Drucksache 12/4104 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({13}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Wallow, Dr. Ingomar Hauchler, Dieter Heistermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Vorlage eines Gesetzes für die Gründung eines deutschen Umwelt- und Katastrophenhilfswerkes ({14}) - Drucksache 12/5045 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({15}) Innenausschuß Verteidigungsausschuß Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Haushaltsausschuß Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Beim Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/5045 zum Deutschen Hilfskorps - das ist Tagesordnungspunkt 21 k - soll die Federführung jedoch beim Auswärtigen Ausschuß liegen. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 a bis n sowie den Zusatzpunkt 4 a bis c auf: 22. Abschließende Beratungen ohne Aussprache a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung pflanzenschutzrechtlicher und saatgutrechtlicher Vorschriften - Drucksache 12/4990 - ({16}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({17}) - Drucksache 12/5730 - Berichterstattung: Abgeordnete Gudrun Weyel b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 28. Juli 1992 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Litauen über die Seeschiffahrt - Drucksache 12/4690 ({18}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr ({19}) - Drucksache 12/5605 - Berichterstattung: Abgeordneter Carl Ewen c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 23. Juli 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Dominikanischen Republik über den Luftverkehr - Drucksache 12/4571 ({20}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr ({21}) - Drucksache 12/5604 - Berichterstattung: Abgeordneter Lothar Ibrügger d) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 22. April 1992 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Albanien über den zivilen Luftverkehr - Drucksache 12/4472 ({22}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr ({23}) - Drucksache 12/5615 - Berichterstattung: Abgeordneter Lothar Ibrügger e) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({24}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Einwilligung in eine weitere überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 12 Titel 616 31 - Zuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit - Drucksachen 12/5091, 12/5348 - Berichterstattung: Abgeordnete Karl Diller Dr. Gero Pfennig Ina Albowitz f) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({25}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 23 02 Titel 686 23 ({26}) - Drucksachen 12/4944, 12/5349 -

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Abgeordnete Helmut Esters Dr. Christian Neuling Werner Zywietz g) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Außerplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 06 02 - Allgemeine Bewilligungen - ({1}) Titel 686 11- Förderung der internationalen Zusammenarbeit in Asylangelegenheiten - Drucksachen 12/5109, 12/5350 - Berichterstattung: Abgeordnete Karl Deres Ina Albowitz Rudolf Purps h) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({2}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Unterrichtung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung über die Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft in Meiningen, ehemalige Stadtkaserne - Drucksachen 12/5096, 12/5351 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Nils Diederich ({3}) Adolf Roth ({4}) Werner Zywietz i) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerald Thalheim, Brigitte Adler, Ernst Kastning, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Entschädigung von Besitzern ehemaliger „Kreispachtbetriebe" - Drucksachen 12/4574, 12/5352 - Berichterstattung: Abgeordnete Bartholomäus Kalb Dr. Siegrid Hoth Ernst Kastning j) Beratung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses ({6}) Übersicht 10 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - Drucksache 12/5353 - Berichterstattung: Abgeordneter Horst Eylmann k) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({7}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Die Griechischen Inseln des Ägäischen Meeres; - Abschlußbericht der Kommission - Vorschlag für eine Verordnung ({8}) des Rates über Sondermaßnahmen für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse zugunsten der kleineren Inseln des Ägäischen Meeres - Drucksachen 12/4555 Nr. 2.11, 12/5417 - Berichterstattung: Abgeordneter Egon Susset 1) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({9}) zu der dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 6/93 - Drucksache 12/5573 - Berichterstattung: Abgeordneter Horst Eylmann m) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({10}) Sammelübersicht 113 zu Petitionen - Drucksache 12/5643 - n) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({11}) Sammelübersicht 114 zu Petitionen - Drucksache 12/5644 - ZP4 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und F.D.P. Bericht über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksache 12/5713 - b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({12}) zu der Verordnung der Bundesregierung Zweiundzwanzigste Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes ({13}) - Drucksachen 12/5424, 12/5718 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Peter Paziorek Dietmar Schütz Dr. Jürgen Starnick c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({14}) zu der Verordnung der Bundesregierung Aufhebbare Achtundzwanzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 12/5207, 12/5727 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Elke Leonhard-Schmid Wir kommen zunächst zu Tagesordnungspunkt 22 a: Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung pflanzenschutzrechtlicher und saatgutrechtlicher Vorschriften; es handelt sich um die Drucksachen 12/4990 und 12/5730. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Ich wäre dankbar, wenn sich alle an der Abstimmung beteiligten. - Wer stimmt dagegen? 15206 Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die den Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Darf ich das Stehen der Abgeordneten Schreiner und Büttner als Zustimmung werten? - Ja. Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 22 b: Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Vertragsgesetzentwurf zum Abkommen mit dei Republik Litauen über die Seeschiffahrt. Der Gesetzentwurf liegt Ihnen auf Drucksache 12/4690 vor. Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 12/5605, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwuri zuzustimmen wünschen, sich zu erheben. - Wei stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen. Da es sich um ein Vertragsgesetz handelt, findet nur die zweite Lesung statt. Tagesordnungspunkt 22 c: Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Vertragsgesetzentwurf zum Abkommen mit der Dominikanischen Republik über den Luftverkehr. Er liegt Ihnen auf Drucksache 12/4571 vor. Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 12/5604, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Diejenigen, die diesen Gesetzentwurf in unveränderter Fassung anzunehmen wünschen, bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist dieser Gesetzentwurf angenommen. Tagesordnungspunkt 22d: Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Vertragsgesetzentwurf zum Abkommen mit der Republik Albanien über den zivilen Luftverkehr. Er liegt Ihnen auf Drucksache 12/4472 vor. Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 12/5615, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die diesem Vorschlag folgen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Keine. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen. Tagesordnungspunkt 22 e bis 22 g: Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu über- und außerplanmäßigen Ausgaben. Es handelt sich um den Zuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit, um die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland am Welternährungsprogramm und um die Förderung der internationalen Zusammenarbeit in Asylangelegenheiten. Die Beschlußempfehlungen liegen Ihnen auf den Drucksachen 12/5348, 12/5349 und 12/5350 vor. Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über die drei Beschlußempfehlungen gemeinsam abstimmen. ({15}) Getrennte Abstimmung? - Dann müssen wir getrennt abstimmen. Zunächst stimmen wir über die Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/5348 ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen. Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/5349 ab. Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen. Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/5350 ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Diese Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS/ Linke Liste angenommen. Tagesordnungspunkt 22h: Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zur Veräußerung einer bundeseigenen Liegenschaft in Meiningen. Sie liegt Ihnen auf der Drucksache 12/5351 vor. Die Kollegin Barbara Höll hat gebeten, eine Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung abgeben zu dürfen. Frau Abgeordnete, Sie haben das Wort.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte eine persönliche Erklärung zu meinem Abstimmungsverhalten bei diesem Punkt geben. Ich werde die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ablehnen und möchte das etwas ausführlicher begründen. § 64 der Bundeshaushaltsordnung schreibt vor, daß Grundstücke, die erheblichen Wert oder besondere Bedeutung haben und deren Verkauf nicht im Haushaltsplan vorgesehen ist, nur mit Einwilligung des Bundestages und des Bundesrates veräußert werden dürfen, soweit nicht aus zwingenden Gründen eine Ausnahme hiervon geboten ist. An die Deutsche Bundesbank hat der Bund eine 6 000 qm große Teilfläche eines durch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten über Nacht zur bundeseigenen Liegenschaft gewordenen Grundstücks in zentraler Geschäftslage in Meiningen verkauft. Der Deutsche Bundestag kann diesen Ausverkauf bundeseigenen Grundvermögens heute lediglich zur Kenntnis nehmen, da der Bundesfinanzminister auf Grund einer von ihm behaupteten besonderen Eilbedürftigkeit die Ausnahmemöglichkeit in Anspruch nahm, die die Bundeshaushaltsordnung zuläßt. Der Bundesfinanzminister hat diese Eilbedürftigkeit jedoch nicht belegt. Auch der Beschlußfassung im Haushaltsausschuß am 30. Juni 1993, an der der Vertreter der PDS/Linke Liste nicht teilnehmen konnte, hatte lediglich das von mir erwähnte Schreiben zugrunde gelegen. Ich erkläre ausdrücklich, daß ich sowohl den Verkauf von Teilflächen des Grundstücks an das Land Thüringen als auch an die Stadt Meiningen billige und zustimmend zur Kenntnis nehme. Ich protestiere jedoch gegen die nun zum wiederholten Male von der Bundesregierung geschaffenen vollendeten Tatsachen. Ich erinnere den Bundestag an den von ihm im Juni 1993 gegen die Stimmen der PDS/Linke Liste gebilligten Verkauf eines bundeseigenen Grundstücks an die Flughafen Frankfurt AG. Auf dem Grundstück hatte sich bereits ein Gebäude im Rohbau befunden, obwohl der Bundestag dem Kaufvertrag von Januar 1993 noch zustimmen mußte. Ich betone, daß ich sowohl den Verkauf einer Teilfläche an die Bundesbank mißbillige als auch die vom Bundesfinanzminister in Anspruch genommene Ausnahmemöglichkeit bestreite. Die Bundesregierung stellt auf diese Art und Weise das Parlament nicht zum ersten Mal vor vollendete Tatsachen. Statt die Einwilligung des Bundestages einzuholen und der Opposition angesichts der außer Zweifel stehenden Mehrheitsverhältnisse wenigstens die Illusion parlamentarischer Kontrollmöglichkeiten zu lassen, degradiert die Bundesregierung die Abgeordneten zu Marionetten. Ich danke Ihnen. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Drucksache 12/5351. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS/Linke Liste angenommen. Tagesordnungspunkt 22i: Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Entschädigung von Besitzern ehemaliger „Kreispachtbetriebe", Drucksachen 12/4574 und 12/5352. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Empfehlung des Ausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen. Tagesordnungspunkt 22j: Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht auf der Drucksache 12/5353. Das ist die Übersicht 10. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 22k: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Abschlußbericht und dem Verordnungsvorschlag der EG bezüglich landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Sie liegt Ihnen auf der Drucksache 12/5417 vor. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 221: Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu einer Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht auf der Drucksache 12/5573. Es handelt sich um ein Organstreitverfahren bezüglich der Mitwirkungsmöglichkeiten eines fraktionslosen Abgeordneten im Bereich der Europapolitik. Der Ausschuß empfiehlt, eine Stellungnahme abzugeben und einen Prozeßbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 22 m und n: Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 12/5643 und 12/5644. Das sind die Sammelübersichten 113 und 114. Wer stimmt diesen Beschlußempfehlungen zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlungen sind bei Enthaltungen der PDS/Linke Liste angenommen. Zusatzpunkt 4 a: Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und F.D.P. zu einem Bericht über die Lage der Ausländer. Er liegt Ihnen auf der Drucksache 12/5713 vor. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 4 b: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes auf der Drucksache 12/5718. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 4 c: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung, Drucksachen 12/5207 und 12/5727. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS/ Linke Liste angenommen. Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 7a bis d auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vermeidung von Rückständen, Verwertung von Sekundärrohstoffen und Entsorgung von Abfällen - Drucksache 12/5672 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion Caspers-Merk, Dr. Liesel Hartenstein, Michael Müller ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Novellierung der Verpackungsverordnung - Drucksache 12/5242 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten an Klaus Lennartz, Harald B. Schäfer ({4}), Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kennzeichnung von Kunststoffen - Drucksachen 12/2502, 12/4793 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Harald Kahl Klaus Lennartz Birgit Homburger Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5}) zu dem Entschließungsantrag der Gruppe der PDS/Linke Liste zur Großen Anfrage der Abgeordneten Jutta Braband, Dr. Fritz Schumann ({6}) und der Gruppe der PDS/Linke Liste Auswirkungen auf die Abfallentsorgung durch die Einführung des „Dualen Systems Deutschland" ({7}) - Drucksachen 12/2027, 12/2682, 12/3469, 12/5370 Berichterstattung: Abgeordnete Steffen Kampeter Birgit Homburger Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist es so beschlossen. Ich erteile dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit das Wort. Herr Minister, bitte.

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nur selten hat ein Entwurf eines Umweltgesetzes der Bundesregierung schon vor der parlamentarischen Beratung die Gemüter derartig bewegt wie das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz, das wir hier heute erörtern. Ich meine, daß diese engagierte Debatte den Dimensionen des Problems, der enormen umweit- und wirtschaftspolitischen Brisanz des Themas auch durchaus angemessen ist. Dies hat bereits die Beratung im Bundesrat gezeigt, und so freue ich mich auf die Diskussion dieses Gesetzentwurfs in den Ausschüssen dieses Hohen Hauses. Ich hoffe, daß wir alle, wie ich auch, offen für konstruktive Anregungen und Ergänzungen sind. Die Wertungen, die dieser Gesetzentwurf bisher erfahren hat, sind oft drastisch und diametral entgegengesetzt. Von den einen wird der Einstieg in eine „Öko-Planwirtschaft" heraufbeschworen. Andere sehen darin einen Kniefall vor der Industrie. Ich meine, solche Pauschalurteile vernebeln mehr, als daß sie zu Lösungen führen. Für den so dringend notwendigen gesellschaftlichen Konsens in dieser zentralen Frage der Umwelt- und Wirtschaftspolitik muß, wie ich meine, eine ehrliche Bestandsaufnahme die Grundlage sein. Dazu zählt, daß wir mit dem Übergang von der Abfall- zur Kreislaufwirtschaft die Art des Produzierens und Konsumierens in einer modernen Industriegesellschaft wirklich auf den Prüfstand stellen. ({0}) Wie können wir, so muß gefragt werden, erreichen, daß bei der Produktion abfallarme Verfahren und wiederverwertbare Produkte zum Zuge kommen, daß bei Produktion und Konsum die Stoffkreisläufe geschlossen werden, ohne die Wirtschaft mit einem Netz von Paragraphen zu ersticken? ({1}) Wie, so muß gefragt werden, können wir die Eigeninitiative, die Eigenverantwortung und die Innovationskraft zur Abfallvermeidung stärken und dennoch durch klare gesetzliche Vorgaben eine umweltverträgliche Produktion und Entsorgung gewährleisten? Der Wirtschaftsstandort Deutschland - gegenwärtig zu Recht wieder intensiv diskutiert - braucht in der gegenwärtigen Zeit für ein langfristiges, umweltverträgliches Wachstum die Freisetzung innovativer und unternehmerischer Entscheidungskraft ebenso wie die frühzeitige Einbindung des Umweltschutzes in Produktion und Konsum. Wir können diese Herausforderung, wie ich meine, in einem Satz zusammenfassen: Es gilt, mit möglichst wenig staatlicher Reglementierung ein Optimum an abfallarmer Produktion und abfallarmem Konsum zu gewährleisten. Ich glaube, daß dieser Gesetzentwurf wirklich ernst macht. Er ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer auch ökologischen und sozialen Marktwirtschaft. ({2}) Welche Eckpunkte haben wir? Erstens. Die Grundphilosophie lautet: vom Abfall her denken - in Produktion und im Verbrauch. Wie wollen wir diesen Leitsatz umsetzen? Zunächst stellt der Gesetzentwurf klar und eindeutig die Verantwortlichkeit fest. Wer Güter, wer Produkte herstellt, ist für die Vermeidung und umweltverträgliche Verwertung der dabei entstehenden Rückstände verantwortlich. ({3}) Ich glaube, genau das muß man immer und immer wieder unterstreichen. Es geht um die Produktverantwortung. Die alte Rollenverteilung, daß die Wirtschaft produziert und die Gemeinden und die Kreise auf Kosten der Allgemeinheit die dabei entstehenden Abfälle entsorgen, wird damit abgelöst; ich glaube: zu Recht. Die Grundphilosophie des Gesetzentwurfs ist daher die Anforderung an die Wirtschaft und die privaten Verbraucher, in ihren Entscheidungen frühzeitig vom Abfall her zu denken. Das heißt: In Entscheidungen über Produktion und Konsum müssen wir nicht nur den Nutzen und die Tauglichkeit eines Produkts einbeziehen, sondern entscheidend auch die Frage, was mit diesem Produkt nach Ende seines Lebenszyklus zu geschehen hat. In der Vergangenheit ist diese Frage kaum Gegenstand ökonomischer Entscheidungen gewesen. Die Folge - sehr naheliegend - war: Die Wirtschaft hat sich immer stärker um Design, um Produktsicherheit und um Preiswürdigkeit gekümmert - sicher ganz wichtige Dinge -, aber für das Schicksal der Produkte nach dem Gebrauch ist die Verantwortung eben nicht übernommen worden. Der Weg in die WegwerfgesellBundesminister Dr. Klaus Töpfer schaft war damit vorgezeichnet. Ein Kreislauf fand nicht statt. Der vorliegende Gesetzentwurf setzt das Verursacherprinzip im Abfallbereich konsequent um. Die Kosten der Abfallentsorgung müssen in die Preise der Erzeugnisse einbezogen werden; denn dann können wir das Ziel erreichen, daß aus dem Eigeninteresse von Produzenten Abfallvermeidung, Abfallverminderung und Wiederverwertbarkeit zu einem grundlegenden Prinzip werden. Zweitens zum Rückstandsbegriff: Eine verursacherbezogene Vermeidungsstrategie darf nicht erst bei bereits entstandenen Abfällen ansetzen. Die abfallrechtliche Verantwortung ist so weit wie irgend möglich nach vorne zu verlagern. Sie muß bereits am Entstehen der Abfälle ansetzen. Wir tun dies mit diesem Gesetzentwurf, indem wir bereits Rückstände aus der Produktion und dem Konsum in das Gesetz einbeziehen. Hiermit erfassen wir also auch Bereiche, die bisher nicht Abfall im Sinne des Abfallgesetzes waren. Zentraler Inhalt des Gesetzentwurfs sind klare Vorgaben zur umweltverträglichen Vermeidung und Verwertung von Rückständen aus Produktion und Konsum. Soweit Rückstände verwertbar sind, werden sie als Sekundärrohstoffe bezeichnet, und der Produzent hat die Pflicht, sie zu verwerten. Erst wenn Rückstände nicht mehr verwertet werden können, sind sie als Abfälle umweltverträglich zu entsorgen. Das ist der Ablauf in diesem Gesetz. Drittens zum EG-Abfallbegriff - auch heißdiskutiert, da wir das europäische Recht auch umsetzen: Mit dem Zentralbegriff des Rückstands, wie gerade gekennzeichnet, setzt das Gesetz die EG-Abfallrichtlinie in vollem Umfang um. Wir verhindern damit, daß sich an der Grenze Abfälle plötzlich in sogenannte Wertstoffe verwandeln oder umgekehrt - eine Tatsache, die uns in der Vergangenheit wirklich sehr viel Ärger gemacht hat. Ich werde nicht müde, diese wirklich mafiösen Verhältnisse des Verschiebens von Abfällen auch an dieser Stelle zu geißeln ({4}) und um allgemeine Mithilfe zur Überwindung dieser Dinge zu bitten. Viertens: der Aufbau der Grundpflichten im Gesetz. Dem Entwurf liegt eine strenge Hierarchie der Pflichten zugrunde. Im Sinne einer abfallarmen Kreislaufwirtschaft sind in den im Gesetz genannten Fällen Rückstände vorrangig zu vermeiden. Ist die Vermeidung nicht möglich, sind Rückstände zu verwerten. Wenn auch dies nicht möglich ist, folgt schließlich die dritte Stufe, die Pflicht zur umweltverträglichen Entsorgung. Lassen Sie mich zu diesen Teilbereichen einige kurze Anmerkungen machen, zunächst zur Vermeidungspflicht: Hier sind in der Vergangenheit schon wichtige Bausteine geschaffen worden. Der wichtigste Baustein ist ganz sicherlich die bereits im Bundes-Immissionsschutzgesetz verankerte Pflicht zur Vermeidung und Verwertung von Reststoffen, was bereits bei der Genehmigung einer Anlage nachzuweisen ist. Diese Klärung ist also wirklich weit nach vorne verlagert. Ich gebe gerne zu, daß diese Regelung im Bundes-Immissionsschutzgesetz von vielen in den Ländern bisher leider nicht oder nicht hinreichend genutzt werden konnte. Auf dieser Pflicht baut der Gesetzentwurf auf und erweitert den Ansatz in alle Bereiche der Produktion und des Verbrauchs. Beispielhaft ist die Kreislaufführung von Einsatzstoffen. Ziel bleibt, Energie und Rohstoffe zu schonen und Umweltbelastungen an der Quelle zu vermeiden. Fünftens: der Grundsatz der Produktverantwortung. Kernpunkt der Vermeidungspflicht sind die Regelungen zur Produktverantwortung. Zu Recht sprechen wir, wie ich meine, von einer neuen Produktverantwortung. Nach diesem Grundsatz sind insbesondere rückstandsarme Produkte zu entwickeln und in Verkehr zu bringen. Soweit möglich, sind sie so herzustellen, daß sie mehrfach verwendet und umweltverträglich verwertet werden können. Diese Produkte und diese Produkttechniken - auch das sollte man immer wieder unterstreichen -, also die abfallarmen, die energiesparenden, die reparaturfähigen Produkte und Produktionstechniken, werden wir in Zukunft auf dem Weltmarkt sehen. Wer dies jetzt durch entsprechende Anforderungen provoziert, wird den Wirtschaftsstandort Deutschland auf Sicht weiterentwickeln können. Dabei ist uns natürlich klar: Wir können und wir wollen nicht durch Gesetz für viele tausend Produkte detaillierte Vorgaben machen. Dies wäre eine Überreglementierung, die dem Ziel einer ökologischen Marktwirtschaft gerade entgegenwirken würde und die Verantwortung wieder zurückverlagern würde. ({5}) Wir wollen die Dynamik in der Produktverantwortung und nicht im Gesetz geregelt sehen. Deshalb liegt dem Gesetzentwurf eine Doppelstrategie zugrunde. Wo für Massenprodukte und Erzeugnisse mit umweltgefährlichen Inhaltsstoffen durch klare Vorgaben die mehrfache Verwendung und umweltverträgliche Verwertung sinnvoll ist, werden wir die Produktverantwortung auch durch Rechtsverordnungen konkretisieren. Soweit dies nicht möglich ist, bildet die Produktverantwortung eine Leitlinie für Innovationen der Wirtschaft. Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal unterstreichen: Ich werde auch weiterhin im Zentrum auf Rücknahmepflichten von Erzeugnissen setzen. Wie bereits die bisher erlassenen Verordnungen gezeigt haben, geht von derartigen Rücknahmeverpflichtungen ein sehr starker Vermeidungsdruck aus. Immer und immer wieder ist zu unterstreichen, daß wir mit der Verpackungsverordnung zum erstenmal den Gipfelpunkt der Müllberge überschritten haben: Es gibt 500 000 t Abfälle weniger, weil es auch weniger Verpackungen gibt. Das ist das Entscheidende. ({6}) Gestatten Sie mir nun einige Hinweise auf die Verwertungspflicht, über die ja ebenfalls heiß diskutiert wird. Zwar wird kein Thema in abfallpolitischen Sonntagsreden so oft beschworen wie die Rückstands15210 vermeidungspflicht bei Produktion und Verbrauch, aber die Möglichkeit der Rückstandsvermeidung hat ganz sicher ihre Grenzen. Können deswegen Rückstände auf Grund des Fehlens technischer Möglichkeiten oder wegen wirtschaftlicher Unzumutbarkeit nicht vermieden werden, sind die entstandenen Rückstände als Sekundärrohstoffe umweltverträglich zu verwerten. Dabei, meine Damen und Herren, soll nach dem Gesetzentwurf die stoffliche Verwertung in der Regel Vorrang vor der energetischen Verwertung haben. Dies kann aber - lassen Sie mich das deutlich sagen - nur gelten, soweit nicht die energetische Verwertung die umweltverträglichere Alternative darstellt. ({7}) Diese wichtige Regelung des Gesetzentwurfes hat mir recht massive Kritik und Vorhaltungen auch von Teilen der Wirtschaft eingetragen, die ich natürlich sehr ernst nehme. Aber lassen Sie mich auf folgendes hinweisen: Mit den weltweit höchsten Anforderungen etwa an die Verbrennungstechnik, die wir in Deutschland rechtlich festgeschrieben haben, ist offenbar inzwischen ein Prozeß des Umdenkens oder des Weiterdenkens eingetreten. Ich freue mich darüber, daß Länderkollegen wie etwa Jo Leinen im Saarland, Fritz Vahrenholt in Hamburg und Klaus Matthiesen in Nordrhein-Westfalen sehr klar dort für die energetische Verwertung von Abfällen eintreten, wo eine stoffliche Verwertung ökologisch nicht sinnvoller ist. Ich finde mich also, glaube ich, über die Parteigrenzen hinweg darin wieder, und das ist für die Umweltpolitiker, wie ich meine, ein gutes und wichtiges Ziel. ({8}) Lassen Sie mich an dieser Stelle dazu noch sagen, weil ich mich heute wirklich auf das Gesetz konzentriere - ich halte es für eines der wichtigsten, die wir überhaupt in dieser Legislaturperiode machen -: Ich habe stets betont, daß ich nicht auf Grund des Vorrangs der stofflichen Verwertung zu einer Verwertung um der Verwertung willen kommen darf. Dies wäre Ideologie und nicht wirksamer Umweltschutz. ({9}) - Wir haben doch über die ganze Prioritätsreihenfolge gesprochen und ich habe die Vermeidung genannt. Ich will es wiederholen: Durch die Verpakkungsverordnung z. B. haben wir 500 000 t Verpakkungsmaterial vermieden. Diese sind vom Bürger gar nicht erst zu bezahlen gewesen; das ist auch eine wichtige Angelegenheit. Ich danke also herzlich, Frau Kollegin, für den Zwischenruf, der es mir ermöglicht hat, das noch einmal zu unterstreichen. Ich sage jetzt etwas ganz Einfaches, das vielleicht deshalb immer wiederholt werden muß: Die jeweils umweltverträglichere Verwertungsart muß den Vorrang haben. Die dogmatische Diskussion über den Vorrang der stofflichen oder der energetischen Verwertung führt im allgemeinen ins Abseits. Ich möchte konkrete umweltverträgliche Problemlösungen. Das ist der entscheidende Punkt. ({10}) Genauso deutlich sage ich allerdings auch, daß es keinen Durchmarsch in die Verbrennung von Abfällen geben kann und geben wird. ({11}) Energetische Verwertung unterscheidet sich nach diesem Gesetzentwurf von Verbrennung, um auch das klar zu sagen. Wir wollen hier Energie gewinnen, und ich muß ganz deutlich sagen: Ich kann es nicht verstehen, wenn wir diese Differenzierung nicht auch in diesem Hause eindeutig klarmachen können. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend -

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich kann Ihnen nach Art. 43 Abs. 2 des Grundgesetzes nicht das Wort entziehen, aber Sie reden jetzt auf Kosten der Redezeit Ihrer Fraktion.

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Ich komme deswegen, meine Damen und Herren, zum Schluß, wobei ich bei demjenigen um Verständnis bitte, dem ich eine Minute abgezwackt habe. Ich bin der Überzeugung, daß wir die private Entsorgung ebenfalls weiter vorantreiben müssen. Ich vertraue nach wie vor darauf - wir haben das Gesetz entsprechend qualifiziert -, daß wir die staatliche Verantwortung beibehalten. Ich hoffe sehr, daß dieses Grundlagengesetz für einen Einstieg in eine ökologische und soziale Marktwirtschaft trotz aller Detaildiskussionen und trotz aller Kritik auch in diesem Hause Zustimmung finden wird. Ich danke Ihnen sehr herzlich. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren! Mir liegt nun auszugsweise das Protokoll der Debatte, die sich aus der Aktuellen Stunde ergeben hat, vor. Nachdem ich das Protokoll gelesen habe, muß ich dem Abgeordneten Schreiner einen Ordnungsruf erteilen, ({0}) weil er der Mehrheit im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung vorgeworfen hat, mit quasi diktatorischen Methoden zu arbeiten. ({1}) Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Dr. Liesel Hartenstein das Wort.

Dr. Liesel Hartenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000815, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Die Abfallwirtschaft ist zu einem zentralen Handlungsfeld der Umweltpolitik geworden und an einem entscheidenden Punkt angekommen." Was ich eben zitiert habe, ist ein wahrer Satz. Dieser Satz steht in der Einleitung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, und er weckt Erwartungen. Man denkt unwillkürlich: Jetzt kommt die Schlußfolgerung daraus. Aber leider werden die Erwartungen nicht erfüllt, Herr Minister! Wer den Gesetzentwurf aufmerksam studiert, wird bitter enttäuscht sein; denn er greift viel zu kurz. Die Bundesregierung gibt zwar vor, ein Kreislaufwirtschaftsgesetz vorzulegen, sie rühmt sich, den Schritt zur Produktverantwortung des Herstellers zu tun; nur findet beides leider nicht statt. Ich sage ausdrücklich: leider. Es steht höchstens auf dem Papier. Der Bundesumweltminister kommt mir fast vor wie ein Autofahrer, der den Motor hochjagt, aber dann nicht startet. Sie, Herr Töpfer, haben offensichtlich wieder den Fuß vom Gaspedal nehmen müssen, ({0}) nachdem die Wirtschaftsverbände massiv beim Bundeskanzler interveniert und Sie gewissermaßen als Störenfried verklagt haben. Schade, denn der Blinker war letztes Jahr in die richtige Richtung gestellt. Meine Damen und Herren, in einer Zeit, in der das Wort vom Müllnotstand zu Recht die Runde macht, in der man weiß, daß die Kapazität von 60 % der in den alten Ländern noch betriebenen Deponien ab Mitte der 90er Jahre erschöpft sein wird, in der sich der Wohlstandsmüll auch in den neuen Ländern zu Bergen häuft, in der alle Welt davon redet - und übrigens auch Sie davon reden; das freut uns ja -, daß wir den Einstieg in eine ökologisch und sozial verträgliche Marktwirtschaft schaffen müssen, in einer solchen Zeit ist Ihr Gesetzentwurf beinahe schon ein Anachronismus; denn er setzt immer noch am Ende der Röhre an, nämlich dann, wenn der Abfall schon entstanden ist. Ich will vier kardinale Schwachstellen benennen: Erstens. Der Vermeidungsgrundsatz ist auf der Strecke geblieben. Notwendig ist eine klare Zielhierarchie: Abfallvermeidung vor -verwertung, vor -behandlung und -beseitigung. ({1}) Sie haben es im Abfallgesetz von 1986 nicht geschafft, die Abfallvermeidung an die erste Stelle zu rücken; Sie verpassen offensichtlich diese Chance auch heute wieder. Das ist unverzeihlich, und das kann so nicht akzeptiert werden. ({2}) Herr Minister, was soll die trickreiche Wortakrobatik in § 4? Hören Sie bitte zu, Herr Kampeter. Da steht: „Die Vermeidung von Rückständen durch ihre Einbindung in Erzeugnisse oder ihre Verwertung als Sekundärrohstoff hat ordnungsgemäß und schadlos zu erfolgen. " Hier wird stillschweigend Vermeidung mit Verwertung gleichgesetzt. Das ist nicht in Ordnung, und das las sich übrigens im Entwurf des Bundesumweltministers von Juni 1992 noch ganz anders. ({3}) Da hatte die Vermeidung eine klare Priorität. Warum jetzt dieser Schwenk? Die Antwort wurde schon gegeben. Vermeidung soll also jetzt durch Fabrikation von Hunderttausenden von Parkbänken aus Abfällen erfolgen. Das kann doch wohl nicht wahr sein! Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, Abfallvermeidung ist das Nichtentstehen von Abfällen! ({4}) Hier ist der Dreh- und Angelpunkt einer neuen Abfallpolitik. Der beste Abfall ist der, der gar nicht erst entsteht. Der Gesetzentwurf spricht da leider eine andere Sprache. Für die echte Abfallvermeidung müssen die Weichen gestellt werden, auch in Form ökonomischer Anreize, z. B. durch Steuer- und Abgabenlösungen. Davon sagt der Gesetzentwurf kein Wort. Zweiter Punkt: Produktverantwortung. Die Grundidee ist richtig. Wir befürworten sie. Aber es besteht die Gefahr, daß dies eine leere Worthülse bleibt. Denn mit einer vagen Beschreibung der Grundsätze und mit einem halben Dutzend von Verordnungsermächtigungen ist eine Trendwende zu einem Öko-Design nicht zu erreichen, ({5}) auch nicht mit bloßen Rücknahme- und Rückgabepflichten. Ziel ist eine Produktion, die mit weniger Rohstoffen und mit weniger Energie und möglichst ohne Schadstoffe auskommt. Dafür müssen die Rahmenbedingungen richtig gesetzt werden. Nicht das Wegwerfprodukt darf sich bezahlt machen, sondern das Mehrfachverwendungsprodukt. ({6}) Um nicht mißverstanden zu werden, lieber Kollege Kampeter: Die Politik soll der Wirtschaft nicht vorschreiben, welche Produktinnovationen sie zu machen hat - keineswegs; ich hoffe, Sie registrieren das -, aber sie muß die Rahmenbedingungen so setzen, daß der Produzent und der Verbraucher jeweils von sich aus die ökologisch bessere Alternative wählen. Das wäre die Aufgabe dieses Gesetzes. Geschieht dies nicht, bleibt das Wort vom ökologischen Umbau ein Papiertiger.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Dr. Hartenstein, nun ist der Kollege Kampeter doch gewillt, eine Frage zu stellen, vorausgesetzt, Sie wollen sie beantworten.

Dr. Liesel Hartenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000815, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön, Herr Kampeter.

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Hartenstein, der Bundesumweltminister hat sich vorhin für die jeweils ökologisch vorteilhafteste Form der Behandlung von Reststoffen, die im Regelungsbereich dieses Gesetzes anfallen, ausgesprochen. Wo sehen Sie denn - nun bitte ganz konkret - den Unterschied zu Ihrer Forderung, die Sie hier in einen Widerspruch zu unserer Politik zu stellen versuchen, daß sich das jeweils ökologisch vorteilhafte Verfahren auch durchsetzen muß? Hier gibt es doch überhaupt keinen Unterschied in der Zielsetzung, sondern wir müssen uns vielmehr im Gesetzgebungsverfahren sicherlich auf bestimmte Wege einigen.

Dr. Liesel Hartenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000815, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Kampeter, wir werden dies sicher versuchen, und wir werden ganz konkrete Vorschläge dazu machen. Zum Beispiel werden wir die Rücknahme- und Rückgabepflichten selbstverständlich unterstützen. Aber sie reichen nicht aus. Im Rahmen der jetzt zur Verfügung stehenden Zeit möchte ich nur soviel sagen: Wir müssen Instrumente einsetzen - und übrigens dann den Mut haben, sie auch anzuwenden; die Bundesregierung hat das seit 1986, sieben Jahre lang, versäumt -, die darauf hinauslaufen, daß weniger Rohstoffverschwendung stattfindet und daß abfallarme Produktionsverfahren und energiesparende Produktionsverfahren begünstigt werden. Ich habe vorhin zwei Möglichkeiten genannt: Abgaben- und Steuerlösungen. Das sind marktwirtschaftlich wirksame Instrumente, die man hier anwenden muß, wenn man zum Ziel kommen will. Lassen Sie uns darüber bitte im Ausschuß reden. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Verehrte Kollegin, einen Moment bitte! Ich möchte eine große Bitte äußern. Nach der jetzigen Tagesordnung und der Zeiteinteilung, die im Ältestenrat vorgesehen ist, landen wir heute nacht irgendwo zwischen zwei und drei Uhr. Ich wäre Ihnen allen also sehr verbunden, wenn man sich, was Zwischenfragen anbelangt, äußerste Zurückhaltung auferlegen würde. Sonst wird es wirklich für den Saaldienst und die Stenographen unzumutbar. Das ist eine ernstgemeinte Bitte, und ich wäre dankbar, wenn diese Bitte denjenigen, die später in den Saal kommen, vermittelt würde. So, Frau Dr. Hartenstein, nun können Sie fortfahren.

Dr. Liesel Hartenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000815, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ich respektiere das gern. Natürlich sind die Redner - das gilt nicht nur für mich - dann auch dankbar, wenn sie keine Pauschal- und Globalfragen gestellt bekommen, die sie dann in einer halben Minute erschöpfend beantworten sollen. Dritter Punkt: Verbandslösung. Der Gesetzentwurf strebt eine weitgehende Privatisierung der Verwertung und Entsorgung an. Nach ihrer Gegenäußerung verschließt sich die Bundesregierung den Bedenken des Bundesrates jedoch völlig. Zu fragen ist aber doch, wie Entsorgungssicherheit und Kontrolle gewährleistet werden sollen, wenn in Zukunft - ich sage das einmal so - Hunderte von DSDs entstehen. Es besteht die Gefahr, daß sich ein unüberschaubares und unkontrollierbares Gestrüpp von Entsorgungssystemen ausbreitet. Nach den Erfahrungen mit dem Dualen System ist dies jetzt sicher der ungeeignetste Zeitpunkt für eine Privatisierung der Entsorgung auf breiter Front. Die Bundesregierung weist in ihrer Gegenäußerung darauf hin, daß Deutschland gegenwärtig der größte Abfallexporteur innerhalb der Europäischen Gemeinschaft sei. Dies ist kein Ruhmesblatt; das muß sich ändern. Deswegen müssen zwei Folgerungen gezogen werden: Erstens. Eine Umdeklaration von Abfällen in Wirtschaftsgut ist strikt zu untersagen. Zweitens. Das Prinzip der Inlandsentsorgung ist voll zu unterstützen; hier sind wir uns sicherlich einig. Vierter Punkt: Begriffswirrwarr. Wir gehen mit Riesenschritten auf Europa zu. Da ist es schon erstaunlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß ein bundesdeutsches Gesetz 1993 noch versucht, eine vom EG-Sprachgebrauch völlig abweichende Regelung zu treffen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung erzeugt schon in sich eine babylonische Sprachverwirrung: Rückstände, Abfälle, Sekundärrohstoffe, Reststoffe - alles geht bunt durcheinander. Die mit dem Vollzug in den Ländern befaßten Beamten müssen sich wohl neue Müllwörterbücher anschaffen. Dies sollte schleunigst bereinigt und EG-konform gemacht werden. ({0}) Meine Damen und Herren, es wäre töricht, den Streit um des Streites willen zu suchen; das ist nicht unsere Absicht. Wir brauchen ein neues, ein wirksames und zeitgerechtes Abfallgesetz. Das aber erreichen wir nicht, wenn die Strukturen nicht stimmen und wenn der entscheidende Schritt zur Produktverantwortung zur Farce wird. Was ist aus unserer Sicht erforderlich? Punkt eins: eine klare Prioritätenfolge, wie sie auch der Bundesrat in seinem Gesetzentwurf von 1991 bereits gefordert hat. Dafür ist das nötige Instrumentarium bereitzustellen. Punkt zwei: Der Vorrang der stofflichen Verwertung vor der thermischen muß sichergestellt sein. Verbrennung ist nach unserer Auffassung, Herr Minister Töpfer, kein Verwertungs-, sondern ein Behandlungsverfahren. Punkt drei: Abfallentsorgung muß eine öffentliche Aufgabe bleiben; sie darf nicht der Kontrolle der beseitigungspflichtigen Körperschaften entgleiten. Dafür sind die ökologischen Gefahren zu groß. Punkt vier: Auch Forderungen wie die sogenannte Lex Aldi, also die Bestimmung, daß der Einzelhandel Getränke und andere Waren nicht nur in Einwegbehältern, sondern auch in Mehrwegflaschen anbieten muß, müssen in das Gesetz aufgenommen werden - ebenso wie zusätzliche ökonomische Anreize, beispielsweise eine Abgabe auf Einwegverpackungen. Schließlich brauchen wir eine Produktverantwortung, die diesen Namen auch verdient. Es ist heute unbestritten, daß eine ökologische Ressourcenpolitik bei der Rohstoffverwendung ansetzen muß. Rohstoffverschwendung darf sich nicht mehr lohnen. Übrigens haben große Teile der Wirtschaft längst begriffen, daß das ökologisch Sinnvolle am Ende auch das ökonomisch Vernünftige ist. Die Politik sollte nicht ewig hinterherhinken. Deshalb lassen Sie uns miteinDr. Liesel Hartenstein ander ein gutes Gesetz machen. Wir sind dazu bereit. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Steffen Kampeter das Wort.

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Neben der klassischen Auffassung, daß die Begrenzung der Ressourcen eine wesentliche Bestimmungsgröße für die sogenannten Grenzen des Wachstums ist, hat sich in den Vereinten Nationen die Auffassung durchgesetzt, daß in vielen Fällen auch die Aufnahmefähigkeit des Ökosystems für Abfälle ein wichtiger Bestimmungsgrund für Wachstumsgrenzen ist. Unser Planet kann die in zunehmendem Maße anfallenden Abfälle aller Art nicht mehr aufnehmen. Aufgabe einer intelligenten Abfallwirtschaftspolitik, wie Bundesumweltminister Töpfer sie heute vorgestellt hat, ist es daher, die Grenzen dieses Wachstums zu verschieben, indem Rückstände vermieden und Sekundärrohstoffe wiederverwertet werden. Für die Nachhaltigkeit unseres Wirtschaftens, eine zentrale Forderung der Umweltkonferenz in Rio, ist eine freiheitliche Abfallwirtschaftspolitk, ist die Kreislaufwirtschaft und die neue Produktverantwortung unverzichtbar. Vor diesem Hintergrund begrüßen wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Einbringung des Kreislaufwirtschaftsgesetzes hier und heute durch die Bundesregierung. Allen innenpolitischen Aufgeregtheiten zum Trotz halten wir an der Grundkonzeption der Kreislaufwirtschaft fest. Dabei werden wir von dem internationalen Echo bestärkt, das die Kreislaufwirtschaft im Ausland findet. Wenn wir die eher auf innenpolitische Fragestellungen gerichtete Sichtweise der Opposition einmal verlassen, müssen wir feststellen, welch international hohe Aufmerksamkeit und welch international hohe Zustimmung die Abfallwirtschaftspolitik der Bundesrepublik bekommt. ({0}) Ich empfehle den Kritikern von der Opposition, einmal das nachzulesen, was in dem Umweltprüfbericht der OECD über die Abfallwirtschaft ausgesagt worden ist. Es liest sich wie eine positive Darstellung unserer Regierungspolitik, abgegeben allerdings von einer objektiven Seite. Dem habe ich nichts mehr hinzuzufügen. Es ist eine gute Lesehilfe für die Opposition. ({1}) Eine abfallwirtschaftspolitische Wirklichkeitsverweigerung, wie sie hier heute teilweise vorgetragen worden ist, verkennt den richtung- und zukunftsweisenden Ansatz dieser Abfallwirtschaftspolitik. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, liebe Frau Hartenstein, verfahren Sie mit Ihren diesbezüglichen ideologischen Scheuklappen so, wie es unser Gesetzentwurf vorsieht: Geben Sie sie in den Abfall als Hausmüll; eine Wiederverwertung, auch in anderen Bereichen der Umweltpolitik, erscheint wenig erfolgversprechend. ({2}) Ich will hier auch einmal feststellen, wie in anderen Kreisen, z. B. im Club of Rome, derzeit über unsere Kreislaufwirtschaft in der Bundesrepublik diskutiert wird. So bezeichnete das holländische Mitglied des Club of Rome, Walter von Dieren, die Verpackungsverordnung als den ersten Versuch, flexible Grenzen des Wachstums zu entwickeln. Er spricht von dem entscheidendsten Eingriff in einen Markt aus umweltpolitischen Gründen, der jemals durchgeführt worden ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren, nehmen Sie bitte zur Kenntnis: Wir entwickeln mit diesem Kreislaufwirtschaftsgesetz und der ihm zugrunde liegenden Konzeption einen zukunftsweisenden Ansatz der Wirtschafts- und Umweltpolitik, der richtungweisend für andere Staaten ist. ({3}) Sehr verehrte Frau Kollegin Hartenstein, Sie haben in Ihrem Redebeitrag sehr auf die Instrumente der Kreislaufwirtschaft abgehoben. Über diese Instrumente stehen wir im Meinungsstreit, und ich freue mich sehr, daß Sie den Dialog über diesen Gesetzentwurf angeboten haben. Wir wollen ihn im Umweltausschuß konstruktiv führen, aber auch mit den SPD-geführten Ländern, die sich ja mehr in Presseerklärungen als in Redebeiträgen in der heutigen Debatte äußern. Das Ordnungsrecht ist das klassische Instrument im abfallwirtschaftlichen Vollzug, das sich gerade bei den Vollzugsbeamten außerordentlich hoher Beliebtheit erfreut. Ordnungsrecht ist dort gut, wo es um die unmittelbare Gefahrenabwehr geht. Ordnungsrecht ist schlecht, wo Flexibilität und Eigeninitiative gefragt sind. ({4}) Deshalb wollen wir auch in diesem Gesetzentwurf die Instrumente des Ordnungsrechts dahin gehend überprüfen, wie wir sie einfacher, sprich: handhabbarer für den Vollzug, machen können, und wollen dort, wo es möglich ist, auf Ordnungsrecht auch einmal verzichten. Ordnungsrecht ist ja nicht einfach kostenlos zu haben. Wir haben enorme volkswirtschaftliche Nachteile und betriebswirtschaftliche Kosten für die Unternehmungen, die für mangelhaft flexible ordnungsrechtliche Lösungen anfallen. Deswegen ist ein zentrales Anliegen, das wir als CDU/CSU-Fraktion in die Beratung dieses Gesetzentwurfs einbringen wollen, die Flexibilisierung des Ordnungsrechts. Die marktwirtschaftlichen Instrumente - der zweite Zentralbegriff, der auch von Ihnen, Frau Hartenstein, in die Debatte eingeführt wurde - halten wir ebenso wie der Sachverständigenrat für Umweltfragen für die mit Abstand besten Instrumente. Abgaben sind auch in der Abfallwirtschaft zukunftsweisend. Wir haben eine erste privatwirtschaftliche Abfallab15214 gabe in Form des Grünen Punktes bereits durch Gesetz eingeführt. ({5}) Klar ist allerdings auch, daß in der derzeitigen Wirtschaftslage aus nicht immer nachvollziehbaren Gründen zusätzliche Abgabenlösungen nicht durchsetzbar sind. So wünschenswert eine Abfallabgabe wäre, so wenig mehrheitsfähig ist sie zur Zeit im Parlament. Wir als Umweltpolitiker haben dies zur Kenntnis zu nehmen. Wir wenden uns daher einem Instrument zu, das wir für das zukünftig erfolgversprechendste und zielführendste Instrument der Abfallwirtschaftspolitik halten, nämlich den Rücknahmeverpflichtungen. Unser Prototyp in Sachen Rücknahmeverpflichtung beherrscht die Schlagzeilen mehr, als allen Beteiligten lieb sein kann. Die Anlaufprobleme bei der Verpackungsverordnung nehmen wir außerordentlich ernst. Wir halten die Rücknahmeverpflichtungen für ein richtungsweisendes Instrument. Es läßt dem Konsumenten endlich einmal die Entscheidung darüber, welchen Stellenwert er tatsächlich selbst der ökologischen Verpackungsoptimierung beimißt. Was für eine beeindruckende Mehrheit hat sich für den Sammelfluß gegen unnützes Verpacken ausgesprochen! Die deutschen Konsumenten handeln derzeit sehr viel umweltbewußter, als es sich der Bundesrat jemals hat träumen lassen. ({6}) Das ist der entscheidende Unterschied, Frau Kollegin Hartenstein. Die Konsumenten entscheiden im System der Verpackungsverordnung gegen unnütze Verpackung. Wir schreiben es ihnen nicht vor, indem wir bestimmte Verpackungen verbieten. Wir überlassen ihnen, den Konsumenten - auch all denen, die wir hier in diesem Saal Konsumenten sind -, die Entscheidung darüber; und sie entscheiden. Sie entscheiden für die Umwelt, sie entscheiden für Verpakkungsvermeidung, sie entscheiden für weniger Abfall auf unseren Deponien. ({7}) Ich kann Ihre Argumentation überhaupt nicht nachvollziehen, daß die Schreckensvision der Abfallwirtschaftspolitik die Einführung von mehreren dualen Systemen in der Bundesrepublik Deutschland ist. Ich verstehe die Verpackungsverordnung als Prototyp einer Rücknahmeverpflichtung, an dem wir auch Vor- und Nachteile dieses Instrumentes erleben können. Alle Probleme, die sich im derzeitigen Vollzug der Verpackungsverordnung ergeben, bieten uns Material für andere Formen der Rücknahmeverpflichtung. Allerdings stelle ich für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion eindeutig fest, daß wir erst bereit sind, über weitere Verordnungen nachzudenken, wenn alle Probleme des Vollzugs der Verpackungsverordnung gelöst sind. ({8}) Es ist teilweise schon ein Trauerspiel, wie wirtschaftliche Interessen auf dem Rücken der Umweltpolitik ausgetragen werden. Das Beispiel in Hamburg, das gestern durch die Medien ging, ist dafür eine gute Illustration. Da verlautbart morgens ein Abfallwirtschaftsunternehmen, daß es nicht mehr für das Duale System arbeitet. Daraus macht die interessierte, der Umweltpolitik gegenüber eher feindlich eingestellte Presse eine große neuerliche Krise des Dualen Systems. Im Lichte der heutigen Nachrichtenlage stellt sich heraus, daß diese Pressemeldung lediglich darauf abzielte, zu einem günstigen Vertragsverhandlungsergebnis mit dem Dualen System zu kommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Zustände müssen allerdings aufhören. Sie haben nichts mit der Konzeption der Verpackungsverordnung zu tun. Hier wird versucht, wirtschaftliche Interessen auf dem Rücken der Umweltpolitik auszutragen. Dies halte ich für falsch. Lassen Sie mich abschließend ein weiteres Vollzugsproblem der Verpackungsverordnung nennen, das wir einer Lösung zuführen müssen: die zunehmende Konzentration im Abfallwirtschaftsbereich. Hier ist festzustellen: Sollte die Verpackungsverordnung scheitern, sollte das Duale System seine Tätigkeit einstellen, wird eine Gruppe in unserem Wirtschaftsbereich benachteiligt sein, nämlich die zahlreichen kleinen und mittelgroßen Unternehmen, die innerhalb des Dualen Systems arbeiten. Dies wollen wir vermeiden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Bemerkung „abschließend" so ernst nehmen, wie ich sie genommen habe.

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deswegen wollen wir zielorientiert am Vollzug der Verpackungsverordnung arbeiten. Herzlichen Dank. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Birgit Homburger das Wort.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde, heute ist ein erfreulicher Tag für das Parlament, zumindest ein erfreulicher Tag für die Umweltpolitiker. Denn mit der Debatte, die wir heute führen, wird das Kreislaufwirtschaftsgesetz endlich in den Deutschen Bundestag eingebracht. Ich sage dies, ohne daß ich verkenne, Herr Umweltminister, wie schwierig die Behandlung dieses Themas ist. Das werden wir alle noch in den Debatten und Diskussionen sehen, die wir dazu im Umweltausschuß führen müssen. Es hat lange genug gedauert, bis dies soweit war. Ich denke, es ist gut, daß die Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates noch rechtzeitig kam, so daß das Gesetz noch heute ins Plenum eingebracht werden konnte. Damit ist sichergestellt, daß wir bei der Anhörung nächste Woche nicht nur allgemein über das Thema diskutieren, sondern wirklich den Gesetzentwurf einbeziehen können. Damit ist für eine möglichst zügige Beratung im Parlament und hoffentlich auch für einen erfolgreichen Abschluß die Grundlage gelegt. Der Gesetzentwurf sieht vor, die Abfallwirtschaft insgesamt auf neue Beine zu stellen - im Gegensatz zu dem, was der Bundesrat anfangs beantragt hat; das waren nur partikulare Änderungen. Die F.D.P. will im Rahmen dieser neuen Abfallwirtschaft nicht mit punktuellen Produktverboten und Eingriffen in den Produktionsprozeß arbeiten, sondern setzt auf marktwirtschaftliche Instrumente. ({0}) Wir haben heute schon einiges darüber gehört. Das zentrale marktwirtschaftliche Instrument in diesem Gesetzentwurf ist die Rücknahmeverpflichtung, die zu mehr Produktverantwortung beim Hersteller führen wird. Allerdings muß ich sagen: Ich bedauere, daß die Bundesregierung es mit diesem Gesetzentwurf nicht geschafft hat, die Abfallwirtschft noch konsequenter an marktwirtschaftlichen Lenkungsinstrumenten zu orientieren. Eine Flankierung der Rücknahmeverpflichtung durch Instrumente wie z. B. Zertifikate, Deponiesteuern oder Abfallabgaben hätte aus meiner Sicht gewisse ordnungsrechtliche Konstellationen überflüssig gemacht. Ich will im Hinblick auf das, was die Kollegin von der SPD vorhin gesagt hat, aber auch deutlich machen: Nicht alles, was Abgabe und Steuer heißt, ist im marktwirtschaftlichen Sinne ein vernünftiges Lenkungsinstrument. ({1}) Daher ist jetzt die Situation gegeben, daß wir wieder mit einer Reihe von Verordnungsermächtigungen arbeiten werden. Deswegen gilt es, darauf zu achten, daß wir den Einfluß des Parlaments auf die Verordnungen des Umweltministers stärken. Hier sind verschiedene Konstruktionen denkbar, die ebenfalls intensiv besprochen werden müssen. Ich komme auf den zentralen Punkt der Produktverantwortung zurück. Er besteht darin, daß der Produzent seine Ware nach Ablauf der Lebensdauer des Produkts zurücknehmen muß und Sorge dafür zu tragen hat, daß es wiederverwertet oder, wenn das nicht möglich ist, möglichst schadlos entsorgt wird. Mit dieser Rücknahmeverpflichtung werden ökonomische Anreize gesetzt, die bei den Herstellern zu einer ökologischen Optimierung der Produktion führen werden. Denn die Entsorgung des Produkts am Ende der Lebensdauer wird nicht länger nur den entsorgungspflichtigen Gebietskörperschaften und den Verbraucherinnen und Verbrauchern angelastet, sondern es werden die Hersteller in die Pflicht genommen. ({2}) Das wird am Beispiel der Verpackungsverordnung deutlich. Einerseits führt es zu Änderungen bei den Produkten und andererseits zur Vermeidung von Unnötigem. Denjenigen in diesem Parlament, die immer noch skeptisch sind, ob wir der Industrie eine solche Verantwortung im Rahmen des Verursacherprinzips überhaupt zumuten können, möchte ich sagen, daß die Industrie weiter ist, als sich mancher hier das vorstellen kann. Ich nenne beispielhaft die Entwicklung auf dem Elektronikmarkt. Einige größere Firmen haben im Hinblick auf die Diskussion über Abfallvermeidung und Abfallverwertung, die wir hier geführt haben, die Anzahl der verwendeten Kunststoffe z. B. bei Kopierern von bisher zwanzig auf zwei bis drei reduziert. Auch bei der Demontage der Geräte gibt es erfreuliche Erfolge. Ich muß hier deutlich sagen, daß die Rücknahmeverpflichtung zu entsprechenden Entwicklungen führen wird, auch bei den Betrieben, die in diesem Bereich noch nicht soweit sind. Das Beispiel Elektronikmarkt zeigt im übrigen auch, daß die Koalition den richtigen Weg beschreitet. Eine Vorschrift über die Reduzierung und Art von in der Produktion zu verwendenden Kunststoffen, wie sie von der SPD wiederholt gefordert wurde, ist völlig unsinnig. Indem wir die Hersteller in die Verantwortung für die Entsorgung ihrer Produkte hineinnehmen, ergibt sich diese Entwicklung von selbst, wie das gerade angeführte Beispiel zeigt. ({3}) Die Politik sollte sich wirklich in dem Sinne, wie es vorhin schon von der Kollegin von der SPD gesagt wurde, auf das Setzen von Rahmenbedingungen beschränken. Sie sollte es unterlassen, zu versuchen, Vorschriften über die zu verwendenden Produkte bzw. Materialien zu erlassen. Ich warne davor, das zu tun. Denn wir alle miteinander haben nicht genügend Kenntnis davon, was vernünftigerweise gemacht werden sollte. Das muß derjenige entscheiden, der produziert. ({4}) Ich komme zu einem weiteren zentralen Problem - es wurde schon angesprochen -, zum Abfallbegriff. Es wurde gesagt, wir müßten den Abfallbegriff der EG übernehmen. Es ist in der Tat richtig: Wir brauchen eine klare Begriffsfestsetzung. Ich halte die Lösung, die der Bundesumweltminister vorgeschlagen hat, nämlich den Oberbegriff Rückstand mit den Unterbegriffen Sekundärrohstoff und Abfall, für ganz ausgezeichnet. Das wird nämlich vielen Firmen, z. B. auch den Reststoffbörsen der IHKs, die Arbeit kräftig erleichtern, weil damit klargestellt wird, daß nicht jeder Rückstand aus einer Produktion notwendigerweise Abfall ist. ({5}) Was wir im parlamentarischen Prozeß leisten müssen, ist eine saubere Abgrenzung der Begriffe, vor allem im Hinblick auf das EG-Abfallrecht. Das hat vor allen Dingen für die Firmen, die länderübergreifend arbeiten, wichtige Auswirkungen und damit auch höchste Priorität. Die Berichterstatter der Koalitionsfraktionen-vielleicht haben Sie das in der Sommerpause in der Presse gelesen - haben in einem Katalog dessen, was wir für regelungsbedürftig halten, vorgeschlagen, das EG-Abfallrecht voll zu übernehmen. Das kann beispiels15216 weise dadurch erfolgen, daß der Begriff „waste" dem Oberbegriff „Rückstand" zugeordnet wird, der Begriff „Sekundärrohstoff" dem Begriff „waste for recovery" und der Begriff „Abfall" dem Begriff „waste for disposal". Damit haben wir eine klare Definition und eine klare Übernahme des EG-Abfallbegriffs. Außerdem können wir an den Begriffen, die der Umweltminister vorgeschlagen hat, festhalten, was ich aus psychologischen Gründen für absolut notwendig halte. ({6}) Die Rangfolge, die wir wollen, habe ich schon mehrfach deutlich gemacht: Die Vermeidung hat oberste Priorität. Als zweites in der Rangfolge steht die Verwertung. Hier werden wir wahrscheinlich in die schwierigsten Diskussionen kommen, die wir im Umweltausschuß hinter uns bringen müssen, wenn wir zu einer Lösung im Sinne der Umwelt kommen wollen. Wir haben ja - Kollege Kampeter hat es gesagt - in den vergangenen Wochen genügend Erfahrungen mit der Diskussion um das Duale System gemacht, und das muß ins Kreislaufwirtschaftsgesetz einfließen. Dazu gehört auch, daß wir der stofflichen Verwertung dort Vorrang einräumen wollen, wo es ökologisch sinnvoll ist. ({7}) Ein rigoroser und für alle Produkte geltender Vorrang der stofflichen Verwertung vor der energetischen Verwertung und Entsorgung ist damit jedenfalls nicht zu vereinbaren. Hier ist wirklich wichtig, daß wir saubere Abgrenzungen finden. Es wäre eigentlich noch viel zu diesem Gesetzentwurf zu sagen, vor allen Dingen aber auch zu den anderen Anträgen, die wir heute auf der Tagesordnung haben. Ich will nur exemplarisch noch einen Punkt des SPD-Antrags zur Novellierung der Verpakkungsverordnung herausgreifen. Die SPD fordert nämlich ein Verbot von Einwegverpackungen dort, wo es eingeführte oder mögliche Mehrwegsysteme gibt. Daß dies aus unserer Sicht nicht sachdienlich ist, habe ich bereits ausgeführt. Spätestens seit Dienstag dieser Woche, seit der Vorstellung der Daten zu Ökobilanzen, mußte es eigentlich jedem klar sein, daß ein genereller Vorrang von Mehrweg vor Einweg ökologisch nicht sinnvoll ist. Das ist ein ganz klares Ergebnis. Wir können insofern, wenn wir im Sinne der Umwelt sauber arbeiten wollen, eben nicht ideologische Vorstellungen über jegliche wissenschaftliche Erkenntnisse setzen. ({8}) Das heißt, daß die Arbeit der Forschungsinstitute nicht umsonst war, sondern daß sie in der Tat wichtige Erkenntnisse für uns alle bringt, und die Ergebnisse machen jetzt schon deutlich, daß eben diese stereotyp vorgetragene Forderung der SPD, Mehrwegsysteme grundsätzlich den Einwegverpackungen vorzuziehen, so nicht haltbar ist. ({9})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Dagmar Enkelmann.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kampeter, ich würde nicht von einer Umweltfeindlichkeit der Presse sprechen. Ich glaube, es ist besser, davon zu sprechen, daß die Presse einen Teil der kritischen Öffentlichkeit gegenüber bundesdeutscher Umweltpolitik darstellt, und das Ist gut so. Frau Kollegin Hartenstein ist leider nicht mehr da. Sie hat vorhin schon einmal den Gesetzentwurf der Bundesregierung zitiert, und weil es so schön klingt, will ich es auch noch einmal machen. Es heißt nämlich darin: Die Abfallwirtschaft ist zu einem zentralen Handlungsfeld der Umweltpolitik geworden. ({0}) Ich meine, das ist völlig falsch. Es müßte heißen: Die Abfallwirtschaft ist die Offenbarung des Fiaskos bundesdeutscher Umweltpolitik. ({1}) Aber bleiben wir ruhig bei Ihrer Formulierung, ({2}) selbst sie spricht für eine Prioritätensetzung, die nicht mehr zeitgemäß ist. ({3}) Sie wollen die Abfälle bewirtschaften - wann endlich fangen Sie an, Abfälle zu vermeiden? - Ich kann übrigens meine Reden selber schreiben. Das wäre übrigens, Herr Kollege Kampeter, wirklich zukunftsweisend. Wir meinen, daß das gesamte System vom Kopf auf die Füße gestellt werden muß, und in diese Richtung zielte z. B. auch der Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste. Ich will zur Erinnerung noch einmal die wesentlichen Punkte dieses Antrags nennen. Im übrigen ist es ein Antrag vom Oktober 1992; daran sei erinnert. Erstens. Sollte die Bestandsaufnahme zum Stichtag 1. Januar 1993 zeigen, daß die vereinbarten Verwertungsquoten nicht nachgewiesen werden, sollte die Verpackungsverordnung sofort in Kraft treten. Zweitens sollten das DSD abgewickelt werden und die Finanzmittel und die aufgelaufenen Verpakkungsabfälle in einen öffentlichen Zweckverband eingebracht werden. Drittens. Träger des Zweckverbandes sollten die entsorgungspflichtigen Gebietskörperschaften werden. Dieser Antrag ist mehrheitlich im Ausschuß abgelehnt worden; dafür werden die Kommunen jetzt mit dem DSD im Stich gelassen. Als Allheilmittel wird seit Monaten - man kann eigentlich sagen, seit Jahren - das neue Kreislaufwirtschaftsgesetz angekündigt. Kommen wir also zu diesem Gesetz. Es verspricht Rahmenbedingungen, die eine Lösung der Probleme gewährleisten sollen - wieder ein Versprechen von der Bundesregierung, das nicht eingehalten wurde. Wo liegen meines Erachtens die Knackpunkte? Der erste ist auch schon u. a. von Frau Kollegin Homburger genannt worden. Es gibt keine klare Definition der Begriffe, die im Gesetz gebraucht werden. Die Begriffe Rückstand, Sekundärrohstoff, Abfall ({4}) tauchen als unklare Rechtsbestimmungen auf. - Das habe ich gerade gesagt. - Das heißt, es fehlen hier die Definitionen. Die Konsequenz wären natürlich praktische Probleme beim Gesetzesvollzug. Möglicherweise ist das sogar politisch gewollt. Es ist notwendig, klar und deutlich zu definieren, was Vermeidung ist. Dieser Begriff ist im Gesetzentwurf eindeutig überfrachtet. Meines Erachtens sollte der Begriff Vermeidung, wie er in diesen Entwurf hineingehört, durchaus auch ein Verbot der Herstellung bestimmter Produkte beinhalten. Ich weiß, daß Sie eindeutig dagegen sind. Es sollte eine deutliche Trennung der Begriffe Vermeidung und Verwertung vorgenommen werden. Zweitens. Es erfolgt eine unzulässige Reduktion der Verwertung auf umweltschädliche Müllverbrennung. Drittens läßt der Entwurf einer subjektiven Interpretation der Rückstandsproduzenten breiten Spielraum, z. B. inwieweit und welche Stoffe verbrannt werden, welche Kriterien an die Gesamtenergiebilanz der Müllverbrennungsanlagen angelegt werden usw. Ein Beispiel noch aus der Trickkiste der Bundesregierung, wie sie in diesem Gesetz wieder einmal deutlich wird: Es wird z. B. als neuer Begriff für die Entsorgungsanlage jetzt der Begriff Verwertungsanlage verwandt. Das ist Schlichtweg Verdummung der Massen. Die Frage ist, ob damit die Hemmschwelle z. B. für Proteste oder Widerstand der Betroffenen erhöht werden soll. Ich sage Ihnen, das Gegenteil wird passieren, die Betroffenen werden noch genauer hinsehen, wenn entsprechende Projekte geplant werden. Unser Vorschlag ist: Das bisherige Abfallgesetz sollte konsequent an die EG-Richtlinien angepaßt werden, einschließlich auch der Definition der Sonderabfälle, als eine Übergangsregelung, bevor eine vernünftige Gesetzgebung auf den Tisch gelegt wird. Ich meine, daß man diesen Gesetzentwurf dann auch fallenlassen könnte. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Werner Schulz.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Begriffsscholastik und Augenwischerei - so lautet das vernichtende Urteil des Umweltbundesamtes zum Kreislaufwirtschaftsgesetz bei der Anhörung im Mai, und der Bundesrat hielt in seiner Stellungnahme fest, daß der Gesetzentwurf in der vorliegenden Form erheblicher Änderungen bedürfe. Da ist nicht viel hinzuzufügen. Die Abfallpolitik der Bundesregierung steht vor einem Debakel. In den alten Bundesländern wurde das Sero-System bewußt zerschlagen. Statt dessen gaukeln uns nun grüne Punkte Aktivitäten zur Müllverwertung vor. Das Gerangel um das Duale System Deutschland nimmt trotz aller gegenteiligen Versicherungen der Bundesregierung kein Ende. Am 1. Oktober werden die gelben Säcke in Hamburg wieder von der kommunalen Müllabfuhr abgeholt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, würden Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Homburger beantworten?

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, selbstverständlich. ({0}) - Keine abfälligen Bemerkungen, Herr Kollege! ({1})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, würden Sie vielleicht die Liebenswürdigkeit haben, dem Plenum zu sagen, was der Vertreter des Umweltbundesamtes in der ersten Anhörung zur Abfallwirtschaft und zu diesem Gesetzentwurf damals gesagt hat, welche Stellungnahme er abgegeben hat? ({0})

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Man muß ja nicht unbedingt anwesend sein, um diese Information entgegenzunehmen. Wir müssen die Arbeit bei uns etwas aufteilen. Die Information, die ich habe, ist, daß es in diesem Gesetz wirklich zu einem Begriffswirrwarr kommt. Das ist mehrfach angeprangert worden, daß hier die Begriffe beliebig verwendet werden, um eine bestimmte Strategie zu stützen, die eben nicht ein Recycling, nicht eine Kreislaufwirtschaft im eigentlichen Sinne zum Inhalt hat, sondern im Grunde auf eine sehr merkwürdige Art von Verwertung zielt.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Gestatten Sie noch eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Schulz?

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte schön.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, wollen Sie zur Kenntnis nehmen, daß in der Tat das, was Sie gerade ausgeführt haben, Begriffswirrwarr und Schwierigkeiten bei der eindeutigen Definition, eine Rolle gespielt hat, daß ich gerade vorhin in meiner Rede - ebenso wie der Kollege Kampeter, aber auch der Bundesumweltminister heute - versucht habe, diesen Begriffswirrwarr auf Grund dieser Anhörung auszuräumen, und daß darüber hinaus der Vertreter des Umweltbundesamtes in der Anhörung diesen Gesetzentwurf nicht etwa in Bausch und Bogen verdammt hat, sondern eigentlich grundsätzlich positiv dazu steht?

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe Ihnen ja gesagt, wie die Grundeinschätzung ausgefallen ist: Augenwischerei und Begriffsscholastik. Sie haben ausgeführt, daß Sie es für günstig halten, künftig von Rückständen, Sekundärrohstoffen und Abfällen zu sprechen. Das alles ist mir sehr vertraut. Ich habe einmal in einem Institut für Sekundärrohstoffwirtschaft gearbeitet. Ein hochtrabender Begriff! Das, was dort herausgekommen ist, ist das glatte Gegenteil von dem gewesen, was da annonciert worden ist. Ich komme in meinem Text noch darauf zu sprechen. Ich kenne diesen verbreiteten Zweckoptimismus, der im Grunde genommen mit dem eigentlichen Ziel, einer Vermeidung am Entstehungsort, sehr wenig zu tun hat. ({0}) Abfallvermeidung, dieses Wort führt diese Regierung gerne und oft im Mund. Leider besteht diese Abfallvermeidung aus nichts anderem als dem Frisieren öffentlicher Statistiken und aus Begriffswirrwarr; ich habe das schon gesagt. In diesem Entwurf wird sogar die Müllverbrennung zur Abfallvermeidungstechnologie gemacht. Energetische Verwertung heißt der fragwürdige „ring of fire". Im April 1991 hat der Bundesumweltminister im Umweltausschuß sein abfallpolitisches Gesamtkonzept vorgestellt. ({1}) - Ich bin im Gegensatz zu Ihnen offenbar trotzdem gut informiert. Das Herumsitzen macht offenbar nicht klüger. - Von den 14 angekündigten Vorhaben sind bislang gerade mal drei verwirklicht worden: die unsägliche Verpackungsverordnung, die Klärschlammverordnung und - mit erheblicher Verspätung - die TA Siedlungsabfall. Die für 1991 angekündigte Studie über Ökobilanzen bei Getränkeverpakkungen wurde vorgestern der Öffentlichkeit präsentiert. Rund 1 Million DM wurde dafür ausgegeben. Dreieinhalb Jahre hat es gedauert. Was ist herausgekommen? Die dürftige Erkenntnis, daß gegenwärtig keine eindeutigen Aussagen möglich seien. Die Abfallpolitik dieser Regierung ist eine spezielle Art Sondermüll. Wo ist die Elektronikschrottverordnung? Wo bleibt die Verordnung über Altpapier? Was macht die Altautoverordnung oder die TA Shredderabfälle? Das Glanzstück der Ankündigungswelle, das Abfallabgabengesetz, ist vom Wirtschaftsminister endgültig gekippt worden. Was übrigbleibt, ist das hilflose Eingeständnis eines durchaus bemühten Ministers, er halte trotz aller Widerstände an der Abfallabgabe fest. Aber in Windeseile kann diese Regierung handeln, wenn es um die Einschränkung öffentlicher Rechte geht. Bei Verfahrensbeschleunigungen ist man ganz fix. Mit dem Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz wurde uns gezeigt, was alle umweltpolitischen Lippenbekenntnisse letztlich wert sind: nichts, aber auch gar nichts. Meine Damen und Herren, zurück zum Abfallgesetz. Blumige Begriffe und Wortschöpfungen können über die Substanzlosigkeit der Vorlage nicht hinwegtäuschen. Vom Vorrang der Abfallvermeidung schon bei der Produktion kein Wort. Statt dessen ist die Rede von Kreislaufwirtschaft. Diese Worte erinnern mich an die DDR. Auf der 10. Tagung des ZK der SED charakterisierte man „die Schaffung in sich geschlossener Stoffkreisläufe, in denen alle anfallenden Abprodukte weitgehend wieder verwertet werden", als eine Schlüsseltechnologie. Auf dem X. Parteitag der SED wurde die Forderung erhoben, sich auf die „effektivste Nutzung und höchstmögliche Veredelung der zur Verfügung stehenden Rohstoffe sowie die maximale Wiederverwendung von Sekundärrohstoffen und Abprodukten" zu konzentrieren. Von der Sero-Wirtschaft der DDR, die trotz aller Mängel Vorbild für die Bundesrepublik hätte sein können, bleibt nur noch der Begriff „Sekundärrohstoff" übrig. Die Kreislaufwirtschaft, die der Bundesregierung vorschwebt, ist ein Täuschungsmanöver. Müll mit der Bezeichnung „Sekundärrohstoff" soll unkontrolliert in Feuerungen, Zementwerken, im Straßenbau oder in Bergwerken verschwinden. ({2}) Was hier stattfindet, ist keine Kreislaufwirtschaft, sondern eher eine versteckte Abfalldeponierung. Meine Damen und Herren, nach unserer Auffassung ist die Vorlage der Bundesregierung nicht geeignet, das Abfallproblem wirksam zu lösen. ({3}) Das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat einen Antrag für eine vermeidungsorientierte Abfallwirtschaft vorgelegt. In unserem Antrag findet sich eine klare Hierarchie, nämlich Vermeidung vor Verwertung, Verwertung vor Behandlung und Behandlung vor Ablagerung. Die Abfallwirtschaft muß endlich vom Kopf auf die Füße gestellt werden. ({4}) Statt von Abfallvermeidung zu reden, aber Mullverbrennung zu meinen, brauchen wir konsequente Vermeidungsmaßnahmen bereits bei der Produktion. Die können Sie konkret unserem Antrag entnehmen. Das Ansetzen an der Quelle statt am Ende der Materialströme verringert nicht nur die Abfallmengen, sondern auch den untragbaren Energie- und Rohstoffverbrauch unserer Volkswirtschaft. Wenn unsere Worte Sie schon nicht überzeugen und nicht fruchten, dann hören Sie wenigstens auf den früheren Innenminister Zimmermann. ({5}) Werner Schulz ({6}) Der hat immerhin einen Merksatz geprägt: „Der beste Müll ist der, der erst gar nicht entsteht. " Sie sollten sich diesen Satz eingerahmt künftig auf den Kabinettstisch stellen. ({7})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, der nächste Redner ist unser Kollege Dr. Gerhard Friedrich.

Dr. Gerhard Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002657, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! An sich wollte ich als letzter reden. Unser Parlamentarischer Geschäftsführer weiß das. Ich hätte nach der wirklich tollen Haushaltsrede von Frau Caspers-Merk gern noch die zweite Rede abgewartet und Ihnen einmal im Detail gezeigt, was da alles falsch ist. Ich mache es aber ein bißchen anders. Die Pressestelle der CSU hat eine Rede herausgegeben, auf der steht: „Es gilt das gesprochene Wort." Der Text ist trotzdem richtig. Ich will aber etwas anderes machen, nämlich versuchen, an Hand einiger Anmerkungen meiner Vorredner die parteipolitischen Fronten aufzulockern, weil wir ja den Eindruck erwecken, als verliefen die Fronten sozusagen haarscharf zwischen SPD und Koalition. Das ist so nicht richtig. Frau Caspers-Merk, mir ist folgendes aufgefallen. Ich glaube, es war der Umweltminister - es könnte auch jemand anderes gewesen sein -, von dem der Herr Leinen und der Herr Matthiesen gelobt worden sind. Ich habe vermißt, daß Sie Beifall geklatscht haben. ({0}) Soll ich Ihnen denn im Detail aufzeigen, daß diese uns sehr nahestehen? Umjetzt wirklich parteipolitische Fronten aufzulokkern, sage ich Ihnen dazu -- und da bin ich eigentlich ein bisserl traurig -: Nicht in der Innenpolitik, aber speziell in der Abfallpolitik stehe ich leider dem Herrn Leinen manchmal näher als meinem bayerischen Umweltminister. ({1}) - Ja, doch. - Es ist den Leuten vielleicht nicht aufgefallen: Sie haben schlicht vergessen, wenn man SPD-Minister lobt, Beifall zu klatschen. ({2}) Was zur stofflichen Verwertung bei der Kollegin Hartenstein gelaufen ist, das ist auch ein tolles Stück, meine Damen und Herren. Die Geschichte beginnt damit, daß die SPD-Länder im Bundesrat bei der Beratung der Verpackungsverordnung die stoffliche Verwertung durch einen Änderungsantrag etwas stärker betont haben. „Vorrangig stofflich verwerten" wollte Töpfer. „Vorrangig" haben die SPD-Bundesländer gestrichen. Verwertung ist ganz wichtig, also: nicht einschränken durch „vorrangig". Jetzt sind Sie plötzlich auf die Idee gekommen, daß Verwertung problematisch ist, daß es Down-Recycling gibt. - Soll ich Ihnen Ihre Presseerklärungen vorlesen? Sie problematisieren doch j etzt Verwertung, die Öko-Gruppen problematisieren Verwertung. Wir sind ihnen dafür dankbar. Gemeinsam mit dem Bundesumweltminister greifen wir diese Kritik auf. Ich sage Ihnen, wir formulieren in dem Punkt § 4 des Kreislaufwirtschaftsgesetzes neu. Der Minister kündigt an, daß er in der Sache die Kritik der ÖkoVerbände und der SPD aufgreift. Die Frau Hartenstein distanziert sich davon und sagt, man dürfe doch die stoffliche Verwertung nicht aufweichen. Sollen wir Sie denn mit solchen Dingen ernstnehmen? ({3}) Jetzt gebe ich mal ein anderes Beispiel, meine Damen und Herren. Es gibt noch mehrere solcher Dinge. Hier wird zur Zeit immer die Verpackungsverordnung kritisiert. Weil sich die Debatte verschoben hat, hatte ich Zeit, mir in Ruhe auf einem Zettel einige Zitate aufzuschreiben. Das wäre nicht möglich gewesen, wenn wir heute rechtzeitig um 15 Uhr geredet hätten. Ich bin der Frage nachgegangen: Ist DSD als Alternative zur Rücknahme im Geschäft aus der Sicht der SPD etwas Sinnvolles oder nicht? Müller ({4}) sagte im Hessischen Rundfunk am 4. August 1993: Fraktion hat beschlossen, DSD in der heutigen Form aufzulösen. Frau Hartenstein sagte am 7. Juli 1993 in einer Presseerklärung: Ziehen Sie die Lizenzen zurück. - Da hat die sehr liebenswürdige Kollegin Hartenstein den Eindruck erweckt, daß der Herr Töpfer die Genehmigung für DSD zurücknehmen muß. ({5}) Tatsächlich müssen die Landesminister die Genehmigungen zurücknehmen. ({6}) Dann habe ich einmal in einer hervorragenden Zeitung, Nr. 10, Ausgabe Oktober 1993, nachgelesen, was denn die zuständigen SPD-Landesminister zu dem Thema sagen. Der Jo Leinen sagt, der Widerruf der Freistellung würde die Probleme verschärfen. Reden Sie doch einmal mit dem Jo Leinen. Der hat doch recht. ({7}) Der Herr Matthiesen sagt: Wir haben verschiedene Probleme bei DSD. Zu einer Lösung trägt die Diskussion über die Zurückziehung der Befreiung von der Rücknahmepflicht in einigen Ländern nicht bei. - Der Herr Matthiesen ist nicht Ihrer Auffassung, er ist unserer Auffassung. ({8}) Darm gibt es noch ein paar, die schwirren zwischen den Fronten und vernebeln. Der Herr Fischer hat in „Sieg Tech", Nr. 10, 1993 - das ist alles nachzulesen -, viel geschrieben, aber nicht gesagt, ob man jetzt zurücknehmen soll oder nicht. Denn dann müßte er ja seine Aussage auch vollziehen, aber festlegen möchte er sich lieber nicht. Auch die Frau Griefahn hat nur durch den Text geeiert, aber nicht in der Sache gesagt, ob sie Ihre Auffassung teilt. Meine Damen und Herren, Sie haben doch wirklich keine geschlossene Front. Sie erwecken hier nur den Eindruck, als wäre sie geschlossen. Ich könnte das gleiche zu dem Problem aufzeigen, ob die Rücknahme im Geschäft sinnvoll ist. ({9}) - Da gab es Presseerklärungen - ich sage Ihnen nachher die Fundstelle - Ihres früheren umweltpolitischen Sprechers, des Landrats aus Nordrhein-Westfalen - er ist selten hier -, Herrn Lennartz. Der Kollege Lennarzt hat noch im Jahr 1992 und auch schon 1991 gesagt: Die Verpackungsverordnung, die Rücknahme im Geschäft, ist etwas Gutes; schlimm ist nur der Umweg über die haushaltsnahe Sammlung, über das DSD. Meine Damen und Herren, Sie sind sich doch nicht einig. Ich gebe zu, daß auch ich mit meinem eigenen bayerischen Umweltminister nicht immer einig bin. Seien wir doch etwas ehrlicher in diesem Hause! Speziell in der Abfallpolitik ist das, was Herr Gauweiler sagt, immer populär, aber nicht immer richtig, meine Damen und Herren. ({10}) Ich will hier einmal die Fronten auflockern. Sie sind sich absolut uneinig. Auch bei uns gibt es gewisse Differenzen. Das sollten wir hier nicht vernebeln, sondern offen zugeben. ({11}) Noch ein Beispiel; dann, so fürchte ich, ist meine Redezeit zu Ende. Die wirklich sehr liebenswürdige Kollegin Hartenstein hat hier gesagt, die Privatisierung der Abfallentsorgung sei etwas ganz Übles. Wenn ich nach Bayern zu einem von mir wirklich sehr geschätzten Beamten, dem Professor Vogel, gehe, dann sagt er mir: Was ihr an Privatisierung macht, ist vor allem im Sondermüllbereich höchst bedenklich. ({12}) Dann schaue ich mir an, was die SPD-Länder machen. Ich habe mich erkundigt, wie man das woanders macht. Dann hat man mir gesagt: In Hessen ist viel privatisiert worden, und der Matthiesen in Nordrhein-Westfalen hat viel privatisiert, viel mehr als die Bayern. Jetzt tun Sie doch nicht so, als ob der Matthiesen lauter Blödsinn machen würde. ({13}) Das Schlimmste ist - dann höre ich wirklich auf -, daß Herr Matthiesen ausgerechnet die harmlosen Abfälle kommunal, damit quasi staatlich, entsorgen läßt, daß er aber gerade die problematischen Abfälle, die Sonderabfälle, privat entsorgen läßt. Räumt also einmal in euren eigenen Reihen auf, dann nehmen wir euch ernst. ({14})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort zu einer nicht einfachen Rede unserer Frau Kollegin Marion Caspers-Merk.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Dr. Friedrich, auch ich habe eine Rede vorbereitet, werde sie aber nicht halten, sondern ich werde Ihnen antworten. Das ist etwas ganz Neues im Parlament, daß man sich zuhört und spontan aufeinander eingeht. Herr Kollege Friedrich, Sie sind ein netter Mensch, ({0}) aber Sie haben hier nicht erwähnt, daß Sie natürlich in dieser Frage Partei sind. Sie sind nämlich Kuratoriumsmitglied beim DSD und haben in dieser Eigenschaft natürlich das, was hier nicht läuft, auch ein gutes Stück weit mit zu verantworten. Es genügt eben nicht, sich in ein Kuratorium nur hineinwählen zu lassen, sondern man muß dann seine Aufgaben auch erfüllen. Es genügt eben nicht, daß ein Kuratorium, so wie beim DSD, nur dekorativen Zwecken dient. Das ist eigentlich das Hauptproblem bei diesem Kuratorium. ({1}) Wir haben bei diesem Monopolisten DSD folgendes Problem: Wir sind nicht gegen das DSD, sondern wir sind gegen die Rechtsgrundlage, die Verpackungsverordnung. Das ist nämlich das eigentliche Problem. Die Verpackungverordnung hat denselben Strukturfehler wie das Kreislaufwirtschaftsgesetz. Beide sind nämlich schlampig gemacht. ({2}) Ich habe den Eindruck, daß Sie, Herr Dr. Friedrich, jetzt mit Ihrer sehr unterhaltenden Rede Nebelkerzen geworfen haben, denn kein einziger Ihrer Redner ist auf unsere Vorschläge zum Thema Verpackungverordnung und Novellierung dieser Verordnung eingegangen. ({3}) - Ich habe von Kollegen gesprochen, Frau Homburger. Das war wohl korrekt, denn Frau Homburger hat als einzige zu diesem auch angekündigten Antrag hier geredet.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Caspers-Merk, Herr Töpfer möchte eine Zwischenfrage stellen.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Töpfer, Ihre Zwischenfrage lasse ich zu. Ich möchte Ihnen zunächst aber noch folgendes zum Thema Verpakkungverordnung sagen. Ich finde es unerhört, daß wir seit Juni den Änderungsantrag auf dem Tisch haben. Unsere Kritik kennen Sie seit zwei Jahren. Jetzt ist es uns gelungen, daß morgen im Bundesrat eine gemeinsame Initiative der Länder eingebracht wird. Das Bundesland Hamburg hat eine Initiative ergriffen, und sie ist mit uns abgestimmt. Sie werden sehen, daß die Änderungsanträge für die Verpackungverordnung im Kern die gleichen sind, wie sie hier in diesem Antrag dem Haus vorliegen. Darauf sind Sie mit keinem Ton eingegangen. Das Folgende können Sie, Herr Bundesumweltminister, gleich noch mitbeantworten. ({0}) - Ich weiß, daß Sie Ihre Antworten immer in Fragen verpacken. Das ist doch bekannt und passiert in diesem Hause ständig. ({1}) Ich möchte Ihnen folgendes vorlesen. Sie haben in Punkt 9 Ihrer Presseerklärung am 3. September folgendes gesagt: Es erfolgt eine vorbehaltlose Überprüfung der Verpackungverordnung durch Bund und Länder vor dem Hintergrund der zwischenzeitlichen Erfahrungen, vornehmlich unter Berücksichtigung ökologischer Ansprüche bei der Realisierung des Dualen Systems. Die einzigen, die bislang etwas vorgelegt haben, sind in der Tat die SPD-Bundestagsfraktion und die Länder. Sie sind uns die Antwort zur Novellierung der Verpackungverordnung - das ist die Strukturkrise des DSD - bislang schuldig geblieben.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Caspers-Merk, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Klaus Töpfer?

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte.

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002335, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, da Sie gerade unseren Kollegen Friedrich auf seine Mitgliedschaft im Beirat des DSD angesprochen haben und damit vielleicht unterschwellig etwas mit einbringen wollten, ({0}) frage ich Sie: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Vorsitzende dieses Gremiums Ernst Ulrich von Weizsäcker ist? Sind Sie nicht der Meinung, daß es sehr gut ist, wenn man versucht, in ein solches neues Instrument, das weltweit keinen Vergleich hat, alles mit einzubringen, was an Sachverstand da ist, so daß man dann hinterher wirklich die damit verbundenen Wirkungen einer Kreislaufwirtschaft durchsetzen kann?

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Töpfer, unser sehr geschätzter Kollege Ernst Ulrich von Weizsäcker ist in der Tat Vorsitzender des Kuratoriums des DSD. Das ist zutreffend. Aber er hat ausdrücklich beklagt, daß dieses Kuratorium nur dekorative Zwecke hat. ({0}) Er kann nämlich überhaupt nicht eingreifen. Er hat im übrigen in einem Schreiben seine Kritikpunkte dazu dargelegt und hat auch Änderungsvorschläge zur Struktur des DSD vorgelegt, die dann der Kollege Friedrich in einem Schreiben kritisiert hat. Es gibt also ein Bündel von Änderungsvorschlägen aus dem Kuratorium des DSD, die von Ernst Ulrich von Weizsäcker vorgetragen wurden und die nicht aufgenommen wurden. Das ist das Problem. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Caspers-Merk, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Friedrich?

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte sehr, Kollege Friedrich.

Dr. Gerhard Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002657, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Caspers-Merk, sind Sie bereit, nachher mit mir in mein Büro zu gehen, ({0}) sich die Akten des Kuratoriums anzuschauen, um sich davon zu überzeugen, daß ich Professor von Weizsäkker kritisiere, weil er gerade keine Anträge im Kuratorium stellt? Ich habe ihn kritisiert, weil er in der Presse jammert, wie schlimm das alles ist, und noch keinen einzigen konkreten Änderungsantrag im Kuratorium gestellt hat. Sind sie bereit, das nachher in meinem Büro nachzulesen?

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Friedrich, ich nehme natürlich Ihr Angebot, mit Ihnen ins Büro zu gehen, nicht an, aber ich bin gern bereit, zu überprüfen, was Sie uns hier sagen. Ich kann Ihnen umgekehrt die Änderungsvorschläge zum DSD schriftlich nachweisen. Ich kenne Ihre Auslassungen zu diesem Thema. Ich finde es in Ordnung, wenn Sie den Inhalt der Vorschläge kritisieren. Das ist gut. Aber Sie sollten nicht verschweigen, daß es diese Vorschläge gibt; sie liegen auf dem Tisch. Im übrigen bin ich froh, daß Abfallwirtschaft und auch Verordnungen immer noch von der Regierung und vom Parlament gemacht werden. Deswegen wäre es wichtig gewesen, wenn Sie heute in diesem Hause Ihre Änderungsvorschläge zur Verpackungsverordnung vorgelegt hätten. Das haben Sie nicht getan. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Caspers-Merk, gestatten Sie noch eine Frage des Kollegen Michael Müller?

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte, Herr Kollege Müller.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Caspers-Merk, stimmen Sie mir zu, daß wir hier nicht auf Nebenkriegsschauplätzen kämpfen sollten, uns also nicht mit einem Kuratorium oder mit Ernst Ulrich von Weizsäcker beschäftigen, sondern über die politische Verantwortung reden sollten, nämlich über eine völlig verfehlte Verpackungsverordnung? ({0}) - Es ist völlig richtig. Ich frage sie ja. Was regen Sie sich denn so auf? ({1})

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Müller, selbstverständlich ist es vollkommen richtig, daß wir über die Verpackungsverordnung und über unseren Antrag reden sollten. Ich habe gerade kritisiert, daß kein Mitglied der Koalition, auch nicht der Bundesumweltminister, auf unseren Antrag mit auch nur einer Silbe eingegangen ist. Ich finde es nicht in Ordnung, wenn man am 3. September in der Presse ankündigt, daß man hier vorbehaltlos über die Verpackungsverordnung sprechen will, aber dann, wenn sie im Plenum aufgerufen wird, die Antwort schuldig bleibt. Das haben wir hier zu kritisieren. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Caspers-Merk, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Birgit Homburger?

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß das Sitzungsende im Moment 2.40 Uhr ist. Ich lasse diese Zwischenfrage noch zu. Dann fahren wir in der Debatte fort. Bitte, Frau Kollegin Homburger.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Caspers-Merk, könnten Sie uns bitte sagen, seit wann die Regel gilt, daß Verordnungen im Parlament beschlossen werden?

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Homburger, genau das ist der eigentliche Skandal, daß eine Verpackungsverordnung, die sich als nicht tauglich erweist, nicht vom Verordnungsgeber geändert wird, sondern daß wir über eine Hilfskonstruktion die Initiative eingreifen müssen, damit dies hier im Parlament beredet werden kann. Ich finde es eigentlich nicht in Ordnung, daß man, wenn man eingesehen hat, daß es Strukturfehler in dieser Verpackungsverordnung gibt, die zur Dauerkrise des DSD führen, nicht bereit ist, Lernfortschritte zu machen und diese Verpackungsverordnung zu novellieren. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Caspers-Merk, Sie können jetzt in Ihrer Rede fortfahren. Diese Zwischenetappen sind nicht auf Ihre Redezeit angerechnet worden.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank, Herr Präsident. Ich möchte zur Verpackungsverordnung und zur neuen Krise des DSD noch folgendes ausführen. Die Finanzkrise ist nur vordergründig das Problem. Die Krise ist das DSD selbst. Wir meinen, daß die Monopolstruktur nicht erlaubt, daß eine Kontrolle der Stoffflüsse und der Geldmengen stattfindet. Wir verlangen - das tun wir im Interesse der Bürgerinnen und Bürger, die das ganze System bezahlen -, daß endlich Kostentransparenz geschaffen wird, daß die Umweltverbände, Verbraucherverbände und diejenigen, die das alles auszubaden haben, nämlich die Kommunen und Kreise, am DSD beteiligt werden und nicht nur die Zeche zahlen müssen. Wir fordern weiterhin, daß endlich mit angekündigten Verordnungen, die die Verpackungsverordnung stützen sollten, Ernst gemacht wird. Sie, Herr Töpfer, sind hier, wie immer, im Wort. Sie haben keine der Verordnungen umgesetzt. Sie wissen alle, daß wir im Umweltauschuß konkrete Zeitvorgaben dazu erhalten haben, wann diese Verordnungen kommen: Die .Altpapierverordnung sollte im Juli des letzten Jahres kommen, die Elektronikschrottverordnung sollte im Juli des letzten Jahres kommen, die Altautoschrottverordnung sollte im Juli des letzten Jahres kommen. Die Mehrwegverordnung ist angekündigt, sogar schon anberaten worden, ist aber bislang nicht erlassen worden. Sie wissen auch, daß unsere Länder im Bundesrat ihre Zustimmung zur Verpackungsverordnung damals vom Erlaß dieser zusätzlichen Verordnungen abhängig gemacht haben, ({0}) daß wir eine Kunststoffkennzeichnungspflicht gefordert haben und daß alle diese Verordnungen bislang nicht erlassen wurden. Sie haben hier eine Bringschuld, d. h. Sie haben die Länder im Prinzip insoweit getäuscht, weil Sie die Verordnungen, die Sie zugesagt hatten, bislang nicht erlassen haben. Das Problem, das wir mit dem Dualen System Deutschland haben, ist im Moment, daß die Städte und Kommunen finanziell in die Pflicht genommen werden. Es handelt sich hier urn die „Kleinigkeit" von 250 Millionen DM, die sie stunden sollen - und das bei einer Finanzlage, die katastrophal ist. Wir halten es nicht für verantwortbar, daß man den Städten, Kommunen und Kreisen finanzielle Lasten aufbürdet, ohne daß man bereit ist, über eine Strukturverbesserung des DSD nachzudenken. Meines Erachtens ist es wichtig, daß die Verpakkungsverordnung auf eine neue Grundlage gestellt wird, damit das ganze System arbeiten kann. Ich möchte abschließend folgendes ausführen: Was Sie mit diesem Wirrwarr um das DSD angerichtet haben, ist das Schlimmste, was man umweltpolitisch anrichten kann. Sie haben nämlich den GlaubwürdigMarion Caspers-Merk keitsverlust der Politik in Umweltfragen herbeigeführt. ({1}) Die Bürger haben mitgemacht, haben sortiert, und jetzt wird ihnen dieses Mitmachen und Sortieren zum Vorwurf gemacht. Mich fragen Bürgerinnen und Bürger daheim im Wahlkreis: Was soll ich denn nun eigentlich tun? Soll ich den Joghurtbecher nun mit 51 Wasser spülen, obwohl er später vielleicht in Indonesien landet? Wie kann ich sicherstellen, daß das, was eingesammelt wurde, auch ökologisch verwertet wird bzw. die Verwertung unter ökologischen Kriterien erfolgt? Das ist doch der entscheidende Punkt. Diese Unsicherheit müssen wir den Bürgern nehmen. Wir müssen ihnen wieder eine glaubwürdige zukunftsfähige Umweltpolitik vorführen. Herr Töpfer, Sie und Ihr Haus sind dazu nicht in der Lage. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen zu diesem Tagesordnungspunkt nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/5672 und 12/5242 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Kennzeichnung von Kunststoffen auf den Drucksachen 12/2502 und 12/4793. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wir stimmen über diese Beschlußempfehlung ab. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit knapper Mehrheit angenommen. Wir stimmen jetzt ab über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste zu ihrer Großen Anfrage zum Dualen System Deutschland auf den Drucksachen 12/3469 und 12/5370. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag abzulehnen. Wir stimmen über die Beschlußempfehlung ab. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Bei mehreren Stimmenthaltungen und Gegenstimmen ist diese Beschlußempfehlung mit großer Mehrheit angenommen. Ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung sowie die Zusatztagesordnungspunkte 5 und 6 auf: 10. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD Sofortmaßnahmen zur Durchsetzung friedlicher Verhandlungslösungen im ehemaligen Jugoslawien - Drucksachen 12/4192, 12/5306 Berichterstattung: Abgeordnete Christian Schmidt ({1}) Karsten D. Voigt ({2}) ZP5 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und F.D.P. Lage der bosnischen Kriegsflüchtlinge - Drucksache 12/5714 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({3}) Innenausschuß ZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Poppe, Vera Wollenberger, Werner Schulz ({4}) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zur aktuellen Situation im Krieg in Bosnien-Herzegowina - Drucksache 12/5729 - Überweisungsvorchlag: Auswärtiger Ausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre und sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Bevor ich die Ausprache eröffne, bitte ich um Ihre Zustimmung, daß die Frau Kollegin Dr. Barbara Höll ihre Rede zu Protokoll gibt.*) - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen. Nunmehr hat das Wort als erster Redner der Bundesminister des Auswärtigen, Herr Dr. Klaus Kinkel.

Dr. Klaus Kinkel (Minister:in)

Politiker ID: 11002696

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist außergewöhnlich, daß ich an erster Stelle spreche. Ich möchte allen, die dem zugestimmt haben, sehr herzlich dafür danken. Ich finde das eine sehr noble Geste. Ich habe eine wichtige Veranstaltung, die schon um 19 Uhr begonnen hat. Aber ich wollte - Sie werden das verstehen - zu Jugoslawien selber sprechen. Ich danke Ihnen sehr, sehr herzlich dafür. Die Bundesregierung verfolgt im ehemaligen Jugoslawien zwei Ziele: Beendigung der Gewalt und Hilfe für die bedrängten Menschen. Sie tut dies in enger Abstimmung mit ihren Partnern und Verbündeten, vor allem mit der französischen Regierung. Das Morden und „ethnische Säubern" in Bosnien währt nun über eineinhalb Jahre. Die Besetzungen und Vertreibungen in Kroatien dauern schon zwei Jahre. Wir alle sind bestürzt darüber, daß so etwas im Europa unserer Tage geschehen konnte und geschehen kann. *) Anlage 18 Die bittere Wahrheit ist: Europa, die Staatengemeinschaft insgesamt, war nicht in der Lage, die kleineren Nationen und Republiken gegen den aggressiven serbischen Nationalismus zu schützen und schlimmste Barbarei zu verhindern. Inzwischen lassen sich alle Beteiligten Schlimmes zuschulden kommen. ({0}) Bei all unserer Betroffenheit über das Geschehen im Südosten unseres Kontinents dürfen jedoch besonders wir Deutsche eines nicht übersehen: Inzwischen haben 56 UNO-Soldaten im Friedenseinsatz im früheren Jugoslawien ihr Leben gelassen. Uns steht es nicht an, Kritik an anderen zu üben oder Ratschläge zu erteilen, solange wir selber nicht bereit sind, die gleichen Risiken wie sie zu tragen. ({1}) Um nicht mißverstanden zu werden: Ich plädiere nicht für ein deutsches militärisches Engagement im früheren Jugoslawien, sondern ich plädiere für Mäßigung bei Forderungen an andere. ({2}) Uns allen sind die von Verfassung und Geschichte gezogenen Grenzen deutscher Handlungsfähigkeit im ehemaligen Jugoslawien bekannt. Das heißt aber nicht, daß wir die dortigen Vorgänge lediglich passiv verfolgen würden. Im Gegenteil: Wir beteiligen uns auf die vielfältigste Weise an den internationalen Bemühungen, an den Arbeiten der Konferenz über Jugoslawien ebenso wie an der EG-Beoachtermission. Unsere Zoll- und Finanzbeamten helfen zu Lande und auf der Donau den Nachbarstaaten, Serbien und Montenegro, bei der Überwachung der Sanktionen. Wir beteiligen uns an der Überwachung des Flugverbots über Bosnien wie an der Einhaltung des Embargos auf der Adria. In den letzten Tagen haben deutsche und französische Hafenexperten durch ein gemeinsames Gutachten vielleicht die Voraussetzungen für eine einvernehmliche Regelung des Zugangs der bosnischen Moslems zur Adria geschaffen. Von allen europäischen Staaten steht Deutschland mit seinen humanitären Leistungen mit an der Spitze. In der EG tragen wir mit Abstand die Hauptlast bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Unsere bislang zur Bekämpfung der Not im ehemaligen Jugoslawien vorgesehenen Unterstützung beläuft sich zusammen mit unserem Anteil an der EG-Hilfe inzwischen auf 445 Millionen DM. Unser Engagement gilt vor allem der Unterbringung von Vertriebenen und Flüchtlingen, der Versorgung traumatisierter Kriegsopfer, nicht zuletzt der Versorgung Sarajevos und der ostbosnischen Enklaven. Ich möchte den dabei beteiligten Piloten der Bundeswehr und allen anderen, die mithelfen, daß dort die schlimmste Not gelindert wird, erneut von diesem Platz aus sehr herzlich für ihren schwierigen Einsatz danken. ({3}) Besonders scheußlich - es hat mich gewundert, das ist überhaupt nicht an die Öffentlichkeit gedrungen, jedenfalls nicht so, wie ich es gedacht hatte - war vor einigen Tagen die Beschießung des von uns finanzierten Flüchtlingsdorfs in Karlovac durch die Serben: fünf Tote, viele Verletzte, ein Drittel des von uns errichteten Dorfs, das ich vor kurzem noch besucht habe, zerstört. Es fehlen einem die Worte. Gegenwärtig gibt es eine alles andere überragende politische und humanitäre Priorität, nämlich den Menschen in Bosnien einen zweiten Kriegswinter zu ersparen. ({4}) Wie der ausgehen würde, das allerdings wissen wir nicht. Hierzu bedarf es der dauerhaften Waffenruhe auf der Grundlage einer von allen drei Seiten in Genf freiwillig akzeptierten Regelung. Aus diesen vor allem humanitären Erwägungen heraus unterstützen wir die Bemühungen der beiden Ko-Vorsitzenden der Genfer Konferenz, vielleicht doch noch kurzfristig zu einer Lösung zu kommen. Ja, wir sehen die Unzulänglichkeit des derzeit vorliegenden Plans. Sollten die Konfliktparteien sich jedoch freiwillig auf eine Lösung einigen, kann es nicht unsere Aufgabe sein, dies zu kritisieren. Allerdings muß nach wie vor für uns gelten, daß die Schwächsten, nämlich die bosnischen Muslime, nicht zu einem Vertragsschluß gezwungen werden dürfen. ({5}) Eine Teilrepublik muß lebensfähig sein, und es darf keine Lösung um jeden Preis geben. Wenn es zu einem Friedensschluß kommen sollte, hängt alles von der raschen und wirksamen Umsetzung ab. Die Vereinigten Staaten und Rußland müssen hieran mitwirken. Deutschland würde sich im Rahmen seiner Möglichkeiten beteiligen. Dies gilt insbesondere für die Verwaltung der Stadt Mostar durch die EG. Man ist an uns herangetreten und hat angefragt, ob wir nicht den Koordinator, den Administrator stellen könnten. Das habe ich unsern elf europäischen Partnern angeboten. Nach Abschluß eines Friedensvertrages für Bosnien, sollte er kommen, müßte nach unserer Auffassung die Londoner Konferenz auf Ministerebene neu einberufen werden. Ich dränge erneut und immer wieder darauf, bin aber noch nicht auf volle Zustimmung gestoßen. Ich möchte allerdings sagen, warum ich meine, daß das Ganze notwendig ist: Ziel müßten die rasche und vollständige Implementierung der verschiedenen Teile des Vertrages und die Mobilisierung der für den Wiederaufbau des Landes und der Wiederansiedlung der Flüchtlinge notwendigen Mittel sein. Dafür ist die Einbindung der islamischen Welt dringend notwendig, ja unerläßlich. ({6}) Aber ebenso wichtig ist, daß die Suche nach einer Gesamtregelung der mit dem Zerfall Jugoslawiens verbundenen Probleme vorangetrieben wird. Das gilt für die Krajina, den Kosovo, den Sandjak und die Vojvodina. ({7}) Nur so kann eine Ausweitung des Konflikts vermieden werden. Wir haben im Augenblick die Situation, daß alles gebarmt auf die Genfer Verhandlungen starrt - zu Recht, weil man hofft, daß es zu einem Waffenstillstand kommt. Es wird dabei aber sehr leicht übersehen, daß mit einem erfolgreichen Ergebnis der Genfer Verhandlungen ein Großteil der Probleme natürlich nicht gelöst wäre. ({8}) Deshalb glaube ich, daß wir zwingend eine erneute Londoner Konferenz benötigen, um die Probleme, die dann noch bestehen, nicht beiseite zu legen, sondern, wenn irgendwie möglich, einer Lösung zuzuführen. Besondere Sorge, meine Damen und Herren, bereiten uns die immer wieder aufflammenden Kämpfe in den serbisch besetzten Gebieten Kroatiens. Die Serben tragen wegen der Nichterfüllung des Vance-Planes die Hauptverantwortung. Wir wollen die kroatische Seite von unakzeptablen und gefährlichen militärischen Aktionen abhalten. Hierfür tun wir alles, was nur irgendwie geht. Ich habe mich in letzter Zeit x-mal an Herrn Tudjman und seinen Außenminister teils bilateral, teils mit den anderen elf Partnern in Europa, insbesondere zusammen mit den Franzosen, gewandt. Er muß den Druck auf Belgrad aufrechterhalten. ({9}) Wir sind in all diesen Konflikten nicht Partei. Ich möchte mit großem Nachdruck sagen - ich hoffe, daß das dort, wohin es dringen sollte, gehört wird -: Wir wollen mit allen Völkern der Region - auch wie füher mit dem serbischen Volk - enge Beziehungen in allen Bereichen aufbauen. ({10}) Sanktionen und alles, was unternommen wird, richten sich nicht gegen das serbische Volk. ({11}) Dies setzt jedoch voraus, daß sich die Regierung in Belgrad an einer wirksamen Umsetzung der Regelungen für Bosnien-Herzegowina beteiligt und daß sie ihren Beitrag zu einer umfassenden Lösung der Probleme im ehemaligen Jugoslawien auf der Grundlage der von der EG formulierten Grundsätze leistet. Was nun die Sanktionen anbelangt: Da ich immer wieder höre, sie sollten aufgehoben oder gelockert werden, sage ich ganz klar, daß eine Unterschrift allein nicht ausreicht, um eine Lockerung zu erreichen. Was allein zählt, sind Taten. ({12}) Nun ist genügend geredet worden, jetzt müssen Taten folgen, nämlich reale nachprüfbare Schritte zur Umsetzung einer politischen Lösung, entsprechend den einschlägigen UN-Sicherheitsratsresolutionen. Für eine umfassende Friedensregelung gilt der Grundsatz: Gleiche Rechte und gleiche Pflichten für alle Nachfolgestaaten, für alle nationalen und ethnischen Gemeinschaften. Die Serben können den Albanern im Kosovo nicht verweigern, was sie für die serbischen Gemeinschaften in Bosnien-Herzegowina und in Kroatien fordern. ({13}) - Und umgekehrt. Eine Lösung der Kosovo-Frage wird immer dringender. Soll sie friedlich sein, kann sie nur in der Wiederherstellung weitgehender Autonomie für diese Provinz bestehen. ({14}) Ebenso müssen die Rechte der nationalen Minderheiten im Sandjak und in der Vojvodina kodifiziert werden. Meine Damen und Herren, zur Beendigung der Krise im ehemaligen Jugoslawien gibt es keine einfachen Lösungen. Das mußten wir alle schmerzhaft erfahren. Auch Deutschland wird weiter gefordert sein, im Rahmen seiner Möglichkeiten zur Wiederherstellung des Friedens in diesem Raum beizutragen. Ich bitte Sie im Deutschen Bundestag alle sehr herzlich, die entsprechenden Bemühungen der Bundesregierung nachdrücklich zu unterstützen. Ich habe mich für vielfältige Unterstützung in den Ausschüssen und seitens des Parlaments für eine nicht ganz einfache Aufgabe, die wir bisher leider auch nicht im entferntesten zu lösen in der Lage waren, zu bedanken. Ich darf mich noch einmal sehr herzlich bedanken, daß Sie mich als ersten haben sprechen lassen. Ich bitte, es nicht als unhöflich anzusehen, wenn ich jetzt weggehen muß. Ich danke Ihnen sehr. ({15})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Dr. Peter Glotz.

Prof. Dr. Peter Glotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000692, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Jugoslawienpolitik dieser Bundesregierung schwankt. Zuerst war sie von einem gewaltigen Kraftakt geprägt, der Erzwingung der Anerkennung Kroatien, und danach lange Zeit von kleinlauter Zurückhaltung. Es gab Monate, in denen die Bundesrepublik, deren Verantwortung in der Welt so gewachsen ist, wie ich immer höre, in Jugoslawien keine größere Rolle als der kleinste EG-Staat gespielt hat. Eine verläßliche, auf kontinuierliche Abstimmung mit unseren Partnern ausgerichtete Politik wäre bes15226 ser gewesen als dieses Auf und Nieder der Politik dieser Bundesregierung. ({0}) Ich stehe aber nicht, an zu sagen, Herr Staatsminister, daß in den letzten Wochen die Politik der Bundesregierung an Fahrt gewonnen hat. Wir Sozialdemokraten unterstützen die jugoslawienpolitische Zusammenarbeit Deutschlands mit Frankreich ausdrücklich. Die gemeinsamen Initiativen des deutschen und des französischen Außenministers waren sinnvoll, haben bei unseren Verbündeten auch Anerkennung gefunden. Und gehen Sie bitte davon aus, daß wir auch die Idee, die Gemeinschaft mit der vorübergehenden Verwaltung Mostars zu betrauen, für richtig halten. Sollte sich die Gemeinschaft dafür entscheiden, einem Deutschen diese Aufgabe zu übertragen, wird er sicherlich die Unterstützung des ganzen Deutschen Bundestages haben. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Dr. Glotz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lamers?

Prof. Dr. Peter Glotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000692, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte sehr.

Karl Lamers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001273, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Glotz, meine Frage schließt sich natürlich an Ihren ersten Satz an. Es war mir nicht möglich dazwischenzukommen. Deswegen möchte ich jetzt auf Ihre Eingangsbemerkung zurückkommen und Sie fragen, ob mich meine Erinnerung täuscht, wenn ich glaube, daß zu dieser Politik, der von Ihnen kritisierten Politik der Bundesregierung, Ihre Fraktion maßgeblich mit beigetragen und exakt in dieser Weise von der Bundesregierung gefordert hat, wie Sie sie jetzt kritisieren, und ob Sie zweitens meine Überlegungen nachvollziehen können, daß die maßgeblich wiederum von Ihrer Fraktion geführte Diskussion über die Teilnahmemöglichkeiten deutscher Streitkräfte an Maßnahmen der Vereinten Nationen zu der Schwäche der deutschen Politik beigetragen hat.

Prof. Dr. Peter Glotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000692, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zum ersten Teil der Frage, Herr Kollege Lamers. Lassen Sie uns doch keinen Hickhack machen. Sie wissen genauso gut wie ich, daß Sie in dieser Frage recht haben. Das heißt, es gab bei uns in der Fraktion eine knappe Abstimmung so herum und so herum, es gab unterschiedliche Meinungen im ganzen Deutschen Bundestag. Ich glaube, daß mancher, der damals für die Anerkennung war, inzwischen nachdenkt. ({0}) Bitte, denken Sie doch auch mit mir gemeinsam nach, wie viele unserer engsten Verbündeten, auf deren Zustimmung Sie häufig größten Welt legen, bei der Frage der Anerkennung Kroatiens inzwischen mit den Deutschen sehr, sehr ernste Diskussionen führen. ({1}) Ich glaube, daß die Engländer und Franzosen in diesem Punkt recht haben, aber ich füge hinzu: Ich weiß, daß es auch in meiner Fraktion Kollegen gibt, die anderer Auffassung sind. Wollen wir doch diese Kontroverse auch so ehrlich und offen miteinander austragen. Zum zweiten Punkt. Lassen Sie uns nicht bei jeder Gelegenheit unsere unterschiedlichen Meinungen über Blauhelme austragen. Unsere Meinung dazu ist sehr klar, und sie wird auch jugoslawienpolitisch nicht verändert.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Dr. Glotz, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Poppe?

Prof. Dr. Peter Glotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000692, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte sehr, Kollege Poppe.

Gerd Poppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001736, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kollege Glotz, stimmen Sie mir zu, wenn ich feststelle, daß die Anerkennung Kroatiens und Sloweniens etwa ein Jahr nach dem Ausbruch der ersten Kampfhandlungen, nämlich des Überfalls Serbiens gegenüber Slowenien und dann etwas später gegenüber Kroatien, erfolgte und keineswegs ein Auslöser für die Verschärfung dieses Krieges gewesen ist, und daß auf der anderen Seite im Gegenteil die verspätete Reaktion sowohl Ihrer Fraktion als auch der Regierungskoalition, nämlich noch ein Jahr nach dem bereits absehbaren Auseinanderfallen Jugoslawiens auf dem Bestehen dieses Staates zu beharren, nicht vielleicht viel eher eine problematische Sicht gewesen ist?

Prof. Dr. Peter Glotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000692, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Poppe, ich stimme Ihnen zu, daß die Kritik, die an uns aus Serbien, auch von manchen Verbündeten, geübt wird, daß das die Auslösung des Krieges war, falsch ist. Aber Kroatien anzuerkennen, nachdem im BadinterBericht klipp und klar gesagt worden war, welche Fehler die Regierung Tudjman gemacht hat, wie miserabel oder wie unzureichend sie die serbische Minderheit behandelt hatte - Slowenien ist ein ganz anderer Fall -, dies allerdings halte ich für einen gravierenden politischen Fehler, den die Deutschen gemacht haben. Und daß dies noch mitten im Maastricht-Prozeß passiert, wo wir eine gemeinsame Außenpolitik verabreden wollten, wo sich alle erpreßt fühlten, war erst recht ein großer europapolitischer Fehler. Das sollte auch BÜNDNIS 90 erkennen, Herr Kollege Poppe.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Dr. Glotz, gestatten Sie noch eine letzte Zusatzfrage in diesem Zusammenhang, und zwar vom Kollegen Freimut Duve?

Prof. Dr. Peter Glotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000692, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich.

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Peter Glotz, Sie haben eben selber auf Differenzen bei uns hingewiesen. Insofern können wir hier wohl auch ganz offen-miteinander über diese Frage sprechen. Stimmen Sie mir denn nicht zu, daß nach der Zerstörung Dutzender Städte, nach Vukovar, nach Dubrovnik, nach dem Aufmarsch einer Armee, die so tat, als wäre sie innerstaatliche Polizei, der einzige Ausweg sinnvoll war - und genau darüber denken inzwischen auch die Franzosen nach -, zu sagen, es sei kein innerstaatlicher, sondern ein internationaler Angriff - ein Drittel des Landes war bereits aus dem alten Staatsverband Kroatien, der ja nach der jugoslawischen Verfassung rechtmäßig zu Kroatien gehörte, bereits herausgelöst worden -, und aus diesem Grund, Menschen zu schützen und nicht einen Ustascha-Staat anzuerkennen, um den es hier gar nicht ging, die Völkergemeinschaft gezwungen war, nach neun Monaten Zuwarten und Ansehen des Bombardements anzuerkennen, und daß diese Anerkennung dann fast automatisch zur Beendigung der Feindseligkeiten geführt hat? Stimmen Sie mir darin zu?

Prof. Dr. Peter Glotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000692, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Duve, ich stimme Ihnen nicht zu. Der Grundirrtum bei der Beurteilung ethnonationalistischer Kriege liegt gerade hier vor. Sie haben ihn gerade selbst formuliert. Wenn sich Teile eines Staates aus einem größeren Staatsverband lösen, dann muß diese Lösung vereinbart sein. Wenn sie nicht vereinbart wird, wenn die Sezession von einer Seite erklärt wird, dann wird es Mord und Totschlag geben. Wer dies nicht begreift, der hat nach meiner Meinung von den Auseinandersetzungen am Balkan nicht sehr viel begriffen und bleibt bei dem alten Begriff: Der Grund ist die serbische Aggression. Das ist zu einfach. Das ist das Modell „Krieg von Staaten gegen Staaten", während in Wirklichkeit Volksgruppen gegeneinander kämpfen. Dies ist eine Verkennung der Situation. ({0}) - Man muß die Kontroversen offensichtlich so austragen, wie sie sind. Herr Kollege Lamers hat damit begonnen. Ich finde es nur ehrlich und richtig, das zu tun. Nun komme ich zu meiner Redezeit zurück, Herr Präsident.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte sehr. Jetzt beginnt sozusagen die Redezeit.

Prof. Dr. Peter Glotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000692, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Drei Bemerkungen. Erstens. Die Einigung im bosnischen Krieg - der Außenminister hat es gesagt -, über die in Genf verhandelt wird und die Präsident Izetbegovie am Montag seinem Parlament vorlegen wird, ist sicher alles andere als gerecht. Eine Fortsetzung des Krieges würde aber gerade die muslimische Gemeinschaft in eine ausweglose Lage manövrieren. Nachbesserungen, die auf amerikanischen und auch auf europäischen Druck zustande kamen - der Adria-Zugang -, sind ein kleiner Schritt. Deswegen sage ich: Wir sind uns bewußt, daß die Verhandlungen in Genf alternativlos sind und daß ein Scheitern unabsehbare Folgen hätte. Ich glaube also, daß die Haltung der Bundesregierung an diesem Punkt richtig ist. Das bedeutet allerdings, daß wir uns jetzt auch an der Implementierung der Lösung beteiligen müssen, so angespannt unsere Haushaltssituation ist: Ich denke, wir werden den Bundesaußenminister unterstützen, wenn er an diesem Punkt den schwierigen Weg zum Haushaltsausschuß gehen muß. Aber es ist notwendig, daß wir das mitmachen, so teuer das sein wird. Was die Mittel betrifft, Herr Staatsminister, bitte ich die Bundesregierung im übrigen, nicht nur die klassischen in Erwägung zu ziehen. Das Grundübel nationalistischer Kriege ist die gegenseitige Aufhetzung der Völker. Ich glaube, daß da manchmal eine Medienintervention wichtiger wäre als eine militärische Intervention. Wir und die Bundesregierung sollten tun, was wir können, um dort Geld zu investieren und beispielsweise eine unabhängige Radiostation zu unterstützen, die auch der serbischen Opposition die Möglichkeit gibt, sich zu äußern. ({0}) Zweitens. Meine Damen und Herren, wenn wir jetzt über Bosnien reden, sollten wir sehen, daß es schon einen nächsten möglichen Kriegsschauplatz gibt. Im Kosovo rasen zwei Züge mit großer Geschwindigkeit aufeinander zu. Wir müssen alles tun, um zu verhindern, daß dort der dritte jugoslawische Krieg ausbricht. Dies wäre ein Krieg, der dann auch Albaner, Griechen, Bulgaren und Türken einbeziehen würde. Er könnte die ganze Südflanke der NATO zerstören. Ich glaube, der Westen und wir müssen gemeinsam eine operative Politik betreiben, um ein solches Schreckensszenario zu verhindern. Uns ist klar, daß nahezu alle Serben das Kosovo als integralen Bestandteil ihres Landes betrachten. Im Kosovo aber leben heute mehr als 80 % Albaner. Die Aufhebung der Autonomie durch Miloševič - darauf hat Herr Kollege Poppe gerade hingewiesen - war falsch. Die mit dieser Aufkündigung verbundenen Brutalitäten waren verbrecherisch. Die Repression, die heute gegen die Albaner im Kosovo herrscht und die nicht nur durch die serbischen Behörden, sondern auch durch paramilitärische Verbände unter Arkan und Šešelj ausgeübt wird, ist unmenschlich und ganz und gar unakzeptabel. ({1}) Die Bundesregierung, Herr Staatsminister, könnte und sollte deutlich machen, daß sie die Probleme der Kosovo-Albaner sieht. Eine Möglichkeit wäre z. B. eine offizielle Einladung an Ibraim Rugova, den Führer der Kosovo-Albaner, nach Deutschland. Er ist ein besonnener, nachdenklicher, kompromißfähiger Mann. Eine angemessene Einladung an ihn, übrigens auch an den einen oder anderen serbischen Oppositionspolitiker - manchmal gibt es das schon -, dürfte uns nicht überfordern. Ich sage allerdings: Wenn wir den Albanern helfen wollen, müssen wir von einer rhetorischen zu einer operativen Politik übergehen. Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir die stärkste Militärmacht der dortigen Region, Serbien, zu vernünftigen Schritten bringen können. Damit bin ich beim Embargo. Meine Damen und Herren, es wirkt inzwischen: Die Inflation im Land ist katastrophal. Viele Menschen, jedenfalls die unteren Schichten, darben längst. Im Winter, in einigen Monaten, wird die Lage katastrophal werden. Wir sollten Präsident Miloševič nicht die Gelegenheit geben, seinem Volk zu sagen: Was immer wir tun, es ist völlig gleich, der Westen wird seine Sanktionen in jedem Fall aufrechterhalten. Sanktionen sind keine Strafe, sondern ein Hebel. Deswegen nenne ich zwei Punkte. Erstens. Wir sollten dafür sorgen - da stimme ich Herrn Außenminister Kinkel zu -, daß ein Signal gegeben werden kann. Ich rede zunächst einmal von den Medikamenten; diese fallen nicht unter die Sanktionsregelungen, werden aber de facto nicht geliefert. Wenn man sich dort operieren lassen will, muß man den Operationsdraht mitbringen. Er hat gesagt: Nicht die serbischen Menschen sind diejenigen, gegen die wir kämpfen, sondern die Regierung. Das ist absolut richtig. Deswegen sollten wir Menschen nicht als Geisel nehmen und sollten durch die vernünftige Belieferung der Bevölkerung mit Medikamenten ein Zeichen geben. ({2}) - Ja, sehr richtig! Sie haben vollkommen recht. Übrigens bin ich Ihrer Meinung, daß man gleichartig handeln sollte. Ausgerechnet die deutsche Regierung verhängt im Falle Serbien Sanktionen, bei Mostar aber schweigt sie. Das ist ein Fehler; dies entnehme ich einem Interview, das Außenminister Hurd gerade gegeben hat. Zweitens sollten wir Serbien signalisieren, daß wir eine Lockerung der Sanktionen in Aussicht nehmen - bestimmte Sanktionen werden wir immer in der Hinterhand behalten müssen -, wenn Serbien einer Stationierung von Blauhelmen im Kosovo zustimmt. Dies ist eine der zentralen Forderungen und Hoffnungen der Kosovo-Albaner. Meine Damen und Herren, auf diesem Stück Erde kann es jeden Tag zu einem Blutbad kommen; das wissen wir. Verhindert werden könnte dies, wenn dort ein paar hundert Blauhelme stünden; auch ein paar amerikanische könnten dabei sein. Wir sollten alles tun, um einen solchen, von den Albanern dringend gewünschten Schritt durchzusetzen. Das geht nur, wenn man die Sanktionen operativ handhabt, nicht, wenn man sie ewig bestehen läßt und nicht deutlich macht, unter welchen Bedingungen man sie aufheben würde. ({3}) Außerdem mahne ich ein Mindestmaß an Logik an. Das hat Herr Außenminister Kinkel gerade zugestanden. Wenn wir im Kosovo eine weitgehende Autonomie der Albaner fordern - die müssen wir fordern -, dann müssen wir das auch für die serbische Bevölkerungsmehrheit in der kroatischen Krajina tun. Meine letzte Bemerkung betrifft Makedonien. Wir Sozialdemokraten bekunden Respekt vor der Leistung der makedonischen Regierung unter Präsident Gligorov, die einen schwierigen Vielvölkerstaat gut zusammenhält. Uns ist klar: Für die Identität dieses komplizierten Staates ist der Staatsname von besonderer Bedeutung. Also sollten wir alles tun, um die Bemühungen von Cyrus Vance zu unterstützen, einen Kompromiß zwischen den Griechen und den Makedoniern zu finden. Ich hoffe sehr, daß der griechische Wahlkampf uns nicht wieder ein Stück zurückwirft. Eine gewisse Gefahr dazu besteht. Zum Schluß. Die jugoslawische Situation wird oft als Beweis für das Versagen der Europäischen Gemeinschaft und ihrer Mitglieder gehandelt. Ich unterstreiche, was Herr Kinkel gerade gesagt hat. Deutschland hat bisher 360 000 Flüchtlinge aus Jugoslawien aufgenommen und sich in großem Umfang auch an humanitären Hilfsmaßnahmen beteiligt. Es ist schon wahr, der Westen hat bei seinen Vermittlungsbemühungen manchen Fehler gemacht. Das Wichtigste wäre, wenn westliche Staatsmänner, auch westliche Politiker außerhalb von Regierungsämtern vorher nicht mehr versprechen würden, als sie hinterher halten können. Bei einer Politik der vorsichtigen, gleichwohl operativen, mit unseren Partnern abgestimmten Vermittlung hat die Bundesregierung die Unterstützung auch der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Dr. Hans Stercken.

Dr. Hans Stercken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002246, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema der heutigen Debatte war zunächst die Lage der bosnischen Kriegsflüchtlinge. Es ist durch einen Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erweitert worden, den wir, wenn er uns zugewiesen wird - das möchte ich hier ausdrücklich zusagen - sicherlich in der nächsten Sitzung des Auswärtigen Ausschusses beraten werden. Dadurch sind die Akzente in der heutigen Debatte ein bißchen verschoben worden, insbesondere auch durch den Eindruck, den Sie, Herr Dr. Glotz, im Hinblick auf das Schwanken und die Zurückhaltung der Bundesregierung hier erweckt haben. Es ist damals im Auswärtigen Ausschuß unser Bemühen gewesen, eine Rückkopplung nicht nur zu den die Koalition unterstützenden Fraktionen zu gewährleisten, sondern auch die Opposition voll in die Meinungsbildung über diese Fragen einzubeziehen. Wir haben das übrigens auch in bezug auf mehrere Reisen des Auswärtigen Ausschusses in die betroffenen Regionen und auf Einzelreisen, die im Ausschuß erörtert worden sind, rückzukoppeln und mit der Bundesregierung zu erörtern versucht. Ich möchte nicht, daß ein Verfahren, das ich heute noch für optimal halte, problematisiert wird und wir etwa morgen in ähnlichen Fällen die Bereitschaft nicht wieder aufbringen, uns in einer so wichtigen außenpolitischen Frage zu ähnlicher Kooperation zu entscheiden. Natürlich ist die Beteiligung an diesen Prozessen unzureichend. Das ist mir in den letzten Tagen auch an Hand anderer Äußerungen, nicht nur aus dem Bereich der Opposition, deutlich geworden. Ich habe das gerade gemerkt, als Sie von Blauhelmen im Kosovo sprachen. Im Auswärtigen Ausschuß haben wir diese Frage mit Boutros-Ghali sehr eingehend erörtert, und er hat uns gesagt: Das ist eine innere serbische Angelegenheit, in die sich die Vereinten Nationen nicht einmischen können. Wir haben dann die Frage nachgeschoben, ob eine Prophylaxe dafür denkbar sei. Er hat gesagt, das sei eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten; die Vereinten Nationen könnten sich daran nicht beteiligen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Dr. Stercken, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Glotz?

Dr. Hans Stercken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002246, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte, Herr Kollege.

Prof. Dr. Peter Glotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000692, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Stercken, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß ich deswegen den Vorschlag gemacht habe, der Westen sollte - da es nicht anders geht, wenn Boutros-Ghali es gesagt hat - Serbien deutlich machen: Wir lockern die Sanktionen, wenn Serbien zustimmt, daß wir, um einen Puffer zu schaffen, Blauhelme im Kosovo stationieren, wie Rugova und der LDK, d. h. die Albaner, es erbitten?

Dr. Hans Stercken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002246, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Glotz, es ist immer gut, wenn man das mit den Betroffenen diskutiert. Wir hatten ja mehrfach, auch in den letzten Wochen noch, Gelegenheit, mit Dr. Rugova hier darüber zu sprechen, nebenbei bemerkt, auch mit den Oppositionsparteien, die uns hier in Bonn besucht haben. Ich habe dann als Ausschußvorsitzender immer die Schwierigkeit, Kollegen „heranzukarren", weil sie sich meistens auf Wanderschaft befinden. Ich spreche das einmal so ungeschützt an. Dr. Rugova wollte übrigens in der vergangenen Woche wieder in Bonn sein. Er ist an der Ausreise gehindert worden. ({0}) Ich habe noch heute mit ihm darüber einen Meinungsaustausch führen können. Wir sind um so mehr in diese Dinge verstrickt, Herr Kollege Glotz, als wir mit dem französischen und seinerzeit auch mit dem polnischen auswärtigen Ausschuß beschlossen haben, daß wir den Albanern im Kosovo mit parlamentarischen Maßnahmen zur Verfügung stehen, so dies dazu beitragen kann, daß ihre Lage dort gestärkt wird. Die Bemühungen der Fraktionen und auch der Bundesregierung - damit möchte ich einer Legende entgegentreten - waren von Anfang an durch das Bemühen um Einheit gekennzeichnet. Wir haben zur Kenntnis nehmen müssen, daß Izetbegovič und Gligorov damals den Vorschlag gemacht haben, die vier Essentials in einer Konföderation zu regulieren. Es ist hier ein Kollege unter uns, der mich begleitet hat, als wir von Präsident Kučan in Ljubljana erfuhren, daß eine solche Konföderation rigoros und definitiv abgelehnt worden ist. Wir waren dann plötzlich in einer Lage, in der auch die Beziehungen zu den einzelnen Republiken für uns eine neue Qualität bekamen. Die Besucher der Interparlamentarischen Union vergangene Woche in Canberra hatten übrigens die Gelegenheit, gerade über diesen Punkt noch einmal mit Stipe Mesié, dem Parlamentspräsidenten in Zagreb, zu reden. Ich halte es für außerordentlich wichtig, daß wir den Grundsatz der Einheit auch heute beschwören, um nicht nach ethnischen Säuberungen irgendwelche Gebilde zu erhalten, die wir in einer nicht tragfähigen staatlichen Form miteinander verschnüren. Das ist für uns seit Anbeginn das bestimmende Element gewesen. Wie könnte das anders sein? - Wenn einer ein überzeugter Europäer ist, kann er doch nicht anderen zum genau umgekehrten Weg raten. Mit dieser Legende sollten wir, so glaube ich, rigoros Schluß machen. Warum haben wir Deutschen uns für diese Frage interessiert, wurde ich kürzlich in Paris gefragt. Wenn ich mich recht entsinne, waren wir in dem voraufgegangenen Prozeß der deutschen Einigung ungeheuer dankbar, daß wir alle Prinzipien, die wir in Helsinki beschworen hatten, die ganzen Essentials, die sich aus dem Bereich der KSZE ergeben hatten, auf den Prozeß der deutschen Einigung anwenden konnten. Ich habe es so empfunden, mit vielen Kollegen aus allen Fraktionen, daß wir damit politische Verpflichtungen auch gegenüber anderen in Europa übernommen haben und daß wir auch bei ihnen nach solchen Perspektiven verfahren müssen. Ich bin außerordentlich dankbar dafür, daß verschiedene Redner die Serben beschworen haben. Herr Kollege Glotz, wer nach Kontakten sucht, kann sie auch in der Bundesrepublik finden. Ich habe am Samstag mit den hiesigen Serben wieder eine Veranstaltung, auf der ich diese Überzeugungen, die hier auch vom Außenminister deutlich gemacht worden sind, vertreten werde. Sie sind auch die meinigen. Es wird zugegebenermaßen noch einer Fülle von Initiativen bedürfen, um in Serbien ein Gefühl für eine demokratische Opposition zu entwickeln. Aber auch dazu können wir als parlamentarische Kollegen, so denke ich, beitragen. Gestern nachmittag besuchte mich der Bischof von Mostar. Bei allen Perspektiven, die auch ein Bischof aus Mostar als Kroate entwickelt, hat er doch gesagt: „Ich beschwöre Sie, verlassen Sie nicht den Gedanken der Union! " Das bedeutet auch - ich sage das in aller Offenheit -, daß wir den Generalen von Izetbegović nicht raten, sich jetzt mit den Serben zu arrangieren, weil dies gegenüber den Kroaten vielleicht eine erfolgsträchtigere Perspektive wäre. Unsere politische Aufgabe besteht darin, den Menschen zu sagen, daß nur durch Union, durch Kooperation - so schwierig das ist und so groß auch der Haß ist - Friede geschaffen werden kann. Sonst werden Zigtausende von Soldaten dort einen Friedhofsfrieden kontrollieren müssen. Das kann nicht das Ziel unserer politischen Empfehlungen sein. ({1}) Meine Damen und Herren, wir beschäftigen uns mit den Flüchtlingen. Das ist ein ungeheuer aktuelles Problem, über das in der vergangenen Woche der österreichische Außenminister in Zagreb deshalb verhandelt hat, weil man befürchtet, daß die Spannungen in diesen Lagern zwischen teilweise muslimischen Insassen und kroatischer Verwaltung in diesem Krieg zu einer Tendenz führen, sich vor allen Dingen dann, wenn der Winter einbricht, aus diesen Gefilden in den Norden abzusetzen. Das wird - das ist nicht nur eine Befürchtung der Österreicher oder eine Perspektive der Kroaten - uns alle beschäftigen müssen. Wir müssen Prophylaxe treiben. Mir wäre es lieber, wenn das Technische Hilfswerk, wenn das Rote Kreuz, wenn die Caritas solche Lager betreuen würden, damit die Spannungen abgebaut werden, die zwischen muslimischen Insassen und kroatischer Verwaltung sichtbar bestehen. Mit dieser Frage befaßt sich inzwischen glücklicherweise auch schon die Europäische Gemeinschaft. Wir wollen einer neuen Fluchtbewegung durch bessere Lebensbedingungen in den Lagern jetzt vorbeugen. Das zweite ist: Es darf natürlich nicht allein eine Kontingentierung geben. Ich verstehe diese Aufforderung an unsere europäischen Freunde, nun auch einmal in vergleichbarem Umfang tätig zu werden, wie wir es seit Jahren in der Bundesrepublik Deutschland leisten. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß wir mehr leisten als alle anderen zusammen. ({2}) Darin kommt nicht irgendeine Sehnsucht oder ein Fernweh der Deutschen nach dieser Region des Balkans zum Ausdruck, sondern eine Dankbarkeit gegenüber der Geschichte, daß uns durch die Einsichten, durch den Abbau der Ost-West-Spannungen solche Konsequenzen erspart bleiben. ({3}) Meine Damen und Herren, europäische Maßstäbe, nach denen hoffentlich auch einmal dieser Teil Europas verfahren kann, legt man vor. Die werden wir politisch, aber auch, so glaube ich, durch unsere Hilfe zu erweisen haben. Ich wünsche mir jedenfalls, daß dem Antrag der drei Fraktionen heute entsprochen werden kann. Ich habe bereits empfohlen, daß der Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Beratung an den Ausschuß überwiesen wird. Das gibt uns die Gelegenheit, in größerer Ausführlichkeit die politischen Implikationen dieses Antrags hier im Plenum zu beraten. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Das Wort hat jetzt unser Kollege Ulrich Irmer.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf dem Vorblatt der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses, über die wir nachher abzustimmen haben, lese ich, dem Ritual des Hauses entsprechend, unter dem Buchstaben A „Problem": Alle bisherigen internationalen Pläne und Verhandlungen haben den Konflikt ... nicht zu Ende bringen können. Unter B „Lösung" heißt es: Herbeiführung und Sicherung eines sofortigen Waffenstillstandes und eine Verhinderung der Ausweitung des Konflikts auf andere Gebiete .. . Kosovo usw. Wenn wir in diesem Zusammenhang von Lösungen sprechen, müssen wir als erste und sehr bittere Erkenntnis uns selbst eingestehen: Eine Lösung des Problems kann es nach dem, was alles geschehen ist, gar nicht mehr geben. Selbst wenn der Plan durchgesetzt wird, der als letzter Rest von allen internationalen Friedensbemühungen übriggeblieben ist, daß Rest-Bosnien mit einem Korridor gerade noch den Zugang zu einem zu schaffenden Hafen bekommt, dann ist gar nicht zu bestreiten: Die Eroberer, die Angreifer sind mit einem nicht geringen Teil ihrer Beute davongekommen. ({0}) Meine Damen und Herren, wir können uns ja jetzt nicht damit beschäftigen, daß wir, was die Vergangenheit betrifft, Schuldzuweisungen vornehmen, sondern wir können und müssen das Wenige tun und das unterstützen, was hier vorher von Herrn Kinkel ausgeführt worden ist und wozu die anderen Kollegen auch Stellung genommen haben. Nur, wir werden am Ende dieses Konfliktes, selbst wenn es zu einer Waffenruhe kommt, die dann vielleicht sogar als Frieden bezeichnet werden wird, alle miteinander als Verlierer dastehen. Ich meine, es hat dann keinen Sinn, sich jetzt zu fragen: War es richtig, seinerzeit die Republiken Slowenien und Kroatien anzuerkennen, oder war dies nicht richtig? Dazu hat es früher unterschiedliche Meinungen gegeben; dazu gibt es heute, wie dieses Zwischenspiel vorher gezeigt hat, nach wie vor geteilte Meinungen. Ich meine nur, wir sollten eine Lehre daraus ziehen, daß die internationale Staatengemeinschaft im ehemaligen Jugoslawien nicht erfolgreicher sein konnte. Wir sollten uns überlegen, ob es nicht möglich ist, generell für die Zukunft Regeln aufzustellen, nach denen derartige Konflikte, wenn sie sich wiederholen sollten, dann allgemein behandelt werden könnten. Ich meine, daß dieses auch einer Änderung, einer Ulrich Inner Weiterentwicklung unserer Völkerrechtsregeln bedarf. Wir haben Regeln des Völkerrechts, die sich mit dem Verhältnis unterschiedlicher Staaten zueinander befassen. Wir haben im Grunde keine Regeln, die sich mit dem Zusammenleben unterschiedlicher Gruppen, unterschiedlicher Ethnien, von Mehrheiten mit Minderheiten, von verschiedenen Minderheiten miteinander innerhalb von Staaten beschäftigen. ({1}) Hier ist eben erwähnt worden, was Boutros-Ghali uns im Auswärtigen Ausschuß gesagt hat. Ich erinnere mich sehr gut daran. Er hat gesagt, in Kosovo könnten die Vereinten Nationen gar keine Verantwortung übernehmen - es sei denn natürlich, Serbien wäre einverstanden -, weil es sich hier um ein innerstaatliches Problem handelt. Aber, meine Damen und Herren, das ist doch das, was wir ständig erleben und was wir auch, so fürchte ich, weiterhin erleben werden. Gott sei Dank gibt es nicht mehr so viele Kriege von Staaten gegeneinander, aber es werden zunehmend die Auseinandersetzungen innerhalb von Staaten zwischen Minderheiten ausgetragen. ({2}) - Herr Schäfer sagt: Georgien; ich könnte eine ganze Liste von derartigen Fällen aufzählen. Hier müssen wir einfach von manchen liebgewordenen traditionellen Vorstellungen wegkommen. Wir haben uns zu Beginn des Jugoslawien-Konfliktes eingebildet, man könne möglicherweise dem Problem dadurch beikommen, daß man die Republiken nach ethnischen Grenzen als selbständig anerkennt. Wir Deutschen waren in der Gefahr, dies besonders ernst zu nehmen, weil wir gerade in Inanspruchnahme des Selbstbestimmungsrechts unsere Vereinigung erzielt hatten. Ich meine, daß wir die Völkerrechtsprinzipien - auch das des Selbstbestimmungsrechts - immer in der Relation zu anderen Völkerrechtsprinzipien sehen müssen. Das Selbstbestimmungsrecht ist durch das Recht von Minderheiten begrenzt, in mehrheitlich anders strukturierten Staaten zu leben. Das Selbstbestimmungsrecht, das Autonomierecht innerhalb von Staaten ist dadurch begrenzt, daß der Staat, der Autonomie gewährt, einen Anspruch auf Loyalität hat. Das bedingt sich alles gegenseitig. Ich meine, meine Damen und Herren, wir müssen wirklich hier einen Ansatz finden. Wir werden sicher morgen in der Debatte über die Vereinten Nationen auch noch die Möglichkeit haben, darüber zu reden. Wir müssen unser Völkerrecht weiterentwickeln. Wenn wir sagen, wir teilen die Staaten nach Ethnien ein, so ist das zwar an manchen Plätzen möglich; in Slowenien war das möglich, aber in Kroatien war es eben von vornherein nicht möglich, weil es eben dort serbische Minderheiten gibt und gab und weil innerhalb der Gebiete der serbischen Minderheiten innerhalb Kroatiens wieder kroatische Minderheiten waren. In einer solchen Situation können Sie keine ethnischen Grenzen ziehen. Und wenn Sie dann Unabhängigkeiten anerkennen, ohne vorher die Rechte der jeweiligen Minderheiten ganz verbindlich festgeschrieben und garantiert zu haben, dann kommt es eben zu ethnischen Säuberungen, ob man dieses will oder nicht. ({3}) Deshalb, meine Damen und Herren, keine Schuldzuweisungen, bitte keine Vorwürfe, wer was in der Vergangenheit falsch gemacht hat. Das bringt uns alles nicht weiter; sondern machen wir uns Gedanken darüber, wie wir dafür sorgen können, daß in der Zukunft nach Möglichkeit derartige Schrecknisse vermieden werden können. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, die nächste Rednerin ist jetzt unsere Frau Kollegin Vera Wollenberger.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin schon erschrocken, wie leicht zur Tagesordnung übergegangen wird. In diesen Tagen erleben wir den vorletzten Akt der bosnischen Tragödie. Nachdem die Welt dem Tod, der Vertreibung und der Vergewaltigung Hunderttausender bosnischer Muslime mehr oder weniger tatenlos zugesehen hat, ist sie nun dabei, die Ergebnisse von militärischen Eroberungen und „ethnischen Säuberungen" als sogenannte Friedenslösung zu akzeptieren. Die westlichen Demokratien haben die Notwendigkeit der Lieferung von humanitären Hilfsgütern als Entschuldigung ihrer Weigerung benutzt, den multiethnischen Staat Bosnien in seinen von der UNO anerkannten Grenzen zu erhalten ({0}) und die aggressiven Bestrebungen von Diktatoren mit Großmachtambitionen wirksam zu verhindern. Ein paar bosnische Verwundete, vor allem Kinder, wurden in den letzten Wochen noch medienwirksam aus der bosnischen Hölle gerettet, 21/2 Millionen Menschen in den Kesseln von Mostar, Zentralbosnien, Sarajevo und Gorazde aber ihrem grausamen Schicksal überlassen. Mehr noch: Die sogenannten Vermittler ({1}) Owen und Stoltenberg, die treffender Kriegsverbrecher genannt werden sollten, ({2}) - hören Sie mir doch erst einmal zu -, haben sich nicht gescheut, mit dem Entzug humanitärer Hilfe zu drohen, wenn die bosnische Regierung sich nicht bereitfinden sollte, die gewaltsamen Änderungen der Grenzen ihres Landes zu akzeptieren. Ani Wochenende meldete die „Berliner Zeitung" dann, einer endgültigen Friedenslösung in Bosnien stünden nunmehr nur noch Izetbegović' Gebietsforderungen entgegen. Gemeint war dessen Versuch, für seine bedrängten Landsleute etwas mehr Territorium ihres eigenen Staates zu erhalten, als Owen und Stoltenberg ihnen zugestehen wollten. Früher oder später werden sich die westlichen Regierungen für ihre Weigerung zu verantworten haben, den völkerrechtlich anerkannten Staat Bosnien vor seiner Vernichtung zu schützen bzw. den Bosniern das durch die UN-Charta garantierte Recht auf Selbstverteidigung zu gewähren, indem die Resolution zur Verhängung eines Waffenembargos gegen Bosnien als einzige gewissenhaft ausgeführt wurde. Auch Deutschland hat sich mit schuldig gemacht, indem es die Bosnien-Politik des kroatischen Präsidenten weiter stützte, als kroatische Truppen im April mit ihrer Militäroffensive gegen Bosnien-Herzegowina begannen. Seitdem steht die kroatische Kriegsführung der serbischen an Grausamkeit nicht nach. Im Juni haben mein Kollege Gerd Poppe und ich den Außenminister und andere Regierungsmitglieder auf die besonders dramatische Situation in Mostar aufmerksam gemacht, das damals bereits seit zwei Monaten ohne Wasserversorgung war. Wir haben dringend darum gebeten, Kroatien durch wirksamen wirtschaftlichen Druck zur Aufgabe seiner Eroberungspolitik zu zwingen. Deutschland hätte als größter Geldgeber Kroatiens die Möglichkeit dazu gehabt. Es blieb bei Appellen, und das Morden ging weiter. Unverdrossen schickt Deutschland humanitäre Hilfe nach Kroatien, das seinerseits unbeirrt den bosnischen Muslimen möglichst jede Hilfe abschneidet. Deutschland, das als ehemals geteiltes Land die besondere Verpflichtung dazu hätte, macht sich bisher nicht stark gegen die Teilung von Bosnien in „ethnisch reine Territorien" und die Teilung von bosnischen Städten wie Mostar, Brčko oder Sarajevo. Im Gegenteil: Staatsminister Schäfer befürwortete am 30. August 1993 in Bonn ohne Einschränkung den Genfer Dreiteilungsplan und damit die Sanktionierung von Massendeportationen und gewaltsamen Eroberungen. ({3}) Nach Schätzungen wird dieser Dreiteilungsplan noch einmal einen Strom von mindestens 1 Million Flüchtlingen erzeugen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es darf nicht sein, daß der Deutsche Bundestag auch nur indirekt die serbische und kroatische Eroberungspolitik unterstützt. Die mit Gewalt erzielten Grenzveränderungen dürfen nicht völkerrechtlich anerkannt werden, selbst wenn sie im Augenblick hingenommen werden müssen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Wollenberger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Helmut Schäfer?

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Na ja, mal sehen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte sehr.

Helmut Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001932, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Wollenberger, würden Sie nicht vielleicht meine Meinung teilen, daß Sie es, bevor Sie hier im Saal völlig falsche Behauptungen aufstellen, wenigstens für nötig halten sollten, mit dem, den Sie angreifen, ein Gespräch zu führen, oder beschränken sich Ihre Kenntnisse und Informationsquellen auf die „TAZ" bzw. auf eine Organisation, die diese Behauptungen aufstellt, die klar widerlegbar sind? Denn ich habe in Genf, nicht in Bonn, eine Pressekonferenz gemacht, aus der sich ergibt, daß das, was Sie gesagt haben, schlicht und einfach unwahr ist. ({0})

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn Sie gegen die Anerkennung des Dreiteilungsplans sind, so habe ich zumindest Ihre Aktivitäten gegen den Dreiteilungsplan bisher vermißt. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte, Frau Kollegin Wollenberger, fahren Sie fort.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mit der Zerstörung des Vielvölkerstaats BosnienHerzegowina verschwindet keineswegs ein historisches Überbleibsel, sondern ein Zukunftsmodell für ein multikulturelles Europa. Auch in diesem Sinn liegt Bosnien im Herzen unseres Kontinents. Die Zerstörung seiner Gesellschaft trifft das Herz Europas und greift die europäische Idee an, die Grenzen nationalstaatlichen Denkens und Handelns zu überwinden. Mit Bosnien stirbt im Kern die Idee einer europäischen Einheit. Wenn wir es mit Europa ernst meinen, dürfen wir das nicht hinnehmen. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Frau Kollegin Vera Wollenberger hat die beiden UNO-Unterhändler in Jugoslawien und Bosnien als Kriegsverbrecher bezeichnet. Im Namen dieses Parlaments weise ich das entschieden zurück. ({0}) Ich erteile nunmehr unserem Kollegen Christian Schmidt das Wort.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist verständlich, daß sich bei der so schlimmen Situation in BosnienHerzegowina manchem nicht nur rhetorisch, sondern auch emotional der Gaul durchgeht. Man sollte dann allerdings wieder zu den Dingen zurückkehren, die auf der Tagesordnung stehen und die auch wirklich von uns geregelt werden können. Dazu gehören einige der Punkte, die in dem vom Kollegen Glotz formulierten Antrag stehen, der dem Auswärtigen Ausschuß vorgelegen hat und mit entsprechenden Ergänzungen von den drei Fraktionen gemeinsam Christian Schmidt ({0}) übernommen wurde und jetzt zur Abstimmung steht. Dazu gehört auch der andere von den drei Fraktionen vorgelegte Antrag, der auf die Parlamentarische Versammlung der KSZE rekurriert. Dazu gehört auch - lassen Sie mich das ausdrücklich sagen - der Antrag des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der, wie der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses freundlicherweise angekündigt hat, nach einer möglichen Überweisung in der nächsten Sitzung des Auswärtigen Ausschusses behandelt werden wird. Wieder einmal steht eines der traurigsten Kapitel der europäischen Gegenwart auf der Tagesordnung. Wieder einmal mahnen wir Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft im Sinne von Humanität und Solidarität an. Wieder einmal wissen wir, daß die Chance auf die lückenlose Durchsetzung unseres Beschlusses gering ist. Dennoch, um unseren Willen zu bekunden und vielleicht doch das eine oder andere kleine Mosaiksteinchen zugunsten der Menschen zu setzen, sollten wir der vorliegenden Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zustimmen. Es darf für uns keine Resignation geben, so wie die meisten Menschen in Bosnien-Herzegowina trotz der fatalen Lebensumstände, in denen sie sich befinden, die ihnen ein entfesselter Krieg auferlegt, nicht resignieren. Der beginnende Herbst und der darauf folgende Winter - darauf wurde schon aufmerksam gemacht - machen unsere Beschlußempfehlung in der Tat aktuell. Wir appellieren dringend an die kriegführenden Parteien, einen Waffenstillstand vor Einbruch des Winters nicht nur auszuhandeln, sondern auch einzuhalten. ({1}) Ich glaube, daß die Bevölkerung, daß der durchschnittliche Bürger in Bosnien-Herzegowina und darüber hinaus des Krieges müde, müde, müde ist. Ich weiß, daß über dem Haß eine Möglichkeit des Zusammenlebens nicht ausgeschlossen ist. Der Bundesaußenminister hat von dem von der Bundesregierung finanzierten Flüchtlingslager in Karlovac, das viele, die hier sitzen, sicherlich schon besucht haben, gesprochen. Für mich am beeindrukkendsten war ein Gespräch mit einem derer, die sich dort zwangsläufig aufhalten, der 30 km entfernt in der Krajina seine Wohnung und sein Haus verloren hat und für den, obwohl er Kroate ist, sein Nachbar, der Serbe ist, nicht der ist, der zu verantworten hat, daß sein Haus in die Luft gebombt worden ist. Vielmehr ist er der Meinung, daß das ein Krieg ist, der an den Gefühlen und Interessen der wirklich Betroffenen von Anfang an vorbeigegangen ist, daß es ein Krieg ist, der ins Land getragen worden ist. ({2}) - Danke für die Entgegnung des Zwischenrufers. Wenn es immer so einfach wäre zu wissen, wer in diesem Krieg etwas will und wer welche Wendungen mit verfolgt. Jetzt kommt es darauf an, daß wir die Union erhalten, daß wir die Genfer Vorschläge - ich sehe keine Alternativen - so weit vorantreiben, daß sie auf jeden Fall zu einer Beendigung des Konflikts führen. Natürlich kann ein Moslemreservat nicht das Resultat dieser Genfer Verhandlungen sein. Die ehemalige britische Premierministerin Thatcher hat in ganz anderem Zusammenhang einmal bei der Frage einer Anerkennung eines südafrikanischen Homeland gesagt: Which of them should I recognize? Welches von ihnen soll ich denn anerkennen, wenn es sieben, acht verschiedene geographische Teile einer angeblichen staatlichen Einheit gibt oder einer, die es werden soll? Wir können natürlich nicht Schutzzonen und Reservate, die nicht lebensfähig sind, für bosnische Muslime schaffen und dulden und den Kroaten und den Serben gestatten, daß sie sich aus Bosnien-Herzegowina verabschieden. Die Verhinderung eines Überschwappen des Konflikts nach Kosovo, Sandjak und Wojwodina wurde als wichtiges Ziel angesprochen. Sie sind auch in unserem Antrag enthalten. Aber Herr Glotz, wenn Sie mir eines erlauben: Sie haben heftige Kritik daran geübt, daß wir die Anerkennungspolitik gegenüber Kroatien verfolgt haben. Ich bin der Meinung, daß es richtig war, Slowenien und Kroatien gemeinsam anzuerkennen. Sonst hätte der falsche Eindruck bei denen, die Krieg führen und aggressiv Krieg geführt haben, nämlich den Serben, entstehen können, als wäre Kroatien eine von der europäischen Gemeinschaft freigegebene „chasse gardée" für ihre eigenen Interessen. Aber wenn Ihre These, daß die einseitige Sezession das Problem darstellt, richtig ist, dann müßten wir eigentlich in Kosovo besserer Hoffnung sein dürfen. Denn die Frage der Sezession stellt sich hier nicht. Trotzdem bin ich dieser Hoffnung nicht. Ich würde mich freuen, wenn Sie recht behalten würden. Aber ich befürchte - davon handelt auch dieser Antrag -, daß wir ohne eine Intervention politischer Art, ohne eine Einmischung in diesen Konflikt nicht zu einem friedlichen Zusammenleben kommen werden oder es erhalten können. Wichtig ist dabei natürlich, daß man mit dem Hausherrn spricht. Wir werden eine Einflußnahme nicht erreichen, wenn wir nicht an ein vorsichtiges Wiederanknüpfen des Gesprächsfadens auch in Richtung der serbischen Politik - sei es die Opposition oder die gegenwärtigen Machthaber - herangehen im vollen Bewußtsein der Aggression, im vollen Bewußtsein der Menschenrechtsverletzungen. Natürlich muß dann auch über Dinge gesprochen werden, die beispielsweise die Auslieferung der Kriegsverbrecher an das Internationale Kriegsverbrechertribunal beinhalten. Trotzdem muß aber mit diesen Hausherren, die sie nun einmal sind - ob es uns gefällt oder nicht - über die Regelungen des Minderheitenschutzes, insbesondere in Kosovo über die Wiedereinsetzung des Autonomiestatuts für die Albaner, das 1986 aufgehoben Christian Schmidt ({3}) worden ist, und über eine Implementierung des Minderheitenschutzes gesprochen werden. Hier allerdings ein weiteres dunkles Kapitel der europäischen Politik: Es ist schon sehr bedauerlich, daß wir es auf der Ebene des Europarates immer noch nicht geschafft haben, ein Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention zu verabschieden, das den Minderheitenschutz kodifiziert und auch die Möglichkeit internationaler Sanktionierung bei Verletzungen gibt. Ich hoffe, daß die Konferenz in Wien trotz gegenteiliger Erwartungen doch noch zu solch einer Regelung kommt. Aber, wenn es nicht dazu kommen sollte, werden wir uns wieder ein Instrument aus der Hand nehmen lassen, gegenüber diesen Staaten, die Minderheiten haben, Einfluß zu nehmen. Schließlich komme ich zum Konflikt in Kroatien, in der Krajina. Wir haben in Ziffer 4 unseres Antrages ganz deutlich den Vance-Plan angesprochen. Wo ist der Vance-Plan geblieben? Natürlich sind wir - und wir stimmen dem Außenminister zu - alle an seiner Seite, gemeinsam mit der Bundesregierung zu versuchen, den Kroaten klarzumachen, daß Gewalt kein Ausweg Aber ich daß die Kroaten schon schon einen Anspruch darauf haben, daß das, was unter dem Dach der Vereinten Nationen vereinbart worden ist, zumindest im Ansatz durchzusetzen versucht wird. ({4}) Dazu gehört die Übernahme der Administration von den Serben weg zu den UNPROFOR-Einheiten. Dazu gehört eben auch die Möglichkeit der Rückführung von vertriebenen Kroaten und auch Serben aus ihrer Heimat in der Krajina. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wenn Sie die Frage der Verlängerung des Mandats, die in den letzten Tagen eine Rolle gespielt hat, genau bewerten, werden Sie zu dem Ergebnis kommen, daß die Vereinten Nationen nicht umhinkönnen, ein Zeichen in Richtung der Kroaten zu geben und auch die Serben in die Schranken zu weisen. Zur Nachschubunterbindung haben wir uns ebenfalls in diesem Antrag einvernehmlich geäußert. In der Tat wäre es gut, wenn nach Bosnien-Herzegowina, vor allem aus beiden benachbarten Ländern, keine Waffen mehr fließen würden. Alles, was wir über die Verhaltensweisen, die die Kriegsführung und die Kriegsziele betreffen, hören, läßt uns gegenüber Mate Boban genauso skeptisch sein wie gegenüber Herrn Karadzic. ({5}) Das ist nicht immer so gewesen und muß auch in Zukunft nicht so bleiben, wenn man wieder zur Vernunft kommt. Eine letzte Bemerkung zum Antrag über die Lage der bosnischen Kriegsflüchtlinge, den wir erneut vorgelegt haben. Mancher der Kollegen mag sich an dem letzten Satz stoßen. Ich halte ihn, auch wenn er von der Parlamentarischen Versammlung der KSZE formuliert worden ist, für nicht sehr glücklich. Es heißt: Wir bekräftigen, daß die „Fluchtbewegungen aus dieser europäischen Region nach Asien keine Lösung auf Dauer sind". ({6}) Fluchtbewegungen sind nie eine Lösung auf Dauer. Sie sind überhaupt nie eine Lösung. ({7}) Fluchtbewegungen beweisen nur, daß das Recht auf Heimat auch 50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa noch mit Füßen getreten werden kann. Das ist das, was uns nicht ruhig schlafen lassen kann. ({8})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erhält unser Kollege Gert Weisskirchen das Wort.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wäre ganz gewiß falsch, zu glauben, wir hätten es, was diesen Konflikt betrifft, nur mit schwarz und weiß zu tun oder nur mit gut und böse. Da ist Herr Tudjman oder Kroatien nicht der Hort der Demokratie und Serbien oder Miloševič nicht das Gegenteil davon. Das ist ganz gewiß richtig. Ich würde eher der Analyse von Adam Michnik zustimmen, der dazu klar gesagt hat, dort erleben wir jetzt, daß die Maske des kollektiven Kommunismus, dieser kollektiven Ideologie abgenommen und eine Maske eines neuen Koliketivismus, nämlich des Nationalismus, aufgesetzt wird. Insofern ist nur ein Diktaturmodell durch ein anderes ausgewechselt worden. Ich würde dem weitgehend zustimmen, ({0}) weil ich meine, daß der zentrale Punkt, warum es dort in dieser schrecklichen Art und Weise zu Kriegen vice versa und gegeneinander kommt, der ist, daß es eher daran liegt, daß es in diesen Regionen schwache Demokratien gibt. Dort, wo es starke Demokratien gibt, besteht eher die Chance, daß die Konflikte, die ausgetragen werden, friedlich oder friedlicher miteinander ausgetragen werden. Das müßte uns doch auch zum Nachdenken zwingen. Vielleicht ist das eine Debatte, die wir anders führen müßten, gerade gegenüber Ex-Jugoslawien. Es muß darauf ankommen, die demokratischen Gruppierungen, Bewegungen und Parteien, die es dort auch gibt, viel stärker zu unterstützen, als es bisher der Fall gewesen ist. Das ist vielleicht auch ein Versäumnis, das wir begangen haben. Darum, denke ich, kommt es nicht nur darauf an, die Aggressoren zu benennen. Das ist notwendig, und da ist - da besteht gewiß kein Zweifel -, Miloševič als erster zu benennen. Aber die anderen Aggressoren sind genauso zu benennen; denn nur dann, wenn wir klar sagen, wo wir unsere Bündnispartner finden, nämlich auf zivilem Lösungswege hinarbeitende friedliche Gruppierungen der neuen Demokratien Gert Weisskirchen ({1}) und der sozialen Bewegung, und wenn wir sie stärken und sie stützen, kann es gelingen, daß dieser unselige Kreislauf, in dem sich diese Länder befinden, endlich von unten, von innen, von den neuen Demokratien durchbrochen werden können. Da müssen wir sehr viel mehr helfen, als es bislang der Fall ist. ({2}) Das zweite, was ich sagen möchte, ist - das hängt vielleicht sogar damit zusammen -, daß wir dann, wenn das richtig wäre, alles daransetzen müßten, daß die Pläne, die jetzt debattiert werden und die auch noch einen bestimmten Namen tragen, nämlich Friedenspläne, nicht, wenn es irgend möglich ist, an einem ethnischen Zuschnitt orientiert sind und keine Grenzen vorsehen dürfen, die entlang der Grenzen des ethnischen Zuschnitts verlaufen. Das ist doch eigentlich das Problem, auf Grund dessen ich glaube daß jemand wie Alija Izetbegovič jetzt Angst davor hat, daß das, was in Genf verhandelt worden ist, in dieser Form auch zu Papier gebracht wird, daß es nachher unterschrieben wird und dann von uns allen gemeinsam akzeptiert werden wird. Wäre dann nicht die Gefahr groß, daß wir etwas respektieren, anerkennen und in die Realpolitik übersetzen, das nichts anderes bedeutet als das Recht dessen, der die überlegeneren Waffen hat, und das Recht dessen, der meint, er müßte nur genügend Gewalt einsetzen, damit das dann auch von uns, von der Staatengemeinschaft, akzeptiert wird? Das ist doch die eigentliche Gefahr, die dahintersteckt. Das spiegelt dann auch das Problem der bosnischen Flüchtlinge. Überhaupt Flüchtlinge: Es gibt gegenwärtig rund 3,5 Millionen Menschen in Ex-Jugoslawien, die aus ihrer angestammten Heimat, aus ihren Gemeinden, vertrieben worden sind. Fast 800 000 sind aus ExJugoslawien geflüchtet; fast die Hälfte davon sind allein bei uns in Deutschland. Ich finde, man sollte auch in dieser Debatte sagen: Es ist wirklich eine große Leistung der Menschen in unseren Städten und Gemeinden, daß sie die Bereitschaft zeigen, diesen fast 400 000 Menschen aus Ex-Jugoslawien offen gegenüberzutreten. Es ist ein guter Beweis für Deutschland, daß wir das tun. ({3}) Auch das muß gesagt werden. Insofern, Herr Kollege Schmidt, muß man das unterstützen, was die KSZE-Parlamentarierkonferenz sagt; nicht in dem Satz, den Sie zu Recht kritisiert haben. Ihn kann man durchaus so kritisieren, wie Sie es getan haben. Der Hinweis, der in Ziffer 28 der Erklärung der Parlamentarierkonferenz gemacht worden ist, ist angebracht. Es muß doch endlich dazu kommen, daß alle Europäer eine gemeinsame Flüchtlingspolitik machen, damit die Flüchtlingsströme nicht nur allein bei uns hängenbleiben und wir den größeren Anteil der Lasten tragen, übrigens neben Ungarn, neben Österreich und neben der Schweiz, wobei die beiden erstgenannten sogar, gemessen an der Bevölkerungszahl, noch mehr an Integrationsfähigkeit aufbringen, um die Lage der Flüchtlinige aus Ex-Jugoslawien in ihrem Lande erträglich zu machen. Das ist eine große Leistung. Aber, bitte schön, jetzt müssen alle Europäer gemeinsam ein Konzept entwickeln, damit dieses Problem von uns allen gemeinsam gelöst wird.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scharrenbroich? Darf ich, bevor Sie fragen, noch sagen: Wenn wir es richtig verfolgt haben, sind die Olympischen Spiele des Jahres 2000 nach Sydney vergeben worden. ({0}) Bitte, Herr Kollege Scharrenbroich.

Heribert Scharrenbroich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001945, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Weisskirchen, wenn Sie von der Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik sprechen - was ich unterstreichen möchte -, dann meinen Sie aber doch sicher damit nicht das, was wir eben im Unterausschuß „Menschenrechte und humanitäre Hilfen" von der Bundesregierung erfahren haben, nämlich daß Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina nur dann nach Kroatien kommen können, wenn sie ein Durchreisevisum haben, und daß mit Ausnahme eines skandinavischen Landes kein europäisches Land mehr bereit ist, diesen Flüchtlingen Einreisevisa zu erteilen?

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Scharrenbroich, ich kann Ihnen zustimmen, und ich möchte das noch ein bißchen verschärfen. Ich teile schon die Auffassung, daß wir Europäer mindestens Mitverantwortung an diesem schrecklichen Krieg tragen. Es wäre, wie ich finde, schrecklich, wenn wir dieser Mitverantwortung noch den Zynismus sozusagen als ein zusätzliches Geschenk hinzufügen würden, indem wir jetzt nicht bereit wären, weiteren Flüchtlingen noch eine Heimstatt, wenigstens zeitweise, anzubieten, damit sie die Chance auf einen Platz in Europa, auch bei uns, haben, an dem sie wenigstens diese kurze Zeit noch überbrücken können, solange der schreckliche Krieg da unten tobt. Ich finde, Sie haben völlig recht, Herr Scharrenbroich. Ich bitte darum, daß dies neben der Verlängerung der Duldungsfristen, die die Innenminister jetzt dankenswerterweise für einige Flüchtlinge beschlossen haben, in dem Konzept berücksichtigt wird. Vielen Dank für diesen Hinweis. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir nicht begreifen, daß dies ein europäisches Problem ist, nämlich den Flüchtlingen aus Ex-Jugoslawien auch in Europa eine Möglichkeit zu bieten, daß sie, solange dieser Konflikt dort leider herrscht, bei uns leben, dann zwingen wir sie geradezu dazu, die Angebote anderer anzunehmen, z. B. nach Malaysia zu gehen. Ein anderer muslimischer und islamischer Staat bietet an, daß dort diejenigen eine Chance bekommen, die vor den Konflikten fliehen, die in Europa ausgetragen werden und in Europa zu den Fluchtbewegungen geführt haben. Ich glaube, es wäre ein schrecklicher Irrtum, wenn wir glaubten, wir könnten damit auch noch die Flüchtlingsprobleme Europas in die Dritte Welt exportieren. Was für eine grauenhafte Entwicklung würde sich hier anbieten! Das Gegenteil ist richtig. Gert Weisskirchen ({0}) Das ist ein europäischer Konflikt, und wir Europäer müssen erkennen, daß wir den islamischen Flüchtlingen - wenn man das schon einmal so scharf zuspitzen will - einen Platz in Europa anbieten müssen. Denn der Islam und die Muslime Bosniens gehören genauso wie wir zu Europa. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, weitere Wortmeldungen zu diesem Tagesordnungspunkt liegen nicht vor. Ich schließe daher die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf der Drucksache 12/5306? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Bei Stimmenthaltungen und Gegenstimmen aus der Gruppe PDS/Linke Liste ist diese Beschlußempfehlung angenommen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/5714 und 12/5729 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre und sehe keinen Widerspruch, sondern nur Zustimmung. Die Überweisung ist beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({0}) Sammelübersicht 102 zu Petitionen ({1}) - Drucksache 12/4917 Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst unserem Kollegen Wolfgang Dehnel das Wort.

Wolfgang Dehnel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000366, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu den Grundrechten einer demokratischen Gesellschaft gehört das Recht auf Heimat und auf eine menschenwürdige Bleibe. Aufgabe der Legislative und der Exekutive ist es, Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, daß diesem Anliegen Rechnung getragen wird. Nicht erst mit der deutschen Einheit sind deutliche Rückstände, nicht nur auf dem Wohnbestandssektor, festzustellen. Der erschreckende Zustand Hunderttausender Wohnungen, Tausender Straßenzüge sowie ganzer Städte- und Gemeindebilder in den neuen Bundesländern ist offen zutage getreten. Gleichzeitig prallen die berechtigten Interessen von Vermietern und Mietern hart aufeinander. Auch das ist bei dem erforderlichen Umgestaltungsprozeß auf nahezu allen gesellschaftlichen Feldern in den neuen Bundesländern verständlich. Die Bundesregierung hat dem mit vielen Maßnahmen und Initiativen Rechnung getragen. Es ist für mich unumstritten, daß dieser Prozeß durch parlamentarische Auseinandersetzungen sowie durch Petitionen entsprechend beeinflußt wurde. Das Petitionsrecht ist grundgesetzlich in Art. 17 verankert - wie weise von den Verfassern schon 1949 gedacht. ({0}) Die deutsche Einheit muß zusammenwachsen und nicht zusammenwuchem, mahnte Bundespräsident Richard von Weizsäcker schon 1990, wohl voraussehend, daß sich nicht nur helfende Menschen im Aufbau Ost einbringen, sondern sich auch sogenannte Absahner der Unwissenheit, zeitweiliger Rechtsunsicherheit, aber auch alter Seilschaften bedienen. Die vorliegenden Sammelpetitionen zur Einführung einer Mietobergrenze sind nur einige von ca. 20 000 Petitionen, die jährlich in fairer demokratischer Weise durch den Petitionsausschuß entsprechend bearbeitet werden. Auf den ersten Blick, wenn man sich vor allem die Mietforderungen in Stadtzentren vor Augen führt, scheint das Einführen von Mietobergrenzen einzuleuchten. Aber es hat sich in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und der ehemaligen DDR nicht bewährt, die staatliche Beeinflussung des Wohnungsmarkts überzudimensionieren. Im Osten Deutschlands sind wir heute gezwungen, mit vielen Milliarden die Sanierung so schnell wie möglich voranzutreiben, wozu auch entsprechende Mieten beitragen müssen. Im Westen Deutschlands hat sich überwiegend der Wohnungsmarkt, der sich selber Obergrenzen schafft, bewährt, wobei unumstritten ist, daß die Bevölkerungswanderung von Ost nach West und von Süd nach Nord schon jetzt den Anstieg der Zahl der Sozialwohnungen notwendig macht. ({1}) Die Einführung von Mietobergrenzen hat der Fachausschuß schon im November 1991 beraten und mit Mehrheit abgelehnt. Dieser Empfehlung ist der Deutsche Bundestag in seiner 83. Sitzung am 13. März 1992 gefolgt.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Seifert, Herr Kollege Dehnel?

Wolfgang Dehnel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000366, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. Ich habe immer gelernt, zuzuhören. Das habe ich auch bei ihm immer gemacht. Er kann mir jetzt erst einmal zuhören. In der Zwischenzeit wurde aber gleichzeitig durch die Bundesregierung das Vierte Mietrechtsänderungsgesetz erarbeitet, das vom Deutschen Bundestag am 2. Juli 1993 abschließend beraten wurde. Der Vermittlungsausschuß hatte sich zuvor mit den Änderungsvorschlägen des Bundesrats befaßt und das Verhandlungsergebnis am 30. Juli 1993 einstimmig beschlossen, also auch mit den Stimmen der Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer und auch der SPD-geführten Länder. ({0}) Diese vierte Mietrechtsnovelle trägt im besonderen Maße den ostdeutschen Mieterschutzinteressen angemessen Rechnung, behindert aber andererseits nicht die dringend notwendigen Investitionen im Wohnungsbau. Zur Dämpfung des Mietanstiegs ist vor allem vorgesehen, daß die 30 %ige Kappungsgrenze bei Mieterhöhung für die Dauer der nächsten fünf Jahre um 20 % gesenkt wird, wenn die Wohnung vor dem 1. Januar 1981 fertiggestellt worden ist und ein Mietzins ohne Betriebskostenanteil über 8 DM/m2 Wohnfläche liegt. Die ortsübliche Vergleichsmiete, bis zu der bei laufendem Mietverhältnis die Mieten angehoben werden dürfen, soll künftig nach den Mietabschlüssen der letzten vier Jahre ermittelt werden; nicht nur, wie bisher, der letzten drei Jahre. Bei Wohnungsmodernisierungen wird der Vermieter mehr als bisher darauf verpflichtet, seinen Mietern zwei Monate vor Beginn der Baumaßnahme deren Art, Umfang und voraussichtliche Dauer mitzuteilen. Unterläßt er dies oder übersteigt durch die Modernisierung die Mietzinserhöhung den angekündigten Betrag um mehr als 10 %, so muß er mit der Mieterhöhung künftig sechs Monate statt, wie bisher, drei Monate warten. Außerdem wird die Vermittlungsgebühr für die Mietwohnung künftig auf zwei Monatsmieten begrenzt. Bei Wohnungsumwandlung wird der Mieter ein Vorkaufsrecht für die von ihm bewohnte Wohnung erhalten. Er kann also, wenn die umgewandelte Wohnung an einen Dritten verkauft wird, in den Kaufvertrag zum selben Preis einsteigen, den der Dritte zu zahlen bereit ist. Beispielsweise bekommt ein arbeitsloses ostdeutsches Ehepaar mit zwei Kindern - das ist leider noch zu oft der Fall -, dem 2 070 DM zur Verfügung stehen und dessen Miete 595 DM für eine Wohnung mit 70m2 und Fernheizung beträgt, 253 DM Wohngeld. Die Belastungsquote beträgt also 15,1 % des verfügbaren Einkommens. Die durchschnittliche Haushaltsbelastung durch die Miete in den Alt-Bundesländern beträgt ca. 25 %. Meine Damen und Herren, politische Entscheidungen für das Volk und mit dem Volk zu treffen bedeutet für mich, Entscheidungen für Arbeitnehmer gleichermaßen wie für Unternehmer, für Arbeitende gleichermaßen wie für Arbeitslose, für Mieter gleichermaßen wie für Vermieter zu treffen. Aus den Maßnahmen des Vierten Mietrechtänderungsgesetzes läßt sich für die CDU/CSU-Fraktion und mich ableiten, daß die Petitionsverfahren der Sammelübersicht 102 abzuschließen sind. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Dr. Krause, Sie machen von dem Recht einer Zwischenbemerkung nach § 27 Gebrauch. Zunächst hat aber unsere Frau Kollegin Christel Hanewinckel das Wort.

Christel Hanewinckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir debattieren und entscheiden heute über zahlreiche Petitionen, die die Mietsituation und die Mietsteigerungen in den neuen Ländern beanstanden bzw. die Einhaltung des Einigungsvertrages fordern, wonach Mieten schrittweise und unter Berücksichtigung der Einkommensentwicklung im Osten an die tatsächlichen Wohnkosten angeglichen und angehoben werden sollen. Die Petenten fordern eine rasche Nachbesserung des Wohngeldsondergesetzes. Dabei, sagen sie, müsse die gesteigerten Miethöchstbeträge, die u. a. aus gestiegenen Betriebskosten und Modernisierungsumlagen resultieren, berücksichtigt werden. Die Situation des Wohnungsmarktes ist in den neuen Bundesländern nicht nur durch eine verfehlte Wohnungspolitik zu DDR-Zeiten, sondern auch durch eine nicht vorhandene soziale Wohnungsmarktpolitik zu Vereinigungszeiten gekennzeichnet. Spekulationen, Umwandlung von Wohn- in Gewerberaum, Luxusrenovierung, die der normale Mensch bzw. die Familie nicht mehr bezahlen kann, damit der Verlust bezahlbarer Wohnungen und folgende Obdachlosigkeit, von der auch Mieterinnen und Mieter betroffen sind, die der sogenannten sozialen Mittelschicht angehören, stockende Sanierungen durch Restitutionsansprüche usw., all das sind Beispiele dafür, daß der Markt Angebot und Nachfrage nicht ins Verhältnis zueinander bringt. Vielmehr hat der derzeitige Mangel an Wohnraum drastische Mietsteigerungen und die Verdrängung langjähriger Mieterinnen und Mieter aus den Wohnungen zur Folge. ({0}) Die Wohnraumverknappung hat dazu geführt, daß der Wohnungsmarkt völlig aus den Fugen geraten ist, und das übrigens, Herr Kollege Dehnel, nicht nur im Osten mit der bekannten verfehlten Wohnungspolitik der DDR, sondern auch hier im Westen. Das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau formuliert in seiner Stellungnahme zu diesen Petitionen folgendes: Die Bundesregierung setzt auf steigenden wirtschaftlichen Wohlstand, auf positive Leistungsanreize und attraktive Investitionsbedingungen, um die Wohnraumversorgung zu verbessern. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die grundsätzlich marktorientierte Mietpreisgestaltung, die schrittweise Überführung des Wohnungsmarktes in den neuen Bundesländern in das Vergleichsmietsystem ({1}). Zu einer marktorientierten, aber sozialpolitisch abgesicherten Miete gibt es daher keine vernünftige Alternative. Eine Wohnung zu haben, die den Bedürfnissen des einzelnen oder der Familie angemessen ist, gehört nach unserer Meinung zu den Grundvoraussetzungen menschlicher Existenz. Das Recht auf Wohnung ist nach Meinung der SPD eines der Grundrechte, die in die neue Verfassung der Bundesrepublik Deutschland gehören. Um an diesem Recht teilhaben zu können, muß es aber bezahlbar sein. Das bedeutet, daß Wohnungen nicht ein Gut auf dem freien Markt sein dürfen, das sich nur wenige leisten können. Eine Gesellschaft, die von sich sagt, daß sie sozial verantwortlich ist, hat z. B. durch entsprechende gesetzliche Regelungen dafür Sorge zu tragen, daß jeder Mann, jede Frau und jedes Kind Anteil an diesem Grundrecht hat. ({2}) In den neuen Ländern - aber nicht nur da - ist die Teilhabe an diesem Grundrecht für einen Großteil der Menschen nicht gegeben. Die Mietpreisentwicklung läuft der Einkommensentwicklung davon. Schlimmer noch: Die Zahl derer nimmt zu, deren Einkommen sich auf Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe hin entwickelt - wenn man da überhaupt von einer Einkommensentwicklung sprechen kann. Nach den neuesten Vorstellungen der Bundesregierung im Ersten und Zweiten Gesetzentwurf zum Spar-, Konsoldierungs- und Wachstumsprogramm - man achte auf den Titel dieses Gesetzentwurfs - wird z. B. die Sozialhilfe bis 1996 eingefroren, was eine reale Kürzung von 10 % für die Bezieher bedeutet. Mit der vorgesehenen Novellierung des Arbeitsförderungsgesetzes schafft es die Bundesregierung beinahe über Nacht, Tausende von Menschen neu in die Sozialhilfe zu bringen. Da frage ich die Bundesregierung: Sind das der steigende wirtschaftliche Wohlstand, die positiven Leistungsanreize und die attraktiven Investitionsbedingungen? Wer soll hier eigentlich investieren, und wovon? Oder verwechselt die Bundesregierung Wohngeld mit Investitionen? Statt in Arbeit zu investieren und Menschen vor Arbeitslosigkeit zu bewahren - der Markt wird es schon regeln; aber der Markt regelt es eben nicht -, verweist die auf den Rechtsanspruch auf Sozialhilfe und Wohngeld und kalkuliert offenbar von vornherein ein, daß von diesem Rechtsanspruch z. B. viele Familien und alte Menschen aus Scham keinen Gebrauch machen. ({3}) Drei Jahre nach der deutschen Einheit sind die Weichen für einen sozialen und zukunftsfähigen Wohnungsmarkt in den neuen Ländern durch diese Bundesregierung noch immer nicht gestellt. Das trifft auch für die alten Bundesländer zu. Trotz eines Fehlbestandes in den neuen Bundesländern von ca. einer Million Wohnungen und eines enormen Investitionsbedarfs in eine qualitativ schlechte Bausubstanz ist die Bautätigkeit noch immer rückläufig. Die zum 1. Januar 1993 in Kraft getretene Mietenverordnung bringt zum Teil drastische Mietsteigerungen, denen oft keine Verbesserung des Wohnstandards gegenübersteht. Sie birgt dagegen die Gefahr erheblicher Mietsprünge durch die Kumulierung von Modernisierung und Instandsetzung. Bisher ist nicht ausreichend abgesichert, daß die Mieterhöhungen tatsächlich für Investitionen in den Wohnungsbestand genutzt werden. ({4}) - Sie wissen doch aus den Beispielen genauso gut wie ich, daß das an zig Stellen nicht passiert. ({5}) - Warum tun Sie dann nichts Entsprechendes? ({6}) - Warum sind Sie dann nicht bereit, dieser Petition zuzustimmen, so daß noch weiter gehandelt werden kann? ({7}) Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt die Forderung der Petenten und votiert dafür, daß Mietsteigerungen die tatsächlichen Einkommensverhältnisse in den neuen Bundesländern berücksichtigen müssen. Aus diesem Grund ist eine Verlängerung und die Anpassung der Leistungen nach dem Wohngeldsondergesetz erforderlich. Berücksichtigt werden müssen in diesem Zusammenhang auch die gesteigerten Miethöchstbeträge, die u. a. aus gestiegenen Betriebskosten und Modernisierungsumlagen resultieren. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, die nächste Rednerin ist unsere Frau Kollegin Birgit Homburger.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der von der SPD zur Getrenntausweisung beantragten Petition handelt es sich um eine Eingabe einer Bürgerinitiative aus Halle zum Mietrecht in den neuen Bundesländern. Es werden insbesondere die Mietanhebungen zum 1. Oktober 1991 und zum 1. Januar 1993 kritisiert sowie gesetzliche Festlegungen von Obergrenzen für Mieten und Mietteile vor allem bei Betriebs- und Modernisierungskosten gefordert. Der Beschwerde, der Bundestag habe sich bei seiner Entscheidung zur Mieterhöhung in den neuen Bundesländern zum 1. Oktober 1991 nicht an die Vorgabe des Einigungsvertrages gehalten, kann meine Fraktion sich jedenfalls nicht anschließen. ({0}) Im Einigungsvertrag ist geregelt, daß die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates Regelungen über die Miethöhe treffen darf. Von dieser Ermächtigung hat die Bundesregierung durch den Erlaß der Verordnung über die Grundmieten und der Verordnung über die Umlage von Betriebskosten Gebrauch gemacht. Diese ersten Mieterhöhungen sind erfolgt. Sie werden von der Erkenntnis getragen, daß die gezahlten Mieten in den neuen Bundesländern bei weitem nicht ausreichten, um die notwendige Erhaltung und Erneuerung der Wohnungen zu finanzieren. Um für diesen Bereich genügend Mittel aufzubringen, wurde am 1. Juli 1992 eine zweite Verordnung verabschiedet, die weitere Mieterhöhungen zum 1. Januar 1993 vorsah. Dieser Verordnung hat der Bundesrat am 10. Juli 1992 einstimmig zugestimmt. Bei der Entscheidung über die Mieterhöhungen waren sich also der Bundestag mehrheitlich und der Bundesrat einstimmig einig. Beide haben sich strikt an den Einigungsvertrag gehalten, wonach Mieten schrittweise und unter Berücksichtigung der Einkommensentwicklung an die tatsächlichen Wohnkosten angehoben werden sollen. Bundestag und Bundesrat waren sich einig, daß angesichts der Einkommensentwicklung in den neuen Ländern und insbesondere wegen der Gewährung des Sonderwohngelds die Mietanpassung sozial vertretbar sei. Auch mit dem zweiten Anliegen der Petenten, der Einführung von Mietpreisobergrenzen, haben sich sowohl der zuständige Ausschuß als auch der Deutsche Bundestag in seiner Sitzung am 13. März 1992 beschäftigt. Es wurde in einer intensiven Sachdebatte der Antrag der SPD auf Einführung von Mietobergrenzen abgelehnt. Ich vermag überhaupt nicht zu erkennen, warum wir das Thema an Hand dieser Petition, die im Vergleich zur damaligen Entscheidungssituation überhaupt keinerlei entscheidungserhebliche neue Aspekte bringt, hier jetzt nochmals erörtern sollen. ({1}) Die F.D.P.-Fraktion hat zwar Verständnis dafür, daß die Mieterhöhungen von den einzelnen Betroffenen als Härten empfunden werden mögen, ist aber der festen Überzeugung, daß Verbesserungen der Wohnversorgung in den neuen Bundesländern nur zu erreichen sind, wenn genügend Kapital für die notwendige Erhaltung und Erneuerung der Wohnungen zur Verfügung steht. Deshalb empfehle ich für meine Fraktion, das Petitionsverfahren abzuschließen. Danke. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Ilja Seifert das Wort.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Menschen, die sich an den Bundestag oder die Regierung mit ihren Sorgen und Nöten wenden, setzen Vertrauen und Hoffnung in einen Staat, der vorgibt, eine volksverbundene Demokratie zu verkörpern. ({0}) Wenn diese Menschen in Ostdeutschland beheimatet sind, tun sie das nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Erfahrung, die sie in der DDR mit Eingaben gemacht haben. Die damalige Obrigkeit fürchtete diese demokratischen Meinungsäußerungen sogar dann, wenn sie nur als Einzeleingaben vorgetragen werden durften. Ganze 30 Minuten nimmt sich heute der Bundestag Zeit, um 77 Massenpetitionen zur Miet- und Wohnungspolitik in Ostdeutschland mit Zigtausenden von Unterschriften zu beerdigen. ({1}) - Wir reden jetzt vom Plenum. In einer dieser Petitionen haben sich z. B. im Zeitraum von April bis Juni 1992 36 592 Berlinerinnen und Berliner für einen Mietstopp ausgesprochen; eine sehr verständliche Forderung, da sich selbst die gut bezahlten Bonner Beamten inzwischen vor den Mieten in Berlin füchten. In der Beschlußempfehlung des Ausschusses für die heutige Abstimmung heißt es u. a.: Da also bereits das Plenum des Deutschen Bundestages die Einführung von Mietobergrenzen mehrheitlich abgelehnt hat, sieht sich auch der Petitionsausschuß nicht in der Lage, eine abweichende Empfehlung zu geben. Damit führt sich der Ausschuß selbst ad absurdum. Zugleich wird bestätigt, daß nicht das Volk, sondern die Parteien an der Macht immer recht haben. Einziger Unterschied zur DDR: Dort war es nur die SED, hier teilen sich die Koalitionsparteien den Anspruch auf die absolute Wahrheit. ({2}) - Es tut mir leid; ich bin schon in drei Ausschüssen; ich kann nicht überall sein. ({3}) - Ich rede hier von den Fakten. Trotz der Zahlenspielereien der Regierung herrscht zunehmende Wohnungsnot in Ost- und in Westdeutschland. Die Menschen im Osten zahlen bei wesentlich geringerem Einkommen fast genauso viel Miete wie im Westen, und dabei wird immer wieder unterschlagen: Die Wohnungen im Osten sind durchschnittlich älter, mit niedrigerem Ausstattungsstandard, in schlechterem Zustand, und der Flächenverbrauch pro Kopf beträgt auch nur 77 %. ({4}) - Das kritisiere ich ja auch. ({5}) - Ach hören Sie doch mit den letzten 40 Jahren auf! Jetzt hat doch Frau Schwaetzer das Sagen hier. Für vergleichbare Wohnungen würde jedenfalls in Westdeutschland kein Vermieter so viel Miete kassieren können wie im Osten. Daran ändern auch nichts die täglichen Pressetermine von Frau Schwaetzer, wo sie ihre Erfolge verkündet. Die Petenten verspüren jedenfalls am eigenen Leibe, daß die Mietpolitik weder sozial ausgewogen noch leistungsgerecht ist. Deswegen fordern die Menschen im Osten zu Recht bezahlbare Wohnungen für alle - übrigens auch für alle im Westen. Was aber machen Sie? Sie begrüßen weitere Mieterhöhungen. Schließlich ist die Angst der Menschen vor unbezahlbaren Mieten und Wohnungskündigungen hervorragend geeignet, das Geschäft mit der Privatisierung durchzupeitschen. Die Petitionen machen es deutlich: Eine Wende in der Wohnungspolitik ist notwendig. Erste Schritte dazu wären nach unserer Auffassung: Erstens. Zumindest der Verzicht auf die Mieterhöhung am 1. Januar 1994 durch die Erhebung von zwei weiteren sogenannten Beschaffenheitszuschlägen. Zweitens. Verlängerung und Nachbesserung des Wohngeld-Sondergesetzes. Drittens. Ersetzung des Altschuldenhilfegesetzes durch ein Altschuldenübernahmegesetz und damit keine Zwangsprivatisierung von kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungen. Viertens. Erarbeitung einer dritten Grundmietenverordnung im Zusammenwirken mit den betroffenen Mieterinnen und Mietern statt des Übergangs ins Vergleichsmietensystem ab 1995. Fünftens. Umkehrung des Grundsatzes „Rückgabe vor Entschädigung" . Schließlich sechstens: Erweiterter Kündigungsschutz für Mieterinnen und Mieter. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit, und Ihnen, Herr Präsident, danke ich dafür, daß Sie mir eine halbe Minute mehr gegeben haben. ({6})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, unser Kollege Joachim Günther.

Joachim Günther (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000750

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dr. Seifert, ich möchte Ihnen als erstes sagen, daß die Bundesregierung Petitionen sehr ernst nimmt. Wie Sie wissen, erhalten Sie zu diesen Petitionen auch aus unserem Haus stets umfangreiche und begründete Antworten. Ich habe deshalb den Eindruck, daß man immer wieder einmal darauf hinweisen muß, was die Ausgangssituation im Bereich der Mieten ist und was die Dinge sind, die gemeinschaftlich im Bund, im Bundestag und im Bundesrat, beschlossen worden sind. Ich nenne die Grundmietenerhöhung und die Umlage der Betriebskosten zum 1. Oktober 1991. Sie stand im Einklang mit dem Einigungsvertrag. Auch die SPD-regierten Länder haben diese Mieterhöhung mitgetragen und ihr im Bundesrat eindeutig zugestimmt. Die Barmietenbelastung nach dieser Mietanhebung vom 1. Oktober 1991 war unter Berücksichtigung des Sonderwohngeldes Ost im Durchschnitt 17 %. Hier wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Mietkostenbelastung in den alten Bundesländern bei 25 % liegt. Die Grundmieteneinnahmen vor der Mieterhöhung am 1. Januar 1993 von 2 DM pro Quadratmeter monatlich waren nach unserer Meinung zu niedrig, um die Verbesserung der Wohnungsversorgung und um die notwendigen Investitionen durchzuführen. Deshalb erfolgte - wieder mit Zustimmung der Länder - die Anhebung der Mieten um ca. 2 DM pro Quadratmeter monatlich ab 1. Januar 1993, so daß dann ein Durchschnittswert von 4 DM pro Quadratmeter Kaltmiete erreicht wurde. Die Anhebung der Mieten entspricht in diesem Sinne dem Einigungsvertrag und auch der Einkommensentwicklung. Der Anstieg der Grundmiete war deutlich unter den - und das nach Abzug der allgemeinen Preissteigerung - im Durchschnitt verbleibenden Zuwächsen beim Haushaltseinkommen. Im Einzelfall - auch das kann man nicht verschweigen - gab es eine Mietanhebung, die über die Einkommenssteigerung hinausging. Für sozialverträgliche Wohnkosten sorgt aber in diesem Zusammenhang ein nochmals verbessertes Wohngeld. Die Untersuchungen im Auftrag des Mieterbundes zur Mieterhöhung zum 1. Januar 1993 ergaben: Wegen gestiegener Einkommen und des leistungsfähigen Wohngeldes ist die Mietanhebung für die meisten Haushalte gut verkraftbar. So der Mieterbund. Die durchschnittliche Warmmietenbelastung Anfang des Jahres betrug unter Berücksichtigung der Wohngeldregelung ca. 21 %. Die Beiträge der Bundesregierung zur Verbesserung der Wohnungsversorgung sowie zur Begrenzung der Mietbelastung sind sehr vielfältig. Das wissen Sie. Neben dem Sonderwohngeld gibt es umfangreiche Förderprogramme für die Instandsetzung und Modernisierung, so z. B. steuerliche Sonderregelungen, sowie die Übernahme des größten Teils der Altschulden. Der Gegenstand dieser Petitionen ist uns in vollem Umfange bekannt. Im besonderen handelt es sich immer wieder darum, ob die Mitanhebung verkraftbar ist, ob die Mieten wohnwertbezogen genug ausgerechnet werden. Mietminderungen, Modernisierungen, Kündigungen wegen Eigenbedarfs spielen eine Rolle. Davon sind gesetzliche Regelungen genau so betroffen wie die Betriebskostenabrechnung. Eines aber möchte ich, vor allem, weil Sie, Herr Dr. Seifert, es angesprochen haben, noch einmal sagen: Wir erhalten genauso viele Anschreiben und Wünsche, die beinhalten, daß nicht genügend privatisiert wird und Bürger, die eine private Wohnung erhalten wollen, nicht die Möglichkeit haben, eine solche zu kaufen. Ich glaube, diese Punkte sind - wie Frau Homburger hier dargelegt hat - im Ausschuß und im Plenum umfassend beraten worden. Deshalb möchte ich hier nichts weiter hinzufügen. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/5719. Wer stimmt für diesen Anderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Der Anderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 12/4917? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit dem gleichen Stimmenergebnis angenommen. ({0}) - Es geht darum, daß sich Herr Kollege Krause - das haben Sie alle mitbekommen - zu einer Intervention gemeldet hatte, wir aber in der Tagesordnung fortgefahren sind. Ich kann nur sagen: Herr Kollege Dr. Krause, ich bitte um Entschuldigung; wir sind schon beim nächsten Tagesordnungspunkt. Es war ein Versehen. Meine Damen und Herren, ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches - Drucksache 12/3339 - ({1}) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2}) - Drucksache 12/5715 - Berichterstattung: Abgeordnete Klaus-Heiner Lehne Dr. Eckhart Pick Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Achim Großmann, Albert Pfuhl, Dr. Eckhart Pick, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Verbesserung des Schutzes für gewerbliche Mieter - Drucksachen 12/1488, 12/5715 - Berichterstattung: Abgeordnete Klaus-Heiner Lehne Dr. Eckhart Pick Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem unserem Kollegen Klaus-Heiner Lehne das Wort.

Klaus Heiner Lehne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001303, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei diesem Gesetzgebungsvorhaben geht es im wesentlichen darum, mit der inzwischen eingetretenen Lage auf dem Gewerbemietraummarkt fertig zu werden. Wir befinden uns in der Situation, daß zur Zeit eine gesetzliche Mindestkündigungsfrist für gewerbliche Mietverträge von drei Monaten besteht, was für Einzelhändler, aber auch für kleine Gewerbetreibende zum Teil erhebliche Probleme verursachen kann - dies wenn es um die mögliche Betriebsauflösung, um die Beschaffung von Ersatzraum, auch um die möglicherweise mit den Betriebsräumlichkeiten im Wechsel verbundenen Kündigungen von Arbeitsverträgen, der Problematik der Schaffung der Kundenakzeptanz geht. Aus diesem Grunde ist im Bundesrat vom Land Berlin eine Initiative gekommen, die Mindestfrist zur Kündigung von Gewerbemietverträgen von drei auf sechs Monate zu erweitern. Parallel dazu gibt es einen SPD-Antrag, über den wir ebenfalls zu entscheiden haben, der im Prinzip vorsieht, daß beim Gewerbemietraum ein soziales Mietrecht, ähnlich wie dies beim Wohnungsmietraum bereits besteht, eingeführt wird mit einer Kündigungsmöglichkeit nur noch bei Unzumutbarkeit für den Vermieter, mit einer Beschränkung der Mietenhöhe, mit großzügigen Räumungsfristen zugunsten des Mieters und mit der Anwendung des § 5 des Wirtschaftsstrafgesetzes auf die Verhältnisse auch bei Gewerbemieten. Der Rechtsausschuß hat hierzu eine Anhörung durchgeführt, die ein ganz eindeutiges Ergebnis gezeigt hat: Im Prinzip hat sie die Vorstellung des Bundesrates befürwortet, einhellig aber die SPD-Vorschläge durch die Sachverständigen als nicht verantwortbar abgelehnt. Zum einen kann man zu diesen Argumenten anführen, daß es sicherlich einen wesentlichen Unterschied in bezug auf die Schutzwürdigkeit zwischen Wohnmietraum und Gewerbemietraum gibt. Hinzu kommt, daß der verzerrte Wohnungsmarkt, den wir durch unser soziales Mietrecht haben, für den Gewerbemietmarkt kein Vorbild sein kann. Die Verzerrtheit, die hier eintritt, ist eigentlich nur deshalb zu verantworten, weil Wohnung auch nach den Vorstellungen unserer Verfassung ein besonders schützenswertes Gut ist. Infolgedessen haben die Handwerkerverbände und die Einzelhandelsverbände, also gerade die Betroffenen, während der Anhörung übereinstimmend die Vorstellungen der SPD abgelehnt und sich nur den Vorstellungen des Bundesrates annähern können. Die Sachverständigen haben insbesondere darauf hingewiesen, daß die Marktregulierungsfunktion nicht mehr funktioniert, daß Wettbewerbsverzerrungen zwischen denen, die über alten, preiswerten Mietraum verfügen, und denen, die über neuen, neu vermieteten, teureren verfügen, eintreten können. Investoren im Grundstücksmarkt können abgeschreckt werden; und ich weise darauf hin, daß wir bei großen Bürovorhaben heute insbesondere auf ausländische Investoren angewiesen sind. Es besteht die Gefahr, daß ein grauer oder schwarzer Markt durch Nebenabreden entsteht. Nach dem Ergebnis der Anhörung müssen wir also davon ausgehen, daß nicht zu verantworten ist, was die SPD hier beantragt hat. Wir haben dies deshalb auch im Rechtsausschuß abgelehnt, werden es auch hier heute ablehnen und dem Vorschlag des Bundesrates, die Mindestkündigungsfristen auf sechs Monate zu verlängern, zustimmen. Danke schön. ({0}) Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, jetzt hat das Wort unser Kollege Dr. Eckhart Pick.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001715, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Zufall hat es wohl gewollt, daß wir uns unmittelbar nach einer Debatte über Wohnen und Mieten in den neuen Bundesländern einem Problem zuwenden, das mit der Miete von gewerblichem Wohnraum zu tun hat. In der Tat, jahrzehntelang hatte man, wenn vom Schutz der Mieter die Rede war, allein den Mieterschutz in bezug auf Wohnraum im Blick, und niemand hat wohl geahnt, daß eines Tages auch die Mieter von gewerblich genutzten Räumen, also Geschäftslokalen, eines weitergehenden Schutzes als bisher bedürfen würden. Wir wissen, daß das Bürgerliche Gesetzbuch hierzu nur eine sehr knappe Regelung, eine sehr dürftige Regelung der Kündigungsfrist in § 565 enthält - darauf ist schon hingewiesen worden -, aber keinen spezifischen Schutz von Mietern gewerblichen Wohnraums. Nun haben sich seit geraumer Zeit die Verhältnisse grundlegend geändert. Das gilt auch für die Verhältnisse, die wir jetzt in den neuen Bundesländern zu beobachten haben. Aber wir beobachten schon seit Beginn der 70er Jahre in der damaligen Bundesrepublik eine Entwicklung insbesondere in den Großstädten und Ballungsräumen, die uns Sorge machen muß. In allen Innenstädten, in den attraktiven Geschäftslagen, z. B. in Fußgängerzonen, findet eine Verdrängung alteingesessener Fachgeschäfte statt, die immer erbarmungslosere Züge annimmt. Supermärkte, Filial- und Kettenunternehmen, Spielhallen usw. überbieten die von mittelständischen Unternehmen bezahlbaren Mieten, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne Rücksicht auf in vergleichbaren Lagen übliche Preise. Dem eingesessenen Handel und Gewerbe geht zunehmend die Luft aus. Dies ist aber nicht nur ein mittelständisches und damit wirtschaftliches Problem, sondern es hat sehr viel mehr Aspekte. Geschäfte, die bislang die Nahversorgung der Menschen in vielfältiger Weise sicherstellten, müssen entweder aufgeben oder in Randbereiche ausweichen. Neben einer Verödung der Innenstädte fehlt langfristig eine Infrastruktur, die vor allem älteren Menschen und nicht so mobilen Bürgerinnen und Bürgern erlaubt hatte, auch ohne Auto und sonstige Verkehrsmittel ihren täglichen Bedarf zu befriedigen. Ganze Quartiere werden auf diese Weise von einem Angebot entblößt, das eigentlich urbanes Leben ausmacht. Statt Vielfalt beobachten wir gesichtslose Läden, besser Schuppen genannt, Einheitsgeschäfte, die die lästige Konkurrenz schon längst abgeschüttelt haben. Und sie werden auch versuchen, über den Preis letztlich ihre Mietkosten wieder hereinzuholen. Im Endeffekt werden Waren und Dienstleistungen für die Verbraucher teurer, weil der Markt wegen fehlender Konkurrenz nicht mehr ausgewogen ist. Gleichzeitig wird die Auswahl unter dem Angebot geringer. Einheitsgeschäfte halten eben nur Einheitsangebote vor. Angesichts dieser bedenklichen Entwicklung, meine Damen und Herren, die von vielen, die sich damit beschäftigen, also Kommunen, dem Einzelhandel, Handwerk, den Selbständigen, aber auch der Wissenschaft, sehr einheitlich eingeschätzt wird, reagiert nun endlich der Gesetzgeber - zweifellos sehr spät und nach unserer Auffassung auch zu zurückhaltend. Die SPD-Fraktion hatte bereits in der letzten Legislaturperiode einen Antrag eingebracht. Damals hat der Kollege Albert Pfuhl dazu gesprochen. Das, was er damals gesagt hat, ist auch heute noch richtig. Es ging schon damals um eine angemessene Verbesserung der Rechtsstellung gewerblicher Mieter. Wir haben diese Initiative erneut aufgenommen, und wir entscheiden heute u. a. über diesen Antrag. Wir fanden es für das Verfahren besonders hilfreich, daß der Bundesrat einen Gesetzentwurf eingebracht hatte, der diesem Anliegen zusätzlichen Schwung gegeben hat und der heute nunmehr ebenfalls zur Abstimmung ansteht. Der Antrag der SPD-Fraktion geht von der Einschätzung aus, daß auch der gewerbliche Mieter vor Kündigungen so weitgehend geschützt werden muß, daß seine wirtschaftliche Existenz garantiert werden kann und nicht durch Kündigung gefährdet wird. Es geht dabei nicht um die üblichen Kündigungsfälle, sondern um solche, die vom Vermieter allein mit dem Ziel betrieben werden, die maximale Rendite auf Kosten des Mieters zu erreichen. Zum zweiten halten wir eine Verlängerung der gesetzlichen Kündigungsfristen über die bisher geltenden drei Monate hinaus für unbedingt erforderlich und begrüßen deshalb die Initiative des Bundesrates, der im Gegensatz zur Bundesregierung Handlungsbedarf erkannt hat. Wir halten es auch für angemessen, bei längerfristigen Mietverhältnissen im gewerblichen Sektor eine längere Kündigungsfrist, z. B. von einem Jahr, vorzusehen. Auch dies hatte der Gesetzentwurf des Bundesrates zum Ziel. Wir sehen darüber hinaus auch ein Bedürfnis, den eklatanten Mietpreisanstieg in diesem Bereich zu begrenzen. Es sind Fälle zu beobachten - sie haben in der Presse ja eine Rolle gespielt-, in denen Vermieter nach Ablauf der Mietzeit die Miete um 300 % und mehr erhöht haben ({0}) bzw. mit der Nichtverlängerung von Verträgen drohen, wenn auf die neuen Bedingungen nicht eingeDr. Eckhart Pick gangen wird. Auch der Markt gewerblich genutzten Grundstückeigentums ist eben ein Markt der Vermieter. Angesichts dieser Problematik, Herr Kollege Lehne, ist festzuhalten: Es geht uns überhaupt nicht um eine undifferenzierte Übertragung des sozialen Mietrechts auf den Bereich der gewerblichen Miete, wie Sie haben glauben machen wollen. Es geht vielmehr um eine minimale Steuerung einer unerfreulichen Entwicklung. Wir sehen uns in diesem Ziel auch durchaus einig mit den Experten auf diesem Gebiet. Die Anhörung hat zumindest erkennen lassen, daß dieses Ziel von allen Expertinnen und Experten bejaht worden ist, auch wenn im Einzelfall das eine oder andere Instrument sicher anders bewertet worden ist. Begrüßt wurde insbesondere - das möchte ich noch einmal betonen - eine Verlängerung der gesetzlichen Kündigungsfristen. Wir bedauern, daß die Mehrheit dieses Hauses nur zu einem kleinen Schritt bereit war. Nach unserer Auffassung hätte eine Verlängerung über die vorgesehenen sechs Monate hinaus bei längerfristigen Mietverträgen eine zusätzliche und angemessene Sicherheit dargestellt. ({1}) Meine Damen und Herren, wer es mit der Förderung kleinerer und mittelständischer Betriebe und Handwerke ernst meint, der muß auch bereit sein, mehr für ihre Interessen zu tun, als es diese Koalition vorhat. ({2}) Wir bedauern deshalb, daß unsere weitergehenden Vorschläge von der Mehrheit dieses Hauses nicht akzeptiert wurden. ({3}) In vielen Fällen haben wir es ja erlebt: Irgendwann werden Sie schon ein bißchen schlauer. Aber das dauert uns etwas zu lange. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die SPD wird der Neuregelung in Form des vorgeschlagenen Gesetzes zustimmen; denn wir erkennen darin immerhin einen kleinen Fortschritt. Wir werden darüber hinaus der Ausschußempfehlung nicht folgen, soweit sie unseren weitergehenden Antrag ablehnt. Schönen Dank. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Nächster Redner ist unser Kollege Burkhard Zurheide.

Burkhard Zurheide (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002610, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn die SPD Vorschläge zur Veränderung des Mietrechts macht, ist in aller Regel Anlaß zu größter Sorge gegeben. Wenn die SPD dann auch noch - wie eben geschehen - geradezu mit tränender Stimme sagt, sie habe nun ihr Herz für Gewerbetreibende entdeckt, dann besteht nicht nur Anlaß zur Sorge ({0}) - Herr Kollege Pick, mit Verlaub -, dann ist Gefahr im Verzuge. Meine Damen und Herren, in Wirklichkeit geht es bei Ihrem Antrag darum, daß Sie versuchen wollen, durch Interventionismus eine bestimmte Einzelhandelsstruktur vorzuschreiben, eine bestimmte Einzelhandelsstruktur zu bewirken. In Wirklichkeit möchten Sie dem Bürger gerne vorschreiben, in welche Geschäfte er zu gehen hat, was er zu treiben hat. Das Ziel Ihres Antrags ist ganz und gar nicht, Gewerbetreibenden zu helfen. Das Ziel Ihres Antrags ist schlicht und ergreifend ein Gesetzentwurf zur Reglementierung. Ich glaube, es gibt kein Rechtsgebiet, das sich so wenig für Reglementierungen eignet wie das Mietrecht, weil das nämlich kontraproduktiv ist. Jede weitere Reglementierung führt nicht dazu, daß mehr Wohnraum oder wie hier mehr Geschäftsraum geschaffen wird, sondern jede Art von Reglementierung führt nur dazu, daß weniger Raum geschaffen wird. ({1}) Genau das wäre das Ergebnis, wenn ein solcher Gesetzentwurf vorgelegt würde. ({2}) Herr Kollege Pick, es hat auch keinen Zweck, Filialunternehmen zu beschimpfen, Fast-food-Ketten zu beschimpfen. Sie können dem Bürger nicht vorschreiben, in welche Geschäfte er gehen soll. Wir haben das zu respektieren. Ich will dabei überhaupt nicht verschweigen, daß es objektiv gewisse Mißstände gibt, die bekämpft werden müssen. Das Instrumentarium dafür steht aber zur Verfügung. Sie können über Flächennutzungspläne und über Bebauungspläne geeignete Maßnahmen ergreifen, um solchen Mißständen tatsächlich abzuhelfen. Was Sie aber nicht tun sollten, ist, solche Mißstände mit Hilfe des Mietrechts zu bekämpfen, weil das in der Tat zu einem völlig gegenteiligen Ergebnis führen würde. Deswegen lehnen wir das auch ab. Es ist ja richtig: Es fehlt Gewerberaum; es fehlt Mietraum. Wenn in einer marktwirtschaftlichen Ordnung etwas fehlt, geht der Preis natürlich in die Höhe. Das ist überhaupt keine Frage. Die Lösung dafür kann aber nur sein, Investoren dafür zu motivieren, Investoren zu finden, die in Gewerberaum investieren und ihn zur Verfügung stellen. Dann werden die Preise fallen; dann würden solche Probleme auch leichter gelöst werden können. Für uns Liberale gibt es einen ganz hehren und großen Grundsatz. Vertragsfreiheit, Privatautonomie und Gewerbefreiheit sind für uns wichtige Werte, die wir nicht angetastet haben möchten. ({3}) Sie schlagen vor, daß ein Gewerbemietspiegel geschaffen werden soll. Wie soll das praktisch funktionieren? Wollen Sie Daten sammeln? Wollen Sie die ganze bunte Vielfalt des Gewerbemietraumvertragswesens aufbrechen? Was soll passieren, wenn, wie Sie vorschlagen, keine Kündigung ausgesprochen werden kann, wenn der Geschäftsinhaber, aus welchen Gründen auch immer, dadurch „eine erhebliche Gefährdung seiner wirtschaftlichen Lebensgrundlage" zu gewärtigen hat? Wie lange soll das gehen? Das ist praktisch nicht durchführbar. Was soll die Anwendbarkeit des § 5 des Wirtschaftsstrafgesetzbuches, wie Sie es vorschlagen? Auch das führt in die Irre. Ein Letztes zu den Punkten, die Sie vorschlagen. Ich muß gestehen, ich habe mir ein Schmunzeln nicht verkneifen können, als ich in Ihrem Antrag gelesen habe, daß Sie fordern, der Staat solle Möglichkeiten der Beratung für gewerbliche Mieter schaffen. Dafür gibt es reichlich rechtsberatende Berufe. Das muß der Staat nicht auch noch betreiben. ({4}) Der einzige Punkt, den wir mitzumachen bereit sind, ist die Verlängerung der Kündigungsfristen von jetzt drei Monaten auf sechs Monate. Wir halten nichts davon, auch hier aufzudröseln und zu sagen: für bestimmte Mietverhältnisse zwölf Monate und für andere nur sechs Monate. Das ist übrigens auch die Ansicht der angehörten Verbände und Sachverständigen. Ich glaube, eines ist in der Anhörung, die selten klar und selten deutlich gewesen ist, ziemlich deutlich geworden: Genau das, was diese Koalition beschließt, nämlich allenfalls die Verlängerung der Kündigungsfristen auf sechs Monate, ist vernünftig und richtig. Zum Schluß, meine Damen und Herren: Mehr Gewerbe und mehr Gewerberaum schafft man nicht durch Interventionismus - dies schafft man einzig und allein dadurch, daß gebaut wird. Dafür benötigt man Investoren und keine Marktregulierer. Der Staat sollte auch und gerade beim Gewerberaum Rahmenbedingungen schaffen und Investoren nicht abschrekken. Der Staat darf kein strenges, enges Korsett zur Verfügung stellen, unter dem niemand mehr arbeiten kann, unter dem auch niemand mehr investieren will. Unser Mietrecht, und zwar sowohl das Wohnraummietrecht als auch das Geschäftsraummietrecht, ist kompliziert und unübersichtlich genug. Es gibt eine Marktwirtschaft. Meine Fraktion, meine Partei, die F.D.P. vertraut auf die Marktregulative, und dieses Vertrauen in marktregulative Wirkungen liegt im Interesse des Mieters und des Vermieters. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Ilja Seifert das Wort.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P.! Bei aller Freundschaft und bei allem Verständnis für Gewerbefreiheit - in Spielhallen kann man keine Milch kaufen. Gewerbemieten sind für Mittelständler in West und Ost wichtig. Die Verdrängung findet hier wie da statt; erlauben Sie mir dennoch, jetzt hauptsächlich über die Entwicklung im Osten zu reden, weil ich mich da besser auskenne. Eine entscheidende Grundlage für die vor Jahren im Wahlkampf versprochenen blühenden Landschaften im Osten sollte die Entwicklung des Mittelstandes sein. Inzwischen gibt es in vielen Orten bereits mehr Gewerbeab- als -anmeldungen. Welche wenn nicht diese Bundesregierung sollte dafür die Verantwortung tragen? ({0}) Viele traditionelle Standorte für Handwerker und Gewerbetreibende vor allem in den Innenstädten sind restitutionsanspruchsbehaftet. Gewerbetreibende plagen sich mit überhöhten Mieten und mit Verträgen mit sehr kurzen Laufzeiten herum. Dazu kommt die unerträgliche Konkurrenz großer Handels- und Gewerbeparks auf ehemals grünen Wiesen am Stadtrand. Dort werden real existierende blühende Landschaften buchstäblich zerstört. ({1}) Viele Gewerbetreibende, beispielsweise in meinem Wahlkreis Berlin-Friedrichshain, Lichtenberg und Treptow, die 41 Jahre Sozialismus recht gut überlebt haben und deren Leistungen im Kiez von einem festen Kundenstamm in Anspruch genommen wurden, mußten in letzter Zeit ihr Geschäft aufgeben - wegen der Gewerbemieten. Hauptgrund dafür waren die existenzvernichtenden - Sie sagen dazu „marktgerechten" - Mieten und Neuverträge. Beispielsweise ist der Glasermeister aus der Lichtenberger Pfarrstraße nach 26 Betriebsjahren nach der Vernichtung seines Betriebes heute arbeitslos. Fast alle Lebensmittelläden in der Berliner Karl-MarxAllee sind abgewickelt; dafür sind in dieser Magistrale fast alle Großbanken präsent. Dabei ist es Frau Krause oder Herrn Lehmann eben nicht gleichgültig, wenn ihr Bäcker gleich um die Ecke einem Sexshop weichen mußte und sie jetzt zum nächstgelegenen Bäcker dreimal so weit laufen müssen, sofern sie überhaupt laufen können. Gewerbefreiheit ist das eine; der Schutz der Gewerbetreibenden vor Willkür etwas anderes und der Erhalt eines bürgernahen Versorgungsnetzes das Dritte. Hier im Bundestag, im politischen Bereich also, muß die Sozialpflichtigkeit des Staates besonders angemahnt werden. Maßnahmen zum Schutz der gewerblichen Mieter - und dazu gehören Kultur- und Sozialeinrichtungen, Jugendclubs, Sportvereine, Seniorenfreizeitstätten und andere gemeinnützige Vereinigungen - sind eben dringend erforderlich. Darüber waren sich übrigens in Berlin, vor Ort also, sowohl die Oppositionsparteien als auch die Koalition von SPD und CDU einig. Was heute, nach über einem Jahr, in dieser Frage zur Abstimmung vorliegt, kann man auch so umschreiben: Der Elefant kreißte und gebar ein Mäuslein. Deswegen wird sich die PDS bei dieser Vorlage der Stimme enthalten, jedenfalls die meisten von uns. Für uns wirkliche Unterstützung der gewerblichen Mieter und damit für eine gesunde Infrastruktur und neue Arbeitsplätze ist weit mehr zu tun. Leider reicht die Zeit, die der PDS/Linke Liste hier an Redezeit zugestanden wird, nicht aus, auch noch unsere konkreten Vorschläge ausführlich darzulegen. Wir jedenfalls würden dem von Ihnen in Wahlkämpfen so heftig umworbenen Mittelstand, dem angestammten und dem neu entstehenden, im Alltag hilfreich zur Seite stehen. Wir würden ihm reale Entwicklungsmöglichkeiten schaffen, nicht seine Vernichtung. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren! Als letzter Redner in dieser Debatte hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz, unser Kollege Rainer Funke, das Wort. Wir begrüßen aber auch die anwesende Ministerin. - Bitte, Kollege Funke.

Rainer Funke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000624

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Zurheide hat, glaube ich, ordnungspolitisch alles gesagt, was man zu diesem Thema sagen muß. Dafür meinen herzlichen Dank, denn es war umfassend und gab die marktwirtschaftlichen Regelungen unseres gewerblichen Mietrechts zutreffend wieder. Wenn Sie, Herr Professor Pick, gesagt haben, daß ein Geschäftsraummietengesetz notwendig sei, dann frage ich Sie allerdings, warum Sie in den Ländern dieses Geschäftsraummietengesetz, das wir ja gehabt haben, vor 15 bis 20 Jahren - zuletzt vor 15 Jahren im Land Berlin - mit Ihren eigenen Stimmen abgeschafft haben. Ich glaube, das war damals die richtige Entscheidung. Natürlich sind wir immer wieder von Parlamenten und von parlamentarischen Anfragen gedrängt worden, hier für den Geschäftsraummieter zusätzliche Schutzrechte einzufordern. Es ist völlig richtig - das gebe ich Ihnen, Herr Professor Pick, auch zu -, daß sich der Strukturwandel im Bereich der Wirtschaft in den letzten Jahren beschleunigt hat. Das hat vor allen Dingen in den Zentren der Großstädte zu Verdrängungen alteingesessener Geschäfte durch wirtschaftlich stärkere Konkurrenten geführt. ({0}) - Das ist in der Marktwirtschaft - das gebe ich Ihnen zu, Herr Dr. de With - auch nicht ganz ausgeschlossen. ({1}) Die Bundesregierung sieht diese Entwicklung mit Besorgnis. Sie sieht die Ursache hierfür aber nicht in einem unzureichenden Rechtsschutz für den gewerblichen Mieter. Ein Teil der Geschäfte gibt den Geschäftsbetrieb wegen mangelnder Rentabilität auf, ein anderer Teil aus Altersgründen, wieder andere wegen wirtschaftlich stärkerer Konkurrenz. Das ist ein ganz normaler Ausleseprozeß. Die von der SPD-Fraktion geforderte gesetzliche Mietzinsbegrenzung durch Einführung einer ortsüblichen Vergleichsmiete ist zudem ungeeignet, schädlichen Entwicklungen entgegenzuwirken.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ilja Seifert?

Rainer Funke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000624

Natürlich.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte, Kollege Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Staatssekretär, wenn Sie das alles für ganz normal halten, können Sie mir dann bitte erklären, ob es normal ist, daß anstelle von Lebensmittelgeschäften jetzt Sexshops oder Spielhallen sind? Kann man dort essen? ({0}) - Ja, ich wohne in Berlin-Mitte, tut mir leid, und ich möchte auch weiter dort wohnen.

Rainer Funke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000624

Herr Kollege Dr. Seifert, da müssen Sie darüber nachdenken, wie die Alternative wäre. Wollen Sie statt der Vertragsfreiheit regeln, daß in bestimmten Geschäftsräumen nur bestimmte Geschäfte untergebracht werden sollen? Soll das in Zukunft beispielsweise eine Gewerbepolizei zu vergeben haben? Da müssen Sie sich schon fragen, wie Sie es mit der Vertragsfreiheit halten. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Parlamentarischer Staatssekretär, es gibt noch zwei Wortmeldungen, und zwar von den Kollegen Hansen und Dr. Krause. Würden Sie die noch mit zulassen?

Rainer Funke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000624

Natürlich.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte, Kollege Hansen.

Dirk Hansen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000804, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, gehen Sie mit mir einig, wenn ich festelle, daß die kommunale Planungshoheit genau in den Bereichen, die Kollege Seifert soeben angesprochen hat, eigentlich durchgreifen sollte und nach unseren rechtlichen Vorgaben auch durchgreifen kann?

Rainer Funke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000624

Herr Kollege Hansen, ich stimme Ihnen da völlig zu. In den kommunalen Bebauungsplänen werden durchaus Begrenzungen, z. B. für Spielhallen, Sex-Shops oder ähnliches, vorgesehen. Dies ist nach unserem Baugesetzbuch möglich.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Nun noch eine Frage des Kollegen Dr. Krause. Bitte, Kollege Dr. Krause.

Dr. Rudolf Karl Krause (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001205, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Staatssekretär, die F.D.P. ist als die Mittelstandspartei angetreten, in der sich NDPD und LDPD vereinigt haben. Wie wollen Sie 1994 noch einmal als Mittel15246 Dr. Rudolf Karl Krause ({0}) standspartei antreten, wenn wir z. B. in Sachsen-Anhalt auf Grund der bezeichneten Zusammenhänge in diesem Jahr bei 18 000 Gewerbeanmeldungen bisher 12 000 Gewerbeabmeldungen haben, wie wollen Sie sich als Mittelstandspartei für den Mittelstand, der vor der Vereinigung kaum da war, artikulieren, wenn in der Tat viele Kleine, die den Sozialismus überlebt haben, jetzt großen Handelsketten weichen?

Rainer Funke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000624

Herr Kollege Dr. Krause, ich freue mich, daß Sie sich unseren Kopf zerbrechen, aber ich möchte mich hier nicht in den Wahlkampf für das Jahr 1994 begeben. Wir haben ordnungspolitisch die richtige Gewerbepolitik. Wir werden vom Mittelstand auch weiter gewählt werden. ({0}) Ein Geschäftsraummietenspiegel, Herr Professor Pick, wie Sie ihn fordern, kann nur schwer erstellt werden. Bei Geschäftsräumen kann es sich um Arztoder Anwaltspraxen, um kleine Werkstätten und große Lebensmittelgeschäfte oder um Fabrikhallen handeln. Wenn Sie in die Innenstadt beispielsweise einer Großstadt gehen, dann werden sie feststellen, daß Geschäftsräume in der einen Straße besonders begehrt sind und Geschäftsräume in der nächsten Straße nicht so begehrt sind und demgemäß die Mietzinsen ganz erheblich geringer sind. Wie wollen Sie das in zwei oder drei Stufen in einem Mietpreisspiegel wiedergeben? Ein ortsüblicher Vergleichsmietzins läßt sich bei dieser Vielfalt der Nutzungsmöglichkeiten eben kaum ermitteln, noch nicht einmal mit viel Bürokratie, wie es die Sozialdemokraten gerne haben. Darüber hinaus werden sich gesetzliche Mietpreisbegrenzungen negativ auf das Angebot an Geschäftsräumen auswirken. Auch werden Vermieter versuchen, derartige Preisbegrenzungen z. B. durch Einmalzahlungen, durch Abstände usw. zu umgehen. Die Geschäftsraummieter sind im übrigen auch nach der derzeitigen Rechtslage Mietzinserhöhungen nicht schutzlos ausgesetzt. Im Rahmen der Vertragsfreiheit können sie langfristige Mietverträge mit einer Option für eine Verlängerung abschließen. ({1}) Diese Mietverträge können eine Mietzinsgleitklausel enthalten. Sie stellen damit für Mieter und Vermieter einen optimalen Interessenausgleich dar. Schließlich fordern auch die Verbände der Betroffenen, die die Interessenlage doch wohl am besten beurteilen können, den von der SPD vorgeschlagenen Schutz nicht. Die Verlängerung der Kündigungsfristen, wie sie in den Ausschüssen beschlossen worden ist, halte ich dagegen für sinnvoll. Die Verlängerung der Kündigungsfrist auf sechs Monate zum Quartalsende ist bei den heutigen Verhältnissen erforderlich, um ein Mietverhältnis angemessen abwickeln zu können. Dies ist jedenfalls die Auffassung der Betroffenen. Ich sehe keine Veranlassung, diesem vernünftigen Wunsch nicht zu entsprechen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen zu diesem Tagesordnungspunkt liegen nicht vor. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches auf den Drucksachen 12/3339 und 12/5715 Nr. 1. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Bei Stimmenthaltung aus der Gruppe PDS/ Linke Liste ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Mit dem gleichen Stimmenergebnis ist der Gesetzentwurf nun in dritter Lesung angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung empfiehlt der Rechtsausschuß, den Antrag der Fraktion der SPD zur Verbesserung des Schutzes für gewerbliche Mieter auf Drucksache 12/1488 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Bei einer Stimmenthaltung von Dr. Krause und gegen die Stimmen der SPD und PDS/Linke Liste ist die Beschlußempfehlung angenommen. Tagesordnungspunkt 10 wurde bereits vor Punkt 8 behandelt. Ich kann daher Punkt 11 der Tagesordnung aufrufen: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Richtlinie des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen - Drucksache 12/5354 Überwei sung svorschlag: Rechtsausschuß ({0}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus EG -Ausschuß Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst das Wort der Bundesjustizministerin, unserer Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Minister:in)

Politiker ID: 11001336

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der am 24. März diesen Jahres vom Kabinett beschlossene Gesetzentwurf zur Umsetzung einer EG-Richtlinie über Pauschalreisen steht heute zur ersten Lesung an. Die Turbulenzen des Sommers mit gestrandeten Urlaubern vom Mittelmeer bis zum Pazifik haben dieses Vorhaben in den besonderen Blickpunkt der Offentlichkeit gerückt. ({0}) Zum Teil wurde sogar der Eindruck erweckt, als sei die bisher nicht erfolgte Umsetzung der Richtlinie für den Konkurs von Reiseveranstaltern und dafür ursächlich, daß Urlauber ohne Dach über dem Kopf in fernen Landen festsaßen - eine wirklich völlig verquere Betrachtungsweise. Mir persönlich und dem Bundesministerium der Justiz ist vorgeworfen worden, man habe die fristgerechte Umsetzung der EG-Pauschalreiserichtlinie verschlafen. Richtig ist vielmehr, daß wir die für ein Gesetzgebungsvorhaben bemessene Umsetzungsfrist der EG nicht einhalten konnten, weil ein Sicherungssystem für jährlich 25 Millionen Pauschalreisen von Grund auf neu geschaffen werden muß. Betroffen ist eine Branche mit freiem, nahezu voraussetzungslosem Zugang zum Gewerbe und damit zwangsläufig divergierenden Interessen. Deshalb war und ist vor allem die Mitwirkung der betroffenen Wirtschaftskreise unentbehrlich. ({1}) Die besonderen Schwierigkeiten werden auch dadurch verdeutlicht, daß versierte Experten der Versicherungs- und Tourismusbranche nahezu zwei Jahre benötigen, um den Erstentwurf eines halbwegs funktionierenden und den rechtlichen Rahmenbedingungen gerecht werdenden Systems der Absicherung zu erarbeiten. Es wäre völlig sinnlos gewesen, wenn der Gesetzgeber bei dieser Sachlage dem Ergebnis dieser Bemühungen durch Aufmalen abstrakter Paragraphen auf ein Blatt Papier hätte vorauseilen wollen. ({2}) Bezeichnenderweise ist es auch unseren Partnern in der EG in der überwiegenden Mehrzahl bisher nicht gelungen, die Richtlinie fristgerecht in nationales Recht umzusetzen. Auch Großbritannien, Niederlande, Portugal und Frankreich haben noch nicht die notwendigen Ausführungsbestimmungen erlassen - um die es gerade in diesem Fall geht -, um ein neu einzurichtendes System auch funktionsfähig zu machen. Jetzt haben wir, wie ich meine, ein durchaus akzeptables Angebot aus der Versicherungswirtschaft, das auch den Belangen der mittleren und kleineren Reiseveranstalter gerecht werden kann. Es liegt nun am guten Willen und an der Solidarität in den Reihen der Reiseveranstalter und ihrer Verbände, von diesem Angebot in sinnvoller Weise Gebrauch zu machen. ({3}) Ich appelliere daher mit Nachdruck an die Reiseveranstalter, an ihre Verbände und an die Versicherungswirtschaft, die notwendige Solidarität und Bereitschaft aufzubringen, damit die gebotene Insolvenzabsicherung verwirklicht und der Urlauber künftig noch besser als bisher geschützt werden kann. In diesem Zusammenhang erlaube ich mir einen Hinweis: Es ist nicht so, daß derzeit für den Urlauber überhaupt kein Schutz besteht. Der Reisende ist bei Pauschalreisen nur unter sehr engen Voraussetzungen zur Vorauszahlung des Reisepreises verpflichtet, nämlich dann, wenn ihm der Reiseveranstalter hinreichende Sicherheiten, nämlich Tickets oder Hotelgutscheine, gibt. Hier war sicherlich in der Vergangenheit manch Reisender vielleicht etwas zu blauäugig oder auch zu leichtfertig, wenn er sich allein am - häufig äußerst günstigen - Reisepreis orientiert hat. Deshalb darf ich hier auch sagen: Zum Nulltarif wird die Insolvenzabsicherung nicht zu haben sein. Letzten Endes wird sie von den Verbrauchern bezahlt werden müssen. Dennoch, die Vorteile werden, so hoffe ich, überwiegen. Neben dem Schutz im Falle der Insolvenz des Reiseveranstalters sorgen Richtlinie und das hier zur ersten Beratung vorliegende Gesetz zudem für eine verbesserte Information der Verbraucher in den verschiedenen Phasen, von der Werbung bis zum Beginn der Reise. Sie verbessern die rechtliche Stellung des Reisenden bei Preis- und Leistungsänderungen sowie beim Schadensersatz. Ich hoffe, daß die jetzt folgenden notwendigen Beratungen im parlamentarischen Raum, nachdem wirklich in sehr schwierigen Verhandlungen Grundsätze geschaffen werden konnten, durchgeführt und bald zum Abschluß gebracht werden können. Vielen Dank. ({4})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Kollege Dr. Eckhart Pick.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001715, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer im Sommer die Bilder und Berichte über gestrandete Urlauberinnen und Urlauber nicht nur einfach zur Kenntnis genommen hat, mußte eigentlich mit diesen Menschen mitfühlen, insbesondere mit Familien mit Kindern ({0}) - aber das berührt Sie offensichtlich wenig, Herr Kollege -, ({1}) die ohne Obdach und Versorgung, oft hilflos und verzweifelt auf Hilfe warteten. Angesichts Tausender von verantwortungslosen Veranstaltern im Stich gelassener Juristen ({2}) - die sind es übrigens auch -, nein Touristen, fiel der Bundesregierung außer Appellen an die Fähigkeit zur Selbsthilfe der Betroffenen nichts ein. Ich erinnere mich an einen hilflosen Botschafter, den die Bundesregierung vorgeschickt hat und der insofern ein typischer Repräsentant dieser Bundesregierung gewesen ist. Außer daß er Verständnis für die Sorgen artikuliert hat, habe ich von ihm nichts gehört. Tätige Hilfe? - Fehlanzeige. Ich habe mich damals gefragt, meine Damen und Herren, ob es außerhalb jeder Phantasie von zahlrei15248 chen Bundesministerinnen und Bundesministern und Tausenden von Staatsdienern in den Ministerien liegt, z. B. einmal zu überlegen, ob nicht einige der zahlreichen Transportflugzeuge der Bundeswehr bei der Rückkehr aus Somalia oder vielleicht an Stelle eines Trainingsfluges einen Zwischenstopp z. B. in Portugal hätten einlegen können, um besonders Betroffene zurückzufliegen. Wenn schon ein solch unbürokratisches Vorgehen nicht in Betracht gezogen wurde, wenn schon soziale Grande keine Rolle spielten, dann hätte wenigstens ihr schlechtes Gewissen die Bundesregierung veranlassen müssen, helfend einzugreifen. ({3}) Ich erlaube mir auch die Frage, wie wohl andere europäische Regierungen in vergleichbaren Fällen gehandelt hätten. Was hat die Bundesregierung der verblüfften Öffentlichkeit statt dessen geboten? Da wurden Ratschläge erteilt, wie sich Kunden bei notorisch insolventen Reiseveranstaltern schadlos halten könnten. Es wurde ihnen fast hämisch vorgeworfen, daß sie ja selber schuld seien - das klang ein bißchen auch aus der Rede der Bundesministerin heraus -, ({4}) wenn sie bei unsicheren Kantonisten der Branche auch noch telefonisch buchten. Dieser Versuch, von dem eigenen Versäumnis abzulenken, ging allerdings gründlich daneben. ({5}) Plötzlich fiel den Medien, den Parteien und den Betroffenen auf, daß es doch eine Pauschalreiserichtlinie des Rates der EG gebe, die einen Schutz der Urlauber dadurch vorsehe, daß die Ansprüche auf Erfüllung des Vertrages und insbesondere der Rückreise gesichert sein müßten. Auf einmal stand die Rechtsfrage im Mittelpunkt - deswegen der Begriff „Juristen"; Herr Kollege, sie werden es mir verzeihen; auch Sie sind ja von der gleichen Provenienz -, nämlich die, ob denn die Bundesrepublik den enttäuschten Pauschalurlaubern deswegen haften müsse, weil die EG-Richtlinie nicht rechtzeitig umgesetzt worden ist. Denn dann, so die naheliegende Erkenntnis, hätten die Betroffenen zwar eine Beeinträchtigung ihres Feriengenusses hinnehmen müssen, aber doch zumindest die Sicherheit gehabt, wenigstens ohne größere finanzielle Einbuße aus ihrem unfreiwilligen Abenteuerurlaub herauszukommen. Dies alles, meine Damen und Herren, wäre nicht passiert, hätte die Bundesregierung ihre Hausaufgaben gemacht. ({6}) Kausalität zwischen dem Verstoß gegen die Umsetzungspflicht und dem entstandenen Schaden nennt das der Jurist. ({7}) Die zuständige Justizministerin hat sich - außer mit zweifelhaften Äußerungen zur Rechtslage - nicht hervorgetan. - Wir haben aber nicht ihren Rücktritt gefordert, wie das andere aus der Koalition gemacht haben. Insofern sind wir viel verständnisvoller. - Von Versuchen, die unerträgliche Situation vieler Menschen zu bereinigen, und sei es auch ohne Anerkennung einer Rechtspflicht, wurde zumindest nichts bekannt. Bei der rechtlichen und politischen Bewertung des Vorgangs ist festzuhalten: Hätte die Bundesregierung rechtzeitig das Gesetzgebungsverfahren in Gang gesetzt, wäre es kein Problem gewesen, diese Rückreise zu organisieren; denn dann hätten die entsprechenden Ansprüche eine Sicherheit für die Fluggesellschaften bedeutet, die dann eingesprungen wären. Das ist Ihnen allen sicher schon geläufig. Die Öffentlichkeit erwartet von Ihnen, Frau Ministerin, daß Sie jetzt endlich einige Fragen beantworten, die sich aufdrängen: Warum war es innerhalb von - bis heute gerechnet - drei Jahren, drei Monaten und zehn Tagen nicht möglich, die Pauschalreiserichtlinie, an der die Bundesregierung selber mitgewirkt hat, in deutsches Recht umzusetzen? Was hält die Bundesregierung eigentlich von Vertragstreue gegenüber den europäischen Partnern? - Ich füge in Klammern hinzu: Es ist ja ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, ({8}) soweit uns bekannt ist, seit Anfang des Jahres. Vielleicht kann die Ministerin dazu noch etwas sagen. ({9}) - Doch, es ist ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, seit Frühjahr dieses Jahres. - Ich frage weiter: Welchen Stellenwert mißt die Ministerin tatsächlich dem Schutz von Verbraucherinnen und Verbrauchern vor unseriösen Reiseveranstaltern angesichts ihrer sonstigen Beteuerungen zu diesem Thema zu? Eines ist offensichtlich: Die Bundesregierung hatte nicht die Kraft, hin- und hergerissen zwischen Verbändequerelen und Koalitionswirren, dem Parlament einen Gesetzentwurf zuzuleiten, der dafür sorgt, daß der Traum vom Urlaub nicht zum Alptraum wird. ({10}) Ich finde es etwas billig, auf die Verantwortung der Verbände hinzuweisen. Hier hat der Gesetzgeber zu entscheiden, nicht die Verbände. ({11}) Der jetzt vorliegende Regierungsentwurf wirft weitere Fragen auf: Ist tatsächlich die Versicherungsbzw. Garantielösung der bessere Weg zum Schutz der Reisenden vor Zahlungsunfähigkeit und Konkurs des Veranstalters, und ist sie besser als eine Fondslösung, der sich alle unterwerfen müssen? Für letztere Überlegung spricht zumindest, daß auch mittelständische Unternehmen die Chance haben müssen, dieselben Versicherungsbedingungen zu erhalten wie die fünf oder sechs Riesen der Branche. Eine weitere Frage: Ist die vorgesehene Begrenzung der Haftung durch eine Höchstsummenregelung angemessen? Wir werden im Rahmen des Beratungsverfahrens auch die Grundsätze zu prüfen haben, ob die Richtlinie überhaupt umfassend umgesetzt worden ist. Darüber hinaus interessiert uns, ob die Informationspflichten des Reiseveranstalters tatsächlich auch in einer Rechtsverordnung des Bundesjustizministers geregelt werden können oder ob dies der Richtlinie widerspricht. Die Bundestagsfraktion der SPD wird diese und andere Fragen zügig, aber sorgfältig prüfen. Sie läßt sich dabei jedoch nicht unter Druck setzen. Sicher ist, daß wir mit allen Beteiligten sprechen werden. Wir werden nicht so lange brauchen - das verspreche ich - wie die Bundesregierung. Wir sind ohne Scheuklappen offen für alle Vorschläge, die einen möglichst einfachen, aber wirksamen Verbraucherschutz garantieren. Wir werden sicher auch nicht um eine Anhörung der Beteiligten herumkommen. ({12}) Denn ich denke, es ist sinnvoll, daß sich der Bundestag und die zuständigen Ausschüsse mit diesen Fragen sehr eingehend beschäftigen. ({13}) - Wir laden nicht nur die Reiseveranstalter ein, da brauchen Sie keine Sorge zu haben. Ich denke, das Spektrum ist groß genug, und wir werden alle, die etwas zu sagen haben, auch hören können. Wir wollen uns bemühen, möglichst noch in diesem Jahr zu einer gesetzlichen Regelung zu kommen. An uns soll es nicht liegen. Wir werden auch durch Sondersitzungen des Rechtsausschusses das Ganze befördern. Dafür ist uns keine Zeit zu schade. Wir wollen möglichst bald - vielleicht schon zur nächsten Urlaubssaison - den bestmöglichen Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher erreichen. Schönen Dank. ({14})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Rolf Olderog.

Dr. Rolf Olderog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestrandete Pauschalurlauber in fernen Urlaubsländern ohne Hotel und Rückflugmöglichkeiten wie in diesem Sommer wird es in Zukunft nicht mehr geben. Wir begrüßen den Gesetzentwurf der Bundesregierung. Er sichert bei Insolvenz und Konkurs eines Reiseveranstalters Rückreise und vollen Schadensersatz. Die maßgebliche EG-Richtlinie vom 13. Juni 1990 verpflichtet allerdings Deutschland, die Umsetzung der Richtlinie so rechtzeitig vorzunehmen, daß das neue Recht bereits am 1. Januar 1993 hätte in Kraft treten müssen. Ob die Verzögerung wirklich Schadensersatzansprüche auslösen kann, mag dahingestellt bleiben. Ich fühle mich aber verpflichtet, darauf hinzuweisen, daß es sich um eine juristisch und tatsächlich besonders schwierige Materie handelt. Ich weiß - ich habe es über Monate miterlebt -, daß sich die zuständigen Beamten in Verhandlungen mit Vertretern der Reisebranche, der Versicherungswirtschaft und den Fremdenverkehrspolitikern des Bundestages intensiv um Lösungen bemüht haben. Das Ministerium hat mit Sicherheit nicht geschlafen. Auch folgendes spricht für sich - die Ministerin hat das bereits dargelegt -: Abgesehen von den EGMitgliedsländern, die bisher schon in etwa die von der EG geforderte rechtliche oder tatsächliche Situation hatten, sind alle anderen Mitgliedsländer ihrer Verpflichtung aus der Richtlinie noch nicht nachgekommen. ({0}) Meine Damen und Herren, ich möchte ein Wort zu der an der Tourismusbranche geübten Kritik sagen. In der Vergangenheit hat die Branche stets in Solidaritätsaktionen freiwillig und kostenlos gestrandete Urlauber zurückbefördert. In diesem Jahr aber zögerte sie, weil insbesondere bei den Angeboten von MP Travel Line für jeden mit gesundem Menschenverstand urteilenden Verbraucher die beinahe kriminelle Unseriosität nicht zu übersehen war. Ich verstehe die Überlegungen der Branche, ob nicht eigentlich derjenige selbst dafür geradestehen muß, der leichtfertig so offensichtlich unseriöse Schnäppchen machen wollte. Letztlich hat die Branche dann dennoch den Rücktransport - diesmal allerdings zu Selbstkosten - besorgt. Wir erkennen die Bemühungen der Bundesregierung an. Gleichwohl: So wie der jetzige Gesetzentwurf das vorsieht, kann es in der Praxis kaum funktionieren. Wenn sich tatsächlich jeder Reiseveranstalter individuell um eine Versicherung oder Bankbürgschaft bemühen müßte, dann würde das zu dem Ergebnis führen, daß kleine und mittlere Unternehmen geradezu existenzgefährdende Wettbewerbsnachteile hinnehmen müßten. ({1}) Banken und Versicherer könnten bei kleinen Unternehmen das Risiko kaum abschätzen. Entsprechend hoch würden die Prämien ausfallen. Großveranstalter hingegen können problemlos durch Patronatserklärungen ihrer Muttergesellschaften Sicherheit zu minimalen Gebühren erbringen. ({2}) So war die Rede davon, daß kleinere Unternehmen mit Kosten je Reisenden von bis zu 80 DM rechnen müßten, während Großunternehmen nicht einmal 50 Pf aufzuwenden hätten. Das wäre in der Wirkung ausgesprochen mittelstandsfeindlich. Zur Vermeidung eines ruinösen Wettbewerbs zwischen kleinen und großen Unternehmen muß es deshalb unser Ziel sein, eine Regelung zu finden, bei der für alle Reiseveranstalter - gleich, ob groß oder klein - etwa gleich hohe Gebühren anfallen. Denkbar wäre, alle Reiseveranstalter gesetzlich zu verpflichten, eine weitgehend einheitliche Prämie in einen gemeinsamen Sicherheitsfonds einzuzahlen. ({3}) Ich weiß jedoch, daß das Justizministerium rechtliche Bedenken dagegen hat, die ich allerdings so nicht teile. Die Branche hat sich bemüht, auf der Basis der Freiwilligkeit ähnliche Modelle zu entwickeln. Es entspricht unserem Verständnis, daß wir der Branche nicht durch Gesetz ein kompliziertes Rechtsmodell aufzwingen, wenn die Branche das selber auf der Basis der Freiwilligkeit leistet. ({4}) Meine Damen und Herren, ich sage hier aber in aller Klarheit: Würde sich ergeben, daß wegen mangelnder Solidarität der Großveranstalter oder aus rechtlichen Gründen Gemeinschaftsmodelle freiwillig nicht zu verwirklichen sind, dann beabsichtigt die CDU/CSUFraktion, auf gesetzlichem Wege einen für alle Reiseveranstalter verpflichtenden gemeinsamen Garantiefonds zu schaffen, wenn das irgend möglich ist. ({5}) Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf sieht neben der Insolvenzregelung einige weitere wichtige Punkte vor: umfangreiche Informationspflichten der Veranstalter für die Reisenden, Regelungen zur Preisbindung der Vertragspartner bei grundlegenden Änderungen der Kostensituation und die Frage der sogenannten Schwarztouristik, also die Veranstaltung von Pauschalreisen durch politische Parteien, Vereine, Volkshochschulen, Kirchen und dergleichen. Hier wird sorgfältig zu prüfen sein, was im Interesse des Verbraucherschutzes geboten und für die Unternehmen zumutbar ist. Meine Damen und Herren, wir werden uns gemeinsam, denke ich, bemühen, so intensiv zu arbeiten, daß noch bis zum Jahreswechsel das neue Recht in Kraft treten kann. Im nächsten Jahr wird kein Pauschalurlauber mehr um seine Heimreise oder um sein Geld bangen müssen. Schönen Dank. ({6})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster Redner spricht der Abgeordnete Olaf Feldmann.

Dr. Olaf Feldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die F.D.P. tritt für Verbraucherschutz im Reiserecht ein. ({0}) Wir haben heute schon ein vorbildliches Reisevertragsrecht, und wir haben eine verbraucherfreundliche Rechtsprechung. Trotzdem werden wir nicht jeden Urlauber vor allen Risiken schützen können. Schnäppchenjäger werden auch in Zukunft nicht erwarten können, daß der Staat ihnen jede Verantwortung abnimmt. ({1}) Wir gehen vom mündigen Bürger in einer freien Marktwirtschaft aus. Damit Sie mich nicht mißverstehen: Wir wollen den Verbraucherschutz verbessern. Auch die F.D.P. will die EG-Pauschalreiserichtlinie so schnell wir möglich in nationales Recht umsetzen. Aber, Herr Kollege Pick, wenn Sie glauben, hier der Regierung vorwerfen zu müssen, sie habe ihre Hausaufgaben nicht rechtzeitig gemacht, dann liegen Sie schief, dann liegen Sie falsch. ({2}) Offensichtlich, Herr Pick, verkennen Sie die Komplexität der Materie. Sie müssen sich doch einmal fragen lassen: Warum haben erst dreieinhalb von 12 EGLändern die Richtlinie umgesetzt? Einige taten dies mehr schlecht als recht. Das würden unsere Verbraucherschützer nie akzeptieren. Portugal tat es durch eine einfache Protokollnotiz. Eine solche Protokollnotiz haben wir schon lange. Das haben wir auch gemacht. Aber wir geben uns damit nicht zufrieden. Frankreich tat es ohne jegliche Ausführungsbestimmungen. Die Englander machten es umständlich und sehr aufwendig. Lediglich die Niederlande, unser Nachbarland, konnten auf ein bereits seit zehn Jahren funktionierendes System hinweisen. ({3}) Die Justizministerin hat völlig recht: Bei uns Deutschen gibt es bei der Umsetzung der Richtlinie besondere Probleme, und zwar deswegen, weil wir die liberalste Gewerbeordnung in Europa haben. Bei uns gibt es keine Lizenzierung, bei uns gibt es keinen Sachkundennachweis, bei uns gibt es keine Bonitätsprüfung, weder für Reiseveranstalter noch für Reisebüros. Wir wollen diese Gewerbefreiheit als ein Instrument unserer freiheitlichen Wettbewerbswirtschaft. Dadurch haben wir natürlich Probleme - darauf hat die Justizministerin hingewiesen -, eine solche dirigistische Richtlinie umzusetzen. Aber wir werden damit fertig werden. Herr Kollege Pick, ich will einmal die Proportionen klarstellen; denn Sie haben hier besonders kräftig draufgehauen: Wir haben fast 30 Millionen Pauschalreisen jährlich - fast 30 Millionen! ({4}) In diesem Jahr sind extrem viele gescheitert, ist viel Schaden entstanden. Das betrifft aber weniger als 30 000 Urlauber. Herr Pick, das sind 0,1 %, so schlimm das für jeden ist. Ich wiederhole: 0,1 %! Das spricht trotz Marlo, trotz MP Travel-Line, Herr Kollege, für die Seriosität der Reisebranche. ({5}) - Gut, dann sind wir uns wenigstens darin einig. ({6}) - Herr Pick, wir diskutieren doch schon lange über den richtigen Weg der Umsetzung. Es liegt ein Versicherungspool-Modell vor; einige nennen es allerdings ein Münchener Mono-Pool-Modell. Es liegt jetzt auch das DRV-Garantie-Modell vor, auf freiwilliger Basis, mit stark gestaffelten Prämien, eine Art Versicherung auf Gegenseitigkeit, das offensichtlich auch vom Aufsichtsamt schon grünes Licht signalisiert bekommen hat. Weiterhin liegt vom ASR ein Stiftungsmodell vor, ähnlich dem holländischen Modell, das aber nach unserem Recht anscheinend nicht zulässig ist. Wir, vor allem Sie im Rechtsausschuß, sollten also versuchen, die gesetzlichen Absicherungsmöglichkeiten auszuweiten. Wir wollen einen Wettbewerb, einen Wettbewerb auch der Modelle. Auf eines sollten wir besonders achten - das hat der Kollege Olderog gerade ansgesprochen -: Wenn es richtig ist, was uns die Experten aus den Ministerien und aus der Branche sagen, daß später nur ein Modell lebensfähig sein wird, so daß es de facto doch nur einen Monopolanbieter gegen wird, obwohl er de jure angeblich nicht entstehen darf, dann muß doch die Frage erlaubt sein - und die stellt uns die Branche -, ob das bisher in der Diskussion befindliche obligatorische Modell nicht auch eine Lösung sein kann. ({7}) - Ich freue mich über den Beifall. ({8}) Wir sollten dies unter wettbewerbsrechtlichen Aspekten noch einmal prüfen. Alle Fonds-Modelle sollten als steuerfreie Risikoanlage behandelt werden. Weiterhin scheint uns die Haftungsobergrenze mit 200 Millionen DM zu hoch. Wir wollen einen niedrigeren Einstieg haben, als bisher vom Ministerium vorgeschlagen, und zwar Stufenmodelle mit 40, 80, 120 Millionen DM; denn der Supergau wird so oder so nicht versicherbar sein.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Feldmann, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Dr. Olaf Feldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Einen Satz noch, Frau Präsidentin: Wir wollen auch die Expertenanhörung. Die F.D.P. wird sich für eine praktikable, mittelstandsfreundliche, aber auch verbraucherfreundliche und kostengünstige Lösung einsetzen. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächste spricht die Abgeordnete Angela Stachowa.

Angela Stachowa (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002211, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Spät kommt er, aber er kommt: der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Durchführung der Richtlinie des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen. Mir ist bekannt, daß die Bundesregierung in der vergangenen Zeit fleißig an diesem Entwurf gearbeitet hat. Dennoch hat sie, wie ich meine, ihre Hausaufgaben nicht pünktlich erfüllt. Diese Richtlinie sollte, wie bereits gesagt, zum 31. Dezember 1992 in nationales Recht überführt werden. Nun soll dieses Gesetz am 1. Januar 1994 in Kraft treten. Wenn sich die Bundesregierung als Vorreiter für ein geeintes Europa fühlt und hinstellt, sollte sie auch Vorreiter bei der Durchsetzung von EG-Richtlinien sein, und sie hätte damit indirekt dazu beitragen können, daß nicht Tausende von Urlaubern in diesem Jahr ihren wohlverdienten Urlaub mit einem Fiasko beenden mußten. ({0}) Warum ist denn die Umsetzung dieser Richtlinie so schwer? Ich glaube, das Hauptproblem besteht in der Frage, wie ernst wir den Verbraucherschutz nehmen, wie bereit die großen und die kleinen Unternehmen in der Reisebranche sind, aufeinander zuzugehen und Kompromisse im Interesse der Verbraucher einzugehen. Es geht doch nicht hauptsächlich um den erweiterten Inhalt der Reiseprospekte, um Informationspflichten der Veranstalter, um Preis- und Leistungsänderungen oder Möglichkeiten des Eintritts eines anderen Reisenden in den Vertrag. Es geht um die Insolvenzsicherung, gedacht zugunsten der Reisenden. Hier scheiden sich die Geister. Mir ist durchaus bewußt, daß es nicht einfach ist, eine relativ strenge, dirigistische Regel in die freie Marktwirtschaft einzubauen, vor allem, wenn es um Geld geht. Denn die Insolvenzsicherung kostet Geld, welches aufzubringen ist, was dem einen Veranstalter leichter und dem anderen schwerer fällt. Wie zu vernehmen ist, gibt es viele Modelle, aber bislang keine Lösung. Auch der vorliegende Gesetzentwurf läßt vieles offen. Ich appelliere deshalb an alle, die sich mit diesen Fragen in den nächsten Wochen in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages beschäftigen werden: Qualität der Entscheidungen im Interesse der Konsumenten muß Vorrang vor Schnelligkeit haben. Eine sachliche und überlegte Umsetzung der Insolvenzabsicherung für Reiseunternehmen ist angemahnt, die auch über einen längeren Zeitraum Bestand hat und mit den Bedürfnissen der Reisebranche und der Verbraucher übereinstimmt. Weder dürfen massive Wettbewerbsverzerrungen oder eine Aufteilung des Marktes unter einigen wenigen Verbleibenden zugelassen werden, noch sollte durch diese Insolvenzsicherung der Prozeß der Konzentration beschleunigt werden. Auch in der Öffentlichkeit muß mit dem Vorurteil aufgeräumt werden, daß nur große Veranstalter ihren Kunden Sicherheit bieten können. Mittelständische Reiseunternehmen, die in ihrer Mehrzahl seriös arbeiten und eine umfassende individuelle Beratung gewähren, können auch schon heute weitgehende Sicherheiten für den Reisenden bieten. Die Umsetzung der EG-Pauschalreise-Richtlinie in nationales Recht muß den wenigen schwarzen Scha15252 fen der Reisebranche Einheit gebieten, die auf unseriösen Kundenfang und kurzfristige Gewinne aus sind. Sie darf aber die notwendige Vielfalt und Individualität der Reiseanbieter nicht schmälern. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als letzter zu diesem Tagesordnungspunkt Klaus-Heiner Lehne.

Klaus Heiner Lehne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001303, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich meine - das ist jetzt an die Adresse der SPD gewandt -, daß es schon ganz schön blauäugig ist, sich hier hinzustellen und zu sagen, hier seien Dinge nicht rechtzeitig gemacht worden. Sie selber sind doch genauso wie übrigens sicherlich auch die Parlamentarier aus den anderen Fraktionen - ich unterstelle das jedenfalls - schon in den letzten Monaten, wenn nicht sogar Jahren, in intensiven Gesprächen mit den Verbänden gewesen und wissen deshalb ganz genau, wie kompliziert die Fragen sind, um die es hier geht. ({0}) Sie selber haben ja in Ihrem Vortrag vorhin, Herr Professor Pick, deutlich gemacht, daß dies jetzt sehr sorgfältige weitere parlamentarische Beratungen erfordert und daß hier überhaupt kein Anlaß besteht, irgend etwas zu übereilen. ({1}) Sie wissen ja genauso wie wir alle hier, daß der deutsche Reisemarkt in Europa der größte, aber mit Abstand auch der komplizierteste ist. In der Reisewirtschaft gibt es eben einen sehr, sehr großen mittelständischen Bereich, wie wir ihn Gott sei Dank in anderen Teilen unserer Wirtschaft auch haben. Eine einfach durchgeboxte Umsetzung dieser EG-Richtlinie würde im Ergebnis dazu führen, daß diese mittelständische Reisewirtschaft wahrscheinlich erheblich geschädigt werden würde. ({2}) Das liegt nicht im Interesse der Verbraucher und schon gar nicht im Interesse unserer Wirtschaft. Schließlich gibt es hier eine Vielzahl von Arbeitsplätzen, die schützenswert sind und geschützt werden müssen, ganz zu schweigen davon, daß es viele Kundenvorteile wie den Wettbewerb der Kleinen gibt, die teilweise günstigere Leistungen als die Großen bieten oder Spezialangebote offerieren können, die die Großen nicht haben. Wir haben eben einen weitaus größeren Reisemarkt als jedes andere Land in Europa, nicht nur von der Komplexität, sondern auch von der Zahl her. Holland, das hier ja als Beispiel angeführt worden ist, hat von der Kapazität des Reisevolumens her nur etwa 10 % dessen, was in der Bundesrepublik Deutschland stattfindet. Das macht die Komplexität der ganzen Angelegenheit deutlich. Unterschiedliche Modelle sind hier erörtert worden, z. B. das Fondsmodell, wobei ich persönlich - das sage ich ganz offen - einer freiwilligen Fondslösung eher zuneigen würde, weil sie mir ordnungspolitisch besser gefällt. Aber wenn die fünf Großen wie TUI und andere, die hier genannt worden sind, sich darauf nicht einlassen wollen, wird man in diesem Zusammenhang sicherlich über ein Zwangsmodell nachdenken müssen. ({3}) Aber all dies bedarf in der Tat sehr, sehr intensiver Vorbereitungen, nicht erst im parlamentarischen Bereich, sondern wir erwarten ja auch von unserer Regierung, daß sie bereits ein fundiertes Gesetzgebungsvorhaben auf den Weg bringt, das zwar sicherlich noch änderungsbedürftig ist - das ist ja der Sinn der parlamentarischen Beratung - und sicherlich auch hier oder da noch geändert werden wird, aber in seinen Grundzügen bereits den Anforderungen entspricht, die man an ein solches Gesetzgebungsvorhaben zu stellen hat. Das hat einfach einige Zeit erfordert, was meines Erachtens ganz verständlich und völlig normal ist. Aus diesem Grunde ist es, glaube ich, falsch, die Dinge so darzustellen, als wären hier Sachen verschlafen worden oder als würde hier nicht gehandelt werden. ({4}) An diese Dinge muß eben mit Sorgfalt herangegangen werden. Das ist genau das, was bisher geschehen ist und das ist genau das, was auch bei den weiteren parlamentarischen Beratungen - jedenfalls durch unsere Fraktion - geschehen wird. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Damit schließe ich die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/5354 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Nein. Damit ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Waldzustandsbericht der Bundesregierung 1992 - Drucksachen 12/3845, 12/4943 - Berichterstattung: Abgeordnete Marianne Klappert b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Egon Susset, Richard Bayha, Peter Bleser, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Günther Bredehorn, Dr. Olaf Feldmann, Ulrich Heinrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Lage und Entwicklung des Waldes und der Forstwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksachen 12/3987, 12/4859 - Es ist vereinbart, daß die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll gegeben werden.*) Sind Sie damit einverstanden? -Ja. Dann ist dies beschlossen. Das bedeutet, daß wir unmittelbar zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zum Waldzustandsbericht 1992 auf Drucksache 12/4943 kommen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist bei Enthaltungen angenommen. Gegenstimmen habe ich nicht gesehen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Schmidbauer ({1}), Klaus Kirschner, Dr. Jürgen Meyer ({2}) weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Hilfe für die Opfer aus der Behandlung mit HIV-kontaminierten Blutprodukten und gesetzgeberische Konsequenzen - Drucksache 12/5513 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({3}) Rechtsausschuß Haushaltsausschuß Auch hier ist vereinbart, daß die Reden zu Protokoll gegeben werden.*) Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist auch dies beschlossen. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/5513 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Siegfried Vergin, Evelin Fischer ({4}), Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Rechtsextremismus und Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland: Fakten, Ursachen und Gegenmaßnahmen - Drucksache 12/5602 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({5}) Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch und eröffne die Aussprache. Es beginnt der Kollege Siegfied Vergin. *) Anlage 19 *) Anlage 20

Siegfried Vergin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002367, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Werte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Politische Entscheidungen haben dazu beigetragen, daß heute Gewalt und Rechtsextremismus bedrohlich und unübersehbar geworden sind. Rechtsextremismus, zunehmende Gewalttätigkeit und Gewaltbereitschaft, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus sorgen für Schlagzeilen im In- und Ausland. Für diese Entwicklung und ihre Folgen tragen Politikerinnen und Politiker Mitverantwortung, die die zahlreichen warnenden Stimmen in der Vergangenheit ignoriert haben. Wer so tut, als wären Gewalt und Rechtsextremismus völlig überraschend über uns hereingebrochen, der ist bestensfalls schlecht informiert oder blind und taub. ({0}) Warnungen gab es genug. 1960 bereits lag dem Deutschen Bundestag ein Weißbuch zu antisemitischen und neonazistischen Vorgängen vor, herausgegeben von der Bundesregierung. 1981 veröffentlichte Sinus in Heidelberg eine Studie, die deutlich zeigte, wie groß und verfestigt die Verbreitung rechtsextremistischen Gedankengutes in der Bundesrepublik schon war. 1983 verhinderte die Bundesregierung die schon vereinbarte Sinus-Studie zur Fremdenfeindlichkeit in der Bundesrepublik, weil Deutschland ja nicht fremdenfeindlich sei. 1987 legte die sogenannte Gewaltkommission ihren Bericht vor, einen umfassenden Bericht mit sehr vielen sehr konkreten Vorschlägen und Handlungsanleitungen. In all den Berichten und auch in den nicht genannten Berichten und Studien steckt viel Arbeit, Arbeit für den Papierkorb, für das Bücherregal. Umfangreiche Forschungsergebnisse über die Ursachen von Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit liegen auch für die gegenwärtige Situation vor. Leider sind auch sie bisher nicht dazu genutzt worden, schnell und sichtbar zu handeln. Im Juni 1993 hat das Bundesministerium für Frauen und Jugend eine Analyse über die Täter vorgelegt, die so gar nicht zu dem paßt, was die Bundesregierung so gern verbreitet. Die jugendlichen Mörder und Brandstifter sind nicht - so wörtlich - asoziale Elemente, wie der Bundeskanzler das einmal glauben machen wollte. Es sind ganz normale Jugendliche. Die Sozialarbeiter sprechen von Normalos. Konkrete Programme wurden von der Bundesregierung aus der Studie des Ministeriums meines Wissens noch nicht abgeleitet. Aus all den Berichten, Untersuchungen und Empfehlungen, die nicht parlamentarisiert wurden, wurden keine ausreichenden Konsequenzen gezogen. Sie wurden ad acta gelegt. Ausmaß und Folgen der Gewalttätigkeit rechtsextremistischer und fremdenfeindlicher Täter haben jetzt dafür gesorgt, daß das Thema auf der Tagesordnung stand und auch heute steht. Das reicht aber nicht. Das Thema muß den Deutschen Bundestag und alle Abgeordneten nicht nur dann beschäftigten, wenn Mord, Totschlag und Brandstiftung Angst und Entsetzen verbreiten. ({1}) Im übrigen sieht man u. a. an der Uhrzeit des heutigen Tages, die für diese Debatte gewählt wurde, daß das Erschrecken offensichtlich das Zentrum der Politik nicht wirklich getroffen hat. Eine politische Kursänderung ist dringend erforderlich. Das, was wir bisher als Zwischenbericht der sogenannten Offensive gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit kennen, ist dürftig. Die Große Anfrage der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu Maßnahmen gegen Fremdenfeindlichkeit, Neonazismus und Gewalt blieb bisher ohne Antwort - seit März. Die Bundesratsinitiative des Landes Niedersachsen zum Verbot der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen ruht seit dem 29. April 1993. Ist in Deutschland wirklich nichts passiert? Spinnen alle die, die etwas bemerkt haben? Das Gespräch, das der Bundeskanzler am 27. September mit einer Vielzahl von gesellschaftlich relevanten Vertretern über die anstehenden Probleme führen will, war längst überfällig. Ich hoffe sehr, daß die Regierung im Anschluß daran mit handhabbaren Konzepten an die Öffentlichkeit treten wird. Wenn die Mörder von Solingen und die Brandstifter von Rostock und Dolgenbrodt glauben, daß sie die Probleme lösen, die Politiker aus Unfähigkeit oder Feigheit nicht lösen können oder wollen, dann tragen wir alle, meine Kolleginnen und Kollegen in diesem Parlament, und dann trägt vor allem die Bundesregierung dafür ein hohes Maß an Verantwortung. Mehr oder weniger hilflose Reaktionen müssen endlich durch verläßliche, durchschaubare und kontrollierbare politische Programme ersetzt werden. ({2}) Wir dürfen uns Handeln und Entscheidungen nicht von Gewalttätern und rechten Demagogen diktieren lassen und nach dem großen Erschrecken über Mord- und Brandanschläge lediglich nach härteren Strafen und schärferen Gesetzen rufen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, nur wenn die Daten und Fakten vorliegen und auch zur Kenntnis genommen werden, können wir entscheiden, wohin der Kurs gehen soll. Darum beantragt die SPD-Bundestagsfraktion einen jährlichen umfassenden Bericht über die Entwicklung von Rechtsextremismus und Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland. Der jährliche Verfassungsschutzbericht reicht nicht aus. Er sagt nichts über die Ursachen von Gewalt und Rechtsextremismus aus, er sagt nichts über die Maßnahmen und notwendigen politischen Entscheidungen. Der Bericht, den wir fordern, soll verläßliche Grunddaten und Fakten liefern, mit denen wir arbeiten und entscheiden können. Sie sollen bei der Abschätzung von möglichen Folgen helfen und dafür das Handwerkszeug liefern. Wir brauchen die regelmäßige Beobachtung von Entwicklungen, wir brauchen eine regelmäßige Kontrolle der Wirkung politischer Maßnahmen, wir brauchen eine bessere Durchschaubarkeit und Nachvollziehbarkeit von Politik. ({3}) Ein jährlicher Bericht ist jetzt schnell nötig. Er wird, wie uns die Ursachenforschung lehrt, notwendig bleiben. Wir sollten uns auf diese Langzeitaufgabe einstellen. Die Auseinandersetzung mit Gewalt und Rechtsextremismus in unserer Gesellschaft muß aus den Amtsstuben der Beamten in die Öffentlichkeit gebracht werden. Die politisch Verantwortlichen müssen ihre Entscheidungen und ihre Politik auf den Prüfstand stellen: Wie hat sich die Situation verändert? Wo ist etwas geschehen? Waren die Maßnahmen erfolgreich? Warum waren sie nicht erfolgreich? Natürlich geht es nicht darum, nur zu fragen: Was macht die Familie, was macht die Schule, was machen die Medien? Diese Perspektiven muß der Bundeskanzler endlich verlassen, auch wenn sie so schön bequem sind. Wir müssen wissen: Wie sieht die Sozialpolitik aus? Welche Folgen ergeben sich daraus? Was hat die Jugendpolitik gemacht, welche Erfolge zeigen sich? Wo hat sie versagt? Wie sieht die Wohnungsbaupolitik aus? Was hat die Arbeitsmarktpolitik erreicht? Welche Folgen hat die Steuerpolitik? Wie sieht die Bildungspolitik aus? Wir müssen fragen und antworten: Welche Folgen hatten die jeweiligen politischen Entscheidungen für das Individuum und für unsere Gesellschaft? Wo haben sie dazu beigetragen, Rechtsextremismus und Gewalt zurückzudrängen? Wo wurde rechten Parolen auch durch leichtfertige populistische Reden und Einlassungen von Politikerinnen und Politikern Vorschub geleistet? ({4}) Wer die Bestandsaufnahme, die Analyse und die Kontrolle verweigert, nimmt in Kauf, daß vermeintliche Sachzwänge entstehen, die den Nährboden für rechtsextremistische Führer und rechte Parolen bilden können. Niemand, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird sich in Zukunft damit herausreden können, er hätte nichts gewußt oder sie hätte nichts gesehen. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächste Frau Kollegin Professor Roswitha Wisniewski.

Prof. Dr. Roswitha Wisniewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Zunahme der Gewalt gehört zu den größten Herausforderungen unserer Zeit. Weltweit sind die Berichte über Gewalttaten und Verrohung alarmierend. Man kann sich fragen, ob wir zurückfallen in Barbarei und Unkultur, die doch nach jahrhundertelangen Bemühungen und trotz erschreckender Rückfälle einigermaßen überwunden schienen. Natürlich ist für uns Deutsche das vermehrte Auftreten von Gewalttätern mit rechtsextremistischen Attitüden besonders beunruhigend. Eine Umfrage des Allensbacher Instituts zeigt denn auch, daß in Deutschland die gesellschaftliche Abneigung gegen Rechtsextremisten an der Spitze aller Gruppenablehnungen steht; sie beträgt 77 %. Man will Rechtsextremisten nicht zu Nachbarn haben. In Frankreich dagegen rangiert die Abneigung gegen Trinker, 50 %, und Drogenabhängige, 44 %, vor der gegenüber Rechtsextremen, 33 %, obwohl dieses Problem auch in Frankreich eine herausragende Rolle spielt. ({0}) Lichterketten, Massendemonstrationen, aber auch Wahlergebnisse haben ebenfalls gezeigt, daß Rechtsextremismus in der deutschen Bevölkerung keinen verbreiteten Rückhalt hat. Dennoch ist natürlich das, was geschehen ist, unverzeihbar und alarmierend. Zu dieser ablehnenden Haltung der Bevölkerung werden auch die vielfältigen Initiativen der Parlamente, Regierungen und Parteien beigetragen haben. Ich nenne nur die „Offensive gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit„ der Bundesregierung, die Leitlinien zur inneren Sicherheit des Berliner CDUParteitags vom September diesen Jahres, ähnliche Beschlüsse der CSU und die Anhörung des Deutschen Bundestages zur politisch motivierten Gewalt in Deutschland vom April 1993, deren Ergebnisse jetzt umgesetzt werden. Die wichtigsten parlamentarischen Vorhaben und Forderungen sind in einer Initiative der CDU/CSUBundestagsfraktion gegen Gewalt und Extremismus zusammengestellt. Ich hebe hervor: Betonung wertorientierter Erziehung, ({1}) breite Aufklärungskampagnen in der politischen Bildung, Konzepte zur Eindämmung von Gewalt an den Schulen, sozialpädagogische Betreuung von Tätern; aber auch: Änderung des Jugendstrafrechts, damit Täter ab 18 Jahren nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden; Verschärfung von Jugendstrafen bei Gewalttaten, damit der Schutz der Bevölkerung vor schweren Straftaten verbessert wird; Erweiterung der Haftgründe bei schweren Mißhandlungen und schwerer Brandstiftung; Strafverschärfung bei Körperverletzung, die nicht geringer als Eigentumsdelikte bewertet werden darf. ({2}) Beide Bereiche der Abwehr gegen die Zunahme von Gewalt sind notwendig. Unverzichtbar sind die Rückbesinnung auf wertgerichtete Erziehung und die Aufklärung über die Gefahren, die von Ideologien von rechts wie von links ausgehen. ({3}) Ebenso notwendig ist aber auch eine Überprüfung unserer teilweise allzu milden Strafgesetzgebung und Strafverfolgung. Denn täuschen wir uns nicht: Wenn - was man doch feststellen kann - Gewalttaten mit rechtsextremistischem Hintergrund in diesem Jahr, 1993, gegenüber 1992 um 15 % bis 20 % zurückgegangen sind, so verdanken wir das wohl vor allem der vorzüglichen Arbeit der Polizei, die nach den spektakulären Brandanschlägen auf Ausländer die Täter schnell ergreifen und vor Gericht stellen konnte. Ich glaube, daß dafür den Polizeibeamten unser aller Dank und Anerkennung gebührt. Deswegen sind zusätzlich zu der dringend notwendigen Neubesinnung bei der Erziehung strafrechtliche Maßnahmen unverzichtbar. Denn auch sie tragen ja zur Erziehung bei, weil sie Nachdenklichkeit und Abschreckung bei Tätern und im gesellschaftlichen Umfeld erzeugen. Es gibt offensichtlich wachsenden Bedarf für diese harte Sprache, weil viele Täter anders nicht erreichbar sind. Eine Untersuchung von Jürgen Scheurer hat ergeben, daß fast 77 % der rechtsextremistischen Gewalttäter männliche Jugendliche und Heranwachsende sind, und zwar zu über 90 % junge Berufstätige, Lehrlinge und Schüler, selten Arbeitslose; das sind nur 9,6 %. Die meisten haben Hauptschulabschluß; etwa die Hälfte fällt durch Allgemeinkriminalität auf; eine starke Rolle spielen der Alkohol - zu 65 % - und die diffuse Abneigung gegen Ausländer; ebenfalls 65 %. Rechtsextremistischer Einfluß wurde bei 46,3 % festgestellt. Wenn man dies analysiert, ergibt sich der Eindruck, daß diese jungen Menschen offenbar zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen neigen, die - das wird ja in manchen Untersuchungen sehr deutlich - geradezu als Vergnügen empfunden werden, und daß sie bisweilen in rechtsextremen Parolen ihren diffusen Haß gegen alles ihnen Fremde mit ideologischen Pseudobegründungen versehen. Diese jungen Menschen zu Einsicht, Umkehr und Selbstdisziplin zu führen, muß natürlich mit allen Mitteln versucht werden. ({4}) Dabei muß der Schutz der Bevölkerung aber ebenso als höchstes Ziel gesehen werden. ({5}) Der vorliegende Antrag der SPD greift eine EGInitiative auf und fordert von der Bundesregierung jährliche Berichte über Rechtsextremismus und Gewalt, offenbar über das hinaus - Herr Vergin sagte es eben schon -, was der Verfassungsschutzbericht ohnehin bietet. Mit dem Antrag soll offenbar versucht werden, durch statistische Angaben die Grundlagen für Analysen und Gegenmaßnahmen zu verbessern. Der kleine Beitrag dazu hier mag vielleicht eine interessante Variante sein. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt der Überweisung an die Ausschüsse zu. Dort werden wir sicherlich darüber zu diskutieren haben, wie man einen solchen jährlichen Bericht, wenn er denn notwendig erscheint, sinnvoll gestalten kann. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Kollege Wolfgang Lüder.

Wolfgang Lüder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001390, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag der SPD-Fraktion gibt gute Gelegenheit zu einer Kurzdebatte über Rechtsextremismus und Gewalt. Seine konkreten Forderungen sind durch die verschiedenen Berichte, die die Bundesregierung uns gegeben hat, zuletzt durch den Jahresbericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz, weitgehend überholt, weil erfüllt, wenn auch noch nicht umfassend - Herr Vergin, das räume ich Ihnen ohne weiteres ein - gestaltet. Wir werden im Ausschuß darüber nachzudenken haben, wie wir das bündeln, was von Ihnen - gerade mit der Untermauerung durch Ihre Rede heute - gesagt und gefordert worden ist. Ich hoffe, lieber Herr Staatssekretär Waffenschmidt, daß wir nicht zu Dissonanzen kommen, sondern miteinander daran arbeiten, einen solchen Berichtsauftrag zu erfüllen. Das Thema Rechtsextremismus und Gewalt aber bleibt eine Herausforderung für die Bundesrepublik, eine Herausforderung an uns Politiker, an unseren Staat, der wir uns zu stellen haben. Die aktuelle Herausforderung zwingt zu konsequentem und schnellem Handeln. Dem wird die Bundesregierung -lassen Sie mich das freimütig sagen, in Anknüpfung an die Fragestunde gestern - nicht immer gerecht. ({0}) Gestern mittag hatten wir in der Fragestunde Gelegenheit, dies erneut festzustellen. Es ging, ausgelöst durch die Frage eines Kollegen von der SPD zur Reichskriegsflagge, der heute abend nicht mehr hier ist, ({1}) um die notwendige Strafbarkeit der Flaggen und Symbole, um die sich die Rechtsextremisten scharen. Über die Fraktionsgrenzen hinweg sind wir uns in diesem Hause doch einig, daß NS-Symbole nicht nur in ihrer nationalsozialistischen Klarform verboten und ihr Zeigen unter Strafandrohung gestellt werden müssen, sondern auch in den Formen der Abwandlungen, die rechtsextremistisches Bekenntnis signalisieren, auch wenn sie dabei Nazizeichen nur teilweise kopieren. Noch immer fehlt der Gesetzentwurf der Bundesregierung, der die Strafandrohung und den Strafrahmen dazu festlegen soll. ({2}) Die Mitzeichnung des Innenministeriums und des Finanzministeriums steht noch aus, soweit wir gestern erfahren konnten. Die Gemächlichkeit der Verwaltungsschnecke ist für mich nicht akzeptabel. ({3}) Meine Damen und Herren, die deutsche Politik, also auch die deutsche Bundesregierung, ist gefordert, Gesetzgebungsvorhaben zur Bekämpfung des Rechtsextremismus so schnell und zielsicher wie möglich auf den Weg zu bringen. ({4}) Hier muß gehandelt werden, wenn und soweit Einigkeit über Sache und Ziel besteht. Hier darf es kein Warten auf eine große Lösung geben, bloß weil der eine mehr oder anderes geregelt wissen möchte. Hier muß mit dem gehandelt werden, worüber Einvernehmen möglich ist. Das wäre schon ein ganzes Stück. Rechtsextremismus und rechte Gewalt bedrohen die innere Ordnung unserer Bundesrepublik Deutschland. Hier die strafrechtlichen Erkenntnisse zu schärfen ist vorrangige Aufgabe von Bundesregierung und von uns im Bundestag. Die Bundesregierung hat dazu in den verschiedenen Berichten ebenso wie der Bundestag in vielen parlamentarischen Initiativen Analysen erstellt und Ursachenforschung betrieben. Das zu bündeln und zusammenzufassen ist wichtig. Aber: Strafrecht allein reicht nicht aus. ({5}) Die Bekämpfung des Rechtsextremismus und die Bekämpfung rechter Gewalttätigkeit sind umfassende Aufgaben, denen wir uns alle stellen müssen. Politik muß hier Maßstäbe setzen. ({6}) Bundesminister Kanther hat in seiner Haushaltsrede dazu manch Richtiges anklingen lassen. Maßstäbe aber kann man nicht nur lehren, Maßstäbe muß man leben. Die Vorbildfunktion der Politik, die Vorbildaufgabe von uns Politikern müssen wir ernst nehmen. Wir müssen Zeichen setzen. Wir müssen in der Abwehr von Gewalt und Rechtsextremismus Vorbild sein. Das geht nicht mit „ausgewogenen" Reden gegen angeblich gleiche Gefahren von links und von rechts. Niemand sollte der Blindheit auf einem Auge geziehen werden, wenn er die aktuelle Gefahr dort sieht, wo sie heute besonders bedrohlich ist: auf der extremen Rechten. ({7}) Ich übersehe die Gefahr aus der linken Terrorszene nicht. Aber hier ist kein Platz für Gleichsetzung. Hans-Dietrich Genscher hat anläßlich seiner Ehrenbürger-Rede in Berlin deutlich gemacht, daß es zu spät ist, zu sagen, wir müßten den Anfängen wehren. Nein, die Anfänge sind längst vorbei. Wir sind mitten drin ({8}) in den Gefahren, die für 17 Leute in den letzten Jahren tödlich waren. Wir sind mittendrin in der tödlichen Gefahr des Rechtsextremismus. Wir sind mittendrin in der Gewaltbedrohung durch Rechtsextremismus. Hier müssen wir handeln. Meine Damen und Herren, unser heutiger Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat in mehreren wichtigen Reden, insbesondere zum 8. Mai und zur Wiedervereinigung, Maßstäbe gesetzt, wie politische Vorbilder reden und handeln. ({9}) Daran werden wir uns zu orientieren haben und messen lassen müssen. Es sollte uns eine Warnung sein, auch wenn das wichtige Werk von Max Frisch vielleicht nicht immer in Sachsen vorhanden war: Gastgeber der Brandstifter war Herr Biedermann. Herr Biedermann darf uns kein Vorbild sein. ({10})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächste spricht die Abgeordnete Ulla Jelpke.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich stimme dem Antrag der SPD zu. Ich muß sogar sagen, daß ich diesen Antrag ausgesprochen wichtig und verdienstvoll finde. Dennoch werden wir in einigen Punkten Ergänzungsanträge vorbereiten, die darauf abzielen sollen, daß auch die Politik der ideologischen Wegbereiter in dem Bericht darzustellen ist. Der vorliegende Antrag bringt den Versuch und den Wunsch zum Ausdruck, auf der Grundlage exakter Daten und Fakten über die Entwicklung des Neofaschismus in der BRD mit Fachleuten und Experten zu beraten und geeignete Maßnahmen gegen den Neofaschismus und Rassismus zu entwickeln. Dieses Verlangen nach fundierter Kenntnis und nach Ursachenforschung steht im krassen Widerspruch zum Verhalten der Bundesregierung. Die hat nämlich gerade ihre alljährliche Pflichterfüllung abgeleistet, indem sie den Verfassungsschutzbericht vorgelegt hat: ein Dokument, das ich vor dem Hintergrund der Zustände in diesem Lande, also der Übergriffe und der steigenden Zahlen von Rechtsextremisten in ihren Organisationen, nur noch als makabere Desinformation bezeichnen kann. Diejenigen, die sich diesen Bericht über die Entwicklung des Neofaschismus und Rassismus in der BRD einmal genauer angesehen haben, erfahren so gut wie nichts. 82 rechtsextremistische Organisationen gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung. Um welche Organisationen es sich hier handelt, erfahren wir allerdings nicht. Nicht einmal auf eine Anfrage von mir wollte die Bundesregierung diese Organisationen nennen. Man muß hier in aller Deutlichkeit sagen: Die Bundesregierung verweigert der Öffentlichkeit die Grundvoraussetzung, die Entwicklung von Rassismus und Rechtsextremismus im Lande überhaupt zu bekämpfen; indem sie nämlich das Wissen verweigert. Wesentlich schlimmer ist für mich noch etwas anderes, wenn man von der Bundesregierung eine Auskunft über aktuelle Entwicklungen des Rechtsextremismus haben will. So fällt z. B. auf: Nach zehn Jahren kann man von der Bundesregierung immer noch nicht über die neue Rechte, deren Organisation, Zeitungen, Verlage und Politik informiert werden; ebenfalls gibt es keine Antworten auf die Vielzahl unserer Anfragen, die wir hierzu an die Bundesregierung gerichtet haben. Völlig katastrophal wird es meines Erachtens, wenn man von der Bundesregierung etwas über eine Zusammenarbeit von Rechtsextremisten in Vertriebenenverbänden, studentischen Verbindungen, Denkfabriken oder Theorieorganen erfahren will. Denn hier kann man nachvollziehen, was die von Wissenschaftlern, aber auch von Verfassungsschützern entwickelten Thesen beinhalten, daß Rechtsextremismus und Rassismus aus der Mitte unserer Gesellschaft kommen. Auch wenn Kollege Vergin das angesprochen hat, möchte ich zum Schluß dennoch eine Frage an die SPD-Fraktion stellen. Warum wird in Ihrem Antrag nicht gefordert, daß auch der Zusammenhang zwischen der Asyldebatte und den Gewalttaten in diesem Land mit untersucht und analysiert werden muß? Das wäre jedenfalls für mich auch ein ganz wesentlicher Punkt. Ich bin dennoch gespannt auf diese Debatte und auf den Bericht. Danke. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Letzter Redner in dieser Debatte ist Herr Staatssekretär Horst Waffenschmidt.

Dr. Horst Waffenschmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002403

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst gern feststellen, daß ich gestern bei mancher Gelegenheit und auch heute in etlichen Beiträgen in dieser Debatte -- nicht in Ihrem letzten Beitrag, Frau Kollegin Jelpke - doch gespürt und gesehen habe, daß eine breite Übereinstimmung in den Zielen und auch hinsichtlich der Möglichkeiten der Bekämpfung des Rechtsextremismus besteht, der in diesem Land überwunden werden muß. Wir haben eine nachhaltige Gemeinsamkeit in dieser Frage auch nötig, und es wäre schlimm, wenn es den Rechtsextremisten gelingen könnte, die demokratische Gemeinsamkeit in dieser Frage, die in einer großen Breite vorhanden ist, zu zerstören. Wir sollten zusammenstehen im Kampf gegen den Rechtsextremismus. ({0}) Ich bin dem Kollegen Lüder dankbar, daß er schon darauf hingewiesen hat, daß Innenminister Kanther zuletzt bei den Haushaltsberatungen hier neben dem Verfassungsschutzbericht, Herr Kollege Vergin, eine ganze Anzahl von Maßnahmen aufgezeigt hat, die wir als Initiativen fortsetzen oder ergreifen müssen, um den Rechtsextremismus nachhaltig zu bekämpfen. Ich will ein Zweites hier aufzeigen. Der Verfassungsschutzbericht 1992 befaßt sich immerhin auf 95 Seiten mit Analyse und Notwendigkeit der Bekämpfung des Rechtsextremismus. Ich bin der Auffassung, daß an Hand des heute vorliegenden Antrages, den wir ja in die Ausschüsse überweisen werden, zu prüfen sein wird, ob es wirklich der richtige Weg ist, neben den Verfassungsschutzberichten noch weitere separate Berichte zu erarbeiten, oder ob man auch einen anderen Weg gehen könnte. Man könnte ja auch darüber nachdenken, ob die Struktur der heutigen Verfassungsschutzberichte weiterentwickelt werden muß. Ich meine, es ist aller Anstrengungen wert, hier zu überlegen, wie man zu einem durchgreifenden Instrumentarium kommt, das uns miteinander hilft. Ich halte es für richtig, daß wir dazu alle unseren Beitrag leisten. Ich bitte auch darüber nachzudenken, was dafür spricht, daß man allen notwendigen Kampf - mit Recht steht im Augenblick der Kampf gegen den Rechtsextremismus im Vordergrund - gegen unsere freiheitliche demokratische Grundordnung in einem Bericht und mit den daraus zu ziehenden Konsequenzen behandelt. Dafür spricht auch manches. Meine Damen und Herren, vor allen Dingen sollte uns aber heute am Schluß der Debatte eines vereinen: Berichte, Analysen und auch Darstellungen von Notwendigkeiten sind wichtig. Als einer, der selbst noch in früher Jugendzeit erleben mußte, wie Rechtsextremismus und Nazismus bis in die eigene Familie hinein nachhaltig wirken, möchte ich am Schluß dieser Debatte sagen: Wir müssen alle Kräfte darauf verwenden, den Rechtsextremismus zu überwinden, wo auch immer es möglich ist. Berichte sind gut, Analysen sind gut, Material zu sammeln ist gut. Noch besser ist es, wenn wir überzeugend zusammenstehen und dem Rechtsextremismus Schritt für Schritt die Möglichkeiten nehmen, weiter aktiv zu sein. Ich glaube, das sollte die Botschaft auch für die Ausschußberatung sein. Herzlichen Dank. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich bitte um Verständnis, es war bei der Auflistung die Wortmeldung des Kollegen Krause ({0}) übersehen worden. Bitte, Ihr Redebeitrag. ({1})

Dr. Rudolf Karl Krause (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001205, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich spreche mich ganz entschieden gegen jede Form von Gewalt und gegen jede Form der Verharmlosung von Gewalt aus. Ich danke vor allem Frau Professor Wisniewski für ihre differenzierenden Ausführungen. Gewalt in diesem Lande ist in einer Weise gestiegen, die nicht nur den Rechtsextremismus beinhaltet. Wir haben im letzten Jahr einen Anstieg der Straftaten von 5,3 Millionen auf 6,3 Millionen. Wir haben dabei einen Rückgang der Inländerkriminalität, wenn man den Begriff so verwenden darf, von 75 auf 70 %. Wir haben einen Anstieg der Zahl der ausländischen Straftäter um 25 %. Jede Straftat muß unabhängig davon, wer Opfer und wer Täter ist, unterbunden werden. ({0}) Insgesamt ist es so, daß zwei Drittel der Kriminalität immer noch zwischen Inländern passieren und ein Drittel zwischen Angehörigen verschiedener Völker. Da gibt es drei Gruppen. Es gibt fremdenfeindliche Gewalt durch Einheimische, die stillschweigend als Rechtsextremismus definiert wird. Dazu sind im Antrag der PDS, Drucksache 12/5651, exakte Zahlen genannt. Es gibt Gewalttaten zwischen Ausländern verschiedener Nationalität, nicht nur zwischen Kurden und Türken. Das gab es auch zwischen Engländern und Buren auf fremdem Territorium. Und es gibt eben Gewalt, die sich spezifisch gegen Einheimische richtet. Frau Jelpke, Sie fragten nach exakten Zahlen und Fakten. Zur Beurteilung der Kriminalität ist die Kriminalstatistik die Grundlage mit exakten Zahlen und Fakten. Vor allem der Opfer wegen, aber nicht nur ihretwegen, sondern auch der verführten jugendlichen Täter und des Ansehens Deutschlands wegen treten ich und meine Freunde ganz entschieden gegen jede Form auch rechtsextremistischer Kriminalität auf. Aber das darf nicht zum Alibi dafür werden, die gesamte Kriminalitätsentwicklung dabei außer acht zu lassen. Die meisten Opfer der gesamten Kriminalität in Deutschland sind eben Deutsche. ({1}) Es ist die Pflicht einer jeden Bundesregierung, Schaden vom deutschen Volke fernzuhalten. Ich stimme mit sehr vielen meiner Kollegen auch in diesem Hause überein, daß jede Form von Kriminalität, auch die Kriminalität im Zusammenhang mit 2 000 Rauschgifttoten, 2 000 Mordopfern und vielen anderen Delikten, in gleicher Weise bekämpft werden muß und daß es keine Betonung der einen Art von Kriminalität unter Vernachlässigung von über 95 % der übrigen unsere Bevölkerung bedrohenden Kriminalität geben darf. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Trotzdem ist es gut, wenn wir hier die Debatte führen. Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/5602 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus Kübler, Friedhelm Julius Beucher, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Siegrun Klemmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Hilfen zur Stillegung der RBMK-Reaktoren in Rußland, der Ukraine und Litauen - Drucksache 12/4783 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Auch hier ist vereinbart worden, die Redebeiträge zu Protokoll zu geben.') Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/4783 an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit vor. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste Widerruf der Genehmigung des Kali-Fusionsvertrags - Drucksache 12/5386 Überweisungsvorschlag: Ausschuß Treuhandanstalt ({0}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe PDS/Linke Liste 10 Minuten erhalten soll. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt der Abgeordnete Herr Gregor Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin zwar der Meinung, daß sich dieses Plenum mit diesem Fusionsvertrag schon längst hätte beschäftigen müssen. Er ist nun seit weit über einem Jahr abgeschlossen. Es ist die erste Plenardebatte zu diesem Thema. Daß sie zu dieser Stunde und vor diesem Personenkreis stattfindet, sagt etwas darüber aus, welche Bedeutung das Parlament diesem Fusionsvertrag und den damit verbundenen Problemen beimißt. Unmittelbar Betroffene, Vertreter der Belegschaft der Kaligrube in Bischofferode, sitzen auf der Besuchertribüne. Ich möchte sie, wenn es gestattet ist, herzlich begrüßen und freue mich, daß sie unserer Debatte Interesse entgegenbringen. Ich will zunächst etwas zu unserem Antrag sagen. Er ist auf den Widerruf der Genehmigung des Fusionsvertrags durch den Bundesfinanzminister gerichtet. Das hängt nicht etwa damit zusammen, daß wir generell gegen die Fusion wären. Ich glaube schon, daß die Fusion möglicherweise richtig und auch wichtig ist. Aber so, wie sie vereinbart worden ist, geht es nicht. Die Genehmigung ist zu widerrufen, damit wir die Chance bekommen, hier etwas anderes zu vereinbaren. Wie ist es dazu gekommen? Lassen Sie mich auf ein paar Umstände hinweisen. Wenn die Gewaltenteilung stimmt, dann ist wohl das Parlament das höchste Organ. Das Parlament hat auch die Exekutive zu kontrollieren. Hier ist die Ausgabe von Milliarden von Steuermitteln vereinbart worden. Meines Erachtens kann kein Parlament sagen, daß so etwas das Parlament nichts angeht. Aber wie sah die Kontrolle des Parlaments in dieser konkreten Frage aus? Sie hat praktisch nicht stattgefunden. Der Treuhandausschuß hat sich damit abgefunden, diese Kontrolle nicht ausüben zu können. ({0}) - Das ist eine grundsätzliche Frage der Ordnung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Wenn wir zulassen, daß die Bundesregierung ohne jede Kontrolle z. B. Milliarden Mark ausgibt, dann brauchen wir dieses Parlament nicht. Ich frage Sie: Wie kommt ein Treuhandausschuß dazu, einen Fusionsvertrag zu genehmigen, ohne ihn je gesehen oder gelesen zu haben? Das führt zu Politik- und Demokratieverdrossenheit, weil wir uns mit einem solchen Herangehen lächerlich machen, Der Ausschuß hätte mindestens sagen müssen: Wenn ihr uns den Vertrag nicht vorlegt, dann können wir uns dazu auch nicht äußern. Man hätte sich einer Entscheidung verweigern müssen. Aber die Annahme zu empfehlen, ohne den Vertrag zu kennen, heißt sich selber lächerlich machen und heißt sich selber auch disqualifizieren. ({1}) Ich sage Ihnen noch etwas. Jetzt ist beschlossen worden, daß drei Mitglieder des Ausschusses nicht etwa den Vertrag sehen dürfen, sondern ergänzende Auskünfte unter Beiziehung der Akten erhalten. Man muß wahrscheinlich Jura studiert haben, um zu wissen, was es heißt, wenn Akten beigezogen werden. Das heißt, sie werden immer noch nicht offengelegt, vielmehr hält der, der Auskunft gibt, sie in der Hand. Das ist aber weiß Gott noch keine Akteneinsicht. Genau die ist eben nicht vorgesehen. Womit wird das begründet? Das wird damit begründet, daß es bei privatwirtschaftlichen Verträgen nicht üblich sei, daß andere in einen solchen Vertrag Einsicht bekommen. Ich möchte Ihnen dazu etwas sagen. Zunächst einmal ist dies kein privatwirtschaftlicher Vertrag. Die Treuhandanstalt ist eine öffentlich-rechtliche Einrichtung. Sie hat diesen Vertrag mit einem Privatunternehmen geschlossen. Die Treuhandanstalt ist hinsichtlich der Ausgaben, die sie macht, rechenschaftspflichtig gegenüber dieser Bevölkerung und damit auch gegenüber diesem Parlament und kann sich auf solche privatwirtschaftlichen Bestimmungen nicht zurückziehen, um zu verheimlichen, was sie als Regierungsbehörde leistet und was sie als Regierungsbehörde nicht leistet. Übrigens stimme ich da z. B. mit dem früheren Präsidenten des Bundeskartellamtes, Herrn Kartte, überein, der in einem Interview mit der „Jungen Welt" am 6. September 1993 genau dasselbe gesagt hat, daß das überhaupt kein Argument ist. Wenn die Treuhandanstalt Vertragspartnerin ist, dann gelten für die Offenlegung völlig andere Kriterien, als wenn zwei GmbHs miteinander einen Vertrag schließen. Hinzu kommt, daß die Treuhandanstalt nicht Eigentümerin ist. Im Treuhandgesetz sieht, daß es sich um ehemaliges Volkseigentum der DDR handelt, und damit hätten zumindest die Eigentümerinnen und Eigentümer, mit anderen Worten: die Ostdeutschen, einen Anspruch auf Information. ({2}) Hinzu kommt: Ich finde, daß Menschen Verträge kennenlernen müssen, wenn ihr Schicksal davon betroffen ist. 700 Kalikumpel zusammen mit ihren Familien sollen in existentielle Nöte gestürzt werden. Und die sollen kein Recht haben zu fragen, auf welcher Grundlage das Ganze geschieht, und mal Einsicht nehmen zu können, ob das Ganze in Ordnung geht oder nicht in Ordnung geht? Was ist das überhaupt für eine Einstellung? Und letztlich: Unmittelbar wird über eine Milliarde an Steuermitteln dort verausgabt. Die Treuhandanstalt hat offensichtlich vereinbart, daß sie über fünf Jahre, obwohl sie nur 49 % der Anteile hält, sämtliche Verluste trägt, drei Jahre lang 90 %, ein Jahr lang 85 % und im fünften Jahr 80 %, und zwar, so wörtlich, „unabhängig von den Ursachen". Das ist nun etwas, was überhaupt kein Geschäftsmann je unterschreiben würde, außer der Treuhandanstalt selbstverständlich, die macht so etwas. Und da soll man als Parlament kein Recht auf Einsicht haben? Da soll man nicht fragen dürfen, wohin diese Milliarden gehen, ob das ganze sauber ist, ob es eine rechtliche Grundlage hat? Was ist da eigentlich zu verschweigen? Weshalb läßt man zu, daß es nur Stück um Stück bekannt wird? Weshalb läßt der Treuhandausschuß zu, daß faktisch mit seiner Genehmigung dann auch dieser Fusionsvertrag genehmigt wird? Lassen Sie mich dazu noch eine Bemerkung machen. Es gibt nämlich eine Klausel, die auch dem Verwaltungsrat der Treuhandanstalt vorenthalten worden ist, als der Verwaltungsrat zugestimmt hat. Das war die Konkurrenzausschlußklausel im Vertrag. Lesen Sie das Protokoll über die Verwaltungsratssitzung und den Beschluß nach. Das mit den sogenannten indirekten Subventionen für die BASF konnte man zumindest herauslesen, wenn man ein bißchen Bescheid wußte. Aber die Konkurrenzausschlußklausel z. B. ist im Verwaltungsrat der Treuhandanstalt nie beschlossen worden. Das heißt, damit sollte auch die Treuhandanstalt überrascht werden. Aber sie hat es unterschrieben, ohne ihren eigenen Verwaltungsrat zu informieren. Mit anderen Worten: Es gibt schon Gründe, weshalb hier das eine oder das andere verschiegen wird. Dabei ist es noch ziemlich unrelevant, ob diese Konkurrenzausschlußklausel für Bischofferode überhaupt gilt, denn Bischofferode ist für die anderen Unternehmen keine Konkurrenz. Dort wird nämlich ein Produkt hergestellt, das in keiner anderen Kaligrube Deutschlands hergestellt wird. Der wichtigste Abnehmer - passen Sie auf - von Bischofferoder Kali, Tessenderlo-Chemie/EMC-Belgien, hat versucht, sich auf Zielitzer Salz umzustellen, und hat nach wenigen Wochen gesagt: Das geht nicht. Im Mannheimer Verfahren ist das nicht verwendbar. Wir wollen wieder das Bischofferoder Salz. Kemira Oy hat von Anfang an abgelehnt, in ein anderes Salz zu wechseln. Das heißt, wir sind überhaupt nicht in der Lage, die bisherigen Kunden von Bischofferode über die anderen Gruben zu beliefern, und verzichten auf diese Kunden. Auf die Frage wird man doch irgendwann einmal eine Antwort verlangen dürfen, weshalb auf diese Kunden verzichtet wird. Es sollen nämlich diese Kunden getroffen werden, indem man ihnen den Grundstoff entzieht. Diese Kunden sind die eigentliche Konkurrenz von BASF. Se werden hier Monopolstrukturen aufgebaut. Nun ist immer behauptet worden: Das Ganze ist nicht wirtschaftlich, die Grube rechnet sich nicht und vieles andere mehr. Dabei wird mit Zahlen jongliert, die zum größten Teil falsch sind. Allein die Tatsache, daß die Treuhandanstalt die Verluste von Bischofferode pro Jahr einmal mit 20 und einmal mit 46 Millionen DM angibt, beweist, wie unseriös dort gearbeitet wird. Man ist nicht einmal in der Lage, einmal eine exakte Zahl zu benennen. Die Tatsache, daß z. B. Frau Breuel davon spricht, daß die Grube nur zu 61 % ausgelastet war, ist eine glatte Lüge. Sie war 1991 zu 74,9 % und 1992 zu 78,4 % ausgelastet. Das war der höchste Stand bei allen Kaligruben in der Bundesrepublik Deutschland. Trotzdem soll genau diese Grube zugemacht werden, und zwar, weil sie die falschen Kunden beliefert, die Kunden, die BASF treffen will. Das steckt dahinter und nichts anderes. Dieses Spiel macht die Bundesregierung mit. Dann wird uns in diesem Zusammenhang Populismus vorgeworfen. Dazu würde ich auch gerne einmal eine Bemerkung machen. Ich kann Ihnen das nämlich gleich widerlegen. Sie haben durch Fehlinformationen erreicht, daß die Kalikumpel in allen anderen Kaligruben zum größten Teil wirklich glauben, daß, wenn Bischofferode nicht geschlossen wird, ihr Schicksal besiegelt ist. Das heißt, wer für Bischofferode eintritt, macht sich bei allen anderen Kalikumpeln und bei der IGBE inzwischen unbeliebt. Das ist das Gegenteil von Populismus, denn dort können Sie sich kaum noch sehen lassen. Nein, hier wird eine klare Minderheit vertreten, aber eine Minderheit, die sich sozusagen gegen ein Machtkartell, bestehend aus BASF, Treuhandanstalt und Bundesregierung, zur Wehr setzt. Allein dieser Mut verlangt schon Respekt. Wer wagt es sonst schon in diesem Land, es mit solchen Größen aufzunehmen? ({3}) - Ich habe Sie nicht verstanden. Stellen Sie ordnungsgemäß eine Zwischenfrage, wenn Sie etwas zu sagen haben. Die Akustik ist hier nicht so wie im Wasserwerk. Reden Sie doch lieber einmal über den Fusionsvertrag, anstatt hier immer dazwischenzurufen. Legen sie ihn doch offen! Sie sind die Regierungspartei; wer hindert Sie denn daran, endlich einmal klare Fakten zu schaffen und zu sagen, was eigentlich vereinbart worden ist? Warum genieren Sie sich denn hinsichtlich dieses Vertrages so, daß ihn niemand lesen darf? Sie haben einen Wirtschaftsminister, der im Fernsehen in der „Tagesschau" erzählt, daß ein Anwalt des Vertrauens der Kalikumpel den Vertrag einsehen darf. Hinterher sagt er, unter einem Anwalt des Vertrauens versteht er einen Wirtschaftsprüfer, der vom Finanzministerium gestellt wird. Ich glaube, hier müßte man die erste Stunde des Jurastudiums wiederholen. Auch ein Wirtschaftsminister müßte den Unterschied zwischen einem Wirtschaftsprüfer und einem Rechtsanwalt kennen. Und dann soll es ein Wirtschaftsprüfer sein, der nicht das Vertrauen der Kalikumpel, sondern des Bundesfinanzministeriums genießt. Es ist in dieser Sache schon soviel gelogen worden.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Gysi, Ihre Redezeit ist beendet.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Das ist der letzte Satz: Ich bitte Sie wirklich: Nutzen Sie die Beratung dieses Antrags, um wenigstens Transparenz herzustellen, damit in dieser Frage endlich einmal mit offenen Karten gespielt wird! ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Abgeordnete Hermann Pohler.

Dr. Hermann Pohler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001731, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst einige Bemerkungen zu meinem Vorredner und zu seinen letzten Bemerkungen zum Anwalt des Vertrauens. Herr Gysi, als Rechtsanwalt müßte Ihnen klar sein, daß der Anwalt des Vertrauens nicht unbedingt ein Jurist und ein Rechtsanwalt, sondern jemand sein muß, der das Vertrauen besitzt. Das hat nichts mit einem Rechtsanwalt zu tun. ({0}) - Ich wollte das nur einmal klarstellen, denn das kann genausogut ein Wirtschaftsmann sein wie auch ein anderer Bürger. ({1}) - Das hat aber nichts mit einem Rechtsanwalt zu tun. Sie haben das gerade auf einen Rechtsanwalt und Notar bezogen. Das steht damit in überhaupt keinem Zusammenhang. Das muß man unter juristischen Aspekten einmal sagen dürfen. Ich glaube, das Thema ist viel zu ernst, um damit auf Kosten von Leuten Polemik zu betreiben, die ihre Arbeitsplätze verlieren oder verloren haben. Das ist bitter genug, und man sollte diese Menschen nicht mißbrauchen, indem man in ihnen falsche Hoffnungen weckt. Ich meine, die PDS hat mit ihrem Antrag vom Juli dieses Jahres einmal mehr gezeigt, daß sie nicht konstruktiv am wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern mitarbeiten will, sondern daß es ihr viel mehr um Polemik geht. ({2}) Zu der Fusion zwischen der Mitteldeutschen Kali AG und der Kali und Salz AG gibt es keine Alternative. Das ist nicht nur mir nach den vielen Gesprächen und Sitzungen der Arbeitsgruppe im Treuhandausschuß und auch mit dem Interessenten Herrn Peine klar geworden. Die Argumente, die die PDS vorträgt, überzeugen nicht. Gerade bei der Privatisierung im Bereich der Kaliindustrie gibt es in diesem Sinne keine „Plattmacherstrategie", derentwegen die Treuhandanstalt so oft gescholten wird. Nach Verhandlungen mit fast 50 Investoren hatte sich die Treuhandanstalt für die Kali und Salz AG entschieden, sicher auch zu Recht entschieden, weil nur diese Gesellschaft an einer Gesamtübernahme Interesse hatte. Der Arbeitsplatzabbau in der Kaliindustrie, die, wie wir alle wissen, durch einen verschärften weltweiten Wettbewerb mit deutlichen Überkapazitäten gekennzeichnet ist, ist in der Höhe gleichwertig.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Pohler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gysi?

Dr. Hermann Pohler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001731, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir haben schon so oft darüber gesprochen, daß ich jetzt keine Zwischenfragen mehr zulasse. Wir wollen die Polemik doch nicht auf die Spitze treiben. ({0}) Allerdings erfolgten in den alten und in den neuen Bundesländern die Werkschließungen zeitlich ungleichmäßig. Während zu DDR-Zeiten, unabhängig vom Weltmarkt, die Kaliproduktion ausgebaut und gefördert wurde, erfolgte in der Bundesrepublik bereits ein schrittweiser Abbau. Jetzt werden von 1993 bis 1997 - auch das sollten wir zur Kenntnis nehmen - im Westen noch 1 744 und im Osten 1 884 Arbeitsplätze abgebaut. ({1}) Im Osten werden aber immerhin 3 012 Arbeitsplätze Bestand haben. Nur mit der Fusion ist allerdings die Chance gegeben, daß in der verbleibenden deutschen Kaliindustrie auch unter den Bedingungen des Weltmarktes insgesamt 7 500 Kaliarbeitsplätze erhalten bleiben. ({2}) - Ich hatte es gesagt: Es sind über 3 000 Arbeitsplätze im Osten und über 4 000 Arbeitsplätze im Westen Deutschlands. ({3}) - Es sind in den Jahren vorher im Westen bereits Arbeitsplätze in der Kaliindustrie abgebaut worden; das wissen Sie genauso gut wie ich, und zwar in der Zeit, in der im Osten Deutschlands noch gefördert wurde, also zu DDR-Zeiten. Die Notwendigkeit der Fusion, Herr Gysi, haben Sie ja hier am Pult und auch vor einiger Zeit im Rundfunk nicht in Frage gestellt. Ich weiß gar nicht, warum Sie hier gegen die Fusion polemisieren. ({4}) Ich will an dieser Stelle auch auf die Grube in Bischofferode eingehen. Mir will trotz des menschlichen Verständnisses, das ich für die Arbeiter und Arbeiterinnen in Bischofferode habe, (Zuruf von der PDS/Linke Liste: Das gibt denen aber keine Arbeit! jetzt nicht mehr einleuchten, wieso dort noch weiter gestreikt wird, so bitter das alles ist. ({5})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Pohler hat das Wort.

Dr. Hermann Pohler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001731, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Stillegungsentscheidung für Bischofferode ist - auch das müssen wir zur Kenntnis nehmen - betriebswirtschaftlich gesehen erforderlich gewesen. Entgegen der Behauptung im Antrag der PDS, daß die Grube rentabel sei, muß festgestellt werden, daß in Bischofferode 1992 rund 27,1 Millionen DM Verluste gemacht wurden. ({0}) - Sie haben andere Zahlen genannt; ich habe diese. Die Kapazitätsauslastung lag bei 62 %. Wir können uns darüber streiten, ob es 62 % oder 70 % sind. Die Förderkosten pro Tonne liegen bei 167 DM, der Erlös pro Tonne bei 98 DM. Ich weiß nicht, woher Herr Peine den Mut hat, bei seinem Konzept zu sagen, daß er diese Preise erhöhen will; denn wir wissen, daß es eine Überproduktion auf der Welt gibt. Die Schließung der Grube ist für die Menschen in Bischofferode bitter. Darüber gibt es gar keinen Zweifel. Aber es ist viel getan worden und wird viel getan, um Ersatzarbeitsplätze zu schaffen und zu sichern. Ich habe Vertrauen und große Hoffnung, daß in der Regionalkonferenz im November dieses Jahres erste gute Ergebnisse aufgezeigt werden können. Vergessen sollten wir im Zusammenhang mit der beabsichtigten Schließung der Grube in Bischofferode auch nicht, daß die 700 Arbeitsplätze danach bis Ende 1995 gesichert sind. Wenn ich richtig informiert bin, hat Herr Peine nur ungefähr 400 Arbeitsplätze zugesichert. Schließlich bin ich davon überzeugt, daß die externe und neutrale Prüfung durch die EG-Kommission ein objektives Verfahren gewährleistet, und ich habe Vertrauen, daß hier auch unter Wettbewerbsgesichtspunkten eine sachgerechte Entscheidung getroffen wird. Es besteht also kein Anlaß - zumal sich keine neuen Erkenntnisse gezeigt haben -, die Genehmigung des Vertrages zu widerrufen. Ich meine, es ist unverantwortlich, auf Kosten der Kalikumpel weiter Polemik zu betreiben. Danke schön. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Abgeordnete Manfred Hampel.

Manfred Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000798, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist für mich schon sehr erstaunlich, Herr Kollege Gysi, wie Sie, von wenig Sachkenntnis getrübt, Ihre Argumente vorbringen können. ({0}) Sie waren bei den betreffenden Sitzungen im Ausschuß nicht anwesend. Sie hätten sich wenigstens die Mühe machen sollen, in den Protokollen nachzulesen. Dann hätten Sie festgestellt, daß der Treuhandausschuß mitnichten eine Empfehlung zur Annahme des Fusionsvertrages gegeben hat. ({1}) Wir haben ihn lediglich zur Kenntnis genommen. ({2}) Sie stellen sich heute hin und sagen: Wir betreiben keine Polemik. Den ganzen Tag über war diese Reihe leer, ({3}) Jetzt ist sie gefüllt. Wenn das nicht billigste Polemik ist, dann weiß ich nicht, was Polemik ist. Das hier ist Polemik in Reinstkultur. Sie wissen ganz genau, daß sich sehr viele, einschließlich der verehrten Präsidentin, eingesetzt haben und auch in Bischofferode gewesen sind. ({4}) Auch das sollten Sie beachten. Meine Damen und Herren, in den letzten Monaten haben sich die Abgeordneten der SPD-Fraktion im Bund und auch im Land Thüringen intensiv mit der Problematik der Kalifusion auseinandergesetzt. Im April hat es auf Initiative meines Kollegen Wieland Sorge einen hochrangigen Gesprächskreis gegeben, an dem auch die Betriebsratsvertreter der betroffenen Betriebe teilgenommen haben. Auf unsere Anregung hin wurde dann ein zusätzliches Gutachten erstellt. Im Juni hat der Treuhandausschuß auf Initiative von Wieland Sorge den Beschluß gefaßt, daß erneut alle Beteiligten zu einem weiteren hochrangigen Gespräch in Erfurt zusammenkommen. Auf dieser Basis hat der Treuhandausschuß die Problematik außerordentlich intensiv diskutiert. Er war die SPD, die bei dieser Gelegenheit auf die schwerwiegenden Versäumnisse der thüringischen Landesregierung und der Bundesregierung hingewiesen hat. Wir haben gefordert, daß endlich alle Möglichkeiten der wirtschaftlichen Förderung und der Arbeitsmarktpolitik für das Eichsfeld ausgenutzt werden. Wir sind es, die seitdem Druck machen, damit in der Eichsfelder Region für Tausende von Arbeitnehmern, die dringend Arbeit suchen, Dauerarbeitsplätze geschaffen werden. ({5}) Meine Damen und Herren, im Zusammenhang mit den erhobenen Vorwürfen, der Treuhandausschuß habe dem Fusionsvertrag zugestimmt, möchte ich ausdrücklich feststellen: Wir von der SPD haben keinen abschließenden definitiven Beschluß gefaßt, der sich für oder gegen die Kalifusion, der sich für oder gegen die Schließung der Bischofferoder Grube richtet.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Hampel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Udo Haschke?

Manfred Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000798, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich möchte meinen Gedanken zu Ende führen. Um es ganz klar zu sagen: Die Entscheidung über die Kalifusion liegt bei der Bundesregierung. Bei ihr und der Thüringer Landesregierung liegt die Verantwortung. Wir als Parlamentarier können und wollen der Bundesregierung die Entscheidungskompetenz und die Verantwortung nicht abnehmen. In einer parlamentarischen Demokratie ist die strikte Trennung von Legislative und Exekutive zwingende Voraussetzung. Bisher hatten wir nicht die Möglichkeit, Einsicht in den Vertrag zu nehmen. Sie wissen alle, daß die Aussage der Bundesrepublik, dieses Projekt sei wettbewerbsrechtlich unproblematisch, nicht zutreffend war. Dies hat die Bundesregierung bei den Beratungen zu diesem Thema im Ausschuß jedoch stets mit Nachdruck wiederholt. Jetzt wissen wir, daß die EG-Kommission ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit dieses Zusammenschlusses mit dem Gemeinsamen Markt hat. Wenn die drei benannten Mitglieder des Treuhandausschusses detailliertere Informationen über das Vertragswerk bekommen, werden wir einen Schritt weiter sein und uns ein besseres Urteil bilden können. Ich warne jedoch davor, überzogene Hoffnungen in die Einblicknahme zu setzen. ({0}) - Ich hatte vorhin schon gesagt, daß ich meine Ausführungen zu Ende führen möchte. Sollte ich aber durch die Einsichtnahme zu dem Ergebnis kommen, daß aus unserer Sicht dem Fusionsvertrag nicht zugestimmt werden kann, muß die Frage im Ausschuß selbstverständlich neu behandelt werden. Auch das Ergebnis aus Brüssel wird dafür von großer Bedeutung sein. Meine Damen und Herren, durch die spektakulären Aktionen der Bischofferoder Kumpel wurde die Bundesregierung gezwungen, über den Beschluß des Treuhandausschusses hinausgehende Zusagen über die Schaffung von Arbeitsplätzen für die nächsten zwei Jahre zu machen. Das ist das, was bisher als konkretes Angebot der Bundesregierung für die Bischofferoder Kumpel vorliegt. Jedoch ausschließlich durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zeitweilig gesicherte Arbeitsplätze sind nur eine Scheinlösung. Sie sind nur eine Übergangsmaßnahme. ({1}) Lediglich ein solches Angebot ist zu wenig. Deswegen sind wir strikt gegen eine derartige Scheinlösung. Offensichtlich haben weder der Bund noch das Land Thüringen begriffen, daß sie endlich zu einer Strukturpolitik übergehen müssen, die der Region des Eichsfelds wirkliche Perspektiven bietet; ({2}) zu einer Strukturpolitik, bei der sich der Staat intensiv um die Ansiedlung und Gründung von Unternehmen bemüht, die aus eigener Kraft die Wirtschaft der Region tragen können. Die Bundesregierung und die Treuhandanstalt haben mit ihrer Politik der Privatisierung um jeden Preis auch in dieser Region versäumt, eine Umstrukturierung zur Modernisierung der Strukturen und zur Sicherstellung einer gesunden Zukunftsentwicklung einzuleiten. Das ist der eigentliche Skandal. Die Kumpel zahlen für die ideologische Verbohrtheit einfallsloser Politiker der Regierungskoalition in Bonn und überforderte Landespolitiker in Erfurt. ({3}) Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß sich nach der Brüsseler Entscheidung und nach dem Einblick in die Unterlagen das verschwommene Bild konkretisieren wird. Ich hoffe, daß bis dahin endlich auch mehr Konkretes für die zukunftsträchtigen Arbeitsplätze seitens der politisch Verantwortlichen in Bund und Land vorgelegt wird. Ich habe Respekt vor den verzweifelten Aktionen derer, die nicht mehr ein und aus wissen. Ich habe Respekt vor meinem Kollegen Wieland Sorge, der sich trotz diskriminierender Falschdarstellungen in der Öffentlichkeit weiterhin mit aller Kraft für die Bischofferoder Kumpel einsetzt. ({4}) Meine Damen und Herren, jetzt steht die Einsichtnahme in den Vertrag an. Erst danach ist eine Beurteilung möglich. Sollten sich unsere Bedenken bewahrheiten, muß erneut verhandelt werden. Das ist unsere Forderung. Mir ist auch bekannt, daß die SPD-Landtagsfraktion einen Antrag durchgesetzt hat, daß sie, falls rechtliche Bedenken gegen diesen Vertrag erhoben werden können, gegen diesen Vertrag klagen wird. Meine Damen und Herren, die PDS fordert heute, alles noch einmal neu anzufangen. Sie gibt vor, mehr zu wissen und zu können als alle Fachleute, mit denen wir intensiv diskutiert haben. ({5}) Mit dieser Masche wird keinem geholfen. Jetzt sind Entscheidungen gefordert. Die Bundesregierung und die thüringische Landesregierung sind in der Pflicht. Unternehmerisches Handeln ist auch vom Staat gefordert. Ich sage allerdings auch eines: Unsere politische Verantwortung kann sich nicht über wirtschaftlich zwingende Schlußfolgerungen hinwegsetzen. Wer jetzt nur darauf setzt, die Wirtschaft finde in der Wirtschaft statt, wie dies immer noch der F.D.P.Bundesminister Rexrodt tut, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt, ist verantwortlich für den Niedergang der thüringischen Region, ist verantwortlich für den Niedergang, für das Plattmachen in ganz Ostdeutschland, ({6}) ist verantwortlich für den aufgestauten Unmut, der von solchen Parteien wie der PDS mit solchen Anträgen, wie heute einer auf dem Tisch liegt, ausgenutzt wird. Dieser Antrag ist kein konstruktiver Beitrag. Er ist destruktiv. Er ist reine Propaganda. Wir wollen, daß aktiv gehandelt wird, daß für Bischofferode und das gesamte thüringische Kaligebiet die bestmögliche Lösung gefunden und realisiert wird. Das muß unsere gemeinsame Aufgabe sein, für neue Arbeitsplätze, für neue Perspektiven im Eichsfeld, durch eine vorausschauende aktive Strukturpolitik. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Da der Kollege Türk zugestimmt hat, daß wir die Kurzinterventionen vor Abschluß der Runde vornehmen, erteile ich als erstem dem Kollegen Haschke, dann Herrn Gysi das Wort zur Kurzintervention.

Udo Haschke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000820, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, schönen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor allen Dingen Kollege Hampel! Ich denke, wir halten uns an unseren gemeinsamen Beschluß vom 7. September 1993: Der Treuhandausschuß nimmt zur Kenntnis, daß die Vertragsparteien, wie bei Fusionsverhandlungen und anderen Verträgen üblich, Vertraulichkeit wahren. Ich denke, wir bleiben bei unserem gemeinsamen Beschluß, daß drei Vertreter Einsicht in den Fusionsvertrag nehmen, weil ich wirklich meine, Kontrolle ist nötig - auch wenn ich es sonst nicht mit Lenin halte. Auf dieser Sitzung des Treuhandausschusses am 7. September haben wir gemeinsam den Bericht des Ministers in der Thüringer Staatskanzlei, Herrn Trautvetter, zur Kenntnis genommen. ({0}) - Wenn Sie es traurig finden, daß angesichts der Tatsache, daß ein Industriebereich in ganz Deutschland große Probleme hat zu überleben und man in Deutschland mindestens 90 Dollar pro Tonne Kali ausgibt, in Israel hingegen bloß 50 Dollar verlangt, in den Entwicklungsländern noch weniger, der Minister Trautvetter sagt, wir haben garantiert mindestens 700, möglicherweise 1 500 Arbeitsplätze in dieser Region in Vorbereitung gesichert, dann, so muß ich Ihnen sagen, verstehe ich Ihre Trauer nicht. Für mich ist jeder Arbeitsplatz, der auf die Zukunft hin organisiert ist, der wirklich zukunftsbeständig ist, ein Grund zur Freude. Lieber Wieland Sorge, wir beide waren mit demselben Anliegen in Bischofferode.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Die Zeit für die Kurzintervention ist zu Ende.

Udo Haschke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000820, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir wissen genau, wo die wirklichen Perspektiven liegen: Die Perspektiven in Deutschland liegen nicht darin, daß man unverkäufliche Güter produziert, um sie dann über ABM zu entsorgen. Laßt uns endlich den Mut zu wirklich zukunftsorientierten Produkten finden! - Wieland, ich danke dir, daß du genickt hast. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Der Kollege Hampel hat darauf hingewiesen, daß ich fälschlich ausgeführt habe, daß der Treuhandausschuß eine Genehmigung des Fusionsvertrages ausgesprochen hat. Das hat er selbstverständlich nicht. ({0}) - Ja, ich will dazu etwas sagen. Dieser Vertrag war bereits unterzeichnet, und der Bundesfinanzminister war schon bereit, diesen Vertrag zu genehmigen, als der Treuhandausschuß eingriff und sagte: Wenn es jetzt ein Privatisierungsangebot von Herrn Peine gibt, dann muß das gründlich geprüft werden, bevor hier eine Genehmigung durch den Bundesfinanzminister erfolgt. Da kam er insoweit seiner Kontrollfunktion nach. Dann hat der Treuhandausschuß, ohne das Gutachten vollständig gelesen zu haben - das ist nämlich nicht vorgelegt worden, sondern es ist nur ein Auszug vorgelesen worden; da war ich dabei - und ohne den Vertrag zu kennen, plötzlich gesagt, wir nehmen das alles zur Kenntnis, und er empfahl der Bundesregierung, sich Maßnahmen zu überlegen, was man in der Region tun könnte, urn Ersatzarbeitsplätze zu schaffen. Das war natürlich das Signal an den Bundesfinanzminister: Die ursprünglichen Bedenken sind jetzt ausgeräumt worden. Die faktische Wirkung war auch so, daß er ein oder zwei Tage später den Fusionsvertrag genehmigt hat. Das ist der Vorgang, den ich damit meinte. Ich meine, Sie können den Vertrag nicht zur Kenntnis nehmen, wenn Sie ihn nicht gesehen haben. Vielmehr hätte man sagen müssen: Wir haben diesen Vertrag nicht gesehen; deshalb können wir den ganzen Vorgang nicht beurteilen, es sei denn, der Vertrag wird uns vorgelegt. Ich glaube, diese Kritik war berechtigt. Zweiter und letzter Hinweis: Wenn Sie sagen, unser Antrag ist destruktiv, dann kann ich nur entgegnen: Legen Sie doch einen besseren vor! Wir hätten hier schon längst eine Debatte haben können. Ergreifen Sie doch die Initiative! Wieso müssen immer wir sie ergreifen? Ich hätte auch gern über einen SPD-Antrag diskutiert. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Kollege Hampel.

Manfred Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000798, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Haschke, natürlich ist Vertraulichkeit vereinbart; das ist selbstverständlich. Aber wenn wir feststellen sollten, daß wir mit Passagen des Vertrages nicht einverstanden sein können, dann muß es möglich sein, in erneute Verhandlungen einzutreten, sonst ist diese Einblicknahme völlig unsinnig. ({0}) Was soll sonst der Grund sein? Wenn das nicht unser Ziel sein kann, dann würde ich die Einblicknahme ablehnen; das wäre sinnlos. Auch die anderen Vorwürfe, die Herr Gysi erhoben hat, daß wir, indem wir die Fusion zur Kenntnis genommen haben, der Bundesregierung indirekt ein Signal zum Abschluß durch den Finanzminister gegeben hätten, sind nicht korrekt. Sie wissen ganz genau, daß wir als Parlamentarier nicht das Recht haben, derartigen Dingen zuzustimmen oder nicht zuzustimmen. Das ist nicht unsere Angelegenheit; das lag nicht in unserer Kompetenz. Wenn Sie so tun, als hätten wir im Treuhandausschuß die Möglichkeit gehabt, diesen Vertrag abzulehnen und damit zunichte zu machen oder diesem Vertrag zuzustimmen und ihn damit rechtswirksam zu machen, dann ist das eine Argumentation, die verlogen ist. Es tut mir leid, daß ich keinen anderen Begriff dafür habe.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Kollege Jürgen Türk.

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde hier keinen Wahlkampf auf dem Rücken der Kumpel austragen, wie das heute leider die PDS und vor allen Dingen die SPD gemacht haben. Polemik haben wir genug in diesem Hause. Ich werde hier nicht weiter ausführen, daß die Anträge auch von der Koalition und nicht nur von der SPD mitgetragen worden sind. Aber nun zur Sache. Auf eine Telefonumfrage, warum die Treuhandausschußmitglieder dem Fusionsvertrag zugestimmt haben, stand am 14. Juli 1993 in der „Thüringischen Landeszeitung", daß sich der Abgeordnete Jürgen Türk lieber ganz in Schweigen hüllt. Aber Schweigen ist mein Ding nicht. Richtig ist, daß ich in einem langen Telefongespräch berichtet habe, daß es sich der Treuhandausschuß mit der Entscheidung über die Zukunft der deutschen Kaliindustrie und vor allem mit Bischofferode in der Tat nicht leichtgemacht hat. Gestatten Sie mir, daß ich das kurz aufzeige. Erstens. Um Bischofferode und dem Mittelstand eine Chance zu geben, wurde in der ersten Ausschußsitzung der Beschluß gefaßt, das Peine-Konzept bis Ende 1993 begutachten zu lassen - und das gemeinsam. Zweitens. In Bitterfeld wurde der Antrag zu einer Regionalkonferenz angenommen. Leider kam es in Erfurt nicht zu dem erhofften sachlichen Argumentationsaustausch; leider gab es auch da nur Polemik. Drittens. In einer weiteren Beratung in Bonn u. a. mit Herrn Peine und dem Gutachter der Treuarbeit kam es ebenfalls zu keiner einvernehmlichen Lösung, insbesondere wegen des hohen Sanierungsbedarfs, des Kalipreises, der Wirtschaftlichkeit und der drastisch sinkenden Absatzchancen. Man muß hier feststellen: Wir haben eine immense Überproduktion. Viertens. Im Rahmen der abschließenden Ausschußsitzung kamen Koalition und SPD zu demselben Ergebnis: Fusionskonzept bestätigen, aber Standortumstrukturierung sofort durch Bund, Land und Treuhandanstalt aktiv unterstützen. Das war unser gemeinsames Ergebnis. Warum habe ich letztlich dieser Fusion zugestimmt? Folgende Fakten waren zu berücksichtigen: Erstens: jährliche Verluste von ca. 20 Millionen DM. Wir streiten uns jetzt nicht um 5 Millionen DM. Zweitens. Das Gutachten bescheinigte dem PeineKonzept Unwirtschaftlichkeit - wir haben das gemeinsam durchgesprochen -, und damit bestand keine ausreichende Sicherheit für den wirtschaftlichen Bestand und damit auch nicht für die Arbeitsplätze, trotz immenser Sanierungskosten, die auch Herr Peine hätte tragen müssen. Richtig ist, daß mehr Transparenz nötig gewesen wäre, Herr Gysi. Die Betroffenen wollen natürlich solche Entscheidungen nachvollziehen können.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Türk, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hampel?

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber bitte.

Manfred Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000798, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Türk, Sie haben eben ausgeführt, daß Sie der Fusion zugestimmt haben. Sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, daß wir im Treuhandausschuß - ich wiederhole, was ich schon zu Herrn Gysi gesagt habe - keine Zustimmung gegeben haben, sondern lediglich zur Kenntnis genommen haben? Ich lege Wert darauf, denn wir können als Ausschuß keine Zustimmung oder Ablehnung zu diesem Fusionsvertrag geben.

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir haben dem Vertrag nicht zugestimmt, wir haben diesem Konzept zugestimmt. ({0})) - Richtig, ich bin ja belehrbar. Ich bitte nachzulesen, daß wir dieses Konzept zur Kenntnis genommen haben. Notwendig ist meines Erachtens umgehend folgendes: Herstellung der Arbeitsfähigkeit der neugebildeten regionalen Entwicklungsgesellschaft zur Schaffung von Rahmenbedingungen für Alternativarbeitsplätze, dann Verhandlungen der regionalen Entwicklungsgesellschaft mit Land und Bund über vorzuziehende verkehrstechnische Maßnahmen, um ebendiesen Standort für Investoren attraktiv zu machen. Wir wissen, daß der in einer Ecke ist, wo bisher keine Investoren hinwollten. Meine Schlußfolgerung: Künftig müssen regionale Entwicklungsgesellschaften bereits vor bzw. parallel zur Privatisierung wirksam werden, denn zur Schaffung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze muß fast immer um 25 % der bisherigen Arbeitskräfteanzahl reduziert werden. Das war eben unsere DDR-Arbeitsproduktivität.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Türk, es hat sich jetzt noch einmal Herr Diederich gemeldet.

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte.

Dr. Nils Diederich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000382, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege, stimmen Sie mit mir überein, daß das, was Sie jetzt beschreiben, das Konzept, erst auf Drängen des Ausschusses eilends in der Sommerpause zusammengezimmert worden ist, und würden Sie mir zustimmen, daß es die Pflicht der Bundesregierung und der Landesregierung Thüringens gewesen wäre, angesichts der dramatischen Lage dort unten schon bei Abschluß des Fusionsvertrages, wo sie in Kenntnis dessen waren, was da passiert, ein solches Konzept zu erarbeiten und es vor einem halben bis dreiviertel Jahr vorzulegen, damit es jetzt schon verwirklicht werden könnte?

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, das ist sicherlich richtig. Allerdings hat man das wahrscheinlich auch deswegen nicht getan, weil man eben davon ausgegangen war, daß Bischofferode zu retten gewesen wäre. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Es gibt einen weiteren Wunsch nach einer Zwischenfrage des Kollegen Sorge. - Bitte.

Wieland Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002193, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Türk, Sie sprachen davon, daß das Peine-Konzept nur realisiert werden könnte, wenn Investitionen getätigt werden. Ist Ihnen bekannt, daß natürlich auch die Fusion nur möglich ist, indem man über 1 Milliarde DM investiert, um das Ganze in Gang zu setzen? Es geht hier um Arbeitsplätze, und zwar um 700 Arbeitsplätze in Bischofferode. Es wäre doch wirklich wichtig, wenn wir die Bereitschaft erklären könnten, dort zu investieren, um die Arbeitsplätze dort zu retten. ({0})

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es ist sicherlich richtig, daß immense Kosten für die Sanierung erforderlich wären, bezogen auf das ganze Konzept. Aber in Bischofferode zusätzlich wären auch zusätzliche Sanierungskosten. Jetzt möchte ich aber fortfahren. Es geht fast ausschließlich um die Schaffung von Rahmenbedingungen für wettbewerbsfähige Dauerarbeitsplätze in Höhe von 75 % der bisherigen. Es geht also um einen Strukturwandel in bisher nicht bekanntem Ausmaß. Dem muß man durch Zusammenarbeit zwischen regionalen Entwicklungsgesellschaften - ich glaube, das ist es - und der Treuhandanstalt Rechnung tragen und nicht, indem die Treuhandanstalt weiterhin durchprivatisiert. Letztlich bleibt in diesem Zusammenhang zu hoffen, daß aus der deutschen Kaliindustrie kein Dauersubventionsfall, wie z. B. die deutsche Steinkohle, wird. Denn immerhin beabsichtigt die Treuhandanstalt, 49 % auf Jahre zu halten. Davor muß man tatsächlich warnen. Vielmehr ist jetzt Zeit, in die Richtung umzudenken, daß nicht weiterhin Sanierungsmittel und Dauersubventionen in wettbewerbsunfähige Produkte gesteckt werden. Es ist erforderlich, alternativen Gewerben und alternativen Industrien auf die Beine zu helfen. Diese Startsubventionen sind nur ein Bruchteil der sonst erforderlichen Dauersubventionen. Bischofferode kann tatsächlich ein Signal werden, nämlich für gezielte Umstrukturierung, für gezielte Standortentwicklungspolitik und damit für neue Arbeitsplätze. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als letzter spricht zu diesem Tagesordnungspunkt Herr Staatssekretär Grünewald.

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Herr Gysi, der Finanzminister hat sich die Entscheidung bei Gott nicht leichtgemacht. Da macht es schon betroffen, wenn Sie den Eindruck vermitteln wollen, als wenn wir mit bürokratischer Kälte aus der Distanz des sozial nicht unmittelbar Betroffenen unsere Entscheidung getroffen hätten. Wir haben stunden-, tage-, nächtelang Überlegungen angestellt und vorzeitig den Treuhandausschuß an diesen Überlegungen teilhaben lassen. Wenn ich mich richtig erinnere, haben wir uns in acht Sitzungen des Treuhandausschusses, zuletzt in der Sondersitzung am 7. September 1993 und da ausschließlich, mit diesem Problemkreis befaßt. Herr Kollege Gysi, als juristischer Kollege dürfen Sie auch nicht wider besseres Wissen den Anschein erwecken, daß wir mit den Verträgen irgend etwas verheimlichen wollten. Sie wissen ganz genau, daß, wenn solche Verträge Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse enthalten, die Offenbarung solcher Geheimnisse nach unserem Strafgesetzbuch strafbewehrt ist. Deswegen sind wir daran gehindert. Deswegen auch der Kompromiß, daß wir vorlagebereit sind unter Beteiligung von Sachkundigen, die Auskunft geben können. Diese ganzen Diskussionen und langen Überlegungen haben immer wieder bestätigt - das haben uns auch die Fachleute in vielen Gutachten gesagt -, daß es keine realistische Überlebenschance für Bischofferode gibt. Das hat uns auch die IG Bergbau gesagt, und das haben uns auch die Gesamtbetriebsräte der beiden fusionierten Unternehmungen gesagt. Da finde ich es auch nicht fair: Erst diffamieren Sie die Kollegen im Treuhandausschuß, und dann diffamieren Sie auch noch die Gewerkschaften und die Gesamtbetriebsräte, indem Sie diese in die Ecke der Kumpanei mit der Großchemie oder sonst etwas stellen. Wer hat die Stillegungsentscheidung eigentlich getroffen? MDK und K+S in einer gemeinsamen Kommission. Da hat man erkannt, daß Bischofferode und Merkers in das Fusionskonzept einfach nicht integrierbar waren. Da sind Ihre Argumente auch nicht stichhaltig; auch das wissen Sie ganz genau. Es ist einfach nicht richtig, daß in Bischofferode ein Kaliprodukt hergestellt wird, das in keinem anderen Kalibetrieb produziert werden kann. Die angeführte Einzigartigkeit betrifft lediglich die Körnung, und die ist nun einmal leider nicht preiswirksam. Das Kaliwerk Bischofferode verfügt auch nicht, wie behauptet wird, über feste Kundenbeziehungen - Sie haben das eben auch wieder gesagt -, sondern die Kundenbeziehungen wickeln sich ausschließlich und allein über die Muttergesellschaft ab. Vor dem Hintergrund weltweiter Überkapazitäten auf dem Kalimarkt - das wurde schon gesagt - wurde im Rahmen des Fusionskonzepts festgelegt, welche Kapazitäten in Ost und West abgebaut werden müssen. Im Rahmen dieser Kapazitätsanpassung werden diejenigen Werke stillgelegt, die langfristig die geringste Wirtschaftlichkeit aufweisen. Hierzu gehört nun einmal leider - ich betone: leider - Bischofferode, das in den vergangenen Jahren - damit das auch einmal klar ist - jeweils rund 20 Millionen DM an Jahresverlusten eingefahren hat. ({0}) Ein Weiterbetreiben dieses Werkes würde im Ergebnis - auch das wissen Sie - zur Stillegung anderer Kaliwerke und damit zum Verlust von Kalikumpel-Arbeitsplätzen an anderer Stelle führen und das gesamte Fusionskonzept gefährden. Das hat nichts mit Wettbewerbsverzerrung zu tun, sondern hier geht es um die Schaffung wettbewerbsfähiger Strukturen für ein Gemeinschaftsunternehmen in der Zukunft. Auch werden keine Fördermittel der Treuhandanstalt zugunsten von Kalibetrieben der alten Bundesländer verausgabt. Die von der Treuhandanstalt zu leistende Bareinlage -- ich will die Zahl wiederholen - von über 1 Milliarde DM steht ausdrücklich und nur für Zwecke der Sanierung der ostdeutschen Werke und des Verlustausgleichs zur Verfügung. Mit diesen Mitteln soll die Produktivität der ostdeutschen Standorte möglichst rasch erhöht und die im Geschäftsplan vorgesehenen Produktionsverlagerungen von West nach Ost möglichst ebenso rasch vollzogen werden. Daß das Ganze überprüft und überwacht wird, versteht sich doch wohl von selber.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Aber gerne.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Staatssekretär, in meinem Beisein hat Herr Dr. Schucht im Treuhandausschuß gesagt, es lasse sich selbstverständlich nicht ausschließen, daß diese Mittel letztlich auch zur Sanierung der Gruben in den alten Bundesländern mitgenutzt werden. Das gilt später insbesondere auch für die Verlustabdeckung. Würden Sie mir außerdem einräumen, daß, wenn Bischofferode nicht in die Konzeption paßt - was ja sein kann -, dies doch eine Einzelprivatisierung außerhalb des Fusionskonzepts nicht ausschließt?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Zur ersten Frage: Ich will die redliche Antwort von Dr. Schucht gerne bestätigen. Auch wenn die Mittel, wie ich gerade gesagt habe, nur zur Modernisierung der Betriebsstätten und zum Verlustausgleich im Osten voll genutzt werden, werden sie in dem zukünftigen Gemeinschaftswerk natürlich dem Gesamtwerk in Ost und West zugute kommen. Das ist doch selbstverständlich; ({0}) das liegt doch auch im Interesse der Kalikumpel in den neuen Ländern. Sonst würden 7 500 Arbeitsplätze ganz vom Markt verschwinden. Ich meine, wir sollten uns deswegen mehr der Zukunft zuwenden und uns bemühen - das machen die Treuhandanstalt und auch das Gemeinschaftsunternehmen -, möglichst viele Arbeitsplätze zu schaffen. Das Gemeinschaftsunternehmen tut dies beispielsweise dadurch, daß es gezielte Auftragsvergaben für die Industrie- und Gewerbeansiedlung erteilt. Nicht zuletzt hat die Bundesregierung - ({1}) - Bitte sehr. Ich bitte um Entschuldigung.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich hatte Sie noch gefragt, weshalb denn, wenn Bischofferode nicht in das Fusionskonzept paßt - was ich bereit bin zu akzeptieren -, eine Einzelprivatisierung ausge15268 schlossen ist, wo gegebenenfalls auch Investitionen erforderlich gewesen waren. Diese aber sind auch bei allen anderen Gruben, die Verluste fahren, erforderlich und verstoßen nicht gegen die Konkurrenzausschlußklausel, die dem Verwaltungsrat der Treuhandanstalt in der Vorlage noch nicht einmal bekanntgegeben worden ist.

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Nach den Gutachten höchst Sachverständiger, die in der Kaliindustrie sicherlich über mehr Sachverstand verfügen - Herr Kollege Gysi, das meine ich so kollegial, wie ich es sage - als wir beide zusammen, kann eine Einzelprivatisierung bei der Enge des Kalimarktes, der nicht vermehrbar ist, ohne eine Gefährdung des Gesamtkonzeptes nicht in Betracht kommen. Das ist die Problematik. ({0}) - Natürlich ist das Marktwirtschaft. Nicht zuletzt hat die Bundesregierung ein weitreichendes Arbeitsplatzangebot gemacht. Herr Kollege Hampel, lassen wir uns nicht darüber streiten. Lange vor Ihrer Initiative, schon am 14. Juli 1993 in der Kanzlerrunde, haben wir gesagt: Alle 700 Kumpel können ohne Kündigung für zwei Jahre in die Auffanggesellschaft zur Verwahrung und Verwertung stillgelegter Bergwerksbetriebe überführt werden. Das Land Thüringen ist nach der Kompetenzverteilung unserer Verfassung für die regionale Arbeitsmarktpolitik und die Strukturpolitik zuständig und hat sich verpflichtet, 1 000 Arbeitsplätze zu schaffen. Herr Kollege Pohler hat schon darauf hingewiesen, daß am 4. November 1993 eine große Regionalkonferenz stattfinden soll. Wer, verehrter Herr Kollege Gysi, meint, er könne den Kumpeln abraten, dieses Angebot anzunehmen, und ihnen raten, auf die EG-Entscheidung zu spekulieren - auch das klang eben an -, der tut niemandem einen Gefallen. Es ist legitim, daß sich die EG bei einem so komplexen Thema - das ist ein absolut normaler Verfahrensschritt - einer intensiveren Prüfung zuwendet; die Entscheidung aber ist völlig offen. Ich sage es Ihnen voraus: Selbst wenn die Fusion in der EG auf fusions- und kartellrechtliche Bedenken stoßen sollte, ist der Standort Bischofferode nicht zu halten. Und so bitter das ist, so schmerzlich ich mit Ihnen empfinde, das muß man einfach zur Kenntnis nehmen.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Staatssekretär, Herr Diederich hat noch eine Zwischenfrage.

Dr. Nils Diederich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000382, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Herr Parlamentarischer Staatssekretär Grünewald, vielleicht können Sie mir die Frage beantworten, die mir Herr Türk nicht beantworten konnte. Er hatte ja auch zugestimmt, daß hier ein Kritikpunkt liegt. Warum hat die Bundesregierung dieses Sanierungskonzept, das sie uns nach der Sommerpause auf Drängen des Ausschusses vorgestellt hat, nicht bereits mit dem Abschluß oder kurz nach dem Abschluß des Fusionsvertrages vorgelegt, als klar war, daß Bischofferode zugemacht wird?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Die Erarbeitung des Sanierungskonzepts Fusion hat sich, wie eben schon angedeutet, über Monate hingezogen. An diesen Verhandlungen war selbstverständlich der Finanzminister mit seiner Rechts- und Fachaufsicht ebenso wie die der Wirtschaftsminister beteiligt. Dieses Konzept war fertig, als neuer Interessent Herr Peine auftrat. Daraufhin haben wir das, weil es zunächst einmal auch plausible Faktoren beinhaltete, sowohl in bergtechnischer Hinsicht als auch durch einen renommierten Wirtschaftsprüfer, durch die „C & L Treuarbeit", in einem Vergleich überprüfen lassen. Die Erkenntnis, die wir - wie Sie im Ausschuß auch - gewonnen haben, war leider, daß dieses Angebot nicht tragfähig war.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Sorge möchte noch eine Zwischenfrage stellen. Darf ich mit Rücksicht auf die Kollegen darum bitten, Zwischenfragen zurückzustellen, wenn sie keine neuen Punkte berühren.

Wieland Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002193, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ich möchte das aufnehmen, was Sie eben über die 700 Arbeitsplätze gesagt haben. Die Übernahme in die GVV bedeutet, daß diese Arbeitsplätze zunächst einmal für zwei Jahre garantiert sind. Unser Ziel war es aber, wenn Bischofferode geschlossen wird, Industrien anzusiedeln - das hat Kollege Haschke auch gesagt -, die lange Bestand haben. Können wir davon ausgehen, daß diese zwei Jahre eine Mindestgarantie sind, daß aber darüber hinaus die Dauerarbeitsplätze für viele, viele Jahre Bestand haben, weil dort neue Industrie mit neuer Technologie angesiedelt wird? ({0})

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Der Kern der Vereinbarung im Kanzleramt vom 14. Juli 1993 ist, daß wir für die betroffenen Kumpel Zeit einkaufen, damit wir in diesen zwei Jahren zusammen mit der dafür zuständigen Landesregierung in Thüringen dauerhafte Ersatzarbeitsplätze schaffen können. Daran werden sich die Bundesregierung, die Treuhandanstalt, das Gemeinschaftsunternehmen und das Land Thüringen auch beteiligen. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Kollege Gysi möchte noch eine Frage stellen.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Staatssekretär, eine wirklich hochinteressante Frage - das will ich neidlos anerkennen - ist Herr Dr. Schucht im Treuhandausschuß von einem SPD-Kollegen gestellt worden. Er ist gefragt worden, was er denn gemacht hätte, wenn das Gutachten zum Peine-Konzept positiv ausgegangen wäre. Er hat gesagt: Mit dieser Frage bringen Sie mich in eine große Schwierigkeit, weil ich nach Vertragslage und nach dem Gesamtkonzept auch dann Bischofferode hätte schließen müssen. Das heißt also, daß es letztlich gar nicht von der Begutachtung abhing, ob Bischofferode privatisiert wird oder nicht und damit geschlossen wird oder nicht. In diesem Zusammenhang würde ich auch gerne wissen - darin können nun keine Betriebsgeheimnisse stehen, weil es sich ausschließlich um das ja öffentlich bekannte Konzept von Peine handelt -, weshalb dieses Gutachten nie vollständig vorgelegt worden ist.

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Zunächst einmal darf ich sagen: Dieses Gutachten der „C & L Treuarbeit" wie auch das Gutachten, das die Bergtechnik zum Gegenstand hatte, ist auf Veranlassung des Bundesfinanzministers in Auftrag gegeben worden, und zwar vor unserer notwendigen Zustimmung zum Fusionsvertrag. Wäre das tragfähig gewesen, Herr Gysi, hätten wir unsere Zustimmung nicht erteilt und darauf gedrungen, daß in neuen Verhandlungen mit dem Standort Bischofferode ein neues, insgesamt tragfähiges Konzept entstanden wäre. Sonst wäre es doch eine Schaumschlägerei in unverantwortlicher Weise und ein unverantwortlicher Umgang mit öffentlichen Mitteln gewesen. Darüber waren wir uns klar. Daß es die Treuhandanstalt und Herrn Schucht möglicherweise in Schwierigkeiten gebracht hätte, will ich nicht ausschließen. Aber was soll diese Theorie? ({0}) - Nunmehr haben wir die Zustimmung zum Vertrag erteilt. Wir können das Ganze doch jetzt nicht wieder rückaufrollen wollen. Herr Gysi, das ist doch nur ein Fall von 12 000 Privatisierungen, die die Treuhandanstalt in den kurzen drei Jahren seit Beginn ihres operativen Geschäftes hat vornehmen müssen. Die können wir nicht alle rückabwickeln, auch wenn man nachträglich - nicht in diesem Fall, der ist zu sorgfältig geprüft, aber möglicherweise in anderen Fällen - Erkenntnisse gewinnen sollte, daß man vielleicht doch noch etwas Besseres hätte tun können. Ich sage Ihnen, Herr Gysi: Es wäre für die 7 500 Arbeitsplätze in der Kalichemie außerordentlich schädlich und gefährlich, wenn man Ihrem Antrag, nun die Genehmigung zu widerrufen, folgen würde. Sie sagen, es sei soviel gelogen worden. Ich will hier nicht polemisieren; ich will mich um viel Sachlichkeit bemühen. Aber, Sie haben auch das Angebot meines Ministers nicht richtig zitiert, wir seien bereit, einen Wirtschaftsprüfer, der das Vertrauen der Beteiligten habe - nicht das Vertrauen des Finanzministers - zu bestellen. ({1}) - Nein, Herr Gysi, Sie wissen es doch besser. Wir haben den Präsidenten des Berufsstandes der Wirtschaftsprüfer um vier neutrale Vorschläge gebeten. Die anderen Seiten haben zu allen vier vorgeschlagenen Personen - sie wurden nicht von uns vorgeschlagen! - gesagt: Ja, die haben unser Vertrauen. Dann haben die Bischofferoder einen Herrn Hickel vorgeschlagen, der nicht Wirtschaftsprüfer war, ({2}) der die Voraussetzungen nicht erfüllte. Lieber Herr Gysi, ohne Sie kränken zu wollen: Sie müssen das Vertrauen beider Vertragsbeteiligter haben. Ich habe die große Sorge, wenn Sie als Anwalt tätig werden- wir haben nie davon geredet, Ihnen als Anwalt die Einsicht zu geben -, daß Sie das Vertrauen aller Beteiligten an diesem Geschäft nicht haben würden. ({3})

Dr. Konrad Elmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000463, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kann ich das Wort noch zu einer Kurzintervention haben?

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Muß das sein, Herr Elmer? Ich finde, Herr Staatssekretär Grünewald hat sich Mühe gegeben, alle Fragen zu beantworten. Aber bitte.

Dr. Konrad Elmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000463, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, angenommen, Sie hätten in allem recht, dann müßte doch immer noch gefragt werden: Ist es in solchen Fällen in der alten Bundesrepublik nicht immer üblich gewesen, eine längere Übergangszeit zum Abbau und zur Umorientierung der Region vorzusehen? Warum hat man nicht wenigstens gesagt: Da in dieser Gegend schon alles platt ist, die Kaliindustrie - so in Bleicherode, wo ich herkomme - und alle ähnlichen Industrien zu sind, lassen wir dieses Werk, auch wenn wir kaum Hoffnung haben, daß es überleben wird, wenigstens noch drei bis fünf Jahre in Betrieb, bis sich in dieser Region etwas angesiedelt hat? Diese Überlegung müßte doch, selbst wenn Sie in allem richtig liegen, als zusätzliches Konzept ernsthaft geprüft werden. ({0})

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Ich will mich zur mitternächtlichen Stunde gerne noch bemühen: Wir haben diese Übergangsfrist gewährt. Ich habe eben schon gesagt - das ist mehrfach betont worden -, daß die Treuhandanstalt in den letzten Jahren in Bischofferode Jahresverluste im Durchschnitt von 20 Millionen DM hat hinnehmen müssen. Fakt ist auch, daß auch heute noch in Bischofferode gefördert wird und daß erst zum 31. Dezember, zum Jahresultimo, die Förderung ausläuft. Nur, man kann solche Übergangsprozesse nicht ad calendas graecas weiterführen. Damit werden nur überholte, nicht marktgerechte Strukturen konserviert. Deswegen richten wir mit Ihnen zusammen unser Augenmerk darauf, den Menschen in der Region, im Eichsfeld, neue, andere zukunftssichere Arbeitsplätze zu verschaffen. Schönen Dank. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie noch hier sind, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/5386 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist dies so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Erste Beratung des von dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wahl der Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts - Drucksache 12/5375 - Ørweisunsvorschlag: Rechtsausschuß ({0}) Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Ausschuß für Frauen und Jugend Wir haben vereinbart, die Redebeiträge zu Protokoll zu geben. *) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/5375 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Wir sind am Schluß unserer heutigen Tagesordnung angelangt. Ich danke für das lange Ausharren bis Mitternacht. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 24. September 1993, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.