Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/9/1993

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet. Ich habe zunächst eine amtliche Mitteilung bekanntzugeben. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunkteliste aufgeführt: 1. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung des Mißbrauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts ({0}) - Drucksache 12/5630 2. weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({1}) j) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann, Ingrid Köppe, Konrad Weiß ({2}), weiteren Abgeordneten und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsfristen bei DDR-Unrechtstaten - Drucksache 12/5628 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß k) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung strafrechtlicher Verjährungsfristen - Drucksache 12/5637 - 1) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Bau des Abschnitts Könnern-Löbejün der Bundesautobahn A 14 Magdeburg-Halle ({3}) - Drucksache 12/5000 - m) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Bau des Abschnitts Wismar West-Wismar Ost der Bundesautobahn A 20 Lübeck-Bundesgrenze ({4}) - Drucksache 12/5001 - ({5}) Zugleich soll von der Frist für den Beginn der Beratung - soweit dies bei den einzelnen Zusatzpunkten erforderlich ist - abgewichen werden. Des weiteren mache ich auf eine nachträgliche Ausschußüberweisung aufmerksam, die ebenfalls im Anhang zur Zusatzpunktliste verzeichnet ist: Der in der 164. Sitzung des Deutschen Bundestages am 18. Juni 1993 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Haushaltsausschuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung überwiesen werden: Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. Erstes Gesetz zur Änderung des Gentechnikgesetzes - Drucksache 12/5145 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({6}) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung EG-Ausschuß Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO Ich hoffe, daß Sie mit diesen Ergänzungen der Tagesordnung einverstanden sind. - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann darf ich das als beschlossen feststellen. Ich erteile zunächst dem Bundesminister für Wirtschaft, Günter Rexrodt, das Wort.

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Haushalt 1994 ist auch wirtschaftspolitisch die angemessene Antwort auf die gegenwärtige wirtschaftliche Lage. Er ist erstens die richtige Antwort, weil wir mit einer Nettoneuverschuldung von 67,5 Milliarden DM die richtige Balance zwischen stabilitätspolitischen Erfordernissen und den Erfordernissen, etwas für die noch schleppende Konjunktur zu tun, gefunden haben. Der Haushalt ist auch deshalb die richtige Antwort, weil wir damit begonnen haben, Mittel freizuschaufeln, die für Subventionen, für Förderungen im Westen ausgegeben wurden. Wir nehmen diese Mittel und führen sie in verstärktem Umfang in die neuen Bundesländer über. ({0}) Wir haben mit diesem Haushalt weder den reinen Sparaposteln Rechnung getragen noch jenen, die ihren Keynes nicht richtig verstanden haben. Wir haben, weil wir - wie wir meinen - die richtige Balance gefunden haben, Kritik selbstverständlich von beiden Seiten bekommen. Aber die Situation gibt uns recht. Die Bundesbank, die Geldpolitik, hat erweiterte Handlungsspielräume bekommen. Dies schlägt sich in der Zinsentwicklung nieder. Bei den langfristigen Zinsen haben wir heute ein Niveau von 6,2 %. Das ist der niedrigste Stand seit 1988. Wir haben ein Paket geschnürt, das die Sparbeschlüsse mit einem Bündel von wachstumsbelebenden Maßnahmen verbindet. Dazu gehören investitionsfördernde Maßnahmen, gesetzliche Vereinfachungen, Beschleunigungen von Genehmigungsverfahren u. a. mehr. Meine Damen und Herren, ganz auf der Linie dieses Konsolidierungskurses liegt auch der Haushalt meines eigenen Ministeriums, wo wir von 1991 bis 1994 z. B. bei der Luftfahrtindustrie 84 %, beim Schiffsbau 25 % und beim Bergbau 20 % der Subventionen für die alten Bundesländer gestrichen und diese Gelder für Aufgaben in den neuen Ländern umgeschichtet haben. ({1}) Ich würde mich im übrigen freuen, meine Damen und Herren von der SPD, wenn der eine oder andere Ihrer Ministerpräsidenten ähnlich konsequent bei der Sanierung seines eigenen Landeshaushaltes zur Sache ginge. ({2}) Was von Ihnen immer wieder vorgetragen wird, das ist die Mär vom sozialen Kahlschlag. Die Menschen nehmen Ihnen - wie ich meine - das aber immer weniger ab. Die Menschen haben Verständnis für die Maßnahmen, für die Weichenstellungen, die wir ergreifen. ({3}) - Sie haben das nur noch nicht begriffen. Die Menschen sind weiter als Sie es sind. ({4}) - Ich rede mit den Menschen auf der Straße, und Sie reden mit Ihren Funktionären, die noch nie einen Betrieb von innen gesehen haben, die von der Universität kommen und voller Ideologie sind. ({5}) Meine Damen und Herren, Tatsache ist erstens, daß die Bundesregierung seit 1982 entscheidende Verbesserungen in der Familien-, Sozial- und Rentenpolitik durchgesetzt hat, z. B. beim Kinder- und Erziehungsgeld. Eine weitere Tatsache ist, daß die Sozialhilfe von 1982 auf 1992 um 160 % gestiegen ist, während die Nettolöhne nur um 137 % gestiegen sind. ({6}) - Das ist ein Faktum; das können Sie nachlesen. ({7}) - Die Gewinne sind in den letzten Jahren im Schnitt nicht stärker gestiegen als die Einkommen aus unselbständiger Arbeit. ({8})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, nicht alle auf einmal, sondern einer nach dem anderen; das kommt nicht ins Protokoll.

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Tatsache ist zweitens, daß im Sozialbereich Einsparungen von 16 Milliarden DM stattfinden. Das sind sage und schreibe 1,5 % des gesamten Sozialbereichs. Da wird Ihrerseits von Kahlschlag gesprochen. Dies nehmen Ihnen die Leute nicht ab. Die Leute wissen, daß das Polemik ist. ({0}) Tatsache ist drittens, das sich unser Gemeinwesen in den letzten Jahren in vielen Bereichen vom Sozialstaat, den wir erhalten und sichern wollen, zu einem Wohlfahrtsstaat entwickelt hat, in dem Mittel für soziale Leistungen den überaus dominierenden Teil des Haushaltes ausmachen. Das wollen wir halten, aber die Grundlagen dafür sichern. Das ist das Entscheidende in unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik. Selbst das Modell Schweden, meine Damen und Herren, hat auf diesem Weg nicht nur die Bremse gezogen, sondern den Rückwärtsgang eingelegt. Auch andere Länder, wie die Niederlande, Belgien oder Finnland könnte ich in diesem Zusammenhang nennen. Wie diese Staaten sollten auch wir erkennen, und zwar rechtzeitig, daß wirtschaftliches Leistungsvermögen und staatliche Sozialpolitik wieder in Einklang gebracht werden müssen. ({1}) Es nützt insbesondere den bedürftigen Menschen wenig, daß sie häufig nur als politische Argumentationsmasse herhalten müssen, zuallerletzt wenn sich die Systeme durch die eingebauten sogenannten Stabilisatoren in die Richtung bewegen, daß kein Geld mehr da ist, um sie zu finanzieren. So weit können wir es nicht kommen lassen. Wir wollen den Sozialstaat erhalten. Sie können kritisieren, meine Damen und Herren, daß wir das eine oder andere falsch machen. In Ordnung, darüber kann man reden. Uns aber die Motivation in unserer Politik abzusprechen, daß wir den Sozialstaat sichern wollen, indem wir einiges umbauen, indem wir einiges langfristig überdenken, das können Sie nicht, meine Damen und Herren. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Bundesminister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Büttner zu beantworten?

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Ja.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, bitte schön.

Hans Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000302, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesminister, wie bewerten Sie unter diesem Gesichtspunkt den Diebstahl der Bundesregierung von Versichertengeldern der Arbeitnehmer bei der Bundesanstalt für Arbeit, um damit versicherungsfremde Leistungen in Ostdeutschland zu finanzieren? ({0})

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Ihre Frage insinuiert und arbeitet mit Begriffen, die ich so nicht gelten lassen kann. Wenn es aber darum geht, die Arbeitslosenversicherung umzubauen in die Richtung, daß bestimmte Leistungen herausgenommen und beispielsweise dem Steuerzahler übertragen werden, sind wir zu Gesprächen bereit. Das ist einer der Vorschläge zum Umbau unseres Sozialsystems. Es ist eine Menge dran und kann dazu führen, daß wir die Beiträge senken können. Dies wird ein Beitrag dazu sein, daß wir die Lohnzusatzkosten senken können. Wenn Sie hier von Diebstahl sprechen, so halte ich das - entschuldigen Sie bitte - für Polemik. ({0}) Meine Damen und Herren, der Haushalt 1994 bereitet den Boden für eine Politik zur Standortsicherung. Ich bin sehr froh darüber, daß die Diskussion der letzten Wochen in die richtige Richtung gegangen ist, daß eine breite Diskussion stattfindet und auch Sie, meine Damen und Herren von der SPD, sich an dieser Diskussion beteiligen mit einer Vielzahl von Vorschlägen, die das bestätigen, was allerdings selbst die Ihnen wohlmeinende „Frankfurter Rundschau" kritisiert hat, indem sie sagt, es bewege sich in der SPD mehr als genug, aber es bewege sich leider nur im Kreise. Es wäre doch sehr schön - ich wünsche mir das richtig, wir wünschen uns das -, wenn von Ihnen Vorschläge in der Sache kämen. Es kommen aber immer nur kritische Bemerkungen. Das ist ja nicht nur Ihr Recht, sondern Ihre Pflicht. Aber kommen Sie doch einmal mit konkreten Vorschlägen, über die wir diskutieren können, wie wir den Sozialstaat sicherer machen können. ({1}) Womit kommen Sie denn, auch der von mir sehr geschätzte Herr Jens? Da werden auf der einen Seite milliardenschwere Konkjunkturprogramme gefordert, obwohl gerade diese Maßnahmen in den 70er Jahren außer Strohfeuern und Schuldenbergen kaum etwas hinterlassen haben. ({2}) Sie sprechen von der Innovationskrise und schüren gleichzeitig die Skepsis in weiten Teilen der Bevölkerung gegenüber neuen Technologien. Dazu gehört auch Ihre pauschale, allerdings, wie ich zugeben muß, in letzter Zeit etwas differenzierter gewordene Ablehnung der Kernenergie. Das weckt bei vielen Menschen Ängste, trägt aber nicht dazu bei, daß wir die anerkannte Sicherheit deutscher Kernkraftwerke auf sowjetische Bauart übertragen. ({3}) Sie greifen auch Forschung und Entwicklung an. Ich bin ja gern bereit zuzugeben, daß auch ich mir den Haushalt des Forschungsministers anders vorstellen könnte. Wir haben da Sparzwängen Rechnung tragen müssen. Ich gehe aber davon aus, daß sich da noch etwas bewegen kann. Faktum ist ebenso - und das muß auch der Fairneß halber gesagt werden -, daß die staatlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung mittelfristig stabil bleiben. Aber bei Forschung, Entwicklung und Innovation geht es im übrigen nicht nur um Geld - auch um Geld, das gebe ich zu. Hier geht es darum, daß wir eine aufkommende Skepsis und Technikfeindlichkeit, die geschürt worden ist, überwinden. ({4}) Dabei geht es nicht nur um die Kernenergie, sondern es geht da auch um die Gentechnologie, und das reicht in die chemische Industrie hinein, die da in Frage gestellt wird. Neuerdings hat man wieder einmal das Auto entdeckt, das zur Verteufelung freigegeben worden ist. ({5}) - Ich sage nicht, nur bei Ihnen, aber das gibt es bei Ihnen auch, das gibt es in dieser Gesellschaft. ({6}) - Ich habe eben differenziert gesprochen, Frau Matthäus-Maier. Wenn wir da nicht weiterkommen, wenn diese Dinge nicht bei den Menschen oder bei der veröffentlichten Meinung in die Reihe gebracht werden, dann können wir noch soviel in diesem Parlament über Innovationen, über Forschung und Technologie reden ({7}) dann gehen wir an den Dingen vorbei. In den Köpfen der Menschen muß dieses Unheil verhindert werden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Bundesminister, der Abgeordnete Mosdorf möchte gern eine Zwischenfrage stellen. Bundesminister Dr. Günter Rexrodt: Das ist die letzte Frage, die ich zulasse.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich nehme das zur Kenntnis. - Bitte schön, Herr Abgeordneter.

Siegmar Mosdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesminister, sind Sie erstens mit mir der Meinung, daß das Gentechnikgesetz von 1990, das neueste, noch bestehende Gentechnikgesetz von der damaligen Koalition aus CDU/ CSU und F.D.P. verabschiedet wurde? Teilen Sie zweitens meine Freude darüber, daß es uns gelungen ist, in einem Konsensverfahren vor allen Dingen mit den Kollegen der CDU aus dem Forschungsausschuß dafür Sorge zu tragen, daß wir noch im November dieses Jahres eine gemeinsame Novellierung des Gentechnikgesetzes zustande bringen? ({0}) Bundesminister Dr. Günter Rexrodt: Ich teile Ihre Freude; ich möchte aber darauf dringen und mir die Anregung erlauben, daß die notwendigen Verordnungen und damit Umsetzungen aus der Novelle des Gentechnikgesetzes schnell vorankommen und daß die Umsetzung in den jeweiligen Behörden - und das sind Länderbehörden - möglichst schnell und unbürokratisch vollzogen werden muß. ({1}) Es hat sich manches bewegt; es kommt aber spät. Meine Damen und Herren, ein weiterer Punkt: der Arbeitsmarkt. Manche von Ihnen ziehen es vor, gleich ganz zu resignieren, wenn wir uns die bedauerliche Situation, die schlimme Situation am Arbeitsmarkt ansehen, und legen nun ihr ganzes Gewicht auf den sogenannten zweiten Arbeitsmarkt. Auch hier möchte ich mich bemühen, differenziert zu argumentieren. Ich habe dafür sehr viel Verständnis, und Ihre Motivation kann man nachvollziehen und in vielen Bereichen auch teilen. Wir brauchen arbeitsmarktpolitische Maßnahmen. Wir haben sie in starkem Umfang im Osten Deutschlands, wir haben sie auch im Westen Deutschlands, und das soll auch so bleiben. Aber wir müssen die Kirche im Dorf lassen; denn eine immer stärkere Betonung des zweiten Arbeitsmarktes birgt riesige Gefahren - vor allem die Gefahr, daß der erste Arbeitsmarkt noch mehr belastet wird, als er schon belastet ist. ({2}) Was wir wollen, und das spiegelt sich in unseren Einzelvorschlägen und Maßnahmen wider, ist erstens, daß die Menschen, die arbeiten, mehr verdienen als jene, die keine Arbeit haben, weil ansonsten Anreize verlorengehen. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Matthäus-Maier, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß der Bundesminister erklärt hat, er wolle keine weiteren Fragen zulassen. ({0}) Vielleicht revidiert er seine Meinung? ({1}) - Ja, deswegen frage ich ja auch, ob er sie ändert. Aber offensichtlich hat er seine Meinung nicht geändert.

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Lassen Sie mich bitte den Gedanken zu Ende führen. Ich möchte das jetzt weiter ausführen. ({0}) Erstens. Wir möchten, daß Menschen, die arbeiten, mehr bekommen als jene, die keine Arbeit haben. Zweitens. Wir möchten, daß Leute, die keine Arbeit haben, die Möglichkeit bekommen, im Arbeitsleben zu bleiben, indem sie bestimmte Entgeltsverhältnisse eingehen, die ihnen die Möglichkeit geben, Kontakt zur Arbeitswelt zu behalten und hinzuzuverdienen. ({1}) Drittens. Wir möchten, daß ABM in einem Umfang gewährt wird, daß zum einen mehr Menschen am endlichen ABM-Topf partizipieren können und zum anderen, daß ein Anreiz besteht - gerade in den neuen Ländern -, aus AB-Maßnahmen wieder in normale Arbeitsverhältnisse zu wechseln. ({2}) Das sind die Motivationen und die Grundlinien - nichts anderes -, wenn es um den zweiten Arbeitsmarkt geht. Alles andere ist Polemik und kann nicht gelten. Frau Matthäus-Maier, Sie haben einmal im Deutschlandfunk im Zusammenhang mit Fragen der Zukunftssicherung erklärt, daß Sie es für müßig halten, darüber nachzudenken, wie die Alterssicherung im Jahre 2030 aussieht. Sollen künftige Generationen etwa keine gesicherte Altersversorgung haben, nur weil sie heute noch nicht wahlberechtigt sind? Wir haben verantwortungsvoll mit dem Sinn und Zweck einen Denkanstoß gegeben, ({3}) die Rente - auch über kommende Generationen hinaus - sicher zu machen, nicht mehr und nicht weniger. ({4}) Dann gibt es einen dritten „Vorschlag" von Ihnen zu den Zukunftslösungen. Das ist der Vorschlag zur sogenannten Industriepolitik. Ich bin da gar nicht weit von Ihnen entfernt, solange man Industriepolitik als einen sinnvollen Dialog zwischen Wirtschaft, Gewerkschaften und Staat definiert. Ich meine einen Dialog, in dem man Meinungen austauscht und Erkenntnisse mitnimmt. Aber ich bin gegen einen Dialog oder eine Runde bzw. einen runden Tisch, der darauf hinausläuft, daß die Verantwortlichkeiten zwischen den großen gesellschaftlichen Gruppen verwischt werden und daß man Absprachen darüber herbeiführt, was man produziert, was man nicht produziert, was man fördert, was man nicht fördert, welche Zollvereinbarung man trifft sowie welche Exporte und Importe besonders wichtig oder unwichtig sind. Das führt zu Konservierung und letztlich zu Dauersubventionierung ganzer Industriezweige. Eine solche Industriepolitik, die eben nicht Dialog ist, den wir wollen, sondern eine Absprache, die Verantwortlichkeiten verwischt, wird es mit mir nicht geben. ({5}) Wir haben mit unserem Standortsicherungsprogramm die Weichen richtig gestellt. Jetzt kommt es darauf an, sie umzusetzen. Wir werden das tun. Wir werden das im Bereich der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte tun. Wir werden das im Bereich des Abbaus und der Umschichtung von Subventionen tun. Wir werden das im Bereich der Deregulierung und vor allem der Privatisierung tun, ({6}) wo Bund, Länder und Gemeinden gefordert sind. Das gilt für Länder und Gemeinden in besonderem Maße. Die Länder, die sich über ihre Landesbanken ganze Industrieimperien gekauft haben und damit Industriepolitik machen, wie sie sie wollen, sind gemeint. Das wollen wir nach Möglichkeit privatisieren und unseren Beitrag dazu leisten. ({7}) Meine Damen und Herren, messen Sie uns an dem, was wir in den nächsten Monaten und in den nächsten Jahren umsetzen werden. Die Weichenstellungen sind da. Wir werden unseren Beitrag dazu leisten, den Standort Deutschland zu sichern. Einem Dialog und einem Austausch mit Ihnen, um vernünftige Lösungen zu finden, sind wir immer offen. ({8})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr Professor Dr. Uwe Jens.

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe der Rede aufmerksam gelauscht ({0}) und habe immer überlegt: Was greifst du denn nun auf? Ich habe kaum etwas gefunden. ({1}) Es waren also weitgehend alte Ladenhüter, die hier vorgetragen wurden. ({2}) Da redet Herr Rexrodt wieder über die Renten im Jahre 2030, und er weiß offenbar überhaupt nicht, wie die wirtschaftliche Situation heute ist. ({3}) Ich habe beim Zuhören immer darauf gewartet, was er denn nun sagt, um die 6 Millionen Arbeitsuchenden in unserem Lande wieder in Brot und Arbeit zu bringen. Aber kein Wort, Fehlanzeige! So kann man wirklich die wirtschaftlichen Probleme in diesem Lande nicht lösen, Herr Rexrodt. ({4}) Diese Regierung behauptet gern, sie verstünde etwas von Wirtschaft. Nach elf Jahren konservativer Regierung haben wir die höchste Staatsquote überhaupt. Das hat auch damit zu tun - das hat er noch gar nicht begriffen; das ist nämlich ein Divisor -, daß der Nenner unten kleiner geworden ist. Das Bruttosozialprodukt ist kräftig gesunken, und auch deshalb ist die Staatsquote eben gestiegen. Da frage ich mich natürlich: Was tut er denn eigentlich, um das Bruttosozialprodukt nicht so stark absinken zu lassen? Nichts tut er. ({5}) In nur zwölf Jahren - bis 1994 - wird die Verschuldung des Bundes viermal so hoch sein wie 1982. Mittlerweile registrieren wir 3,5 Millionen Arbeitslose, und fast 6 Millionen Menschen suchen einen Arbeitsplatz und finden keinen. Ich finde: Nach zwölf Jahren Wirtschaftspolitik der konservativen Regierung stehen wir wirklich vor einem Scherbenhaufen. ({6}) Aber Herr Rexrodt ist wirklich ein guter Verkäufer; das gebe ich gern zu. Er kann also wirklich Mist verkaufen, und die Leute glauben, es sei Schokolade. Aber es ist ja nicht so, daß diese Regierung keine wirtschaftspolitischen Leistungen erbracht hätte. Das wäre völlig falsch. Die Arbeitnehmereinkommen sind in den letzten Jahren, in denen Sie an der Regierung waren, im Durchschnitt um 7 % gesunken, und die Unternehmereinkommen sind im Durchschnitt um 6,5 % gestiegen. ({7}) Damit wurde pro Jahr eine Umverteilung von etwa 150 Milliarden DM zugunsten der Unternehmer und zu Lasten der Arbeitnehmer vollzogen. Das ist ein Skandal. ({8}) Die Leistungsbilanz - im allgemeinen bei uns traditionsgemäß mit einem Überschuß ausgestattet -ist seit 1991/92 mit jeweils fast 40 Milliarden DM tief im Defizit. Auch dazu wurde von Herrn Rexrodt gar nichts gesagt. Das Europäische Währungssystem, früher einmal von uns allen in höchsten Tönen gelobt, ist mittlerweile wirklich zusammengebrochen. Auch daran war die falsche Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung nicht unschuldig. Es ist wirklich an der Zeit, die wirtschaftspolitischen Weichen neu zu stellen. ({9}) Aber die Bundesregierung ist selbstbewußt von ihren Rezepten überzeugt. Das hören wir immer wieder. Umdenken sei angezeigt, meint der Bundeskanzler. Jetzt kommt wohl endlich die geistig-moralische Wende, die er schon 1982 angekündigt hat. Wir müssen halt warten; wir brauchen Geduld. Den Gürtel enger schnallen, sei das Gebot unserer Zeit. Die Löhne sollen sinken, die Arbeitszeit soll steigen.

Not found (Kanzler:in)

Wir haben zu lange über unsere Verhältnisse gelebt. Aber Rudolf Scharping hat gestern gesagt: In Wirklichkeit wurden wir unter unseren Verhältnissen regiert, meine Damen und Herren. ({0}) Dem Daimler-Benz-Chef Reuter kann man ja nicht immer zustimmen, aber in diesem Falle stimme ich ihm zu, wenn er feststellt: Aktionismus und Holzhammermethoden beherrschen die Politik, statt ruhiger Hand und nüchterner Analyse Schuldzuweisung, Populismus statt überzeugender Visionen. ({1}) Wir stellen fest: Die Bundesregierung hat bei der Vereinigung der beiden Teile Deutschlands erhebliche handwerkliche Fehler gemacht. ({2}) Den weltwirtschaftlichen Herausforderungen, die seit Mitte der 70er Jahre sichtbar waren, wurde im großen und ganzen durch ideologische Sprüche begegnet, und ansonsten: „Weiter so!" Die Krise schrie bereits zum Himmel. Die konjunkturelle Depression trifft uns später und härter als andere Länder, zum Teil verschärft diese Bundesregierung durch ihre Politik die allgemeine wirtschaftliche Lage. Die Regierung will den Standort Deutschland im Jahre 2000 aus meiner Sicht mit den Rezepten der 80er Jahre sichern, alles schon einmal dagewesen. Das kann nichts werden. Über einzelne Vorschläge, Herr Rexrodt, können Sie mit mir durchaus reden. Aber wer behauptet, in der dargelegten Art und Weise würde das Problem der Massenarbeitslosigkeit in unserem Lande verringert, der ist ein Scharlatan. ({3}) Insofern ist dieses Papier über den Standort Deutschland ein gut durchdachtes Manöver der Regierung zur Ablenkung von den eigentlichen Problemen, mit denen wir zu kämpfen haben. Ich finde, es wäre an der Zeit, zunächst einmal die richtigen Fragen zu stellen, bevor man sich in Antworten versucht. Glauben Sie mir gerne, auch wir meinen, die Lohnnebenkosten müssen beachtet werden; sie sind ein Problem für unsere wirtschaftliche Entwicklung. Die Lohnnebenkosten sind zum Teil wegen Milliardenbelastungen der Renten- und der Arbeitslosenversicherung aus politischen Gründen von dieser Regierung unverantwortlich in die Höhe getrieben worden. Das ist ein Faktum. ({4}) Ich füge auch hinzu - passen Sie vielleicht einmal auf, Sie können noch dazulernen! - : Wenn es uns gelänge, die Lohnzusatzkosten um nur 10 % zu senken - das wäre schon ein großer Erfolg - ich kann Ihnen das privatissime vielleicht hinterher noch einmal erklären, Frau Wülfing -, würde das bedeuten, daß die gesamten Kosten eines Unternehmens um vielleicht 1 % gesenkt werden. Sie haben aber durch Hinnahme der Aufwertung der D-Mark im europäischen Maßstab oder sogar im Dollarraum dafür gesorgt, daß die Preise der deutschen Exporteure in Europa um mindestens 10 % und die Preise der Europäer im Dollarraum um mindestens 20 % erhöht wurden. Dagegen kann man überhaupt nicht ankürzen, soviel Kürzungen wären völlig unakzeptabel, weil sie den Konsens in unserer Gesellschaft kaputtmachen würden. Das machen wir nicht mit, meine Damen und Herren. ({5}) Ich sage Ihnen ehrlich: Um die Lohnnebenkosten zu senken, brauchen wir dringend eine Arbeitsmarktabgabe. ({6}) Wir brauchen eine stärkere steuerliche Belastung des Faktors Umwelt und auf diese Art und Weise zweitens eine Entlastung des Faktors Arbeit. ({7}) Wir sollten auch über die Einführung einer Wertschöpfungsabgabe nachdenken, um arbeitsintensive Betriebe zu entlasten, ({8}) und wir benötigen eine Stabilisierung der Ausgaben für die Krankenversicherung. Alles dies - Vorschläge der Sozialdemokraten - würde helfen, die Lohnnebenkosten zu senken. ({9}) Ich schätze, daß auf diese Art und Weise 150 000 bis 200 000 Arbeitsplätze in der privaten Wirtschaft zusätzlich geschaffen werden können. ({10}) Wir Sozialdemokraten haben grundsätzlich auch nichts gegen Deregulierung, Privatisierung, Subventionsabbau. ({11}) - Ich will meine Zeit nicht überstrapazieren. Wir haben gegen die verrückte Änderung des UWG, des Gesetzes gegen unlauteren Wettbewerb, votiert, als, Frau Sehn, Ihre Partei diese Verschärfung mitgemacht hat, die Sie jetzt, Herr Rexrodt, wieder abschaffen wollen, so habe ich wenigstens gelesen. Es ist eine perverse Situation. Denken Sie wirklich einmal darüber nach! - Es sind aber Schlagworte, die mit Leben erfüllt werden müssen. Wer aber glaubt, etwa wie Herr Rexrodt, mit der Abschaffung des Rabattgesetzes oder - völlig verrückt - der Privatisierung der Autobahn oder der zeitlichen Befristung von neuen Subventionen würden die Probleme der Gegenwart gelöst, der ist völlig auf dem Holzweg. ({12}) Auf diese Weise werden keine neuen Arbeitsplätze geschaffen, werden die langfristigen Strukturprobleme der Wirtschaft nicht verringert. Meine Damen und Herren, nicht die Verlängerung der Arbeitszeit oder die Senkung der Löhne sind die entscheidenden Maßnahmen zur Lösung unserer Zukunftsprobleme; die Probleme der Zukunft lösen wir vielmehr nur, wenn es gelingt, die Dynamik der Wirtschaft zu erhöhen, und nicht, wenn wir die Lethargie fördern. Wir brauchen Innovation durch mehr Kooperation. ({13}) Wir brauchen mehr Risikobereitschaft in den Unternehmen. Wir brauchen neue Produkte, neue Produktionsprozesse und die Erschließung neuer Märkte, auch in Südostasien, was bisher zum Teil durch Ihre unverantwortliche angebotsorientierte Politik verschlafen wurde, die dazu geführt hat, daß die Unternehmer schlafen können. ({14}) Die schlanke Produktion - ich würde lieber von „weak production'' sprechen - allein wird die deutsche Wirtschaft nicht wieder an die Spitze bringen. Es gibt nur die Möglichkeit, neue, zukunftsträchtige Arbeitsplätze zu schaffen und ausländische Konkurrenten abzuwehren. Wir brauchen also verstärkte Innovationen. ({15}) - Passen Sie einmal auf. Ich kann es nicht ausführlich erklären; die Zeit läuft mir sonst weg. Ich will Ihnen ein paar Vorschläge vortragen; Sie haben es ja eingefordert, Herr Rexrodt. Wir benötigen aus meiner Sicht erstens verstärkt eine zukunftsorientierte Strukturpolitik. Wir haben sie ja immer betrieben; Forschungs- und Technologiepolitik war zukunftsorientierte Strukturpolitik. Aber sie war leider völlig falsch. Wir benötigen eine Umgestaltung der Forschungs- und Technologiepolitik. Notwendig sind bessere, gesamtwirtschaftlich orientierte Entscheidungen. Daran hat es gehapert. Wir brauchen die Erarbeitung von Visionen; wir brauchen kein MITI, aber die Erarbeitung von Visionen. Notwendig sind auch mehr Kooperation in der Forschung und Entwicklung, aber natürlich anschließend auch Wettbewerb auf den Märkten. Aber was tut die Bundesregierung? Sie hat die Abschreibungsmöglichkeiten für Forschung und Entwicklung beseitigt. Ein eklatanter Fehler! Die Bundesregierung hat die Mittel für Forschung und Entwicklung in ihrer Regierungszeit erheblich gekürzt, nämlich real um 35 %. Eine völlig verfehlte Politik, meine Damen und Herren! ({16}) Wir benötigen zweitens ein umweltgerechtes Steuersystem. Fangen Sie doch endlich damit an, wenn auch Sie dieses wollen. Wo bleiben denn Ihre konkreten Vorschläge? ({17}) Der weltweite Wettlauf um Steuersenkungen muß endlich beendet werden. ({18}) Durch eine ökologische Steuerreform wäre die Umweltbelastung stärker zu besteuern. Dafür müßte der Faktor Arbeit entlastet werden. Beim neuen Steuersystem geht es aber auch darum, daß jemand, der investiert, weniger Steuern bezahlt, und daß derjenige, der konsumiert, keine weiteren, zusätzlichen Steuerentlastungen bekommt. ({19}) Die Bundesregierung hat die Weichen auf diesem Feld falsch gestellt. Durch eine konsequente Forcierung des Umweltschutzes in der Wirtschaft könnten noch einmal 700 000, vielleicht auch 800 000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Fangen wir doch endlich damit an! ({20}) Wir brauchen drittens eine vernünftige Politik für kleine und mittlere Unternehmen; denn hier werden zukunftsträchtige Investitionen getätigt und neue Arbeitsplätze geschaffen. Das Wirtschaftsministerium muß seine ideologischen Scheuklappen endlich ablegen und bereit sein, die Umsetzung des technischen Fortschritts in marktgängige Produkte in diesem Bereich verstärkt zu unterstützen. Doch die Bundesregierung hat die Lohnkostenzuschüsse für Forschung und Entwicklung und auch die Existenzgründungshilfen in den alten Bundesländern radikal zusammengestrichen. Diese Politik ist unverständlich. Sie paßt überhaupt nicht in die augenblickliche wirtschaftliche Landschaft. ({21}) Wir brauchen viertens auch eine neue Außenwirtschaftspolitik. Über die Probleme, die mit der Aufwertung der D-Mark verbunden sind, habe ich bereits gesprochen; wenigstens habe ich einige Anmerkungen dazu gemacht. Aber was tut diese Bundesregierung eigentlich, um die Wechselkurse in Europa oder weltweit stärker zu stabilisieren? ({22}) Von Ihren Initiativen habe ich wirklich überhaupt noch nichts gehört. Was hat die Bundesregierung denn bisher unternommen, um Sozial- und Umweltdumping in anderen Ländern zu verhindern? Hierbei geht es keinesfalls um zusätzlichen Protektionismus, Graf Lambsdorff, wie Sie immer meinen und wie einige behaupten. Das ist doch völliger Quatsch. Hierbei geht es um die Abstellung eklatanter Mißstände im sozialen und ökologischen Bereich, und zwar nicht nur bei uns, sondern weltweit. Das ist dringend geboten. ({23}) Von einem Abschluß der GATT-Verhandlungen noch in diesem Jahr könnte ein positives Zeichen für die weltwirtschaftliche Entwicklung ausgehen, aber die Bundesregierung erschwert den Abschluß durch unverantwortliches öffentliches Gerede. Ich habe diese Bundesregierung langsam im Verdacht, daß sie den Abschluß der GATT-Verhandlungen überhaupt nicht mehr anstrebt. ({24}) Die Bundesregierung beginnt jetzt, nach über zehn Jahren Regierungszeit, den Standort Deutschland zu einem Problem zu erklären. Ich habe dargelegt, was wir primär machen würden, um die Probleme zu verringern. Ich kann das gerne ausführlicher tun, aber die Zeit reicht nicht aus. Man fragt sich: Wo waren Sie denn eigentlich in den vergangenen Jahren? Der Bundeswirtschaftsminister listet in der Tat die verpaß14872 ten Gelegenheiten auf, die die F.D.P. in 20 Jahren Verantwortung für die Wirtschaftspolitik hatte. ({25}) Es ist übrigens völlig neu in der Politik, meine Damen und Herren, selbst in der Regierung zu sein und gleichzeitig eine Sonthofen-Strategie zu propagieren. Das ist in der Tat hervorragend. ({26}) Meine Damen und Herren, der bekannte Soziologe Ulrich Beck hat einmal festgestellt, ({27}) - Herr Hinsken, Sie sollten Ihre Informationen von Zeit zu Zeit auch einmal durch Lesen aufnehmen, nicht nur durch Zuhören; es wäre schön, wenn Sie das schaffen würden, ({28}) daß der Individualismus keine Einzelerscheinung mehr ist, sondern ein Massenphänomen. Der Individualismus in unserer Gesellschaft nimmt immer mehr zu und hat mittlerweile beängstigende Ausmaße angenommen. Nun kann man der Hoffnung anhängen, daß aus dem zunehmenden Chaos in unserer Gesellschaft irgendwann wieder die Ordnung erwächst. Solche Theorien gibt es. Ob und wann dies allerdings geschieht, weiß keiner. Was man jedoch weiß: Die Bundesregierung hat durch ihre Politik den Individualismus und damit das Chaos in unserer Gesellschaft gewaltig befördert. ({29}) Mir läuft ein Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke, wie die Scheidungsraten oder die Massenkriminalität in unserer Gesellschaft in der letzten Zeit gestiegen sind. Wir werden die Probleme der Zukunft nicht lösen, indem wir diesen Trend noch verstärken. ({30}) Ich glaube, die Weichen müssen neu gestellt werden. Wir benötigen - ich wiederhole - zukunftsweisende Visionen, wir benötigen mehr Kooperation, wir benötigen mehr Gemeinsinn und keine Ausweitung der Ellenbogengesellschaft. ({31}) Erlauben Sie mir noch ein Wort zur Energiepolitik. Ich bedauere, daß die Bundesregierung bis heute bei den Energiekonsensgesprächen alle Vorschläge der SPD zum verstärkten Energiesparen in Industrie, Verkehr und Gebäuden, zum Ausbau der KraftWärme-Kopplung und für Solarenergie abgelehnt hat. Wie wollen Sie mit uns zu einem Konsens kommen, wenn Sie sich dem ökologisch gebotenen Strukturwandel im Energiesektor auf diese Art und Weise verschließen? Wie wollen Sie mit uns zu einem Konsens kommen, wenn Sie nicht einmal Ihre Zusagen aus der Kohlerunde 1991 einhalten ({32}) und mangels eines Finanzierungsvorschlags für die Zeit nach 1995 der Steinkohle jetzt jede Zukunftsperspektive nehmen? ({33}) Ich warne Sie, meine Damen und Herren: An den Demonstrationen an Rhein und Ruhr ist schon einmal ein Kanzler gescheitert. Ich warne Sie vor einem heißen Herbst, diesmal an Ruhr und Saar, wenn Sie die kohlepolitische Vereinbarung von 1991 nicht einhalten sollten. ({34}) Im Stahlbereich wird die Situation von Tag zu Tag schlimmer. Alle Stahlunternehmen zusammen schreiben tagtäglich Verluste von 3 bis 4 Millionen DM. Hier hat jedoch nicht der Markt, hier haben die Politiker versagt. Sie haben mittlerweile Subventionen von 130 Milliarden DM in Europa genehmigt, und die deutsche Stahlindustrie hat kaum etwas abbekommen. Das ist ein Faktum, ({35}) aber Bundeswirtschaftsminister Rexrodt lächelt. Er lächelt und lächelt. Die Wirtschaft wird ja bekanntlich in der Wirtschaft gemacht, wie Herr Rexrodt meint. ({36}) Wir brauchen dringend eine einheitliche deutsche Position, um in Brüssel nicht über den Tisch gezogen zu werden. ({37}) Wir brauchen eine nationale Stahlkonferenz. Wenn wir diesen Wirtschaftsminister unvorbereitet nach Brüssel ziehen lassen wird er schuldig an dem zusätzlichen Abbau von 10 000 bis 20 000 Arbeitsplätzen allein in der Bundesrepublik Deutschland. ({38}) Meine Zeit ist abgelaufen, ({39}) wenigstens hier am Rednerpult. Ich wollte Ihnen noch sagen, was kurzfristig gemacht würde, wenn wir an der Regierung wären. Das kann ich leider nicht mehr. ({40}) Wir würden eine vernünftigere Politik als Sie betreiben. Die heutige Haushaltsdebatte zeigt leider wieder, daß im Regierungslager weder Einsicht, geschweige denn Umkehr zu erwarten ist. ({41}) Die Folgen einer solchen Politik hat vor kurzem ein Wirtschaftsforschungsinstitut sehr plastisch beschrieben: Am Ende dieser Politik, die zur Zeit von dieser Regierung im wirtschaftspolitischen Bereich betrieben wird, können wir alle verloren haben. Selbst die Interessenvertreter werden von einer falschen Wirtschaftspolitik nicht profitieren. Ich bin davon überzeugt, die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land werden das erkennen. Sie werden erkennen, daß diesmal die Sozialdemokraten die besseren Rezepte haben, ({42}) um die kurz- und mittelfristigen Probleme in der Wirtschaft zu lösen. Schönen Dank. ({43})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Kurt Rossmanith das Wort.

Kurt J. Rossmanith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001887, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Professor Jens, eines muß man Ihnen lassen: Ihre Ehrlichkeit. Sie haben am Schluß gesagt, an sich hätten Sie während Ihrer Rede etwas über die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der SPD sagen sollen, aber Sie könnten es nicht. Das ist richtig. Das liegt nicht an Ihren Fähigkeiten, sondern daran, daß die SPD keine Vorstellungen hat. Ich glaube jedoch, daß wir uns wenigstens darin einig sind, daß jetzt die Diskussion über den Wirtschaftsstandort Deutschland geführt werden muß und daß wir nicht nur Fragen stellen sollten, sondern daß auf diese Fragen auch Antworten erforderlich sind. Wir haben versucht, sie jetzt mit zu geben. Deshalb diese Diskussion und deshalb auch diese Auseinandersetzung im Rahmen der ersten Lesung des Haushalts 1994. Es ist nicht zu leugnen, daß wir uns im Moment in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation befinden und daß der Aufbau und die Integration der neuen Bundesländer die gewaltige Aufgabe schlechthin für uns darstellen. Diese Aufgabe kann nur dann bewältigt werden, wenn die momentane wirtschaftliche Phase überwunden wird und wenn wir wieder zukunftsgewandt und mit Zukunftsaussichten im wirtschaftlichen Bereich - die im Wachstum liegen - operieren und argumentieren können. ({0}) Dennoch ist die jetzige schwierige Situation, die niemand leugnet, noch lange kein Grund, eine immense Krise an die Wand zu malen, wie Sie, Herr Professor Jens, das zu tun versucht haben. Gerade die Punkte außerhalb des wirtschaftspolitischen Teils, die Sie angesprochen haben, zeigen auf, daß wir mit einem Horrorszenario die Leute nicht nur verunsichern, sondern geradezu zum Individualismus beitragen, zu den ganzen gesellschaftlichen Problemen, die Sie dargestellt haben. Deshalb fordere ich Sie und Ihre gesamte Partei auf, mit uns gemeinsam zu versuchen, den Konsens zu finden, keine Schwarzweißmalerei zu betreiben, sondern konkrete Lösungen anzustreben. Das bedeutet auch, darzustellen, welche Stärken der Wirtschaftsstandort Deutschland hat. Wir haben eine voll ausgebaute Infrastruktur und ein hervorragendes Kommunikationssystem. Wir haben ein Berufsbildungssystem, um das uns die ganze Welt beneidet, das allüberall in der Welt kopiert wird. Wir müssen sehr achtgeben, daß wir nicht Tendenzen folgen, die Sie uns schon in den 70er Jahren aufdrängen wollten und die das Berufsbildungssystem verwässern würden. Wir haben ein Sozialsystem, das materiell gegen die Risiken des Lebens absichert: Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit. Wir wollen jetzt mit dem Pflegeversicherungsgesetz das Risiko der Pflege zumindest materiell absichern. Ich hoffe, daß wir dabei mit Ihnen zu einer Einigung kommen. Wir haben eine hervorragende Wirtschafts- und Unternehmensstruktur: große, kleine und mittlere Unternehmen, einen kräftigen Mittelstand. Wir haben eine hervorragende Industrie und ein hochqualifiziertes Handwerk. Darauf müssen wir bauen. Hier müssen wir, Politik und Wirtschaft, gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten suchen, hier müssen wir Ziele mit vorgeben. Ich glaube - es wäre unehrlich, das nicht anzusprechen; das ist ein ganz wesentlicher Punkt und für mich das Kernproblem der Standortdiskussion -, daß die Ansprüche in den vergangenen Jahren in Deutschland stärker und schneller gestiegen sind als die Leistung, die wir erbringen konnten. Das gilt sicherlich nicht nur für Gewerkschaften und Unternehmen, sondern das gilt auch einen Gutteil für uns Politiker. Deshalb müssen wir sagen, daß die Standortprobleme, vor denen wir heute stehen, nicht allein durch die Einheit verursacht sind. Allerdings ist es keine Frage, daß eine Volkswirtschaft öffentliche Transfers in Höhe von rund 120 bis 140 Milliarden DM pro Jahr von den alten Bundesländern in die neuen Bundesländer zunächst einmal zu verkraften hat. Das ist mit ein Grund für die Schuldensituation, in der wir uns befinden. Herr Professor Jens, von einer Verschuldung des Bundes in Höhe von 1,2 Billionen DM Ende nächsten Jahres sind wir Gott sei Dank noch weit entfernt. Ich bin froh darüber, daß diese Zahl so nicht zutrifft. Ich bin andererseits natürlich alles andere als erfreut über die Tatsache, daß wir eine so hohe Verschuldung haben und in diesem Jahr möglicherweise wieder an die Grenze von 67,5 Milliarden DM bei der Nettoneuverschuldung des Bundes kommen werden. In der mittelfristigen Finanzplanung ist eine Reduzierung dieser Neuverschuldung auf eine Summe deutlich unter 40 Milliarden DM vorgesehen. Ich bin überzeugt, daß wir das schaffen werden. Es wird in den Haushaltsberatungen logischerweise mit eine Aufgabe der Haushälter sein, diese Summe von 67,5 Milliarden DM etwas zu senken. Das wird schwierig genug sein. Sie haben die Positionspunkte aufgezeigt. Worauf kommt es jetzt bei der Standortdiskussion eigentlich an? Was brauchen wir im Blick auf die Zukunft? Ich glaube, es kommt jetzt vor allem darauf an, daß wir den privaten Investitionen optimale Entfaltungsmöglichkeiten eröffnen. Das schaffen wir nicht, indem wir eine Arbeitsmarktabgabe fordern, indem wir weitere Steuern fordern, indem wir eine Wertschöpfungsabgabe und dergleichen fordern. Sie von der SPD haben hinsichtlich der Erfindung neuer Steuern und Abgaben eine unbegrenzte Fähigkeit. Hier sind Sie wirklich enorm erfinderisch. Sie haben keine Probleme, den Bürger mit immer neuen Schreckgespenstern oder tatsächlichen Steuererhöhungen zu verprellen. ({1}) Wir müssen verläßliche Rahmenbedingungen schaffen; das ist Aufgabe der Politik. Wir müssen möglichst rasch überzogene Regulierungen abbauen. Wir haben das, was die Deregulierungskommission erarbeitet hat, sehr rasch umzusetzen. Wir müssen uns staatlicherseits überall dort zurückziehen, wo private Lösungen wirtschaftlicher sind. Das trifft nicht nur auf den Bund oder die Länder, sondern in besonderem Maße auch auf die Kommunen zu. Schließlich geht es meines Erachtens auch darum, das Bewußtsein für mehr Eigenverantwortung und Gemeinsinn auf allen Ebenen und bei allen Beteiligten wieder besser auszuprägen. Ich sage das auch ganz deutlich im Hinblick auf die Tarifpartner. Hier spreche ich Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit an. Herr Professor Jens, Sie haben die Lohnzusatzkosten als wesentlich mit angeführt. Hier muß man allerdings sehen, daß etwa zwei Drittel der Lohnzusatzkosten tarifvertraglich geregelt sind. Nur etwa ein Drittel der Lohnzusatzkosten beruht auf Gesetzen. ({2}) Von der Wirtschafts- und Finanzpolitik erwarte ich deshalb in dieser Situation eine Doppelstrategie, die wir anstreben und die wir aufgezeigt haben, insbesondere auch im Standortsicherungspapier, das Bundeskanzler Kohl, Finanzminister Waigel und Bundesminister Rexrodt vorgelegt haben. Ich glaube, daß sich dieses Papier jetzt sehr gut einfügt und Rücksicht nimmt auf den Entwurf des Bundeshaushalts 1994, der uns logischerweise einen starken Konsolidierungsdruck abverlangt. Ich denke, daß dieser Sparkurs nicht nur erforderlich ist, sondern auch vor großen Subventionshaushalten nicht haltmachen darf. Wir haben ja bereits in diesem Entwurf für 1994 gerade bei den großen Subventionsempfängern deutliche Abstriche gemacht. Sparen ist eine Seite der Medaille; aber auch das Wirtschaftswachstum muß wieder entsprechend gefördert werden. Wir haben von der politischen Seite einen ganz wesentlichen Beitrag dadurch zu leisten, daß wir dieses Paket, das wir in dem Standortsicherungsbericht dargestellt haben, auch entsprechend umsetzen und in der Wirtschaft und bei den übrigen Beteiligten, also bei den Tarifpartnern, entsprechend verankern. Dies fordert sicherlich Entschlossenheit, aber auch Konsensbereitschaft. Wir von der Koalition werden uns dieser Aufgabe stellen - wirtschaftspolitisch insgesamt in die Zukunft gerichtet, aber insbesondere jetzt natürlich auch bei den Beratungen dieses Haushalts 1994. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Otto Graf Lambsdorff das Wort.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, und eine Konjunkturschwalbe auch nicht. Wir freuen uns über einen Anstieg von 0,5 % des Bruttoinlandprodukts im zweiten Quartal dieses Jahres. Wir sind in der Tat bescheiden geworden. Aber so bescheiden, Herr Jens, wie Sie es vorgetragen haben, sind wir denn doch nicht. Daß das Bruttosozialprodukt in den elf Jahren dieser Regierung gesunken sei, ist schlichter Unsinn. Von 1983 bis 1992 ist das Bruttosozialprodukt in Deutschland West um 28,8 % real gestiegen. ({0}) Ich sagte, meine Damen und Herren: Wir sind bescheiden geworden. Wären wir das doch auch bei unseren Ansprüchen an eben dieses Bruttosozialprodukt. ({1}) Es gibt ein neues Buch, das ich uns zur Diskussion und zum Studium empfehle, unseres früheren Kollegen Rolf Böhme - jetzt Oberbürgermeister in Freiburg - mit der wundervollen Überschrift „Je mehr wir haben, desto mehr haben wir zu wenig". Das ist die Grundhaltung bei vielen im Lande. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Graf Lambsdorff, der Abgeordnete Professor Jens möchte eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit, dieselbe zu beantworten?

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich kenne Ihre Großzügigkeit, daß Sie mir das nicht auf meine Redezeit anrechnen. Deswegen, bitte sehr.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Sie unterstellen das zu Recht. Bitte sehr.

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Graf Lambsdorff, können Sie mir erklären, warum Sie die Ansprüche an das gewachsene Bruttosozialprodukt jetzt eigentlich kräftig herunterschrauben wollen? Wäre es nicht viel sinnvoller, wir verwenden alle unsere Energie darauf, daß das Bruttosozialprodukt wieder wächst, und daß wir Investitionen und Innovationen fördern, um die Probleme, die wir zweifellos weltweit haben - aber schon seit den 70er Jahren -, besser lösen zu können?

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich denke, Herr Jens, wir müssen beides tun. Hoffentlich sehen es alle so bei Ihnen, meine Damen und Herren, daß wir Wachstum brauchen. ({0}) Wir müssen allerdings die konsumtiven Ansprüche an das Bruttosozialprodukt zurückführen, um für investive Möglichkeiten mehr Raum zu lassen. ({1}) Meine Damen und Herren, die F.D.P. warnt. Glaube keiner, daß wir bald mit Erleichterungen auf dem Arbeitsmarkt rechnen können. Er folgt der konjunkturellen Erholung immer mit großer Verzögerung. Jede Rezession hinterläßt leider einen höheren Sockel von Dauerarbeitslosigkeit. Glaube keiner, die konjunkturelle Besserung entbinde uns von der Aufgabe, unsere strukturellen Schwächen zu bereinigen. Die Aufgabe Standortsicherung bleibt - für den Staat, für die Unternehmen und für die Gewerkschaften. Kaum eines der Probleme ist bisher wirklich gelöst. Glaube keiner, wir könnten uns schon wieder neue Belastungen leisten. Reimen sich eigentlich unvermeidliche Kürzungen - ich sage: unvermeidliche - im Sozialbereich und die gleichzeitige Einführung der umlagefinanzierten Pflegeversicherung? Reimen sich die Schwierigkeiten des deutschen Exports und die Gefährdung der Uruguay-Runde des GATT? Reimen sich Entlassungen in der Automobilindustrie, bedenkliche Gefährdungen der mittelständischen Zulieferindustrie und Redereien über einen Benzinpreis von 5 DM pro Liter? Das sind alles Fragen, die unbequem sind und hier auch keinen Beifall erzeugen. Das verstehe ich sehr wohl. Aber wir müssen unsere Politik und unsere Aussage auf einen gemeinsamen Nenner bringen, der stimmen muß. ({2}) Die wirtschaftliche Situation insgesamt ist weiterhin durch erhebliche Anpassungsschwierigkeiten gekennzeichnet. Die westdeutsche Rezession belastet den Aufholprozeß in den neuen Bundesländern zusätzlich. In den 70er Jahren schien die Antwort auf solche wirtschaftlichen Schwierigkeiten recht einfach: Man hätte Steuersenkungen oder ein Nachfrageprogramm vorgeschlagen. Antizyklische Konjunkturpolitik hieß das Stichwort. Genau diese Rezepte der 70er Jahre, Herr Jens, fallen jetzt der SPD ein, natürlich ohne Steuersenkungen. Im Gegenteil: Herr Jens will Steuer- und Abgabenerhöhungen. Er spricht davon, der weltweite Wettlauf um Steuersenkungen sollte beendet werden. Wir sind im weltweiten Wettlauf um Steuererhöhungen an der Spitze, leider nicht im Wettlauf um Steuersenkungen. ({3}) Ihr Antrag, Herr Jens, mit aktiver Wirtschaftspolitik - so heißt er ja - im EG-Gleichklang die Rezession zu bekämpfen und langfristige Zukunftssignale zu setzen, verlangt eine Konjunkturinitiative und ein Zukunftsinvestitionsprogramm. Sehen Sie eigentlich nicht, daß schon seit Jahren ein groß dimensioniertes Nachfrageprogramm bei uns läuft? 1993 werden über 180 Milliarden DM als Transfers in die neuen Länder fließen, als Investitionsförderung und als soziale Flankierung der Umstrukturierung. Diese Transfers sind unerläßlich, um den Aufbau Ost rasch voranzutreiben. Aber sie bedeuten auch zusätzliche Nachfrage im Westen. Es sei dem Westen noch einmal gesagt: Es kann ihm auf Dauer nicht gutgehen, wenn es dem Osten auf Dauer schlechtgeht. Deswegen müssen wir zu diesen Leistungen auch weiterhin bereit sein. ({4}) Aber ein zusätzliches Zukunftsinvestitionsprogramm z. B. nach dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz würde die Nettokreditaufnahme des Staates weiter erhöhen. ({5}) Die öffentliche Neuverschuldung überstiege endgültig die inländische Ersparnis. Die Zinszahlung der öffentlichen Haushalte würde weiter in die Höhe getrieben. Schon bei jetziger Planung dürfte die Zinslastquote 1995 zwischen 15 und 20 % liegen. Der künftige Spielraum für gestaltende Politik würde rapide sinken. Gleichzeitig würden private Investoren durch überhöhte Zinsen zurückgedrängt. Aus der Sicht der F.D.P. gibt es zur Konsolidierung keine Alternative. Wer den Versuch, solide Finanzen wiederherzustellen, aufgibt, der nimmt bewußt die Gefährdung der Kapitalmärkte und der Währung in Kauf. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Graf Lambsdorff, Entschuldigung, wenn ich unterbreche.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sofort. - Die demotivierende Wirkung unsolider Haushaltspolitik auf Investoren wird häufig genug verkannt. Wer Vertrauen in- und ausländischer Investoren gewinnen will, der muß einen konsequenten, verläßlichen Konsolidierungskurs fahren. Der Finanzminister sagt uns, wenn die Konjunktur schlechter verlaufe, könne sich nur die Verschuldung erhöhen. Er baut also vor. Die Vorhersagen der nationalen und internationalen Konjunkturforschungsinstitute sprechen eigentlich alle dafür, daß das Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsförderungsprogramm eher zu kurz gesprungen sein könnte. Die vorgeschlagene Einsparung ist das Minimum dessen, was wir vornehmen müssen. Der Kollege Weng hat das gestern für die F.D.P. bekräftigt. ({0}) - Herr Jens, Entschuldigung.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte schön, Herr Jens.

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Graf Lambsdorff, ich glaube, Sie haben das Zukunftsinvestitionsprogramm der Sozialdemokraten nicht gelesen. Sie haben selber eben davon gesprochen, daß es sinnvoll ist, konsumtive Ausgaben zu kürzen und investive zu erhöhen. Können Sie sich vielleicht auch vorstellen, daß dies im privaten Sektor sinnvoll wäre, daß wir durch die Einführung einer Energiesteuer konsumtive Ausgaben senken und dieses Geld benutzen, um dringend notwendige ökologische Ausgaben in den neuen Bundesländern, die auch einen investiven Charakter haben, auf diese Weise zu finanzieren? Können Sie sich das vorstellen? ({0})

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrter Herr Jens, erstens: Ich pflege sorgfältig zu lesen, bevor ich über etwas rede. Das gilt vor allen Dingen für das, was Sie sagen - Sie sind der wirtschaftspolitische Sprecher, und wir sind gelegentlich Kontrahenten -; also lese ich das. Was Sie in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vor einigen Monaten zur Industriepolitik gesagt haben, war hochvernünftig. Was Sie heute hier dazu gesagt haben, war ebenso unvernünftig. Das widerspricht sich auch noch. Zweitens: Sie haben u. a. den Weg ins 21. Jahrhundert von Jacques Delors dahin gehend gelobt, er habe praktisch Ihr Programm abgeschrieben. Die sind beide schlecht und beide falsch. Drittens: Es fällt Ihnen immer nur ein, über neue Steuern irgendwelche wirtschaftspolitischen Maßnahmen einzuleiten, anstatt durch Umschichtung, d. h. Konsolidierung und Einsparen in richtigen Bereichen und Umschichtung auf die anderen Bereiche, Politik zu betreiben. ({0}) Am 2. September 1993 hat das Bundeskabinett den von Bundeswirtschaftsminister Rexrodt vorgelegten Bericht zur Zukunftssicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland beschlossen. Dieser Bericht ist eine solide Arbeit. Er ist kein Ablenkungsmanöver, wie Sie gemeint haben, Herr Jens. Er lenkt auf einen Teil der Probleme, mit denen wir es zu tun haben, sehr deutlich hin. Alle kann er gar nicht ansprechen; viele liegen in anderen Bereichen. Er zeigt, daß in Deutschland neue, dauerhafte, rentable Beschäftigungsmöglichkeiten - nicht immer nur der zweite Arbeitsmarkt - für Millionen von Arbeitsuchenden geschaffen werden können. Er nennt Maßnahmen, die auch kurzfristig wirken können. Ich muß allerdings sagen, wobei ich die Anregung von Herrn Jens aufgreife: Herr Bundesminister Rexrodt, bitte untersuchen Sie auch den Zusammenhang zwischen Scheidungsrate und Entwicklung am Arbeitsmarkt! Das scheint mir einer wesentlichen gutachtlichen Beurteilung zugänglich zu sein. ({1}) Der ursprüngliche Entwurf von Herrn Rexrodt ist in den Ressortabstimmungen leider etwas verwässert worden. Das ist der normale Vorgang; trotzdem bedauert das die F.D.P. Denn das Vertrauen in die deutsche Wirtschaftspolitik kann ja nur gestärkt werden, wenn die Politik bereit ist, klare Aussagen zu treffen. Besser wäre gewesen, sich als klares Ziel den Abbau der Staatsausgabenquote bis zum Ende dieses Jahrzehnts um etwa 5 % zu setzen, alle, nicht nur neue Subventionen grundsätzlich auf fünf Jahre zu befristen und degressiv zu gestalten, ({2}) klar zu sagen, daß der § 249 h des Arbeitsförderungsgesetzes eine Sonderregelung für die neuen Bundesländer ist und nicht auf Westdeutschland übertragen werden soll, ({3}) den Solidarzuschlag zu befristen und die Abschaffung der Gewerbesteuer als Ziel zu nennen. ({4}) Wichtig ist nun, daß sich die Bundesregierung nicht nur am Vorspruch des Berichts ergötzt; er ist sehr eingängig, man liest ihn gerne; das harte Holz kommt hinterher. Es muß jetzt gehandelt werden. Die F.D.P. wird darauf drängen, daß noch in dieser Legislaturperiode Maßnahmen umgesetzt werden. Über manche dieser Maßnahmen diskutieren wir schon seit mehr als zehn Jahren: Abschaffung des Vermittlungsmonopols der Bundesanstalt für Arbeit, Regelung für die Ausnahmebereiche im Kartellrecht, Neuregelung der Arbeitszeitordnung, Privatisierung der Post usw. ({5}) Es bewegt sich nichts in diesem Lande, und das ist eines unserer großen Probleme. ({6}) Gucken Sie mich nicht so strahlend an, verehrter Herr Jens, Sie sind zum großen Teil mit daran schuld. ({7}) Die Regierung warte dabei bitte nicht auf die Opposition! Die weiß ohnehin nicht, was sie will, das allerdings mit großer Entschiedenheit. ({8}) Herr Scharping hat uns das doch gestern hier vorgeführt. Wenn Sie genau hingehört haben, haben Sie bemerkt: Auf der einen Seite einsparen - war nicht so; mehr Geld ausgeben - war wohl so. Man mußte nur sehr genau hinhören. Mich erinnerte alles, was er uns hier erzählt hat, an „Faust", zweiter Teil, Mephisto am Hofe des Kaisers: „Welch Unheil muß auch ich erfahren! Wir wollen alle Tage sparen und brauchen alle Tage mehr." ({9}) Aber so sind unsere Probleme leider nicht zu lösen. Alle seriösen internationalen Institutionen - IMF, Weltbank, OECD - haben unterstrichen, wie wichtig der erfolgreiche Abschluß der GATT-Runde für die Weltwirtschaft, für ihre Erholung, für die Industrieländer und für die Entwicklungsländer - der Bundeskanzler hat das gestern zu Recht gesagt - und nicht zuletzt für die mittel- und osteuropäischen Länder ist. Der Generaldirektor des GATT, Peter Sutherland, hat in einer eindrucksvollen Analyse auf die Verbraucherinteressen an einem Abschluß der GATT-Runde hingewiesen. Wer das Blair-House-Agreement neu verhandeln will, nimmt das Scheitern der UruguayRunde des GATT in Kauf. Die F.D.P. hat die gestrigen Ausführungen des Bundeskanzlers zu diesem Thema mit großer Befriedigung gehört. Ich kann nur darauf aufmerksam machen, daß gestern abend einer der einflußreichsten und engsten Berater und Freunde von Präsident Clinton, nämlich Vernon Jordan, wenige Meter von hier noch einmal darauf hingewiesen hat, daß auch die Amerikaner erwarten, daß wir am Blair-House-Agreement nun nicht mehr herumfummeln, sondern daß es so steht und bleibt, wie es ist. Wenn die Uruguay-Runde scheitert, ist auch das jetzige GATT am Ende. Mache sich keiner irgendwelche Illusionen, daß die jetzigen Spielregeln dann noch durchgesetzt werden können! Wer die verheerenden Auswirkungen von Protektionismus studieren will, sehe sich bitte im Hamburger Hafen die schlimmen Folgen der EG-Marktordnung für Bananen an. Dort werden Unternehmen geschädigt, eingefahrene Absatzwege und Zulieferbetriebe zerstört, Arbeitsplätze vernichtet, leider auch in Rostock. Geholfen wird auch den AKP-Bananen nicht. Das Ganze ist ein protektionistischer Skandal der EG. Die Zeche zahlt der Verbraucher. Und dafür haben Abgeordnete von SPD und CDU im Europäischen Parlament auch noch gestimmt. ({10}) - Keine! Das ist so! Das wird man doch erwähnen dürfen! Manchmal stimmen selbst F.D.P.-Abgeordnete geschlossen, verehrte Frau Kollegin, und in diesem Falle taten sie das. ({11}) Das ist uns früher gelegentlich dank Ihrer Mithilfe schwerer gefallen. ({12}) Deutschland als Industrieland, Frankreich als Industrieland, die Europäische Gemeinschaft als Gemeinschaft westlicher Industrieländer - sie alle können nicht ihr Interesse an einem reibungslosen Welthandel mit Industriegütern und Dienstleistungen verkennen. Wer von uns sieht denn die Europäische Gemeinschaft schon als große Agrargesellschaft? GATT ist mehr als Psychologie! Der positive Abschluß der Uruguay-Runde hat realwirtschaftliche Folgen. Ohne GATT keine offenen Märkte; ohne offene Märkte weniger deutscher Export; bei weniger Export weniger Arbeitsplätze. So einfach ist das leider. Seien wir uns bitte einer Tatsache bewußt: Ich höre immer, die Politiker hätten soundso viele Arbeitsplätze geschaffen. Politiker haben ganz begrenzte Möglichkeiten, Arbeitsplätze zu schaffen, und unbegrenzte Möglichkeiten, Arbeitsplätze zu zerstören. Das ist die Wahrheit. ({13}) Der Abschluß der GATT-Runde ist ein Beitrag zu mehr Wachstum in Deutschland und in der Weltwirtschaft. Bei 5 Millionen Arbeitslosen, der höchsten Abgaben- und Staatsquote seit Jahrzehnten - das wird gar nicht bestritten, die Gründe dafür sind gut und richtig, denn es ist die Finanzierung der Wiedervereinigung, aber die Zahlen machen sich selbständig und sind ein Problem, unabhängig von den Gründen ihres Entstehens -, bei verringerter Wettbewerbsfähigkeit und verringerter Standortqualität - alles nachzulesen im Bericht von Herrn Rexrodt - sind Klartext und klare Ansprache gefordert. Das hat die Bundesregierung getan. Die F.D.P. bedankt sich dafür. Nur so und nur dann kann der Mut entstehen, den wir zur Überwindung des Mißmuts brauchen. Das müssen wir schaffen, und das werden wir auch schaffen, und die F.D.P. unterstützt die Bundesregierung auf diesem Weg. Ich bedanke mich. ({14})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Fritz Schumann ({0}).

Dr. Fritz Schumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002114, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach elf Jahren Koalitionsregierung können wir in der ökonomischen und sozialen Bilanz feststellen: Es waren die goldenen Jahre für die westdeutsche Industrie, vor allem für die Banken. Die Unternehmensteuern wurden gesenkt. Der soziale Wohnungsbau kam zum Erliegen, weil er politisch nicht gewollt war und finanziell der Spielraum durch Unternehmensteuersenkungen verpulvert wurde. Die Massenarbeitslosigkeit blieb trotz der Schaffung vieler neuer Arbeitsplätze. Man muß anerkennen, daß viele neue Arbeitsplätze geschaffen worden sind, aber an der Massenarbeitslosigkeit hat sich nichts geändert. Die deutsche Einheit wurde ohne ernsthafte Analyse der Gegebenheiten mit katastrophalen finanziellen und ökonomischen Entscheidungen vollzogen. Die westdeutschen Produktionsunternehmen, vor allem aber die Handelsunternehmen haben im Vollzug der deutschen Einheit noch einmal kräftig abgesahnt. Unter dem Strich stehen heute: höchster Schuldenberg, den die Republik je hatte, höchste Arbeitslosigkeit seit 1932, größte Wohnungsnot außer in der unmittelbaren Nachkriegszeit, größte Zahl von Sozialhilfeempfängern. In einem Einzelunternehmen hätten die Gläubiger bei einer solchen Bilanz schon längst die Führungsmannschaft ausgewechselt. Die Gläubiger des Unternehmens Bundesrepublik, sprich die Wählerinnen und Wähler, haben erst nächstes Jahr Gelegenheit dazu. Allerdings bin ich nicht ganz sicher, daß sie es tatsächlich tun werden. Viel wird davon abhängen, ob es Unternehmern und Politik gelingt, die nach 1981/82 sowie 1987/88 jetzt zum drittenmal begonnene Standort-Deutschland-Diskussion in ihrem Sinne erfolgreich zu führen. Tyll Necker, einer der ganz großen Verantwortungsträger in der Bundesrepublik, weil er als Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie diejenigen repräsentiert, die nebst den Banken wirklich Einfluß in der Gesellschaft haben, ist jedenfalls optimistisch. Vor dem CDU-Grundsatzforum sagte er wörtlich: „Wir müssen die Krise jetzt nutzen, denn jetzt sind die Menschen reif." Dr. Fritz Schumann ({0}) Reif wozu? Reif dazu, einzusehen, daß der sogenannte kleine Mann in den letzten Jahren über seine Verhältnisse gelebt hat, daß jetzt Schluß sein muß mit Arbeitszeitverkürzung, Lohnfortzahlung bei Krankheit, Rentenanpassung, Inflationsausgleich für Löhne usw.? Wie sagte doch der Vorstandsvorsitzende der Mercedes-Benz AG? „Die Zeiten der sozialen Sentimentalität sind vorbei! " Oder Bosch-Chef Marcus Bierich: Durch Maßnahmen, die lange Zeit als undurchführbar galten, kann jetzt das Umdenken in Gang gebracht werden, das wir brauchen, um unsere Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen. Wir bekommen unsere bisherige Konsensphilosophie am Weltmarkt nicht bezahlt. Damit wird das bisherige Gesellschaftskonzept in Frage gestellt. Mit anderen Worten: Man kann auf den sozialen Frieden verzichten. Weil es so etwas wie Systemkonkurrenz, sprich Sozialismusähnliches, in welch schlechter Ausführung auch immer, vor der Haustür nicht mehr gibt, braucht man niemandem mehr soziale Errungenschaften entgegenzusetzen. Nun ist es sicher immer gut, kritisch zu beleuchten, welche Stärken und Schwächen eine Volkswirtschaft besitzt, insbesondere weil angesichts wachsender Internationalisierung von Produktion und Kapital zwangsläufig Weltmarktabhängigkeit und Konkurrenz der nationalen Wirtschaftsstandorte zunehmen. Aber diese Diskussion sollte nicht darauf verkürzt werden, in Zeiten des wirtschaftlichen Rückgangs kapitalfreundliche Eingriffe in bestehende Verteilungsverhältnisse zu begründen. Berechtigte Sorgen um die Zukunft Deutschlands als Wirtschaftsstandort werden durch Kapital und Regierungsparteien nur mißbraucht. Dieser Mißbrauch ist auch gefährlich; denn er greift genau jene Bereiche an, die zweifellos zu den starken des Wirtschaftsstandorts zählen. Das traditionelle Hochlohnland Bundesrepublik war und ist deshalb attraktiv, weil neben der hohen Produktivität der Industrie, der Branchenvielfalt, der entwickelten Infrastruktur vor allem die soziale Konsensbildung und die Vermeidung schwerwiegender sozialer Konflikte die Wettbewerbsfähigkeit sicherten. Politische Stabilität, das Niveau von Ausbildung und Forschung und die Fähigkeit der Gesellschaft zur Modernisierung, ohne soziale Katastrophen zu erzeugen, sind auch künftig entscheidende Bedingungen für einen attraktiven, Direktinvestitionen auf sich ziehenden Wirtschaftsstandort. Die Strategie des Lohn- und Sozialabbaus zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit ist auch deshalb kontraproduktiv, weil Lohnsenkung, Arbeitsplatzabbau und Kürzung von Sozialleistungen nicht nur kostendämpfende Effekte haben; sie reduzieren auch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und wirken damit rezessionsverlängernd. Will Deutschland seine Stellung im internationalen Wettbewerb erhalten und verbessern, so ist das mit Billiglohn- und Sozialabbaustrategien unvereinbar. Gefordert ist vielmehr eine Strategie zur langfristigen Anpassung der deutschen Wirtschaftsstrukturen und Regulationsformen an neue Bedingungen. Dazu zählen die Einstellung auf sich vollziehende tiefgreifende Änderungen in der technologischen Basis der Produktion, die Überprüfung einer einseitig weltmarktorientierten Wachstumsstrategie und der Ausbau humaner Dienstleistungen sowie die stärkere Berücksichtigung umweltverträglichen Wirtschaftens. Ein solcher Wandel erfordert einen entsprechenden Einsatz von Kapital und finanziellen Fördermitteln, Innovationswillen und -fähigkeit sowie Vorleistungen von Forschung, Bildung und Management. Es setzt vor allem einen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Wandel voraus, der sich diesen neuen Herausforderungen gewachsen zeigt. Eine bloße Radikalisierung einer bislang erfolglosen Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik bietet keine Alternative. Im Grunde sollen über die Demontage sozialer Sicherungssysteme und Reallohnsenkung die sozial und einkommensmäßig schwächsten Schichten die Folgen dieser Politik bezahlen und eine bessere Kapitalverwertung ermöglichen. Es ist eine Politik, die vor allem auf Unterstützung bei Selbständigen und Beschäftigten mit Hoffnung auf stabile Beschäftigungs- und Einkommensverhältnisse baut und die Interessen eines wachsenden ausgegrenzten Teils der Gesellschaft soweit wie möglich ignoriert. Danke schön. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Werner Schulz ({0}) .

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man die Wirtschaftsaussichten durch die Brille der Börsianer betrachtet, dann zeichnen sich für die kommenden Jahre goldene Zeiten ab. Die Gewinnschätzungen für die börsennotierten Gesellschaften verkünden jedenfalls ab 1994 satte Gewinne, und das ohne wesentlich steigende Umsätze. Die Entlassungen in nahezu allen Branchen und die Kostensenkungsprogramme der Unternehmen zeigen Wirkung. Die Unternehmen sanieren sich auf Kosten der aus dem Arbeitsprozeß gedrängten Menschen. Das entspricht betriebswirtschaftlicher Logik. Doch was tut die Politik, was tut die Bundesregierung, um die gesamtwirtschaftlichen Folgen dieser zunächst einmal die Rezession verschärfenden Entwicklung aufzufangen? Voll und ganz das Falsche. Mit ihren massiven Eingriffen in das Sozialsystem liegt sie nicht nur verteilungspolitisch schief, sondern sie schwächt bereits im Vorfeld eine erwartete Konjunktur. Damit handelt sich der Staat wahrscheinlich Einnahmeausfälle ein, die höher als die Einsparungen sind. Damit bleibt der wirtschafts- und beschäftigungspolitische Horizont trotz erster Anzeichen eines Wiederanstiegs der Bruttoinlandsproduktion finster. Die ostdeutsche Wirtschaft befindet sich in einer tiefen Transformationskrise. Sie wurde, wie nicht anders zu erwarten war, vom brutalen Anpassungsschock der Währungsreform im Kern getroffen. Vor allem die ostdeutsche Industrie brach unter dem Werner Schulz ({0}) plötzlichen Wettbewerbsdruck fast vollständig zusammen. Den Totengräber stellt die Treuhandanstalt. Von schöpferischer Zerstörung kann keine Rede sein. Die westdeutsche Industrie ist immer schon da, wo sich Ansätze für den wirtschaftlichen Neuaufbau im Osten ergeben könnten. Die zyklische Krise der Weltkonjunktur hat mit einiger Verzögerung auch Deutschland erreicht. Aufgeschoben ist bekanntlich nicht aufgehoben. Der Vereinigungsboom, der zwei Jahre lang mit staatsfinanzierter Nachfrage aus dem Osten die Auftragsbücher im Westen Deutschlands gefüllt hielt, konnte die Weltrezession eine Weile draußen halten. Dann aber kam sie um so heftiger. Sie traf auf gewinnverwöhnte Unternehmen, die nun bei der Anpassung von Kostenstrukturen und Wettbewerbsfähigkeit der internationalen Konkurrenz hinterherhinken. Sie trifft auf einen Staat, der sich durch maßlose Schuldenmacherei selber die Mittel für eine antizyklische Konjunkturpolitik genommen hat. Die ohnehin zu wenigen Investitionsvorhaben der Industrie in Ostdeutschland werden trotz massiver Förderung angesichts der Rezession häufig zurückgestellt oder ganz storniert. Die internationalen Rahmenbedingungen, das Wegbrechen der Ostmärkte und die Verschärfung der welthandelspolitischen Auseinandersetzungen lassen eine schnelle Erholung nicht erwarten. Von den beiden erstgenannten überlagert, aber langfristig noch weit dramatischer ist die ökologische Strukturkrise. Nach wie vor ist die Wirtschaft weltweit und in Deutschland ökologisch völlig falsch gepolt. Immer noch beruht sie auf Ressourcenverschwendung und Energievergeudung. Nach wie vor betreibt sie Raubbau an der Zukunft. Doch statt den überfälligen ökologischen Strukturwandel mit den ohnehin notwendigen Veränderungen zugleich anzugehen, hat ihn die Bundesregierung auf den Sankt-NimmerleinsTag verschoben. Das alles schon immer gewußt zu haben nützt wenig. Vertane Möglichkeiten bleiben vertan. Eine Politik des wirtschaftlichen Neuaufbaus im Osten, des gleichzeitigen ökologischen Umbaus und damit der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit in Ost und West ist heute angesichts sinkender Staatseinnahmen und der ausgereizten Verschuldung der öffentlichen Haushalte weitaus schwieriger zu realisieren als noch vor einigen Jahren. Staatlicher Ausgabenpolitik, steuer- oder kreditfinanzierten staatlichen Nachfrageprogrammen sind enge Grenzen gesetzt. Um so größere Bedeutung besitzt heute ein strukturell wirksames Konzept. Was not tut, ist eine Wirtschaftspolitik, die die Überlebenschancen der noch vorhandenen industriellen Substanz in Ostdeutschland soweit irgend möglich wahrt und darüber hinaus den ohnehin sich vollziehenden Strukturwandel der Wirtschaft ökologisch und sozial gestaltet. Auch wenn jetzt das Steuer herumgeworfen wird - und das ist überfällig -, wird der wirtschaftliche Gesundungsprozeß mühsam, von Rückschlägen begleitet und langwierig sein. Ich denke, es sind Blender, die anderes behaupten. Auf dem Programm verantwortlicher Wirtschaftspolitik stehen zwei zentrale Aufgaben: zum einen der ökologische Umbau, das Umsteuern auf ein umweltverträgliches nachhaltiges Wirtschaften, und zum zweiten die Erhaltung bestehender und die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Beide Aufgaben können und müssen miteinander in Einklang gebracht werden. Der ökologische Strukturwandel der Wirtschaft muß von verschiedenen Seiten gleichzeitig in Gang gesetzt bzw. beschleunigt werden. Vordringlich und an erster Stelle zu nennen ist eine ökologische Reform des Steuersystems, die endlich dafür sorgt, daß den Entscheidungen von Unternehmen und Bürgern ökologische Preise zugrunde liegen, Preise, die die Wahrheit sagen. Sie wird die Verschwendung von Energie und Ressourcen eindämmen, umweltschädliche Produkte vom Markt verdrängen und umweltverträglicheren neue Chancen einräumen. Im Gegenzug dazu werden Mittel frei, um die Lasten der deutschen Einheit, die die Bundesregierung den Sozialversicherungen aufgebürdet hat, nun endlich durch Steuereinnahmen zu finanzieren. Hinzukommen muß eine entsprechende Forschungs- und Technologiepolitik, die die Entwicklung neuer, umweltangepaßter Produkte bis hin zur Markteinführung intensiv fördert. Die Forschungspolitik dieser Bundesregierung steht allerdings unter keinem guten Stern. Wenn die Zukunftsorientierung ihrer Politik an Volumen und Qualität der Forschungsförderung gemessen wird, dann ist es damit nicht weit her. Besonders bedrohlich ist der beängstigende Abbau industrienaher Forschung in den neuen Bundesländern. Schließlich steht eine ökologische Infrastrukturpolitik, namentlich Verkehrspolitik, auf der Tagesordnung. Gerade die Beschränkung des Autoverkehrs, die Beendigung von automobilem Wahn und Justin-time-Produktion werden zu massiver Beschleunigung des Strukturwandels führen. Der ökologische Strukturwandel wird den Wegfall überlebter und das gleichzeitige Entstehen neuer, zukunftsorientierter Arbeitsplätze zur Folge haben. Positiv kann diese Bilanz dann aussehen, wenn es gelingt, den Prozeß so zu gestalten, daß dabei die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft im Hinblick auf ihre Kosten gewahrt oder sogar verbessert wird und gleichzeitig ihre Produkte der Notwendigkeit weltweiten ökologisch orientierten Wandels besser als bisher entsprechen. Eine Politik der Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen bleibt dringend erforderlich. Notwendig ist und bleibt die Erhaltung der noch in Treuhandbesitz befindlichen Industrieunternehmen, ihre Weiterführung in öffentlicher Regie in Beteiligungsgesellschaften, Staatsunternehmen oder Management-Holdings - nicht um der Staatswirtschaft willen, sondern um die industrielle Aktivität im Osten nicht gegen Null sinken zu lassen und um die Voraussetzungen für Sanierung und Konversion als Alternative zu Verfall und Arbeitsplatzabbau zu schaffen. Die Diskussion über die Teilung der vorhandenen Arbeit und über die Arbeitszeitverkürzung muß ebenfalls unter den heute veränderten Bedingungen Werner Schulz ({1}) erneut in Gang kommen. Hier sind praktische Lösungen gefragt, die zu einer besseren Auslastung der Anlagen und gleichzeitig zu größerer Zeitsouveränität auf seiten der Arbeitnehmer führen. Schließlich soll die Verkürzung der Arbeitszeit zu erhöhter Beschäftigung beitragen und nicht die Abwanderung von Unternehmen aus Deutschland provozieren. Auch die erfolgreichste Beschäftigungspolitik kann die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik auf kurze Sicht nicht bannen. Deshalb bleiben auf absehbare Zeit eine intensive Arbeitsmarktpolitik und die Beibehaltung des sogenannten Zweiten Arbeitsmarktes unabdingbar. Ich komme nun zum „Bericht zur Zukunftssicherung des Standorts Deutschland", den Sie, Herr Rexrodt, vorgelegt haben. Ich finde, er enttäuscht auf der ganzen Linie. ({2}) Zunächst liest er sich wie der Mängelkatalog einer konservativ-liberalen Wirtschaftspolitik der letzten Jahre oder auch - wenn man weiter zurückgeht und die Reihenfolge Ihrer Minister sieht - der letzten 20 Jahre. Ich meine, Selbstkritik ist angebracht, vor allem bei so viel Selbstgefälligkeit, wie sie der Bundeskanzler hier gestern demonstriert hat. Es wäre zumindest der erste Schritt zur Besserung. Was dann im konkreten Teil kommt, sind eigentlich alte Hüte, die verkauft werden. Es findet trotz aller Umweltlyrik, die heutzutage zum Standardrepertoire gehört, eine Verringerung der Umweltstandards statt. Es wird eine Beschneidung der Bürgerrechte stattfinden. Die Energiesteuer wird auf die lange Bank geschoben. Im übrigen enthält dieses Papier eine völlig fruchtlose Kampfansage an Arbeitnehmer und Gewerkschaften. Was fehlt, ist eine zukunftsorientierte Wirtschaftspolitik. Sie ist da nicht zu entnehmen. Zumindest für uns ist deutlich geworden: Ein ökologischer Umbau ist mit einem Wirtschaftsminister Rexrodt nicht zu machen. ({3}) Obwohl auch bei Ihnen diese Vokabeln - und ich habe das Buch von Heiner Geißler aufmerksam gelesen -, diese Einzelfragen des ökologischen Umbaus bereits zum Standard, zu den Schlüsselbegriffen gehören, ist eine politische Mehrheit im Moment nicht absehbar. Da aber die Politik des ökologischen Umbaus ohne Alternative ist, wird sich diese politische Mehrheit über kurz oder lang finden lassen. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kurt Faltlhauser.

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000517, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich suche nach den Alternativen. Theo Waigel, der Bundesfinanzminister, hat gestern den Haushalt vorgelegt, der die Investitionen stärken, die Leistungsbereitschaft mobilisieren und die Konjunktur nach oben verstetigen wird. Eine Woche vorher hat das Kabinett den „Bericht zur Zukunftssicherung des Standorts Deutschland" vorgestellt, ich meine - im Gegensatz zu meinem Vorredner -, einen sehr guten Bericht, der insbesondere im Therapiebereich sehr konkret geworden ist; das unterscheidet ihn von anderen Berichten. Das sind die Vorgaben der Regierung und der Koalition. Jetzt suche ich nach den Alternativen der Opposition. Herr Scharping hat gestern gesagt: Wir bauen auf eine bessere Alternative. Herr Jens fügt hinzu: Wir haben die besseren Rezepte. Auch der kritische Analytiker wird feststellen, daß wir sie nicht gehört haben. ({0}) Es gab bestenfalls Insellösungen. Der Fraktionsvorsitzende Schäuble hatte gestern recht, als er meinte: Der Diskussionsbeitrag von Herrn Scharping war eher ein Zwischenbericht über die Diskussion innerhalb der SPD. ({1}) Da aber die SPD eine Programmpartei ist, habe ich die Alternativen wenigstens auf dem Papier, in einem Programm gesucht. In der Tat gibt es etwas ganz Neues: 6. September, Sensationspapier, indiskretioniert von der „Welt" eine Woche vorher, wie es üblich ist. Da habe ich nachgeschaut. Erstaunlich ist an vielen Stellen des Papiers der „Arbeitsgruppe Wirtschaft und Finanzen beim Parteivorstand der SPD " die Sprache. Hier hat offenbar ein Lernprozeß stattgefunden. Man sieht, daß sich die SPD im Vorfeld der großen Wahlauseinandersetzung im Jahr 1994 der Koalition zumindest sprachlich annähern will. Da heißt es z. B. - ich darf aus diesem neuesten Papier der programmatischen Alternative zitieren -: Wir brauchen eine gesamtdeutsche Strategie für Modernisierung, Beschäftigung und ökologisches Wachstum. Wohlstand, Arbeitsplätze und soziale Sicherung können nur dann dauerhaft gewährleistet werden, wenn die deutsche Wirtschaft international wettbewerbsfähig ist. ({2}) Das klingt wie ein Ausschnitt aus dem Standortprogramm, das der Wirtschaftsminister vorgelegt hat. Das Ganze stellt sich aber als eine Art marktwirtschaftlicher Triumphbogen heraus, hinter dem sich die alten Elendsviertel sozialdemokratischer Lenkungssehnsüchte verbergen. Beispiel: Privatisierung, einer der Kernstichpunkte für die Aufgabe, die uns bevorsteht. Da heißt es - für Kenner: auf Seite 8 dieses Papieres -: Aufgaben, die zur Zeit vom Staat erfüllt werden, die aber von Privaten ebenso oder besser wahrgenommen werden können, sind zu privatisieren. Hervorragend! Das ist auch unser Ziel. Beifall! Gleichzeitig lehnen Sie aber in dem Begleitpapier die Privatisierung der Bundesautobahn rundum ab. Gleichzeitig drohen Sie mit dem Scheitern der Postreform II. Gleichzeitig kritisiert hier der Sprecher der SPD für Wirtschaftspolitik, Herr Jens, in einer Presseerklärung vom 24. Juni, daß die Privatisierungsabsichten der Bundesregierung ein gigantisches Monopoli sei, das schmerzliche Folgen für die Bürger haben werde und bei dem Volksvermögen verschleudert werde. Nicht zuletzt erschweren Sie gleichzeitig die weitere Privatisierung von Unternehmen in den neuen Bundesländern durch die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses über die Treuhandverkäufe. Das ist eine der negativsten Entscheidungen, die wir zu Lasten der Bürger in den neuen Bundesländern treffen können. ({3}) Wenn ein Investor - das wissen Sie doch selbst - gewärtig sein muß, daß eine Betriebsübernahme auf dem offenen politischen Markt ausgetragen und debattiert wird, wird er sich zurückhalten und sein Geld behalten oder bestenfalls in Oberrohr investieren, wo besonders sicher investiert werden kann, weil dort die Seriosität des Finanzministers zu Hause ist. Und der engagierte Mitarbeiter der Treuhand wird sich jeden weiteren Schritt dreimal überlegen, bevor er einen Verkauf wagt; denn ein derartiger Verkauf ist ein Wagnis. ({4}) - Frau Kollegin, Sie waren gestern sehr lange dran. Ich hatte nach der Rede des Fraktionsvorsitzenden eigentlich den Eindruck, Sie würden sich heute nicht mehr in diesen Raum trauen. Ich bin erstaunt, daß Sie da sind. Bitte schön, ich nehme gerne Ihre Frage entgegen. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte schön.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Faltlhauser, meine Frage lautet: Ist es, nachdem viele Menschen in Ostdeutschland und nicht nur dort das Gefühl haben, daß durch Fehler der Treuhand oder/und Fehler der Bundesregierung Arbeitsplätze in Ostdeutschland zerstört worden sind, obwohl sie hätten erhalten werden können, nicht richtig, daß wir einen Untersuchungsausschuß verlangen, der genau das prüfen soll? Warum haben Sie eigentlich vor ihm Angst, wenn Sie behaupten, es sei immer alles mit rechten Dingen zugegangen?

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000517, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, es besteht kein Zweifel - jeder im Raum weiß es -, daß in Einzelfällen Dinge passiert sind, die nicht richtig sind. Diese müssen verfolgt werden, meinetwegen sogar strafrechtlich. Es ist etwas ganz anderes, wenn Sie jetzt den schwierigen Prozeß des Abschlusses der Arbeiten der Treuhandanstalt bis spätestens Ende 1994 mit öffentlichem Klamauk begleiten. Dadurch werden Sie das Ende der Privatisierung eher erschweren. Ich meine, wir sollten das zunächst einmal den rechtlichen Prüfungen überlassen und nicht dem Klamauk der politischen Auseinandersetzung hier in diesem Bundestag. ({0}) - Frau Kollegin, ich unterstelle - und das ist sehr wohlwollend -, daß eine derartige Untersuchung von seiten der Opposition besonders seriös vorgenommen wird. Gleichwohl wird es so sein, daß dann aus diesen Fakten draußen natürlich Klamauk gemacht wird, ({1}) und das ist das, was ich meine. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Dr. Faltlhauser, es gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage.

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000517, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, lassen Sie mich fortfahren. ({0}) Durch diesen Untersuchungsausschuß werden Sie das Gegenteil von dem erreichen, was Sie in Ihrem Papier programmatisch ankündigen. ({1}) Sie werden blockieren. Anstatt Initiative und Beweglichkeit zu schaffen, werden Sie zu Verkrustungen und Erstarrungen kommen. ({2}) Ein zweites Beispiel aus dieser programmatischen Vorgabe, die wir ja von Herrn Scharping nicht gehört haben: Wettbewerbsfähigkeit. Im Papier heißt es: In Politik, Wirtschaft und Gesellschaft muß ein innovationsfreudiges Klima geschaffen werden. Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten der deutschen Wirtschaft müssen beseitigt werden. Ja, wunderbar! Aber Frau Matthäus-Maier und Herr Poß haben die Tarifabsenkungen im Standortsicherungsgesetz monatelang als Steuergeschenke für die Unternehmen diffamiert. ({3}) Die Lohnnebenkosten wollen Sie in keiner Weise mit senken; da sind Sie nicht mit dabei. Die konkreten Sparvorschläge dieser Bundesregierung und des Bundesfinanzministers lehnen Sie ab. Das nächste Beispiel ist die Bürokratisierung, die uns alle bewegt. Mit Freude lese ich auf Seite 9, daß Sie eine Entbürokratisierung auch haben wollen - weg mit den bürokratischen Hemmnissen. Die Bundesregierung hat ja mit dem Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz bereits ein erstes gutes Stück auf dem Weg zur Entbürokratisierung insbesondere bei Planungsvorhaben geschafft. Aber wie sieht denn die Praxis draußen aus, etwa in der Landeshauptstadt München, aus der ich komme, in der am kommenden Sonntagabend ein Wechsel von einem SPD-Oberbürgermeister zu einem CSU-Bürgermeister beklatscht werden kann? ({4}) Da haben wir jetzt 15 Jahre Debatte um eine Autobahnumgehung. Jetzt ist die Planfeststellung vorbei. ({5}) Jetzt ist also endlich die Planfeststellung vorbei; damit könnten die Bürger endlich aufatmen, weil nicht weiter die Leute, die von Norden bis nach Sizilien reisen, durch die engen Straßen der Stadt fahren. Was aber macht die dortige SPD gemeinsam mit verantwortungslosen Spinnern von den GRÜNEN? ({6}) Sie klagt gegen den Planfeststellungsbeschluß. Oder soll ich Ihnen die herzzerreißende Geschichte aus meinem Wahlkreis im Münchner Westen schildern, in dem die Stadt für 35 Millionen DM ein Bundesbahngrundstück für die Industrieansiedlung kauft, das heute 100 Millionen DM wert ist, wobei aber die eigene Stadtverwaltung das Grundstück fast gleichzeitig zum Naturschutzgebiet, zum Trockenbiotop erklärt, in dem es einen seltenen schwarzen Käfer, den Zwergufersandahlenläufer - woanders gibt es ihn auch, aber da besonders - gibt. ({7}) Der hat jetzt die Vorfahrt vor Investitionen! Da hat doch der Irrsinn Methode! ({8}) Das ist die Praxis von rot-grün draußen bei der „Entbürokratisierung". Peter Gauweiler wird das ab Sonntag in München ändern, aber für Deutschland wäre diese Art von rot-grüner Blockade eine Katastrophe; daran sehen wir das. ({9}) Meine Damen und Herren, bei der Technologieförderung ist es ähnlich. Sie formulieren zwar Ziele, aber in die Praxis setzen Sie nichts um. Das gilt z. B. bei der Kernenergie, bei der nächsten Generation unserer Kernkraftwerke, oder bei der Raumfahrt. Sie sagen überall Nein und blockieren. Herr Jens, seien Sie im übrigen beim Energiekonsens zurückhaltend. Ich glaube, daß wir auf einem guten Weg sein können, aber das kann man nicht am offenen Markt austragen. Ich glaube nicht, daß man die Kumpel im Ruhrgebiet beunruhigen muß. Ich ziehe das Resümee aus der Beschreibung Ihrer Alternativen, die uns schriftlich vorliegen: ein sprachlicher Blumenstrauß, aber hinter dem Schmuck die alten Denkweisen, ähnlich wie Walter Hamm in der „FAZ" vor zwei Tagen geschrieben hat - ich darf ihn zitieren -: Scharping und manche andere, die der Bundesregierung fälschlich blinden Glauben an den Markt vorhalten, gehen ihrerseits offensichtlich von einem blinden Glauben an die überlegenen unternehmerischen Fähigkeiten staatlicher Organe aus. ({10}) Gerade jetzt, da die wirtschaftliche Entwicklung schlechter ist, habe ich den Eindruck, daß von Tag zu Tag Ihre Neigung zum Interventionsimus, zum schnellen Handeln oder - wie Graf Lambsdorff sagt - zum Schaffen von Arbeitsplätzen, durch den Staat natürlich, zunimmt. Markt ist keine Schönwetterveranstaltung. Die marktwirtschaftlichen Prinzipien müssen durchgehalten werden, auch in schlechten Zeiten; denn was Sie in einem Monat schnell an Reglementierungen einführen, werden Sie in einer ganzen Legislaturperiode dann nicht mehr los. ({11}) Deshalb fordere ich Sie auf: Legen Sie Ihre Papiere, Ihre Programme und Ihre Ideologie zur Seite. Gehen Sie mit uns pragmatisch in einer schwierigen Situation vor. Es sind Ansätze von Gemeinsamkeit da. Gehen Sie über die sprachliche Schönung marktwirtschaftlicher Dinge hinaus, und ziehen Sie auch die Schlußfolgerung mit uns: Schluß mit der Ideologie. Setzen Sie auf praktischen Fortschritt für die Bürger in unserem Land - mit dieser Koalition und mit dieser Bundesregierung. Ich bedanke mich. ({12})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Dr. Faltlhauser, den Ausdruck „verantwortungslose Spinner" möchte ich als unparlamentarisch zurückweisen. ({0}) Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Ernst Schwanhold.

Ernst Schwanhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002122, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach dieser Episode des bayerischen Wahlkampfs, nach diesem kurzen Zwischenspiel will ich wenigstens einen Gedanken aufgreifen, den Herr Faltlhauser hier vorgetragen hat, den er aber nach meiner Meinung völlig verfälscht hat. Ist nicht eines der Probleme des Standorts Bundesrepublik Deutschland auch geworden, daß wir keinen Konsens über die industrielle Zukunft dieses Landes zwischen den gesellschaftlichen Gruppen - zwischen Unternehmen, Gewerkschaften, Kirchen, aber eben auch Umweltverbänden - mehr herstellen? Ich sage Ihnen: Mit diesem Geschwätz, mit dieser Beschimpfung von den „verantwortungslosen grünen Spinnern" werden Sie den gesellschaftlichen Konsens nicht herbeiführen, ({0}) sondern Sie werden den Dissens fördern und damit den Standort Bundesrepublik Deutschland insgesamt nachhaltig schädigen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich nehme an, daß Sie bereit sind, eine Zwischenfrage zu beantworten.

Ernst Schwanhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002122, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich lasse keine Zwischenfragen zu, weil meine Zeit relativ knapp ist. ({0}) - Ich lasse keine Zwischenfragen zu.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, das ist ihr gutes Recht.

Ernst Schwanhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002122, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich nehme dafür noch nicht einmal eine so unverschämte Begründung in Anspruch, wie sie Herr Schäuble gestern gegenüber Frau Matthäus-Maier verwendet hat, ({0}) obwohl sich diese unverschämte Begründung gegenüber manchen von Ihnen auch durchaus anbieten würde. ({1}) Man bräuchte sich als Oppositionspolitiker eigentlich keine eigene Rede zu schreiben. Man könnte den Zettelkasten der Presse nehmen, um Ihnen zu sagen, Herr Rexrodt, welche Fehler im wirtschaftlichen Handeln, in der Wirtschaftspolitik in der Vergangenheit gemacht worden sind. Ich will dies nicht tun. Dennoch will ich Ihnen ein Zitat nicht ersparen. Der „Münchener Merkur" ({2}) - Herr Hinsken, aus Ihrer Region - schrieb am 30. August - ich zitiere wörtlich - folgendes: Das Bundeswirtschaftsministerium, einst Vorzeigeadresse Bonner Regierungen, droht mehr und mehr zu verkommen. Wer gedacht hatte, der F.D.P.-Erbhof habe unter Jürgen Möllemann den Nullpunkt erreicht, sieht sich einer alten Erfahrung gegenüber: Ein miserabler Zustand kann noch miserabler werden. Diese Situation ist erreicht. Nie war das Ansehen des Bundeswirtschaftsministeriums in allen Gruppen der Bevölkerung so schlecht. Unternehmer, Verbraucher, Gewerkschaften - alle gesellschaftlichen Akteure - und selbst die wirtschaftswissenschaftlichen Institute stellen dieser Regierung in der augenblicklichen Situation ein vernichtendes Urteil aus. ({3}) Es hat sich Investitionsattentismus in der Wirtschaft auf Grund falscher Signale und falscher wirtschaftspolitischer Entscheidungen breitgemacht. Dies kann man wohl an vier Aspekten deutlich machen. Erstens. Wir haben noch immer viel zu hohe Zinsen am kurzen Ende. Dazu höre ich keine Äußerung aus der Regierung. ({4}) Zweitens. Wir haben eine Verunsicherung des Binnennachfragemarkts als des fast einzigen wirtschaftspolitisch stabilen Instruments der Nachfrage zur Zeit dadurch, daß Sie in bestimmten Bereichen - insbesondere in Haushalten, in denen 100 % des Einkommens in den Konsum gehen - für nachhaltige Verunsicherung durch das Geschwätz sorgen, welches der Bundeswirtschaftsminister zu den Sozialkürzungen vornimmt. Drittens. Dies führt zu einem Stimmungstief. ({5}) Viertens. Die Fiskalpolitik ist nicht stabilitäts- und konjunkturgerecht. Daraus ist der Investitionsattentismus abzuleiten. Deshalb werden wir auch kaum Binnennachfragekräfte und Binneninvestitionen so stärken, daß wir eigene Aufschwungkräfte organisieren können, denn von außen kommen sie zur Zeit nicht. ({6}) Ich will nicht darüber räsonieren, welcher Anteil Konjunkturkrise und welcher Anteil Strukturkrise ist. Aber fest steht für uns alle gemeinsam ({7}) - völlig klar, Herr Hauser, so war es auch gemeint -, daß die Produkte, die in der Vergangenheit am Weltmarkt auf Grund höherer Qualität zu plazieren waren und damit zum Erreichen guter Preise ausreichend waren, nicht mehr die Vorteile bieten wie in der Vergangenheit, weil die Abstände zu den Produkten aus Schwellenländern und Ländern, die vor unserer Haustür liegen, geringer geworden sind. Wir haben also in der Vergangenheit keine Produktinnovation betrieben. Dies haben Unternehmen zu verantworten; dies haben aber auch staatliche Rahmendaten und begleitende Gesetzgebung von seiten dieser Regierung, die seit zwölf Jahren dafür verantwortlich ist, zu verantworten. Ich will den Bereich der ökologischen Produkte nennen. Die chemische Industrie ist ja ein Beispiel dafür. Wir verlieren bei den Massenkunststoffen. Dazu erstens: Wer meint, man könne durch den Abbau von 1 %, 1,5 % oder 2 % der Kosten 25 % der Währungsdisparitäten, wie wir sie gegenüber den skandinavischen Ländern haben, ausgleichen, ist völ14884 lig auf dem Holzweg. Sie kennen zweitens die Lohnskala: In den beiden Nachfolgestaaten der Tschechoslowakei 10 % dessen, was wir haben. Ist es ernsthaft Ihr Weg, dort in diese Richtung zu gehen und einen Wettlauf der Löhne vorzunehmen? Nein, es geht nur mit intelligenten, besseren Produkten. Wir haben nur die Chance, diese Produkte im Bereich der Ökologie, der Zukunftsverträglichkeit, ressourcenschonend, kreislauffähig, stofflich wiederverwertbar, produktwiederverwertbar herzustellen. Hier gibt es keine Vorsprünge. Im Gegenteil: Japan macht uns vor, wohin dieser Weg geht. Daß dies bei uns nicht initiiert wird, hängt auch damit zusammen, daß diese Regierung irgendwelchen Grundlagen- und Großforschungsinstituten nachhängt und diese bezuschußt, weil sie zufälligerweise um München herum sitzen, ({8}) anstatt industrienahe Forschung anwenderorientiert zu fördern, die den Klein- und Mittelunternehmen den Innovationsschub bringt. ({9}) Dies ist einer der entscheidenden Fehler dieser Regierung, die dafür sorgt, daß wir in der Zukunft dem Weltmarkt hinterherlaufen und in ein Fahrwasser hineinkommen, in dem wir uns, wie ich befürchte, nicht halten werden. Dann brauchen wir über Sozialabbau nicht mehr zu reden, sondern das wird dazu führen, daß wir Arbeitslosenzahlen bekommen, die das Gesellschaftssystem insgesamt in Frage stellen. Deshalb fordere ich Sie auf: Nehmen Sie endlich diese ökologische Initiative auf, setzen Sie Schwerpunkte, stärken Sie den Forschungshaushalt und setzten Sie die Rahmendaten so, daß die Wirtschaft in der Lage ist, diese Produkte auch zu entwicklen. ({10}) Ich könnte Ihnen am Beispiel des Maschinenbaus und der Automobilindustrie vor Augen führen, daß es - etwa im Vergleich zu Japan - nicht an den Löhnen und den Arbeitszeiten liegt. Die deutsche Wirtschaft hat auch eine mangelnde Energie- und Stoffeffizienz, und zwar dergestalt, daß bei der Produktion eines japanischen Autos 300 kg Sonderabfall anfallen und bei der Produktion eines deutschen Autos rund 800 kg. Allein darin liegen Kosten, die sich auf 2 000 bis 2 500 DM pro Kraftfahrzeug summieren. Und Sie reden hier über die Kürzung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe! Ich finde dies schäbig, weil das an den Kernproblemen der deutschen Wirtschaft vorbeigeht. Dazu hätte ich mir von Ihnen etwas gewünscht, Herr Rexrodt! ({11}) Tun Sie, wenn Sie von Deregulierung reden, nicht so, als wollten Sie Umweltstandards nicht abschaffen. Ich glaube aber, eben den Beweis angetreten zu haben, daß hohe Umweltstandards intelligente Produkte initiieren, die sich auch am Weltmarkt absetzen lassen. Insofern lassen Sie uns darüber nachdenken, welche Umweltstandards wir benötigen, die innovativ sind und der Industrie Handlungsspielraum eröffnen. Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß „end of the pipe" zu teuer wird und uns nicht weiterbringt. Da bin ich mit Ihnen einer Meinung. Aber ich bin ebenso fest davon überzeugt, daß wir Produkte, bei denen wir von vornherein Umweltrisiken vermeiden, volkswirtschaftlich und auch betriebsökonomisch außerordentlich sinnvoll produzieren können. Und nur sie werden uns einen Markt geben, denn End-of-the-Pipe-Technologie heißt nicht wirklich Vermeidung von Umweltproblemen, sondern heißt nur Überführung von einem Medium in das andere, und es ist keine wirkliche Verbesserung, die Sie dadurch vornehmen. ({12}) - Dann setzen Sie doch endlich Zeichen, wenn niemand widerspricht! Versuchen Sie doch, diesen Weg zu gehen! Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, Ihnen noch zu belegen, was Umweltschutz allein bei uns schon an Arbeitsplätzen geschaffen hat. Das sind rund 500 000. Wir haben zur Zeit nur einen Wachstumsmarkt: den Bereich der Umwelttechnologie. Es gibt laut OECD-Bericht eine Nachfrage von 40 bis 50 Milliarden DM innerhalb der Bundesrepublik, in Europa von 200 Milliarden DM pro Jahr, weltweit deutlich darüber. Wir haben dort bislang einen Anteil von 16 % gehabt und lagen damit deutlich höher als die USA und Japan. Wenn es uns nicht gelingt, eine EG-Harmonisierung zu erreichen, droht der Verlust dieses hohen Anteils und droht der Verlust des Ausbaus dieses Marktsegments für die deutsche Wirtschaft. Ich würde es begrüßen, wenn Sie Ihre Energie, Herr Wirtschaftsminister, auf die Harmonisierung in Europa richten würden, statt sich in Geschäftsfelder der Politik hineinzubegeben, von denen Sie keine Ahnung haben, nämlich die Sozialpolitik. ({13}) Ich möchte meine Rede mit einem kurzen Zitat aus dem „Hamburger Abendblatt" vom 26. August 1993 beenden: Fünfzig Prozent der Wirtschaft sind Psychologie. Mit der Katastrophenstimmung, die er - Rexrodt in Deutschland verbreitet, lassen sich weder Selbstheilungs- noch andere Kräfte mobilisieren. Eigentlich wäre dem nichts hinzuzufügen, wenn es nicht noch Herrn Blüm gäbe, der in der „Zeit" vom 3. September 1993 wie folgt zitiert wird - ich kann Ihnen das nicht ersparen; er redet von Wirtschaftsminister Rexrodt, seinem Kollegen im Kabinett -:

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Und Sie nehmen jetzt Ihren nachfolgenden Kollegen die Redezeit. Ich muß Sie darauf aufmerksam machen.

Ernst Schwanhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002122, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es dauert nur noch zehn Sekunden. - Er sagte: Dünnbrettbohrer, der die Dinge nicht einmal ordentlich durchknetet, ehe er sie nach außen bringt. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Rainer Haungs das Wort.

Rainer Haungs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000830, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu den Vorrednern der Opposition will ich nur das eine sagen: Hier verbreitet niemand Katastrophenstimmung, sondern wir versuchen, gangbare Wege in einer sich wandelnden Welt aufzuzeigen und die Soziale Marktwirtschaft so anzupassen, daß die Unternehmen die Rahmenbedingungen haben, um das Hauptziel in den nächsten Jahren erreichen zu können: für unsere Bürger rentable, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen. ({0}) Alles andere sind Nebenbemerkungen. Es ist per saldo unwichtig. Nur daran wird man uns messen. Deshalb ist es gut, daß der Wirtschaftsstandort Deutschland jetzt einer intensiven kritischen Prüfung unterzogen wird, und dies nicht nur bei uns, sondern vor allem bei den Unternehmen in der ganzen Welt, die auf ihrer Suche nach attraktiven Standorten viele Möglichkeiten haben. Uns muß daran gelegen sein, daß sowohl die deutschen Unternehmen als auch alle Unternehmen in der Welt bei der Suche nach einem Produktionsstandort die Chance haben, sich in Deutschland anzusiedeln und in Deutschland ihr Geld zu verdienen. Die Chancen dafür, meine Damen und Herren, sind nicht schlecht. Wenn in der Woche, in der wir die Haushaltsdebatte führen und einen schwierigen Konsolidierungshaushalt beschließen, die Stärke der D-Mark auch ein Zeichen für das Vertrauen in unsere Politik ist, wenn die D-Mark im weltweiten Wettbewerb derzeit so gut dasteht, dann ist dies auch ein zuversichtliches Zeichen, daß die Welt uns zutraut, daß wir unsere Probleme in den nächsten Jahren lösen. ({1}) Ich will Ihnen ein kurzes Zitat aus der „Times" vorlesen, weil der Blick über die Grenzen die Dinge verdeutlicht. Dort wird freimütig und in aller Offenheit gesagt: Die Deutschen müssen anfangen, länger und härter, vor allem flexibler in weniger gut finanziell gepolsterten Jobs zu arbeiten. Deutschland muß seine strenge Kontrolle über den Arbeitsmarkt und die dazugehörenden Gesetze lokkern. Darauf - ich meine, die „Times" hat recht - will ich in meinen kurzen Ausführungen eingehen. ({2}) Die Unternehmen in Deutschland haben längst erkannt, daß sie ihre Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit verbessern müssen. Sie werden gestärkt aus dieser Krise hervorgehen, wenn wir ihnen in der Politik die Chance dazu geben. Dann können Sie die Arbeitsplätze der Zukunft schaffen. Aber grundlegende Reformmaßnahmen müssen realisiert werden. Auch dies ist eine Bewährungsprobe der Sozialen Marktwirtschaft; auch dies ist eine Bewährungsprobe der Mitbestimmung in einer schwierigen Zeit, um zu zeigen, daß wir nicht nur bei schönem Wetter, sondern auch in schwierigen Zeiten im Konsens zusammenarbeiten können. ({3}) Es ist viel Richtiges über neue Produkte auf neuen Märkten gesagt worden. Ich brauche dies nicht zu wiederholen; darüber besteht ja auch überhaupt kein Dissens. Hieran sollten wir arbeiten. Aber Sie, lieber Herr Kollege Jens, haben weit unter Ihrem sonstigen rednerischen Können ({4}) - nein, „Niveau" wollte ich nicht sagen - und weitab von Ihren sonstigen politischen Positionen so getan, als ob dies alles alte Ladenhüter seien. Deregulierung des Arbeitsmarktes und Wettbewerb statt Monopol bei der Bundesanstalt für Arbeit sind natürlich keine Ladenhüter, sondern Dinge, die in früheren Zeiten aus vielerlei Gründen nicht durchgesetzt werden konnten. Ich stimme sowohl dem Herrn Bundesminister Rexrodt als auch dem zu, was gestern der Bundeskanzler gesagt hat, nämlich: Jetzt muß gehandelt werden. Die Politiker werden nicht daran gemessen, wie lange Berichte sie verfassen und wie schön sie die Dinge formulieren. Wir, die CDU/CSU-Fraktion, und wir, die Wirtschaftspolitiker der Koalition, ermuntern Sie dazu, all die Dinge, die Sie als Handlungsmaxime aufgeschrieben haben, da durchzusetzen, wo Sie es können und wo Sie es zu verantworten haben. ({5}) Ich weise alle Begriffe wie „Ladenhüter" deshalb zurück, weil sie in die Irre weisen. Vielleicht werden Sie in zukünftigen Diskussionen im Ausschuß, lieber Herr Kollege Jens, das große Geheimnis um Ihre zukunftsweisenden Rezepte lüften, die Sie uns, auch um unsere Aufmerksamkeit weiter zu fesseln, heute noch nicht verraten haben. ({6}) Ich gehe auf einzelne Maßnahmen ein, die ich für notwendig halte. Ich gebe Graf Lambsdorff recht, daß es nicht reicht, nur generell über die Rückführung der Staatsquote zu philosophieren, sondern daß es notwendig ist, sie durchzusetzen. Wir gehen davon aus, daß ein realistisches Ziel eine Rückführung um mindestens 3 % sein wird. Deshalb ist alles Gerede über die Einführung neuer Steuern, bevor Sie nicht konkrete Vorschläge gemacht haben, wo Sie alte Steuern verringern wollen, im heutigen Zustand nutzlos. Es wird keine Kohlefinanzierungssteuer geben; es wird keine Arbeitsmarktabgabe geben; es wird keine Klimasteuer geben, wenn sie nicht gemeinsam mit der Europäischen Gemeinschaft eingeführt wird, wenn sie nicht nur als Richtlinie beschlossen, sondern auch gemeinsam umgesetzt wird. Denn wir müssen heute alles andere machen, aber nicht über die Einführung neuer Steuern philosophieren. ({7}) Ich begrüße es, daß im Standortbericht steht, daß ein Steuerkonzept noch in dieser Legislaturperiode vorgelegt wird. Ich gehe davon aus, daß dieses neue Steuerkonzept sowohl die Besteuerung der Arbeit als auch die Besteuerung der unternehmerischen Erträge vermindert. Es ist doch eine völlige Verkennung der Wirklichkeit, lieber Kollge Jens, wenn gesagt wird, man solle keinen Steuerwettlauf machen. Einen Wettlauf können wir sowieso nicht beginnen; wir hätten ihn von Anfang an verloren. Wir müssen sowohl bei der Besteuerung der Arbeit als auch bei der Besteuerung der unternehmerischen Risikoerträge irgendwo im Mittelfeld vertreten sein und dürfen nicht von vornherein jede Investitionsentscheidung in Deutschland dadurch verhindern, daß wir die Ertragschancen gerade hier so gering ansetzen. ({8}) Sie sagen doch immer, daß das Kapital in gewerbliche Investitionen, in Risikoinvestitionen fließen muß, damit man am Geldmarkt nicht so viel verdient. Dann muß man doch hier auch die Konsequenzen im steuerlichen Bereich ziehen. Ich hoffe, daß diese von uns geforderte Komponente auch im Steuerkonzept der Bundesregierung zum Ausdruck kommt. ({9}) Wir müssen die Lohnzusatzkosten senken. Von dieser Auffassung sind Sie wahrscheinlich gar nicht so weit entfernt. Aber dann dürfen Sie nicht von vornherein jeden konkreten Vorschlag tabuisieren. Wenn wir beispielsweise, unabhängig von der Einführung der Pflegeversicherung, sagen, auch bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall müssen sozial verträgliche - ich betone dies ausdrücklich - Eigenbeteiligungselemente, vielleicht degressiv gestaffelt, eingeführt werden, dann muß man darüber diskutieren; denn auch dies bedeutet eine Erhöhung der Lohnkosten. Jeder von uns weiß, daß wir im Personalkostenbereich nie und nimmer mit Billigländern konkurrieren wollen und können. Darum geht es gar nicht. Wir müssen vielmehr auch hier den Unternehmen in Zukunft die Chance geben, legal Arbeitskräfte nicht nur im High-tech-Bereich, sondern eben vor allem in der breiten industriellen Wirtschaft, die bei uns mittelständisch geprägt ist, zu beschäftigen. ({10}) -Würden Sie das nicht gern als Zwischenfrage stellen? Dann hätte ich ein bißchen mehr Zeit. ({11}) Sie sagen, das Speditionsgewerbe werde zerstört. Aber ich bitte Sie: Wir haben die Kraftfahrzeugsteuer für schwere Lkws gesengt. Wir haben eine Umweltkomponente hineingebracht. Wir führen für Lkws die Vignette ein. Wir versuchen, in europäischer Abstimmung die Wachstumschancen, die das Speditionsgewerbe hat, auch steuerlich abzusenken. ({12}) Wenn Sie als SPD-Kollege jetzt auch noch fordern würden, wir sollten die Mineralölsteuer senken, damit mehr Lkws auf unseren Straßen fahren, wäre die Unlogik wohl auf die Spitze getrieben. Wir versuchen, auch dem mittelständischen Verkehrsgewerbe, das in einem harten europäischen Wettbewerb steht, Zukunftschancen zu geben. ({13}) Ich bitte Sie: Helfen Sie über Lippenbekenntnisse hinweg mit Deregulierung, mit Privatisierung und mit Verminderung der Regelungsdichte, mehr Wettbewerb zu erreichen. Helfen Sie mit, das Status-quoDenken und die Lethargie zu überwinden und die Aufgaben des Staates, die von Privaten besser erfüllt werden können, zurückzudrängen. ({14}) Aber überall, wo es zu konkreten Maßnahmen kommt, sei es bei der Privatisierung der Bahnen, sei es bei der Privatisierung von Krankenhäusern, sei es bei dem Wettbewerb mit der Bundesanstalt für Arbeit bei der Arbeitsvermittlung, sind Sie doch nicht diejenigen, meine Damen und Herren Wirtschaftspolitiker von der Opposition, die uns Wirtschaftspolitikern helfen, dies gemeinsam in den Volksparteien weiter vorwärtszutreiben, sondern Sie sind doch die institutionalisierten Bedenkenträger. Das hilft uns nicht weiter. ({15}) Ich begrüße, daß der Haushaltsentwurf, den wir heute beschließen, ein Beitrag zur Subventionsminderung ist, aber wir sind hier erst auf dem Wege, und ich ermuntere den Wirtschaftsminister, nicht nur bei neuen Subventionen mutig zu sein, sondern auch bei den bestehenden Subventionen, ({16}) mit uns zusammen überall da, wo es wirtschaftlich sinnvoll ist -

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Rainer Haungs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000830, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich werde mich sehr bemühen, zum Ende zu kommen, und hoffe auf etwas Nachsicht des Präsidenten.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Entschuldigung, meine Nachsicht ist unbegrenzt. Es geht auf Kosten der nächsten Redner. Ihre Redezeit ist abgelaufen. Sie haben noch einen Satz.

Rainer Haungs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000830, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich begrüße, daß der Haushaltsentwurf des Wirtschaftsministeriums eine Aufstockung des Eigenkapitalhilfeprogramms für die neuen Länder vorsieht, und rege an, daß wir uns zur Schaffung neuer Unternehmen und damit zur Schaffung neuer Arbeitsplätze in der gesamten Bundesrepublik Deutschland überlegen, inwiefern wir mit Haushaltsmitteln oder steuerlichen Ermäßigungen oder Finanzzuschüssen die Gründungsdynamik bei neuen Unternehmen im Sinne eines Existenzgründungsprogramms unterstützen können. Vielen Dank. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich muß es leider sagen: So intelligent es ist, einen Satz mit vielen „und" und „oder" zu erweitern, so sehr geht das dem nächsten Kollegen, dem letzten Kollegen von Ihrer eigenen Fraktion, von der Redezeit ab. ({0}) Der Kollege Schwanhold hat Ihnen leider nicht die Chance gegeben, Ihre Redezeit durch eine Zwischenfrage zu verlängern, hat sich aber clevererweise jetzt zu einer Kurzintervention gemeldet. Bitte, Herr Kollege Schwanhold. ({1})

Ernst Schwanhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002122, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Haungs, Sie haben auf meinen Zwischenruf hin fälschlicherweise gesagt, daß Sie die Wettbewerbsnachteile des Speditionsgewerbes aufgehoben hätten. Ich stelle hiermit fest, daß 400 000 Arbeitsplätze des Speditionsgewerbes auf Grund der nach wie vor vorhandenen Wettbewerbsnachteile gefährdet sind. Ich weise Ihnen dies insofern nach, als der Lkw-Steuersatz in Europa mindestens 1 400 DM betragen müßte, wir aber deutlich über 5 000 DM liegen. Das macht allein beim Steuersatz einen Nachteil von 4 000 DM. Bei durchschnittlich 120 000 gefahrenen Kilometern pro Lkw sind das 30 DM pro Tonne und 1 000 Kilometer Leistung. Das ist ein erheblicher Preisnachteil. Zweitens. Was Sie als Sicherheitsstandard zum Umweltschutz benannt haben, ist der Einstieg in das Fahrzeug Euro 2, das es noch gar nicht gibt und das nur unwesentliche Vorteile gegenüber dem Euro1-Fahrzeug bietet. Andererseits führen diese Wettbewerbsnachteile aber dazu, daß Billigländer auf den deutschen Straßen durch Freigabe von Kabotage dafür sorgen, daß weniger Frachten auf sicheren Lkws transportiert werden und daß Sozialstandards nicht mehr eingehalten werden. Das erkläre ich hiermit zum Sicherheitsrisiko. Dem leisten Sie Vorschub. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Nun hat nach unserem Regelwerk der Angesprochene die Chance, zu erwidern. Bitte, Herr Kollege Haungs.

Rainer Haungs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000830, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich will versuchen, das in einem Satz zurückzuweisen. Die entscheidende Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Branche besteht darin, daß wir zum erstenmal das geschaffen haben, was Sie seit Jahrzehnten fordern, nämlich die europaweite Einführung einer Vignette für in- und ausländische Lkws zur Straßenbenutzung. Sie steht heute erst am Anfang, da sie europaweit nicht weiter durchzusetzen war. Sie wird in den nächsten Jahren den entscheidenden Wettbewerbsnachteil aufheben. Ich verstehe Ihre Kritik prinzipiell deshalb nicht, weil wir zum erstenmal eine 50%ige Reduzierung der Kraftfahrzeugsteuer für umweltfreundliche Fahrzeuge eingeführt haben. Damit haben wir eine Verbindung zwischen Einführung neuer Technologien, Wettbewerbsverbesserung und Umweltverbesserung bei den so oft gescholtenen Kraftfahrzeugunternehmen geschaffen. Insofern sind die Krokodilstränen, die gerade Sie darüber weinen, daß das mittelständische Gewerbe nicht wettbewerbsfähig ist, in meinen Augen völlig unverständlich. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile dem Kollegen Christian Müller das Wort.

Christian Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte bietet mir Gelegenheit, auf die Situation in der Deutschen Waggonbau Aktiengesellschaft zurückzukommen. Ich bin meinen Kolleginnen Ingrid Matthäus-Maier und Hans-Ulrich Klose sehr dankbar dafür, daß sie in ihren Reden dieses Thema aufgegriffen haben und vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Begleitung notwendigen Strukturwandels in der alten Bundesrepublik nachdrücklich dafür plädierten, Zeit zu kaufen, um der DWA eine Chance für die Zukunft zu geben. ({0}) Warum das gerade für diesen ostdeutschen Industriezweig so besonders wichtig ist, wird sich so mancher Zeitgenosse fragen, wo doch schon so viele Schlachten um ostdeutsche Industriezweige geschlagen und zumeist mehr oder weniger geräuschvoll verloren wurden. Dafür gibt es schon eine Reihe gewichtiger Gründe. Denn dieser ostdeutsche Waggonbau ist der letzte Industriezweig mit wirklich überregionaler wirtschaftlicher Bedeutung im Osten, der sich bisher mit einigem Erfolg behauptet hat. Es ist nicht nur die Tatsache, daß nach dramatischen Schrumpfungsprozessen in den letzten drei Jahren noch immer 9 000 Menschen in ihrer Existenz vom Bestehen dieses Unternehmens abhängen. ({1}) Nein, meine Damen und Herren, weitere rund 30 000 Arbeitsplätze im Bereich der Zuliefererindustrie sind auf direkte Weise vom Bestehen der DWA abhängig, nicht gezählt die Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich und im Handel, die von der Kaufkraft der Menschen leben. Wir reden also über vielleicht insgesamt 50 000 Arbeitsplätze und die künftige Existenz einer weitaus größeren Zahl von Menschen. Das ist wohl Grund genug, sich mit diesem Thema zu befassen. Ich hoffe, wir stimmen überein, wenn ich feststelle: Die DWA ist ein industrieller Kern im unmittelbaren Sinne der Bedeutung dieses Wortes. ({2}) Zahlreiche regional bedeutsame Unternehmen hängen von ihr ab. Würde dieser Konzern auf eine völlig unbedeutende Größenordnung reduziert oder im Zuge der Privatisierung aufgeteilt, wäre das ein ver14888 Christian Müller ({3}) mutlich nie wieder zu heilender Bruch des ohnehin kaum noch vorhandenen Rückgrats der industriellen Produktion in Ostdeutschland. Dies ist, so meine ich, nicht hinnehmbar und ebensowenig politisch verantwortbar. ({4}) Aber, meine Damen und Herren, genau dieser Bruch droht jetzt zu beginnen, denn die zur Überbrükkung des Jahres 1994 notwendigen Hermes-Kredite in Höhe von insgesamt 655 Millionen DM sind für die DWA das Bindeglied in die Zukunft der nächsten drei Jahre. Die Vertreter der Regierung weisen zu Recht darauf hin, daß in den letzten drei Jahren bereits 4 Milliarden DM, davon zwei Drittel für die Zulieferer, in Form von Hermes-Bürgschaften bereitgestellt wurden und daß Aufträge der deutschen Bahnen besonders für den Görlitzer Waggonbau eine wichtige Hilfe waren. Dies ist ausdrücklich anzuerkennen. Es wird auch niemandem einfallen, die von Herrn Rexrodt in Halle für den Waggonbau Ammendorf gegebene Zusage einer Hermes-Bürgschaft in Höhe von 110 Millionen DM für das Jahr 1994 geringzuschätzen. Aber es bleibt festzustellen, daß diese Summe trotz ihrer Höhe ein Tropfen auf einen heißen Stein ist. ({5}) - Ich hatte gesagt: 110 Millionen DM. Herr Bohl verwies gestern während der Rede von Hans-Ulrich Klose auf die am 6. September von der Regierung lautstark angekündigten Großaufträge für die DWA. Kein Zweifel: So dies denn wirklich durch Bestellungen der Bundesbahn untersetzt würde, ist deren Wirkung für die DWA mittelfristig von großer Bedeutung. Ich betone aber: mittelfristig; denn all diese Aufträge in Form von Doppelstockwagen, S-Bahnen oder Teilen von ICEs würden erst ab dem Jahre 1995 wirksam. Dies ist der erste und entscheidende Pferdefuß in dieser Ankündigung, die in der DWA folglich nur eine Mischung aus Freude und großer Sorge auslösen konnte. Um den auf diese Weise entstandenen Nebel zu lichten, will ich Ihnen die Situation an Hand der Lage des Görlitzer Waggonbaus verdeutlichen. Dann werden Sie hoffentlich verstehen, daß Zeit kaufen nichts mit Dauersubventionen zu tun hat. ({6}) Nach drei Jahren härtester Arbeit, Rationalisierung in allen Bereichen, erheblicher Produktivitäts- und Qualitätssteigerungen inklusive bedeutender Investitionen aus dem Konzernaufkommen ist dieses Unternehmen wettbewerbsfähig. In diesem Jahr werden allerdings noch für 30 % der Produktion HermesDeckungen benötigt. Nächstes Jahr sind es noch einmal 50 %. Aber ab 1995 könnte das Unternehmen ohne Hermes-Bürgschaften auskommen. Da aber der GUS-Auftrag für das erste Halbjahr 1994 gebucht ist, folglich die Vorbereitungsarbeiten zu Beginn des Monats September 1993 theoretisch beginnen mußten, hieße die bisher nicht erfolgte Zusage für Hermes oder eine andere Garantie Kurzarbeit mit null Stunden für alle in der ersten Jahreshälfte. Da außerdem der Druck zur Privatisierung der DWA nahezu zeitgleich steigt, steht folglich die Frage auf der Tagesordnung, in welcher Größenordnung und in welcher Verfassung die DWA oder ihre einzelnen Unternehmen noch existieren werden, wenn in den Jahren ab 1995 die angekündigten Aufträge bearbeitet werden könnten. ({7}) Der zweite Pferdefuß wird auch sofort sichtbar. Er steckt in der Kooperationsankündigung zwischen DWA und Reichsbahnausbesserungswerken zur Herstellung von 250 Güterwagen. Fest steht, daß die DWA-Unternehmen in Dessau und Niesky bereits jetzt unter einer besonderen Form von Wettbewerbsverzerrung leiden. Gemeint ist nicht etwa die schiefe Konkurrenzlage zu beispielsweise tschechischen Anbietern, der man durch höher spezialisierte Produkte zu begegnen sucht. Nein, diese Wettbewerbsverzerrung ist hausgemachter Art. Zu DDR-Zeiten war die Reichsbahn gezwungen, ihre Waggons großenteils in einigen Reichsbahnausbesserungswerken herzustellen, denn das damalige Kombinat Schienenfahrzeuge arbeitete fast ausschließlich für den Export. Heute ist es so, daß die deutschen Bahnen als Staatsunternehmen - und folglich stark subventioniert - in diesen Betrieben weiterproduzieren und sich nicht auf Ausbesserungsarbeiten beschränken. Unternehmen, wie die Waggonbaubetriebe in Niesky und Dessau könnten nur mit extremen Dumpingangeboten im Wettbewerb um die Ausschreibungen der Bundesbahn mit diesem bahneigenen Unternehmen zum Zuge kommen. Das muß beendet werden. ({8}) Somit ist klar, daß die vorgesehene Kooperationsfertigung mit den daraus erwachsenden Anteilen für die beiden Unternehmen in Niesky und Dessau alles andere als eine reale Chance für die Zukunft darstellt. Angesichts dieser Lage fordere ich: Erstens. Die Regierung muß unter Aufbietung aller Mittel für eine Überbrückung der gegenwärtigen Situation der DWA sorgen, mit den beantragten Hermes-Krediten, oder, wenn es nicht anders geht, mit Bundesbürgschaften. ({9}) Zweitens. Diejenigen in Treuhandanstalt, Finanzministerium und Wirtschaftsministerium, die sich mit den Verhandlungen zur Privatisierung der DWA befassen, fordere ich im Namen meiner Kollegen auf, dafür zu sorgen, daß der DWA als funktionsfähigem Konsortium im Sinne eines Systemanbieters der Weg in die Privatisierung eröffnet wird. ({10}) Herr Rexrodt sagte am 2. September mit Blick auf die bekannten Bewerber um die DWA, die PrivatisieChristian Müller ({11}) rer brächten ihre Märkte mit. Ich frage mich, welche Märkte dies sein könnten. Niemand in der DWA übrigens verschließt sich angesichts der Überkapazitäten im deutschen Waggonbau dem Gedanken einer ausgewogenen Kapazitätsbereinigung. Dies hat dann aber gerecht und nicht einseitig zu Lasten der DWA zu erfolgen, die bereits einen riesigen Kapazitätsabbau hinter sich gebracht hat. Drittens. Die Bundesregierung wird angesichts der Situation der Hermesbürgschaften aufgefordert, den Weg zu neuen Osthandelsformen in größerem Stil zu öffnen. Wir haben dazu unsere Vorschläge eingebracht. Meine Kollegen und ich teilen ausdrücklich den in der DWA vertretenen Standpunkt, die Ostmärkte nicht aufzugeben, da diese von Firmen anderer Länder sofort besetzt würden. ({12}) So falsch kann dies wohl nicht sein, denn dies wird auch von Daimler-Benz immer stärker zu hören sein. Viertens und letztens. Die Regierungen der ostdeutschen Bundesländer fordere ich auf, bei ihrem Eintreten für die DWA nicht immer nur einseitig die im jeweiligen Lande liegenden Unternehmen zu benennen. Die DWA benötigt die konzentrierte und gemeinsame Unterstützung aller ostdeutschen Länder. Dies bedarf keiner näheren Begründung. Vielen Dank. ({13})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Professor Dr. Günther Krause, Sie haben das Wort.

Dr. Günther Krause (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001203, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Diskussion um die Wirtschaftspolitik in Deutschland, denke ich, muß die Sachlichkeit einziehen. In einer Zeit, in der evolutionär bedingte Strukturveränderungen in Westdeutschland und revolutionär bedingte Anpassungskrisen in Osteuropa eine entscheidende Rolle spielen, dürfen wir Deutsche uns nicht wie unter einer Käseglocke verhalten und so tun, als ob der Untergang im eigenen Land kurz bevorstehe. Wir sollten erst einmal feststellen, daß es uns noch mit am besten von allen Staaten auf dieser Erde geht. ({0}) Trotzdem ist es angebracht, die drei Krisen, in denen wir zur Zeit die Wirtschaftsprobleme einzuschätzen und zu bewerten haben, zu diagnostizieren, um dann Therapien zu finden, von denen heute teilweise zu Recht - aus meiner Sicht aber auch zu Unrecht - eine Verbesserung erwartet wird. Ich möchte mit der Strukturkrise im Westen beginnen. Ich bin, Herr Schwanhold, über Ihre Einlassung wirklich sehr, sehr überrascht. Sie waren es doch, die die permanente Belastung des Güterfernverkehrs in Deutschland, die Mineralölsteuererhöhung und „Lkw weg von der Autobahn auf die Schiene" gefordert haben. Sie waren es doch, die die Kfz-Steuern in Ihrer Regierungszeit so hoch gesetzt haben, daß das KfzGewerbe gefährdet wird. ({1}) Nun diskutieren Sie einseitig dieses Problem, obwohl wir, die Regierungsfraktion, in der Europäischen Gemeinschaft endlich eine Besserung durchgesetzt haben. Ich will Ihnen ein zweites Beispiel zur Strukturkrise nennen. Wir haben soeben einige Ausführungen gehört, was ein dem Staat sehr nahestehendes Unternehmen wie die Deutsche Bundesbahn oder die Deutsche Reichsbahn leisten sollte. Ich will hier offen und ehrlich sagen: Es ist für mich eigentlich ein Skandal, daß wir in allen Gazetten lesen, wieviel Schulden die Treuhandanstalt für 12 000 Unternehmen sozialistischer Mißwirtschaft zu verantworten hat. Warum können wir in unserer wiedervereinigten Bundesrepublik nicht darüber reden, wie skandalös es ist, daß ein Unternehmen, die Deutsche Bundesbahn, 55 Milliarden DM Staatsschulden in die deutsche Einheit mitgebracht hat? Sie müssen sich nun bewegen, damit endlich die Bahnreform, die Privatisierung dieses Unternehmens, stattfinden kann. ({2}) Wir können pro Tag zwischen 23 und 30 Millionen DM Steuergelder sparen, jeden Tag, den diese Privatisierung eher stattfindet. Das sind die Beispiele für die Strukturkrisen in Deutschland West, die wir korrigieren müssen. ({3}) - Entschuldigung, das sind 30 Jahre. Es wäre gut gewesen, wenn diese Bundesregierung 30 Jahre durchweg hätte regieren können. ({4}) Dann hätten wir vielleicht die Probleme der Bahnreform besser lösen können. Zur Anpassungskrise: Es ist doch absurd, zu glauben, daß mit planwirtschaftlichen Mitteln und Methoden die Anpassungskrise in Ostdeutschland gelöst werden kann. Ich möchte auch etwas Positives zur DWA sagen - das ist von Ihnen mit Sicherheit nicht bewußt vergessen worden -: Es ist heute selbstverständlich, daß zwischen Augsburg und München mittlerweile Doppelstockeisenbahnwagen, die in Görlitz produziert werden, fahren. Das Unternehmen ist bereits auf dem westdeutschen Markt. Es sind bereits Bestellungen erfolgt. Aber Marktwirtschaft hat etwas mit Angebot und Nachfrage zu tun. Es hat keinen Zweck, der Bevölkerung weiter zu versprechen, daß es unendliche Reserven beim Staat gebe, und dort, wo die Marktwirtschaft nicht mehr in unserem Sinne funktioniert, die Betriebe durch Neuverschuldung oder durch Steuererhöhungen zu subventionieren oder mit einem anderen Anschein zu versehen. Die Anpassungskrise in Ostdeutschland muß - hier bin ich dem Bundeswirtschaftsminister für seine Akti14890 Dr. Günther Krause ({5}) vitäten in den letzten Monaten dankbar - vor allem zum Inhalt haben, daß ostdeutsche Menschen vor Ort auch ostdeutsche Unternehmer werden können. Wenn wir uns in unserer Wirtschaftspolitik an einer Stelle verschätzt haben, so haben wir den Drang der westdeutschen Wirtschaft, in den Osten zu gehen und dort zu investieren, völlig überschätzt. Allerdings hat die Wirtschaft im Westen der Politik wesentlich mehr versprochen. Wir müssen Wege finden, daß das Engagement und nicht die Resignation zu eigener unternehmerischer Tätigkeit das entscheidende Element ist. ({6}) Deshalb ist es ganz wichtig, daß wir Programme aufbauen, die die Eigenkapitalförderung sichern, damit das Sich-selbst-aus-dem-Problem-Befreien zum Inhalt der Diskussion wird und nicht von morgens bis abends und von abends bis morgens nach wie vor sozialen Systemen nachgeweint wird, die von ihrer Effizienz her an verschiedenen Dingen vorbeigehen. Ich mache Ihnen den Vorschlag, daß Sie beispielsweise in einer Stadt wie Rostock - Sie haben auch eine sehr angenehme Kollegin von dort in Ihrer Fraktion - schlicht und einfach den Versuch unternehmen, als Privatmann in Auftrag zu geben, Sie möchten Ihr Bad gefliest haben. Sie werden von den dort ansässigen Unternehmen erfahren: Sie müssen etwa anderthalb Jahre warten. Auf der einen Seite haben wir sehr, sehr viele Arbeitslose, auf der anderen Seite ist der Auftragsbestand dieser Unternehmen schon für anderthalb Jahre im voraus bestellt. Es müssen dann wahrscheinlich Ausbildungsplätze in diesem Bereich geschaffen werden. Vielleicht hängt das auch damit zusammen, daß wir - der Arbeitsminister ist ja anwesend, lieber ehemaliger Kollege Blüm - doch die ABM-Stellen finanziell überbewertet haben, so daß der natürliche Druck auf den Arbeitsmarkt nicht dazu führt, daß sich in Bereichen, wo die Nachfrage heute schon wesentlich größer ist, Unternehmensveränderungen ergeben. Ich möchte auf einen nächsten Punkt zu sprechen kommen. Wenn wir den enormen Anpassungsbedarf in den neuen Bundesländern und in Ost- und Mitteleuropa realisieren wollen, dann muß das private Kapital in Westeuropa, dann muß das private Kapital in Westdeutschland statt Steuergelder für öffentliche Aufgaben genutzt werden. Wenn wir antizyklische Programme ohne Steuererhöhungen und ohne Neuverschuldung aufbauen wollen, dann müssen wir die Autobahnen in Ostdeutschland privat finanzieren, weil sie dann natürlich Steuereinnahmen bringen und keine Steuergelder kosten. ({7}) - Sie lachen. Die Franzosen machen dies seit Jahren mit riesigem Erfolg. Der Wettbewerb beim Lkw, der sich auf einer privat finanzierten Autobahn bewegt, ist zwischen Franzosen und Deutschen in Frankreich natürlich gleich. Die Staatspolitik im Bereich der Investitionen hat letztendlich zu dem Wettbewerbsnachteil in Deutschland geführt. Ich kann Ihnen nur raten, daß die Märkte, die wir gegenwärtig haben, mit privatwirtschaftlichen Mitteln realisiert werden, um die Anpassungskrisen zu überwinden. Deshalb ist es wichtig, daß Sie sich der Zustimmung zu dem wichtigen Investitionsmaßnahmegesetz nicht einfach verweigern, sondern es möglichst schnell mit beschließen, damit privat finanziert wird. Warum muß der Haushaltsausschuß alljährlich darüber befinden, ob bestimmte Autobahnabschnitte in Deutschland finanziert werden? Ist es nicht günstiger, wenn die Wirtschaft über ein Programm von zehn Jahren und das Berechnen des Break-even sich selbst mit diesen Aufgaben befaßt? ({8}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, für mich war es überraschend, daß die SPD nun auch im Bereich der Verkehrspolitik dazugelernt hat und wir in der Privatisierung der Bundesbahn und der Reichsbahn auf einem guten Weg sind. Mich freut vor allem, daß nicht nur das Auto in Deutschland von der SPD nicht mehr verteufelt wird, sondern auf Grund ihrer veränderten Politik auch die Spediteure eine sichere Zukunft haben. Denn anscheinend wollen Sie, Herr Schwanhold, daß auch zukünftig in Deutschland der Lkw weiter auf der Straße fährt. Das ist bei den Speditionen angekommen. ({9}) Ich bin eigentlich guter Hoffnung, daß Sie in diesem Bereich keine Mineralölsteuererhöhungsarien mehr singen werden. Vielen Dank. ({10})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Dr. Ulrich Briefs, Sie haben das Wort. ({0}) - Das muß jeden Tag sein, Herr Kollege Faltlhauser. Das schreibt unser Recht vor. ({1})

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Kollege Faltlhauser, Herr Kollege Hinsken, ich glaube, Sie sollten besonders aufmerksam zuhören. Sie müssen noch eine ganze Menge gerade auf diesem Gebiet lernen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was wir heute vom Bundeswirtschaftsminister gehört haben, war im Grunde ein sozialreaktionäres Manifest, das nur schwach mit verbaler Anerkennung des Sozialstaates verbrämt war, nicht mehr. ({0}) Die Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung, in einer marktwirtschaftlichen Ordnung zwangsläufig eines der zentralen Elemente der Regierungspolitik, geht unter Minister Rexrodt immer konsequenter auf Konfrontationskurs gegen die sozial Schwachen und die abhängig Beschäftigten. Die Standortkrise ist dabei geradezu als Anlaß herbeigeredet worden, um Arbeitnehmerschutzrechte, Gewerkschaftsrechte und Sozialleistungen abzubauen. Objektive Anhaltspunkte dafür, Herr Faltlhauser, daß dieses Land ein auslaufender Investitionsstandort ist, fehlen jedoch. Daß z. B. umfangreiche Investitionsmittel aus Deutschland ins Ausland fließen, ist nicht das Ergebnis zu hoher Löhne oder Lohnnebenkosten; es ist Folge der außerordentlichen Exporterfolge und der riesigen vagabundierenden Kapitalien in den Kassen der deutschen Wirtschaft, insbesondere der Großindustrie. Die Bundesrepublik Deutschland ist bereits Nettoproduktivkapitalexportland - was für ein Wort! - seit 1973. Der Zug der deutschen Wirtschaft ins Ausland begann Anfang der 70er Jahre. Er war eine Antwort auf die von der Wirtschaft selbst im größten Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit in den Jahren von 1969 bis 1972 geschaffenen Überkapazitäten. Und diese Überkapazitäten - Folge der Überakkumulation, der Bildung eines riesigen, modernen, aber eben bei weitem nicht voll nutzbaren Produktions- und auch Dienstleistungsapparates - sind das Kernproblem der Wirtschaft im neuen Deutschland und werden es sein. Der kurze Wiedervereinigungsboom der Jahre 1990 und 1991 hat übrigens - aber das nur in Westdeutschland - zu einem Investitionsstoß geführt, der diese Überkapazitäten nach dem Auslaufen des Booms noch um ein ganzes Stück erhöht hat. Die Zahlen sprechen da eine unmißverständliche Sprache. Diese ökonomisch dominierende Grundtatsache schlägt sich aber auch in entscheidender Weise bei den Kosten nieder. Das wird immer vergessen. Ich zitiere aus einer Rede von vor ziemlich genau einem Jahr: Angesichts der rasant steigenden Kapitalintensität - 1970 kostete ein Arbeitsplatz im Durchschnitt 51 000 DM, 1992 bereits über 230 000 DM -, angesichts der mit moderner Technik unvermeidlichen Verteuerung der Arbeitsplätze treten die Personalkosten in den Hintergrund. Der Anteil der Löhne am Industrieumsatz betrug im Ernährungsgewerbe 1987 lediglich 11 %; er ist heute noch niedriger. In der Automobilindustrie waren es nur 17 %, in der Chemie 19 %, in der Stahlindustrie 21 %, in der Elektrotechnik 27 %, im Maschinenbau 29 %. Der Fixkostenanteil bei Investitionsgütern - das ist der entscheidende andere Anteil - betrug in den 70er Jahren 39 %, in den 80er Jahren 43 % und in den 90er Jahren bislang 48 %. Und da sind wir beim Kernproblem. Die modernen Produktionskapazitäten, die wir aufgebaut haben und weiter aufbauen, machen diese Fixkosten immer deutlicher zu dem drückenden Problem der Betriebe. Darauf antworten Sie jetzt, indem Sie bei den inzwischen nachrangig gewordenen Personal- und Personalnebenkosten ansetzen. Nein, Herr Bundeswirtschaftsminister Rexrodt, das ist keine zukunftsweisende Politik, das ist keine Politik, die Lösungen bringt. Diese Politik bringt Verschärfungen. Insbesondere dieser Etat und die von Ihnen, wie ich meine, etwas willkürlich aufgeworfene Standortdebatte sind kein Beitrag zur Zukunftssicherung.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Briefs, schauen Sie einmal auf das rote Licht!

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Ich komme zum letzten Satz, Herr Präsident. Diese Vorstellungen der Regierungskoalition und des Bundeswirtschaftsministers sind ein Signal zum Marsch zurück in verschärfte soziale Konfrontation, in weitere ökologische Gefahren und auch - das habe ich leider gar nicht ansprechen können - in die weitere Eskalation des Nord-Süd-Konflikts; denn wenn wir auf diesem Wege weitermachen, dann zwingen wir insbesondere die armen Länder der Dritten Welt auch zunehmend dazu, noch mehr von ihren natürlichen Reichtümern und noch mehr von ihrer eh schwachen Arbeitsproduktivität im Austausch für unsere High-tech-Produkte zu liefern. Was wir brauchen, ist eine Umkehr. Das ist überfällig. Herr Präsident, ich danke Ihnen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Darf ich mir eine Anregung erlauben, Herr Kollege Briefs, da Sie ja mit Ihren kurzen Redezeiten immer ein bißchen ins Schwimmen kommen: Wenn Sie den Schluß an die Spitze stellen, dann haben Sie das, was Sie sagen wollen, schon mal übergebracht. ({0}) Ich erteile dem Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Günter Rexrodt, das Wort.

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe noch einmal um das Wort gebeten, um einen Satz zu DWA zu sagen. Ich greife da den Beitrag von Herrn Christian Müller auf, der auch von dem abwich, was man hier sonst an Polemik heute morgen gehört hat, und der von einer echten Sorge um dieses Werk getragen war. Diese Sorge ist berechtigt, und deshalb ein Wort dazu. Wir wissen alle, meine Damen und Herren, daß DWA ein modernes Waggonbauunternehmen ist, das entsprechend der Politik der Erhaltung, Sicherung und Erneuerung der industriellen Kerne Zeit bekommen soll, um in neue Märkte und neue Produktlinien hineinzuwachsen. In diesem Sinne ist in dieses Unternehmen - ich darf die Zahl in Erinnerung rufen - seit 1990 der Betrag von 4 Milliarden DM an HermesBürgschaften übernommen worden. 4 000 Millionen DM für die Sicherung eines einzigen Werkes! Das ist ein riesenhafter Betrag. 1991 waren es 1,5 Milliarden DM, 1992 ebenfalls 1,5 Milliarden DM. Wir alle wissen, daß es dieses Unternehmen nur schaffen kann, wenn es sich zu einem guten Teil auf westliche Märkte umorientiert. Wir wissen alle um die Zahlungsschwierigkeiten Rußlands und anderer Staaten der GUS. Deshalb wollen wir diese Märkte nicht ganz aufgeben. Das können wir auch nicht. Aber es ist nicht die Zukunft dieses modernen Werkes, nur auf diese Region ausgerichtet zu sein. Was DWA angeht, sage ich Ihnen: Das ist Beweis dafür, daß wir in der Politik der raschen und verant14892 wortlichen Privatisierung dieser Unternehmen, auch der industriellen Kerne, fortfahren müssen. Meine Damen und Herren, nur wenn dieses Werk in absehbarer Zeit privatisiert wird, werden wir die Märkte haben, werden wir das Know-how haben, werden wir die unternehmerischen Fähigkeiten haben, um dieses Werk am Leben halten zu können. Das ist Beweis dafür, daß die Politik, die von der Treuhand gemacht und von der Bundesregierung getragen wird, unverzichtbar ist. Die Menschen müssen das verstehen. Die Unternehmensführungen können nicht immer nur nach Bürgschaften rufen - das auch -, sondern sie müssen Unternehmenspolitik und Unternehmenssicherung betreiben und dürfen nicht immer nur den Ruf an den Staat laut werden lassen. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich will jetzt keinen konkreten Fall aufführen, aber doch die Gelegenheit nutzen, zu sagen: Es empfiehlt sich, wenn man selber gesprochen hat, wenigstens bis zum Ende dieser Debatte im Raum zu bleiben. ({0}) Alle haben viele Verpflichtungen, aber die Sorge um ein bestimmtes Thema wird etwas glaubwürdiger, wenn man sich auch noch die Gegenargumente anhört. ({1}) - Das ist noch besser - wie wir zum Beispiel, Frau Kollegin. Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen nicht vor. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir leben in einer Zeit großer Veränderungen. ({0}) - Das ist nichts Neues. Aber es gibt Wahrheiten, die man wiederholen muß, damit jeder einsieht, daß die Zukunft nicht einfach die Verlängerung der Gegenwart ist. Aber solche Veränderungen sind ja nicht einmalig. Was nach dem Krieg passiert ist, war an Herausforderung mindestens dem gleich, was wir heute zu bewerkstelligen haben. Millionen von Flüchtlingen, die integriert werden mußten, 15 Millionen Vertriebene, zerstörte Städte, Kriegsgefangene, die mit ruinierter Gesundheit zurückkehrten. Wir haben diese Herausforderung bestanden. Wenige Jahre später haben andere vom Wirtschaftswunder gesprochen. Das war überhaupt kein Wunder, das war das Ergebnis von Fleiß und Anstrengung. Unsere Mitbürger in der DDR sind um diese Früchte betrogen worden, es war nicht ihre Schuld. Aber es bleibt auch jetzt, Herausforderungen anzunehmen. Wer sie besteht, ist dabei Gewinner. Nur, meine Damen und Herren, ist die Frage, ob wir die Kondition dazu haben. Ich stelle fest: Jeder verlangt etwas vom anderen, und alle zusammen verlangen etwas vom Staat. Das unterscheidet das Jahr 1993 von dem Jahr 1945. An die Stelle des alten autoritären Vaters Staat ist die neue, alles besorgende Mutter Staat getreten. Aber es ist in beiden Fällen gleich: Bürger werden wie Kinder behandelt. Das ist nicht mein Verständnis vom Staat, das ist nicht mein Verständnis vom mündigen Bürger. Die Einsicht in die Unausweichlichkeit der Veränderung ist allgemein; Sie haben es gerade bestätigt. Aber der Wille zur Veränderung ist keineswegs überall vorhanden. Kompensatorisch retten wir uns über diese Diskrepanz mit einem folgenlosen Wortschwall hinweg. Forderungen, die längst erledigt wurden, Ergebnisse tauchen plötzlich als neue Forderungen auf. Ich finde, man kann vom Handwerk etwas lernen: Immer nur ein Werkstück im Schraubstock und nicht pausenlos debattieren und verändern. Hier bricht ja schon Langeweile aus, wenn nicht jeden Tag ein neuer Vorschlag gemacht wird, der übermorgen schon veraltet ist. Dabei meine ich, es kommt nicht nur auf Gesetze an, sondern auch auf die Praxis. Ich glaube, die Sozialpolitiker insgesamt - das will ich nicht nur für die Koalition reklamieren - haben in den letzten Jahren bewiesen, daß sie nicht nur reden, sondern auch handeln. Aber es kommt nicht nur auf Paragraphenveränderungen an, sondern auf die Praxis. Es kommt nicht nur auf Gesetze an, sondern auf das Angehen von Besitzständen, die sich in Gewohnheiten festgemacht haben. Daß wir in der Flexibilisierung nicht weitergekommen sind, liegt zum geringsten Teil am Gesetz, es liegt zum größten Teil am mangelnden Veränderungswillen in der Praxis. ({1}) Ich stelle auch eine Menge von Widersprüchen fest. Ein Widerspruch: Die hohen Lohnnebenkosten werden beklagt, sehr zu Recht. Die steigenden Lohnnebenkosten werden aber merkwürdigerweise sonntags beklagt, und werktags wird alles getan, daß sie steigen. Ein Großteil der betrieblichen Personalprobleme wird nämlich auf Kosten der Sozialkassen gelöst: Frühverrentung - quer durch Deutschland. Mir langt die Redezeit gar nicht, um alle Firmen vorzuführen, die sonntags Lohnnebenkosten beklagen und werktags die 55jährigen der Bundesanstalt für Arbeit zuschieben und wo die 60jährigen Rentner werden. ({2}) - Das können wir nur gemeinsam, gemeinsam müssen wir gegen diese Art von doppelter Buchführung, von doppeltem Boden reden. Ich will einen anderen Widerspruch aufzeigen: Einerseits gibt es einen Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer, ({3}) - richtig -, andererseits halten wir aber mancherorts Arbeitsplätze in der Landwirtschaft, in der Gastronomie und auf dem Bau für deutsche Arbeitnehmer für unzumutbar. Über diese Lebenslüge retten wir uns durch illegale Beschäftigung, was nichts anderes ist als eine moderne Form von Menschenhandel und Ausbeutung. Ein klassischer Widerspruch! ({4}) Nun glaube ich auch, es muß gespart werden. Im übrigen will ich darauf aufmerksam machen, daß wir seit zehn Jahren sparen. Wenn die Sozialpolitik nicht seit zehn Jahren konsolidiert hätte, dann wären wir der Herausforderung der deutschen Einheit gar nicht gewachsen gewesen. Insofern beginnen wir mit den notwendigen Maßnahmen nicht erst heute. ({5}) Auch jetzt muß gespart werden, und zwar aus sozialen Gründen. ({6}) Ich kann keinen Sinn darin sehen, durch Schuldenmachen die Preise in die Höhe zu treiben. Von der Preissteigerung werden als erste die Arbeitnehmer, die Rentner, die sozial Schwachen betroffen. Inflation war immer der Taschendieb der kleinen Leute. Wenn wir durch Sparen Inflation bekämpfen, machen wir eine soziale Politik. ({7}) Es muß auch gespart werden, um Arbeitsplätze zu ermöglichen. Die Quelle des Sozialstaates ist die Arbeit. Was wäre das für ein Sozialstaat, der die Kuh schlachtet, die er melken will. So dumm ist kein Bauer, und so dumm sind auch nicht die Sozialpolitiker. ({8}) Und ein drittes. Es geht auch um die Gestaltungsrechte des Parlaments. Würden wir die Schulden in die Höhe treiben, dann hätten wir im Haushalt nichts mehr zu beraten. Wir müßten nämlich nur noch die Steuereinnahmen dazu verwenden, die Zinsen und ihre Tilgung zu bezahlen. Dann könnten wir im Parlament hochrechnen, wann wir die Haushaltsberatung einstellen können. Da gibt es dann nur noch einen Posten: Schuldendienst. ({9}) Die Quelle des Sozialstaates - es ist wiederum fast eine Banalität - ist die Arbeit. Deshalb sagt auch die Soziallastquote gar nichts über die Qualität des Sozialstaates. Denn es kann ja nicht der Sinn sein: Je höher die Ausgaben, um so besser ist der Sozialstaat. Dann wäre ja die Erhöhung der Arbeitslosigkeit ein Beitrag zur Verbesserung des Sozialstaates. ({10}) Also sagt die Höhe der Soziallastquote noch nichts über die Qualität des Sozialstaates aus. Das Thema Beschäftigung ist das große herausragende Thema, auf das wir uns konzentrieren sollten, Beschäftigung erstens für diejenigen, die arbeiten können und wollen, zweitens auch derjenigen wegen, die auf den Sozialstaat angewiesen sind, wobei die Arbeitsmarktpolitik, meine Damen und Herren, nur flankierend tätig sein kann. ({11}) Deshalb warne ich auch vor einer neuen Platzanweisung: im ersten Arbeitsmarkt die Jungen und Gesunden und im zweiten Arbeitsmarkt - dafür ist dann die Sozialpolitik zuständig - die Älteren, Behinderten und Kranken. Das wäre eine neue Klassenspaltung. ({12}) Unser Sinnen muß es doch sein, den ersten Arbeitsmarktzugang für diejenigen zu öffnen, die es schwer haben. Deshalb Lohnkostenzuschüsse für Langzeitarbeitslose. Wir haben trotz der Sparnotwendigkeit keine Mark bei unserem Programm zur Vermittlung der Langzeitarbeitslosen gespart. Ich will auch zu ABM etwas sagen. Das war ja eben schon Gegenstand der Wirtschaftsdebatte. Ich verteidige ABM. Ohne ABM sähe die Welt in den neuen Ländern ganz anders aus. ({13}) Ich weiß, daß man auch vieles besser machen kann und muß. Ich will nur noch einmal darauf hinweisen: Es ging doch zunächst einmal darum zu retten. Da gehöre ich nicht zu den sublimen Ordnungspolitikern, die fragen, ob mit Schwimmweste oder mit Rettungsring, sondern zunächst ging es um das Retten. Das hat ABM geleistet. Wir hätten sonst zwei Millionen Arbeitslose mehr! ({14}) Es kann kein Dauerzustand sein, sonst wäre ABM eine Art zweiter Arbeitsmarkt auf Dauer für diejenigen, die in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden müssen. Bei dieser Arbeitsverteilung funktioniert das Ganze nur wie eine Drehtür: Aus dem zweiten Arbeitsmarkt kommt einer in den ersten, dafür fliegt einer aus dem ersten in den zweiten. Das Ganze ist ein beschäftigungspolitisches Nullsummenspiel. Deshalb brauchen wir Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt. Was die Tarife anbelangt, so muß es einen Anreiz geben, in den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren. Das größere Problem scheint mir - auch das sage ich gegenüber meinem sehr verehrten Kollegen Kraus - der fehlende Einstufungsmut zu sein. Das gilt im übrigen auch für die Tarifpolitik. Darauf hat vor wenigen Tagen der Arbeitsmarktexperte der BDA hingewiesen. Es gibt ein breitgefächertes, differenziertes Tariffeld. Es gibt auch große Spannen: bei den Arbeitern von 97 %, bei den Angestellten von über 200 %. Es fehlt, daß die unteren Tarifgruppen gar nicht besetzt sind. Es fehlt am Einstufungsmut. Ein Teil der Mißstände im ABM-Bereich basiert darauf, daß falsch eingestuft wurde. Das mag daran liegen, daß man das Geld vom Arbeitsamt bekommt. Deshalb könnte der § 249 h viel sinnvoller sein. Da muß nämlich von den Trägern beigestellt werden. Dabei ist der Druck, richtig einzustufen, größer, als wenn man das Geld vom Arbeitsamt zu 100 % bekommen kann. Ich, meine Damen und Herren, liebe Kollegen, glaube, daß die Beschäftigungspolitik den zweiten Arbeitsmarkt überfordert, wenn er die Hauptlast tragen soll. Mir scheint, daß wir neue Beschäftigungsfelder brauchen, daß wir mit der alten Angebotsstruktur nicht aus dem Tal herauskommen. Ich sehe neue Beschäftigungsfelder im Bereich der Dienstleistung, und zwar gerade der personalen Dienstleistung. Wir sind in einer Gesellschaft, in der der Single zu dominieren beginnt. In manchen Regionen ist schon jeder zweite Haushalt ein Singlehaushalt. Ich bewerte das gar nicht moralisch. Viele Dienstleistungen jedoch, die früher unter dem Dach der Familie erbracht wurden, müssen jetzt über den Markt organisiert werden. Das sind ganz neue Beschäftigungsfelder, und pfiffige Unternehmer werden diese Beschäftigungslücke auch noch entdecken. ({15}) Ich meine dabei personale Dienstleistungen. Wenn irgendwann alles vernetzt und alles verkabelt ist, dann wird eine große Sehnsucht nach Dienstleistungen von Mensch zu Mensch entstehen. Das wird der Rückstoß sein. Deshalb brauchen wir eine Pflegeversicherung. Sie wird die pflegerische Dienstleistung umfassen. Eine neue Infrastruktur von nachbarschaftlichen Diensten, eine neue Infrastruktur von hauswirtschaftlichen Diensten könnten ein Beschäftigungsfeld für jene eröffnen, die in der Computergesellschaft nicht unterzubringen sind. Drei Millionen Arbeitsplätze für Ungelernte fallen weg. Wir werden nicht nur mit Qualifizierung antworten können. Ihre Begabung liegt auf einem anderen Feld. Ich kann sie nicht als minderbegabt bezeichnen. Deshalb finde ich: Die Gesellschaft ist in ihrer Innovation aufgefordert, nicht auf den alten, ausgetretenen Trampelpfaden der Gewohnheiten weiterzumarschieren, sondern neue Beschäftigungsfelder zu finden. Für diese müssen wir allerdings auch Rahmen setzen. Meine Damen und Herren, in einer Zeit großen Umbruchs, großer Veränderungen, brauchen wir auch Stabilisatoren. Veränderungen als Tabula rasa kann man mit Bauklötzen machen, aber nicht mit Menschen. Zu den großen Stabilisatoren unseres Sozialstaats gehört die Rentenversicherung. ({16}) Die Rentenversicherung hat alle Stürme des letzten Jahrhunderts und zwei Weltkriege überstanden. Nie mehr soll so etwas kommen. Sie hat sie besser überstanden als alle Privatversicherungen zusammen. ({17}) Nun möchte ich für die Sozialpolitiker aus allen Parteien - ich bin nicht kleinkariert - sagen: Hätten alle politischen Bereiche so weitsichtig und so vorausschauend gehandelt wie wir in der Rentenreform, sähe es in Deutschland anders aus. ({18}) Wir haben diese Rentenreform nicht für die nächsten drei Jahre gemacht. Wir haben sie, eingestellt auf die Herausforderungen und Veränderungen der Zukunft, gemacht. Diese Rentenreform war sehr flexibel. Das war nicht Veränderung. Es galt, den Abbruch der Alterssicherung in der alten DDR durch Integration in unser Rentensystem abzufangen. Wir haben in diese Rentenreform alle Hebel eingebaut, um auf Veränderungen antworten zu können. Beispielsweise haben wir, damit sich die Lebensarbeitszeit verlängert, einen Steuerungsmechanismus eingebaut: Ein Jahr weniger Rentenlaufzeit bedeutet einen Beitragspunkt. Im übrigen scheitert die heutige Lebensarbeitszeit nicht an gesetzlichen Grenzen, die tatsächliche Verrentung, der tatsächliche Eintritt in das Rentenalter findet heute mit 59 Jahren statt. Wer eine gesetzliche Veränderung angeht, soll erst einmal die Wirklichkeit verändern; denn das wirkliche Rentenalter liegt unter dem gesetzlichen. ({19}) Dafür allerdings brauchen wir Arbeit; das ist das Geheimnis aller sozialen Sicherheiten. Freilich, wenn weniger Kinder geboren werden, haben wir morgen auch weniger Beitragszahler; das ist richtig. Allerdings reichen Kinder allein auch nicht aus. Die Kinder von heute brauchen morgen Arbeit, um Beitragszahler zu sein. ({20}) Ich will noch einen Hebel nennen, der fast automatisch funktioniert: Die Frauenerwerbstätigkeit nimmt zu. Sie liegt im Westen 12 % unter der in den neuen Bundesländern. Wenn sich das Erwerbsverhalten der Frauen im Westen auch nur um 1 % dem anderer Industrienationen anpaßt, haben wir 2 Milliarden mehr Einnahmen. ({21}) Wir haben in der Rentenreform - so klug waren wir damals -, leider nicht mit Zustimmung der SPD, auch dafür gesorgt: Wenn der eigenständige Anspruch auf Rente der Frau steigt, dann sinkt der Hinterbliebenenanspruch. Das ist ein Teil unserer Rentenreform. Auch dies ist eine Entlastung der Rentenversicherung. Ich mache darauf aufmerksam, daß wir gegen viele Widerstände - so populär war das nicht - die Nettolohnrente eingeführt haben. Ich will Ihnen das Verdienst lassen, daß Sie dabei Pfadfinder waren in dem Sinne, daß sie vor der Truppe da waren. Immerhin haben wir die Nettolohnrente eingeführt ({22}) alle miteinander - mit dem klugen Regelkreis, daß, wenn die Beiträge der Aktiven steigen, die Rentenanpassungen sinken. Insofern sitzen wirklich zum erstenmal alt und jung in einem Boot; denn jetzt müssen auch die Rentner daran interessiert sein, daß die Beiträge stabil bleiben. Deshalb eignet sich der Beitragssatz nicht zur Steuerung. Er würde nämlich den Regelkreis eliminieren. Der Regelkreis „Beitrag - Rentenleistung" ist die Sicherheit dafür, daß wir nicht pausenlos intervenieren müssen. ({23}) Im übrigen mache ich darauf aufmerksam, daß wir derzeit den niedrigsten Beitragssatz seit 1972 haben, daß wir die Beiträge gesenkt haben - das hat im übrigen die SPD schon vor uns beantragt; ich sage das, damit ich nicht nachträglich kritisiert werde - und auf diese Weise den Beitragszahlern, den Arbeitnehmern und Arbeitgebern, in den letzten zwei Jahren 37 Milliarden DM erspart haben. 37 Milliarden DM, gefrühstückt und vergessen; es redet niemand darüber, welche Leistungen wir erbracht haben. ({24}) - Sagen Sie nicht „Verschiebebahnhof" . Sie haben es selbst, und zwar noch vor uns, beantragt. ({25}) Meine Damen und Herren, wenn jemand fragt: Wo können wir den Sozialstaat entlasten?, und dann noch die weitergehende Frage stellt: Wo wir bei arbeitsplatzbezogenen, lohnabhängigen Sozialleistungen Entlastungen schaffen?, dann weiß ich mehr als einen Vorschlag. Die Bundesanstalt für Arbeit zahlt 50 Milliarden DM für Arbeitsmarktpolitik. Bei vielen dieser Maßnahmen läßt sich die Frage stellen, wieso sie eigentlich der Beitragszahler finanziert. Ich will das einmal in einem Beispiel deutlich machen: Wenn sich der Werkzeugmacher Norbert Blüm zum Bauzeichner umschulen läßt, dann bezahlt das der Beitragszahler. Wenn der Akademiker Blüm ein Zweitstudium beginnt, dann bezahlt das der Steuerzahler. Erkläre mir mal einer die Rationalität dieser Verteilung von Lasten! Deshalb werden wir darüber nicht nur nachdenken, sondern die Lasten der Bundesanstalt neu ordnen müssen: Welches Risiko muß mit Beitrag finanziert werden, und welches Risiko ist ein allgemeines Risiko? ({26})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßler?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Bitte.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister Blüm, stimmen Sie mir zu, daß das, was Sie gerade beklagen, unter Ihrer Federführung im Jahre 1991 mit der Mehrheit der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion unsinnigerweise in das Gesetzblatt geschrieben wurde?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Herr Abgeordneter Dreßler, Sie waren es auch, die beklagten, daß wir zuwenig Fortbildung und Umschulung betreiben. Dann würden wir ja über den Beitragszahler noch mehr bezahlen. - Sie haben zur Finanzierung eine Arbeitsmarktabgabe vorgeschlagen. ({0}) In mir haben Sie keinen, der diesen Vorschlag ablehnt. ({1}) - Nun einmal langsam, damit Sie Ihren Beifall in Grenzen halten! ({2}) Aber ich stelle fest: Wenn der Finanzminister heute einen Bundeszuschuß in großer Höhe zahlen muß, dann ist das dreimal mehr als die ganze Arbeitsmarktabgabe, und dieser Bundeszuschuß wird durch Steuerzahler finanziert, ({3}) auch durch die Höherverdienenden, von diesen proportional mehr. Aber, Herr Kollege Dreßler, lassen Sie uns das festhalten: Wir stimmen darin überein, daß die Lastenverteilung bei der Bundesanstalt für Arbeit neu geregelt werden muß, um die arbeitsplatzabhängigen Sozialkosten zu mindern. Das ist, finde ich, doch ein gutes Ergebnis unserer Debatte heute.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Kollege Dreßler hat gleichwohl noch eine Frage. ({0})

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesminister, ist Ihnen aufgefallen, daß Sie meine Frage bisher nicht beantwortet haben? ({0})

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Ich habe Ihnen Ihre Alternative genannt; die Alternative war Arbeitsmarktabgabe, und ich sage: Wir haben durch Bundeszuschüsse die Kosten, welche die Arbeitsmarktabgabe abgedeckt hätte, mehr als dreifach abgedeckt. Ich bleibe dabei, daß wir in dieser Weise auch die Neuordnung vornehmen müssen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Dr. Weng möchte Sie ebenfalls etwas fragen.

Dr. Wolfgang Weng (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002479, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Bundesminister, wenn ich unterstelle, daß wir diesen Weg 1991 aus guten Gründen beschritten haben - das war Dr. Wolfgang Weng ({0}) ja auch eine Frage der jeweiligen Finanzsituation, der jeweiligen Kasse und eine jeweilige Sondersituation -, geben Sie mir dann recht, daß, wenn wir jetzt überlegen, ob diese Dinge aufgelöst werden, trotzdem auch die Finanzierungsfrage geregelt sein muß und der einfache Hinweis „steuerfinanziert" nicht heißt, daß hier Geld vorhanden ist, sondern daß dieses dann durch Einsparungen an anderer Stelle ({1}) erarbeitet, erbracht werden muß ({2}) und daß wir dann sehr dankbar sein würden, wenn uns die SPD hier mit Vorschlägen und mit Unterstützung dessen, was wir tun, zur Seite stünde?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Herr Kollege Weng, Ihre Frage war eine notwendige, von mir dankbar begrüßte Ergänzung; ({0}) denn man kann nur umstellen, wenn man das Geld hat. Wenn wir heute umstellen wollten und müßten, dann müßten wir noch mehr sparen, um das über Steuern zu finanzieren. Aber man muß wissen, in welche Richtung es geht. Die Richtung kann nicht sein, daß der Beitragszahler ein großes Programm von beruflicher Bildung finanziert, während die akademische Bildung über die Steuer finanziert wird. Das halte ich für eine Diskrepanz.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Bundesminister, die Kollegin Fuchs würde Sie jetzt gern fragen.

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesarbeitsminister, stimmen Sie mir zu, daß Sie die Frage des Kollegen so beantworten können: Wenn wir eine Arbeitsmarktabgabe hätten, hätten wir das Geld, um das zu finanzieren, was wir nicht mehr zu Lasten der Beitragszahler finanzieren wollen? ({0})

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Leider, Frau Kollegin Fuchs, ist das nicht so, denn der Zuschußbedarf der Bundesanstalt für Arbeit ist leider größer als jede denkbare Arbeitsmarktabgabe. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Sind Sie bereit, eine weitere Frage der Kollegin Fuchs zu beantworten?

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie stimmen mir zu, daß eine Teilfinanzierung darüber möglich wäre und daß die Frage der Finanzierung in der Tat so geregelt werden muß, daß nicht eine Verschlechterung der Arbeitsmarktpolitik dabei herauskommt?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Richtig. Mit dem, was ich vorschlage, will ich keine Verschlechterung der Arbeitsmarktpolitik, sondern eine andere Finanzierung, wobei ich eine Steuerfinanzierung für die einfachste und auch sachdienlichste halte. Dann brauche ich alle weiteren Umwege nicht. ({0}) Ich will noch etwas hinzufügen. Wir haben in der Tat auch im Zuge der deutschen Einheit in der Sozialversicherung große Lasten geschultert, getreu der Maxime Solidarität in der Sozialversicherung; darüber sollten wir nicht lange streiten. Dennoch bitte ich alle Kritiker der Sozialversicherung, nicht zu vergessen, daß die Beiträge 3 % niedriger wären, wenn die Sozialversicherung dies nicht geschultert hätte. Dennoch bitte ich zu berücksichtigen, daß wir trotz dieser Lasten 1992 die gleiche Soziallastquote wie 1982 hatten, was nur dadurch zu erklären ist, daß die Soziallastquote im Westen gesunken ist, während sie natürlich im Osten aus verständlichen Gründen auf 70 % hochgeschnellt ist. Ich möchte ja nur die Leistungen der Sozialpolitik der letzten zehn Jahre hier ins rechte Licht rücken, ohne mich der Tatsache zu entziehen, daß wir weiteren Veränderungs- und Handlungsbedarf haben, beispielsweise bei der Pflegeversicherung. Das halte ich für ein großes Thema. Ich stimme dem zu, was gestern der Parteivorsitzende der SPD gesagt hat: Die Diskussion verdunkelt langsam, worum es eigentlich geht. Von den Pflegebedürftigen redet kaum noch jemand. Meine Damen und Herren, ich hätte mir eine so kraftvolle Demonstration, wie sie am Montag gegen die Karenztage hier in Bonn organisiert wurde, in den letzten 20 Jahren für die Pflegebedürftigen gewünscht. Für die hat noch niemand demonstriert. Da habe ich noch niemanden gesehen. ({1}) Selber können sie nicht demonstrieren. Entweder sind sie im Pflegeheim, oder ihre Angehörigen haben keine Zeit, auf den Marktplatz zu kommen. Deshalb laßt uns über den Streit der Finanzierung eine Einigung herbeiführen! Ich hoffe, daß es uns gelingt, eine einvernehmliche Lösung zu finden. Aber ich finde, aus dem Auge darf nie verloren werden, für was und für wen - diese Frage muß man sich stellen - wir das ganze Unternehmen machen. Im übrigen, wenn über Finanzen gesprochen wird, will ich darauf hinweisen, daß das auch heute schon Geld kostet. Nur wird das heute über die Sozialhilfe organisiert. Das aber kann nicht die Regelsicherung für ein Risiko sein, das jeden treffen kann. Dafür war die Sozialhilfe nie gedacht. Meine Damen und Herren, es gibt zu diesem Thema viele Vorschläge. Lassen Sie mich dazu - sozusagen als Randprotokoll - noch folgendes sagen: Es ist angekündigt worden, daß heute die Arbeitgeber einen weiteren Vorschlag machen werden. Ich habe nicht mitgezählt, der wievielte das jetzt ist. Herzlich willkommen! Ich will nur eines sagen: Für mich haben zur Sache Pflegeversicherung die Arbeitgeber den Führerschein verloren. Das sage ich ganz kurz und trocken. ({2}) Derselbe Arbeitgeberverband, der im Mai zwei Karenztage zur Finanzierung der Pflegeversicherung für notwendig gehalten und gefordert hat, hat am Montag die Karenztage für verfassungswidrig erklärt. Was von einem solchen Diskussionsbeitrag zu halten ist, überlasse ich der Öffentlichkeit. ({3}) Laßt uns unsere Pflegeversicherung jetzt nicht im Dickicht von kleinlichen Streitereien und Rechthabereien ersticken! Laßt uns noch einen gemeinsamen Versuch machen, eine einvernehmliche Lösung zu finden! Es lohnt sich, denn am Schluß zählt nicht, wer recht gehabt hat. Am Schluß zählt, ob wir den Menschen geholfen haben. ({4}) Ein Teil der Politikverdrossenheit geht vielleicht darauf zurück - ({5}) - Nein, ich blicke ausdrücklich auch Sie an. Die Bevölkerung hat manchmal den Eindruck, es ginge nur um das Rechtbehalten. Es geht nicht um das Rechtbehalten, sondern es geht darum, Probleme zu lösen. Die Pflege ist ein Problem. Laßt es uns gemeinsam lösen! ({6})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Renate Schmidt, Sie haben das Wort.

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine sehr geehrten Herren und Damen! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Lieber Norbert Blüm, das war ja jetzt im Moment eher eine Verteidigungsrede der Sozialpolitik gegen die Wirtschaftspolitik dieses Kabinetts. ({0}) Sie haben gehört, wieviel Beifall Sie auch von unserer Seite bekommen haben. Ich frage mich nur: Wo schlägt sich eigentlich das, was Sie uns hier erzählt haben, in Ihrem Haushalt nieder? ({1}) Ich komme auf die einzelnen Punkte noch zu sprechen, würde aber zuerst gern auf das eingehen, was gestern der Herr Kollege Schäuble gesagt hat. Er hat gestern zu Recht die Frage gestellt: Was hält uns, die Deutschen, und was hält unsere Nation zusammen? Das ist eine wichtige Frage, und das ist eine legitime Frage, die nichts mit dem Nationalismus unseliger vergangener Zeiten zu tun hat, weil ihre Beantwortung heute nichts mit der Überheblichkeit vergangener Zeiten gegenüber anderen Nationen und nichts mit Abgrenzung und Abschottung zu tun hat und zu tun haben darf. Zusammenhalt, liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, in schwierigen Zeiten ist wichtig. Was hält uns also in diesen nicht einfachen Zeiten zusammen, und was sollte uns zusammenhalten? Sicher zum einen die Liebe zu unserer Heimat, zu ihren Menschen, zu Kultur und Sprache und zu dem Ort, an dem wir leben und arbeiten, wo wir zu Hause sind. Das, meine sehr geehrten Herren und Damen, ist viel, viel mehr als der Wirtschaftsstandort Deutschland. ({2}) Was sollte uns also in schwierigen Zeiten zusammenhalten? Ich denke, z. B. der Geist unserer Verfassung, die auf Freiheit und Verantwortung für das Gemeinwohl setzt, ({3}) deren Väter und Mütter die Sozialpflichtigkeit des Eigentums erkannt haben und deren Geist dem einzelnen Freiheit gibt und Solidarität abverlangt. ({4}) Die Menschen verlangen gerade in Zeiten großer Umbrüche von der Politik zu Recht Orientierung, und diese kann Politik nicht nur durch Reden, sondern sie muß sie vor allem durch konkretes Handeln geben. Der Rexrodt-Waigelsche-Haushalt - Herr Blüm, ich erwähne Sie ganz gezielt in diesem Zusammenhang nicht -, der nicht einmal mehr den Versuch unternimmt, sich mit sozialen Blümchen zu schmükken, ist der Haushalt der Entsolidarisierung unserer Gesellschaft. ({5}) Er spaltet die Gesellschaft weiter in oben und unten. Es ist ein Haushalt der wirtschaftlichen Hilflosigkeit und der sozialen Kapitulation, und zwar einer mehrfachen Kapitulation. ({6}) Die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien haben sich, belegt durch zahlreiche Äußerungen ihrer Regierungsmitglieder, damit abgefunden, daß es bei einem hohen Sockel von Arbeitslosigkeit bleiben wird. ({7}) - Ich kann Ihnen die Zitate liefern, wenn Sie es mir nicht glauben. - Aber das ist kein abstrakter „Sokkel", liebe Kolleginnen und Kollegen, sondern das sind ganz konkrete Menschen. ({8}) Das sind 5 Millionen Menschen, denen Sie, Herr Blüm - und dazu haben Sie nichts gesagt -, in Ihrem Haushalt das Arbeitslosengeld von im Durchschnitt heute 979 DM in Ostdeutschland und ca. 1 300 DM im Westen und die Arbeitslosenhilfe von im Durchschnitt 666 DM im Osten und 975 DM im Westen kürzen Renate Schmidt ({9}) wollen, die Sie nach zwei Jahren auf die Sozialämter verweisen wollen. Ich wünschte mir, Herr Blüm - bei Ihnen eigentlich weniger, sondern bei den Rexrodts Ihres Kabinetts -, daß Sie ein einziges Mal den Versuch unternehmen würden, eine Woche lang von dem zu leben, mit dem ein Arbeitsloser und seine Familie einen Monat auskommen müssen. ({10}) Sie würden es keine zwei Tage aushalten! Ihr Konzept der Hilflosigkeit heißt unsinnigerweise Arbeitszeitverlängerung nach dem Motto: Immer weniger Menschen arbeiten immer mehr bei immer höheren Abzügen, um die immer größer werdende Zahl derer, die überhaupt nicht arbeiten dürfen, über die Runden zu bringen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten werden uns nie mit „Sockeln von Arbeitslosigkeit" abfinden. ({11}) Für uns ist und bleibt die Möglichkeit - ich weiß, Herr Blüm: für Sie auch - für einen Menschen, durch seine Arbeit seinen Lebensunterhalt verdienen zu können, unverzichtbar. ({12}) Für uns ist das ein Menschenrecht. Sie versuchen nun - wiederum nicht Sie, Herr Blüm, sondern wesentliche Teile Ihres Kabinetts -, ({13}) den Menschen weiszumachen, durch Absenkung von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe würden Anreize zu Arbeit geschaffen. Wie soll denn das bei 5 Millionen fehlenden Arbeitsplätzen und 291 000 offenen Stellen funktionieren? Ich bin von Beruf Systemanalytikerin, Rechnen habe ich gelernt, und ich weiß: Das kann nicht funktionieren. ({14}) Es fehlt nämlich in unserem Land nicht an Anreizen, erwerbstätig zu sein, sondern es fehlt in unserem Land an Möglichkeiten, zu arbeiten, bezahlt zu arbeiten, und dafür haben wir zu sorgen. ({15}) Deshalb ist es konzeptionslos, Umschulungsmaßnahmen, Weiterbildungsmaßnahmen und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu kürzen. Es ist konzeptionslos, weil damit das, was wir in unserem rohstoffarmen Land brauchen, nämlich bessere Qualifikation, nicht gefördert wird, und es bedeutet, daß wir nicht Arbeit, sondern Arbeitslosigkeit finanzieren. Und es ist wirtschaftspolitisch kurzsichtig, durch diesen Haushalt den Bund zu entlasten und die Kommunen in einem Ausmaß zu belasten, daß deren Investitionsmöglichkeiten zum Erliegen kommen. Wenn eine Stadt - Herr Faltlhauser ist leider nicht mehr da - ({16})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Er sitzt im Saal.

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, jetzt sehe ich ihn. - Herr Faltlhauser, ganz so plump wie Sie mache ich es nicht. Aber auch ich erwähne jetzt München. Wenn eine Stadt wie München oder eine Stadt wie Köln durch diesen Haushalt zwischen 20 und 90 Millionen DM Mehrausgaben haben wird, wenn Städte in den neuen Ländern nicht mehr aus noch ein wissen, dann können Sie vielleicht als Erfolg verbuchen, daß der Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit für kurze Zeit freundlicher aussieht. Dennoch wird der Volkswirtschaft dadurch Schaden zugefügt. Herr Faltlhauser, wenn Ihr Kandidat in München in der Zwischenzeit eine derartig plumpe Unterstützung notwendig hat, dann muß es weit mit ihm gekommen sein. ({0}) Ich will jetzt nicht auf Dinge eingehen, die die Kolleginnen und Kollegen aus anderen Bundesländern und anderen Städten gar nicht beurteilen können. Ich will mich mit Ihnen nicht über die Verkehrsprobleme und die Wohnungsbaumaßnahmen in München auseinandersetzen. Doch ich sage Ihnen eines: Er wird nicht gewinnen, aber wenn er es denn würde, könnte er nichts von dem, was Sie gesagt haben, jemals durchführen, weil Sie durch Ihre Finanz- und Wirtschaftspolitik der Stadt München so viel Geld nehmen, daß er weder seine komischen Ringstraßen noch Wohnungen bauen könnte. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Kollegen Faltlhauser zu beantworten?

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich. - Ich habe Sie jetzt gesucht, Herr Kollege. ({0}) - Ich habe damit doch nicht angefangen. Er hat doch angefangen. ({1}) Herr Faltlhauser, bringen wir es hinter uns.

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000517, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, würden Sie mit mir darin übereinstimmen, Renate Schmidt ({0}) ({1}): Höchstwahrscheinlich nicht.

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000517, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- daß die Finanznöte dieser Stadt nicht zuletzt damit zusammenhängen, daß die Stadtregierung seit Jahren systematisch das dortige Gewerbe vertreibt ({0}) - ich darf doch, Herr 'Präsident, fortführen -, und zwar dadurch, daß sie mittlerweile einen Gewerbesteuersatz geschaffen hat, der der höchste in der Bundesrepublik Deutschland ist ({1}) und der jedes Unternehmen, das bei der Standortwahl Alternativen hat, veranlaßt, zu sagen: In dieser Stadt, bitte schön, nicht, sondern draußen, da bin ich bestenfalls mit der Hälfte der Grundsteuer belastet? Und stimmen Sie mir weiterhin zu, Frau Kollegin, daß nicht zuletzt auf Grund des absoluten Baulandausweisungsstopps der derzeitigen Stadtregierung dort keiner mehr investieren kann und daß dies Verlust an Arbeitsplätzen ebenso wie an Finanzen bedeutet? ({2})

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Kollege Faltlhauser, vielleicht waren Sie schon längere Zeit nicht mehr in Ihrem Wahlkreis, das kann ja sein. Ich stimme natürlich nicht mit Ihnen überein. Ist Ihnen bekannt, wieviel Anträge auf Neuansiedlung es in München gibt? Ist Ihnen bekannt, wieviel Unternehmen dort neu bauen wollen? Ist Ihnen bekannt, daß das, was Sie gerade angeführt haben, von Ihnen schlicht und einfach vorgeschobene Probleme sind und daß, ob in Bayern oder anderen Ländern, die Bürgermeister, ob sie nun der CDU, der CSU, der SPD oder den Freien Wählern angehören, alle über dasselbe klagen, nämlich daß sich der Bund zu Lasten der Gemeinden entlastet? Das bleibt wahr. ({0}) Ich glaube, Herr Kollege Faltlhauser, wir sollten mit dieser plumpen Verlagerung des Münchener Oberbürgermeisterwahlkampfs in dieses Hohe Haus jetzt wirklich aufhören. ({1}) - Ich bin überhaupt nicht nervös. Ich zitiere ihn selten, eigentlich nie, aber wo er recht hatte, hatte Franz Josef Strauß recht, der zum Ende der sozialliberalen Koalition gesagt hat, daß man sich auch zu Tode sparen kann. Ja, man kann sich zu Tode sparen, wenn man an der falschen Stelle spart. Man kann an der falschen Stelle sparen, wenn mit diesem Haushalt die Binnennachfrage nach seriösen Schätzungen um 35 Milliarden DM sinken wird. Wir haben zwar einen hohen Exportanteil, aber wir leben auch von dem, was die Menschen bei uns im Land kaufen. Wenn sich die Menschen bei uns im Land nichts mehr kaufen können, dann werden weitere Arbeitsplätze gefährdet. Das muß auch einmal gesagt werden. ({2}) Man kann sich auch zu Tode sparen, wenn man falsch spart, wenn man dort, wo unsere Zukunft liegt, Mittel einschränkt. Egal, was diskutiert werden kann, wir werden doch ein Hochlohnland bleiben. Ein Hochlohnland lebt davon, daß es Produkte mit hoher Wertschöpfung produziert. Das kann es nur, wenn es in Innovation, in Forschung und Entwicklung Geld hineinsteckt. Wenn ich mir anschaue, daß wir z. B. in der Bundesrepublik Deutschland in der Telekommunikationsindustrie, bei der wir heute noch die Nase vorn haben, gerade 10 % der Forschungsmittel durch den Staat aufbringen, und wenn ich mir anschaue, daß die Franzosen oder die Italiener, die Japaner oder die Vereinigten Staaten in demselben Bereich zwischen 60 und 80 % der Forschungs- und Entwicklungskosten tragen, so ist es kein Wunder, daß bei uns auch in diesem hoch zukunftsträchtigen Bereich Arbeitsplätze verlorengehen. Darum ist die Politik, die in diesem Bereich von der Bundesregierung betrieben wird, schlicht und einfach falsch. ({3}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, man kann Arbeitslosigkeit - dazu haben Sie ebenfalls nichts gesagt, Herr Blüm - auch selbst erzeugen, indem man z. B. das Schlechtwettergeld abschafft, ({4}) schön nach dem Motto: Ein Haushaltsloch zu, ein anderes Haushaltsloch auf. Das ist das berühmte Waigelsche „ Stopf -and-go-System" . ({5}) In diesem Bereich haben Industrie, Gewerkschaften und Staat gemeinsam Vorbildliches geschaffen. Mit dem Vorhaben von Herrn Blüm - Fragezeichen - oder Herrn Rexrodt - Fragezeichen - oder Herrn Waigel - Fragezeichen - werden Zustände wie vor 50 Jahren einkehren, als jährlich Zigtausende von Bauarbeitern entlassen wurden. Wo werden sie landen? - Bei der Bundesanstalt für Arbeit. Was würde gespart? - Nichts. Was wird erreicht? - Höhere Arbeitslosigkeit und höhere Unsicherheit bei den betroffenen Menschen. Mit Verlaub gesagt, Herr Blüm: Ihr revolutionärer Vorschlag, die Firmen sollen halt die Arbeitnehmer ganzjährig beschäftigen, erscheint vor dem Hintergrund der realen wirtschaftlichen Situation gerade der mittelständischen Betriebe doch etwas albern. ({6}) Jeden Sonntag das Hohelied von der mittelständischen Wirtschaft singen und jeden Wochentag gerade diese mittelständische Wirtschaft weiter belasten, so geht es garantiert nicht! ({7}) Meine sehr geehrten Herren und Damen, wir haben gestern an vielen Stellen Appelle zur Gemeinsamkeit gehört. Das ist auch richtig. Wir verweigern uns nicht. Aber Gemeinsamkeit auf der Basis selbstherrlicher Rechthaberei machen wir nicht mit. ({8}) Ich will jetzt nicht das vernichtende Urteil der öffentlichen Anhörung zu dem, wie Sie Pflege finanzieren wollen, vom Montag dieser Woche wiederholen. Herr Schäuble hat uns angeraten, wir sollten doch bitte andere Finanzierungsvorschläge machen. Gerne; aber, Herr Blüm, erst müssen Sie Ihre Hausaufgaben machen und sich entweder unserem Konzept anschließen ({9}) oder Ihres gründlich ändern. ({10}) Was sollte mit dieser Pflegeversicherung denn eigentlich erreicht werden? Es sollte zum ersten die Situation derer, die zu Hause gepflegt werden, und derer, die sie dort pflegen, deutlich verbessert wer14900 Renate Schmidt ({11}) den. Es sollte zum zweiten die Unabhängigkeit derer, die in stationärer Pflege sind, von Sozialhilfe endlich überwiegend erreicht werden. Es sollte zum dritten die Entlastung der Kommunen von den viel zu hohen Kreisumlagen erreicht werden. Und was wird erreicht? Die Kommunen sollen den größten Brocken dessen, was sie an Entlastung haben, auf irgendwelchen Wegen dem Bund wieder zurückgeben. ({12}) Was wird für diejenigen erreicht, die von Taschengeld und Sozialhilfe abhängig sind? 80 % werden nach dem Blümschen Konzept weiterhin von Sozialhilfe abhängig bleiben. Was wird für diejenigen erreicht, die zu Hause pflegen und gepflegt werden? Für einige, die gepflegt werden, Verbesserungen, für die, die pflegen, so gut wie keine Verbesserungen. Das ist Ihr Konzept. ({13}) Für eine solche Pflegeversicherung können wir keine Finanzierungsvorschläge über das hinaus, was wir vorgelegt haben, machen. ({14}) Wir sind zu Gemeinsamkeiten bereit und haben das in der Vergangenheit gerade in der Sozialpolitik immer wieder bewiesen. Wir sind aber nicht bereit zu Gemeinsamkeiten um jeden Preis. Meine sehr geehrten Herren und Damen, der Herr Bundeskanzler hat am Jahresanfang in der CDU davon gesprochen - ich habe mich damals darüber gefreut, weil ich dachte, jetzt kommen wir auf den richtigen Weg -: Wir wollen umbauen und nicht abbauen. Umgebaut wird nahezu nichts; abgebaut wird viel zuviel. Natürlich ist Umbau notwendig. Herr Blüm, Sie haben hier jetzt gerade ein Beispiel genannt. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident und künftige Bundeskanzler ({15}) hat gestern hier ebenfalls in diesem Sinne argumentiert und gesagt, daß wir die Arbeitslosenversicherung anders organisieren müssen. Die Reaktion gestern von Herrn Schäuble und die Reaktion jetzt auch von Ihnen: Man will es zwar; aber es geht nicht. Aber eines geht offensichtlich immer: Arbeiter, Angestellte, Handwerksmeister und Privatwirtschaft werden zu alleinigen Finanziers von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, von Umschulungsmaßnahmen, von Sprachkursen für Aussiedler gemacht. Das geht immer! Bezahlt wird es ja, aber es wird von den Falschen bezahlt. Warum können wir es eigentlich nicht von den Richtigen bezahlen lassen, nämlich von der Allgemeinheit? Ich möchte gern endlich etwas dazu beitragen dürfen und nicht weiter zuschauen, wie das Arbeiter und Angestellte machen. ({16}) Umbau ist notwendig, und natürlich müssen die Kosten von Arbeit niedriger werden. Warum greifen Sie deshalb nicht unsere Anregungen oder, wenn Ihnen das nicht paßt, die gleichlautenden Vorstellungen des Bundes Junger Unternehmer auf, Arbeit zu entlasten und die Verschwendung unserer Ressourcen, die Zerstörung unserer Umwelt mit Steuern zu belegen? Warum hängen Sie nach wie vor der antiquierten Denkweise des Gegensatzes von Ökonomie und Ökologie nach? Warum verhallen die Gutachten, die Sie selbst in Auftrag gegeben haben, ungehört? Warum lernen Sie nicht aus der Erfahrung der Japaner, die in den letzten Jahren die Energieeffizienz gesteigert, die Transportkosten gesenkt und die Umweltbelastungen gemindert haben - bei gestiegenem Wachstum in nahezu allen Feldern -, die die Produktionskosten bei gesteigertem Wachstum deutlich gesenkt haben, doppelt so stark wie wir? Wir müssen die Produktionskosten senken, und wir müssen umbauen. Herr Blüm, Sie haben es gerade beklagt, aber was tun Sie dagegen, daß nicht immer mehr Menschen zu unser aller Lasten vorzeitig und gegen ihren Willen in den Ruhestand geschickt werden? Was macht eine Diskussion über die Verlängerung der Lebensarbeitszeit für einen Sinn, wenn kaum mehr jemand sein reguläres Rentenalter erreicht, wenn 50jährige - wir beide, Herr Blüm, Sie und ich, sind auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelbar - als nicht mehr vermittelbar gelten und wenn sich eine zunehmende Ex-und-hopp-Mentalität gegenüber älteren Arbeitnehmern breitmacht? Dem darf nicht länger zugeschaut werden. ({17}) Natürlich Umbau, aber doch nicht dem Berufspendler aus Cham an der tschechischen Grenze, der nach Regensburg zum Arbeiten fahren muß, mit der Mineralölsteuererhöhung das Geld aus der Tasche ziehen, um es seinem Vorstandsvorsitzenden als Spitzensteuersatzsenkung auf dem Silbertablett zu servieren. So haben wir uns jedenfalls Umbau nicht vorgestellt. ({18}) Lassen Sie mich noch in aller Ruhe ein Wort an die Vorstände sagen. ({19}) Die meisten reden davon, daß der Gürtel enger geschnallt werden muß - das ist schwierig, Herr Fuchtel, nicht wahr? -, und wir alle wissen, daß dies nötig ist. Unser Wohlstand gründet sich darauf, daß wir seit Bestehen der Bundesrepublik nicht nur eine freie, sondern eine Soziale Marktwirtschaft haben. Dies zu akzeptieren heißt, mit gutem Beispiel voranzugehen. Wer glaubt, sich in diesen Zeiten bei Monatseinkommen zwischen 40 000 und 200 000 DM seine Bezüge zwischen 55 und 9 % erhöhen zu müssen, darf sich nicht wundern, daß Sparappelle ungehört verhallen. ({20}) Renate Schmidt ({21}) Ich wünsche mir, daß endlich jeder und jede mit dem Sparen bei sich selber anfängt, bevor er oder sie es von anderen verlangt. Dies hat nichts mit Neid zu tun, aber sehr viel mit sozialer Gerechtigkeit. Es hat auch nichts mit Neid zu tun, wenn wir penetrant - ich weiß, daß es Sie aufregt, und ich weiß, daß meine Kollegin Matthäus-Maier Sie gestern am Nerv getroffen hat ({22}) sagen: Sie verschwenden auch beim Familienlastenausgleich das Geld an der falschen Stelle. ({23}) Es ist nicht hinnehmbar, wenn diejenigen mit Spitzeneinkommen im Monat 251 DM für ihr Kind bekommen und diejenigen, die wenig verdienen, 135 DM. Konzentrieren Sie doch endlich unsere wenigen Mittel auf diejenigen, die sie tatsächlich brauchen! ({24}) Meine sehr geehrten Herren und Damen, ich war letzte Woche nicht nur in München, sondern auch in Görlitz, in Nebra und in Hohenstein. Ich will nicht die Zeichen der Hoffnung verkennen, aber der Optimismus, den ich habe, darf den Blick auf die Realität nicht verstellen: 50 % reale Arbeitslosigkeit in Görlitz, 25 % in Nebra und in Hohenstein. Die Tatsache, Frau zu sein, bedeutet überall, das Etikett „schwer vermittelbar" angeheftet zu bekommen. Es gibt ganze Straßenzüge, in denen das eine renovierte Haus, bei dem die Eigentumsfrage geklärt ist, „herausknallt". Das Ganze ist etwas, was Sie sich anlasten müssen. Natürlich sind Sie nicht an allem schuld. Aber das, was Sie uns aufs Auge gedrückt haben, das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung, hat uns in der Zwischenzeit Milliardenbeträge gekostet, hemmt Investitionen und ist ein Hemmnis für den möglichen Aufbau in den neuen Ländern. ({25}) Meine sehr geehrten Herren und Damen, Umbau: ja. Dazu gehört natürlich auch der Abbau von Mißbrauch. Sozialdemokraten haben keinerlei Sympathie für jegliche Art von Mißbrauch. Aber er sollte überall und mit der gleichen Intensität bekämpft werden. Es paßt eben nicht zusammen, wenn wir bei den Arbeitslosen Mißbrauch mit hohem Aufwand bekämpfen, aber Einkommensteuererklärungen nur noch pauschal überprüft werden sollen. Es paßt nicht zusammen, wenn wir der alleinerziehenden Mutter, die sich zur Sozialhilfe durch Putzengehen ein paar Mark dazuverdient, sagen, das ist Mißbrauch, aber Banken, die Tips geben, wie man am besten die Zinsabschlagsteuer im Ausland umgeht, nicht zur Rechenschaft ziehen. ({26}) Wir wollen keine Raffgesellschaft, nirgendwo. Wer Mißbrauchsbekämpfung bei Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern beginnt und Steuersünder laufen läßt, wird nicht das Verantwortungsgefühl für unser Land, sondern die Selbstbedienungsmentalität stärken. Meine sehr geehrten Herren und Damen, diese Regierung hat den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit aufgegeben. Dieser Arbeitsminister - das haben wir heute feststellen können hat resigniert und ist nicht einmal mehr das sozialpolitische Feigenblatt dieser Koalition. ({27}) Dieser Haushalt gibt nicht die richtige Orientierung. Die Signale heißen weiter Umverteilung von unten nach oben und Entsolidarisierung. ({28}) Wir müssen uns in unserem Land auf gemeinsame Ziele verständigen. Die können für uns Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen nur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, schonender Umgang mit den Ressourcen dieser Erde sowie Sicherung des inneren und äußeren Friedens heißen. Unsere Generation, die Generation derer, die zum Ende des Zweiten Weltkriegs und danach geboren sind, ist jetzt gefordert. Für uns in den alten Bundesländern ging es in diesen 40 Jahren eigentlich kontinuierlich aufwärts. Unsere Aufgabe ist garantiert nicht Gejammer, sondern Anpacken. Die Menschen in unserem Land - das weiß ich - sind bereit, gemeinsam Verantwortung für unser Land zu übernehmen, wenn Solidarität, wenn Gerechtigkeit und wenn Orientierung als politische Rahmenbedingungen erfüllt sind. Zur Orientierung gehört auch, eigene Unsicherheiten zuzugeben. Ich weiß, daß die SPD nicht im Besitz der alleinseligmachenden Wahrheit ist. Ich weiß aber, daß Sie in der Regierungskoalition das garantiert auch nicht sind. ({29}) Ich empfehle, es mit Olof Palme zu halten, der einmal gesagt hat, wenn er nicht wisse, wie er sich entscheiden solle, dann frage er: Dient diese Entscheidung dem Frieden, und dient diese Entscheidung unseren Kindern?

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist sehr weit überschritten.

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich wünsche mir, daß wir endlich wieder in mehr als der Hälfte aller Fälle sagen können: Ja, das, was wir tun, dient dem Frieden und dient unseren Kindern. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Julius Louven, Sie haben das Wort.

Julius Louven (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herrn! Ich möchte zunächst die Frau Kollegin Schmidt im Kreise der Sozialpolitiker begrüßen. ({0}) Ich vermute jedoch, daß Sie diesem Kreis nur angehören, um heute ein wenig Kommunalwahlkampf für München zu machen. ({1}) Daß Sie, Frau Schmidt, nicht allzu sattelfest in der Sozialpolitik sind, beweist die Tatsache, daß Sie hier behauptet haben, Sprachkurse für Ausländer würden über die Bundesanstalt finanziert. ({2}) - Für Aussiedler. Dies haben wir schon im vorigen Jahr geändert. ({3}) Meine Damen und Herren, Dienstag MatthäusMaier, Mittwoch Scharping, heute Schmidt ({4}) es scheint das Ziel der SPD zu sein, der deutschen Öffentlichkeit zu vermitteln, der Sozialstaat stehe vor dem Aus. Ich finde dies, meine Damen und Herren von der SPD, verantwortungslos. Es war für mich schon bezeichnend, daß in einem Kommentar des Westdeutschen Rundfunks am Dienstagabend gesagt wurde, davon könne überhaupt nicht die Rede sein, hier überziehe die SPD maßlos. Wenn dies aus dem Westdeutschen Rundfunk ertönt, müßte Ihnen dies schon zu denken geben. 1 000 Milliarden DM beträgt das Sozialbudget in der Bundesrepublik Deutschland. 15 Milliarden DM werden im Sozialbereich eingespart, und Sie inszenieren ein Katastrophenszenario. Nun will ich Sie nicht an das erinnern, was führende Sozialdemokraten in der Vergangenheit gesagt und beschlossen haben. Ich will Sie nicht daran erinnern, welche Einsparmaßnahmen sozialdemokratisch geführte Bundesländer derzeit beschließen. Ich will Sie auch nicht an die Rede des „Weltökonomen" Schmidt vor Ihrer Fraktion erinnern, als er Kürzungen im Sozialbereich 1982 rechtfertigte. Ich will aber schon mit Nachdruck darauf hinweisen, daß Sie sich einmal ansehen sollten, wie man in anderen westeuropäischen Ländern, ob konservativ oder sozialdemokratisch regiert, auf die Herausforderungen durch die Wirtschaftskrise reagiert. Diese gehen bei Kürzungen wesentlich weiter und haben keine deutsche Einheit zu schultern. Anstatt uns, wie gestern von Herrn Scharping geschehen, vorzuwerfen, unsere Sozialpolitik sei kalte Technokratie und wir würden die Wirklichkeit nicht kennen bzw. uns nicht damit vertraut machen, sollten wir - und daß müßte das Gebot der Stunde sein, meine Damen und Herren von der SPD - in einen Dialog eintreten, wie wir in schwierigen Zeiten unsere Sozialversicherungssysteme sichern können. In der gesetzlichen Krankenversicherung sind wir gemeinsam ein gutes Stück vorangekommen, indem wir Leistungen reduziert und gestrichen haben sowie die Leistungsanbieter zu mehr Wirtschaftlichkeit veranlaßten. In diesem Zusammenhang reden Sie von der Sozialdemokratie zu Recht nicht von einem sozialen Kahlschlag. Auch in der Rentenversicherung haben wir gemeinsam gehandelt. Auch hier wurden notwendigerweise Leistungen zurückgenommen. Ich darf in diesem Zusammenhang nur an die Nettoanpassung statt der Bruttoanpassung der Renten erinnern. In der Rentenversicherung haben wir aber gegenwärtig keinen akuten Handlungsbedarf, wenngleich die erwartete Erhöhung der Beiträge im nächsten Jahr in der jetzigen schwierigen Situation, gesamtwirtschaftlich gesehen, nicht von Vorteil ist. Ich füge an dieser Stelle jedoch auch hinzu, daß wir nicht die Augen davor verschließen dürfen, daß langfristig weiterer Handlungsbedarf besteht. Bis zum 30. Lebensjahr in der Ausbildung, mit 59 Jahren in den Ruhestand, und dies bei einer Lebenserwartung von deutlich über 80 Jahren - dies kann unsere gute alte Rentenversicherung auf Dauer nicht aushalten. ({5}) Ich komme zur Arbeitslosenversicherung. Ministerpräsident Scharping hat gestern den beitragsbezogenen Transfer von West nach Ost angesprochen, wobei seine Zahl von 50 Milliarden DM bei weitem nicht stimmt. Er hat davon gesprochen, daß die Arbeitsförderungsmaßnahmen nicht vom Beitragszahler finanziert werden dürfen. - Sie haben das heute wiederholt, Frau Schmidt. - Dies kommt unseren und meinen Vorstellungen sehr nahe. Die Tatsache, daß wir es noch nicht umsetzen, ist einfach dadurch begründet, daß wir die entsprechenden Mittel für Arbeitsförderungsmaßnahmen im Haushalt nicht zur Verfügung haben. Scharping führte dann aus, man könne möglicherweise - Frau Fuchs, vielleicht hören Sie einmal zu - auf eine Arbeitsmarktabgabe verzichten. Er hat aber mit keinem Satz erläutert, wie dann die Mittel für die Arbeitsförderung aufgebracht werden. Dies, meine Damen und Herren, ist unseriös. ({6}) Wir arbeiten weiter an der Lösung des Problems. Nach unserer groben Vorstellung sollte die Arbeitsförderung steuerfinanziert werden. Dieser Bereich könnte dann bei der Arbeitsverwaltung in Nürnberg als Auftragsverwaltung angesiedelt bleiben. Für die Entscheidungen wäre nach meinem Verständnis dann jedoch nicht mehr die Selbstverwaltung, sondern der Bund zuständig. Wenn wir dies verwirklichen, stellt sich für uns die Frage - für mich stellt sie sich im übrigen schon jetzt -, ob wir dann überhaupt noch Landesarbeitsämter brauchen. Ich meine, nein. Wir werden die aktive Arbeitsmarktpolitik fortsetzen, wobei die einzelnen Förderinstrumente noch stärker dem Ziel nach mehr Beschäftigung verpflichtet sein müssen. Dies erfordert auch hier eine kritische Überprüfung. Schon jetzt möchte ich deutlich sagen, daß die beiden Instrumente - Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sowie Fortbildung und Umschulung Julius Louven auf Dauer in diesem Umfang kein Allheilmittel darstellen können. ({7}) Ich halte im übrigen die Umstellung bei Fortbildung und Umschulung von einer Regel- zu einer KannLeistung für unabdingbar. ({8}) Hier sind jetzt mehr Steuerungsmöglichkeiten gegeben. Die Bundesanstalt für Arbeit sollte diesen Spielraum an die örtliche Ebene der Arbeitsverwaltung weitergeben. Wegen der Nähe zum Bürger ist es immer besser, Entscheidungen dort zu treffen, wo sie unmittelbar Anwendung finden. Die Absenkung des Unterhaltsgeldes auf das Niveau des Arbeitslosengeldes halte ich für gerechtfertigt - dies um so mehr, als derjenige, der eine Umschulung finanziert bekommt, hierfür, also für seine persönliche Weiterqualifizierung, nichts zu zahlen hat. Wir sollten auch einmal darüber nachdenken, ob nicht Fortbildung und Umschulung mit einer leichten Eigenbeteiligung ausgestaltet werden sollten. So kann man bei den Teilnehmern eine stärkere Identifikation mit dem Maßnahmenziel und eine erhöhte Eigeninitiative bewirken. ({9}) Meine Damen und Herren, ich komme zur Pflegeversicherung. Der Vorwurf des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Scharping, unsere Pflegeversicherung bringe eine Verbesserung von nur 3 DM, war schon peinlich; noch peinlicher seine spätere Rechtfertigung. Juristen pflegen zu sagen: Ein Blick in die Gesetze erleichtert die Urteilsfindung bisweilen erheblich. Dies hätte Herr Scharping sich zu Herzen nehmen sollen. Die Fakten: Unser Entwurf sieht für Leistungen bei häuslicher Pflege vor: Pflegegeld - je nach Pflegestufe - von 400, 800 oder 1 200 DM monatlich. ({10}) Statt dessen können aber auch Sachleistungen in Anspruch genommen werden, bei den Schwerstpflegebedürftigen bis zu einem Betrag von 2 100 DM. Nun vergleiche ich dies mit dem SPD-Entwurf: Pflegegeld - je nach Pflegestufe - von 500, 1 200 oder 1 500 DM monatlich; gleichfalls Sachleistungen bei den Schwerstpflegebedürftigen bis zu einem Gesamtwert von 1 800 DM. Das sind eindeutige Zahlen, wie ich meine. Wir wissen, daß unsere Leistungen eine Grundversorgung darstellen, die nicht alle Wünsche erfüllen kann. Wir wissen aber auch, daß, wie man es auch immer dreht und wendet, unbestreitbar ist: Alle Sozialleistungen - gleich, ob es sich um Leistungen der Arbeitslosen-, Kranken-, Renten- oder Pflegeversicherung handelt - müssen stets von den Erwerbstätigen erwirtschaftet werden. Das hat unmißverständlich auch der Ihnen sicherlich bekannte Nationalökonom und Sozialpolitiker Mackenroth uns Sozialpolitikern in den 50er Jahren ins Lehrbuch geschrieben. Die Volkswirtschaft ist keine Wundertüte, aus der mehr Sozialleistungen herausgeholt werden können, als in Form erwirtschafteter Einkommen von den Erwerbstätigen hineingegeben werden. Die Belastung der Erwerbstätigen mit Steuern und Sozialabgaben und die Belastungen der Wirtschaft liegen an der Obergrenze. Die Union sieht dies und ist bereit, daraus Konsequenzen zu ziehen. Vor diesem Hintergrund ist es unverantwortlich, gegen die von uns beabsichtigte Kompensation zugunsten der Wirtschaft zu polemisieren. Es ist doch wohl unbestritten, daß wir die Unternehmen nicht weiter belasten können. Im übrigen haben dies Frau Matthäus-Maier, die ich auch heute wieder zitiere, vor dem nordrhein-westfälischen Handwerk in Düsseldorf und die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Simonis, die den Vorschlag gemacht hat, drei Feiertage zur Finanzierung der Pflegeversicherung zu streichen, untermauert. ({11}) - Ich rede von Frau Simonis. ({12}) - Ich hatte Sie vorher zitiert. Sie haben nicht genau zugehört, Frau Kollegin. ({13}) - Lesen Sie das einmal nach. Ich habe das korrekt gesagt. Nachdrücklich haben diese beiden Damen untermauert, daß die Belastung nicht steigen darf. Nun polemisieren Sie gegen die Änderung des Lohnfortzahlungsgesetzes. Scharping gestern: Niemand in dieser Republik will sie, nur noch diese Regierung. ({14}) Ich meine, meine Damen und Herren von der SPD, Frau Fuchs: Sie sollten sich diese Ablehnungsfront einmal etwas genauer ansehen. Es waren am Montag Leute dabei, die noch vor zwei Jahren Karenztage forderten und von denen ich fast sicher bin, daß sie, wenn sie denn die Pflegeversicherung nicht verhindern können, irgendwann mit dieser Forderung wieder auftreten werden. ({15}) Soviel ich weiß, hat keine Industrienation der Welt ein so großzügiges Lohnfortzahlungsgesetz wie wir in der Bundesrepublik. ({16}) Solange dies zu finanzieren ist, Frau Fuchs, habe ich dagegen nichts einzuwenden. Wenn Sie aber in Zweifel ziehen, daß nach diesem Gesetz Mißbrauch betrieben wird, so sollten Sie wirklich einmal mit vernünftigen Betriebsräten reden, die Ihnen dann bestätigen, was es an Mißbrauch in diesem Bereich gibt. ({17}) Sie sollten in der Diskussion auch nicht verschweigen, daß wir alternativ die Streichung von Urlaub anbieten. Schließlich betrug der Urlaub bei Inkrafttreten des Lohnfortzahlungsgesetzes durchschnittlich 15 Tage, heute beträgt er 30 Tage.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Louven, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heyenn?

Julius Louven (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Günther Heyenn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000897, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Louven, Sie haben auf Gespräche mit Betriebsräten hingewiesen und damit Mißbrauch zu begründen versucht. Können Sie mir einen Sachverständigen, können Sie mir eine Organisation aus der Anhörung am vergangenen Montag nennen, der bzw. die für möglichen Mißbrauch irgendwelche verwertbaren Unterlagen vorzuweisen in der Lage war?

Julius Louven (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, die kann ich Ihnen nennen: Der Vertreter der deutschen Ärzteschaft hat durchaus anerkannt, daß es Mißbrauch gibt. Ebenso hat die Vertreterin des Medizinischen Dienstes Baden-Württemberg sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, daß es in diesem Bereich Mißbrauch gibt.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Eine weitere Frage des Kollegen Heyenn?

Julius Louven (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Günther Heyenn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000897, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Können Sie mir dann bestätigen - wo Sie mir indirekt schon zugestimmt haben -, daß alle, die Sie zitiert haben, gesagt haben, Mißbrauch gebe es überall, aber die Instrumente, um diesen Mißbrauch bei der Krankheit zu bekämpfen, seien viel zu aufwendig und die Mißbrauchsquote sei vernachlässigbar?

Julius Louven (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Daß die Instrumente unterschiedlich gesehen wurden, will ich Ihnen gerne bestätigen. Wir sind aber schon der Meinung, daß es angebracht wäre, ein Steuerungselement gegen mißbräuchliche Krankschreibung in der Gesetzgebung vorzusehen. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Der Kollege Büttner möchte ebenfalls eine Zwischenfrage stellen.

Julius Louven (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Hans Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000302, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Louven, halten Sie es angesichts der Aussage des Vertreters des Medizinischen Dienstes Baden-Württemberg bei der Anhörung am vergangenen Montag, der erklärt hat, daß nur 0,16 % der dort überprüften krankgeschriebenen Arbeitnehmer wahrscheinlich Mißbrauch betrieben hätten, überhaupt für vertretbar, alle kranken Arbeitnehmer zu den alleinigen Financiers des Arbeitgeberanteils der Pflegeversicherung zu machen?

Julius Louven (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Vertreter des Medizinischen Dienstes hat, Herr Kollege Büttner, auch zum Ausdruck gebracht, daß verläßliches Zahlenmaterial noch fehlt. Auf Ihre zweite Bemerkung komme ich im Laufe meiner Rede noch zu sprechen. ({0}) - Herr Ausschußvorsitzender, ich habe Ihren Zwischenruf nicht verstanden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Louven, jetzt möchte noch der Kollege Dreßler eine Zwischenfrage stellen.

Julius Louven (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte jetzt fortfahren. Meine Damen und Herren, ich erkläre trotzdem von diesem Pult zum wiederholten Male, daß wir für andere Formen der Kompensation offen sind. Nur, viel Zeit haben wir nicht mehr. Die Pflegebedürftigen haben Anspruch auf eine Pflegeversicherung. ({0}) Ohne Kompensation wird es die Pflegeversicherung nicht geben. ({1}) Es muß sich zeigen, ob wir in der Bundesrepublik noch zur Solidarität mit den Pflegebedürftigen fähig sind. Das ist auch meine Antwort an Sie, Herr Büttner. Sie, meine Damen und Herren von der SPD, riskieren, daß Sie mit Ihrer Verweigerungshaltung möglicherweise für ein Scheitern der Pflegeversicherung verantwortlich gemacht werden. ({2}) Wollen Sie dies auf sich laden? Wir müssen in der Sozialpolitik umdenken und uns verstärkt darauf besinnen, was der Grundwert der Solidarität erfordert: nach meiner Meinung die gemeinschaftliche Absicherung jener Risiken, die der einzelne nicht allein und aus eigenen Kräften tragen kann. Ich bin der festen Überzeugung, daß auch Sie, meine Damen und Herren von der SPD, wissen, daß hieran kein Weg vorbeiführt. Das bedeutet, daß, wer auch immer regiert, nicht daran vorbeikommt, sich diesen Fragen zu stellen. Ich lade Sie als Opposition ganz herzlich ein, auf dieser Basis und vor dieser großen Verantwortung mit uns in einen Wettstreit um die Sicherung der Sozialversicherungssysteme einzutreten, wobei das Patentrezept nicht darin bestehen kann, immer mehr Geld auszugeben, da dies für lange Zeit nicht mehr zur Verfügung steht. Da ich noch ein paar Minuten Redezeit zur Verfügung habe, will ich mich noch mit der Situation auf dem Arbeitsmarkt auseinandersetzen. Wenn man Sie so hört, wollen Sie glauben machen, die Verantwortung für die Arbeitslosigkeit läge allein bei der Bundesregierung. ({3}) Ich bin der Meinung, daß die Verantwortung für die Entwicklung der Beschäftigung in allererster Linie bei den Tarifparteien liegt. Sie und nicht die Bundesregierung vereinbaren die Bedingungen, zu denen die Arbeitnehmer Beschäftigung finden können. Arbeitslosigkeit - dies spüren wir doch jetzt immer mehr - entsteht dann, wenn Arbeit zu teuer wird. Sie wird auch dann zu teuer, wenn die Flexibilität des Arbeitseinsatzes eingeschränkt wird. Die Folge ist: Unternehmen müssen rationalisieren oder die Produktion in kostengünstigere Länder verlagern. Arbeit gibt es genug. Wir müssen von den Tarifpartnern verlangen, daß sie ihrer Verantwortung auch hinsichtlich der Arbeitslosen gerecht werden. Das Beispiel der Ansiedlung von Opel in Kaiserslautern, wo sich die Gewerkschaften offensichtlich bereit erklärt haben, den Samstag als vollen Arbeitstag zu akzeptieren, zeigt, was not tut. Nun sehen viele das Heil in einem zweiten Arbeitsmarkt, und neuerdings wird auch schon von einem dritten Arbeitsmarkt gesprochen. Würden wir, wie vielfach gefordert, den zweiten Arbeitsmarkt flächendeckend ausweiten und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu einer Pflichtleistung der Bundesanstalt machen, dann verlagerten wir endgültig die Verantwortung der Tarifparteien für die Arbeitslosigkeit auf den Staat. ({4}) Wir bewegen uns dann allerdings in großen Schritten auf ein Wirtschaftssystem zu, Frau Fuchs, dessen Zusammenbruch wir gerade eindrucksvoll erlebt haben und an dessen Folgen wir alle schwer genug tragen. ({5}) Wenn der Staat Beschäftigungsgarantien gibt, dann wird der Wettbewerbsarbeitsmarkt nach und nach an Bedeutung verlieren. Da die Erzeugnisse der Arbeit letztlich auf den Gütermärkten abgesetzt werden müssen, werden notwendigerweise private Anbieter zurückgedrängt, mit ihnen auch die private Nachfrage an Arbeitskräften. Staatliches Handeln, so gut es gemeint ist, läßt auf diese Weise im Zeitablauf zusätzliche Arbeitslosigkeit entstehen. Hierdurch würden wieder weitere Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen notwendig - ein Teufelskreis. Wir sind auch in diesem Bereich gezwungen, schwierige Entscheidungen zu treffen. In den neuen Bundesländern klagen Bauunternehmen darüber, kein Personal zu bekommen. ({6}) 400 000 legale Saisonbeschäftigte aus den osteuropäischen Ländern werden wir auch in diesem Jahr in der Bundesrepublik haben, nach Schätzungen des Zentralverbandes des Handwerks noch einmal 500 000 illegal Beschäftigte. Und das bei vier Millionen Arbeitslosen, meine Damen und Herren! Da stimmt etwas nicht. ({7}) Wir müssen Verkrustungen aufbrechen und Tabus beenden. Das Gebot der Stunde muß heißen: Wachstumskräfte stärken und Rahmenbedingungen für mehr Investitionen und Beschäftigung schaffen. Die Sozialausgaben pro Kopf sind seit 1989 um 12 % gewachsen; das Bruttosozialprodukt, aus dem Sozialleistungen bezahlt werden müssen, ist dagegen pro Kopf im gleichen Zeitraum um 15 % gesunken. In dieser Situation führt kein Weg daran vorbei, daß auch die Empfänger staatlicher Transferleistungen einen Beitrag zur Wiedergesundung der Wirtschaft leisten müssen. Es gibt sicherlich für Sozialpolitiker Schöneres, als Sozialleistungen zu kürzen; die geschilderten Umstände machen es unumgänglich. Ich persönlich stehe dazu. Polemisieren, meine Damen und Herren von der SPD, ist einfach. Ich bin aber der festen Überzeugung, daß der Bürger erkennt, daß gehandelt werden muß, und daß er die Partei wählt, die handelt und der er am ehesten die Problemlösung zutraut. ({8}) Wir tun dies entschlossen im Interesse der Zukunftssicherung des Standortes Deutschland. Insofern, Frau Schmidt, geben wir dem Bürger auch Orientierung. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat unsere Kollegin Dr. Gisela Babel.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Haushalt des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung ist der größte Einzeletat im Bundeshaushalt. Er birgt auch den größten politischen Sprengstoff. Es geht um Arbeitsmarkt, Renten, Pflege. Die politische Regie der Opposition wird hier - zumindest wenn man den Ankündigungen ihres Bundesgeschäftsführers glauben darf - das Feld ausmachen, wo die Hauptattacke gegen den Haushalt geführt wird. Aber die Geschütze, die Sie hier auffahren, sind dieselben, die Sie auch in Zeiten besserer Wirtschaftslage und Haushaltszahlen und bei höherer Beschäftigung schon immer aufgefahren haben. Ich halte es aber meinerseits für verfehlt, wenn man von uns aus die jetzige Lage schönredet. Wer die Zahlen liest, die heute über geplante Entlassungen veröffentlicht werden, wer die Zahl der Nichtbeschäftigten bedenkt - im Osten 1,7 Millionen, im Westen 2,3 Millionen -, der muß erschrecken und sich sorgen: Wie verkraftet der einzelne dieses oft völlig unverschuldete Schicksal? Wie verkraften die Versicherungen diese riesigen finanziellen Belastungen? Wie verkraftet ein demokratisches Gemeinwesen eine so große Zahl Arbeitsloser? Welche Perspektiven haben wir? Es ist klar, daß sich gerade die Sozialpolitiker herausgefordert fühlen, über geeignete Maßnahmen nachzudenken, und Vorschläge zu machen, wie man zu mehr Beschäftigung kommt. Aber es sind vielleicht nicht immer die besten Vorschläge. Die Untersuchung eines Meinungsforschungsinstituts zeigt, daß in der öffentlichen Meinung Arbeitsmarktpolitik ein Bereich der Sozialpolitik ist. Aus dem Blickwinkel des Sozialpolitikers geht es ja dann um diese bekannten Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik: ABM, Fortbildung und Umschulung, Vorruhestand. Es geht dann nicht um die viel entscheidenderen Maßnahmen, die für den Arbeitsmarkt wirklich wichtig sind und Impulse geben. Es geht nicht um die Anreize zu unternehmerischer Initiative - Stichwort Investitionen -, es geht nicht um energisches Handeln beim Kürzen der Ausbildungszeiten, und es geht nicht um die Kürzung von Genehmigungsverfahren - alles Dinge, von denen gestern und heute die Rede war. Meine Damen und Herren, die F.D.P. sieht die Arbeitsmarktprobleme eher als Thema der Wirtschaftspolitik. ({0}) Wir wollen alles tun, um am ersten Arbeitsmarkt Beschäftigung zu sichern und auszuweiten. ({1}) Wir wollen alles unterlassen, wodurch Arbeitsplätze verlorengehen; Stichwort: Erhöhung von Lohnkosten und Ausweitung der Schattenwirtschaft. ({2}) Und wir wollen alles unterlassen, wodurch Arbeitsplätze eben weiter gefährdet werden. Ich darf kurz einen kritischen Überblick über die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik geben. Durch den Vorruhestand werden ältere Menschen aus der Arbeitswelt entfernt, obwohl sie vielleicht noch arbeitsfähig und arbeitswillig sind. Mit ABM werden Arbeitsverhältnisse finanziert, die nicht reguläre Arbeit betreffen dürfen, die aber dennoch oft diese verdrängen, weil sie sicher sind und weil sie oft auch besser bezahlt werden - Presseberichte über fehlende Fliesenleger und Dachdecker im Osten! Umschulung und Fortbildung sind unzweifelhaft die tauglichsten Mittel, um dem Arbeitsmarkt die geforderten Fachkräfte zuzuführen. Aber wenn das funktionierte, dürfte es in Deutschland eigentlich keine offenen Stellen geben. Auch dieses Instrument scheint also nicht ganz von Fehlsteuerungen frei zu sein. Eines ist sicher: Alle diese Instrumente sichern für einen Teil der Arbeitslosen die tägliche Beschäftigung und damit insgesamt den sozialen Frieden. Ich möchte mir nicht ausmalen, wie es ohne den Einsatz dieser Mittel bei uns aussähe. Traumatische Erinnerungen an Weimar werden schnell wach. Die sprunghaft angestiegenen Zahlen von Arbeitslosen werden natürlich den Wunsch nach vermehrtem Einsatz dieser aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen wecken, und gleichzeitig steigen die Finanzlasten der Arbeitslosenversicherung bei rückläufigen Einnahmen durch Beiträge. Aus diesem Dilemma hilft auch nicht der Ruf nach einer Verlagerung der Kosten der Arbeitsverwaltung auf den Bundesetat oder der Ruf nach mehr Bundesmitteln. Die Kasse ist leer, und die Verschuldungsspielräume sind insgesamt voll ausgenutzt. Hier haben wir keine Handlungsmöglichkeiten, meine Damen und Herren. ({3}) Es hilft nur rigoroses, schmerzhaftes Sparen. Wie schon im Solidarpakt geplant und nun durch die Verhandlungen mit der SPD verhindert, stehen jetzt Eingriffe ins Leistungsrecht an. Absenken des Arbeitslosengeldes und Begrenzung bei der Arbeitslosenhilfe. Das ist ohne Zweifel hart, aber es gibt keinen anderen Weg, und die F.D.P. unterstützt die Bundesregierung hier vorbehaltlos. ({4}) Neue Hiobsbotschaften über die Finanzlage der Bundesanstalt für Arbeit, ein Defizit von weiteren 7 Milliarden Mark, zeigen nur allzu deutlich die Abhängigkeit dieser Versicherung von der Beschäftigungslage. ({5}) Mit Erlaubnis darf ich folgendes zitieren: Wie es scheint, wird es unausweichlich, mit weniger zurechtzukommen, liest man in der „Sozialdemokratischen Gemeinschaft für Kommunalpolitik in der Bundesrepublik Deutschland". Aber ansonsten mache ich in der SPD nur heiseres Protestgeschrei aus, auch wenn es mit dem Tremolo einer angenehmen Stimme, Frau Schmidt, vorgetragen wird. Ministerpräsident Scharping wiederholt die schon ermüdend oft vorgebrachte These, es sei besser, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, als Leistungen zu kürzen. Der Schlaumeier! Mit solchen Nebelwerfern wird versucht, den Blick auf die Realität zu verstellen und weniger schmerzhafte Alternativen vorzugaukeln. ({6}) Wann hören Sie endlich auf, sich und anderen dieses Schauspiel zu bieten? ({7}) Wann fangen Sie endlich an, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen? Wann sagen Sie, meine Damen und Herren von der SPD, endlich die Wahrheit, daß Arbeit auswandert, daß Kapital auswandert, wenn wir nicht energisch gegensteuern? ({8}) Wenn dieselben Produkte in anderen Ländern billiger hergestellt werden können als in Deutschland, dann werden sie eben dort hergestellt. ({9}) Also müssen Lohnkosten gesenkt werden, also müssen wir Leistungen innerhalb der Versicherungen einsparen. Ich appelliere an die SPD, zumindest in einem Punkte mitzuarbeiten, nämlich daß die Tarife für die ABM gesenkt werden, daß wir eine untertarifliche ABM-Entlohnung bekommen. Zumindest würde das doch die Mittel strecken und mehr arbeitslosen Menschen eine Beschäftigung eröffnen. ({10}) Ich warne Sie vor der Strategie einer Robin-HoodPolitik, sich als Retter der Armen aufzuspielen und alle Einsparvorschläge verhindern zu wollen. ({11}) Gerade mit Ihren Möglichkeiten im Bundesrat sind Sie mit in der Verantwortung, ({12}) und Sie müssen sie wahrnehmen. Meine Damen und Herren, zum Thema Pflege. Dieses Thema steht nach wie vor auf der Tagesordnung. Ich möchte hier noch einmal ganz ausdrücklich die F.D.P.-Position darstellen. Wir befürworten das große politische Ziel, den Pflegebedürftigen und ihren Familien mehr Unterstützung, mehr finanzielle Hilfen bereitzustellen. Es sollen ambulante Strukturen in Gemeinden aufgebaut werden. Der einzelne soll möglichst in vertrauter Umgebung gepflegt werden. Wir unterstützen auch eine Versicherungslösung, die einen Teil der Kosten - beileibe nicht alle, außer in dem Illusionsentwurf der SPD - bei stationärer Pflege abdeckt. Wir haben der umlagefinanzierten Pflegeversicherung, die wirtschaftspolitisch und arbeitsmarktpolitisch sicher falsch konstruiert ist, unter der Bedingung zugestimmt, daß die zusätzliche Belastung der Lohnkosten zur Hälfte ausgeglichen werden muß. Daran halten wir fest, meine Damen und Herren. Ich möchte noch mit einem Wort auf den interessanten Disput zwischen dem Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, Herrn Scharping, und dem Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, Herrn Schäuble, eingehen. Die ominösen 3 DM pro Tag - pro Monat wäre das doch ein bißchen wenig - resultieren aus dem Vergleich der 900 DM, die in einem Sozialhilfefall für Pflege ausbezahlt werden, und den 1 200 DM, die im Entwurf stehen. Sie zeigen ganz deutlich, daß wir heute schon, allerdings unter dem Stichwort der Bedürftigkeit, steuerfinanziert mit 900 DM die Pflege finanzieren. Das ist schon ein Teil Solidarität, und zwar eine Solidarität der Steuerzahler, die heute schon da ist. Das wird auf den Weg der Versicherung verlagert, was keinesfalls schon von sich aus die bessere Lösung sein muß. Die im Entgeltfortzahlungsgesetz enthaltene Selbstbeteiligung im Krankheitsfalle - Stichwort Karenztage - hat in der Anhörung geballten Widerstand gefunden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Babel, der Kollege Dreßler möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. - Bitte, Herr Kollege Dreßler.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Babel, ich weiß, daß die Thematik, die Herr Scharping gestern hier angesprochen hat, bei der Koalition im Rahmen der Mengenlehre Verwirrung ausgelöst hat. Deshalb möchte ich Sie fragen: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, Frau Babel, daß sich das Beispiel von Herrn Scharping nicht auf die täglichen 3 DM, sondern auf monatlich 3 DM mehr bezog, und daß die jetzige Gesetzeslage einem Schwerstpflegebedürftigen 1 197 DM Monatsentgelt gewährt und Sie und die Koalition ihm in Zukunft 1 200 DM, nämlich 3 DM mehr, an Geldleistung im Monat zur Verfügung stellen wollen? Sind Sie endlich bereit, diesen von Herrn Scharping hier zweifelsfrei richtig eingeführten Sachverhalt zur Kenntnis zu nehmen? ({0})

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Dreßler, ich bin bereit, Ihnen immer zuzuhören. Aber ob ich nun bereit bin, Ihnen zuzustimmen, ist damit noch nicht gesagt. Die Zahlen, die jetzt verglichen werden, sind natürlich die angepaßten Zahlen. Die sind ja angepaßt. Von der nicht angepaßten Zahl, die im Entwurf steht, wissen Sie sehr wohl, daß sie natürlich bei Inkrafttreten von uns noch einmal überprüft wird. Insofern ist der Vergleich schon falsch. ({0}) Aber mein Punkt ist ja der, daß in der Öffentlichkeit durch die Äußerung von Herrn Scharping der Eindruck erweckt wird, als täten wir fast nichts. ({1}) Ich setze dagegen, daß tatsächlich heute über steuerfinanzierte Leistungen in unserem Sozialstaat schon eine große Menge geleistet wird und wir immer so tun, als wäre das nichts. Das verlagern wir jetzt in eine Versicherungslösung. Das ist das Problem, auf das ich hinweisen wollte. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Der Kollege Dreßler möchte noch einmal.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin jetzt bei einem anderen Thema, aber das wird ihn sicher auch interessieren. Ich glaube, meine Damen und Herren, überraschen kann der Widerstand bei den Karenztagen eigentlich niemanden. Er war j a seit ziemlich einem Jahr vorauszusehen. Überraschend war vielleicht allenfalls, wie die Gewerkschaften hier argumentiert haben. Daß der Punkt bei ihnen ein Tabu ist, wissen wir. Die Arbeitgeber, sonst Anhänger dieser Forderung, und sicher letztlich auch ihr Stichwortgeber, haben die Verknüpfung von einer solchen Veränderung der Lohnfortzahlung mit der Pflegeversicherung angegriffen. Ich glaube, daß gegen beide Tarifpartner Ausgleiche auf dem Lohnsektor auf Dauer wohl kaum zu verwirklichen sind. Aber die Art und Weise, wie an diesem Tag von der Gewerkschaft argumentiert wurde, hat mich schon erbittert. Es wird offen polemisch versucht, das so darzustellen, als sei die Pflegeversicherung durch die Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern solide finanziert. Kein Hauch von Problembewußtsein, daß damit neue Lasten auf den Lohn gepackt und damit neue Wettbewerbsnachteile für Arbeitnehmer in Deutschland geschaffen werden. Ich frage: Wer vertritt eigentlich die Interessen von Arbeitslosen, und zwar der Arbeitslosen von heute und morgen? ({0}) Der DGB mit Sicherheit nicht! ({1}) Die SPD hat das Thema „Kompensation" bis jetzt völlig ausgegrenzt. Ich habe noch keine klare Aussage gehört, ob sie der Meinung ist, daß es einen Ausgleich geben muß. Ich nehme sozusagen die Leuchte aus Kiel aus; Frau Simonis hat klar erklärt, daß sie in dem Verzicht auf zwei Feiertage eine solche Lösung sieht.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Babel, der Kollege Büttner möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. ({0})

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Büttner, lassen Sie mich im Zusammenhang reden. Ihr eigenes Konzept, das Konzept der SPD, ist in mehr als einer Hinsicht unannehmbar. Sie fordern eine Volksversicherung, in der die gesamte Wohnbevölkerung integriert werden soll. ({0}) Dies ist sehr wahrscheinlich verfassungswidrig, denn der Bundesgesetzgeber hat nur die Kompetenz für eine Sozialversicherung. Die SPD will alle pflegebedingten Kosten durch die Versicherung abdecken und hält überhaupt keinen Deckel auf dem Beitragssatz. Damit ist also bei Mehrleistungen und keiner Vorsorge der Kostenexplosion in Zukunft Vorschub geleistet. Da kann es nicht verwundern, daß sie die monistische Finanzierung ablehnt. Ohne Kompensation - ich will es noch einmal feststellen - gibt es für die F.D.P. keine Zustimmung zu dem Gesamtkonzept. Was will also die SPD? Ich komme zur Rente. Bei diesem Thema will ich mich mit einigen Bemerkungen begnügen. Die Alterssicherung ist sicher die heiligste aller Sozialversicherungen. An ihr kann nur gemeinsam etwas verändert werden. ({1}) Der breite Konsens zwischen CDU/CSU, F.D.P. und SPD ist und bleibt unverzichtbar. Das heißt aber nicht, daß es verboten wäre, sich über das Thema Rentenversicherung Gedanken zu machen und auch Meinungen zu äußern. Gerade die Sorge um den Arbeitsmarkt rechtfertigt den Hinweis, daß auch die Rentenversicherung von den Zahlungen der Beschäftigten und somit vom Arbeitsmarkt abhängt und daß die demographische Entwicklung sehr unglücklich verläuft. Lassen Sie mich noch hinzufügen: Die Verbesserung der Rentenansprüche von Eltern, die Kinder großziehen, ist uns vom Bundesverfassungsgericht aufgegeben. Damit ist meiner Ansicht nach Ihre völlig verfehlte Polemik gegen Freibeträge vom Tisch gefegt. ({2}) Es ist klar, daß wir hierfür lange Zeit der Vorüberlegungen brauchen, damit den Beitragszahlern heute möglichst früh klar wird, wie ihre Alterssicherung später einmal aussieht und ob sie nicht verstärkt Vorsorge treffen müßten.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, die Kollegin Matthäus-Maier möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, nachdem Sie das gleiche wie gestern Herr Kollege Schäuble, der daraufhin meine Zwischenfrage nicht zuließ, weil er offensichtlich wußte, daß er falsch lag, behauptet haben, darf ich Sie fragen: Ist Ihnen nicht bekannt, daß das Bundesverfassungsgericht mehrfach, zuletzt 1990, über den Familienlastenausgleich entschieden hat, daß es dem Gesetzgeber freisteht, ob er den Familienlastenausgleich über die Steuer oder über einen sozialen Transfer, sprich Kindergeld, oder über ein duales System regelt. Wenn das so ist - ich schaffe Ihnen in fünf Minuten das wörtliche Zitat herbei, ich nehme aber an, daß Sie mir glauben, daß das so ist -, würden Sie dann nicht endlich zugeben, daß Sie aus politischen Gründen daran festhalten, daß kleine Leute 65 Mark und Höchstverdiener 181 Mark im Monat bekommen und daß Karlsruhe diesen Unsinn nicht vertritt? ({0})

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich hoffe, daß Ihre schmerzende Wunde von gestern wieder verheilt ist, weil Sie in der Lage waren, das heute alles loszuwerden. Frau Matthäus-Maier, ich sage Ihnen eines: Beim Existenzminimum ist doch ganz klar, daß die Kinder jedenfalls in dieser Höhe steuerlich berücksichtigt werden müssen. Daran kommen wir nicht vorbei. ({0}) - Ja. Sie tun doch so, als ob sich in der Steuer, was die Kinder anbelangt, überhaupt nichts tun dürfte - so haben Sie es doch dargestellt -, und daß Sie das alles mit dem Instrument des Kindergeldes lösen können. Das können Sie eben nicht. Das sollten Sie der Vollständigkeit halber hier auch offen richtig darstellen. ({1}) - Sie müssen ein bißchen bessere Nehmerqualitäten entwickeln, Frau Matthäus-Maier. Meine Damen und Herren, wie sehen diese Überlegung und die Reformvorstellungen, auch wenn sie vielleicht erst in zehn oder fünfzehn Jahren wirklich Gesetzesform erreichen, aus. Darüber kann man sich gar nicht früh genug Gedanken machen. Das wollte ich nur noch einmal sagen, weil es wirklich in die Zukunftsplanung der Bürger von heute, der Erwerbstätigen von heute eingreift. ({2}) Eines muß auch klar sein: Künftige Probleme, seien sie durch die demographische Entwicklung, seien sie durch die Belastungen am Arbeitsmarkt oder durch die Reformen in diesem Sektor hervorgerufen, können nicht immer nur dadurch gelöst werden, daß wir Beiträge anheben. Das wissen wir mittlerweile. Es muß unser Ziel sein, daß die Beiträge abnehmen. Meine Damen und Herren, die Sozialpolitik in Deutschland muß wachsende Probleme mit weniger Mitteln bewältigen. Leicht ist das nicht, aber machbar. Erträglicher für alle würde es, wenn die politischen Parteien im Deutschen Bundestag der Öffentlichkeit nicht das Bild tiefer Zerstrittenheit bieten würden, sondern sich einigen könnten, gemeinsam das Notwendige zu tun und zu vertreten. Die CDU/CSU und F.D.P. sind dazu entschlossen. Die SPD muß sich erst aufraffen. Deutschland wird nur so aus der Krise wieder herausfinden. Ich bedanke mich. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile der Kollegin Petra Bläss das Wort.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Haushaltsdebatte wird auch in diesem Jahr von einer rasanten wirtschaftlichen Talfahrt begleitet, die das gesellschaftliche Geschehen insgesamt beherrscht. 6 Millionen Menschen sind ohne reguläre Arbeit. Auch in wirtschaftlichen Kernbereichen wie der Automobilindustrie und ihren Zulieferbetrieben sollen Arbeitsplätze in einer Größenordnung von 100 000 verschwinden. Die Reallöhne der abhängig Beschäftigten nehmen weiter ab. Die Zahl derjenigen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, wächst unaufhaltsam. Immer größere Bevölkerungsgruppen sind von Armut, Wohnungsnot und Obdachlosigkeit bedroht. Nach Altersarmut leistet sich diese Gesellschaft nun auch noch, daß heute schon jedes 11. Kind in Familien lebt, denen es schon am 20. jeden Monats am Nötigsten fehlt. Trotzdem vergeht kein Tag, wo nicht die schwindenden Chancen des Wirtschaftsstandorts Deutschland an die Wand gemalt und die Bundesbürger zu mehr Verzicht, erhöhter Sparsamkeit, mehr Eigenverantwortung und Leistung aufgefordert werden. ({0}) Karenztage im Krankheitsfall, zweiter Arbeitsmarkt mit Dumpinglöhnen, Gemeinschaftsarbeiten zum Nulltarif, Maschinenlaufzeiten rund um die Uhr und am liebsten eine Lebensarbeitszeit bis zum Umfallen - das sind nur einige Schlagworte, mit denen die Menschen für den Ernst der Lage sensibilisiert werden sollen. Langjährige Gewohnheiten müßten überdacht und Ansprüche heruntergeschraubt werden, forderte der Bundeskanzler anläßlich der Kabinettsentscheidung zum Standortsicherungsgesetz und verbreitet Zuversicht darüber, daß die Menschen in Deutschland bei der Zukunftssicherung mithelfen, sprich: den Gürtel enger schnallen wollen. Diese bereitwilligen Menschen aber werden von der Bundesregierung nicht gerade gehätschelt. Ganz im Gegenteil, sie werden geschröpft, wo immer es geht. Auch sonst wird ihnen einiges zugemutet. Die weitere Demontage des Sozialsystems geht einher mit einer beispiellosen Kampagne gegen den angeblichen Mißbrauch sozialer Leistungen. Ohne wirkliche Belege werden diejenigen, die arbeitslos, krank oder sozialhilfebedürftig sind, verunglimpft, diffamiert und schließlich sogar kriminalisiert. Bezeichnend war für mich die Anhörung der Arbeitgeber zum Lohnfortzahlungsgesetz am Montag. Daß Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer krankfeiern und blaumachen, ist nach ihrer Darstellung an der Tagesordnung, ohne daß sie dafür einen einzigen konkreten Beweis liefern konnten. ({1}) Zu Recht konterten dann auch die Gewerkschaften, daß das ganze Mißbrauchsszenario scheinheilig ist und nur dem einen Zweck dient, die Gesellschaft reif zu machen für eine umfassende Entschlackung, wie es heute so schön heißt. ({2}) Tyll Necker, BDI-Präsident, sprach es kürzlich offen aus: Wir müssen die Krise nutzen; denn die Menschen sind reif. - Das läßt sich die Bundesregierung nicht zweimal sagen. Die von ihr im Haushaltsplan vorgelegten Gesetze für ein Spar-, Konsolidierungs- und Wachtstumsprogramm - nebenbei gesagt: Auch solche gehirnverkleisternden Titel schüren die Politikverdrossenheit der Leute - lassen keinen Zweifel mehr darüber zu, wo es hierzulande langsam hingehen soll. Insofern weiß ich auch gar nicht, warum in diesem Jahr erneut mit Stolz verkündet wird, daß für Arbeit und Soziales mit 121,8 Milliarden DM der größte Einzeletat vorgesehen ist. Der diesjährige Haushalt soll um mehr als 21 Milliarden DM entlastet werden. Es ist ja wohl unbestritten, daß der Löwenanteil auf das Konto zusammengestrichener Sozialleistungen im weitesten Sinne geht. Es werden nicht nur die Lohnersatzleistungen wie das Arbeitslosen-, Kurzarbeiter-, Eingliederungs- oder Unterhaltsgeld einheitlich um 3 Prozentpunkte gekürzt, nein, es gibt auch Varianten. Das Schlecht14910 wettergeld für Bauarbeiter z. B. wird zuerst gekürzt und dann abgeschafft. Rein rechnerisch führt das zu der aberwitzigen Situation, daß die Bundesanstalt für jede eingesparte Deutsche Mark über kurz oder lang 4 DM für Arbeitslosengeld und andere soziale Transfers aufwenden muß. ({3}) Diese kontraproduktive Verlagerung von Kosten aber ist kein Einzelfall. Im 1. SKWPG wird ganz freimütig festgestellt, daß die Absenkung der Lohnersatzleistungen mittelbar zu Mehrausgaben bei der Sozialhilfe führen wird. Dies ist auch gar kein Wunder, denn die Arbeitslosenhilfe wird nicht nur um die bekannten einheitlichen 3 Prozentpunkte gesenkt, auch die Bezugsdauer wird auf 2 Jahre befristet. Wenn schon heute bei über einem Drittel der Arbeitslosen im Westen und im Osten bei weit über 50 % Lohnersatzleistungen nicht ausreichen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, dann braucht man wirklich nicht zu spekulieren, was Ihre geplanten Kürzungen bewirken werden: Die Zahl der Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger wird steigen; die Kommunen bekommen den Schwarzen Peter zugeschoben und müssen insgesamt aus ihrem Stadtsäckel 1994 weitere 4 Milliarden DM berappen. Das Trostpflaster für sie: Die Regelsätze sollen bis Mitte 1995 gar nicht und dann bis Juli 1996 maximal um 3 % erhöht werden. Die Neuauflage der Gespensterdiskussion um Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger, die in Saus und Braus leben, dient dabei ebenso der Desinformation der Öffentlichkeit wie die Rede vom Abstandsgebot. Zwar ist inzwischen hinreichend belegt, daß die Realeinkommen der abhängig Beschäftigten gesunken sind und die Gefahr groß ist, daß sich dieser Trend fortsetzt, z. B. durch die Zunahme der Sozialabgaben, und das haben wir ja gestern in den Nachrichten vernommen, aber zum Sozialhilfeniveau fehlt Tarifkampf sei Dank - noch ein gutes Stück, allerdings nur solange, wie es gelingt, einen neuerdings ja auch von einigen SPD-Spitzen propagierten zweiten Arbeitsmarkt zu verhindern, der vor allem das Ziel hat, Beschäftigte erster und zweiter Klasse zu schaffen, nämlich solche, die tariflich entlohnt werden, und solche, die erhebliche Lohnabschläge akzeptieren sollen. Frau Dr. Babel hat in ihrer Rede geradezu dazu aufgerufen, ABM unter Tarif zu bezahlen. Ich finde es äußerst bedenklich, daß eine solche Forderung mehr und mehr hierzulande hoffähig wird. ({4}) Bei den neuen Zungenzerbrechergesetzen geht es nicht nur um Kürzungen von Lohnersatzleistungen und Sozialhilfe. Es wird mit Prinzipien gebrochen, die bisher durchaus zum gesellschaftlichen Konsens gehörten, so das Vermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit. Es wird die Absicht deutlich, lukrative Vermittlungen zu kommerzialisieren, während die Bundesanstalt das Wunder mit Schwerstvermittelbaren bewerkstelligen soll, und das zudem unter Bedingungen, unter denen Arbeitsvermittlerinnen und -vermittler auch noch mit mehr und mehr Kontrolltätigkeiten strapaziert werden, denn die Hatz auf Mißbrauchsverdächtige wird auch im SKWPG wieder ganz groß geschrieben. Die Verschärfung der Meldepflicht gehört - ({5}) - dann fragen Sie mich richtig, nicht so einfach zwischendurch ({6}) dazu ebenso wie die Verlängerung der Bemessungsgrundlage für die Arbeitslosengeldberechnung von drei auf sechs Monate.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Kollegin Bläss, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Louven?

Julius Louven (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Bläss, wollen Sie denn wirklich bestreiten, daß es in unserem Sozialversicherungssystem Mißbrauch gibt?

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Louven, wir haben am Montag neun Stunden ohne Pause die Anhörung zu den Karenztagen erlebt. ({0}) Ich war die ganze Zeit da; ich war die einzige aus meiner Fraktion und mußte die ganze Zeit alleine da sein. Sie haben es ja erlebt. Die Kolleginnen und Kollegen der SPD haben bestimmt fünfzehnmal die entsprechenden Experten gefragt, um zu erfahren, wie es denn nun konkret mit dem Mißbrauch aussieht, wie die konkreten Zahlen sind. Ich denke, keiner in diesem Land, auch niemand von der Opposition, bestreitet, daß es Mißbrauch gibt, auch im Sozialbereich. Aber die Frage ist doch, in welcher Dimension sich ein solcher Mißbrauch bewegt. Da gibt es umfangreiche Berechnungen, daß das so minimal im Vergleich zu Riesenkampagnen ist, die hierzulande bewerkstelligt werden, ({1}) für die auch die Bundesregierung entsprechende Milliönchen schnell mal lockermachen konnte, um eine unsinnige Kampagne loszulassen, von der schließlich auch die entsprechenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Arbeitsämtern erklärt haben, daß das eine zusätzliche Belastung ist, die eigentlich jetzt nicht nötig gewesen wäre. ({2})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Gestatten Sie noch eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Louven?

Julius Louven (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Haben Sie, Frau Kollegin Bläss, denn nicht die Berichte über die Razzien gelesen, die die Bundesanstalt auf Baustellen durchgeführt hat? Haben Sie auch nicht gelesen, wieviel durch die Mißbrauchsbekämpfung von seiten der Bundesanstalt eingespart worden ist?

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Selbstverständlich habe ich davon Kenntnis bekommen. Ich habe mich des öfteren auch bei Arbeitsamtsdirektoren danach erkundigt. Ich bin auch dafür, daß man das in einem bestimmten Maß fortführt, ein Auge darauf hat, aber nicht mit solchen Riesenkampagnen. Ich würde die Schuld nicht bei den entsprechenden Arbeiterinnen und Arbeitern, die sich z. B. unter Tarif bezahlen lassen, sehen, sondern da würde ich in jedem Fall die Unternehmen zur Verantwortung ziehen. Ich frage mich, warum es in diesem reichen Land möglich ist, Tausende, Hunderttausende unter Tarif und unter solchen Bedingungen überhaupt beschäftigen zu können. ({0}) Die sind es sicher nicht, die den Schwarzen Peter verdienen. ({1})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Es gibt noch eine Zwischenfrage, Kollegin Bläss.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Bläss, könnten Sie mir bestätigen, daß laut Untersuchung der Bundesanstalt für Arbeit in diesem Jahr bei Arbeitgebern festgestellt wurde, daß im Prinzip jedes dritte Unternehmen zu mißbräuchlichen Anstellungen bereit war? Können Sie bestätigen, daß das tägliche Praxis ist? Das betrifft sowohl das Lohndumping als auch Einstellungen sowie das Vorhandensein von Scheinfirmen, z. B. gerade im Baustellenbereich. ({0}) Etwa diese Größenordnung wurde von der Bundesanstalt für Arbeit genannt. ({1}) Gemeint sind die Arbeitgeber im Baubereich.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Frau Höll, es sollte eigentlich eine Frage gestellt, nicht aber ein Koreferat gehalten werden.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich wollte wissen, ob sie das im Baubereich bestätigen kann. Es geht darum, die Verhältnismäßigkeit zu untermauern. Können Sie das bestätigen, Frau Bläss? ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, mir sind diese Untersuchungsergebnisse bekannt. Ich muß sagen, ich hätte mich gefreut, am Montag von der Arbeitgeberseite bei der Anhörung entsprechende Argumente, wie für Abhilfe dieses Zustands gesorgt werden könnte, zu hören. Aber da ist natürlich nichts gekommen, sondern es gab wirklich nur Luftblasen. Ich muß sagen, ich fand es ganz schön stark, wie manche von uns Abgeordneten in dieser Anhörung abgekaspert wurden. ({0}) - Ich meine die Arbeitgeberseite, und zwar hinsichtlich unserer Frage, wie es denn konkret mit dem Mißbrauch aussieht. ({1}) Jetzt komme ich zum Schluß. Die Verlagerung der Zahlung des Kurzarbeitergelds auch in den ersten sechs Monaten auf die Arbeitgeber wird unseres Erachtens wie die Streichung des Schlechtwettergelds unkalkulierbar mehr Arbeitslose hervorbringen. Auf den Einzelplan 11 möchte ich jetzt im einzelnen nicht weiter eingehen, weil der größte Teil - und das wird leider in der Öffentlichkeit immer unterschlagen - sowieso Zuschüsse zur Sozialversicherung sind, um gesetzlich geregelte Individualleistungen zu erfüllen. Aber ich halte den Gesamtansatz für unrealistisch, weil die Entwicklung von 1991 bis jetzt verdeutlicht, daß diese Konstruktion des Sozialversicherungssystems der gegenwärtigen und künftigen Situation nicht mehr gewachsen ist. Die Konstruktion gerät aus den Fugen. Die Analyse zeigt: Während es im planungstechnisch sicher sehr schwierigen ersten Jahr nach der Einheit 1991 nur eine minimale Korrektur des Ansatzes der Zuschüsse zur Sozialversicherung gab, eskaliert der Zustand in diesem Jahr. Statt der geplanten 73 Milliarden DM werden 91 Milliarden DM Zuschüsse für die Sozialversicherung gebraucht werden; verursacht vor allem durch die Unwägbarkeiten bei der Arbeitslosenversicherung. Damit wachsen diese Zuschüsse gegenüber 1991 auf 135 %, während sich der Haushalt insgesamt nur auf 112 % vergrößert. Nun streite ich ja gern um jede Mark für soziale Zwecke, aber ohne die Augen vor Fehlentwicklungen zu verschließen; denn heute bringt die Arbeitslosigkeit die Überlastung des Systems, in Bälde werden es die Renten sein. Der Kanzler forderte zwar vorige Woche wortgewaltig, Verkrustungen seien aufzubrechen und Prioritäten neu zu setzen, doch was bedeutet das praktisch? Praktisch liegt uns erstens ein unrealistischer Planansatz mit einer Steigerung der Zuschüsse an die Sozialversicherungskassen um ganze 2,5 Milliarden DM vor. Es ist doch heute schon klar, daß das einen enormen Nachtragshaushalt provoziert. Zweitens wird die Diskussion um die Neuordnung des Sozialsystems neu belebt, wie sie unsozialer nicht sein kann. Die neuen Prioritäten, die Verkrustungen aufbrechen sollen, heißen: minimale staatliche Versorgung bei maximaler individueller Vorsorge. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Ein Neuansatz in der Sozialpolitik ist unbedingt Petra Blass notwendig. Anstatt weiter soziale Leistungen zu kürzen, muß darüber nachgedacht werden, wie Armut verhindert werden kann und über welche neuen Quellen die Kassen der Sozialversicherung gefüllt werden können, damit das Sozialversicherungssystem gesundet. Echte Abhilfe ist möglich. Doch sie bedarf des politischen Willens aller hier im Hause. Anzusetzen ist bei einer solidarischen Umverteilung des Reichtums in dieser Gesellschaft. Ich danke. ({2})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Konrad Weiß.

Konrad Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002461, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Bereich Arbeit und Sozialordnung wirkt sich die orientierungslose und kurzsichtige Sparpolitik der Bundesregierung besonders verheerend aus. Drastische Sparmaßnahmen setzen die seit Jahren praktizierte Umverteilungspolitik von unten nach oben fort. Der strapazierte Begriff von der Zweidrittelgesellschaft ist aber schon jetzt eine Beschönigung. Er suggeriert, daß sich die Bevölkerungsmehrheit auf der sicheren Gewinnerseite wähnen dürfe. Die Realität sieht allerdings anders aus. Das wird sich verschärfen, wenn auf Betreiben der Bundesregierung die Lohnersatzleistungen gekürzt werden. Dies soll z. B. durch die degressive Ausgestaltung beim Bezug des Arbeitslosengeldes geschehen. Der Mythos einer verbreiteten Arbeitsscheu wird dadurch bewußt geschürt. Den Bezug von Arbeitslosenhilfe will die Bundesregierung auf zwei Jahre befristen. Gerade Langzeitarbeitslosigkeit führt jedoch zur Disqualifizierung und zu weiterem sozialen Abstieg. In der Sozialhilfestatistik sind Langzeitarbeitslose schon jetzt überrepräsentiert. Durch die erneuten Kürzungen ist mit einer Explosion der Sozialhilfebedürftigkeit zu rechnen. Die gleichzeitigen Kürzungen bei der Sozialhilfe entlarven ein stringentes Konzept sozialer Ausgrenzungen. Menschen, die nur kurze Zeit beschäftigt waren, sollen keine Arbeitslosenhilfe mehr erhalten. Sie werden direkt in die Sozialhilfe abgedrängt. Fortbildungs- und Umschulungskapazitäten, die ohnehin unzulänglich sind, werden weiter gekürzt. Nach der geplanten Überarbeitung der Arbeitszeitordnung von 1938 sollen Unternehmer noch mehr als bisher über den Arbeitstag ihrer Beschäftigten bestimmen können. Arbeitszeit wird nicht an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet, sondern an Maschinenlaufzeiten. Arbeitslosigkeit wird so nicht abgebaut. Statt emanzipatorische Prozesse zu fördern, z. B. auch Modelle, die aus Mitarbeitern Miteigentümer machen, werden so autoritäre Strukturen verfestigt. Das ist das eigentliche Standortproblem in Deutschland. Konsequenterweise soll nun auch noch das Schlechtwettergeld abgeschafft werden. Es ist blanker Zynismus, wenn die CDU/CSU den Bauarbeitern empfiehlt - ich zitiere -, im Sommer für den Winter mitzuarbeiten. So ihr wirtschaftspolitischer Sprecher Rainer Haungs laut FAZ vom 24. 8. 1993! ({0}) Ich finde es bestürzend, mit welcher anhaltenden Ignoranz die Parteien, die sich christlich nennen, die Grundsätze christlicher Ethik und Soziallehre mißachten. Mit ihren Maßnahmen wird ein Klima von Ausgrenzung, Aggressivität und Feindschaft geschürt. Die Folgen zeigen sich bereits: Die Feindlichkeiten gegen Ausländerinnen und Ausländer, die zunehmende Aggression und Gewalt gegen Menschen mit Behinderung oder ohne festen Wohnsitz gehören mittlerweile in Deutschland zum Alltag. Was diese Bundesregierung betreibt, ist kein Umbau des Sozialstaates, sondern sein Abbau. Ein Umbau des Sozialstaates, der seinen Namen verdient, muß nach Auffassung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Arbeitswelt menschlicher machen und eine soziale Grundsicherung für alle, unabhängig von ihrem Leistungsvermögen, gewährleisten. Für uns als werteorientierte Partei orientiert sich der Wert des Menschen eben nicht an seiner Arbeitskraft, sondern allein an seinem Menschsein. Das bundesdeutsche System der sozialen Sicherung hingegen ist strikt auf das sogenannte Normalarbeitsverhältnis ausgerichtet. Zum ökonomischen und sozialen Umbau, der ebenso wie der ökologische Umbau für unser Land unabdingbar ist, gehört vordringlich eine Verkürzung der Arbeitszeit, und zwar ohne Lohnausgleich. Die vorhandene Arbeit muß breiter verteilt werden, auch wenn das für die Arbeitsplatzbesitzer Verlust bedeutet. Zwar birgt der Einstieg in eine ökologisch orientierte Wirtschaft enorme Arbeitsplatzreserven, doch führt die wachsende Produktivität in der Industrie auch zu einer Verstärkung der Selektions- und Ausgrenzungsprozesse des Arbeitsmarktes. Darüber hinaus kann der noch immer steigende Bedarf an Arbeitsplatzangeboten auch in anderen Wirtschaftsbereichen, wie z. B. den Dienstleistungen, schon jetzt nicht abgedeckt werden. Was völlig fehlt, ist eine kritische Auseinandersetzung mit den strukturellen Ursachen der wirtschaftlichen Krise. Die Argumentation, die Krise sei eine reine Kostenkrise, die zudem fast ausschließlich durch die Höhe der gesetzlichen Lohnnebenkosten verursacht werde, greift zu kurz. Ausgeblendet bleibt vor allem der Anteil, den die deutsche Wirtschaft durch ihre Schwerfälligkeit, ihren mangelnden Mut zur Innovation und ihre Abhängigkeit von staatlichen Subventionen selbst an dieser Entwicklung trägt. Hinzu kommt, daß die heutige relative Höhe der gesetzlichen Lohnnebenkosten maßgeblich durch die Selbstbedienungsmentalität der Bundesregierung verursacht wurde. Der lange Zeit öffentlich unbemerkte milliardenschwere Griff in die Sozialkassen ist ein Produkt der sogenannten geistig-moralischen Wende. Unter dem Einfluß der F.D.P., Frau Kollegin Babel, ist der Bundeskanzler zum gewendeten Robin Hood geworden, der von den Armen nimmt, um es den Reichen zu geben. Vor allem die Beitragszahler der Sozialversicherung müssen dies ausbaden. Gedankt Konrad Weiß ({1}) wird es ihnen mit laufenden Leistungskürzungen, die langsam, aber sicher den eigentlichen Schutzzweck der Versicherung in Frage stellen. Hinzu kommen vielfältige Taschenspielertricks, z. B. bei den dreisten Manipulationen mit der Sozialhilfe. Sie sollen dem Finanzminister nach dem Grundsatzurteil zur Steuerfreiheit des Existenzminimums anscheinend Luft verschaffen. Auch die Karenztage, gedacht als peinlich unwillkommenes Geschenk an die Arbeitgeber, bergen versteckten Zündstoff, denn daß dank der Karenztage die Rentenanpassungen sinken würden, vergaß der Kanzler gestern zu erwähnen, als er tönte, die Renten seien sicher. Statt dessen ist es notwendig, den Versicherungszweigen die Aufwendungen für versicherungsfremde Leistungen aus allgemeinen Steuern zu erstatten. Sofern man sich hier auf einen enggefaßten Begriff beschränkt, dürfte eine Verständigung möglich sein. Unbegreiflich bleibt für viele Bürgerinnen und Bürger nach wie vor die Berechtigung einer Beitragsbemessungs- und Pflichtversicherungsgrenze. Auch Gutverdienende müssen sich mit ihrem gesamten Einkommen an der Sozialversicherung beteiligen. Darüber hinaus ist die Einführung einer zeitlich begrenzten Arbeitsmarktabgabe für Selbständige, Freiberufler und Beamte erforderlich. Sie dient vor allem dazu, die Maßnahmen der Arbeitsförderung, an denen auch künftig ein erheblicher gesellschaftlicher Bedarf bestehen wird, in solidarischer Form abzusichern. Dieses Instrument kann verzichtbar werden, wenn es mittelfristig gelingt, die genannten Personenkreise in die Pflichten der Sozialversicherung einzubeziehen. Dieser Vorschlag verfolgt durchaus nicht nur fiskalische Zwecke. Denn nicht zuletzt sind mit der Versicherungspflicht auch Rechte verbunden. Schließlich ist nicht jeder, der formal auch selbständig tätig ist, ein Krupp oder Krause. Im Gegenteil, gerade unter Frauen besteht ein erschreckend hohes Ausmaß an scheinselbständigen Existenzen mit Einkommen, die eine adäquate private Risikovorsorge nicht zulassen. Auf Grund der verfassungsrechtlichen Probleme bei der Einbeziehung von Beamten muß darüber nachgedacht werden, wie im Zuge einer Verwaltungsreform das Berufsbeamtentum auf das gesellschaftlich Notwendige reduziert werden kann. Zum Beispiel wäre eine zeitliche Befristung des Beamtenstatus denkbar. Eine Stabilisierung der Sozialversicherungen mit Steuermitteln, die wir vorschlagen, muß angesichts der desolaten Staatsfinanzen heute als Utopie erscheinen. Dabei wird aber verdrängt, was ein solcher Reformschritt gerade auch für die Entwicklung der gesetzlichen Lohnnebenkosten bedeuten würde. Maßnahmen, die das Vertrauen in die sozialen Sicherungssysteme stärken, sind außerdem auch geeignet, den Aggressionen gegen vermeintlich unberechtigte Nutznießer des Sozialstaates entgegenzuwirken. Diese Maßnahmen zu realisieren, wäre die Aufgabe der Bundesregierung, nicht aber die Forcierung einer fortgesetzten Mißbrauchskampagne. Investitionen in die Stabilität des Sozialstaates, meine Damen und Herren, sind Investitionen in eine lebenswerte Zukunft und eben nicht verschwendetes Geld, wie uns der Wirtschaftsminister weismachen will. Wenn es darum geht, die Teilhabechancen der heute ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen wiederherzustellen, so verweigert sich die Bundesregierung kategorisch. So gibt es in diesem Land nicht einmal einen amtlichen Begriff des geschützten Existenzminimums. In Rechtsverordnungen und Bundesgesetzen finden sich eine unübersichtliche Vielzahl von Existenzminima. Bestrebungen, diesen Dschungel zu bereinigen, sind seitens der ansonsten doch so auf Deregulierung versessenen Koalition nicht zu erkennen, bietet doch eine ungesicherte Armutsgrenze erheblich leichtere Zugriffsmöglichkeiten, wenn wieder einmal ein Haushaltsloch entdeckt wird. Dringend notwendig ist es daher, ein geschütztes Existenzminimum zu entwickeln, das sowohl der Lebenswirklichkeit in unserem Land und dem notwendigen Bedarf der Betroffenen entspricht als auch dem leichtfertigen Zugrif gieriger Haushälter zumindest weitgehend entzogen ist. Die Empfehlungen der EG-Kommission liefern hier erste Anhaltspunkte für das neu zu bestimmende Niveau. Geboten ist grundsätzlich eine Weiterentwicklung der sozialen Basissicherung, da diese von der Sozialhilfe offensichtlich nicht mehr bewältigt wird. Auch hier handelt es sich um ein strukturelles Problem, da die Sozialhilfe und ihre restlos überforderten Träger nicht darauf ausgerichtet sind, für Millionen von Menschen den Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Bundestagsgruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mit ihrem Gesetzentwurf zur Grundsicherung im Alter einen exemplarischen Vorstoß zur Lösung des Problems gemacht. Dieser pragmatische Vorschlag trägt sowohl der angespannten Haushaltslage als auch dem unbestreitbar vorhandenen gesellschaftlichen Bedarf Rechnung. Sie würden weitsichtig handeln, meine Damen und Herren sowohl von der SPD wie von der CDU/CSU, wenn Sie sich unserem Vorschlag anschließen würden. Ich bedanke mich. ({2})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun hat der Kollege Ottmar Schreiner das Wort.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten 20 Jahren wurde regelmäßig in konjunkturellen Krisen eine Debatte über den Wirtschaftsstandort Deutschland geführt. Auffallend ist allerdings, daß von konservativer Seite die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft immer mit dem Ziel problematisiert wird, die Gewerkschaften unter Druck zu setzen, massive Einschnitte in das soziale Netz zu rechtfertigen, von den wirklichen Problemen abzulenken und den Standort insgesamt mieszumachen und zu zerreden. ({0}) Die Sozialpolitik hat keinerlei Grund, diese Debatte zu fürchten, ganz im Gegenteil: Wir wollen uns aktiv einmischen. Als erster Vorbehalt für die angebliche Schwäche des Standortes Deutschland wird ange14914 führt, die Bundesrepublik sei Kostenweltmeister und der teuerste Produktionsstandort der Welt, sie habe hohe Arbeitskosten und lange Urlaubszeiten, geringe tarifliche Arbeitszeiten, zu kurze Maschinenlauf- oder Betriebsnutzungszeiten und üppig ausgestaltete soziale Sicherungssysteme, die keinerlei Anreize zur Aufnahme von Erwerbsarbeit böten. Ihre Kampagne gipfelte im Grunde in der kollektiven Beleidigung der Arbeitnehmer als Faulpelze der Nation: Sie arbeiten zuwenig und verdienen zuviel. ({1}) Das konservative Rezept, um die Tarifautonomie aufzubrechen, nämlich Löhne herunter, länger arbeiten, geht völlig an den Realitäten vorbei und würde, wenn es weiterverfolgt würde, die Bundesrepublik in eine schlimme Zerreißprobe führen. In der gestrigen Debatte forderte z. B. der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion eine stärkere Differenzierung von Löhnen und Einkommen. Die Angriffe von Herrn Schäuble auf die Tarifautonomie sind völlig unangebracht. Schon gegenwärtig gibt es rund 32 000 Tarifverträge, davon immerhin ca. 8 000 Firmentarifverträge, die wahrlich ein Zeichen für eine weit ausgefächerte, differenzierte und den Gegebenheiten angepaßte Tarifpolitik darstellen. ({2}) Nun zu den weiteren Tatsachen. Frau Dr. Babel hat hier einige sonderbare Bemerkungen gemacht. Ihr Rezept war: Löhne absenken, untertarifliche Bezahlung usw. Jetzt zu den Tatsachen: Alle Arbeitskostenfaktoren zusammen - Arbeitszeit, Maschinenlaufzeit, Löhne und Lohnnebenkosten - finden sich in dem einzig brauchbaren Kriterium der sogenannten Lohnstückkosten wieder. Maßgeblich für die Lohnstückkosten ist das Verhältnis von Produktivität und Arbeitskosten. Die hohen Löhne bei uns in Deutschland sind durch die hohe Produktivität der Arbeit voll gerechtfertigt. ({3}) Seit 1970 lag der Anstieg der Lohnstückkosten in Deutschland bis auf zwei Jahre stets unter dem Durchschnitt aller anderen Industrieländer. ({4}) Soweit die Erkenntnisse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. ({5}) - Ich komme darauf zurück, Herr Kollege Louven. Die bereinigte Lohnquote ist von 1982 bis 1992 deutlich gefallen, und zwar von 77,8 auf 71,7 %. Das bedeutet umgerechnet eine Umverteilung in den letzten zehn Jahren zu Lasten der Arbeitseinkommen von rund 128 Milliarden DM. Bei gleicher Einkommensverteilung wie 1982 hätte heute jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin Monat für Monat rund 410 DM mehr in der Tasche. Kein Wunder, daß die Gewinne umgekehrt kräftig in die Höhe geschnellt sind. Die Arbeitgeber selbst haben ausgerechnet, daß der Anteil der Gewinne am Volkseinkommen 1992 rund 8,2 % betrug. Das ist trotz eines Rückgangs gegenüber 1990 und 1991 ein Vielfaches gegenüber den 2,3 % in 1982. An der Einkommensverteilung dürfte sich übrigens in diesem Jahr nach dem Jahreswirtschaftsbericht nichts ändern. Gewinne sind nichts Schlechtes, im Gegenteil: Sie sind für die Investitionen unverzichtbar. Trotzdem widerlegen diese Zahlen das Gerede von einer allgemeinen Arbeitskostenkrise und einem ausufernden Sozialstaat. ({6}) Könnte es nicht vielmehr umgekehrt so sein, daß gerade wegen der zurückhaltenden Lohnpolitik und leicht gemachter Gewinne einige Unternehmen Investitionen in neue Produkte und neue Produktionsverfahren und zugleich eine verbesserte Arbeitsorganisation unterlassen haben? Gleichzeitig sind hohe Löhne, im internationalen Vergleich kurze Arbeitszeiten und ein relativ dichtes soziales Sicherungsnetz - ({7}) - Warum stehen Sie da herum? ({8})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Ich wollte Sie gerade fragen, Herr Kollege Schreiner, ob Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Babel gestatten.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Völlig klar.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Bitte, Frau Kollegin.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schreiner, man kann Ihre Daten so zusammenfassen, daß für einen Unternehmer in Deutschland die Lohnkosten geradezu paradiesisch sind. Wie erklären Sie dann die seltsame Flucht in die Tschechei oder nach Ungarn für Unternehmensgründungen, wo die Lohnkosten offensichtlich anders sind? ({0})

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich weiß nicht, ob man von seltsamer Flucht reden kann. Sicherlich ist es notwendig und angebracht, daß auch deutsche Unternehmungen in Osteuropa investieren, Firmen aufbauen. Wir wollen den Menschen dort ja helfen. ({0}) Aber Sie können nicht den Umkehrschluß ziehen, daß wir osteuropäisches Lohnniveau anstreben. ({1}) Lesen Sie mal den Artikel des früheren Planungschefs im Auswärtigen Amt, Herrn Seitz, des heutigen Botschafters der Bundesrepublik Deutschland in Rom, der klipp und klar gesagt hat, völlig unangebracht, abwegig wären Lohnstrategien, die sich zum Ziel setzen, das Lohnniveau der osteuropäischen Länder auch nur anzupeilen. ({2}) Also muß es völlig andere Wege geben. ({3}) Gleichzeitig sind hohe Löhne sowie im internationalen Vergleich kurze Arbeitszeiten und ein relativ dichtes soziales Sicherungsnetz Resultat der hohen Arbeitsproduktivität. Zwischen Arbeitskosten und Arbeitsproduktivität besteht insoweit ein wechselseitiger Zusammenhang: Hohe Arbeitskosten sind zugleich Ursache und Folge hoher Arbeitsproduktivität. Die ökonomische Leistungskraft der westdeutschen Wirtschaft beruht ganz wesentlich auf der hohen Arbeitsproduktivität. Kostenprobleme ganz anderer Art bestehen in Ostdeutschland infolge der längst noch nicht abgeschlossenen Umstrukturierung der Wirtschaft. Diese können aber nicht mit Sozialabbau bewältigt werden. Die Chance für einen wirklichen Solidarpakt mit den Gewerkschaften haben Sie leichtfertig verspielt. Deutschland ist nun keineswegs „Weltmeister" bei den Lohnstückkosten, sondern befindet sich im EG-Vergleich im Mittelfeld. Unsere Position hat sich allerdings, Herr Kollege Louven, seit 1991 deutlich verschlechtert. Viele meiner Vorredner haben bereits auf die Währungsturbulenzen und die derzeitige Überbewertung der D-Mark hingewiesen. Hinzu kommen aber vor allem selbstverschuldete Fehler durch die Bundesregierung. ({4}) Seit dem Frühjahr 1991 - da fällt die zeitliche Identität auf tragen nämlich die Beitragszahler vor allem der Bundesanstalt für Arbeit und damit eben auch die Arbeitgeber einen Großteil der einigungsbedingten Kosten. Das ostdeutsche Defizit der Bundesanstalt für Arbeit betrug 1991 bis 1993 nach den neuesten Untersuchungen des IAB rund 93 Milliarden DM, von denen fast zwei Drittel, also über 60 Milliarden DM, aus westdeutschen Beitragseinnahmen und damit in Gestalt von erhöhten Lohnnebenkosten finanziert werden. ({5}) Um den eigenen Haushalt zu schonen und um damals notwendige Steuererhöhungen zu vermeiden - Stichwort Steuerlüge im Wahlkampf - hat die Bundesregierung den Sozialversicherungsträgern gewaltige Lasten aufgebürdet, die nicht zu ihren ureigenen Aufgaben gehören. ({6}) Durch eine gerechte Steuerfinanzierung könnten die Beitragssätze der Sozialversicherungssysteme um ca. 4 % abgesenkt und damit natürlich auch die kritische Lohnstückkostenentwicklung aus den letzten beiden Jahren nachhaltig beeinflußt werden. Über die Finanzierung der Pflegeversicherung bräuchten wir uns überhaupt keine Gedanken mehr zu machen, wenn Sie die Sozialversicherungen von den beitragsfremden Leistungen befreien würden. Das Fiasko mit den Karenztagen wäre Ihnen gleichermaßen erspart geblieben. ({7}) Abenteuerlich aber wird es vor diesem Hintergrund, wenn die Kräfte in der Bundesregierung, die über eine grundfalsche Finanzierungspolitik der deutschen Einheit das finanzielle Debakel der sozialen Sicherungssysteme vorprogrammiert haben, sich nunmehr heuchlerisch über die hohen Sozialkosten erregen und die Folgen ihrer falschen Finanzierungspolitik den Rentnern und Arbeitslosen aufbürden oder diese sogar noch pauschal des Mißbrauchs verdächtigen. ({8}) - Kaufen Sie sich mal ein Hörgerät oder so etwas. Nur am Rande sei vermerkt, daß die Sozialleistungsquote, also der Anteil der Sozialleistungen am Bruttosozialprodukt, seit 1982 in Westdeutschland fällt. Betrug die Sozialleistungsquote 1982 noch 33,2 %, so ist sie 1992 trotz massiv steigender Arbeitslosigkeit auf 31,4 % abgesunken. Behauptungen des BDI aus den letzten Tagen, der Sozialstaat drohe in einen Wohlfahrtsstaat umzukippen, entbehren wirklich jeglicher Grundlage. Ähnlich irreführend ist die gegenwärtige Arbeitszeitdebatte. Jesuitenprofessor Dr. Hengsbach hat vor kurzem völlig zu Recht die Forderung aus Kreisen der Bundesregierung, die Arbeitszeit zu verlängern, als „dumm und töricht" bezeichnet. Jede Form der Arbeitszeitverlängerung führt zu höherer Massenarbeitslosigkeit. ({9}) Man hat fast den Eindruck, diese Bundesregierung läßt nichts unversucht, die Massenarbeitslosigkeit weiter zu steigern. ({10}) Angesichts eines für 1994 prognostizierten Fehlbestands von fast sieben Millionen regulären Arbeitsplätzen ist das genaue Gegenteil notwendig, nämlich kontinuierliche Arbeitszeitverkürzung. Die Dauer der Arbeitszeit beeinflußt nämlich die Kostensituation der Unternehmungen nicht, sofern die jeweilige Arbeitszeitverkürzung gegen ansonsten mögliche Einkommensverbesserungen eingetauscht wird. Insoweit ist die generelle Behauptung, Arbeitszeitverkürzungen würden die Arbeitskosten verteuern und die Arbeitsplätze gefährden, Unfug. Arbeitszeitverkürzungen steigern im übrigen die Arbeitsproduktivität und senken folglich die Lohnstückkosten. ({11}) In den Kopenhagener EG-Ratsbeschlüssen vom Juni dieses Jahres heißt es unter der Überschrift „Wege ins 21. Jahrhundert, Leitlinien für ein neues europäisches Wirtschaftsmodell" : Produktivitätszuwächse sollten künftig zur Verbesserung der Lebensqualität und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze eingesetzt werden; dieses dynamische Konzept beinhaltet, daß durch die Verteilung der Arbeit zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden . . . Das eindeutige Plädoyer der EG-Ratsbeschlüsse für Arbeitszeitverkürzung wurde übrigens auch von der Bundesregierung vor wenigen Monaten unterzeichnet. Die gleiche Bundesregierung propagiert öffentlich das genaue Gegenteil, nämlich diesen Schwachsinn von Arbeitszeitverlängerung. ({12}) Wir wollen zudem einen zwingenden Ausgleich von Überstunden durch zusätzliche Freizeit. Angesichts dramatisch steigender Massenarbeitslosigkeit ist ein Überstundenvolumen nicht weiter hinnehmbar, das rein rechnerisch etwa 900 000 Vollzeitarbeitsplätzen entspricht. Es ist, meine Damen und Herren, völlig unbestritten, daß Arbeitszeitverkürzung und wachsende Kapitalintensität der Arbeitsplätze eine fortschreitende Entkoppelung der Betriebsnutzungszeit von der individuellen Arbeitszeit erfordern. Erstaunlich ist dabei nur, daß die gegenwärtig schon vergleichsweise großzügigen gesetzlichen und tariflichen Spielräume von den Unternehmen nicht ausgeschöpft werden. ({13}) - Julius, ich empfehle dir sehr, mir genau zuzuhören. Dann hast du ein paar Argumente gegen den Schwachsinn der F.D.P. ({14}) In der „Wirtschaftswoche" vom 3. September 1993 heißt es zu der Frage nach mehr flexibler Arbeitszeit ({15}) - warum schreien Sie wie Kassandra? Versuchen Sie doch wirklich einmal, die Argumente anzuhören -: ({16}) Wenn Arbeits- und Betriebszeit mit Hilfe neuer Modelle entkoppelt werden, sind Unternehmen in der Lage, ihre Anlagen besser auszulasten, Kosten zu sparen, ihre Produktivität zu erhöhen. Doch diese Chance haben viele Betriebe schlicht verschlafen. So kommt das Münchner Ifo-Institut in einer Studie zu dem Ergebnis, daß solche Arbeitszeitmodelle zwar „großes publizistisches Interesse" finden, aber noch kaum die „Realität" bestimmten. Die Arbeitgeber schieben den Schwarzen Peter in der Arbeitszeitdebatte nur zu gerne den „unflexiblen" Gewerkschaften zu - vielfach zu Unrecht. Beispiel Maschinenlaufzeiten: In der Textilindustrie erlaubt der Tarifvertrag eine Betriebsnutzungszeit von 144 Stunden in der Woche. Willi Arens, Vorsitzender der Gewerkschaft Textil und Bekleidung, kennt allerdings „keine einzige Firma, die die Laufzeit ausschöpft ". Beispiel Metallindustrie: Dort dürfen, obwohl die allgemeine Wochenarbeitszeit mittlerweile nur noch bei 36 Stunden liegt, bis zu 18 der Beschäftigten eines Unternehmens 40 Stunden arbeiten. Nach einer Umfrage der IG Metall machen allerdings nur 18 % der Betriebe von dieser Möglichkeit Gebrauch, . . . ({17}) Hier, räumte Dieter Kirchner, Hauptgeschäftsführer von Gesamtmetall, ein, liege noch „verborgenes Potential". Kurzum: Das beständige öffentliche Gerede von Mitgliedern der Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen nach einer gesetzlichen und/oder tariflichen Verlängerung der Maschinenlaufzeiten geht vollständig an der Wirklichkeit vorbei. ({18}) Eine weitere geläufige These lautet: Der Abstand der Sozial- zu den Arbeitseinkommen sei zu gering. Darauf hat die Kollegin Renate Schmidt bereits hingewiesen. Ich will nur eine Zahl nennen. Sie müssen mir einmal erklären, wie ein Arbeitsloser in Ostdeutschland von einem Durchschnittsbetrag von 666 DM Arbeitslosenhilfe im Monat leben kann. Wenn die ganzen Lachnummern, die hier vor mir sitzen, von diesen 666 DM leben müßten, würde ihnen das Gelache, das Gegrinse und des Gefeixe wirklich vergehen. ({19}) Sie treiben die Menschen mit dieser Politik massenweise in die Sozialhilfe der Kommunen und - schlimmer noch - viele auch in die politische Radikalität. Von ähnlich demagogischer Qualität sind die behaupteten Überschneidungen von Arbeitslohn und Sozialhilfe. Die Forderung nach Kürzung der Sozialhilfe hat vor diesem Hintergrund vor allem die Arbeitslöhne selbst im Visier. Die Mindesteinkommensfunktion, die der Sozialhilfe in Zeiten hoher Massenarbeitslosigkeit zukommt, soll reduziert werden. In Ost und West würde damit der Spielraum für prekäre und ungeschützte Arbeitsverhältnisse zu Hungerlöhnen vergrößert. Hier liegt neben der kassenmäßigen die ordnungspolitische Bedeutung der Auseinandersetzung um die Höhe der Sozialhilfe. Die von der Bundesregierung beabsichtigten weiteren Verschlechterungen des Arbeitslosengeldes, der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe sind weder christlich noch sozial; sie sind auch ökonomisch widersinnig und verschärfen die Krise. ({20}) Die Belastungsverschiebung zu den Gemeinden wirkt rezessionsverschärfend, da die Gemeinden Hauptträger der öffentlichen Investitionen sind, nämlich mit über 80 %. Es ist nicht Aufgabe der Gemeinden, das gesellschaftliche Risiko der Arbeitslosigkeit zu finanzieren, sondern sie sollen gerade neben ihrer Rolle als größter öffentlicher Investor eine zweckmäOttmar Schreiner Bige Infrastruktur zur Standortsicherung anbieten. Dies ist gerade für Ostdeutschland von herausragender Bedeutung. Die Kürzungen schwächen zudem die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und wirken auch insoweit krisenverschärfend. Mit über 50 Milliarden DM in 1993 stabilisieren Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe bislang die Massenkaufkraft. Gerade angesichts einer krassen Unterauslastung der Produktionskapazität in Deutschland kann die Lösung des Arbeitsmarktproblems und des Beschäftigungsproblems wahrlich nicht in der Drosselung der privaten Nachfrage liegen. Die Lehren aus der Weltwirtschaftskrise vor über 60 Jahren werden von der Bundesregierung schlicht ignoriert. Das eigentliche Problem besteht darin, daß seit der Vereinigung Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialpolitik fast nur noch als Finanzpolitik stattfinden, zunächst mit vollen Händen und seit zwei Jahren prozyklisch und dann mit leeren Taschen. Der Bundesfinanzminister und der Bundeswirtschaftsminister halten Reden, die nahezu wörtlich von Brüning stammen könnten, als Ghostwriter aus dem Jenseits. Die fortlaufenden Sparbeschlüsse verschärfen auch aus anderen Gründen die Massenarbeitslosigkeit. Die arbeitsfördernden Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit sind für 1993 um ca. 17 Milliarden DM gekürzt worden. Von einem zweiten Arbeitsmarkt, Herr Blüm, kann zumindest in Westdeutschland überhaupt keine Rede mehr sein, zumindest was die Situation der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen anlangt. Ende dieses Jahres wird der Bestand an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Westdeutschland auf ca. 15 000 absinken. Zum Vergleich: Allein in der Stadt Dortmund, in Ihrem Wahlkreis, gibt es 1993 mehr als 43 000 Arbeitslose. Das heißt, in einer einzigen Stadt gibt es fast dreimal soviel Arbeitslose, wie wir AB-Maßnahmen für Gesamtwestdeutschland haben. Anhaltende Massenarbeitslosigkeit und der strukturelle Wandel erfordern aber ganz im Gegenteil eine beschäftigungsorientierte Wirtschaftspolitik und eine aktivere Arbeitsmarktpolitik. Ich will Ihnen noch ein Zitat vortragen: Mit einer engeren Verknüpfung von regionaler Strukturpolitik und aktiver Arbeitsmarktpolitik kann der Zeitraum zwischen dem Wegbrechen alter unrentabler und dem Entstehen neuer, wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze ohne allzu große soziale Härten überbrückt und verkürzt werden. Gleichzeitig wird erreicht, daß die vorhandenen qualifizierten Arbeitskräfte nicht auswandern, ihre Qualifikation verbessert wird und sie in ihrer Heimat eine tragfähige Beschäftigungsperspektive erhalten. Dieses Zitat ist die Kurzfassung des Antrags der SPD-Fraktion zu einem Arbeits- und Strukturfördergesetz, das in diesem Parlament vorliegt. Die Redner der Koalition haben diesen Antrag als sozialistischen Wildwuchs, als töricht usw. gekennzeichnet. Ich sage Ihnen: Das Zitat, das ich eben vorgetragen habe, entstammt den Thesen zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland, Beschluß des Bundesausschusses der CDU vom 18. Juni 1993. Ich habe ja nichts dagegen, wenn die CDU von der SPD klaut, wenn es den Menschen nutzt. Aber Sie sollten es dann wenigstens auch in die Wirklichkeit umsetzen. ({21}) Dergleichen ist nicht im geringsten der Fall. Meine Damen und Herren, Sie haben vor einigen Tagen bei der parlamentarischen Anhörung von Sachverständigen zur geplanten Einschränkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ein völliges Fiasko erlebt. Alle Sachverständigen - ob Arbeitgeber oder Gewerkschafter, ob Ärztevertreter oder Krankenkassenexperten - wandten sich eindeutig gegen den Gesetzentwurf. Eine politisch ernstzunehmende Mißbrauchsquote gibt es nicht. Sollte der Gesetzentwurf verabschiedet werden, wird uns das teuer zu stehen kommen. Viele kranke Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die jetzt schon Angst vor dem Verlust ihrer Arbeitsplätze haben, werden ihre Krankheit verschleppen. In der Folge wird die Zahl längerfristiger und chronischer Krankheitsverläufe zunehmen. Das gleiche gilt für Frühverrentungen. Mindestens genauso verhängnisvoll ist, daß Sie die Tarifparteien mutwillig in harte Arbeitskämpfe peitschen. Bei ca. 80 % aller Beschäftigten ist die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall tarifvertraglich abgesichert. Die deutschen Gewerkschaften sind mit ihrer gesellschaftlichen Macht bislang wahrlich sehr verantwortlich umgegangen. Die Bundesrepublik ist im internationalen Vergleich das Land mit den wenigsten streikbedingten Ausfalltagen. Der soziale Friede ist ein wichtiger Standort- und Wettbewerbsfaktor. Die Bundesregierung unterläßt nichts, um den sozialen Frieden in Deutschland nachhaltig zu beschädigen und zu zerstören. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch zwei Sätze sagen, weil Frau Kollegin Babel gefragt hat.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Kollege Schreiner, diese zwei Sätze, und dann müßten Sie, bitte, Schluß machen.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das hängt damit zusammen, daß Sie Ihre Redezeit überzogen haben und meine damit etwas kürzer wird.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Ich weiß, das hängt damit zusammen, daß ich zu lange geredet habe. Aber in der Zwischenzeit haben Sie die Zeit, die ich zu lange geredet habe, wieder eingeholt.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zwei kurze Anmerkungen, weil gefragt worden ist. Die SPD hat der Koalition seit zwei Jahren Gespräche zur Gestaltung der Pflegeversicherung vorgeschlagen. Von diesem Angebot ist kein Gebrauch gemacht worden. Die SPD - es wird dabei bleiben - hat unmißverständlich klargemacht, daß substantielle Gespräche über die inhaltliche Ausgestaltung der Pflegeversicherung so lange nicht stattfinden können, solange sich die Koalition nicht von den schwachsinnigen Karenztagen verabschiedet. Letzte Bemerkung. Sie haben nach Alternativen gefragt. Wir haben im Ausschuß für Arbeit und Soziales mehrfach gehört, daß für die Unternehmungen, wenn es gelänge, durch verstärkte Anstrengungen den teilweise desolaten Arbeitsschutz in Deutschland zu verbessern, ein Mehrfaches von dem an Kosteneinsparungen herauskäme, was der Arbeitgeberbeitrag zur Pflege überhaupt ausmachen würde. Wir haben gehört, daß über ganz normale Verteilungsspielräume und etwas geringere Reallohnerhöhungen die Pflegeversicherung arbeitgeberseitig ebenfalls finanzierbar wäre. Erlauben Sie mir einen letzten Satz, da ich Ihnen sechs Seiten meines Redemanuskriptes ersparen muß. ({0}) Wenn Sie wenigstens 20 % unserer Vorschläge aufgreifen würden, dann könnte man von einer wirklichen Lernfähigkeit reden. Unserem Land ging es dann wirklich ein bißchen besser. Schönen Dank. ({1})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Auch der Kollege Fuchtel hat jetzt die Gelegenheit, seine Redezeit etwas zu überziehen. Er hat das Wort.

Hans Joachim Fuchtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000616, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich verspreche Ihnen: Es geht jetzt wieder etwas gepflegter zu. ({0}) Auch wenn der Kollege Schreiner hier wie ein Adrenalin-Django aufgetreten ist, ({1}) so ist es für die deutsche Volkswirtschaft schädlich, wenn wir Arbeitsplätze statt Produkte exportieren. Aus diesem Grunde müssen wir die Rahmenbedingungen auf die veränderte Situation einstellen, und dazu gehört auch das Sparen. Ich möchte hier nochmals, weil ich ja in dieser Runde der letzte Redner der Koalitionsfraktionen bin, deutlich machen, daß Sparen für uns überhaupt kein Selbstzweck ist. Dies gilt vor allem für den sozialen Bereich. ({2}) Die Mitglieder dieser Koalition wissen, was es heißt, wenn jemand arbeitslos ist. ({3}) Sie werden in starkem Maße von der Bevölkerung gewählt - viel stärker als Sie, sonst wären mehr von Ihnen hier im Parlament. ({4}) Das kann man nach Adam Riese hier erklären. Sie wissen um die sozialen Probleme der Menschen, wenn sie vor dem Nichts stehen oder in eine schlechtere Situation kommen. Trotzdem oder gerade deswegen lassen wir uns hier überhaupt nicht sagen, daß wir eine Politik gegen den sozial Schwachen oder eine Politik der Entsolidarisierung machen. Das Gegenteil ist richtig. ({5}) Meine Damen und Herren, unsere Politik hat in über einem Jahrzehnt der großen Mehrheit der Menschen zu mehr Wohlstand und mehr sozialem Besitzstand verholfen. Dieser Sozialminister Blüm ist erfolgreicher gewesen als alle Ihre Sozialminister, die Sie in diesem Land je gestellt haben. ({6}) Wir haben 1982 den Mut gehabt, den Sie damals nicht gehabt haben, und es war erfolgreich für unser Land. Wir haben auch jetzt wieder den Mut, diese Probleme und Herausforderungen anzugehen. Ich bin sicher: Dies wird wieder für eine gute Zukunft unserer Bevölkerung sorgen. ({7}) In der Sozialen Marktwirtschaft gibt es keinen Platz für Einbahnstraßen. Es kann nicht sein, daß soziale Besitzstände einmal geschaffen werden und sich nie mehr verändern lassen. Wenn wir es so halten würden, wäre dies das Aus der Sozialen Marktwirtschaft binnen kurzer Zeit. Deswegen muß Soziale Marktwirtschaft auch heißen, daß Besitzstände überprüfbar sind, und dazu müssen wir den Mut haben. ({8}) Daß Sie sich so schwertun, das verwundert mich nicht. Sie waren stark zu Zeiten des Klassenkampfes. Aber der Sozialismus ist out, und damit sind Sie schwach. ({9}) Ihnen fehlt nämlich nun ein ideologisches Fundament, auf dem Sie weiterbauen könnten. Ich kann wenigstens für mich in Anspruch nehmen, die Jugendjahre überstanden zu haben, ohne Sozialist gewesen zu sein. Darauf bin ich stolz. ({10})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Kollege Fuchtel, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ingrid Matthäus-Maier? ({0})

Hans Joachim Fuchtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000616, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, können Sie mir einmal erklären, was daran Klassenkampf oder Polemik ist, wenn wir darauf hinweisen, daß nach Ihrem Kürzungspaket der Herr Bundeskanzler, der Herr Finanzminister oder auch Leute wie ich nicht eine Mark zur Kürzung beitragen müssen, daß Sie aber auf der anderen Seite an Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose und Familien mit Kindern herangehen? Ist das Polemik?

Hans Joachim Fuchtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000616, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Matthäus-Maier, die Frau Kollegin Präsidentin hat in ihrer Rede vorher schon gesagt, daß sie rechnen könnte. Mir ist aufgefallen, daß Sie nicht rechnen können und daß Sie deswegen solche Fragen hier stellen müssen. Deswegen schlage ich der SPD vor, daß sie die Frau Kollegin Präsidentin und Sie in der Funktion einmal auswechselt. ({0}) - Das ist keine Unwahrheit, sondern das stimmt hundertprozentig. ({1}) - Wir tragen z. B. durch den Solidarbeitrag bei ({2}) gegenüber denjenigen, die zu dieser Steuer nicht herangezogen werden. Wenn dies die finanzpolitische Sprecherin der SPD nicht mehr weiß, dann brauchen wir dazu eigentlich nichts mehr zu sagen. Das spricht für sich.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Kollege Fuchtel, noch eine Zwischenfrage der Kollegin Kolbe.

Regina Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Fuchtel, ich gehe davon aus, daß Sie das durchschnittliche Arbeitslosenentgelt im Osten kennen. Ist Ihnen eigentlich bewußt, daß wir mit der letzten Diätenerhöhung wesentlich darüber gelegen haben? Dann komme ich wieder auf die Frage meiner Kollegin zurück: Ist Ihnen bewußt, daß wir zur Zeit keinen Pfennig für die Probleme der deutschen Einheit bezahlen?

Hans Joachim Fuchtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000616, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte Ihnen einmal sagen: Wenn Sie hier so moralisieren, dann geben Sie doch nächstes Mal jede Diätenerhöhung weiter und spenden Sie das Geld für einen entsprechenden sozialen Zweck. Meine Damen und Herren, ich möchte fortfahren. ({0}) - Das macht Sie etwas unruhig, ich weiß das; aber es muß hier gesagt werden. In den 70er Jahren hatten Sie dann noch einmal eine Chance, sich als kompetente Sozialpolitiker zu zeigen. Damals konnten Sie noch das Geld ausgeben. Da waren Sie vorübergehend stark. Aber jetzt haben wir kein Geld mehr zum Ausgeben. Deswegen sind Sie jetzt noch schwächer. Das zeigt sich an Ihrer ganzen Argumentation. Thesen wie „lieber in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen als arbeitslos " hören sich zwar zunächst einmal ganz hervorragend an, aber damit kann man die Probleme in der ganzen Breite nicht lösen. Das kann allenfalls eine Entscheidung für einen bestimmten Bereich sein. Die Hauptentscheidung muß in der Wirtschaftspolitik fallen. Sie muß dort fallen, wo entschieden wird, ob etwas produziert werden kann oder nicht. Sie kann aber nicht durch Einrichtung von solchen Betrieben auf der Basis von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen fallen, wo beispielsweise kein Gewinn erzielt werden kann. Ohne Gewinn kann eine Wirtschaft nicht existieren. Deswegen können Sie nicht die gesamte Marktwirtschaft auf AB-Maßnahmen umbauen und diese als Lösungskonzept anbieten, Sonst werden Sie Schiffbruch erleiden. Es kann doch nicht sein, daß wir zunächst einmal alle in Nürnberg beschäftigen, bis wir erkennen, daß da niemand ist, der das noch bezahlen kann. Vor diesem Hintergrund warne ich davor, daß man dieses Konzept zum alleinseligmachenden erklärt. Ich warne vor allem Leute wie Frau Hildebrandt. Sie ist ohnehin der größte Investitionsschreck, den wir in den neuen Bundesländern kennen. Das möchte ich Ihnen bei dieser Gelegenheit sagen. ({1}) Für diese Dame kommt das Geld schlichtweg von der Bank. Nur ein Beispiel aus dem mittelständischen Bereich, damit man sieht, welches Unheil hier angerichtet wird: Sie eröffnet beispielsweise im Landkreis Seelow eine große Baumschule mit Leuten, die aus der Arbeitslosenversicherung bezahlt werden. Aber es gibt genügend Baumschulen in diesem Land Brandenburg. Was geschieht also? Die Firma geht mit Dumpingpreisen an den Markt, die privatwirtschaftlichen Firmen werden kaputtgemacht, und die Arbeitnehmer verlieren Arbeitsplätze. ({2}) Und dies geschieht mit Hilfe der von den Arbeitnehmern bezahlten Beiträge und der von den Steuerzahlern bezahlten Steuern! Wenn wir solche Dinge zulassen, führen wir mit einem staatlich finanzierten Instrument die gesamte wirtschaftliche Situation in eine noch schwierigere Sackgasse. Das darf nicht sein. ({3}) Jeder weiß bereits aus der Landwirtschaft: Man kann aus einem Ei Rührei machen; aber man kann aus Rührei nicht mehr Ei machen. ({4}) Wenn man dies weiß, dann ist auch klar, daß ABMFirmen nicht zum bestimmenden Faktor einer Volkswirtschaft werden dürfen. Wir müssen dagegen ange14920 hen, daß sich ein solcher Trend ernsthaft durchsetzt. Deswegen machen wir eine Politik, wie wir sie jetzt in unserem Gesetzgebungsvorhaben angelegt haben und wie wir sie in der Haushaltsberatung anlegen. Als nächstes muß ich noch etwas zum Thema Mißbrauch und Mißbrauchsbekämpfung sagen. Auch bei der Mißbrauchsbekämpfung tun Sie sich so ungeheuer schwer. Wir können doch nicht sagen: Wenn du etwas an deinem Mißbrauch im steuerlichen Bereich machen läßt, lasse ich etwas an meinem Mißbrauch im sozialen Bereich machen. So können wir doch nicht miteinander verkehren. Wir müssen sagen: Mißbrauch muß generell bekämpft werden. Nehmen Sie zur Kenntnis: Wir sind auf keinem Auge blind; ({5}) wir werden sämtlichen Mißbrauch bekämpfen. ({6}) Es ist traurig genug, daß die Gewerkschaftsseite bei der Einführung der Meldekontrolle der Arbeitslosen in den Gremien der Bundesanstalt gegen diese Maßnahme gestimmt hat. Die Praxis zeigt, wie notwendig diese Maßnahme war. Ganz schnell konnte geklärt werden, wer wirklich betroffen ist und wer nur mitkassiert hat. In meinem Arbeitsamtsbezirk Nagold beispielsweise blieben 15 % der Anspruchsteller auf einmal weg. Wenn das kein Erfolg der Maßnahmen dieses Ministers ist, weiß ich nicht, was noch Erfolg sein kann. ({7}) Das Schlimme ist, daß die Gewerkschaft nicht einmal bereit war, für eine solche Maßnahme die Hand zu reichen. Wenn Sie schon die Anhörung erwähnen, die wir am Montag miteinander gehabt haben, lassen Sie mich sagen: Um 16 Uhr waren wir auf einmal unter uns; da ließen alle, die vorher demonstriert hatten, offensichtlich am Ende ihrer Arbeitszeit das Demonstrationsfähnchen fallen und waren auf einmal verschwunden. ({8}) Ganz abgesehen davon möchte ich Ihnen sagen, daß dort der Vorsitzende des medizinischen Dienstes - ({9}) - Ich habe schon ein paar Zwischenfragen beantwortet. Den Rest ein anderes Mal! Er beißt sonst noch das Mikrophon vom Platz aus ab; das will ich vermeiden. ({10}) Der Vorsitzende des medizinischen Dienstes hat dort gesagt: 30 % der zu einer Überprüfung eingeladenen Personen erscheinen nicht zum Termin. - Das sind natürlich sicher nicht alles Mißbrauchsfälle. Daß aber ein so hoher Prozentsatz nicht erscheint, muß uns doch auch Anlaß geben, weiter darüber nachzudenken, ob nicht auch hier Mißbrauchsbekämpfung angebracht ist. Auch dazu benötigen wir Ihre Hilfe, und ich bin gespannt, ob wir sie bekommen werden. ({11}) Ich sage dies vor dem Hintergrund, daß wir auch und vor allem für diejenigen da sind, die treu und brav ihre Beiträge zahlen. Für diese Leute müssen wir eine Politik machen, die verständlich ist und bei der auch sichtbar wird, daß es einen Abstand zwischen den sozialen Leistungen und dem Lohn gibt. Das muß unbedingt durchgesetzt werden. Es muß auch durchgesetzt werden, daß künftig derjenige, der Sozialhilfe bezieht und gesund, arbeitsfähig und noch nicht zu alt ist, zur Arbeit herangezogen wird. ({12}) Ich kündige hier für meine Fraktion nochmals an, daß wir uns darum bemühen werden, aus der KannVorschrift im Bundessozialhilfegesetz nicht nur eine Sollvorschrift zu machen, sondern eine Mußvorschrift, damit künftig jeder Arbeitslose, der dazu in der Lage ist, zur Arbeit herangezogen wird, wenn er öffentliche Mittel beziehen möchte. ({13}) Das sind wir den vielen Leuten schuldig, die Tag für Tag ihre Arbeit tun und die wir nicht enttäuschen dürfen. Ich sage ein letztes Wort zum Thema Sparen vor dem Hintergrund der Notwendigkeiten: Vor einem Vierteljahr habe ich von hier aus begründet, daß 18 Milliarden DM mehr Schulden für die Bundesanstalt für Arbeit aufgenommen werden müssen. Dies sind so viele Schulden, wie wir in den Jahren 1988 und 1989 als Ist-Ergebnis der Gesamtverschuldung des Bundeshaushalts gehabt haben. Allein diese Zahl zeigt, daß wir aus den genannten Gründen nicht daran vorbeikommen, auch im sozialen Bereich zu sparen. ({14}) Wer jetzt spart, der schafft eine gute Zukunftsgrundlage für die nächste Generation, und dies ist unsere Verpflichtung. ({15})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Ingrid Matthäus-Maier.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Fuchtel, zwei Dinge zu Ihrer Rede: Erstens. Sie mokieren sich darüber, daß Tausende von Arbeitnehmern, die während der Anhörung zu den Karenztagen in Bonn waren, um 16 Uhr nach Hause gefahren sind. Ich kann Ihnen sagen: Diese Tausende kamen aus dem ganzen Bundesgebiet. Sie waren von morgens um acht bis nachmittags um vier da. Und wenn sie um vier wieder aufbrechen, um nach Hause zu kommen, dann finde ich das, was Sie hier sagen, schäbig. ({0}) Zweitens. Ich habe Ihnen die Zwischenfrage gestellt, ob Sie mir erklären können, warum der Herr Bundeskanzler, der Herr Finanzminister oder auch ich als Person nicht eine müde Mark zu diesem Kürzungspaket beitragen müssen, wohl aber Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger und Familien mit Kindern. Sie haben darauf geantwortet, ich könne nicht rechnen, und es gebe ja den Solidaritätszuschlag. Herr Fuchtel, das ist die Unwahrheit! Den Solidaritätszuschlag gibt es eben gerade nicht. Sie haben ihn auslaufen lassen und wollen ihn erst 1995 wieder einführen. Also im Gegenteil, zum jetzigen Zeitpunkt ist es genau so, wie ich es gesagt habe. Und wenn Sie schon die Tatsachen nicht kennen, dann sollten Sie sich wenigstens jetzt dafür schämen, daß Sie so unchristlich an den Leuten handeln. ({1})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Zu einer Entgegnung auf diese Kurzintervention erhält der Kollege Fuchtel noch einmal das Wort. ({0})

Hans Joachim Fuchtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000616, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Also, wenn die Gewerkschaften nicht mehr in der Lage sind, bei einer solchen wichtigen Frage noch hundert Leute im Saal zu halten, dann kann ich mir nur vorstellen, daß das Heimgehen wichtiger war, als den wichtigen Ausführungen zuzuhören, die da gemacht wurden. ({0}) Das ist die Wahrheit, und dieses Empfinden habe ich gehabt. ({1}) - Schreien Sie doch nicht so laut; dadurch werden Ihre Beiträge nicht besser! Und das zweite. Jeder, der die Beschlußlage kennt, weiß: Ab 1. Januar 1995 wird der Solidaritätszuschlag wieder eingeführt, und damit ist doch ganz klar, daß die höheren Einkommen entsprechend beteiligt sind. ({2}) Und das sollten Sie doch den Leuten auch sagen, gerade Sie! Von Ihnen habe ich noch im Ohr, wie Sie dauernd geschrien haben: Wir sparen diesen Staat noch kaputt! Das war doch über Jahre Ihre Rede. Wenn ich mir das angehört habe und heute höre, wie Sie jetzt sprechen, dann muß ich sagen: So viel Unglaubwürdigkeit in einer Person habe ich in der Politik eigentlich selten erlebt! ({3})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Als nächster hat Herr Krause ({0}) das Wort.

Dr. Rudolf Karl Krause (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001205, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Renten sind so sicher, wie die Rentenfinanzierung sicher ist. Die Rentenfinanzierung 1994 ist sicher. Aber meine Generation will auch wissen: Wer finanziert einmal unsere Renten, und was wird jetzt getan, daß der Wirtschaftsstandort Deutschland in 30 Jahren dazu in der Lage ist? Gegenwärtig gibt es drei verschiedene Finanzierungsquellen für Altersbezüge. Diese drei verschiedenen Finanzierungsquellen haben eine unterschiedliche handelspolitische Auswirkung: Erstens. Die gesetzliche Rentenversicherung ist sozial für den, der sie bezahlt, aber sie ist sozial in einer Schieflage für den, der sich daraus ausklinkt. Wenn also der Arzt in Mitteldeutschland heute in eine private Rentenversicherung bezahlt, sein eigener Vater als Arzt aber von den Beitragszahlern der gesetzlichen Rentenversicherung seine Rente bekommt, dann ist das eine soziale Schieflage. Außerdem werden hier die Beiträge ausschließlich auf die Arbeitslöhne in Deutschland umgelegt. Jeder, der ausländische Waren kauft, trägt nicht dazu bei, daß Beiträge für die gesetzliche Rentenversicherung, für die gesetzliche Krankenversicherung bezahlt werden können. Die zweite Säule ist die private Vorsorge, entweder durch eine Ersatzkasse, durch Kapitalansammlung oder durch Familienangehörige. Diese ist insofern unsozial, als keine Pflichtbeiträge anteilig für die gesamte Leistungsbezieherschaft gezahlt werden, zumal dann, wenn es sich um die eigenen Eltern handelt, die dann von den Kindern anderer Leute und nicht von den eigenen bezahlt werden. Aber diese Art der Altersvorsorge ist handelspolitisch neutral. Wer etwas zurücklegt, beeinträchtigt weder den Wirtschaftsstandort Deutschland, noch bevorteilt er den Wirtschaftsstandort in Billiglohnländern. Drittens. Drei Millionen Sozialhilfeempfänger und auch die Beamten bekommen ihre Altersbezüge vom Steuerzahler, und dabei ist allein die Mehrwertsteuer handelspolitisch neutral. Sie ist für ausländische Waren und Dienstleistungen, die in Deutschland angeboten werden, genauso hoch wie für deutsche. Wenn wir einseitig den Wirtschaftsstandort Deutschland mit sozialen Leistungen belasten, dann führt das auch bei einer ausgeglichenen Handelsbilanz dazu, daß immer mehr kapitalintensiv exportiert wird und immer mehr arbeitsintensiv importiert wird. Für die Finanzierung der Renten- und Krankenversicherung auf längere Sicht wäre deshalb, wenn das Finanzierungssystem so bleibt, ein Protektionismus besser als ein Freihandel. Denn Freihandel wird immer dazu führen, daß immer weniger Arbeit in Dr. Rudolf Karl Krause ({0}) Deutschland durchgeführt wird, die auch in Nachbarländern billiger gemacht werden kann. Ich würde fünf rentenpolitische Visionen für die Zukunft sehen: Erstens. Pflichtbeitrag für alle bis zu einer gewissen Höhe als Grundrente. Zweitens. Wer mehr zahlen will, der soll sich alternativ versichern können; aber das soll ihn nicht vom Solidarbeitrag für alle entpflichten. Drittens. Auf Dauer darf nicht die Arbeit in Deutschland allein belastet werden, sondern wir müssen - wie bei der Mehrwertsteuer - zu einer Art Renten- und Sozialsteuer anstelle der Sozialabgaben gelangen, die einseitig den Wirtschaftsstandort Deutschland belasten. Viertens. Wir müssen durch unsere Finanzpolitik auch für die Sozialleistungen den Wirtschaftsstandort Deutschland schützen und deshalb alle Waren, die aus dem Ausland bei uns verkauft werden, genauso in die Sozialzahlungspflicht nehmen wie Produkte, die in Deutschland selber hergestellt werden. Fünftens. Es ist ein Trugschluß, zu glauben, wir bräuchten den Freihandel, damit wir unsere Produkte loswerden. Aus Dankbarkeit kauft niemand deutsche Waren. Dazu tragen die abendlichen Sendungen in den amerikanischen Fernsehanstalten bestimmt nicht bei. Wir importieren aus Billiglohnländern; aber die Schneiderin in Hongkong kauft sich keinen Mercedes. Wir exportieren in reiche Länder. Für die Rentensicherung wäre es also besser, wir würden nicht die Arbeit in Deutschland belasten, damit nicht den Wirtschaftsstandort Deutschland einseitig belasten, sondern wir müssen alles auf den Verbrauch in Deutschland umlegen. Sonst wären auf lange Sicht unsere Renten nicht mehr bezahlbar. Danke für die Aufmerksamkeit.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Zu diesem Themenbereich liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr. Als erster hat der Herr Bundesminister für Verkehr, Matthias Wissmann, das Wort.

Matthias Wissmann (Minister:in)

Politiker ID: 11002534

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dem Einzelplan 12 des Bundeshaushalts, dem Haushalt des Bundesministeriums für Verkehr, kommt 1994 im Gesamtetat der Bundesrepublik Deutschland als zweitgrößtem Haushalt eine große, auch gesamtwirtschaftliche, Bedeutung zu. Es ist der größte Investitionshaushalt des Bundes. Mit über 26 Milliarden DM trägt er zur Gesundung unserer Volkswirtschaft und nicht zuletzt zum Aufschwung in den neuen Ländern in großem Umfang bei. Der Haushalt ist zugleich ein Signal antizyklischen Denkens. Gerade in schwierigen Zeiten braucht die Volkswirtschaft weniger konsumtive Ausgaben und mehr Investitionen. ({0}) Ich habe deswegen die Entscheidung getroffen, mit allen problematischen Folgen im Westen, daß wir die Verkehrsprojekte zur deutschen Einheit, also die entscheidenden Ost-West-Achsen zum Zusammenwachsen Deutschlands, im vollen geplanten Umfang weiterfinanzieren und um keine Mark kürzen. Dies ist ein wirtschaftspolitisches, wie auch ein Struktur- und verkehrspolitisches Signal des Willens zum Aufbau, aber auch für den Wiedervereinigungsprozeß in ganz Deutschland in verkehrspolitischer Hinsicht. ({1}) Wir haben die klare Entscheidung getroffen, mit über 32 Milliarden DM den Löwenanteil des Verkehrshaushalts den Eisenbahnen des Bundes zuzuwenden und diesen Teil des Haushalts von Kürzungen weitgehend unberührt zu lassen. Wir setzen damit zugleich ein klares Zeichen für eine ökologisch bewußte Gestaltung des Verkehrs in Deutschland; denn - das wissen wir alle, an Erfahrungen reicher geworden - in den letzten 40 Jahren ist in Deutschland die Schiene vernachlässigt worden. Im Bundesverkehrswegeplan wird mit Investitionen für 6 000 km Schienenwege endlich ein klares Zeichen zur Umorientierung in der Verkehrspolitik gesetzt, nicht gegen die Straßen, aber für die Schiene - ein längst überfälliges Zeichen, meine ich, der Verkehrspolitik in unserem Land. ({2}) Der Bahnstrukturreform gilt unser aller besondere Aufmerksamkeit. Sie wissen, daß die Privatisierung der Bahn ab dem 1. Januar 1994, die Entschuldung von Bundesbahn und Reichsbahn und die Regionalisierung - alles unter der Überschrift „Bahnreform" zusammengefaßt - die entscheidende verkehrspolitische Weichenstellung dieses Jahrzehnts ist. 130 Gesetzesänderungen und mehrere Grundgesetzänderungen sind notwendig. Es kommt aber neben diesen gesetzlichen und technischen Details vor allem darauf an, daß die Bahnreform als ein Signal der Zukunftsperspektive für Hunderttausende von Eisenbahnern und Eisenbahnerinnen und als eine Kehrtwende nach 30 Jahren ständig rückläufiger Verkehrsmarktanteile der Bahn im Personen- und Güterverkehr verstanden wird. Deswegen bin ich froh, daß bei den Verhandlungen mit den Ländern Bewegung in die erstarrten Fronten gekommen ist. Wir haben noch nicht alle Fragen gelöst. Wir müssen uns noch über einige Fragen, etwa des Transfers der Mittel für den Schienenpersonenverkehr, verständigen; aber der Kerngedanke - Privatisierung und Regionalisierung - ist mehr und mehr unbestritten. Wir sollten ihn in den nächsten Wochen schließlich auch politisch durchsetzen, gemeinsam, über Parteigrenzen hinweg. ({3}) Ich glaube, daß der Bundeshaushalt im Einzelplan 12, dem Verkehrshaushalt, zeigt, daß wir auch wirtschaftspolitisch richtige Zeichen setzen. Jede zweite Mark kommt der gesamtwirtschaftlichen Produktivität, der Baunachfrage und der Sicherung von Arbeitsplätzen zugute. Ich bin der festen Überzeugung, daß in Deutschland 1994 die wirtschaftlichen Auftriebskräfte deutlich die Oberhand gewinnen werden, wie in anderen Teilen der Weltwirtschaft. Unser Investitionshaushalt trägt dazu wesentlich bei. Er setzt auch ein klares Zeichen für die Zehntausende von kleinen und mittleren Betrieben, insbesondere in Ostdeutschland, die in der Bauwirtschaft engagiert sind. Ich werde strikt darauf achten, daß bei der Auftragsvergabe nicht einige wenige große Elefanten allein profitieren, sondern Zehntausende von kleinen und mittleren Betrieben mit Hunderttausenden von Arbeitsplätzen ebenfalls eine echte Chance haben. ({4}) Wir alle wissen, wie schwierig dieses Thema im Zeichen von Generalunternehmen ist - auch deshalb, weil wir im Grunde natürlich um eine Beschleunigung bemüht sind. Wir dürfen aber nie den mittelstandspolitischen Teil dieser Aufgabe übersehen. Ich habe als Bundesverkehrsminister die wirtschaftspolitische und strukturpolitische Aufgabe, auf die Einhaltung der soeben genannten Kriterien zu achten. Ich habe seit dem ersten Tag als Bundesverkehrsminister nicht nur die angenehmen Dinge ausgesprochen, sondern auch die unangenehmen. Ich glaube, daß das Aussprechen unangenehmer Wahrheiten hilft, daß wir verlorengegangene Glaubwürdigkeit in der Politik zurückgewinnen. Zu den unangenehmen Wahrheiten gehört, daß der Bundesverkehrswegeplan mit 450 Milliarden DM Verkehrsinvestitionen bis zum Jahr 2012 unterfinanziert ist und daß wir dringend darum bemüht sein müssen, private Investoren zu gewinnen, die einen Teil der hohen Bundesfernstraßeninvestitionen übernehmen sollen. Es ist zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gelungen, sechs sogenannte Konzessionsvertragsmodelle, Modelle der Privatfinanzierung, durch Bundesfinanz- und Bundesverkehrsministerium jetzt für die Vorbereitung und Planung freizugeben, vom Elbtunnel in Hamburg bis zum Engelbergtunnel bei Stuttgart. Ich sehe in echten Betreibermodellen, also einem Mehr gegenüber diesen Konzessionsverträgen, eine entscheidende verkehrspolitische Perspektive für die Zukunft. Mit öffentlichem Geld allein werden wir die großen Investitionen der Zukunft nicht leisten können. Ich glaube, diese Einsicht muß in alle Lager sickern, wenn wir die riesigen Verkehrsinvestitionen umsetzen wollen. Allein 4 500 km Ortsumgehungen sind geplant. Wir alle wissen als betroffene Abgeordnete, wie oft wir von Bürgerinitiativen aufgesucht werden, die uns klarmachen, wie sehr Millionen von Menschen unter Lärm und Umweltverschmutzung in ihren Dörfern und Städten leiden. Wenn man deswegen von 11 000 oder 12 000 km Straßeninvestitionen bis zum Jahre 2012 redet und so tut, als wollten wir die Landschaft zubetonieren, dann sage ich: Vergeßt bitte nicht 4 500 km Ortsumgehungen, bei denen es um die konkreten Lebensschicksale von Menschen geht. ({5}) Sie sind ein entscheidender Teil notwendiger Aufgaben für die Zukunft. Klar ist natürlich auch, daß wir diese riesigen Anstrengungen nur leisten können, wenn wir in einem vertretbaren Maß - wir dürfen die Schraube nie überdrehen; wir müssen berechenbar und stetig bleiben - eine Verteuerung auch des Straßenverkehrs herbeiführen. Deswegen kommt es am 1. Januar 1994 zu einer Anhebung der Mineralölsteuer um 16 Pfennig für Benzin und 7 Pfennig für Diesel, ausschließlich für verkehrspolitische Zwecke und vor allem zur Entschuldung von Bundesbahn und Reichsbahn. Das dient auch dazu, daß wir die eben beschriebene Bahnreform finanzieren können. Damit setzen wir ein Signal für das verbrauchsarme Auto. Ich war gestern auf der Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt. Ich hoffe, daß die ganze Automobilausstellung ein Zeichen nicht nur für die wirtschaftliche Wiederbelebung in der Automobilindustrie wird, die dringend geboten ist, sondern vor allem für das ökologisch verantwortliche verbrauchsarme Auto. Denn wir brauchen in der Gesellschaft der Zukunft um der Mobilität willen auch das Auto. In seiner verbrauchsarmen und umweltfreundlichen Version hat das Auto Zukunft. ({6}) Ich finde, wir sollten das immer wieder deutlich sagen. Zum Schluß. Dieser Verkehrshaushalt, der dank der tüchtigen Mitarbeit von Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen und nicht zuletzt aus den Ministerien zustande gekommen ist - ich möchte mich für diese Mitarbeit sehr bedanken -, ist ein Zeichen für eine ökologische Neuorientierung der Verkehrspolitik. Er ist aber auch ein Zeichen dafür, daß wir die wirtschaftspolitische Perspektive, die in der Verkehrspolitik liegt, wahrnehmen und daraus in Zahlen gewonnene Konsequenzen ziehen. Ich bin froh, daß ich die Unterstützung der Koalitionsfraktionen bei der Verwirklichung dieses Haushalts habe. Ich freue mich, daß es auch gelingt, die eine oder andere Brücke zu den Sozialdemokraten zu schlagen. ({7})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun hat der Kollege Klaus Daubertshäuser das Wort.

Klaus Daubertshäuser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000359, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der Vorlage des Haushalts schlägt für die Bundesregierung die Stunde der Wahrheit, was immer vorher oder auch in dieser Debatte an Beschwichtigungen, Vernebelungen, Schönrednerei aufgeboten wurde. Jetzt helfen eigentlich keine Ausreden mehr. Denn Zahlen lügen nicht. Der Einzelplan 12 des Bundesverkehrsministers macht da keine Ausnahme. ({0}) - Ja, aber das bezog sich auf Statistiken, Herr Dr. Feige. Hier haben wir ja Haushaltspläne. Da müssen wir davon ausgehen, daß diese wenigstens aussagefähig sind. Der Einzelplan 12 spiegelt wie ein Vergrößerungsglas die gescheiterte und widersprüchliche Verkehrspolitik dieser Bundesregierung wider. Es beginnt eigentlich schon mit dem Gesamtvolumen. Rein rechnerisch wächst 1994 zwar die Ausgabenseite um 10 Milliarden DM. Aber dieser sprunghafte Anstieg dient ausschließlich der Schuldenübernahme im Zusammenhang mit der Bahnreform; es wird also nicht zu konjunkturfördernden Investitionen genutzt. ({1}) - Herr Kollege, Herr Bundesverkehrsminister Wissmann hat soeben zu Recht gesagt, wie wichtig die Investitionen sind. Ich stelle fest: Dieser sprunghafte Anstieg führt nicht zu den konjunkturfördernden Investitionen. ({2}) Statt in behutsamen Schritten sukzessive das abzubauen, was in 40 Jahren an Bahnschulden aufgelaufen ist, will der Bundesfinanzminister zu Lasten des investiven Verkehrshaushalts den finanzpolitischen Urknall. Er will mit einem Mal alles beseitigen. Der Investitionsanteil eines Haushalts ist nun einmal traditionell Gradmesser für die Handlungsspielräume der Politik. Dieser Investitionsanteil sinkt im Verkehrshaushalt gegenüber 1993 um 9,3 %. Das heißt, eine zukunftsorientierte, konjunkturfördernde, gestaltende Verkehrspolitik wird durch die katastrophale Finanz- und Haushaltspolitik dieser Bundesregierung zunehmend erschwert. Uni so wichtiger werden in Zeiten knapper Kassen die verkehrspolitischen Akzentsetzungen bei den Investitionen. Da, Herr Kollege Wissmann, setzen Sie allerdings die ungute Tradition Ihrer Vorgänger nahtlos fort. Nach wie vor ist kein Verkehrsgesamtkonzept zu erkennen. Selbst zwischen dem, was in vielen Reden hier, aber auch im Lande verkündet wird, und dem, was über den Haushalt als Handeln angesagt ist, klaffen doch große, große Unterschiede und Lücken. So ist z. B. die immer wieder auch von Ihnen und Ihrem Vorgänger angesprochene Trendwende hin zur Bahn in den Zahlen des Verkehrsetats eben nicht nachzuvollziehen. Von den rund 32,3 Milliarden DM für die Bahn sind allein für die Tilgung von Schulden und Personalaltlasten durch das Bundeseisenbahnvermögen rund 11,8 Milliarden DM vorgesehen. Von den verbleibenden 20,5 Milliarden DM für die neu zu gründende Bahn AG bleiben - nach Abzug der der Bahn rechtlich zustehenden Ausgleichsmittel für den Schienenpersonennahverkehr - für Investitionen nur rund 10,1 Milliarden DM übrig. Auf reine Fahrweginvestitionen entfallen davon lediglich 6,4 Milliarden DM. ({3}) - Das ist viel Geld. Aber, Herr Bohlsen, wir müssen ja das Miteinander oder Gegeneinander der Verkehrssysteme sehen. Wenn Sie dann - Sie als Berichterstatter kennen den Haushalt - bei den Bundesfernstraßen die Ausgabenmittel ansehen, stellen Sie fest: Die liegen bei 10,8 Milliarden DM. Davon sind 8,8 Milliarden DM reine Straßeninvestitionen - gegenüber den 6,4 Milliarden DM, die ich Ihnen eben nannte. Das heißt, für den Fernstraßenausbau gibt es wieder rund 2,5 Milliarden DM, also ein gutes Drittel mehr Finanzmasse als für die Schiene. Das ist eben, Herr Minister, nicht die Trendwende, die wir uns vorstellen. ({4}) Da sage ich: Nein, es bleibt bei der schlechten alten Tradition, von der ich sprach. Das heißt, die jahrzehntelange Benachteiligung der Bahn gegenüber dem bevorzugten Verkehrssystem Straße hält in dem Haushalt 1994 an. Damit wird an den überholten Maximen festgehalten. Ich sage, da muß man aufpassen, Herr Verkehrsminister Wissmann, daß man dadurch - durch diese Subventionierung der Straße, die es letztlich ist - nicht den Erfolg der Bahnreform gefährdet. Nun ist dieser Finanzvorrang für die Straße erneut in dem Haushalt 1994 festgeschrieben, und dennoch ist der Bundesverkehrsminister ja beim Fernstraßenbau in die Zwickmühle geraten, denn er kann selbst mit diesen Mitteln die überzogenen Erwartungen nicht einlösen, die die Koalition in ihrer Gesamtheit mit dem aufgeblähten Bundesverkehrswegeplan selbst geschürt hat. Nachdem Sie dort nämlich den Bürgern wider besseres Wissen weisgemacht haben, die Aufnahme ihrer Straßenbauprojekte in den vordringlichen Bedarf sichere den schnellen Bau, muß nun der Bundesverkehrsminister notgedrungen in das andere Extrem verfallen. Weil nämlich der Bundesfinanzminister die Seifenblase Bundesverkehrswegeplan endgültig zum Platzen gebracht hat, weiß der Bundesverkehrsminister sich nicht anders zu helfen: Er muß jetzt blaue Briefe an die Länderverkehrsminister schreiben und muß den unbefristeten Neubaustopp in den westlichen Bundesländern anordnen. Ich erinnere hier nur noch einmal daran - nicht, weil wir recht behalten wollen -, daß die Sozialdemokraten von Anfang an vergeblich darum gekämpft haben, den Bürgern die Wahrheit zu sagen und den Bundesverkehrswegeplan in einer seriösen, tatsächlich finanzierbaren Größenordnung zu halten. Das ist nicht geschehen. Ich kann Sie nur bitten, Herr Bundesverkehrsminister Wissmann, ersetzen Sie nun nicht den einen Fehler durch den nächsten. Sie müssen jetzt in Abstimmung mit allen Bundesländern unverzüglich ein gemeinsames Konzept für einen vernünftigen Fünfjahresplan erarbeiten, der es den alten Bundesländern erlaubt, zumindest die wichtigsten Entlastungsmaßnahmen auch anzugehen. ({5}) - Das hat mit Straßenbaufetischismus nun wirklich nichts zu tun. Es ist richtig - das sage ich auch -, daß der Schwerpunkt der Investitionen im Osten, bei Sanierung und Lückenschlüssen liegen muß. Da kann ich nur die Argumente wiederholen, mit denen das meine Kolleginnen und Kollegen in der Debatte über den Bundesverkehrswegeplan hier belegt haben. Das kann doch aber nicht bedeuten - das meine ich damit -, daß in einer Panikreaktion auf die vorhersehbaren Mittelkürzungen im Westen in Zukunft überhaupt nichts mehr laufen soll. Darum geht es doch. In Ost wie West müssen die Ausbau- und Neubaustandards kritisch überprüft werden, damit so sparsam wie möglich gewirtschaftet wird. ({6}) Sie wissen doch: Statt einer vierspurigen reicht oft eine dreispurige Bundesstraße mit alternierenden Überholstreifen in der Mitte aus, statt einer Autobahn häufig auch eine vierstreifige Bundesstraße. Mit der Beschränkung auf das unabdingbar Notwendige, mit dem Verzicht auf teure, umstrittene Prestigeprojekte, mit dem Vorrang für Ortsumgehungen, die dann natürlich auch eine schnelle Entlastung für die Bürger bringen, und mit der Beschränkung auf bezahlbare Baustandards beim Fernstraßenneubau kann ich dann auch Finanzmittel für den Vorrang der Schiene und den Ausbau der Schienenwege freisetzen. Dies ist von uns x-mal auch von diesem Podium aus den Kolleginnen und Kollegen dargestellt worden. Ich sage Ihnen: Alle Bekenntnisse zur Zukunft der Bahn bleiben Makulatur, wenn diese Zukunft gleichzeitig durch Festschreibung der alten Wettbewerbsverzerrungen im Infrastrukturbereich im wahrsten Sinne des Wortes verbaut wird. ({7}) Ich sage es noch einmal: Bahn sanieren heißt Schienen bauen! Herr Minister, daran gemessen, steht der Verkehrshaushalt 1994 in krassem Widerspruch zu den Zielen der Bahnreform. Gescheitert, meine Damen und Herren, ist auch der Versuch, endlich die unerträglichen Wettbewerbsverzerrungen im europäischen Gütertransport zu beseitigen. Herr Verkehrsminister, wir haben dies auch an anderer Stelle schon diskutiert. Das, was in Luxemburg zustande gebracht wurde, war aus deutscher Sicht ein Pyrrhussieg. Da muß man nicht polemisch und emotional werden; da kann man ganz nüchtern auf die Fakten schauen: Bereits in gut drei Monaten, also zum 1. Januar 1994, werden sich die Kabotagegenehmigungen für ausländische Lkw-Unternehmer verdoppeln. Das ist im Ergebnis praktisch eine Kabotagefreigabe. Ebenfalls zum 1. Januar 1994 muß die Bundesregierung ihr Versprechen gegenüber den deutschen Unternehmen einlösen und die Kraftfahrzeugsteuer mindestens halbieren. Dabei ist, Herr Bohlsen, bis heute nicht klar, wie der Steuerausfall der Bundesländer ausgeglichen werden soll. Gleichzeitig werden z. B. die Niederländer durch entsprechende Ausgleichsmaßnahmen den alten Wettbewerbsabstand zugunsten ihrer Unternehmen wiederherstellen. Dies ist bereits öffentlich angekündigt. Erst ein Jahr später, nämlich ab dem 1. Januar 1995, kann dann die Regionalvignette mit maximal 2 500 DM Jahresgebühr und zahlreichen Ausnahmen eingeführt werden. Sie deckt nur einen Bruchteil der Wegekosten ausländischer Lkw ab. Das heißt: Sie subventionieren damit weiterhin diejenigen, die Straßen und Natur in Deutschland in Grund und Boden fahren. Das ist die Fortsetzung der alten hirnrissigen Politik. ({8}) Trotz der Anhebung der Mineralölsteuer bleibt dann ein deprimierendes Endergebnis. Das deutsche Gewerbe wird im Verhältnis zu seinen ausländischen Konkurrenten eben nicht entlastet. Damit sind weitere Ausflaggungen und Betriebsschließungen vorprogrammiert. Finanzpolitisch - das muß Sie, Herr Bohlsen, ja ganz besonders interessieren - ist die Vignette ein Flop; denn unter dem Strich kommt ein Minus von rund 1,4 Milliarden DM heraus. ({9}) - Herr Kollege Wissmann, ich lasse doch meine eigenen Rechnungen hier außen vor. Lesen Sie einmal nach, was Professor Aberle jetzt in der neuen Ausgabe des „Internationalen Verkehrswesens " über mehrere Seiten dazu an Berechnungen gebracht hat. Es ist diese Zahl. Gleichzeitig wird durch die Erhöhung der Kilometerpauschale auf 75 Pf ein umweltpolitisch falsches Signal gesetzt. Statt endlich eine generelle, verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale einzuführen, erhöht die Bundesregierung damit den Anreiz, auf dem Weg zur Arbeit nur den Pkw zu nutzen. Die Straßengütertransporte in Europa werden auf Grund dieser massiven Steuersenkungen und der unzureichenden Höhe der Schwerverkehrsabgabe letztendlich billiger, obwohl immer wieder in stolzen Reden verkündet wird, Sie wollten den Straßenverkehr verteuern. Das, was Herr Töpfer und Sie, Herr Wissmann, immer wieder verkünden, kann ja nur ein Ablenkungsmanöver sein, wenn ich mir hier die klaren Fakten anschaue. Sie haben den Preisvorteil des Lkw weiter ausgebaut. Sie haben die Kabotage massiv ausgeweitet. Die Bahn steht damit auf der Verliererstraße. Allein im ersten Halbjahr 1993 - ohne daß diese Instrumente schon wirkten - hat die Bahn einen Rückgang von 11 % im Güterbereich zu verkraften. Wo soll das hinführen, wenn Sie nach wie vor die Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten der Bahn anhäufen? Deshalb mein Fazit: In Luxemburg ist nichts gewonnen, aber für die Bahn viel verloren worden. Es gibt die Revisionsklausel in der Luxemburger Vereinbarung. Danach ist eine schnelle Korrektur nicht möglich. Das heißt: Die verschärften Wettbewerbsnachteile der Bahn müssen auf eine andere Art und Weise ausgeglichen werden. Wenn wir die Bahnreform wollen, müssen wir darüber nachdenken und Instrumente finden, Herr Wissmann. Hierfür kann nur ein Bonus bei der Festlegung der Fahrwegabgaben in Frage kommen, der die Gleichbehandlung der Bahn mit ihren Wettbewerbern sicherstellt und die Umweltvorteile der Bahn in diese Rechnung einbezieht. Wir bestehen deshalb ebenso wie die Bundesländer im Zuge der Bahnreform auf einer vollen, auch finanziellen Verantwortung des Bundes für die Schieneninfrastruktur. Sie ist die Voraussetzung dafür, Harmo14926 nisierungsversäumnisse bei den Wettbewerbsbedingungen auf diesem Wege zur korrigieren. Man muß auf diesen Punkt mit besonderer Sorgfalt eingehen, weil im Gegensatz zu all dem, was die Bundesregierung äußert, auch die übrigen Rahmenbedingungen der Bahn ständig weiter verschlechtert werden. Dieser Haushalt, Herr Bohlsen, legt davon beredt Zeugnis ab. Ich sage nur: Wuermeling-Paß für kinderreiche Familien. Man muß sich das doch einmal vor Augen halten. Ausgerechnet in dem Moment, in dem die Bahnreform eine Aufwärtsentwicklung der Bahn einleiten soll, treibt diese Bundesregierung durch die ersatzlose Streichung der Ausgleichszahlungen für den Wuermeling-Paß eine klassische Kundengruppe von der Bahn weg und hin auf die Straße. Abgesehen von der bodenlosen sozial- und familienpolitischen Instinktlosigkeit frage ich: Ist denn das wirklich der atmosphärische Flankenschutz für die Bahnreform? Da paßt es doch nur ins Bild, wenn trotz langjähriger Versprechungen der Bundesregierung nach wie vor auch keine Mittel für eine Lärmsanierung an bestehenden Schienenstrecken bereitgestellt werden. Was bei der Straße seit langer Zeit praktiziert wird, wird der Schiene und damit den lärmgeplagten Anwohnern auch 1994 wieder vorenthalten. Wie soll man eigentlich bei einem derartig widersprüchlichen Verhalten der Bundesregierung noch an einen Erfolg der Bahnreform glauben? Es sind ja nicht nur die hehren Ziele. Die unterstützen alle. Aber wir brauchen viel, viel Unterstützung: aus den gewerkschaftlichen Lagern, aus der Wirtschaft und von der Bevölkerung. Wenn aber atmosphärisch nur voll gegen die Bahn gearbeitet wird, was sich dann auch in Heller und Pfennig gegen die Bahn auswirkt, wie sollen wir dann noch draußen diese Bahnreformpolitik glaubhaft vertreten? Hier ist also, Herr Bohlsen, eine deutliche Kurskorrektur erforderlich, wenn es einen tragfähigen Konsens mit der Opposition und übrigens auch mit den Bundesländern geben soll. Nach dem Scheitern der EG-Fiskalharmonisierung droht nun auch in Washington ein Scheitern auf Raten. Die Verhandlungen zum deutsch-amerikanischen Luftverkehrsabkommen sind in einer Sackgasse. Es besteht keine begründete Hoffnung, daß die amerikanische Seite freiwillig Positionen räumen wird, die den US-Carriern heute handfeste Wettbewerbsvorteile garantieren. Auch dies, Herr Verkehrsminister Wissmann, gehört zur Standortdebatte. Die Zukunft der Lufthansa hängt maßgeblich vom Erfolg der Bemühungen um ein faires Abkommen ab. Deshalb fordern wir, das deutsch-amerikanische Luftverkehrsabkommen aus dem Jahre 1955 sofort aufzukündigen. Es kann nicht so weitergehen, daß - wie mit der Kabinettsentscheidung vom 2. April 1993 - mit Angeboten weiterer Dienste für amerikanische Fluggesellschaften eindeutig falsche Signale gesetzt werden. Was not tut, sind Neuverhandlungen, um vorhandene Überkapazitäten im Nordatlantikverkehr abzubauen und durch eine neue Kapazitätsvereinbarung einen angemessenen Marktanteil für deutsche Fluggesellschaften sicherzustellen. Großbritannien und Frankreich haben ihre Interessen klar wahrgenommen. Dies muß für die Bundesregierung ein Beispiel sein. Nur ein ganz klarer Schnitt kann die verfahrenen Verhandlungen zu dem für die Zukunft der Lufthansa so wichtigen Ergebnis eines fairen Abkommens - mehr wollen wir nicht: ein faires Abkommen - führen. Die Liste der Widersprüchlichkeiten, der Versäumnisse und der gescheiterten Versuche in der Verkehrspolitik ließe sich fortsetzen. Ein Kardinalfehler, auf dem all dies beruht, ist das Fehlen eines integrierten Gesamtverkehrskonzepts. Nur mit einem integrierten Gesamtverkehrskonzept kann die sektorale, oft widersprüchliche und im Ergebnis eindeutig gescheiterte Verkehrspolitik der Vergangenheit überwunden werden. Eingesetzt und aufeinander abgestimmt werden müssen: Ökonomie, d. h. gerechte Kostenanlastung, Anwendung des Verursacherprinzips, Ausnutzung der Lenkungswirkung fiskalischer Instrumente; Infrastrukturpolitik, d. h. klare Investitionsschwerpunkte bei umweltfreundlichen Verkehrsträgern; Ordnungsrecht, d. h. zum Beispiel Vorrangregelungen für Busse und Bahnen, Verbrauchsbegrenzungen, Geschwindigkeitsbegrenzungen und Zugangsbeschränkungen zu hochbelasteten Ballungsräumen für den Individualverkehr. Natürlich darf dies alles nicht Selbstzweck sein, sondern muß einer eindeutigen Zielhierarchie dienen. An erster Stelle muß die Verkehrsvermeidung oder - realistischer gesagt - die Vermeidung weiterer Verkehrszuwächse stehen. Bisher hat das Verkehrswachstum alle Bemühungen um eine technische und organisatorische Minderung der negativen Begleiterscheinungen konterkariert. Verkehrswachstum ist aber kein Naturgesetz. Zahlreiche Beispiele belegen, daß Wirtschaftswachstum nicht zwangsläufig mit einem überbordenden Verkehrswachstum verbunden sein muß. Speziell im Güterverkehr gibt es erhebliche bisher nicht genutzte Potentiale. Der Straßengüterverkehr hat bisher nur einen Auslastungsgrad von 55 %. Im Werkfernverkehr ist er noch geringer; da liegt er bei 45 %. Eine gerechte Kostenanlastung nach dem Verursacherprinzip zwingt zu höheren Auslastungsgraden und zur Absenkung der Leerfahrtenanteile. ({10}) City-Logistik-Konzepte können den Verteilerverkehr in den Städten bündeln und ihn damit reduzieren. Ziel muß die Entkoppelung der Tonnenkilometerzuwächse von den Fahrzeugkilometerzuwächsen sein. Unkontrolliertes Wachstum nennt man in der Medizin Krebs. Das mag zwar für den Verkehr ein drastisches Beispiel sein; es zeigt aber die Gefährdung, die für den Gesamtorganismus Verkehrssystem besteht, wenn es uns nicht gelingt, die prognostizierten Zuwächse einzudämmen. Das Ziel der Verkehrsverlagerung ist auch in Ihren Vorstellungen, Herr Kollege Wissmann, bisher noch unterbelichtet. Ich meine, hier müßten Sie alle Spielräume ausschöpfen; um die Grundlagen für den Vorrang der Bahn, des öffentlichen Nahverkehrs und auch der Binnenschiffahrt zu schaffen. An der nächsten Stelle dieser Zielhierarchie muß dann eine umweltgerechte Gestaltung des Individualverkehrs stehen. Auch hier müssen Sie verstärkt ordnungsrechtliche Instrumente ausschöpfen. Das haben Sie bisher nicht getan. Nach meiner festen Überzeugung kann nur so der Kollaps unseres Verkehrssystems mit nicht abzusehenden wirtschaftlichen und sozialen Folgeschäden vermieden werden. Es wird von niemandem, der sich ernsthaft mit der Verkehrspolitik auseinandersetzt, mehr bestritten werden, daß es jedenfalls so wie bisher nicht weitergehen kann. Sie, Herr Verkehrsminister Wissmann, haben vorhin auch gesagt: Wir müssen die verfehlte Verkehrspolitik der letzten 30 Jahre ändern. Aber ich sage Ihnen eines: Der Verkehrshaushalt 1994, über den wir heute zu beraten haben, ist, gemessen an dem Anspruch, den Sie eben selber formuliert haben, eigentlich ein deprimierendes Dokument des „Weiter so" geworden, denn auch er zeigt unübersehbar: Wer immer in diesem Land für eine zukunftsorientierte, für eine Umwelt- und für eine menschengerechte Verkehrspolitik eintritt, der ist bei dieser Bundesregierung an der falschen Adresse. Vielen Dank. ({11})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun hat Kollege Wilfried Bohlsen das Wort.

Wilfried Bohlsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000231, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich das erste Wort an den Bundesverkehrsminister richten. Sie, Herr Wissmann, haben erstmals den Etat eingebracht. Wir haben in diesem Etat wesentliche Veränderungen hinnehmen dürfen, die auch die Umgestaltung der Verkehrspolitik möglich machen. Ihnen, Herr Wissmann, will ich für die Arbeit, die Sie darin investiert haben, danken. Ich schließe darin Ihr Haus mit ein, das uns Berichterstatter mit sehr viel Sachinformation immer gut beliefert hat. Nun will ich ein Wort an Sie richten, Herr Daubertshäuser. Wir zwei machen Verkehrspolitik schon seit 10 Jahren. Ich glaube, uns hat ausgezeichnet, daß wir sie immer sehr sachbezogen gemacht haben. Daß es zwischen der Regierungskoalition und der Opposition natürlich Unterschiede gibt, ist nicht von der Hand zu weisen. Dennoch haben wir immer versucht, es sachlich auf den Nenner zu bringen, wenn es um Dinge ging, die uns berührt haben. Meine Damen und Herren, ich möchte hervorheben, daß der Einzelplan 12 mit seinen Ansätzen für das Haushaltsjahr 1994 einen deutlichen Beitrag zur deutschen Einheit leistet. Wer die Haushaltsentwicklung betrachtet, sich die Steigerungsraten genauer ansieht, wird feststellen, daß der Verkehrshaushalt auf den ersten Blick aus dem Rahmen fällt, denn mit dem Ansatz von 53,8 Milliarden DM ist er gegenüber dem Vorjahr mit einer Steigerungsrate von 22,8 % versehen. Aber wir wissen, daß gerade die Veränderungen durch die Bahnreform hierzu geführt haben. Das besondere Vorhaben Bahnreform und die damit verbundene Finanzreform der Sondervermögen Deutsche Bundesbahn und Deutsche Reichsbahn bringen uns dazu, daß wir gegebenenfalls auch Haushalte, die sonst als Nebenhaushalte bezeichnet wurden, auflösen. Damit sind zusätzliche Ausgaben verbunden, nämlich die Übernahme der Zinsleistungen aus den Altschulden der Bahn, die Finanzierung des Bundeseisenbahnvermögens und die Übernahme der vollen Fahrweginvestitionen der Deutschen Bahn AG. Allein diese Tatsache macht deutlich, daß wir in den Folgejahren andere Gestaltungsmöglichkeiten haben, weil wir dann zu einer Trennung von Fahrweg und Betrieb kommen. Insofern gibt es hier Ansätze, die Sie gerade noch kritisch betrachtet haben. Ziel der Strukturreform ist es, die Leistungsfähigkeit zu erhöhen und die aus der bisherigen Bahnführung erwachsenen Haushaltsbelastungen zurückzuführen. Wir wollen die längerfristige Konsolidierung der Bereiche der Bahn. Wenn wir uns die Elemente ansehen, die im Kabinett verabschiedet wurden, so sind dies zum ersten die Zusammenführung von Deutscher Bundesbahn und Deutscher Reichsbahn, zum zweiten die Gründung der Deutschen Bahn AG und drittens die Übertragung der Altlasten auf das Bundeseisenbahnvermögen. Die vierte Komponente ist eben die Regionalisierung des Schienenpersonennahverkehrs durch Übertragung auf die Bundesländer. Hier appelliere ich auch an die SPD, daß wir das gemeinsam betreiben, denn es ist ein wichtiger Schritt. Über die Kosten werden wir sicher noch manches Wort verlieren müssen. Aber der sich verschlechternde Trend der Bundesbahn hat uns dazu geführt, uns grundlegende Gedanken zu machen, wie wir Änderungen herbeiführen können. Zur Steigerungsrate des Bundeshaushalts Verkehr will ich folgendes sagen. Wenn ich die Bahn ausschließe, dann beträgt die Steigerungsrate nur noch 1,6 %. Das müssen wir ehrlich hinnehmen. Damit liegen wir unter der Steigerungsrate des Gesamthaushaltes. Aber wir sollten auch die Feststellung treffen, daß die Investitionen im Verkehrshaushalt gegenüber 1993 immerhin noch eine Steigerungsrate von 3 % aufweisen. Ich will noch einmal die Aussagen über die investiven Ausgaben bündeln, damit deutlich wird, wie die Mittel bei den Investitionen fließen: Bei den Bundeswasserstraßen sind fur 1994 1,057 Milliarden DM veranschlagt, bei den Bundesfernstraßen 8,766 Milliarden DM; bei dem kommunalen Straßenbau und dem OPNV 6,269 Milliarden DM. Bei Reichsbahn und Bundesbahn investieren wir insgesamt 10,11 Milliarden DM. Diese Zahl wurde bereits von Herrn Daubertshäuser genannt. Ich will hervorheben, daß wir - das wurde auch durch die Ausführungen des Bundesverkehrsministers deutlich - im Bereich des Straßenbaus nicht alle Wünsche werden erfüllen können. Denn der Schwerpunkt liegt doch darauf, Verkehrsprojekte der deutschen Einheit, die dem Zusammenwachsen von Ost und West dienen und die unverzichtbar sind, vorrangig zu finanzieren. Das ist eines der wesentlichen Anliegen. Hierbei müssen wir natürlich feststellen, daß eine bevorzugte Berücksichtigung der neuen Bundesländer zu Restriktionen in den alten Ländern führen wird. Aber im europäischen Vergleich haben wir in den Westländern auch einen hohen Ausbaustandard. Ich will noch einmal auf die eben angesprochenen Pilotprojekte zurückkommen. Es sind insgesamt sechs, verehrter Herr Wissmann, die Sie auch schon genannt haben, die im Jahre 1994 begonnen werden und mit denen man feststellen will, inwieweit das Investitionsvolumen im Straßenbau künftig durch eine Privatfinanzierung von Bundesfernstraßen gesteigert werden kann. ({0}) Mit diesen Pilotprojekten wird das Ausbauvolumen für 1994 weiter erhöht. Dies ist nach meiner Einschätzung ein gangbarer Weg, Straßenbauvorhaben zügig zu realisieren. Meine Anmerkung wäre, verehrter Herr Minister, ob wir nicht prüfen sollten, inwieweit die eine oder die andere Maßnahme im Rahmen dieser Pilotprojekte zusätzlich berücksichtigt werden kann. Denn wir arbeiten hier mit dem Faktor Zeit. Den Faktor Zeit können wir beschleunigen. Dies ist ein Weg, den ich mit Ihnen bei den Berichterstattergesprächen zusammen mit den Kollegen gerne noch einmal vertiefen möchte. ({1}) - Der Faktor Zeit kostet mehr Geld. Aber, verehrter Herr Daubertshäuser, langfristig gerechnet führt das zu Kostenersparnissen, je schneller wir einen Weg fertigstellen. Für das Zusammenwachsen Europas brauchen wir einen zügigen Ausbau. Je eher wir die Wege nutzen können, um so mehr dienen wir den Menschen und der Wirtschaft. ({2}) Ich muß ein Thema ansprechen, das ich auch bei der Etatdebatte im letzten Jahr vertieft habe, die Verkehrssicherheit. Wenn wir uns den Entwurf des Haushalts 1994 ansehen, stellen wir fest, daß bei den Maßnahmen der Verkehrserziehung und der Verkehrsaufklärung Bundeszuschüsse in Höhe von 15 Millionen DM vorgesehen sind. Verglichen mit den Vorjahren haben wir erheblich weniger Mittel zur Verfügung. Wir müssen schauen - diesen Appell richte ich an die Berichterstatterkollegen -, inwieweit wir bei den Beratungen da noch zu Veränderungen kommen. Wir wollen versuchen, einige Umschichtungen zu erreichen; denn die Verkehrssicherheit leistet einen deutlichen Beitrag. In unserem Haushaltsplan sind für den Einzelplan 12 zwei neue Verwaltungen vorgesehen. Bei der einen handelt es sich um das Eisenbahnbundesamt, das im Rahmen der Bahnreform eingerichtet wird. Die Notwendigkeit dieser Einrichtung ergibt sich aus den Folgerungen der Bahnreform. Bei der Einrichtung des Bundesamtes für Güterverkehr melde ich eine kritische Prüfung an. ({3}) Denn durch den Fortfall der Tarifprüfungen ist eine wesentliche Aufgabe entfallen. Daher, so meine ich, muß es Aufgabe des Parlaments sein, diese neuen Verwaltungen vor ihrem Entstehen kritisch zu betrachten. ({4}) Als Abgeordneter von der Küste will ich ganz kurz noch die Finanzbeiträge für die Seeschiffahrt ansprechen. Wir hatten im Haushaltsjahr 1993 Verpflichtungsermächtigungen von 100 Millionen DM für das Haushaltsjahr 1994 eingebracht, so daß sie jetzt als Barmittel einfließen werden. Aber in diesem Haushaltsentwurf sind weitere Verpflichtungsermächtigungen für die Folgejahre nicht vorgesehen. Wenn dies so bleibt, appelliere ich an die Bundesregierung, doch zu steuerlichen Entlastungen zu kommen, damit wir im Wettbewerb der Handelsflotte zu einem Gleichklang kommen und Benachteiligungen nicht hinzunehmen wären. Denn der Drang zur Ausflaggung hält weiter an, und hier bestünde dann auf steuerlicher Basis Handlungsbedarf. Ich hätte gerne noch zum Bereich der Werften etwas gesagt, aber der Ablauf der Debatte zwingt mich, zum Schluß zu kommen. Mit diesem Haushaltsentwurf 1994 werden sich in den folgenden Wochen die Fachausschüsse sowie alle anderen Bereiche, die mit der Haushaltspolitik zu tun haben, befassen müssen, und dabei müssen wir - das wird sicherlich deutlich - eine Fülle von Einzelfragen regeln. Es wird unser Bemühen sein, das Ausgabevolumen nicht zu erhöhen, aber andererseits zu zufriedenstellenden Lösungen zu kommen, damit wir den Einzelplan 12 wie viele andere im Einvernehmen mit den Kollegen von der Arbeitsgruppe Verkehr über die Bühne bringen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Als nächster spricht der Kollege Werner Zywietz.

Werner Zywietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002612, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann jedem Haushalt manches vorwerfen und über vieles diskutieren, aber ich glaube, wenn man sich den Einzelplan 12 anschaut, muß man feststellen, daß er in den letzten Jahren einen besonders zügigen geldlichen Aufwuchs gehabt hat. Es hat zwei besondere Sprünge bei der Entwicklung des Verkehrsetats gegeben. Der eine Sprung war verursacht durch den historischen Glücksfall der deutschen Wiedervereinigung, und ein anderer Mengensprung, ein Quantensprung, ist die Vorsorge für die Zentralaufgabe der Bahnreform. Man muß sich noch einmal im Vergleich zu anderen Haushalten in Erinnerung rufen, daß sich 1990, vor der deutschen Einheit, das grobe Volumen dieses Etats auf 25 Milliarden DM belief und daß wir im Jahr 1993 43 Milliarden DM haben und für das nächste Jahr 53 Milliarden DM vorgesehen haben. Das ist in der Tat ein rasanter Anstieg. Wenn man ironisch wäre, könnte man sagen: Dieser Anstieg schlägt alles, er schlägt auch den Anstieg der Verschuldung, und das heißt schon etwas. An der Menge kann es also nicht liegen. Die Struktur ist auch in Ordnung; das ist auf den ersten Blick festzustellen. Es wird allerdings darauf ankommen, daß in diesem großen Etat des nächsten Jahres von 53 Milliarden DM noch mehr Wert auf eine effiziente, auf eine sinnvolle Mittelverausgabung gelegt wird. Denn natürlich kann aus dem allgemeinen Spar- und Konsolidierungsbemühen der öffentlichen Haushalte auch dieser große Etat, der jetzt schon auf Platz 3 rangiert, nicht ausgenommen werden. Es freut mich dabei, Herr Minister, von Ihnen zu hören, daß die Projekte der deutschen Einheit, insbesondere was Straßen und Schienenverbindungen anlangt, mit Priorität durchgeführt werden. ({0}) Ich erwähne das, weil man nach Meldungen aus der Regionalpresse schon anfängt, Mittelkürzungen - die 1,2 Milliarden DM sind hier angesprochen worden - gegeneinander auszuspielen. Manche sprechen sich dafür aus, mehr bei den Projekten der deutschen Einheit zu sparen, damit diese oder jene Umgehungsstraße in Westdeutschland vielleicht noch gebaut werden kann. Mich hat etwas nachdenklich gestimmt, daß hier schon ein Schwarzer-Peter-Spiel begonnen wird. Das kann nicht im Interesse der Sache sein. ({1}) Wir werden uns gesteigert um Effizienz zu bemühen haben, und dafür gibt es auch Möglichkeiten. Die gibt es in allen Lebensbereichen, irgendwo zwischen 5 oder 10 %. Jeder weiß es: Man kann ein Haus ökologisch bauen, mit dicken oder dünnen Wänden, mit mehr oder weniger Aufwand. Die Margen mögen beim Straßenbau etwas geringer sein, sie sind aber auch vorhanden. Es ist auch hier möglich, durch technische Ausprägung und Maße - ich will vorsichtig sein in den Bandbreiten - Mittel einzusparen. Manche Großzügigkeit der Vergangenheit müssen wir wirklich Vergangenheit sein lassen. ({2}) Zum Thema Straßen möchte ich noch zwei Dinge antippen. Wir von der F.D.P. stehen der Mobilisierung von Privatkapital auch für Infrastrukturmaßnahmen im Verkehrsbereich, für Straßenbau, positiv gegenüber. Aber wir sollten realistisch miteinander umgehen. Es kann bei Lichte besehen, wie immer die Modelle auch heißen mögen, nach meinem ökonomischen Verständnis immer nur um eine Vorfinanzierung in der einen oder anderen Form gehen. Das heißt, was man vorzieht, wird man später aus öffentlichen Mitteln zu zahlen haben. Es gibt ja nichts geschenkt, und zaubern können wir alle miteinander nicht. Aber schon das Vorziehen ist eine Zielsetzung, die den Einsatz lohnt. Nur möchte ich in aller Klarheit sagen: Was man jetzt vorzieht, kann später nicht gemacht werden. Die Rechnungen werden präsentiert. Mir ist aus der Praxis heraus ein weiterer Punkt aufgefallen, insbesondere in den neuen Bundesländern, bei allem Respekt, und ich stehe sehr dahinter, daß im Verkehrsbereich vieles aufzuholen ist. Ich kann nun keine statistische Übersicht präsentieren, aber ich bin viel herumgefahren. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß etwas zu schnell und etwas zu üppig in Kantstein- und Gehwegmodernisierung investiert worden ist, daß es aber bei den Hauptstrekken, ob Straße oder Schiene, nicht ganz so flott geht. Ich meine, man sollte darauf achten, daß nicht an die Kommunen, wo es am schnellsten geht und wo Kantsteine und Fußwege „vergoldet" werden können, die Straßenbaumittel fließen. Das darf nicht die erste Priorität im Verkehrsetat oder im Aufbau Ost sein. ({3}) Ich will noch etwas mit Blick aufs Praktische erwähnen, und zwar zu Großprojekten, zu denen wir stehen. Vielfach sieht man jetzt Schilder - ich habe sie am Berliner Autobahnring gesehen -: Brückenverbreiterung so und so, Baumaßnahme des Bundes. Wunderbar! Da steht dann: Fertigstellung Ende 1996. Ich habe einen Fall überprüft. Die Mühe, eine Verkehrsregelung - Umwege, Ausweichmöglichkeiten - anzugehen, hat sich bisher niemand gemacht. Es ist zwar gut, daß ein solches Schild zu lesen ist und daß etwas Vernünftiges gemacht wird. Aber eine begleitende Vorsorge, diesen Engpässen auszuweichen, ist nach meinem Eindruck - ich habe mehrere Fälle überprüft, einen davon sehr intensiv - nicht in ausreichendem Maße geschehen. Hierauf, so meine ich, müßte man das Augenmaß stärker lenken, damit das Gute, das wir tun, bei der Bevölkerung als etwas Hilfreiches ankommt und der Arger über den Stau nicht die Freude an einer solchen Bundesinvestition nimmt. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, zweifelsohne ist die Aufgabe Nummer 1 die Bahnreform. Da gibt es kein Vertun. Das Ministerium verdient Dank, daß jetzt mit mehr Kraft an dieser Aufgabe gearbeitet wird. ({5}) Ich will in Erinnerung rufen, warum das so nötig ist. Selbst mir, der ich mich ein wenig mit diesem Haushalt beschäftige, fiel es wie Schuppen von den Augen, als ich mir drei Daten konsequent vor Augen führte. Das erste Datum ist die Verschuldungssumme der Behörde Bahn. Sie läuft auf die 70 Milliarden DM zu. Ein Land wie Schleswig-Holstein hat einen Jahresetat von 15, 16 Milliarden DM. Die Schulden der Bahn machen also das Vier- bis Fünffache des Ausgabevolumens eines ordentlichen Bundeslandes aus. ({6}) - Ja, es ist ein ordentliches Land. Im Norden haben wir fast nur ordentliche. ({7}) Die zweite Größe: Wenn pro Jahr ein Defizit in der Größenordnung von 12, 13, 14 Milliarden DM bei Reichs- und Bundesbahn neu anfällt, also über 1 Milliarde DM pro Monat, dann ist auch das eine Zahl, die zum Handeln zwingt. ({8}) Die dritte Zahl, und damit lasse ich es bewenden: Wenn mir jemand sagt, der ein Unternehmen analysiert, der an die Probleme mit ökonomischem Sachverstand herangeht, daß der Gesamtumsatz in einer Monatsperiode, also alles, was durch Tarifeinnahmen im Güterverkehr und durch den Ticketverkauf hereinkommt, nicht reicht, um die Personalausgaben mit ihrem Sozialpaket zu bezahlen, dann weiß ich: Das ist nicht in Ordnung. Das ist eigentlich der Bankrott. So kann das nicht weitergehen. ({9}) Ein Unternehmen, das mit seinem Umsatz nicht die Personalkosten abdecken kann, kann schlichtweg nicht so weitermachen. Damit bin ich bei Ihnen, Kolleginnen und Kollegen von der Opposition: Wir müssen uns alle einen Ruck geben, auch die Bundesländer, und kleine Interessen zurückstellen. Die Bahnreform muß kommen. Aus der Behörde Bahn muß ein Unternehmen Bahn werden. Ich weiß auch, daß damit noch nicht alles geheilt wird, aber das ist der Einstieg zur dringend erforderlichen Heilung.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Zywietz, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Werner Zywietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002612, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Jawohl.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte sehr, Herr Kollege.

Manfred Schell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001953, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, teilen Sie meine Auffassung, daß Ihre Aussage nicht stimmt, sondern daß die Bahn - ich denke, wir reden zunächst einmal von der Deutschen Bundesbahn - ihre Personalkosten zu nicht 100 % erwirtschaftet, sondern nur in einem Umfang von 75 %? Teilen Sie meine Auffassung, daß die Schulden, die bei der Bundesbahn angelaufen sind, auch die Folge einer verfehlten Finanz- und Verkehrspolitik der vergangenen Jahre sind? Man sollte jetzt nicht im Zuge der Bahnreform alles der Bahn anlasten, was sie in den vergangenen Jahren nicht zu vertreten hatte. Das möchte ich durch Sie klargestellt wissen.

Werner Zywietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002612, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das mache ich sehr gern. Ich spreche von der Bahn insgesamt, also Reichsbahn und Bundesbahn. Ich habe die Zahlen noch vor Beginn dieser Debatte auf zwei Wegen prüfen lassen. Das Fazit war: Die Umsatzerlöse decken die Personalausgaben und alles, was mit dem Sozialpaket daranhängt, nicht. Aber das ist eine Fachfrage, die sich überprüfen läßt. Selbst wenn eine kleine Marge existiert, so sind damit noch nicht die Materialkosten abgedeckt, auch nicht die Abschreibungen, keine Investitionen für weitere Entwicklungen. So kann man nicht wirtschaften, selbst wenn eine kleine Marge existierte. Zu Ihrer Bemerkung, was der Bahn alles angelastet wird: Da gebe ich Ihnen recht; da sind wir alle irgendwo Sünder. ({0}) Da knicke ich auch ein bißchen ein. Jeder hat ja seinen Wahlkreis. Ich möchte denjenigen Abgeordneten sehen, der nicht schon einmal für den Erhalt irgendeiner Strecke plädiert hat, der noch nicht für sozial gestaffelte Tarife plädiert hat. Wer glaubt, er sitze nicht im Glashaus und könne deshalb mit Steinen werfen, ohne daß etwas kaputtgeht, möge dies tun. Die Ehrlichkeit gebietet aber auch - das ist vom Kollegen Daubertshäuser gesagt worden - eine richtige Zuordnung. Wenn die Soldaten billig nach Hause fahren sollen, dann muß die Differenz zum normalen Tarif eben aus dem Verteidigungsetat finanziert werden. Wenn die Tarife für Familien mit mehreren Kindern anders gestaffelt werden und nicht kostendeckend sind - dafür bin ich auch -, dann muß auch dies dem entsprechenden Etat zugeordnet werden. Das sind Versäumnisse, die ich nicht der Bundesbahn zuordne, sondern sie haben ihre Ursache in verschiedenen Quellen. Sie haben sich im Laufe der Zeit kumuliert. Daß Abhilfe und eine andere Strategie des Vorgehens erforderlich sind, darüber müßten wir uns einig sein. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Zywietz, das war die Antwort auf die Zwischenfrage des Kollegen Manfred Schell. Jetzt haben Sie noch eine Minute Redezeit. Bitte sehr.

Werner Zywietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002612, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluß noch zum Wasser. Als Norddeutscher sage ich: Ich bin dafür, daß wir Subventionen abbauen, auch Schifffahrtssubventionen; um da Klartext zu reden. Ich mache ein Angebot: Jeder sollte in seinem Bereich bezüglich der Subventionen nach folgendem Grundsatz vorgehen - da halte ich es mit Wilhelm Busch -: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu! Wir bauen die Subventionen ab, aber dann sind alle anderen aufgerufen, nach derselben Formel mitzumachen. Ich könnte es sogar ostpreußisch formulieren, vornehmer, nämlich mit Kant, der gesagt hat: Verhalte dich stets so, daß du wollen kannst, daß die Maxime deines Verhaltens allgemeines Gesetz wird. Nach dieser Maxime mache ich jede Subventionskürzung im Werftenbereich mit. Ein letztes Wort an die Opposition. Herr Kollege Daubertshäuser, Sie haben die Lufthansa angesprochen. Ihre Auffassung bezüglich des Abkommens mit den Vereinigten Staaten teile ich. Zur Lufthansa gäbe es aber mehr zu sagen als nur diesen einen Satz. Dort gibt es eine ganze Menge hausgemachter Versäumnisse, die nicht vom Steuerzahler ausgeglichen werden müssen, sondern da muß sich die Lufthansa selber mehr anstrengen. Ich glaube, daß das in der Führungsspitze schon weitgehend geschieht. Aber im Servicebereich, insbesondere am Boden, muß man mehr tun und den guten Ruf wiederherstellen. Dann wäre man auf einem besseren Wege. Wir unterstützen diesen Etat nach dem Motto: Realismus beim Straßenbau, Entschlossenheit bei der Bahnreform! Danke. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserer Frau Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann das Wort.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute wurde in Frankfurt am Main die Internationale Autoausstellung eröffnet. Die Besucherinnen und Besucher werden in eine chromblitzende, blankpolierte Scheinwelt geführt, drapiert mit künstlichen Bäumen und Blumen, die das große Umweltbewußtsein der Automobilindustrie vorgaukeln sollen. Dabei kann man hier wohl kaum noch von einer heilen Welt sprechen. Vergeblich wird man in den Sonntagsreden der Herren Kohl und Wissmann auch nur ein Wort zum geplanten Abbau von mehr als 100 000 Arbeitsplätzen in den nächsten zwei Jahren in der Autoindustrie finden, geschweige denn von den mehr als doppelt so vielen in der Zulieferindustrie. Soziale Probleme und mögliche Lösungskonzepte, d. h. also Konversionskonzepte, passen eben nicht in eine Glitzerwelt. Herr Kollege Wissmann, Sie haben sich von den vorgeführten Modellen, die 3,5 1 und weniger verbrauchen, sehr begeistert gezeigt. Nach Aussagen der Fachleute sind das sozusagen Designermodelle, die als Serienmodelle mit so wenig Sprit nicht auskommen. Die Industrie sagt: Solange die Politik nicht die entsprechenden Vorgaben macht, produzieren sie die großen Schlitten weiter. Der Handlungsbedarf liegt also eindeutig bei uns. Herr Minister Wissmann, Sie verfügen mit Ihrem Verkehrshaushalt in Höhe von 53,9 Milliarden DM über den Haushalt mit dem stärksten absoluten Zuwachs, nämlich um 10 Milliarden DM bzw. 22,8 %. Diese Steigerung ist im wesentlichen auf die noch zu verabschiedende Bahnreform zurückzuführen. Daher möchte ich mich diesem Punkt etwas ausführlicher widmen. Die deutschen Bahnen, das ist hinlänglich bekannt, rasen immer schneller in die roten Zahlen. Die Halbjahresberichte von Bundes- und Reichsbahn fallen jedesmal schlechter aus als erwartet. Für dieses Jahr wird mit einem Verlust von mehr als 14 Milliarden DM gerechnet. Der Schuldenberg der beiden Bahnen wird sich Ende des Jahres auf 67 Milliarden DM erhöht haben. Es ist also, wie man so schön sagt, allerhöchste Eisenbahn, etwas zu unternehmen. Herr Kollege Zywietz, das sehe ich mit der gleichen Sorge wie Sie. Allerdings bin ich schon der Auffassung, daß man sich die Ursachen für diese Entwicklung genauer ansehen müßte. Ob allerdings das Konzept der Bundesregierung zur Sanierung der Bahn taugt, ist mehr als fraglich. ({0}) Privatisierung ist nun einmal kein Allheilmittel gegen eine jahrzehntelang verfehlte Verkehrspolitik, und die für das Jahr 2002 vorgesehene Trennung von Fahrweg, Personen- und Güterverkehr ist genau der abenteuerliche Weg hin zu einer Schrumpfbahn japanischer Couleur. Ein Wort zu den Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn. Es ist ein Skandal, daß den Beschäftigten in Flugblättern eine Abfindung im Falle ihrer Kündigung angeboten und ihnen indirekt eine betriebsbedingte Kündigung bis zum Jahresende angedroht wurde. Damit haben die, die unter diesen Bedingungen ausscheiden, eigentlich beim Übergang in die neue Rechtsform im nächsten Jahr keine Chance mehr. Um nicht mißverstanden zu werden: Investitionen in die Bahn und deren Befreiung vom immensen Schuldenberg, wie dies der Haushalt auch vorsieht, können Investitionen in die Zukunft sein, in die Zukunft eines ökologischen Verkehrssystems mit der Bahn als Hauptverkehrsträgerin. Damit sich diese Investitionen aber lohnen - und zwar für die Bürgerinnen und Bürger lohnen, nicht für Unternehmen und Konzerne -, ist ein anderer Rahmen für die Bahnreform notwendig als der uns vorliegende. Eine Sanierung der Bahn kann nur in Zusammenhang mit einer Umorientierung der gesamten Verkehrspolitik erfolgreich sein. Ich hätte vorhin fast geklatscht, als Herr Minister Wissmann das gesagt hat. Aber ich weiß ja, wie er es meint. Als eine Voraussetzung für das Gelingen der Bahnreform müssen Maßnahmen zur Aufhebung der Wettbewerbsnachteile der Bahn ergriffen werden. Die Übernahme der Bahnschulden ist zwar ein Schritt, reicht aber bei weitem nicht aus. Ein Wort zur geplanten Erhöhung der Mineralölsteuer. Sie soll angeblich zur Finanzierung der Bahnreform dienen. Das, Herr Minister Wissmann - wo ist er denn? ({1}) - oh, pardon, jetzt habe ich Sie übersehen; das tut mir leid -, ({2}) ist nur die halbe Wahrheit, und auch eine halbe Wahrheit ist eine Lüge. Zunächst wollen Sie nämlich lediglich den Schuldenberg der Bahn abbauen. Mit einer ökologischen Reform des Transportwesens hat das wohl herzlich wenig zu tun. Über die Frage, wie den Ländern im Zuge der geplanten Regionalisierung des Schienennahverkehrs ausreichende Finanzhilfen zur Sicherung einer adäquaten Bedienung im öffentlichen Nahverkehr gewährt werden sollen, hat sich die Bundesregierung in ihrem diesjährigen Haushaltsentwurf damit hinwegretten können, daß der angestrebten Grundgesetzänderung zufolge die Auf- und Ausgabenverantwortung für eine Übergangszeit beim Bund bleibt. Die Bahnreform kann unseres Erachtens nicht ohne die Klärung dieses entscheidenden Aspekts angegangen werden. Ich meine, von „kleinlichen Interessen" der Länder, Herr Zywietz, kann hier wohl keine Rede sein; denn hier geht es immerhin um den Erhalt des Kerns der Bahn, und das sind der Nah- und der Regionalverkehr. ({3}) Weiterhin bleibt offen, wer künftig die nicht gedeckten Kosten des Fahrwegs zu tragen hat, wenn eine Vollkostendeckung nicht erreicht werden kann. Da dies insbesondere im Nahverkehr absehbar ist, ist eine Klärung dieser Frage schnellstens notwendig, um Streckenstillegungen in großem Umfang zu vermeiden. Die Verantwortung des Bundes für die Schieneninfrastruktur bedarf darüber hinaus einer grundgesetzlichen Absicherung. Hier hoffe ich sehr, liebe Kollegen der SPD, auf eine Zusammenarbeit. Allerdings, denke ich, müssen wir aufpassen: Die staatliche Daseinsfürsorge, wenn sie erst mal aus dem Grundgesetz gestrichen ist, für den Fahrweg wieder hineinzubekommen, wird schwer sein. Das heißt, das müssen wir vorher festklopfen. Dringend notwendig ist, die technologische Lücke zu füllen, die dank einer autoorientierten Politik der Bundesregierung in Jahrzehnten entstanden ist. Dazu sollten beispielsweise die bestehenden Reichsbahnausbesserungswerke in Stendal und Halberstadt nicht abgebaut, sondern so modernisiert werden, daß sie den Anforderungen gerecht werden können. Der Haushalt Verkehr für 1994 stellt die Fortsetzung einer Politik dar, die unweigerlich bei Dauerstau und Blechlawine enden wird. Da mache ich nicht mit. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, als nächster hat jetzt unser Kollege Dr. KlausDieter Feige das Wort.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Verkehrshaushalt für 1994 ist Ausdruck einer Verkehrspolitik, die weiterhin anstatt auf Vernunft auf Vollgas setzt. Herr Wissmann, „Ökologie" schreibt man mit 1 und g, aber nicht mit n und m. Das, was Sie darunter verstehen, hat oberflächlich vielleicht etwas mit Ökologie zu tun. Aber ein Verkehrshaushalt wird nur deshalb, weil er nicht ganz so umweltferkelig ist wie der vorhergehende, nicht gleich mit einem Blauen Umweltengel bedacht. Ich glaube, die geplanten 53,8 Milliarden DM für ein ausuferndes Verkehrssystem sind völlig realitätsfremd, weil Sie so tun, als gäbe es keine Wirtschaftsrezession und Finanzkrise. Graf Lambsdorff selbst hat heute früh in der Debatte zum Wirtschaftshaushalt gesagt, die Koalition sei aus Sparsamkeitsgründen bescheiden geworden. Im Verkehrsministerium muß diese Aussage unter die Räder gekommen sein. An einem derart unterfinanzierten Bundesverkehrswegeplan festzuhalten ist genauso unseriös, als wenn ich einen Großeinkauf in einem Supermarkt mit einer ungedeckten Kreditkarte mache. Auch die beginnende Umsetzung des Verkehrswegeplans wird den Verkehrsinfarkt nicht abwenden, im Gegenteil. Auch das größte Straßenbauprogramm seit 1945 kann mit der Dynamik des explodierenden Straßenverkehrs nicht mithalten. Es mildert maximal den Anstieg der Belastungen in wenigen Regionen. Die Konsequenz: Mit Verkehrsvermeidung hat das, was die Bundesregierung im kommenden Jahr vorhat, absolut nichts zu tun. Die Finanzierung dieser Verkehrspolitik steckt nun selbst voller Ungereimtheiten und Widersprüche. Sogar der Umweltschutz - man höre - wird hier als Deckmäntelchen für das Stopfen der finanzpolitischen Löcher mißbraucht. Diese Woche hat der Umweltminister, vielleicht aus Einsicht in die drängenden Notwendigkeiten, erneut einen Vorstoß in Richtung Mineralölsteuererhöhung gemacht. Auf nicht weniger als 5 Mark soll der Benzinpreis erhöht werden, um der fatalen Verkehrsentwicklung entgegenzusteuern. Ich hätte fast Beifall geklatscht, aber das ist mir gerade noch rechtzeitig eingefallen, daß Herr Töpfer selber vor zwei Jahren schon einmal eine ähnliche Initiative in Sachen Geschwindigkeitsbeschränkung ergriffen hat und genauso umgekippt ist. Ihre Verkehrspolitik ist nicht einmal in den Ankündigungen glaubhaft. ({0}) Aus Umweltsicht ist z. B. die geringfügige Erhöhung der Mineralölsteuer um 16 Pf ein Tropfen auf den heißen Stein gewesen. Durch die Erhöhung der Kilometerpauschale wird sie sogar weitgehend kompensiert. Eine sinnvolle Preispolitik im Verkehrsbereich ist nur denkbar, wenn wir endlich aufhören, den Verkehr über die Kompensation der entstandenen Schäden aus Steuermitteln indirekt zu subventionieren. Finanzstaatssekretär Zeitler rechnete vor - ich zitiere -: Die Mehrlastung für einen 40-t-Lastzug mit einer Jahresfahrleistung von 100 000 km und einem Verbrauch von 35 Litern für 100 km von rund 2 450 DM wird durch die Kraftfahrzeugsteuerentlastung deutlich überkompensiert, so daß mit einer Nettoentlastung von rund 3 000 DM bis 4 500 DM im Ergebnis eine nicht unerhebliche Verbesserung der Wettbewerbssituation des deutschen Transportgewerbes erreicht wird. Dann seien Sie doch ehrlich, und täuschen Sie uns nicht mit der Mineralölsteuererhöhung vor, daß Sie gar Umweltschutzabsichten haben! ({1}) Der Verdoppelung des Güterverkehrs auf unseren Straßen steht so wirklich nichts mehr im Wege. Wie die Bahnreform angesichts dieser Politik nicht baden gehen soll, bleibt uns ein Rätsel. Ohne eine ökologische Gesamtverkehrspolitik wird die Bahn auch nach dem Bahnstrukturwandel im Wettbewerb mit Straße und Flugzeug chancenlos sein und ein finanzpolitisches Faß ohne Boden bleiben. Verkehrsvermeidung läßt sich nicht erreichen, wenn wir, anstatt die Ursachen für Verkehr zu verteuern, an deren Symptomen herumdoktern. Ich bin nicht Gegner einer Reglementierung des Flottenverbrauchs. Aber Ansätze, allein den Flottenverbrauch ordnungspolitisch zu reglementieren, führen nur zu Scheinsiegen. Auch das Zwei-Liter-Auto wird nicht einen Fahrkilometer weniger bringen. Im Gegenteil: Ohne weitere Instrumente, die eine generelle Verkehrsvermeidung bewirken, provoziert auch ein Geringverbrauchsauto mehr Kilometer. Wir brauchen tatsächlich, um auch dann nicht wieder dauernd vor der Forderung zu stehen, neue Umgehungsstraßen zu bauen, ein Grundprinzip, das „ Verkehrsvermeidung " heißen muß. ({2}) Wir brauchen heute mehr denn je politische Zeichen - da stimme ich mit Herrn Wissmann überein -, die belegen, daß die Verkehrspolitik der Bundesrepublik die gewaltigen Herausforderungen im Klima- und Umweltschutz wirksam mitlösen will. Die Abgeordneten von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind keineswegs ignorant und erkennen, daß es weiter Verkehr geben wird und geben muß, daß die Verkehrsinfrastruktur weiterzuentwickeln ist. Doch auf das Wie kommt es an. Wir glauben, daß ein genereller siebenjähriger Baustopp für Autobahnen in der Bundesrepublik ein solches zeitgemäßes Signal wäre. ({3}) Dieses Moratorium ist ohne nennenswerte Verluste an Lebensqualität nahezu problemlos machbar und kostet nichts, ganz im Gegenteil. ({4}) Die durch den siebenjährigen Baustopp eingesparten 25 Milliarden DM wären dann der Beitrag der Verkehrspolitik zur Konsolidierung des Haushalts. ({5}) Der Start in eine problemgerechte Verkehrspolitik wäre so markiert. Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, letzter Redner in dieser Runde ist unser Kollege Horst Gibtner.

Horst Gibtner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000677, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Opposition kann sich noch so sehr ins Zeug legen, um der Bundesregierung falsche Lösungsansätze zur Konsolidierung des Haushalts und zur Ankurbelung der Wirtschaft vorzuwerfen, auch am Verkehrshaushalt läßt sich das Gegenteil leicht beweisen. Wenn schon gespart werden muß - daran kann es natürlich keinen Zweifel geben -, wenn demzufolge auch nicht die von allen Fraktionen des Bundestages erhofften Zuwachsraten im Verkehrshaushalt erreicht werden können - die Investitionsmittel für die Verkehrsinfrastruktur und für Fahrzeuge steigen. Wie der Kollege Bohlsen schon gesagt hat, sind 26,4 Milliarden DM dafür vorgesehen, und das sind immerhin 300 Millionen DM mehr als im Vorjahr. Vor allem gilt es festzustellen, daß an den 17 Verkehrsprojekten Deutsche Einheit und an den notwendigen Investitionen bei der Deutschen Reichsbahn nicht gerüttelt wird. Denn diese Investitionen sichern Arbeitsplätze, vor allem in den jungen Bundesländern, und sie führen den Menschen vor Augen, daß die Bundesregierung ihren Beitrag für den Aufschwung Ost leistet. Die Hälfte der Investitionsmittel des Verkehrshaushalts - das sind 13,1 Milliarden DM - soll in den neuen Bundesländern eingesetzt werden. Meine Damen und Herren, das ist super! ({0}) Ich weiß, daß dieses eindeutige Signal zugunsten der neuen Bundesländer von manchen Zeitgenossen kritisiert wird - weniger hier in diesem Hause -; denn tatsächlich müssen im Straßenbauhaushalt Kürzungen gegenüber der mittelfristigen Finanzplanung hingenommen werden, die sich in den westlichen Bundesländern auswirken. Wohlgemerkt, werte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, die Sie sich immer soviel Mühe geben, der Regierung Vernachlässigung der Schiene nachzuweisen: Am Straßenbauhaushalt wird gespart, doch nur im Westen. Aber wenn den östlichen Bundesländern nicht gegönnt wird, daß die Bundesregierung ihnen bei der Aufholung des Rückstandes tatkräftig hilft, wenn westliche Länder und Kommunen, zumeist SPD-geführte, sich hierüber beklagen, ({1}) dann steht es allerdings schlecht um die Solidarität der Deutschen. Ich erinnere hier noch einmal an das Dilemma vom Juni, als es nur mit Mühe gelang, dem Bundesrat die Zustimmung zur Umschichtung von ganzen zweimal 400 Millionen DM von West nach Ost zur Gemeindeverkehrsfinanzierung abzutrotzen. Meine Damen und Herren, wer in dieser zweifellos schwierigen Situation solidarisches Handeln vermissen läßt und Neidgefühle schürt, verdient es nicht, die Wiedervereinigung miterlebt zu haben. ({2}) Werte Kolleginnen und Kollegen, nun zum Ihrem Lieblingsthema, der Bahn. Sie wird in den neuen Bundesländern 1994 ca. 8 Milliarden DM investieren. Das sind 1,1 Milliarden DM mehr als 1993. Und schon in diesem Jahr ist das Streckennetz der Deutschen Reichsbahn die größte Gleisbaustelle der Welt! Gearbeitet wird unter anderem an der Hochgeschwindigkeitsstrecke Hannover-Berlin, an den Ausbaustrekken Magdeburg-Berlin, Halle/Leipzig-Berlin und Hamburg-Berlin sowie ab heute Leipzig-Dresden und auch am Berliner Eisenbahnnetz. Meine Damen und Herren, der Kollege Daubertshäuser vergißt immer, wenn er Investitionsmittel für die Bahn hier zahlenmäßig erwähnt, dazuzusagen, daß neben den Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt die Bahn auch eigene Investitionsmittel einsetzt. Dann sieht das Bild genau so aus, wie ich es Ihnen hier darstelle. ({3}) Wir haben uns gemeinsam für das Schienenwegeausbaugesetz eingesetzt, und ich habe Ihnen gerade gezeigt, daß im nächsten Jahr auf dem Gebiet der Deutschen Reichsbahn, also in den neuen Bundesländern, 8 Milliarden DM investiert werden, wovon 7,1 Milliarden DM aus dem Haushalt kommen. Das ist genau die Entwicklung, die wir beide wollten. ({4}) Es ist also nicht so negativ, wie Sie das hier darstellen. ({5}) Zum Fernstraßenbau komme ich noch ganz kurz. Aus dem Straßenbauhaushalt werden 1,67 Milliarden DM allein in die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit fließen. Der Straßenbauhaushalt ist ein Haushaltstitel, auf den wir nicht verzichten werden, auch wenn uns die autofeindlichen Gruppen hier in diesem Hause das Autofahren miesmachen möchten. Gebaut wird unter anderem an der Ortsumgehung Wismar im Zuge der A 20, ein Projekt, das der Kollege Dr. Feige besonders liebevoll betreut, an Brücken der A 2 Hannover-Berlin und der A 10 Berliner Ring, an Teilabschnitten der A 9 Berlin-Nürnberg, der A 14 Magdeburg-Halle sowie der A 44/A 4 Kassel-Eisenach-Görlitz. Baubeginn wird an der A 82/A 140 Göttingen-Halle/Leipzig sein, ebenso im Raum Erfurt-Arnstadt beim Projekt 16. Der Gesamtanteil der neuen Länder am Straßenbauhaushalt ist mit 4,2 Milliarden DM veranschlagt. Das ist wiederum die Hälfte aller Investitionsmittel für den Straßenbau. Meine Damen und Herren, es wird auch im Jahre 1994 so sein wie schon seit der Währungsunion im Jahre 1990 und weiter mit voller Kraft: Überall in den jungen Bundesländern wird gebaut. Dafür sollten sich alle Bürger begeistern, im Osten wie im Westen unseres Vaterlandes! ({6}) Denn Ausgaben für den Verkehrsbereich sind Investitionen für die Zukunft, und sie sichern jetzt Arbeitsplätze. Es ist gut, wenn die Menschen miterleben, daß auch in Zeiten knapper Kassen und hoher Arbeitslosigkeit die Infrastruktur auf zukünftige Anforderungen vorbereitet wird. Und es ist absolut richtig - jedenfalls sieht das meine Fraktion so -, wenn mit den Mitteln, die wir haben, vorrangig in den neuen Bundesländern gebaut wird. Ich lade Sie alle ein, diesen Haushaltsansatz der Bundesregierung zu unterstützen. ({7})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren! Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir sind damit am Ende der Beratungen über den Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr. Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Ich erteile zunächst dem Herrn Bundesminister, unserem Kollegen Jochen Borchert, das Wort.

Jochen Borchert (Minister:in)

Politiker ID: 11000233

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was die Preisentwicklung anbetrifft, war das Wirtschaftsjahr 1992/93 für unsere Landwirtschaft nicht gerade erfreulich. Die PreisKosten-Schere hat sich weiter geöffnet, und die Landwirtschaft geht daher mit einer schweren Belastung in das Jahr 1 der Agrarreform. Allerdings nicht nur die Landwirtschaft, auch andere Sektoren stehen vor großen Herausforderungen. Es geht ja in diesen Tagen in der Debatte um den Wirtschaftsstandort Deutschland und seine Sicherung. Ich meine, dabei ist jeder aufgerufen, seinen Beitrag zum Spar- und Konsolidierungsprogramm der Bundesregierung zu leisten. Das gilt auch für die Landwirtschaft. Deshalb galt es, im Einzelplan 10 für 1994 und im Finanzplan die knappen Mittel auf die agrarpolitischen Maßnahmen zu konzentrieren, die vordringlich sind. Das Ergebnis liegt Ihnen mit dem Regierungsentwurf zum Haushalt 1994 vor. Natürlich hätte ich mir mehr Finanzierungsspielraum gewünscht. Mir wäre es z. B. lieber gewesen, wir hätten die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe aufstocken können. Wir haben angesichts der knappen Mittel und da wir in dieser Zeit kostenträchtige Programme nicht auflegen können, die Gemeinschaftsaufgabe bei den alten Bundesländern gekürzt und die Gemeinschaftsaufgabe bei den neuen Bundesländern aufgestockt, um den Aufbau der Landwirtschaft im Osten Deutschlands noch intensiver unterstützen zu können. Angesichts der schwierigen Einkommenslage unserer Landwirtschaft haben wir der Fortsetzung der direkt einkommenswirksamen Maßnahmen oberste Priorität eingeräumt. Deshalb werden beispielsweise die Gas-Öl-Verbilligung, die Unfallversicherung, der soziostrukturelle Einkommensausgleich und die Anpassungshilfe nicht angetastet. Darüber hinaus haben wir finanzielle Vorkehrungen getroffen, die Agrarsozialreform zu verwirklichen. Im Rahmen dieser Reform wird z. B. die Altershilfe für Landwirte verbessert, erhalten unsere Bäuerinnen eine eigenständige soziale Sicherung und wird das agrarsoziale Sicherungssystem auf eine finanziell stabile Basis gestellt. Eigentlich hätten jetzt die Damen und Herren der SPD applaudieren müssen. Sie waren es doch, die in der Vergangenheit immer direkte Einkommenshilfen gefordert haben. Aber auch in diesem Punkt enttäuschen sie, denn offensichtlich haben sie ihre ursprünglichen Konzepte über Bord geworden. Wie sonst ist es zu verstehen, daß die SPD gefordert hat, die Gasöl-Beihilfe sollte gestrichen, der Abbau des soziostrukturellen Ausgleichs ({0}) solle beschleunigt und auf die Agrarsozialreform solle verzichtet werden? ({1}) - Dann sollten Sie sich mit einigen Äußerungen Ihrer Fraktion auseinandersetzen. Nehmen Sie etwa die Presseerklärung von Frau Matthäus-Maier einmal zur Kenntnis, von der ein Landesminister der SPD gesagt hat, sie, die Kollegin Matthäus-Maier, könne bei ihrer relativ kurzen SPD-Zugehörigkeit noch gar nicht alle sozialdemokratischen Grundpositionen nachgelesen haben. Diesem Kommentar habe ich wenig hinzuzufügen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sielaff?

Jochen Borchert (Minister:in)

Politiker ID: 11000233

Aber gern.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte, Kollege Sielaff .

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß in der letzten Agrardebatte hier Frau Matthäus-Maier eindeutig das, was Sie hier behaupten, widerlegt hat? Und sind Sie bereit, Ihre Aussagen zu korrigieren?

Jochen Borchert (Minister:in)

Politiker ID: 11000233

Sie kennen wie ich die Presseerklärung von Frau Matthäus-Maier nach dem Beschluß des Kabinetts zur Agrarsozialreform, in der sie das von mir eben Gesagte gefordert hat, und Sie kennen genauso die Äußerungen von Frau MatthäusMaier im Pressedienst Ihrer Partei zur Verabschiedung des Haushalts. Aber, Herr Kollege, es ist nicht neu: Die Politik der SPD wirft auch in diesem Fall mehr Fragen auf, als sie Antworten gibt. Daran ändert auch die Forderung der SPD nichts, Bundesmittel bei den direkt einkommenswirksamen Maßnahmen einzusparen und für die Gemeinschaftsaufgabe zu verwenden. Ich sage Ihnen klipp und klar: Dies wird mit mir nicht geschehen. Ich bin nicht bereit, die Mehrzahl unserer Bauern von den dringend erforderlichen Einkommenshilfen auszuschließen. ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, aus vielen Gesprächen weiß ich, daß unsere Bäuerinnen und Bauern Verständnis dafür haben, daß wir uns angesichts des Sparzwangs bei der Agrarsozialreform auf das Notwendige beschränkt haben. Kein Verständnis aber haben sie, glaube ich, wenn von der SPD diese Reform als Milliardengeschenk an die Landwirte kritisiert wird. Auch ich frage Sie, meine Damen und Herren von der SPD: Wo sehen Sie ein Geschenk, wenn die erforderlichen Mittel durch Umschichtungen im Agrarhaushalt bereitgestellt werden? Wollen Sie nicht zur Kenntnis nehmen, daß in anderen Bereichen, auch im Agrarhaushalt, erhebliche Einsparungen vorgenommen wurden? Und wie vertragen sich Ihre Forderungen mit der Notwendigkeit einer sozialen Flankierung des Strukturwandels? Meine Damen und Herren, in dieser schwierigen Zeit, in der die EG-Agrarreform und der Abschluß der GATT-Verhandlungen von unserer Landwirtschaft erhebliche Anpassungen verlangen, können wir aber auch keine zusätzlichen Belastungen im Währungsbereich verkraften. Die Finanzminister und Notenbankchefs haben Anfang August die Bandbreite für Währungsschwankungen im europäischen Währungssystem erweitert. Damit sollte den Währungsspekulationen der Boden entzogen werden. Dies hat nach unserer Auffassung nichts, aber auch gar nichts mit agrarmonetären Regelungen zu tun. ({1}) Niemand hatte die Absicht, irgend etwas in diesem Bereich der agrarmonetären Regelungen zu verändern. Deshalb haben ja auch die Finanzminister beschlossen: Die Bandbreite wird erweitert, aber alle anderen Regelungen des europäischen Währungssystems bleiben bestehen, gelten weiter. ({2}) Wir sind deshalb in dieser Frage massiv bei der Kommission und den Ratsrepräsentanten vorstellig geworden, um sicherzustellen, daß negative Auswirkungen auf die Agrarpreise vermieden werden. ({3}) Wir haben eine Fortsetzung der bisherigen Switchover-Regelungen verlangt und gefordert, daß, solange hierüber nicht entschieden ist, keine Änderungen der deutschen landwirtschaftlichen Umrechnungskurse erfolgen dürfen, d. h. Aufwertungen nicht zu einer Veränderung der grünen Leitkurse und damit zu Preissenkungen bei den Interventionspreisen führen dürfen. ({4}) Ich habe dies in einem Schreiben zusammen mit dem Finanzminister, dem Kollegen Waigel, dem Präsidenten der EG-Kommission noch einmal vorgetragen. Auch der Bundeskanzler hat sich in dieser Frage engagiert und in einem Schreiben dem Präsidenten der EG-Kommission noch einmal unsere Position deutlich gemacht. Ich selbst habe in Brüssel mit dem Präsidenten des Agrarrates und dem Agrarkommissar Steichen, aber auch mit den Ministerkollegen der anderen europäischen Länder gesprochen, um unserer Forderung Nachdruck zu verleihen. Ich habe dabei auch Verständnis für unsere Positionen gefunden. Ich meine, ein erster Teilerfolg ist bereits zu vermelden. Unabhängig von der Währungsentwicklung soll es nach der Entscheidung der EG-Kommission von gestern bis Ende September keine aufwertungsbedingten Preissenkungen geben. Damit ist praktisch die Währungsuhr angehalten, und wir haben jetzt die Chance, weitere Beschlüsse durchzusetzen. Denn dies ist sicher erst ein erster Schritt, aber dieser erste Schritt reicht ganz und gar nicht. Wir brauchen eine Lösung, die auch langfristig aufwertungsbedingte Preissenkungen zu Lasten der Bauern verhindert. Alles andere verschiebt lediglich das Problem. ({5}) Um es unmißverständlich zu wiederholen: Wir brauchen eine langfristige Lösung im Interesse unserer Bauern und Bäuerinnen. Deswegen müssen wir eine Fortsetzung der Switch-over-Regelung durchsetzen, weil nur so an dem Grundsatz festgehalten werden kann, daß negative Preisveränderungen, Preissenkungen auf Grund von Aufwertungen für die betroffenen Bauern vermieden werden. Ich bitte Sie, unterstützen Sie unsere Politik, tragen Sie mit dazu bei, daß das Vertrauen unserer Bäuerinnen und Bauern in die Politik und im Bereich der Währungspolitik auch in die weitere europäische Politik und in den weiteren Weg der europäischen Einigung gestärkt wird. Es liegt bei den Haushaltsberatungen in unserer Hand, in der Hand des Parlaments, den Agrarstandort auch im Rahmen des europäischen Wettbewerbs zu sichern. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Horst Sielaff das Wort.

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Borchert, es ist schade, daß Sie hier offensichtlich keine Zusammenarbeit auf dem schwierigen Feld der Agrarpolitik wollen. Sie suchen offensichtlich die Konfrontation. ({0}) Und Sie sind nicht bereit, das, was wiederholt richtiggestellt worden ist, hier zur Kenntnis zu nehmen. Sie wissen ganz genau, daß das zu Lasten der Bauern und Bäuerinnen geht. ({1}) Wir haben deutlich die Position der SPD hier im Deutschen Bundestag erklärt, und dies ist vom Landwirtschaftsminister nicht zur Kenntnis genommen worden. Er hat vermutlich diese Erklärung überhaupt nicht mehr mitbekommen, obwohl er anwesend war. ({2}) Meine Damen und Herren, der Agrarminister hat auch vom Wirtschaftsstandort Deutschland gesprochen. In der Tat: Das wichtigste Thema der nächsten Jahre ist der Wirtschaftsstandort Deutschland. Langjährige Gewohnheiten müßten überprüft und Prioritäten neu gesetzt werden. Die Bundesrepublik Deutschland leidet nicht nur an den Folgen der weltweiten Rezession, sondern auch an strukturellen Verwerfungen. Jetzt müßten die Ansprüche an den Staat verringert und andere Akzente gesetzt werden. So der Bundeskanzler am 3. September dieses Jahres. ({3}) Der neue Agrarminister reist unermüdlich landauf, landab und verkündet den künftigen Weg der Agrarpolitik. ({4}) Auch dort werden bestimmte Vokabeln ganz groß geschrieben: Deutschland braucht eine leistungsfähige Land- und Ernährungswirtschaft. Der Agrarsektor ist Teil der Gesamtwirtschaft. ({5}) Er unterliegt auch Anpassungszwängen wie die übrige Wirtschaft. Zentrales Anliegen der neuen Leitung der obersten Bundesbehörde für die Landwirtschaft ist, eine leistungs- und wettbewerbsfähige, marktorientierte und umweltverträgliche Landwirtschaft zu erreichen. ({6}) Das ist die Theorie; das sind Sprechblasen. Der Haushaltsentwurf 1994 und die mittelfristige Finanzplanung geben uns Gelegenheit, zu prüfen, was hinter Herrn Minister Borcherts so wohlklingenden Worten denn nun steckt. ({7}) - Hoffentlich! Auf die F.D.P. und die Art, wie sie dahintersteht, komme ich noch am Schluß zu sprechen. Nach der Finanzplanung der Bundesregierung sollte der Agrarhaushalt 1994 eigentlich steigen. Davon ist die Bundesregierung nun abgerückt. Durch den Preisverfall bei den Agrarprodukten haben die landwirtschaftlichen Betriebe weiterhin finanzielle Einbußen zu verkraften. Die Situation wird für die landwirtschaftlichen Betriebe immer unübersichtlicher und schwieriger. Der Haushalt für 1994 gibt auf einige Fragen - ich sage: erstaunlicherweise - eindeutig Antwort. Tatsache ist zunächst, daß die Bundesregierung zuerst die Mittel kürzt, die mit der Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes bereitgestellt werden, Mittel, die dazu beitragen sollen, daß unsere landwirtschaftlichen Betriebe leistungs- und wettbewerbsfähig werden und marktorientiert und umweltverträglich handeln können. Es sind aber auch Mittel, die die Funktionsfähigkeit unserer Dörfer und des ländlichen Raumes insgesamt verbessern und sichern sollen. Ergebnis der Politik der Bundesregierung ist, daß Baden-Württemberg, Ihrem Land, lieber Herr Hornung, und Bayern praktisch keine nennenswerten Kassenmittel für Neubewilligungen im investiven Bereich mit dem Haushalt 1994 zur Verfügung stehen. ({8}) - Nicht so dramatisch wie in den beiden genannten Ländern. - Diese beiden Länder müssen es den Landwirten selbst überlassen, den Anschluß an die Konkurrenz im EG-Binnenmarkt zu finden. Bis zu zwei Jahre müssen die Landwirte dort schon jetzt warten, bis ihr Antrag auf einzelbetriebliche Förderung bewilligt werden kann. Da reden Sie davon, daß leistungsfähige und wettbewerbsfähige Betriebe entwickelt werden sollen. Bei diesen Fakten helfen alle schönen Worte nicht weiter. Ich habe Verständnis dafür, daß sich die Landwirte von der Bundesregierung verschaukelt fühlen. ({9}) Auch die ursprünglich vorgesehenen Mittel zur Flankierung der einschneidenden EG-Agrarreform stehen mit diesem Haushalt nicht mehr zur Verfügung. Dabei handelt es sich um wichtige Maßnahmen, die die Extensivierung der landwirtschaftlichen Produktion insgesamt fördern sollen, um gleichzeitig einen Beitrag zur Marktentlastung und zur umweltgerechten Wirtschaftsweise leisten zu können. Dieser unverzichtbare Teil der Agrarreform, der zu einer flächendeckenden Landbewirtschaftung beitragen und die unsinnige Flächenzurückstellung zurückdrängen soll, wird nur durch erhebliche Umschichtungen im Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe zu bewerkstelligen sein. Zu befürchten ist, daß diese wichtigen flankierenden Maßnahmen doch nur eine kleine, unzureichende Randerscheinung bleiben. Einzelne Bundesländer werden, so jedenfalls die Aussage der Bundesregierung, darüber hinaus die Ausgleichszulage für landwirtschaftliche Betriebe in benachteiligten Gebieten 1994 kürzen müssen. Die Bundesregierung weist darauf hin, daß die Länder nur so einen ausreichenden Verfügungsspielraum für Neubewilligungen bei Investitionen erhalten können. Die Bundesregierung überläßt damit also erforderliche Kürzungen bei direkten Einkommensübertragungen anderen und betont gleichzeitig, daß für sie so etwas nicht in Frage kommt. Sie ist nicht in der Lage, angesichts geänderter Rahmenbedingungen neue Prioritäten, neue Akzente in praktische Agrarpolitik umzusetzen. Das sind die Fakten. Das gilt in besonderer Weise auch für den soziostrukturellen Einkommensausgleich. Die Bundesregierung und die Regierungsparteien hatten Gelegenheit, angesichts der neuen Rahmenbedingungen und knapper werdender Fördermittel zusammen mit uns die noch verfügbaren Mittel gezielt für Investitionen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe, zur Förderung einer umweltschonenden Landwirtschaft und zur Entwicklung ländlicher Räume einzusetzen. ({10}) Wir Sozialdemokraten wollten weg vom Gießkannenprinzip und diese Mittel gezielt dort einsetzen, wo sie jetzt dringend benötigt werden. Das haben Sie, meine Damen und Herren, von der Regierungskoalition mit Ihrer Mehrheit im Deutschen Bundestag verhindert und damit zu verantworten. Die Quittung dafür bekommen jetzt in erster Linie die jungen Landwirte und die entwicklungsfähigen Betriebe. Mehr als die Hälfte des Agraretats, 7,2 Milliarden DM, wird für die landwirtschaftliche Sozialpolitik aufgewendet. In der mittelfristigen Finanzplanung sind zudem erhebliche Mittelaufstockungen vorgesehen, ({11}) und zwar ab 1995 für die sogenannte Agrarsozialreform. ({12}) Ich will hier noch einmal unsere Position klarmachen: Was ich Ihnen vorwerfe ist, daß Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, bei der geplanten, rückwirkenden Einbeziehung der Bäuerinnen in eine eigenständige Alterssicherung mit gezinkten Karten spielen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Sielaff, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kalb?

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Sielaff, darf ich Sie fragen: Gibt es bei Ihnen gelegentlich auch eine gemeinsame Besprechung der Agrarsprecher der SPD-Landtagsfraktionen mit Ihnen? Von diesen höre ich immer genau das Gegenteil von dem, was Sie gerade vorgetragen haben. ({0})

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mein lieber Herr Kollege, ich weiß nicht, welche Hörlöcher Sie haben und wo Sie was hören. Nur, das, was ich sage, ist einmütige Meinung, auch bei allen Resolutionen, die beispielsweise die Bundestagsfraktion mit den Fraktionen der Länder gemeinsam abgestimmt hat. Sie sind leider wieder einmal, Herr Kalb, falsch informiert. Meine Damen und Herren, Sie haben in der Regierung bewußt langfristige Betrachtungen bzw. Berechnungen über die Auswirkungen Ihrer Planungen nicht vorgelegt. Sie wissen genau wie wir, daß Sie mit der vorgeschlagenen Regelung das System der landwirtschaftlichen Alterssicherung nach der Jahrtausendwende, also bereits in etwa sechs Jahren, sprengen werden. Die aktiven, im EG-Binnenmarkt hoffentlich wettbewerbsfähigen Betriebe werden dann mit enormen Beiträgen belastet, oder sie setzen stillschweigend darauf, daß Steuermittel in unbegrenzter Höhe für die landwirtschaftliche Sozialpolitik bereitgestellt werden. ({0}) Sie, meine Damen und Herren, betreiben damit falsch verstandene Einkommenspolitik, zumal wenn man Ihre Vorschläge für die Bezuschussung der Alterskassenbeiträge nimmt, wonach landwirtschaftliche Betriebe mit einem Einkommen bis zu 80 000 DM im Jahr Geld aus dem Bundeshaushalt erhalten sollen, um den Einheitsbetrag von 291 DM im Monat weiter abgesenkt zu bekommen. ({1}) Wo bleibt da die soziale Symmetrie, vor allem auch vor dem Hintergrund der von Ihnen im außerlandwirtschaftlichen Bereich vorgesehenen Streichungen bei den einkommensschwachen, -schwächsten Familien unserer Gesellschaft? Es wäre interessant, zu diesem Punkt einmal Herrn Blüm zu hören, der ja enorme Einschnitte im bestehenden sozialen Netz vornehmen muß.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Sielaff, gestatten Sie noch eine Frage des Kollegen Bredehorn?

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herrn Bredehorn gern.

Günther Bredehorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000256, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Schönen Dank, Herr Kollege Sielaff. Ich bin etwas überrascht, daß Sie hier doch so kritisch die Agrarsozialpolitik und den Entwurf, der vorgelegt worden ist, sehen. Wie steht denn das im Einklang mit den Kollegen in den Ländern und in der Bundestagsfraktion? Der niedersächsische Landwirtschaftsminister, Karl-Heinz Funke, SPD, ({0}) schreibt hier im Landwirtschaftsblatt „Weser-Ems" - ich darf zitieren -: Grundsätzlich als gut bezeichne ich auch den Kern des Regierungsentwurfs des Agrarsozialprogramms. ({1}) Er sagt zum Schluß: Die Zuversicht von Bundeslandwirtschaftsminister Borchert in bezug auf Zustimmung des Bundesrates scheint begründet.

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege, wir sind ja froh, daß in der Tat der Kern endlich einmal auf den Weg gebracht wurde. ({0}) Sie wissen genau, daß wir in der Sache bei Opposition und Regierungskoalition sehr unterschiedliche Meinungen haben. ({1}) Wenn Sie genau hinhören, was Herr Funke sagt, dann ist das auch für uns wünschenswert, wenn wir die Mittel haben. Aber Sie können nicht auf der einen Seite Mittel im sozialen Bereich rapide kürzen und hier etwas draufsatteln wollen, wenn Sie in allen anderen wichtigen Bereichen Kürzungen vornehmen. Dies geht nicht. Aus dem Grunde muß die soziale Komponente hier berücksichtigt werden. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Sielaff, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Wimmer? - Bitte, Herr Kollege Wimmer.

Hermann Wimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002522, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Sielaff, wären Sie bereit, dem Kollegen von der F.D.P. mitzuteilen, daß der Finanzausschuß des Bundesrates diesen Vorschlag bereits mit 7 : 2 Stimmen abgelehnt hat?

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich vermute, lieber Herr Kollege, daß Herr Bredehorn nicht weiß, wie es im Bundesrat zugeht, da die F.D.P. dort ja in der Regel nicht beteiligt und er auch nicht so informiert ist. Insofern freut er sich sicherlich über Ihre Aufklärung. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, Dreiecksfragen sind natürlich an sich nicht zulässig, aber dies diente vielleicht der Aufklärung. - Bitte, Herr Kollege.

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren, es ist ja auch bekannt, daß einige Kollegen von der F.D.P. - insbesondere Herr Heinrich, der heute, glaube ich, leider nicht hier ist ({0}) die einkommenspolitische und nicht zuerst die sozialpolitische Komponente der Agrarsozialpolitik trotz bestehender Anpassungsprobleme in der Landwirtschaft und im Haushalt hochhalten, wenn auch der agrarpolitische Sprecher - also Sie, lieber Herr Bredehorn - am 21. Mai betont hat, daß sowohl eine gezielte investive Förderung zur Schaffung wettbewerbsfähiger Betriebe als auch eine verantwortungsvolle Agrarsozialreform - meine Herren und Damen von der CDU/CSU, hören Sie gut zu - ohne zusätzliche Finanzmittel möglich sind, wenn diese Mittel sinnvoll eingesetzt werden. ({1}) Das ist auch mit uns machbar, und damit liegen Sie doch wohl mehr auf unserer Linie als auf der Linie der CDU/CSU, die hier draufsatteln will.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Sielaff, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Bredehorn? - Bitte sehr, Herr Kollege Bredehorn.

Günther Bredehorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000256, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir haben das vorhin ja in dem Dreiecksgespräch gemacht, lieber Herr KolGünther Bredehorn lege. - Ich sage Ihnen ganz deutlich: Sozialpolitik, Agrarsozialpolitik darf keine Einkommenspolitik sein. Das muß man sehr gut auseinanderhalten. Das müssen Sie etwas klarer sehen. ({0})

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege Bredehorn, ich würde darum bitten, daß Sie das dem abwesenden Herrn Heinrich deutlich ins Stammbuch schreiben, auch einigen anderen Kollegen Ihrer Fraktion. Dafür wäre ich dankbar. ({0}) Natürlich brauchen wir eine wirkungsvolle Agrarsozialpolitik. Wir brauchen aber eine Reform - ich sage es noch einmal -, die sozial gerecht und solide finanziert ist. Ihr Gesetzentwurf dazu, meine Damen und Herren, und die Haushaltsplanung dafür werden dem nicht gerecht. Wir sind davon überzeugt, daß die seit Jahren und auch jetzt noch überfällige Agrarsozialreform mit den vorhandenen Bundesmitteln zu realisieren ist, und darin sind wir uns offensichtlich einig, Herr Bredehorn. Würden Sie unseren Vorstellungen folgen können oder wären Sie ihnen gefolgt, könnten wir eine sozial gerechte Agrarsozialreform sehr schnell gemeinsam verwirklichen. Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" und die Agrarsozialpolitik machen rund 75 % der Mittel des Agrarhaushaltes des Bundes aus. Die Mittel für beide Politikbereiche sind, wie ich gezeigt habe, nicht zielorientiert eingesetzt. Mit diesem Haushaltsplan kann ein künftiger oder ein neuer Weg der Agrarpolitik nicht beschritten werden. ({1}) - Lieber Herr Susset, wissen Sie, der Agrarminister ist zu bedauern. Er ist ja auch hilflos. Um weiterzukommen, erstellt er große Fragenkataloge an die Landesminister, damit er daraus ersehen kann, wie er denn diesen neuen Weg vielleicht aufzeigen kann. ({2}) Auch das ist interessant. Ich hoffe, Sie kennen den Fragenkatalog. ({3}) Die Politik der Bundesregierung ist, vorsichtig ausgedrückt, auch in anderen Bereichen zum Leidwesen der Menschen auf dem Lande bei uns nicht erfolgreich. ({4}) Unsere Bauern müssen mit weiteren Einkommensverlusten in wichtigen Produktbereichen rechnen, weil - worauf ich eingangs bereits hingewiesen habe - Waigel und Borchert bei der entscheidenden Sitzung in Brüssel zum Europäischen Währungssystem nicht aufgepaßt haben. Sie haben einiges verschlafen, und trotz der gestrigen Sitzung sind wir nicht davon überzeugt, daß dieses Problem überhaupt frühzeitig gesehen worden ist. ({5}) Ich stelle fest: Durch das Verhalten der Bundesregierung bei der entscheidenden Sitzung in Brüssel ist die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft aufs schwerste gefährdet. Um die Panne auszubügeln, muß die Bundesregierung dafür sorgen, daß erstens in Deutschland keine Preissenkungen für Marktordnungsprodukte erfolgen und zweitens die immensen Anhebungen bei den Preisen der Marktordnungsprodukte und den Ausgleichszahlungen aus der EG-Agrarreform in Abwertungsländern abgeschöpft werden. In der Gemeinschaft muß wieder ein vernünftiges Gleichgewicht hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit hergestellt werden. ({6}) Bei den förderungsfähigen Basisflächen - meine Damen und Herren, ich komme auf die neuen Länder zu sprechen - gibt es in den neuen Ländern erhebliche Probleme. Wegen Überschreitung dieser Basisflächen drohen jetzt zusätzliche Flächenstillegungen, allerdings ohne Ausgleichszahlungen. Ich hätte mir gewünscht, daß sich hier die Agrarpolitiker mit gleicher Vehemenz für unsere Freunde in den neuen Bundesländern engagieren, wie das vorhin in der Verkehrspolitik geschehen ist. Das ist leider nicht der Fall. ({7}) Sollte das, was geplant ist, Wirklichkeit werden, müssen neben den Einkommensverlusten von den wenigen verbliebenen Arbeitsplätzen im ländlichen Raum zusätzliche abgebaut werden. Gerade in den stark agrarisch und gesamtwirtschaftlich schwach strukturierten neuen Ländern, die schon jetzt die Hauptlast der Flächenstillegungen in der EG und in Deutschland tragen, drohen Verödung und große soziale Spannungen. Das Konzept der Bundesregierung, über Mengensteuerung mit Hilfe von planwirtschaftlichen Elementen die Ordnung der Märkte herzustellen, droht auch vor dem Hintergrund ganz anderer Interessen der Franzosen zu scheitern. Meine Damen und Herren, beim GATT weiß in der Regierung offensichtlich der eine nicht vom anderen. Während die Minister Rexrodt und Kinkel bezüglich des Blair-House-Abkommens keine Änderung in der Einstellung der Bundesregierung sehen, spricht der Bundeskanzler von enormen Problemen mit diesem Abkommen. Das Durcheinander ist perfekt. Der GATT-Generaldirektor, Peter Sutherland, sieht denn auch schon einen erfolgreichen Abschluß der Welthandelsgespräche durch die konfuse Position der EG und vor allem der Deutschen zum transatlantischen Agrarabkommen gefährdet. Gesamtwirtschaftlich können wir uns so etwas, wie wir alle wissen, wirklich nicht leisten. So jedenfalls ist der Standort Deutschland nicht zu retten. In den neuen Ländern hat die CDU den Landwirten für verlorengegangene Inventarbeiträge großzügig Ausgleichszahlungen versprochen, die mit dem Haushalt 1994 wiederum sang- und klanglos einkassiert werden. Die Altschuldenregelung ist nach wie vor unzureichend. Der Kanzler verspricht im Juli diesen Jahres in Mecklenburg-Vorpommern eine Überprüfung. Auf unsere Nachfrage hin entpuppt sich jedoch auch das als Seifenblase. ({8}) Die Privatisierung der bisherigen sogenannten volkseigenen landwirtschaftlichen Flächen geht schleppend und ungerecht vor sich. Bisher sind nach wie vor nur wenige Flächen langfristig verpachtet. Die Landwirte in den neuen Ländern können so weder langfristig planen, noch erhalten sie die lebensnotwendigen Kredite. ({9}) Die Bevorzugung von Alteigentümern vor einheimischen Landwirten bei der Landvergabe, obwohl der Einigungsvertrag und das Karlsruher Urteil das Gegenteil festgeschrieben haben, wächst sich langsam immer mehr zu einem Skandal aus. ({10}) Die Demonstrationen der Bauern in Schwerin, Neubrandenburg und Rostock in der letzten Woche und jetzt auch in Brandenburg machen das deutlich. Teile der CDU/CSU wollen dies der Treuhandanstalt und der Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH in die Schuhe schieben. Sie schlagen damit den Sack und nicht den Esel. Der aber sitzt in Bonn, der alles Unheil im sogenannten Bohl-Papier - benannt nach dem Chef des Bundeskanzleramtes und Bundesministers für besondere Aufgaben, Friedrich Bohl - festgelegt hat. Solange hier keine Änderung eintritt, kann die BVVG nicht anders handeln. Der Unmut bei weiten Teilen einheimischer Landwirte in den neuen Ländern bleibt bestehen. Wir warten jetzt seit fast drei Monaten auf die Beantwortung unserer Anfrage bezüglich der Privatisierung bisheriger volkseigener Fläche vom 17. Juni 1993. Es ist verständlich, daß Sie diese offensichtlichen Schwachstellen Ihrer Politik, Herr Borchert, in diesem Bereich nicht offenlegen wollen. Wir können einen so langen Abstimmungsprozeß nur so deuten, daß bei Ihnen keine Klarheit über die Privatisierungspolitik besteht. Ich fasse zusammen: Die Politik der Bundesregierung auch im Agrarbereich ist nach wie vor nicht zukunftsweisend. Sie dient nicht den Menschen auf dem Lande. Sie stellt keine Perspektive für die Zukunft dar. Ich habe bei der Agrardebatte am 23. Juni dieses Jahres den Agrarsprecher der F.D.P., Herrn Bredehorn, zitiert. Er hatte bei der Vorstellung des „neuen Weges" von Minister Borchert gesagt: Diese Grundsätze des Ministers sollen aber nicht wie Transparente an der Hausfassade flattern. Auch die Inneneinrichtung muß dem entsprechen. Heute stelle ich fest: Mit dem Entwurf des Agraretats 1994 und der mittelfristigen Finanzplanung reagiert die Bundesregierung in keiner Weise auf die geänderten Rahmenbedingungen, weder in bezug auf die Gesamtwirtschaft noch in bezug auf den Agrarbereich, und die Hilflosigkeit des Agrarministers war bei seinem Beitrag ja durchaus hörbar. ({11}) Investitionen zur Schaffung wettbewerbsfähiger Strukturen werden gekürzt, Gießkannenförderungen werden beibehalten oder gar ausgeweitet. Die hehren Grundsätze der Bundesregierung und des Fachministers flattern als Transparente an der Hausfassade, die Inneneinrichtung „Haushalt 1994" entspricht nicht den Erfordernissen unserer Landwirtschaft und der Menschen im ländlichen Raum. Wir bedauern das und bedauern auch, daß der Minister nach dieser Rede offensichtlich nicht bereit ist, mit uns gemeinsam die Situation im ländlichen Raum zu verbessern. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. ({12})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, als nächster hat unser Kollege Siegried Hornung das Wort.

Siegfried Hornung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000961, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Agrarhaushalt 1994 steht - wie sollte es anders sein - im Zeichen der notwendigen Sparmaßnahmen. Die Landwirtschaft ist aber bereit, ihren Beitrag zur Bewältigung der großen Herausforderungen zu leisten. Dies geht in der Tat über die 3,2 % bzw. 450 Millionen DM Einsparungen im Haushaltsentwurf hinaus. Ich nenne nur beispielhaft die Plafondierung der Gasölbeihilfe im Rahmen der Mineralölsteuererhöhung. Zusätzlich bergen die Entwicklungen im EWS Einkommensrisiken für die deutschen Betriebe. Knapper werdende Finanzmittel müssen deshalb effizient für eine zukunftsweisende Agrarpolitik zum Aufbau leistungsfähiger Betriebe - ob im Zu-, Neben- oder Vollerwerbsbetrieb - eingesetzt werden. Ganz besonders möchte ich die Haushaltsdebatte benutzen, um die großen Leistungen der Bundesregierung im Anpassungsprozeß der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern herauszustellen. ({0}) Die rechtliche Überleitung, umfangreiche Maßnahmen zur Verbesserung der Agrarstruktur, zur finanziellen Stabilisierung und zur sozialen Flankierung haben gegriffen. Die Bilanz schon nach drei Jahren deutscher Einheit ist durchweg positiv. Die Umstrukturierung des Landwirtschaftssektors ist weiter vorangeschritten als in anderen Bereichen unserer Wirtschaft. Dieser Prozeß ist seit 1990 auch mit 14 MilliarSiegfried Hornung den DM aus dem Agrarhaushalt massiv gefördert worden. Die Neuausrichtung der Förderpolitik, Herr Sielaff, wird nun auch den Strukturwandel im Westen ganz besonders unterstützen. Für diese Leistung bin ich Ignaz Kiechle und Jochen Borchert, die gerade in diesem Bereich soviel Mut gezeigt haben, dankbar. Dies hat erheblich zum sozialen Frieden in unserem Land beigetragen. ({1}) Ich möchte mich auf zwei Bereiche besonders konzentrieren. Der größte Posten im Haushalt sind auch in diesem Jahr wieder die Ausgaben für die Sozialpolitik mit über 7,2 Milliarden DM. Die soziale Absicherung in der Landwirtschaft ist und bleibt ein wichtiges Ziel der Bundesregierung. Trotz der scharfen Kritik von seiten der Opposition haben wir die Agrarsozialreform eingeleitet, die das eigenständige System der landwirtschaftlichen Sozialpolitik stabilisiert und zukunftsfähig macht. Die Agrarsozialpolitik ist einer der wenigen Bereiche, die wir noch national selbst bestimmen können.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Hornung, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sielaff? - Bitte, Kollege Sielaff.

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hornung, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir als Sozialdemokraten mindestens schon seit sechs, sieben Jahren die Agrarsozialreform fordern, aber wollen, daß sie sozial gerecht gestaltet wird? ({0})

Siegfried Hornung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000961, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Sielaff, leider fordern Sie immer sehr viel. Aber wenn es darin ans Umsetzen geht, dann machen Sie nicht mit. Das ist das Problem. Und noch etwas zu dem, was der Minister vorhin gesagt hat: Herr Dreßler hat hier ganz massiv eingegriffen und den Neid innerhalb der Landwirtschaft zwischen Ost und West noch geschürt.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? - Bitte, Herr Kollege Sielaff.

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hornung, sind Sie bereit, zuzugeben, daß die Bundesregierung mangels Finanzmitteln die Agrarsozialreform auf 1995 verschieben mußte, die Mittel also nicht ausreichten?

Siegfried Hornung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000961, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir werden gezielt die notwendigen Maßnahmen ergreifen - darauf komme ich noch zu sprechen - und sie sowohl 1994 und 1995, wie wir das angekündigt haben, sachgerecht umsetzen. Wir sollten, Herr Kollege, deshalb jede Chance nutzen, auch in schwieriger' wirtschaftlicher Lage - das haben viele von Ihnen anscheinend vergessen - die Landwirtschaft durch eine ausgewogene Sozialpolitik zu entlasten. ({0}) Die vordergründige Kritik an dieser Reform ist schnell entlarvt, wenn man sieht, was geleistet werden muß. Das Verhältnis von Beitragszahlern zu Leistungsempfängern hat sich in den 35 Jahren seit Einführung der Altershilfe absolut umgekehrt. 1960 kam auf 2,4 Beitragszahler ein Leistungsempfänger, 1992 kam auf 0,8 Beitragszahler ein Leistungsempfänger. Mit dem Gesetzentwurf zur Reform der agrarsozialen Sicherungssysteme wollen wir deshalb eine überzeugende Antwort über das Jahr 2000 hinaus geben und dabei trotzdem die Beiträge, gemessen am Einkommen, tragbar gestalten. ({1}) Außerdem werden wir mit der Agrarsozialreform die längst überfällige eigenständige soziale Sicherung der Bäuerinnen bewirken. Alle Vorwürfe, daß dies ein ungerechtfertigtes Geschenk an die Landwirtschaft sei, gehen ins Leere. Die Landfrauen haben für die Alterssicherung entgegen anderslautender Darstellung einen eigenen Beitrag zu erbringen. Allerdings - dazu stehen wir von der CDU/CSU - ist es mehr als gerecht, wenn auch diejenigen Bäuerinnen einbezogen werden, die auf Grund ihres fortgeschrittenen Lebensalters durch eigene Beiträge nur noch geringe Anwartschaften aufbauen können. Dies gilt um so mehr, als - anders kann man es sich gar nicht vorstellen - die Erwerbsunfähigkeits- sowie die Witwen- und Waisenrente mit einbezogen werden. Insgesamt gesehen wird aber in der bäuerlichen Alterssicherung der - das ist heute schon richtig angesprochen worden - sogenannte Strukturfaktor eine besonders wichtige Funktion einnehmen. Es ist hier auch nicht angebracht, einen Keil zwischen die neuen und alten Bundesländer zu treiben, da im Osten die Bäuerinnen zumindest bislang schon über die Rentenversicherung abgesichert sind. Außerdem ist es auch nicht so, daß die Rentenleistungen an die Landfrau zusätzlich zu den bisherigen Zahlungen erfolgen. Mit der Reform wird ja der bisherige Ehegattenzuschlag wegfallen. Darüber hinaus darf ich daran erinnern, daß die Mittel für die Reform auch nicht draufgesattelt werden, sondern daß dem der Abbau des soziostrukturellen Ausgleichs in Höhe von 1,4 Milliarden DM gegenübersteht. Die beiden anderen Säulen der agrarsozialen Sicherung - die landwirtschaftliche Krankenkasse und die Berufsgenossenschaft- sind unter der CDU/CSU-geführten Regierung seit 1982 konsequent ausgebaut und entwickelt worden. Trotz steigenden Finanzbedarfs durch die Zunahme der Altenteiler halten wir an der Übernahme der Leistungsaufwendungen für sie in der landwirtschaftlichen Krankenversicherung fest. Das sind 1994 immerhin 2,1 Milliarden DM. Mit der Einführung der Berufsgenossenschaft auch in den neuen Bundesländern sind im Entwurf des Haushalts 1994 wieder 615 Millionen DM eingestellt. Daß im Osten Deutschlands - wie in vielen anderen Bereichen auch - noch Altlasten zu bewältigen sind, will ich hier nicht verschweigen. Ich möchte mich noch einem zweiten Themenkomplex zuwenden, dem Thema der nachwachsenden Rohstoffe. Zur Förderung von Forschungs-, Entwicklungs- und Modellvorhaben sowie für Maßnahmen der Informationsvermittlung sind 56 Millionen DM vorgesehen. Hier darf ich vor allen Dingen die Errichtung der Fachagentur „Nachwachsende Rohstoffe" herausstellen, die übrigens in den neuen Bundesländern installiert werden soll. Mit ihr schaffen wir ein taugliches Instrument zur Koordinierung aller Aktivitäten aus Wissenschaft, Landwirtschaft und Industrie. Von dort erwarte ich mir Initiativen, besonders in Richtung Praxis. Allerdings reichen die Mittel nicht aus. Wir brauchen günstige Rahmenbedingungen, um endlich aus der Forschungsphase in die praktische Anwendung zu gelangen. Ganz brisant ist zu diesem Zeitpunkt die Frage, wie wir jetzt mit dem Pflanzenöl im Kraftstoffbereich zurechtkommen. Seit die Agrarreform den Anbau der nachwachsenden Rohstoffe auf Stillegungsflächen ermöglicht, ist die Verwendung im Markt in greifbare Nähe gerückt. Hier gilt es - ähnlich wie in Frankreich - zu erreichen, daß die Beimischung zu Mineralöl, der biogene Anteil, steuerbefreit bleibt, zumindest für eine bestimmte Menge und bis eine EG-einheitliche Linie gefunden ist. Technisch stehen sowohl dem Einsatz von RME als auch Tessol keine Hürden entgegen. Die Landwirtschaft geht mit gutem Beispiel voran. Ich spreche auch nicht nur aus agrarpolitischer Sicht, sondern darf explizit noch einmal die Umweltvorteile, vor allem die CO2-Neutralität, hervorheben. Auch haben wir Chancen im energetischen Bereich. Damit verbundene Steuerausfälle müssen den vermiedenen Umweltfolgekosten gegenübergestellt werden. Nahe an der Wirtschaftlichkeit ist die Nutzung von Biomasse zur Wärmegewinnung und Stromerzeugung. Unsere Wälder haben ein Holzpotential von 12 Millionen t, entsprechend 6 Millionen t Steinkohle. Das heißt, wir könnten in diesem Bereich den CO2-Ausstoß um etwa 3 % verringern. Wir müssen natürlich auch die hohen Investitionskosten sehen. Deshalb müssen bei den öffentlichen Haushalten die Kommunen stärker einsteigen, gerade bei der Installation in Schwimmbädern und dergleichen. Ich möchte für das Stromeinspeisungsgesetz Dank sagen. Allerdings ist auch hier noch einiges zu verbessern. Im Abfallbereich möchte ich die thermische Verwertung - zumindest bei Holz - der stofflichen gleichgestellt sehen. Ich sehe, daß wir bei der Gemeinschaftsaufgabe die richtigen Schwerpunkte setzen. Obwohl um 70 Millionen DM gekürzt wird - allerdings nur in den alten Ländern -, setzen wir auf das, was wir im Weinbau als umweltschonende Landwirtschaft betrachten. Herr Sielaff, ich muß sagen, es wundert mich, daß Ihr Kollege Maurer in Baden-Württemberg die Junglandwirteförderung, MEKA und den Wasserpfennig ganz massiv kritisiert. Insgesamt zeigt der Entwurf des Agrarhaushalts: Die Bundesregierung steht zu ihrer Verantwortung für eine gesicherte Zukunft der deutschen Landwirtschaft. Neben der Stabilisierung der Märkte im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik werden jetzt im Bereich der Agrarsozialpolitik und bei den nachwachsenden Rohstoffen die Weichen gestellt. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, jetzt erhält unsere Frau Kollegin Dr. Sigrid Hoth das Wort.

Dr. Sigrid Hoth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000965, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Haushaltsdebatte prallen die unterschiedlichsten Ansichten über Qualität und Solidarität des vorgelegten Regierungsentwurfs zum Bundeshaushalt noch konträrer als in den anderen Jahren aufeinander. Während die einen mehr Einsparungen fordern, da die Nettoneuverschuldung immerhin 67,5 Milliarden DM betragen soll und die Gesamtschuld des Bundes damit Ende 1995 sogar 1,5 Millionen DM erreichen wird, die Steuer- und Abgabenquote zur Zeit bei 42 % liegt und 1994 sogar 44 % erreichen wird, sind für andere das Föderale Konsolidierungsprogramm, der Nachtragshaushalt und der nunmehr vorliegende Regierungsentwurf des Haushalts 1994 ein unzumutbares Sparprogramm mit sozialer Schieflage. Für mich als Bürgerin des Landes Sachsen-Anhalt und Mitglied des Haushaltsausschusses ist es insofern schon etwas peinlich und in den weiteren Haushaltsberatungen sicherlich ausgesprochen hinderlich, am Montag morgen dieser Woche zu erleben, daß der Ministerpräsident meines Landes, Herr Werner Mönch, christdemokratischer Niedersachse, im Frühstücksfernsehen das Sparprogramm der Bundesregierung als nicht akzeptabel bezeichnet. ({0}) und eine Stunde später in einer bekannten Hamburger Zeitschrift zu lesen, daß der gleiche Herr Mönch einer der bestbezahlten Ministerpräsidenten Deutschlands mit einem überdurchschnittlich gut bezahlten Kabinett ist und der öffentliche Dienst in Sachsen-Anhalt eine überproportional hohe Personaldichte aufweist. In einem Land wie Sachsen-Anhalt mit einer Arbeitslosenquote von derzeit 17,7 % kann man dies allerdings auch nicht als Zeichen von politischem, geschweige denn sozialpolitischem Einfühlungsvermögen ansehen. ({1}) Liebe Kollegen, ich bin deshalb auch sehr gespannt darauf, welche konkreten Vorschläge zur Konsolidierung der öffentlichen Finanzen Herr Münch uns unterbreiten wird. ({2}) Auch aus meiner Sicht hat dieser Bundeshaushalt viele Ecken und Kanten, z. B. die Streichung des Schlechtwettergeldes oder die vorgesehene Beendigung der Übergangsfinanzierung der KulturfördeDr. Sigrid Hoth rung für die neuen Länder oder auch die Einführung von neuen Subventionstatbeständen für bestimmte Berufsgruppen. Das Sparvolumen dieses Haushaltsentwurfs ist meiner Ansicht nach jedoch ohnehin nicht ausreichend, so daß in der Summe das Ergebnis der parlamentarischen Beratungen des Haushaltes 1994 aus weiteren Einsparungen bestehen muß, wenn wir den Wirtschaftsstandort Deutschland konkurrenzfähig halten wollen. ({3}) Das heißt im Klartext: Jeder Änderungsvorschlag muß mit Einsparungen in mindestens der gleichen Größenordnung an anderer Stelle einhergehen. ({4}) Auch der vorliegende Regierungsentwurf zum Einzelplan 10 wurde um 450 Millionen DM oder 3,2 % gegenüber dem Vorjahr gekürzt. ({5}) Analysiert man jedoch die einzelnen Positionen des Entwurfes, fällt sofort auf, daß die Ausgaben für die sogenannte landwirtschaftliche Sozialpolitik, also Altershilfe, Unfallversicherung, Landabgaberente, Nachentrichtungszuschüsse, Krankenversicherung, Zusatzaltersversorgung und Produktionsaufgaberente - um für Nichtlandwirte einmal alles beim Namen zu nennen -, von 6,8 auf 7,2 Milliarden DM gestiegen sind. ({6}) Des weiteren sind als unmittelbar einkommenswirksame Maßnahmen für den Einkommensausgleich 940 Millionen DM und für die Gasölverbilligung 910 Millionen DM vorgesehen. Auch für die Begleichung von Waldsturmschäden sind wiederum 30 Millionen DM etatisiert. ({7}) Die Marktordnungsausgaben werden mit 442,7 Millionen DM veranschlagt. Während der Bund nach zähen EG-Verhandlungen den bis 1995 befristeten und degressiv gestalteten soziostrukturellen Einkommensausgleich trotz der außerordentlich schwierigen Haushaltslage beibehält, sind nach wie vor nur die Länder Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Sachsen bereit, von der Möglichkeit einer Ergänzung dieses Ausgleichs Gebrauch zu machen. ({8}) - Liebe Kollegen, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich zu Ende reden lassen würden. ({9}) - Ich möchte jetzt fortsetzen. - Somit ist der Bund in zwölf Bundesländern Alleinzahler. ({10}) - Ich wollte gerne meine Rede zu Ende führen. ({11})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Erstens ist die Amtsführung des Präsidenten nicht zu kritisieren. ({0}) Zweitens hat die Frau Kollegin Dr. Hoth gesagt, sie will diesen Gedanken erst zu Ende führen. Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, bitte sehr, aber erst, wenn die Rednerin fertig ist. ({1})

Dr. Sigrid Hoth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000965, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Auch die Agrarsozialreform, die 1994 bereits mit 100 Millionen DM zur Beitragsstabilisierung greifen und die 1995 452 Millionen DM und in den Folgejahren über 500 Millionen DM jährlich kosten soll, muß den agrarsozialpolitischen bzw. direkt einkommenswirksamen Maßnahmen zugeordnet werden. Nun stellt sich natürlich die Frage, in welchen Bereichen die Etatverminderung eigentlich greift: Da ist einmal ein Minderbedarf von 175 Millionen DM beim Sonderrahmenplan. Des weiteren wurden 180 Millionen DM für die verlorenen Inventarbeiträge in den neuen Bundesländern gestrichen, für mich sehr schwer zu akzeptieren. ({0}) Im Bereich der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" wurden 70 Millionen DM weniger angesetzt. Während für die neuen Bundesländer, in denen sicher auch zukünftig Maßnahmen im Bereich der Wasserwirtschaft und Dorferneuerung eine große Rolle spielen werden, eine Steigerung der Finanzmittel für die Gemeinschaftsaufgabe um 12 Millionen DM gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen ist, quasi als teilweiser Ausgleich für den Wegfall der Mittel für die verlorenen Inventarbeiträge, kann es in einigen alten Bundesländern schon zu Engpässen bei Neubewilligungen kommen. Hier stellt sich für mich die eigentliche Frage: Aus welchen Töpfen soll die mit der EG-Agrarreform beschlossene Förderung einer umweltgerechten landwirtschaftlichen Produktion bezahlt werden, ohne daß an anderer Stelle Abstriche gemacht werden? Über die zunehmende Schieflage zwischen ständig steigenden Agrarsozialausgaben und auch in der mittelfristigen Finanzplanung stagnierenden Mitteln für die Gemeinschaftsaufgabe - möglicherweise noch unter Hinzutreten neuer Aufgaben - müssen wir intensiv beraten. Erheblichen Beratungsbedarf, liebe Kollegen, sehe ich auch an anderen Stellen in diesem Etat, z. B. bei der Problematik Beratungshilfe für die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und für die Länder Mittel- und Osteuropas. ({1}) Ich hege erhebliche Zweifel daran, ob reine Beratungskosten - also im wesentlichen Personalkosten - in Höhe von 26,7 Millionen DM allein im Einzelplan 10 angemessen sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Beratungen des diesjährigen Haushalts sind außerordentlich kompliziert. Doch mit der nötigen Sachlichkeit, aber auch mit mehr Ehrlichkeit uns selber und den Bürgern gegenüber muß ein zumindest akzeptabler Kompromiß zwischen den Ausgabewünschen und den finanz- und wirtschaftspolitischen Zwängen erreicht werden. ({2}) Die F.D.P. wird alle Anstrengungen unternehmen, dieses Ziel zu erreichen. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Kastning, nachdem eine Frage nicht möglich war, haben Sie natürlich die Gelegenheit, gemäß § 27 das Wort zu einer Zwischenbemerkung zu erhalten. - Bitte sehr, Herr Kollege.

Ernst Kastning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001070, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke schön, Herr Präsident. - Ich wollte vorhin im übrigen nicht den Herrn Präsidenten kritisieren. Ich meinte nur zu meiner verehrten Frau Kollegin, daß ich nicht auf einen Fingerzeig reagiere, sondern gern gehört hätte, daß sie bis zum Schluß ihrer Rede zusammenhängend sprechen möchte. Ich wollte weiter nichts tun, als sie zu fragen, ob sie sich nach den - für mich übrigens sehr interessanten - Ausführungen - von denen ich befürchte, daß sie im Verlauf der Einzelberatungen im Haushaltsausschuß von der Bildfläche verschwinden - auch denken kann, daß man im agrarpolitischen Bereich vom Erbhofdenken herunterkommt und nicht sagt: Das gesamte Volumen des Etats steht den Landwirten zur Verfügung, umverteilt wird nur innerhalb des Volumens und nicht über Ressortgrenzen hinweg. Das ist übrigens ein Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, von dem ich meine, daß er bei Haushaltsberatungen auch bei anderen Einzelplänen viel öfter diskutiert werden müßte. Der Bundeshaushalt ist ein Ganzes und nicht eine bloße Ansammlung von einzelnen Ressortetats. ({0}) Ich habe noch Gelegenheit, bei den Beratungen des Haushaltsausschusses und in den Berichterstattergesprächen dazu eine Menge zu sagen. Ich bin ja dabei, wenn es darum geht, für die Landwirtschaft zu retten, was zu retten ist, wenn es einen Sinn macht. Man sollte aber nicht so tun, als sei die Tatsache, daß 13,5 Milliarden DM im Etat stehen, von vornherein das Erbstück, das man der Landwirtschaft erhalten muß. Da muß man etwas differenzierter herangehen. Nur das wollte ich zum Ausdruck bringen. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Dr. Hoth will antworten. Bitte sehr.

Dr. Sigrid Hoth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000965, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Kastning, ich stimme Ihnen zu, daß man selbstverständlich keinen Etat als Erbhof betrachten kann. Ich denke, gerade unter Haushältern sollte Einverständnis darüber herrschen, daß wir, wenn wir Einsparungen in einem Etatentwurf nicht zustimmen können, zunächt schauen, wie wir durch Umschichtungen in dem betreffenden Etat das politische Schwergewicht verändern können. Ich halte es für außerordentlich schwierig und für in der Sache sicher auch nicht hilfreich, in einen anderen Etat zu greifen und dort umzuschichten.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, wir fahren in der Debatte fort. Jetzt hat das Wort unser Kollege Dr. Fritz Schumann.

Dr. Fritz Schumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002114, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Hoth, es liegt mir fern, die CDU zu verteidigen. Sie haben hier die Landesregierung von Sachsen-Anhalt angegriffen. Mich packt da auch die blanke Wut. Aber da trifft dasselbe zu wie hier bei der Bundesregierung: Sie sitzen mit in der Landesregierung, und Ihre Minister kassieren dasselbe. ({0}) Das gestattet mir einen guten Einstieg in die Haushaltsdebatte. Sie haben eine Menge gute Dinge gesagt. Ihr Kollege Bredehorn, der hinter Ihnen sitzt, hat im der Agrardebatte am 23. Juni und auch schon davor eine Menge positiver Dinge geäußert, was die Agrarreform anlangt. Ich hatte erwartet, daß sich das im Haushalt stärker niederschlägt. Ich muß sagen: Ich bin ein bißchen enttäuscht, auch über das, was hier vorgelegt worden ist. Da war irgend etwas anderes im Visier. Das muß ich eingangs dazu sagen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Schumann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hoth? - Bitte, Frau Kollegin Hoth.

Dr. Sigrid Hoth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000965, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schumann, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß sich die Verhältnisse im Gegensatz zu vorigen Jahren, die wir ja zumindest geschichtlich gemeinsam zurückgelegt haben, so geändert haben, daß jeder eine Kritik, wenn sie aus seiner Sicht berechtigt ist, aussprechen darf? Auch wenn die F.D.P. in Sachsen-Anhalt in der Regierungsmitverantwortung steht, nehme ich mir das Recht - ich denke, das ist auch meine Pflicht -, Kritik an dieser Stelle auszusprechen. ({0})

Dr. Fritz Schumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002114, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Hervorragend, Frau Hoth. Ich halte es übrigens Dr. Fritz Schumann ({0}) auch für eines der wesentlichsten Ergebnisse des ganzen Vorgangs, daß wir Kritik jetzt frei und überall äußern können. Es ist sehr wichtig, daß wir das tun können. Bloß: Wir müssen auch verändern, nicht nur Kritik äußern. Das ist dabei auch noch wichtig. ({1}) Wir werden in den nächsten Wochen den Haushaltsplan in den Ausschüssen auseinandernehmen und wieder zusammensetzen, auch im Agrarausschuß. Wie werden uns Titel und Kapitel vornehmen und durchsehen. Wir wissen, daß das in sachlicher und konstruktiver Art und Weise geschieht, wie das im Agrarausschuß immer so ist. Es werden nur wenig Möglichkeiten der Veränderung bestehen. Auch das ist uns völlig klar. Der Rahmen ist nämlich sehr begrenzt. Das hat auch Herr Minister Borchert hier erklärt. Ich hätte mir nach der Vorstellung des Agrarkonzepts und auch nach dem, was die F.D.P. dazu geäußert hat, einen etwas anderen Ansatz gewünscht. Diesen kann ich im Moment nicht erkennen. Es ist meine feste Überzeugung, daß die nationalen Ausgaben und die EG-Ausgaben für den Agrarbereich mittelfristig ohnehin wesentlich gesenkt werden, auch wenn dies sehr schmerzlich sein wird. Es wird kommen. Daran werden wir nicht vorbeikommen. Vielleicht könnte dies weniger schmerzlich geschehen, wenn der Kurs, der hier von Minister Borchert vorgeschlagen worden ist, nämlich sich noch stärker auf die Wirtschaftlichkeit hin zu orientieren, konsequent durchgeführt würde. Dazu ist im Westen eine sozial verträgliche Politik zur tatsächlichen Überwindung der Strukturdefizite vonnöten. Jedes Aufrechterhalten von Elementen der Strukturkonservierung ist für die Gesellschaft nicht effizient und teuer. Für die Betroffenen wird es immer schmerzhafter, je länger es dauert. Im Osten brauchen wir Rahmenbedingungen ohne bürokratische Bevormundung und Benachteiligung. Sie müssen die vielbeschworene Eigeninitiatuve der Landwirte und Betriebe noch mehr als bisher befördern und mobilisieren. Das ist der Schlüssel, um mittelfristig mehr betriebliche Mittel zu erwirtschaften und Agrarsubventionen zu senken. Daran sollten wir gemeinsam sehr ernsthaft arbeiten. Das ist im Moment nicht so ganz deutlich zu erkennen, auch wenn der agrarsoziale Bereich sicher den größten Anteil am Haushalt stellt. Er ist auch sehr notwendig, um die Strukturveränderungen herbeizuführen. Ich will mich auf Grund der Kürze der Zeit nicht in Details des Haushalts verlieren. Ich will einige Schwerpunkte nennen, die ich insbesondere aus ostdeutscher Sicht als Schwerpunkte in der weiteren Arbeit betrachte. Da wäre zunächst zu nennen: Grundlage jedes Wirtschaftens ist der Boden. Das wissen wir Bauern. Wir erwarten von der Bundesregierung, daß die Vergabe der Treuhandflächen gemäß dem Einigungsvertrag sofort erfolgt. Jeder, der selber einen Betrieb führt, weiß, wie verheerend es ist, wenn man hinsichtlich des wichtigsten Produktionsfaktors, des Bodens, im wesentlichen noch immer keine langfristigen Sicherheiten hat. Die in Mecklenburg-Vorpommern eingeleitete konzertierte Aktion zur Umverteilung von Land, das von Wieder- und Neueinrichtern bereits bewirtschaftet wurde - sie haben darauf Kredite aufgenommen; sie haben daraufhin Betriebskonzepte erstellt -, wird heute zurückgeführt. Das hat dazu geführt, daß es Protestaktionen gegeben hat. Es müßte geklärt werden, auf welcher Basis das Ganze geschieht. Mich würde in diesem Zusammenhang sehr interessieren, mit welchem Auftrag Staatssekretär Echternach in Mecklenburg-Vorpommern gewesen ist - offenbar dazu, diese Aktion vorzubereiten. Das sollte geklärt werden. Wer gestern abend „Kennzeichen D " gesehen hat, wird sich seinen Reim darauf machen. Zweitens. Bringen Sie die Entschuldungsaktion zum Abschluß! Es ist doch formal und lebensfremd, wenn die Bundesregierung meint - ich zitiere -, die Verzögerung des Verfahrens der Altschuldenregelung ist abwicklungstechnischer Natur; sie stellt keine Existenzgefährdung dar. Man verschließt einfach die Augen davor, daß die Banken bei hoher Altkreditbelastung in der Regel keine Neukredite vergeben. Ohne solche können keine Investitionen getätigt werden und fließen keine investiven Fördermittel. Das heißt, die Modernisierung wird verschleppt. Es können nicht die Mittel für die Ansprüche der großen Zahl ausgeschiedener Mitglieder erwirtschaftet werden. Sie können nämlich nur bei laufender Produktion erwirtschaftet werden. Immerhin muß selbst die Bundesregierung einräumen, daß lediglich 10 % der juristischen Personen 1992 Mittel der einzelbetrieblichen Förderung erhielten, und das Verhältnis der an juristische Personen verausgabten Mittel zu den an natürliche Personen verausgabten Mitteln ({2}) - wir sollten einmal prüfen, Herr Hornung, wie hoch diese sind, und sollten sehen, was dabei wirklich herauskommt - beträgt immerhin 1: 38. Drittens. Beenden Sie die Verunsicherung von Landwirten über die Eignung von eingetragenen Genossenschaften und anderen juristischen Formen für die Landwirtschaft! Für die landwirtschaftliche Produktion im Leitfaden zum Landwirtschaftsanpassungsgesetz und insbesondere in der Orientierungshilfe zur Umstrukturierung wird mehr Unsicherheit gestreut als Sicherheit. Lassen Sie mich noch einen letzten Gedanken anschließen; das rote Licht blinkt schon. Gottfried Haschke ist ein bißchen unmöglich gemacht worden, da er den Bauern versprochen hatte, daß verlorengegangene Inventarbeiträge ausgezahlt werden sollten. Er tut mir wirklich leid, weil das nicht eingehalten werden kann. Der Härteausgleich wäre heute kein Thema, wenn unser Antrag, im Rahmen der Novellierung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes Inven14946 Dr. Fritz Schumann ({3}) tarbeiträge als Verbindlichkeit der LPG gegenüber den Mitgliedern zu behandeln, nicht abgelehnt worden wäre. Offenbar lag den Beteiligten mehr an der Sicherung der Gläubigeransprüche der Banken als an einer historisch richtigen Bewertung der Inventarbeiträge. Dann hätte das Ganze vermieden werden können. Ich hoffe - zum Schluß -, daß die anscheinend nicht mehr abwendbare Verschiebung der Agrarsozialreform wenigstens dazu führt, daß die Mängel im jetzigen Gesetzentwurf beseitigt werden. Ich wünsche mir, daß wir Lösungen finden, um die Flächenüberschreitung die in den neuen Ländern eingetreten ist, ohne finanzielle Verluste für die Landwirte in den neuen Ländern zu Ende bringen zu können. Danke. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, letzter Redner in dieser Debatte ist unser Kollege Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein. Bitte sehr, Herr Kollege.

Carl Detlev Hammerstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000797, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich wollte zunächst eine Frage an den Präsidenten richten, nämlich wo die GRÜNEN sind. Aber sie sind ja da. Sie reden sonst unheimlich gerne über die Landwirtschaft. Ich freue mich, daß am Ende der Debatte endlich einer von euch da ist. Lieber Horst Sielaff, der Löwe hat kräftig gebrüllt. ({0}) - Nein, gut hat er nicht gebrüllt. Ich möchte folgende Feststellung treffen: Wir Landwirte sind für die Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms dieser Regierung. Wir Bauern sind auch für ein starkes Europa und für eine Europäische Gemeinschaft. Der Einzelplan weist mit seinen 13,5 Milliarden DM leider 3,2 % weniger aus. Dies akzeptieren wir. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege von Hammerstein?

Carl Detlev Hammerstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000797, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte, Herr Kollege Kastning.

Ernst Kastning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001070, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege von Hammerstein, da schon vorhin ein paar Mal dieser Satz vom Minister und von Herrn Hornung, glaube ich, kam, möchte ich Sie fragen: Woher nehmen Sie die Berechtigung, hier zu sagen, „Wir Landwirte akzeptieren das Sparprogramm", oder meinen Sie damit „Wir Landwirte, die im Bundestag sind"? ({0})

Carl Detlev Hammerstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000797, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege, da ich täglich draußen vor Ort bei den Bauern bin ({0}) und mit vielen Bauern gesprochen habe, berichte ich nicht über die Bauern, die Abgeordnete im Deutschen Bundestag sind, sondern über die Bauern, die im Lande leben. Die akzeptieren das. ({1}) Es ist schmerzlich, daß die Ausgleichszahlungen und Ausgleichsmaßnahmen nur noch bis 1995 erfolgen. Wir hatten allerdings keine andere Möglichkeit, weil die EG dieses so beschlossen hat. Ich möchte hier insbesondere unserem Landwirtschaftsminister Jochen Borchert und unserem Finanzminister Theo Waigel herzlich danken ({2}) - doch, er hört zu, das weiß ich, auch wenn der Berichterstatter daneben steht -, daß sie die turbulenten Währungsprobleme, die sich am 2. August 1993 ergeben haben, in Paris gelöst haben und wir damit ganz gut zurechtgekommen sind. ({3}) Ich möchte mich ganz herzlich auch bei den CDU-regierten Ländern bedanken, daß sie bereit sind, die übrigen 35 % zu übernehmen. Ich gucke bei dieser Gelegenheit zur linken Seite, zur SPD: Was machen hier eigentlich die von der SPD geführten Länder in der Bundesrepublik Deutschland? ({4}) - Sinnvolle Programme. Ihr seid doch sonst immer für soziale Maßnahmen. Dafür war das eigentlich auch geplant.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Sielaff?

Carl Detlev Hammerstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000797, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meinem Freund Horst Sielaff gerne.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte.

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr von Hammerstein, können Sie mir erklären, worin die soziale Komponente im soziostrukturellen Einkommensausgleich besteht, wenn jeder ihn bekommt, unabhängig von dem Einkommen, auch derjenige, der Millionär ist?

Carl Detlev Hammerstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000797, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie wissen, lieber Kollege Sielaff, daß es sicherlich nicht viele Abgeordnete oder Bauern in der Bundesrepublik Deutschland gibt, die Millionäre sind. Aber diese 35 % bekommt jeder Bauer, auch wenn er einen kleinen Betrieb hat. Auch diesem genehmigt ihr nicht diese 35 % in diesem Programm. Das ist das Traurige. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Noch eine letzte Zwischenfrage des Kollegen Sielaff, bitte.

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr von Hammerstein, würden Sie zustimmen, wenn ich sage, daß der Landwirt, dem es in strukturschwachen Bereichen schlecht geht, von den etwa 600 DM, die er in Teilen der Pfalz vielleicht bekommt, nicht existieren kann?

Carl Detlev Hammerstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000797, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jede D-Mark, lieber Kollege Sielaff, und wenn es nur 600 DM für einen kleinen Betrieb sind, sind eine Hilfe für diesen landwirtschaftlichen Betrieb. ({0}) Wir Bauern sind für ein starkes Europa und für den Wirtschaftsstandort Bundesrepublik. Aber eins möchte ich klar und deutlich sagen und auch ein Wort an die Opposition und auch die Regierungsbank richten: Wenn die Wettbewerbsverzerrungen in der Welt bestehenbleiben, wenn die Amerikaner und Japaner weiterhin ihren landwirtschaftlichen Betrieben und den vor- und nachgelagerten Unternehmen Subventionen zahlen, bedeutet das für jeden deutschen Landwirt und für jedes deutsche vor- und nachgelagerte Unternehmen - ob das eine Ölmühle, Stärkefabrik oder was auch immer ist - das Ende, den Ruin. Deswegen müssen wir hier meines Erachtens sehr aufpassen. Ich möchte mehrere Punkte ansprechen, und zwar die Neuausrichtung der Förderpolitik vor dem Hintergrund geringer werdender Haushaltsmittel und die Harmonisierung der Produktionsbedingungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Zu eins: Bei der künftigen Agrarstrukturförderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" sind als Schwerpunkte vor allem zu nennen: die Stärkung leistungs- und wettbewerbsfähiger Betriebe, die Verbesserung der Vermarktungsstruktur und die Förderung strukturell bedeutsamer Leistungen der Betriebe für eine umweltverträgliche Landwirtschaft. Hierbei werden sich bei der kommenden Ausschußarbeit sicherlich unterschiedliche Auffassungen ergeben. ({1}) - Nein, nein; mach dir keine Sorgen. Ich sagte ja gerade: In der anschließenden Ausschußarbeit werden sicherlich unterschiedliche Auffassungen auftreten. Mein sehnlichster Wunsch ist es allerdings, liebe Opposition, daß wir gemeinsam zu Abstimmungsergebnissen und zu einer Einigkeit kommen, damit wir für unsere Bauern im Haushaltsjahr 1994 bedeutende und entscheidende Themen durchbringen können. ({2}) - Der tut das sowieso. Ich möchte auch klar und deutlich einige Einsparmöglichkeiten ansprechen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Noch eine Zwischenfrage des Kollegen Bredehorn. Ich will mit Rücksicht auf die Kollegen, die zu anderen Geschäftsbereichen sprechen, nur darauf aufmerksam machen, daß wir die Zeit hier weit überziehen. ({0}) Bitte, die letzte Zwischenfrage.

Günther Bredehorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000256, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank. Herr Kollege von Hammerstein, sind Sie mit mir nicht auch der Meinung, daß in der mittelfristigen Finanzplanung der Rückgang der Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe von 1992 bis 1997 um fast 800 Millionen DM alarmierend ist und daß wir innerhalb der Ausschußberatungen sehr ernsthaft überlegen müssen, wie die Mittel optimal eingesetzt werden können, ({0}) damit, wie es der Bundesminister sagt, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft erhalten bleibt? ({1})

Carl Detlev Hammerstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000797, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Volles Einverständnis! Ich bin der gleichen Auffassung wie Sie. Herzlichen Dank. Man soll dann allerdings auch sagen, welche Einsparungsmöglichkeiten man hat. Ich will einige nennen. Ich glaube, daß wir in den westlichen Bundesländern im Trink- und Abwasserbereich schlicht und einfach Einsparungen vornehmen können. Ich akzeptiere es jedenfalls nicht, wenn Bauern und Hausbesitzer in dünnbesiedelten ländlichen Räumen bis zu 100 000 DM für Abwasserbeseitigungsanlagen bezahlen müssen. Das ist für die Bauern in unserer Region nicht tragbar. Das muß man klar und deutlich sagen. ({0}) Deshalb fordere ich, daß die Beratungen mit den Ländern über diese Fragen wieder aufgenommen werden, sobald das Äderungsgesetz zur Agrarstruktur und zum Küstenschutz den Bundesrat passiert hat. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir begrüßen es ausdrücklich, daß der Bund mit den Ländern wegen der Weiterentwicklung der Gemeinschaftsaufgaben, insbesondere in bezug auf Fragen der Neuausrichtung der einzelbetrieblichen Förderung, in Verhandlungen steht. Die Grundzüge der einzelbetrieblichen Förderung sollten meines Erach14948 tens so aussehen, daß die Förderung erstens unabhängig vom Erwerb gegeben wird, daß sie zweitens unabhängig von der Rechtsform ist, gleich, ob Einzelbetrieb, juristische Person oder eine Kooperation vorliegen. Aber eine klare Aussage von mir ist: Die Betriebe, die in Zukunft Landwirtschaft machen wollen, die gefördert werden wollen, sollen in Zukunft wie in den anderen europäischen Partnerländern Buchführung machen müssen. Das ist eine Grundvoraussetzung, um Förderung vorzunehmen. Das müssen wir klar und deutlich sagen. ({1}) Drittens muß der Nachweis der Wirtschaftlichkeit und der Einhaltung einer Prosperitätsschwelle erbracht werden, wobei diese Schwelle noch festzulegen sein wird. Viertens sollten keine Bestandsobergrenzen festgelegt werden. Dafür sollte aber eine strikte Bindung der Tierhaltung an die Fläche erfolgen. Letztlich sollte es eine differenzierte Investitionsförderung geben, die auf die betriebsnotwendige Vollarbeitskraft ausgerichtet ist, und zwar unabhängig davon, ob es sich um Einzel- oder Mitunternehmer, Familien- oder Lohnarbeitskräfte handelt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, mein Konzept ist erheblich länger. Herr Präsident, sind die Zwischenfragen zeitlich abgegolten?

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Die Zeit wird bei Ihrer Redezeit berücksichtigt.

Carl Detlev Hammerstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000797, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte nur noch kurz erwähnen, daß im Bereich unserer deutschen Molkereien, Schlachthöfe, Ölmühlen, Stärkefabriken und Handelsunternehmensstufen in den letzten Monaten und Jahren viel getan worden ist, um die Strukturen zu verbessern. Zum Schluß: Mein sehnlichster Wunsch ist, daß wir nach der Öffnung der Grenzen für die Menschen in den fünf neuen Bundesländern weiter das tun, was wir bisher getan haben, daß wir nicht aufhören, den Menschen dort weiter zu helfen. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Debatte über den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Bevor wir zum nächsten Bereich kommen, möchte ich noch auf folgende Begebenheiten von gestern und heute in diesem Hause zu sprechen kommen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist sicherlich keine Ausnahme, daß in Haushaltsdebatten besonders scharf diskutiert wird. Einzelne Redner jedenfalls tun das, und sie können das. Das ist völlig unbestritten. Aber es ist genauso unbestritten, daß es dann auch alle möglichen Zwischenrufe gibt. Ich bitte, bei der Wortwahl in den Zwischenrufen ebenso wie in den Reden daran zu denken, was es für Folgen geben kann. Gestern sind in der Debatte bei der Rede unseres Kollegen Dr. Schäuble die Zwischenrufe gefallen: „Sie sind ein Feigling!" und: „So ein arroganter Pinsel!" Diese Zwischenrufe kamen von Frau Kollegin Matthäus-Maier. ({0}) Daß sie angegriffen worden war und selber vorher angegriffen hatte, ist richtig. Nur, diese Zwischenrufe muß ich mit einem Ordnungsruf bedenken. ({1}) Heute hat die Frau Kollegin Matthäus-Maier eine Zwischenfrage an Herrn Fuchtel gestellt. Herr Kollege Fuchtel war in seinen Ausführungen auch nicht ganz besonders zart besaitet. Aber dann gab es den Zwischenruf des Kollegen Ottmar Schreiner: „Ein schwarzer Flegel ist das!" Die dann folgende Intervention „Das ist die glatte Unwahrheit!" ist ja in Ordnung, aber die dann folgende Wiederholung „Nein, das ist ein Flegel! " können wir ebenfalls nicht zulassen. Deswegen gibt es auch dafür einen Ordnungsruf. Jetzt fahren wir in der Debatte fort. Ich bitte alle Redner und alle Zwischenrufer, sosehr das auch hin und wieder Salz in der Suppe ist, sich das, was ich eben sagte, ein bißchen zu Herzen zu nehmen. ({2}) Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Dazu erteile ich als erstem Redner dem Herrn Bundesminister das Wort, unserem Kollegen Horst Seehofer.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wichtigste Aufgabe im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit ist und bleibt die Sanierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Sie wissen, daß nach den dramatischen finanziellen Einbrüchen in den letzten beiden Jahren die Gesundheitsstrukturreform notwendig war, und ich denke, sie war auch erfolgreich. ({0}) Nach 9 Milliarden DM Defizit im letzten Jahr 3 Milliarden DM Überschuß allein in sechs Monaten dieses Jahres! Ich kann mich, auch als langjähriger Wegbegleiter der gesetzlichen Krankenversicherung, nicht erinnern, daß jemals eine so massive Umkehr hin zum Positiven stattgefunden hätte. Ich möchte heute zum erstenmal nach Veröffentlichung dieser Bilanz die Gelegenheit wahrnehmen, mich bei den Fraktionen von CDU/CSU, F.D.P. und auch SPD sowie bei allen 16 Bundesländern zu bedanken, ({1}) daß wir diese Gesundheitsstrukturreform im wesentlichen übereinstimmend so zustande gebracht haben. ({2}) Da geht es nicht um das Feiern eines Ministers, sondern was ich für besonders bemerkenswert halte, ist, Frau Kollegin, daß dieses Einsparvolumen durch eine Mentalitätsänderung bei den Beteiligten, durch eine Verhaltensänderung erreicht wurde, nicht durch Leistungsausgrenzungen, wie dies bei manchen Reformen vorher der Fall war. Man verhält sich jetzt in diesem System wirtschaftlicher, sorgfältiger und verantwortungsbewußter. Das ist ein großer Erfolg all dieser Anreizmechanismen, die in dieses Gesetz Eingang gefunden haben. Wichtig ist auch, daß ein Beispiel dafür geliefert wurde, daß Herausforderungen im Sozialbereich innerhalb der bestehenden bewährten Systeme bewältigt werden können, so daß wir auch die ganze Diskussion der letzten Tage, ob wir etwa die Zukunft nur noch mit anderen Sozialsystemen bewältigen können, beerdigen können. Wir können innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung mit den bewährten Prinzipien die Zukunftsherausforderungen bewältigen. ({3}) Was für die gesetzliche Krankenversicherung gilt, gilt auch für unseren Etat. Wir sparen, aber der Qualität unserer Gesundheitspolitik tut dies keinen Abbruch. Im Gegenteil, die Förderung qualitativer Verbesserungen hat Priorität. Hier setzen wir auch im Bundeshaushalt wieder neue Akzente. Ich nenne nur drei Stichworte: Qualitätssicherung in der Medizin, Maßnahmen auf dem Gebiet der Psychiatrie und insbesondere auch die Bekämpfung neuer Infektionskrankheiten. Die medizinische Qualitätssicherung wird insgesamt in all ihren Facetten künftig weiter an Bedeutung gewinnen. Besonders deutlich wird dies, wenn wir uns mit dem Bereich medizinisch nicht notwendiger Leistungen auseinandersetzen. Sie kennen das im Medikamentenbereich. Es wurden 20 % weniger Medikamente verordnet, ohne daß dies für die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung nachteilig ist. Experten haben mich gerade in diesen Tagen wieder darauf hingewiesen, daß 30 bis 40 % aller Röntgenleistungen schlichtweg überflüssig sind. Das heißt, Menschen werden ohne jeden medizinischen Grund der Belastung von Röntgenstrahlen ausgesetzt. Das zeigt weiter: Wenn wir Wirtschaftlichkeitsreserven erschließen, indem wir dafür sorgen, daß überflüssige Leistungen nicht mehr erbracht und abgerechnet werden, ist dies auch gleichzeitig ein wesentlicher Beitrag zur Verbesserung der Qualität der medizinischen Versorgung. Wie wichtig, meine Damen und Herren, die Qualitätssicherung in der Medizin ist, haben nicht zuletzt die Vorfälle im Klinikum Hamburg-Eppendorf gezeigt. Hätte es dort ein funktionierendes, festinstalliertes Qualitätssicherungsprogramm gegeben, so wäre es wohl nicht möglich gewesen, daß über Jahre hinweg Patienten falsch behandelt wurden. ({4}) Solche Vorfälle hätten dann viel, viel früher erkannt werden können. Ich meine, ein System, in dem so gravierende Fehlbehandlungen nicht oder erst nach Monaten oder Jahren auffallen, hat erheblichen Nachholbedarf in Sachen Qualitätssicherung. Deshalb gibt die Bundesregierung über das Modellprogramm zur Förderung der medizinischen Qualitätssicherung, für das wir im kommenden Jahr fünf Millionen DM einsetzen, wichtige Anstöße für Verbesserungen. Ich möchte Ihnen auch sagen, daß wir uns im Bundesgesundheitsministerium entschieden haben, diesem Gesichtspunkt der Qualitätssicherung in den nächsten Monaten auch vor dem Hintergrund von Kunstfehlern und Fehlbehandlungen erhöhte Aufmerksamkeit zu widmen, und daß wir möglicherweise auch das Parlament mit Vorschlägen zur Überwindung solcher Fehlentwicklungen konfrontieren werden. ({5}) Der Bund leistet auch einen großen Beitrag dazu, die teils immer noch desolaten Zustände in der psychiatrischen Versorgung in den neuen Bundesländern zu verbessern. Bei den Maßnahmen auf dem Gebiet der Psychiatrie steht vor allem die Förderung von Modellen in den neuen Bundesländern im Vordergrund. Von insgesamt 10,9 Millionen DM fließen im nächsten Jahr allein 8,6 Millionen DM dorthin. Es geht vor allem darum, genauso wie bei der Psychiatriereform in den alten Bundesländern nun auch in den neuen Bundesländern ambulante Versorgungsnetze für die Bereiche Arbeit, Wohnen und Freizeit aufzubauen. Bisher allerdings ist hier nicht genug geschehen: Zum allergrößten Teil haben sich in den neuen Ländern neue Versorgungsformen nur dort entwikkelt, wo sie durch eine Modellförderung des Bundes initiiert worden sind. Die Modelle haben durch ihre Pionierfunktion Qualitätsstandards gesetzt und die Psychiatriereform in den neuen Ländern auf das richtige Gleis gebracht. Wenn wir die Reformen weiter voranbringen wollen, wenn wir den betroffenen Menschen helfen wollen, müssen wir die Bundesförderung auch im nächsten Jahr fortsetzen. Das haben wir vor. Das heißt jedoch nicht, daß damit die Länder von ihrer Pflicht entbunden sind. Im Gegenteil: Ich möchte auch hier noch einmal sagen, daß die Länder ihrer Verantwortung voll gerecht werden müssen, damit ein bedarfsgerechtes psychiatrisches Versorgungssystem aufgebaut werden kann. ({6}) Der Bazillus, der in den alten Bundesländern gelegentlich gehäuft auftritt, daß man zwar die Aufgaben will - wie bei Drogen, Aids oder Rettungsdienst -, aber für die Finanzierung dann den Bund oder die gesetzliche Krankenversicherung heranzieht, sollte hoffentlich nicht auf die neuen Bundesländer übergreifen. Das nenne ich immer Forderungsföderalismus. ({7}) Eine solide Gesundheitspolitik muß agieren, sie darf nicht nur reagieren. Gerade die große gesundheitspolitische Herausforderung Aids hat gezeigt, wie wichtig es ist, neue Krankheitsgefahren rechtzeitig zu erkennen, um frühzeitig handeln zu können. Deshalb haben wir in dem Etatentwurf 1994 nun einen neuen Titel „Zuschüsse zu Forschungsvorhaben zur Erkennung und Bekämpfung neuer Infektionskrankheiten" eingerichtet. So sind z. B. neue Erreger entdeckt worden, deren Gefahrenpotential für die Bevölkerung erforscht werden muß. Bei einigen chronisch-degenerativen, zum Teil mit Demenz einhergehenden Erkrankungen besteht dringender Forschungsbedarf hinsichtlich möglicher Zusammenhänge zwischen diesen Erkrankungen beim Menschen und verwandten Erkrankungen bei Schafen und Rindern. Ich nenne nur das Stichwort Rinderwahnsinn, das uns auch jetzt ganz aktuell wieder beschäftigt. Insbesondere geht es hier auch um die Frage, ob entsprechende Tierinfektionen auf Menschen übertragbar sind. Bereits langjährige Forschungsvorhaben können so ergänzt und verstärkt werden. Schließlich muß trotz aller medizinischen Fortschritte heute wieder mit Krankheiten gerechnet werden, die mit Hilfe von Schutzimpfungen und moderner Chemotherapie für besiegt gehalten wurden. Dies gilt besonders für die im Zusammenhang mit Aids weltweit zu verzeichnende Zunahme der Tuberkulose. Deshalb fördern wir methodische Verbesserungen zur Früherkennung derartiger Infektionen, Studien zum besseren Verständnis des Verbreitungsmechanismus und Untersuchungen zur bisherigen Ausbreitung derartiger Infektionskrankheiten. Je mehr wir über neue Krankheitsgefahren wissen, um so eher und wirkungsvoller können wir einer Verbreitung Einhalt gebieten. Das haben wir insbesondere bei Aids gesehen. Unsere bisher in der Gesundheitspolitik beispiellose Aids-Aufklärungskampagne und die innovativen gesundheitspolitischen Ansätze in der Beratung und Betreuung Betroffener im Rahmen von Modellprogrammen haben Früchte getragen. Sowohl die Rate der jährlichen Neuinfektionen als auch die Rate der jährlichen Neuerkrankungen konnten stabilisiert werden. Meine Damen und Herren, damit hat sich die Politik der Prävention, der Aufklärung, der Vorbeugung und der Hilfe gegenüber einer repressiv ausgerichteten Politik mit Ausgrenzung von Erkrankungen bewährt. ({8}) Zwei kurze Anmerkungen noch, Herr Präsident. Wir haben auch einen erheblichen, einen bedeutsamen Wegfall von Mitteln. Ich meine die Streichung der Pauschale des Bundes zum Mutterschaftsgeld. Für die Betroffenen ändert sich hierdurch nichts. Diese Leistungen werden künftig die Krankenkassen voll zu tragen haben. Sie finanzieren ja jetzt schon einen Teil. Es geht um eine Größenordnung von 210 Millionen DM. Das ist schmerzlich, es ist eine Belastung für die Krankenkassen. Umgekehrt muß man sehen, daß 1994 die gesetzliche Krankenversicherung in Milliardenhöhe bei der Pflegeversicherung entlastet wird. Ich meine, wir sollten deshalb jetzt keine aktuelle Diskussion über Familienlastenausgleichsleistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung führen. Aber es bleibt ein Thema für die dritte Stufe der Gesundheitsreform, daß wir die versicherungsfremden Leistungen künftig möglichst aus dem Steuertopf finanzieren. ({9}) Ich möchte zum Schluß nochmals auf das Thema Aids zurückkommen. Wir wissen heute über Aids weit mehr als zu Beginn der 80er Jahre. Damals waren die Ursachen der Aids-Erkrankung wissenschaftlich strittig und weder HIV als Erreger von Aids entdeckt noch eine Möglichkeit gegeben, um den Nachweis von HIV im Blut und in Blutprodukten zu führen. Wir haben im Bericht des Gesundheitsministers vom 30. November 1992 an den Ausschuß für Gesundheit zur HIV-Infektionsgefährdung durch Blutprodukte ausführlich die zunehmenden Erkenntnisse über die Aids-Erkrankung, die auf ihrer Grundlage getroffenen Sicherheitsmaßnahmen und weitere mögliche Maßnahmen zur Risikominimierung aufgezeigt. Leider wissen wir auch heute, meine Damen und Herren, daß es trotz aller Maßnahmen Anfang der 80er Jahre zu Infektionen gekommen ist. Die schwere schicksalhafte Belastung der Betroffenen erregt unser aller Mitgefühl. Ich habe deshalb die Versicherungswirtschaft und die pharmazeutische Industrie mehrfach gebeten zu prüfen, ob auf Grund der tragischen Situation der Betroffenen über bereits geleistete Zahlungen hinaus weitere Leistungen erbracht werden können. ({10}) Seitdem wird verhandelt, bisher aber ohne konkretes Ergebnis. Jeder schaut auf den anderen, keiner tut den ersten Schritt. ({11}) Doch mit Diskussionen leisten wir keine Hilfe. Deshalb muß das Schwarze-Peter-Spiel ein Ende haben. Wir müssen den Betroffenen konkret humanitäre Hilfe leisten. ({12}) Ich unterstütze deshalb ausdrücklich die Anregung aus den Koalitionsfraktionen CDU/CSU und F.D.P., daß wir als Bund einen ersten Schritt tun, und zwar im Etat 1994 2 Millionen für einen Hilfsfonds vorsehen, aus dem monatlich Renten an aidserkrankte Betroffene gezahlt werden sollen. ({13}) - Frau Kollegin, ich finde, bei dem Schicksal der Betroffenen müssen wir das im Bundeshaushalt irgendwo zur Verfügung stellen. ({14}) Allerdings erwarte ich Beiträge der Industrie, der Versicherungswirtschaft, des Roten Kreuzes und auch der Bundesländer. Uns reicht es nicht, wenn Verständnis für die Betroffenen geäußert wird. Es müssen hier auch Taten folgen. ({15}) Die vorgesehene Verpflichtung des Bundeshaushaltes geht davon aus, daß auch andere ihren Beitrag erfüllen. Ich möchte noch einmal ganz deutlich sagen: Dieser Schritt ist keine juristisch begründete Entschädigung. Weder das Bundesgesundheitsamt noch das Bundesgesundheitsministerium hat seinerzeit falsch gehandelt. Es wurde nach dem jeweils neuesten Kenntnisstand unverzüglich gehandelt. ({16}) Unsere jetzt vorgesehene unbürokratische Hilfeleistung ist ein Signal. Ich rufe alle Beteiligten zu einer humanitären Gemeinschaftsaktion auf. Wir können zwar nicht alle Forderungen erfüllen, aber ich erwarte einen Beitrag aller, damit ein Hilfsfonds in einer Höhe von mindestens 10 Millionen DM erreicht wird. ({17}) Wir müssen jetzt, meine Damen und Herren, jenseits aller Paragraphen unserer sozialen Verantwortung in einer sehr schwierigen Tragödie gerecht werden. ({18})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, als nächster Redner hat jetzt das Wort unser Kollege Klaus Kirschner.

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundesminister Seehofer, dem, was Sie zur gesetzlichen Krankenversicherung und zum Gesundheitsstrukturgesetz gesagt haben, kann ich zustimmen. Wir haben nach den vorliegenden Finanzdaten der gesetzlichen Krankenversicherung für das erste Halbjahr 1993 allen Grund, den Erfolg des Gesundheitsstrukturgesetzes, das wir gemeinsam erarbeitet und verabschiedet haben, herauszustellen. ({0}) Aber lassen Sie mich das Folgende auch kritisch anmerken: Nach dem gemeinsamen Willen von CDU/ CSU, SPD und F.D.P. sollen mit dem Gesundheitsstrukturgesetz eine finanzielle Entlastung und damit die notwendige Beitragsstabilität in der gesetzlichen Krankenversicherung auf sozial verträglichem Niveau erreicht werden. Bisher bin ich davon ausgegangen, daß alle Parteien des Lahnsteiner Kompromisses und die Bundesregierung selbst dafür Sorge tragen, daß der gesetzlichen Krankenversicherung keine weiteren Belastungen aufgebürdet werden. Nun, ich habe mich offensichtlich getäuscht; denn der Bundesfinanzminister macht schon wieder einen Verschiebebahnhof zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung, sprich: der Sozialversicherung schlechthin, auf. In einer Phase der Konsolidierung der Finanzen im System der sozialen Krankenversicherung bürdet die Bundesregierung diesem Sozialversicherungszweig für 1994 eine Mehrbelastung von mehr als 200 Millionen DM auf, ohne daß damit Leistungsverbesserungen für die Versicherten verbunden wären. Herr Kollege Seehofer, Sie haben selber darauf hingewiesen - dabei haben Sie unsere volle Unterstützung -, daß gesamtstaatliche Aufgaben nicht der Sozialversicherung auferlegt werden dürfen. Deshalb ist es unverständlich, daß für die werdenden Mütter jetzt das Schwangerschafts- und Mutterschaftsgeld gekürzt werden soll ({1}) - ich komme ja darauf - bzw. daß der Bund sich aus der Verantwortung stiehlt, zu Lasten der Beitragszahler. Ich denke, das geschieht in einem Feld, in dem der Staat ausdrücklich gefordert wäre. Bereits in der Vergangenheit wurde es der gesetzlichen Krankenversicherung überlassen, die Leistungen der Mutterschaftshilfe zur Verfügung zu stellen. Lediglich mit einem Pauschbetrag von 400 DM je Leistungsfall beteiligte sich der Bund an den Mutterschaftsaufwendungen der sozialen Krankenversicherung. Nun sollen diese 400 DM von seiten des Bundes auch noch gestrichen werden. Fürwahr, eine weitere familienpolitische Großtat der Bundesregierung, die doch sonst immer den Wert der Kinder für unsere Gesellschaft betont. Ich denke, hier wird deutlich, wie weit Reden und Handeln auseinanderklaffen. Man hat den Eindruck, Kinder dürfen alles; nur dürfen sie kein Geld kosten. Vertreter der Koalition reden im Hinblick auf die Sozialversicherungssysteme - dies betone ich; hören Sie bitte genau zu -, was die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft anbelangt, von zu hohen Lohnnebenkosten, verschieben aber immer wieder - an diesem Beispiel wird es deutlich - gesamtstaatliche Aufgaben in die sozialen Sicherungssysteme, mit der Folge, daß dies die Beiträge in die Höhe treibt. Ich frage Sie nach der Solidität dieser von Ihnen entfachten Diskussion zur Höhe der Lohnnebenkosten. Diese Antwort müssen Sie doch hier einmal geben. ({2}) - Wenn der Präsident es zuläßt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Es ist zwar geschäftsordnungsmäßig nicht ganz korrekt. Wenn Sie, Herr Abgeordneter Seehofer, das in Frageform oder in die Form einer Kurzintervention kleiden, habe ich nichts dagegen.

Horst Seehofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002140, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kirschner, wenn Sie diese 200 Millionen DM, die künftig die gesetzliche Krankenversicherung belasten, zum Ge14952 genstand Ihrer Ausführungen machen und auf die Belastungen in den Lohnnebenkosten abheben, frage ich Sie: Wie verhält es sich dann mit den 500 bis 600 Millionen, die jetzt aktuell von den Bundesländern gefordert werden, die Ihrer Partei zuzurechnen sind? In dieser Größenordnung soll die Krankenhausfinanzierung, die heute noch die Bundesländer betreiben, auf die Krankenversicherung übertragen werden. Dieser Betrag ist das Dreifache dessen, was Sie gerade behandeln.

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Seehofer, Sie haben doch vorhin selbst gesagt, es muß damit aufhören, daß gesamtstaatliche Aufgaben den Sozialversicherungssystemen auferlegt werden. Damit muß endlich Schluß sein. Wir debattieren jetzt hier über den Etat des Bundesministers für Gesundheit, und um den geht es. An diesem Beispiel wird deutlich - ich nehme Sie bei Ihren eigenen Worten -, daß endlich Schluß damit sein sollte. ({0}) Ich sage Ihnen zu, Sie haben die Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion gegen den Herrn Finanzminister. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich meine, die Zusage gebe ich Ihnen auch. Aber ich muß mich hier heraushalten. Der Abgeordnete Hoffacker möchte eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Paul Hoffacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kirschner, sind Sie mit mir der Meinung, die der Bundesminister für Gesundheit gerade dargestellt hat, nachdem sich Länder jetzt weigern, Instandhaltungskosten zu tragen, und sie auf die Bundeskasse - so darf ich sagen - und auf die Krankenkassen übertragen wollen, daß die Länder dazu verpflichtet sind, und werden Sie als Mitglied dieser SPD-Bundestagsfraktion Ihre Länderkollegen auffordern, in diesem Sinne tätig zu werden?

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hoffacker, zuerst einmal wissen Sie, daß der Föderalismus ein schwieriges Problem ist. ({0}) Zum zweiten, Herr Kollege Hoffacker, ich verstehe, daß Sie von diesem aktuellen Fall ablenken wollen, aber ich denke, wir beraten hier - und das sage ich noch einmal - den Haushalt des Bundesministers für Gesundheit. Wir sind uns darüber im klaren, und deshalb müssen wir hier beginnen und nicht selbst mit einem schlechten Beispiel vorangehen - das heißt nicht wir, sondern Sie -, daß wiederum allgemeine Kosten zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verschoben werden. Hier geht es um den Haushalt des Bundesministers für Gesundheit, und über diesen reden wir jetzt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Kirschner, der Abgeordnete Dr. Hoffacker hat eine Nachfrage.

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn es unbedingt sein muß.

Dr. Paul Hoffacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kirschner, ist das denn falsch, was ich gerade gesagt habe, daß Ihre Länderminister und die Länderministerpräsidenten von SPD-geführten Ländern sich weigern, diese Kosten zu tragen, und sie uns aufbürden wollen? Ich meine es richtig verstanden zu haben, daß Sie das jetzt umdrehen, oder meinen Sie das nicht? ({0})

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hoffacker, ich meine nicht, was Sie mit umdrehen meinen. Ich sage Ihnen nur eines, wir reden hier über den Haushalt des Bundesministers für Gesundheit. Der Herr Kollege Seehofer - und das habe ich ihm zugesagt - hat die volle Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion, daß wir uns mit allen Mitteln gegen einen neuen Verschiebebahnhof wehren werden, den der Bundesfinanzminister zu Lasten der Sozialversicherung aufmacht in Höhe von über 200 Millionen DM. Darauf hat Herr Bundesminister Seehofer selber hingewiesen. Wir wollen ihm darin unsere Unterstützung nicht versagen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun hat der Abgeordnete Dr. Weng das Bedürfnis, eine Frage beantwortet zu bekommen.

Dr. Wolfgang Weng (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002479, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Kirschner, darf ich mich darauf verlassen, daß Ihre Fraktion und in der Konsequenz Ihre Partei in Zukunft da, wo sie politische Verantwortung trägt, sich immer ganz konsequent so verhält, wie Sie das gerade in diesem Zusammenhang fordern?

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Darauf können Sie sich verlassen, soweit wir darauf Einfluß haben. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Der Versuchung, nur festzustellen, wir sind alle kleine Sünderlein, erliege ich nicht. Herr Abgeordneter Kirschner, fahren Sie fort.

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich denke, das Ablenken funktioniert nicht. Wir reden über den Haushalt des Bundesministers für Gesundheit. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu einem Bereich kommen, den auch der Herr Bundesminister Seehofer angesprochen hat, nämlich die HIV-Problematik in der Bundesrepublik, und zwar daß es bei der Herstellung lebenswichtiger Medikamente für Bluter eine Arzneimittelkatastrophe mit häufig tödlichem Ausgang gegeben hat. Betroffen sind etwa 2 000 Bluterkranke sowie eine möglicherweise ebenso große, noch unbekannte Zahl von Opfern, die bei Operationen, Geburten oder nach Verkehrsunfällen mit verseuchten Blutgerinnungspräparaten HIV-infiziert wurden. Die auf solche Weise krankgemachten Menschen verhandeln seit Jahren erfolglos mit den Verursachern. Dem unbefangenen Beobachter könnte sich auf den ersten Blick der Eindruck aufdrängen, daß von seiten der Pharmaindustrie und ihrer Versicherer nach dem Motto verhandelt wird: vertrösten, zermürben, Zeit schinden, bis die Menschen weggestorben sind. Das darf nicht geduldet werden. Wir haben deshalb mit großer Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen, daß Sie, Herr Bundesminister Seehofer, einen ersten Schritt tun. Sie bekommen da unsere Unterstützung. Aber wir wissen alle - und das haben Sie auch deutlich gemacht -, daß dies nicht ausreicht, denn wenn wir da stehenblieben, kämen zur medizinischen Katastrophe die politische und die moralische hinzu. Nicht nur den Opfern, sondern auch der Moral und der Rechtskultur unserer Gesellschaft würde schwerer Schaden zugefügt, wenn der Staat sich in diesem Bereich als handlungsunfähig erwiese und die Betroffenen ihrem Schicksal überließe. Deshalb hat die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag einen Antrag eingebracht - Hilfe für die Opfer aus der Behandlung mit HIV-kontaminierten Blutprodukten -, den wir hier in Kürze beraten werden. Die Bundesrepublik braucht einen nationalen Hilfsfonds, um wenigstens die materielle Not zu lindern. Dieser Fonds soll aus unserer Sicht zu je einem Drittel aus Mitteln der Pharmaindustrie einschließlich des Deutschen Roten Kreuzes, ihren Versicherern sowie aus dem Bundeshaushalt gespeist werden. Wir wollen, daß dies noch in diesem Jahr in Angriff genommen wird. ({0}) - Darüber muß man dann verhandeln. Wir wollen, daß im Bundeshaushalt dafür die notwendigen Mittel auch eingestellt werden. Bei allen notwendigen Einsparungen darf dies nicht zu Lasten dieser unschuldigen Opfer der größten Arzneimittelkatastrophe in der Bundesrepublik Deutschland gehen. ({1}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in diesem Zusammenhang etwas zu Aids und zum Bundeshaushalt sagen. Obwohl der Bundesregierung bekannt ist, daß sich die Aids-Problematik in keiner Weise entschärft hat, ja sogar weiter kontinuierlich zunimmt, wurden die Mittel in diesem Bereich ebenfalls gekürzt. Wie in den vergangenen Jahren stagnieren die Mittel für die Deutsche Aidshilfe bei 7,5 Millionen DM, obwohl zusätzliche Aufgaben in den neuen Ländern hinzugekommen und die Ausgaben drastisch gestiegen sind. Auch die übrigen Mittel für andere Maßnahmen der Aids-Aufklärung sind drastisch reduziert worden. Das ist unverständlich. Es ist doch wohl unbestritten, daß Aufklärungsmaßnahmen eine zentrale Aufgabe sind. Ich kündige Ihnen jetzt schon an, daß wir die Aufstockung der Mittel für die Aids-Prävention beantragen werden. Vor allem aber ist es notwendig - und da bitte ich Sie, und da appelliere ich an Sie -, das Stiftungskapital für die beiden Aids-Stiftungen „Positiv leben" und „Nationale Aids-Stiftung" so aufzustocken, daß sie ihren Aufgaben auch nachkommen können. Die soziale Not der Aids-Erkrankten nimmt, wie die Stiftungen berichten, zu. Besonders trifft das Frauen und Kinder, und deshalb sind sie auch in besonderem Maße auf diese Hilfen der Aids-Stiftungen angewiesen. Allein im ersten Halbjahr 1993 sind mehr Anträge gestellt worden als im gesamten Jahr 1992. Sie wissen, hier geht es nicht um Riesenbeträge. Hier geht es um einstellige Millionensummen, die den Stiftungen zur Verfügung gestellt werden sollten und müssen, damit sie eben den Betroffenen helfen können. Ich sage es noch einmal: Ich appelliere deshalb an Sie, daß wir hier gemeinsam eine Aufstockung dieses Stiftungskapitals erreichen. Auch das, denke ich, ist ein Stück politischer Mitmenschlichkeit, der wir uns als Parlament nicht entziehen dürfen. ({2}) Sie, Herr Bundesminister Seehofer, haben wiederholt in Interviews angekündigt, den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung zu verändern, so daß sie sich nur noch auf die Absicherung großer Gesundheitsrisiken zu konzentrieren hat. Ich habe - lassen Sie mich dies sagen - große Zweifel, ob eine solche Diskussion zum jetzigen Zeitpunkt sinnvoll ist. Sie verunsichern einerseits Patienten und Versicherte; andererseits wecken Sie neuerliche Begehrlichkeiten bei denjenigen, die unsere gesetzliche Krankenversicherung am liebsten so umkrempeln möchten, daß sie als soziale Krankenversicherung nicht mehr erkennbar ist. Es ist notwendig, daß diejenigen, die jetzt gefordert sind, das Gesundheits-Strukturgesetz im Sinne des Gesetzgebers umzusetzen, sich nicht mit der Ausrede, daß schon bald wieder eine Umgestaltung kommt, aus der Verantwortung der konsequenten Umsetzung des Gesetzes stehlen. Das, denke ich, sollten wir alle bedenken, wenn hier jetzt schon wieder von einer dritten Stufe der Reform geredet wird. Wir sind gemeinsam in der Verantwortung, daß ein Kernbereich unserer Gesundheitspolitik, die gesetzliche Krankenversicherung, auch in Zukunft funktioniert. Lassen Sie uns darüber diskutieren, wie unnötige Behandlungen vermieden und Rationalisierungen in unserem Gesundheitssystem ausgeschöpft werden können und eine stärkere Gewichtung der Prävention, statt der Reparatur bereits eingetretener Krankheiten erreicht wird. Ich denke, das ist die Diskussion, die wir verstärkt führen müssen. Herzlichen Dank. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Roland Sauer ({0}) das Wort. ({1})

Roland Sauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001922, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Stuttgart ist nach den Leichtathletik-Weltmeisterschaften eine sehr schöne Klammer. Roland Sauer ({0}) Ich möchte auf den Vorschlag eingehen, das Schicksal der HIV-Bluter in die Hand zu nehmen und sagen, daß dies sicher ein guter Vorschlag ist. Dies macht uns Haushältern natürlich Probleme, weil wir ja gehalten sind, noch weitere Einsparungen vorzunehmen. Man muß auch klarmachen, daß die Hersteller und die Versicherungsgesellschaften hier ihre Verantwortung tragen. Hier darf auch keine Rechtspflicht anerkannt werden. Ich hoffe, wir finden im Haushaltsausschuß einen Weg, Ihren Vorschlag dann wirklich auch zum Tragen zu bringen. ({1}) - Okay, gut. Zum Haushalt: Dieser Haushalt ist sicher ein Sparund Konsolidierungshaushalt; er liegt immerhin 20 unter dem Ansatz des laufenden Jahres. Aber - dies ist schon gesagt worden - dies ist in erster Linie auf die wegfallende Erstattung von Mutterschaftsgeld in Höhe von 215 Millionen DM zurückzuführen. Ich möchte hier nochmals klarmachen, daß auch kein Mißverständnis aufkommt: Die Leistung Mutterschaftsgeld bleibt natürlich voll bestehen. Sie wird nur ganz von den Krankenkassen übernommen. Herr Kirschner, die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung werden sich aber angesichts der positiven Auswirkungen des Gesundheits-Strukturgesetzes nicht erhöhen. Im übrigen - das paßt Ihnen nicht, aber ich sage es trotzdem - sollte man auch nicht vergessen: Die Krankenkassen werden durch das Urteil zu § 218 StGB von den Aufwendungen für Schwangerschaftsabbrüche freigestellt. Darum ist sicher nicht zu befürchten, daß es zu Beitragserhöhungen kommt. Obwohl das Bundesministerium für Gesundheit seinen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leisten mußte, werden die Ausgabenschwerpunkte der vergangenen Jahre beibehalten. Ich darf hier drei Punkte anführen, die zum Teil auch schon von Minister Seehofer angesprochen worden sind. Erstens. Der neue Titel: Zuschüsse zu Forschungsvorhaben gegen neue Infektionskrankheiten in Höhe von 2 Millionen DM. Ich glaube, angesichts der Entwicklung zur Aids-Krankheit ist gerade die methodische Verbesserung der Früherkennung von neuen Infektionskrankheiten - ich denke hier z. B. an den Erreger des sogenannten Rinderwahnsinns - von ganz großer Bedeutung. ({2}) Zweitens. Die Förderung der medizinischen Qualitätssicherung wird von 3 auf 5 Millionen DM erhöht. Hier geht es um Wirtschaftlichkeit, um Qualität und auch darum, medizinisch nicht notwendige Leistungen nicht mehr zu akzeptieren sowie durch ein Qualitätssicherungsprogramm Falschbehandlungen von Patienten über Jahre hinweg zu verhindern. Ich denke, was auch schon angesprochen worden ist, an die Röntgen- und Strahlenbehandlung. Beispiele gibt es ja genug. Eines ist genannt worden. Sage und schreibe gibt es in Deutschland im Jahr nahezu 100 Millionen Röntgenaufnahmen. Dies ist wirklich des Guten zuviel. Drittens. Auf dem Gebiet der Psychiatrie wurde das hohe Niveau der Ausgaben nahezu gehalten. Hier wird in erster Linie der immer noch schlechte Zustand der Psychiatrie in den neuen Ländern mit der Förderung von Modellen in der Höhe von nahezu 9 Millionen DM deutlich verbessert. ({3}) Der Kollege Kahl wird nachher dazu noch weitere Ausführungen machen. Sie sehen also, in diesem Sparhaushalt werden durchaus noch sinnvolle Akzente gesetzt. Lassen Sie mich nun kurz noch zu einem erfreulichen Kapitel kommen und gleichzeitig zu einem großen Lob an die Adresse von Minister Horst Seehofer: Krankenkassen wieder gesund. Im ersten Halbjahr 3 Milliarden DM Überschuß - Seehofers Erfolg. So lautet es - wörtliches Zitat - in der kritischen Presse; z. B. auch in der „Süddeutschen Zeitung". ({4}) Die Maßnahmen des Gesundheits-Strukturgesetzes, bei dem Sie, Herr Kollege Thomae, und die SPD mitgearbeitet haben - ich billige Ihnen das gern zu - greifen. Die vorschnellen Kritiker, die zum größten Teil nur auf ihren eigenen Profit aus waren, sind kleinlaut geworden. ({5}) - Ich meine nicht Sie persönlich. ({6}) Trotz mehr Wirtschaftlichkeit und erheblicher Sparmaßnahmen ist das hohe medizinische Versorgungsniveau erhalten geblieben. Horst Seehofer, Herr Kollege Kirschner, hat Spielräume für Beitragssenkungen geschaffen, und damit hat er auch einen Beitrag zur Senkung der allzu hohen Lohnzusatzkosten geleistet. Jetzt gilt es, die Einsparerfolge dauerhaft abzusichern und neue Begehrlichkeiten im Bereich der Krankenkassen im Keim zu ersticken. ({7}) Der Sparkurs darf nicht geändert werden. Lassen Sie mich noch ein kurzes Wort zur aktuellen Diskussion über Sonderabgaben für bestimmte Risikogruppen - Tabak, Alkohol und besonders gefährliche Sportarten - sagen. Hier werden Probleme angesprochen, die nur sehr schwer zu lösen sein werden. Wo beginnt man, wo hört man auf? Wie kann ein Bonus-/Malus-System aussehen? Wer stellt fest, welche Menge von Zigarettenkonsum gesundheitsschädigend ist? ({8}) Fragen über Fragen! Wir wären gut beraten, uns zusammenzusetzen und zu überlegen, wie wir im Rahmen der dritten Stufe der Roland Sauer ({9}) Gesundheitsreform zu einer vernünftigen Stärkung präventiver Maßnahmen gelangen können. ({10}) Darüber hinaus - das gefällt vielleicht manchen jetzt nicht, ich sage es aber trotzdem - sollten wir uns aber auch Gedanken machen, wie wir gemeinsam zu einem praktikablen gesetzlichen Nichtraucherschutz kommen können. ({11}) Ein Vorschlag, lieber Kollege Hofacker, liegt auf dem Tisch. ({12}) Dabei geht es nicht darum, den Raucher an den Pranger zu stellen, wie es in verschiedenen Ländern der Fall ist, sondern es geht darum, dem Nichtraucher, dem Passivraucher, der durch das Rauchen durchaus einer gesundheitlichen Schädigung ausgesetzt ist, zu helfen und ihn zu schützen. ({13}) Ein letztes Wort als drogenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion zum Kapitel Drogen- und Suchtmittelmißbrauch. Trotz der aktuellen Finanznöte ist der Ansatz mit über 50 Millionen DM erhalten geblieben. Dies ist auch angesichts der nach wie vor hohen Zahl von Drogenabhängigen in Deutschland dringend geboten. Es gibt nun Stimmen, die die gesamte bisherige Drogenpolitik der Bundesregierung und der CDU/CSU, die auf Abstinenz fußt, in Frage stellen. Forderungen nach breit angelegter Substitution, nach Heroinabgabe und sogar nach Legalisierung weicher und harter Drogen werden immer lauter. Die Freigabe von Drogen kann nicht das Ziel der CDU/CSU sein, die Ächtung von Drogen ist unsere Drogenpolitik. ({14}) Es bleibt aber nüchtern festzustellen: Es gibt weder einen Königsweg noch Patentrezepte. Das Drogenproblem ist begrenzbar; aber es wird - wie das Problem des Alkoholmißbrauchs nicht lösbar sein. Die Drogenpolitik, die wir durchgesetzt haben und die auch im nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan festgelegt ist, fußt auf drei gleichwertigen Bereichen: Prävention und Prophylaxe, das Angebot von Therapieplätzen und differenzierten Therapieformen sowie repressive Maßnahmen gegen die Dealer und gegen das organisierte Verbrechen. ({15}) Zu diesem letzten Punkt möchte ich nichts sagen; das ist Sache der Innenpolitiker und der Rechtspolitiker. Eine verantwortungsvolle Drogenpolitik muß versuchen, einen Einstieg in die Droge durch Prävention zu verhindern, den bereits Süchtigen zu helfen und die Drogenkarrieren schnell zu beenden. ({16}) Unser Ziel bleibt ein drogenfreies Leben. Dies müssen wir gerade der jungen Generation klarmachen. Lassen Sie es mich klar sagen: wir machen Experimente mit der Legalisierung von weichen und harten Drogen und mit der Heroinabgabe an Schwerstabhängige nicht mit. Wir bauen auf die drogenfreie Therapie. Therapieplätze müssen ausgebaut werden. Es ist ein Skandal, daß in SPD-geführten Ländern, wie z. B. in Hamburg und auch in NordrheinWestfalen, ({17}) zu wenig Therapieplätze vorhanden sind, aber großes Geschrei um Substitutionsprogramme, Heroinabgabe und Legalisierung von weichen und harten Drogen gemacht wird. Wir machen diesen Weg nicht mit. ({18}) Für uns gibt es keine Kapitulation vor den Drogen. Wir sehen auch keinen Anlaß zu resignieren. Wir führen den Kampf gegen die Drogen. Wir bitten Sie im Interesse der Drogenabhängigen und ihrer Familien und Angehörigen, mit uns diesen Weg zu gehen und nicht zu versuchen, mit Drogen Drogenabhängige ruhigzustellen, von der Straße wegzubekommen, sondern sie in eine drogenfreie Therapie überzuführen. Herzlichen Dank. ({19})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Sauer, ich habe nichts dagegen, wenn Sie noch bereit sind, eine Frage von Dr. Menzel zu beantworten.

Roland Sauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001922, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte schön, Herr Dr. Menzel.

Dr. Bruno Menzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001474, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, darf ich aus dem, was Sie im Zusammenhang mit den drei Säulen Ihrer Drogenpolitik gesagt haben, entnehmen, daß Sie bereit sind, anzuerkennen, daß Drogensüchtige kranke Menschen sind, und darf ich daraus ferner entnehmen, daß Sie bereit sind, Strafmaßnahmen gegen diese Menschen in Zukunft nicht unbedingt zu fordern? ({0})

Roland Sauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001922, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Menzel, in der Kürze der Zeit konnte ich natürlich nicht ausführlich über die Drogenproblematik sprechen. Aber wenn Sie mich schon öfters hier gehört haben, dann wissen Sie, daß ich immer sage, Drogenabhängige sind kranke Menschen, wir dürfen sie nicht stigmatisieren, wir dürfen sie nicht kriminalisieren. ({0}) Aber, Herr Kollege Menzel, schauen Sie in die offene Drogenszene unserer Großstädte! Wir dürfen natürlich auch den dritten Punkt, Repression und auch Strafmaßnahmen gegen kriminelle Drogendealer, nicht vernachlässigen. ({1}) Roland Sauer ({2}) i Wir müssen jungen Drogenabhängigen helfen, aber wir müssen mit der Härte des Gesetzes gegen Dealer, ihre Bosse und Kartelle vorgehen, die unsere junge Generation verführen. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Dr. Menzel, da Sie jetzt ohnehin dran sind, können Sie am Mikrofon stehenbleiben und von dort aus mit Ihren Darlegungen fortfahren. ({0})

Dr. Bruno Menzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001474, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das heutige Thema ist der Haushalt und nicht unbedingt die Drogenpolitik. ({0}) Deswegen will ich auf eine weitere Diskussion jetzt verzichten. Es ist uns allen bekannt, daß es in Zeiten knapper Haushaltsmittel wichtig ist, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln Schwerpunkte zu setzen. Die Arbeit der vergangenen Jahre darf den Sparzwängen nicht zum Opfer fallen. Das gilt natürlich auch für den Haushalt des Bundesministeriums für Gesundheit, der im Jahr 1994 gegenüber 1993 immerhin um 20 % geringer ausfallen soll. Er findet gleichwohl die Zustimmung der F.D.P.-Bundestagsfraktion, da es trotz dieses Kürzungsvolumens weitestgehend gelungen ist, in der Gesundheitspolitik auch im Jahr 1994 wichtige Akzente zu setzen. Lassen Sie mich kurz auf einige Punkte eingehen. Der Bundesgesundheitsminister, Herr Seehofer, hat vorhin vorgetragen, welche Probleme es bei den aidsinfizierten Blutern gibt. Ich denke, die Politik tut gut daran, hier ihre Handlungsfähigkeit zu beweisen. ({1}) Die Unterstützung der F.D.P.-Fraktion für die Bereitstellung des Geldes kann ich zusichern. ({2}) Diesen Menschen muß geholfen werden. Die Mittelkürzungen im Bereich der Aidsbekämpfung scheint daher auf den ersten Blick ein falsches Signal zu sein, denn ein Nachlassen im Bemühen, die Immunschwächekrankheit im Bewußtsein der Bevölkerung wachzuhalten, wäre ein schwerer Fehler. Ich weiß, daß man dies im Ministerium ebenso sieht und aus diesem Grunde der Prävention und Aufklärung im Rahmen der Möglichkeiten auch weiterhin breiten Raum schenkt. Der Grund für die Minderung ist vielmehr darin zu suchen, daß nunmehr auch die Länder ihren Verpflichtungen im Bereich der Aidsbekämpfung verstärkt nachkommen müssen. ({3}) Für ausgesprochen wichtig halte ich es in diesem Zusammenhang, daß wir eine Sonderleistung von 5 Millionen DM für die neuen Bundesländer eingeplant haben, denn hier sind vor dem Hintergrund der präventiven Infrastruktur besondere Anstrengungen nötig. ({4}) Die knapp 12 Millionen DM, die der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung auch im kommenden Jahr wieder zur Verfügung stehen, sollten in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben. ({5}) Andere Bereiche, wie die Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgung chronisch Kranker sowie auf dem Gebiet des Drogen- und Suchtmittelmißbrauchs, bleiben weitgehend unverändert. Wichtig erscheint mir darüber hinaus, daß auch im kommenden Jahr Mittel für Modelle für die psychiatrische Versorgung zur Verfügung stehen. Ich denke, das alles ist Ausdruck der gesundheitspolitischen Bedeutung, die diesen Themen auch in Zukunft beigemessen werden wird. Die Verdoppelung des Ansatzes für die Erprobung von Modellmaßnahmen im Bereich der Förderung der medizinischen Qualitätssicherung ist hier schon mehrfach erwähnt worden. Ich denke, Qualitätssicherung wird in der Zukunft eine zunehmende Bedeutung haben. Deswegen ist die Zuwendung von 3 Millionen DM, mit denen das Gesundheitswesen in den neuen Bundesländern gefördert wird, von ganz besonderer Bedeutung; denn die medizinische Versorgung der Bevölkerung in Ostdeutschland hat sich zwar deutlich verbessert, erreicht jedoch immer noch nicht überall westdeutschen Standard. Meine Damen und Herren, in einer gesundheitspolitischen Debatte, in der zudem vom Sparen die Rede ist, kommt man sicherlich nicht am GesundheitsStrukturgesetz vorbei. Trotz zum Teil schwerwiegender ordnungspolitischer Bedenken unsererseits ist es mit Hilfe der staatlichen Steuerungsinstrumente doch immerhin gelungen, die sich in den letzten Jahren verschärfende Finanzierungskrise der gesetzlichen Krankenversicherung einigermaßen in den Griff zu bekommen. ({6}) Ich denke, sie befindet sich nicht mehr auf der Intensivstation, sondern sie ist jetzt auf einer normalen Station. Das war eines der Ziele, und dafür gebührt allen Beteiligten Dank. Ich denke dabei weniger an die politisch Handelnden als vielmehr an die große Mehrzahl der Leistungserbringer, die nach anfänglichem und durchaus verständlichem Zögern und Widerständen auch unter veränderten Rahmenbedingungen großes Engagement aufgebracht haben, die medizinische Versorgung der Bevölkerung auch weiterhin auf einem so hohen Niveau zu halten. ({7}) Aber, meine Damen und Herren, die Tatsache, daß die GKV nach einem Defizit im Jahre 1992 von mehr als 9 Milliarden DM nun einen Überschuß von 2,6 Milliarden DM in ihren Kassen hat, soll nicht dazu verführen, die Weiterentwicklung unseres Gesundheitswesens aus den Augen zu verlieren oder gar - wie leider in letzter Zeit häufiger zu hören war - laut darüber nachzudenken, wie den Krankenkassen neue Leistungen aufgebürdet werden können, wie etwa die Anschubfinanzierung der Pflegeversicherung. ({8}) oder die Kostenübernahme der Behandlungspflege in Pflegeheimen. ({9}) Die Krankenkassen brauchen jetzt diese Zeit der Konsolidierung - nicht zuletzt, um sich den Anforderungen der Zukunft stellen zu können. Eine Ausweitung des Leistungskatalogs wäre kontraproduktiv. Daher muß ich diesen Überlegungen im Namen der F.D.P.-Fraktion eine deutliche Absage erteilen. ({10}) Wir müssen diese Atempause gemeinsam nutzen, um die Fehlentwicklungen, die durch das GSG leider auch hervorgerufen wurden, zu analysieren und unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse über die Zukunft unseres Gesundheitssystems nachzudenken. Auf keinen Fall dürfen die interventionistischen Maßnahmen über den vorgesehenen Zeitraum hinaus ausgedehnt werden. Vielmehr gilt es, den Schwerpunkt aller Anstrengungen auf die Umsetzung der im GSG beschlossenen strukturverändernden Maßnahmen zu legen. ({11}) Ich denke da z. B. an den Krankenhausbereich. Vereinbart haben wir gemeinsam, daß das Selbstkostendeckungsprinzip zugunsten flexiblerer marktwirtschaftlicher Regelungen abgeschafft wird. Anreize zu wirtschaftlicherem Handeln müssen vorhanden sein und in der noch ausstehenden Bundespflegesatzverordnung konsequent umgesetzt werden. Eine Selbstkostendeckung durch die Hintertür sollte es mit uns nicht geben. ({12}) Mit Budgetierungen, Zulassungsbeschränkungen und Preismoratorien jedenfalls wird die Zukunft unseres Gesundheitssystems nicht zu retten sein. ({13}) Es freut mich, daß das, so glaube ich, auch im Gesundheitsministerium so gesehen wird. ({14}) - Ich bin immer ein vorsichtiger Mensch gewesen. Für die F.D.P. stellt sich daher die Frage, in welcher Ausgestaltung das System der lohnabhängigen Beitragszahlung in der GKV auf lange Sicht aufrechtzuerhalten sein wird. Demographische Entwicklung, medizinischer Fortschritt und eine seit Jahren sinkende Lohnquote werden die Situation weiter verschärfen. Der konsequente Weg wäre daher der Übergang zu einem kostendeckenden Einheitsbeitrag, der durch entsprechende steuerfinanzierte Zuschüsse sozial flankiert würde. ({15}) - Das erzähle ich Ihnen noch ganz genau. - Die Einkommensumverteilung würde damit von der GKV dorthin verlagert, wo sie hingehört, in den Steuerbereich. ({16}) - Wir werden ja sehen, was dabei herauskommt. - Was wir aber in jedem Fall und möglichst rasch brauchen, ist mehr Flexibilität und Eigenverantwortung im Gesundheitswesen. Beitragsrückgewähr, Kostenerstattung auch für Pflichtversicherte und modifizierte Eigenbeteiligungsmodelle weisen die Richtung. Die Reihe von Vorschlägen ließe sich fortführen. ({17}) Meine Damen und Herren, ich habe mir erlaubt, im Rahmen dieser Debatte einige vorwärtsweisende Gedanken zu äußern. ({18}) - Wir brauchen uns jetzt nicht abschließend darüber zu einigen, Frau Kollegin, aber wir werden in dieser Richtung sicherlich noch gemeinsam lebhaft diskutieren. Betonen möchte ich abschließend trotzdem: Ziel aller am Gesundheitswesen Beteiligten muß in jedem Falle sein, unser qualitativ hochwertiges System der Gesundheitsversorgung auch über die Jahrtausendwende hinaus finanzierbar und leistungsfähig zu erhalten. Die F.D.P. wird sich dieser Verantwortung mit Sicherheit stellen. Vielen Dank. ({19})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Barbara Höll.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch für das Jahr 1994 bleibt der Bund bei seinem nun schon gewohnten, nichtsdestoweniger absolut inakzeptablen Minimalengagement in Sachen Gesundheit. Wer jedoch gedacht hatte, der Etat des Gesundheitsministers mit einem Anteil am Gesamthaushalt von etwa 0,2 % ließe sich nun wirklich nicht mehr reduzieren, sieht sich eines Besseren belehrt. Mit einer Zusammenstreichung um sage und schreibe 20 % ist der Einzelplan 15 der am meisten gekürzte Teilhaushalt. ({0}) So ist auch dieser Plan Teil des bisher unverschämtesten Angriffs auf die sozialen Rechte der Menschen dieses Landes. Er ist Teil jener radikalen Politikkorrektur, mit der der westdeutsche Wohlfahrtsstaat zurückgerollt werden soll, nachdem seine spezifische Schaufensterfunktion nach Osten überflüssig geworden ist. ({1}) Hauptursache für die Kürzung ist der jetzt vorgesehene Wegfall der bisher üblichen und gesetzlich geregelten Erstattung von Mutterschaftsgeld an die Krankenkassen im Umfang von jährlich 210 Millionen DM. Im Entwurf des Zweiten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms heißt es dazu lapidar: Die angespannte Haushaltslage des Bundes läßt die Weiterzahlung der Mutterschaftspauschale in Höhe von 400 DM je Leistungsfall an die Krankenkasse nicht mehr zu. Und weiter: Durch die Einstellung der Leistung des Bundes wird der durchschnittliche allgemeine Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung nur unwesentlich belastet. Demgegenüber muß unmißverständlich festgestellt werden: Hier entledigt sich der Staat völlig unverhüllt und mit nicht mehr zu überbietender Unverfrorenheit einer seiner ureigensten sozialen Verpflichtungen. Die entstehenden Lasten werden eiskalt auf die Solidargemeinschaft der Versicherten, also auf die Beitragszahler, abgewälzt. Besonders schlimm finde ich dabei auch, daß gerade diejenigen, die ansonsten den staatlichen Schutz des ungeborenen Lebens so lautstark einfordern, sich jetzt nicht scheuen, einen ohnehin nicht übermäßig großzügigen Beitrag des Staates zum Schutze des geborenen Lebens ersatzlos zu streichen. ({2}) - Von seiten des Staates ist es gestrichen, weil es die Krankenkassen zahlen. ({3}) Man muß es schon sagen: Auch dieses Maß an Heuchelei ist kaum zu überbieten. ({4}) Am Rande sei vermerkt, daß es in diesem Fall die nach den jüngsten schwerwiegenden Eingriffen durch das Gesundheits-Strukturgesetz gerade wieder etwas günstigere finanzielle Situation der gesetzlichen Krankenkassen ist, die der Bund mit beträchtlicher Dreistigkeit nutzt, um sein eigenes soziales Engagement einzustellen. ({5}) Die Versicherten wie die Leistungsanbieter, denen das Gesundheits-Strukturgesetz nicht geringe Opfer abverlangt, werden das gewiß nicht ohne Verbitterung registrieren. ({6}) Stellen Sie mir eine Frage, wenn Sie etwas wissen möchten. Aber selbst wenn man die Streichung des staatlichen Zuschusses zum Mutterschaftsgeld außer Betracht läßt, ist mit dem vorgelegten Einzelplan 15 nicht einmal eine Nullwachstumsrunde angesagt. Anders ausgedrückt: Bei Berücksichtigung der Preissteigerungsrate bringt dieser Haushalt auch eine deutliche Verringerung der unmittelbar für Gesundheitszwecke bereitgestellten Mittel. Der generelle Rotstiftkurs für das Gesundheitswesen findet damit auch im Bundeshaushalt seinen Niederschlag. Und das heißt bei 800 Millionen DM, die der Haushalt insgesamt beinhaltet, real: 10 DM pro Bundesbürger oder -bürgerin in diesem Jahr und im nächsten Jahr. Aber das soziale Grundproblem einer für alle gleichermaßen zugänglichen, qualitativ hochstehenden und weiterhin bezahlbaren medizinischen Versorgung ist mit dem Instrumentarium brutaler Mittelstreichungen natürlich nicht zu lösen. Hier kann nur wiederholt werden: Dazu bedarf es unausweichlich einer anderen Gesundheitspolitik, eines anderen Geistes der Medizin und einer Strukturreform im Gesundheitswesen, die diesen Namen tatsächlich verdient. ({7}) Zu den Auswirkungen der Kürzungen nun ein besonders erschreckendes Beispiel. Ganz offensichtlich bestand - zuletzt auch auf dem Weltkongreß für HIV und Aids in Berlin immmer wieder herausgestellt - parteiübergreifender Konsens dahin gehend, daß in den Anstrengungen zur Aids-Bekämpfung keinesfalls nachgelassen werden darf. Dessenungeachtet ist die entsprechende Titelgruppe 12, in der die Mittel für einschlägige Aufklärungs- und Bekämpfungsmaßnahmen, aber auch für Forschungs- und Entwicklungsvorhaben enthalten sind, gleich um ein ganzes Drittel reduziert worden. Als einziges neu aufgenommen wurde ein notwendiger Zuschuß zur Erforschung anderer, neuartiger Infektionskrankheiten. Darüber hinaus besetzt der Einzelplan 15 keinerlei Spielraum, um neue Aufgaben innovativ angehen zu können. Ich erinnere nur an die dringend erforderliche Förderung von Forschungen zur gesundheitlichen Umweltbelastung von Kindern. Noch eine abschließende Bemerkung zu den Ausführungen von Herrn Sauer. Bei der Einführung eines gesetzlichen Nichtraucherschutzes werden Sie unDr. Barbara Höll sere Unterstützung haben. Das sage ich auch als Raucherin. ({8}) Aber vielleicht sollte Ihre Fraktion beispielhaft vorangehen, indem sie z. B. ein allgemeines Verbot der Zigaretten- und Alkoholwerbung tatsächlich schnell durchsetzt. ({9}) Bei der gesamten Diskussion um Risikogruppen oder besonders gefährliche Sportarten- vielleicht Radfahren oder Auto fahren - halte ich es für ziemlich gefährlich, daß man hier versucht, eine Aufspaltung durchzusetzen. Unsere Aufgabe sollte in erster Linie Aufklärung sein, aber andererseits sollten die durch die Politik ermöglichten Mittel so eingesetzt werden, um in dieser Hinsicht tatsächlich wirken zu können. Ich denke, wir haben genug aktuelle Aufgaben, was z. B. die Beschriftung von Lebensmitteln betrifft oder eine solche Verkehrspolitik, die es mir erlaubt, gefahrlos radzufahren und nicht aus Gefährdungsgründen aufs Auto umsteigen zu müssen. Ich bedanke mich. ({10})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Harald Kahl.

Dr. Harald Kahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte es mir und Ihnen ersparen, auf das eben Vorgetragene einzugehen. Ich glaube das, was wir von Frau Höll gehört haben, kommentiert sich in weiten Passagen selbst. ({0}) Der Haushalt 1994 ist ein Sparhaushalt. Somit ist es nur zu logisch, daß auch der Einzelplan 15 davon betroffen wird. Dennoch meine ich, die Schwerpunkte des Einzelplans haben nur geringfügige Kürzungen erfahren. Im Falle der medizinischen Forschung, bei der medizinischen Qualitätssicherung und den internationalen Verpflichtungen Deutschlands, so beispielsweise dem Beitrag zur Weltgesundheitsorganisation, werden die Mittel zum Teil erheblich aufgestockt. Aus der Sicht eines Abgeordneten aus den neuen Bundesländern bietet der vorgelegte Haushalt die Gewähr dafür, daß das Niveaugefälle zwischen dem ost- und westdeutschen Gesundheitswesen weiterhin spürbar abgebaut wird. ({1}) Mit der Übernahme des gegliederten Krankenversicherungssystems ist dazu schon ein wesentlicher Beitrag geleistet worden. Ärzte, Zahnärzte und Apotheker stehen an der Spitze der freiberuflichen Existenzgründungen in Ostdeutschland. ({2}) Schon heute nehmen Vertragsärzte 80 % der gesamten ambulanten Versorgung wahr, während die ehemals traditionell dominierenden Erbringer ambulanter Leistungen, die Polikliniken, auf einen Anteil von 10 % schrumpften. Die Arzneimittelversorgung in den neuen Bundesländern ist bereits jetzt flächendekkend im gleichen Umfang und auf gleichem Niveau wie in den alten Bundesländern abgesichert. Fast 93 % aller ehemals staatlichen Apotheken sind bereits privatisiert. ({3}) Ich meine, das sind Erfolge, die sich angesichts der Kürze der Zeit durchaus sehen lassen können. ({4}) In den Krankenhäusern wurde das Soforthilfeprogramm der Bundesregierung in Höhe von 520 Millionen DM zusätzlich zu den anderen Hilfen und vornehmlich bei der technischen Ausstattung kurzfristig und ohne große Schwierigkeiten umgesetzt. So stieg die Zahl der Großgeräte im Zeitraum von 1991 bis 1993 von 141 auf 308 an, was sich nachhaltig auf die Verbesserung der stationären medizinischen Betreuung auswirkt. Noch immer ist der Nachholbedarf beim Bauzustand der Krankenhäuser immens, wenngleich auch hier die Bundesregierung aus der Investitionspauschale im Rahmen des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost 5,3 Milliarden DM und weitere Investmittel aus dem kommunalen Kreditprogramm bereitstellte. Meine Damen und Herren, trotz aller Erfolge bei der Krebsbekämpfung steht diese Erkrankung noch ganz oben in der Liste der Erkrankungshäufigkeit. Der Mittelansatz von 51,2 Millionen DM trägt dieser Situation Rechnung und zielt mit Ausgaben von 25,8 Millionen DM allein für die neuen Bundesländer darauf hin, daß mit dieser überproportionalen Zuweisung für die neuen Bundesländer einerseits der Aufbau neuer Versorgungseinrichtungen, andererseits auch die Angleichung des onkologischen Versorgungsniveaus an die Verhältnisse in den alten Bundesländern gefördert werden soll. ({5}) Schwerpunkte bilden hierbei der Einsatz neuer Diagnose- und Therapieverfahren in den Tumorzentren sowie die Förderung von Kooperationsmodellen in Form von fachübergreifender Zusammenarbeit zwischen stationär tätigen und niedergelassenen Ärzten. Zur Verbesserung der Situation krebskranker Kinder, bei deren Behandlung beispielsweise an der Jenaer Universitätsklinik unter Leitung von Prof. Dr. Zinti international anerkannte Erfolge erzielt werden, ist der Ausbau einer Knochenmark-Spenderdatei, in der die bisherigen Einzelinitiativen bundesweit zusammengefaßt werden, zwingend erforderlich. ({6}) Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die weitere Krebsforschung ist auch die Tatsache, daß nunmehr nach jahrzehntelanger Geheimhaltung in der ehemaligen DDR bundesweit die Informationen aus dem damaligen Krebsregister einer Auswertung zugeführt werden können. Die SED-Machthaber hielten dieses Register streng geheim, weil sie befürchteten, daß die Gesundheitsdaten, vornehmlich die der Wismut-Angehörigen, die ca. 6 000 Krebserkrankungen auswiesen, für Unruhe in der Bevölkerung hätten sorgen können. ({7}) So etwas hätte das Lügengebilde von dem Vorzeige-gesundheitswesen der DDR genauso erschüttert, wie es nach der Wende beim direkten Niveauvergleich mit dem westdeutschen Gesundheitswesen geschah. ({8}) Insgesamt gesehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann man sich angesichts dieses Einzelplans für die Ausgaben im Gesundheitswesen nur den unlängst von Minister Seehofer gebrauchten Worten anschließen: „Wir sparen am Überflüssigen und an der Verschwendung. Dafür garantieren wir das Notwendige". ({9}) Ich möchte ergänzen: Dieses Notwendige ist dazu noch mit den klaren Schwerpunktsetzungen vor allem im Gesundheitswesen der neuen Bundesländer, aber auch im Bereich der Krankheits- und Therapieforschung definiert. Wenn wir diesen Weg in Zukunft weiter beschreiten - das Gesundheits-Strukturgesetz war dazu ein wichtiger, unerläßlicher erster Schritt -, können wir auch künftig Ausgaben beschränken, ohne an den medizinischen Versorgungsleistungen, die notwendig sind, zu sparen. Wir können diese medizinischen Versorgungsleistungen in der Weise realisieren, wie sie notwendig sind. Ich danke. ({10})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Kollege Dr. Knaape.

Dr. Hans Hinrich Knaape (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ohne Zweifel verlangt die gegenwärtige Finanzlage auch Einsparungen im Haushalt des Bundesministers für Gesundheit. Aber man wird fragen dürfen: Muß man deshalb offensichtliche Mängel im Zuständigkeitsbereich des Ministers auch noch konsolidieren? Wenn für den Haushalt gilt - ich zitiere Herrn Finanzminister Waigel - er spart, „nicht zu Lasten der Konjunktur", dann darf er auch nicht zu Lasten der medizinisch Hilfebedürftigen gehen. Jene Bürger, die ohne unsere Einflußnahme Gefahr laufen, aus den zwischenmenschlichen Beziehungen gedrängt zu werden, bzw. in der Gesellschaft überhaupt nicht Fuß fassen können, müssen auch in Zeiten des Sparens beachtet werden; dies um so mehr, damit die Vernachlässigung sich nicht in den kommenden Jahren ausgabensteigernd in den Haushalten niederschlägt. Drei Aufgabenbereiche, die heute schon diskutiert worden sind, möchte ich ansprechen. Erstens. Wenn der Gesundheitsminister an anderer Stelle betont, daß sich in den neuen Ländern die Umstellung auf die Strukturen der alten Länder schnell und bei deutlicher Verbesserung in der medizinischen Versorgung vollzogen habe, so ist das für die Ärzte in freier Niederlassung zutreffend. Allerdings ist nicht zu übersehen, daß viele ärztliche Kollegen genötigt waren, in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen. Für die Entwicklung der Krankenhäuser ist bundesseitig langfristig finanziell gesorgt. Dies soll nachdrücklich hervorgehoben werden, wenn auch die Länder jetzt schon wieder offenbar andere Tendenzen erkennen lassen. Aber in einem Bereich hat der Umbruch zu erheblichen Verwerfungen in der Krankheitsbehandlung, Sozialbetreuung und Rehabilitation geführt. Ich spreche von der Psychiatrie in den neuen Bundesländern. Hier bot ein Betreuungssystem - es war nicht optimal, aber eingespielt und vor Ort variabel - schnelle Hilfe. Diesem Betreuungssystem für die psychisch Kranken wurde nach der Wiedervereinigung der Boden entzogen. Das, was in der Bundesrepublik noch immer nicht umgesetzt wurde, die sozialrechtliche Gleichstellung von psychisch kranken mit somatisch kranken Menschen, schlug voll auf die neuen Länder durch. Es wäre zu einfach, sich seitens des Gesundheitsministers damit herauszureden, dies falle in die Kompetenz der Länder. Man könne dieses Problem deshalb nicht lösen. Der Bund ist insgesamt für die Reform der Psychiatrie zuständig, da erstens in diesem Bereich Angelegenheiten durch die Gesetze in den einzelnen Ländern nicht wirksam genug geregelt werden können, zweitens die Gleichheit der Lebensverhältnisse von psychisch Kranken in allen Ländern zu gewährleisten ist und drittens der Bund für die wesentlichen Leistungsgesetze zuständig ist. Was, so werden Sie erwidern, will er? Im Haushaltsplan 1994 sind die Zuwendungen für Institutionelle Förderungen gegenüber 1993 erheblich aufgestockt worden. Das haben Sie, Herr Gesundheitsminister, hervorgehoben und betont. Die Höhe dieses Betrages ist der dringlichen Notwendigkeit aber nicht angemessen - dies insbesondere, da auch bei der Projektförderung und der Förderung von Modellen auf dem Gebiet der psychiatrischen, psychotherapeutischen und psychosomatischen Versorgung, also in anderen Bereichen, gegenüber 1993 Streichungen und Absenkungen erfolgten. Hinderlich für die Entwicklung der Psychiatrie ist in den neuen Ländern ferner, daß der Bund - dies ist Ihr Bazillus - sich jeweils nur für drei Jahre für die Förderprogramme finanziell als zuständig erachtet und dann diese angeschobenen Maßnahmen in ihre Selbständigkeit entlassen werden, die aber vor Ort in den neuen Ländern nicht erreicht wird. Man darf doch nicht übersehen, daß in den neuen Ländern eine völlig andere Situation gegeben ist, als sie zur Zeit der Psychiatriereform in den alten Bundesländern gegeben war. Das ist das Ausschlaggebende. Die Programme laufen nur weiter, wenn sie weiter angeschoDr. Hans-Hinrich Knaape ben werden. Fünf Jahre wäre das mindeste; darüber muß man diskutieren. ({0}) Es kann nicht einfach übernommen werden, was sich in den alten Bundesländern als gut erwiesen hat und was in den neuen Bundesländern dann nicht läuft. Andere Situationen erfordern andere Verhältnisse. Darüber muß man sprechen, und dann muß man notfalls die vorgefaßten Meinungen oder Ansichten revidieren. ({1}) Zweitens. Ein weiteres Problem im Haushalt sind die Suchtkranken. Der Bundesminister erkennt richtig, daß die Prävention von Drogenmißbrauch besonders bei den jüngeren Altersgruppen der Bevölkerung Zuwendung bedarf. Wenn sich die Zuwendung wieder in einer in ihrer erzieherischen Wirkung fragwürdigen großflächigen Plakatierung zeigt, bei einer Absenkung der Zuschüsse an die in der Prävention vor Ort erfahrenen Einrichtungen und Verbände der Drogenhilfe aber gespart wird, so wird man fragen, ob diese Verteilung einerseits und die Höhe der aufgewandten Mittel andererseits der drängenden Annäherung an eine Lösung des Problems entsprechen. Das, Herr Sauer, was Sie gesagt haben, zeigt, daß Sie in Ihrer Drogenpolitik vernagelt sind. Auch sollen nur die erfolgreichsten Modelle qualifizierter Entzugsbehandlungen und sozialer Eingliederung weitergeführt werden - wiederum eine Streichung in diesem Bereich. Ebenso muß nach unserer Auffassung im Forschungsbereich auf dem Gebiet des Drogen- und Suchtmittelmißbrauchs nicht nur in der Prävention, sondern auch im Bereich der Erforschung neuer therapeutischer Zugangswege zum Suchtkranken, was Herr Menzel ja deutlich hervorgehoben hat, und im Bereich der Führung in von Suchtkranken kritischen Phasen der Sucht investiert werden. ({2}) Erfahrungen mit neuen therapeutischen Zugangswegen, auch unter dem Einsatz von Drogen, sind notwendig, nicht eine Legalisierung von Drogen. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Sind Sie bereit, eine Frage zu beantworten?

Dr. Hans Hinrich Knaape (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Sauer, bitte schön.

Roland Sauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001922, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Knaape, habe ich Sie richtig verstanden? Sie sagten, die Mittel für die Drogenhilfen wären zurückgegangen.

Dr. Hans Hinrich Knaape (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Roland Sauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001922, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann darf ich Sie fragen: Haben Sie das einmal im Haushaltsplan nachgelesen? - Wenn Sie dies getan hätten, dann hätten Sie festgestellt, daß die Mittel für den Drogen- und Suchtmittelmißbrauch sogar um 20 000 DM erhöht worden sind. ({0}) - Entschuldigung, wenn er sagt, die Mittel gehen zurück: Das ist mehr und nicht weniger. ({1})

Dr. Hans Hinrich Knaape (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich nehme diesen Betrag, den Sie genannt haben, zur Kenntnis. Er ist an sich zu lächerlich, um dazu so eine Frage zu stellen. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Sauer möchte noch einmal nachfragen. Bitte sehr, Herr Abgeordneter Sauer.

Roland Sauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001922, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dr. Knaape, ich frage Sie: Ist Ihnen bekannt, daß wir 50,8 Millionen DM für dieses Kapitel bereitstellen?

Dr. Hans Hinrich Knaape (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist mir bekannt, ja. ({0}) Erwähnen möchte ich auch noch, daß nicht wieder durch eine Vorbehaltsklausel der Abruf von Geldern für die Rückkehrhilfe für deutsche Drogenabhängige aus den Niederlanden blockiert wird. Für einen Bürger mit deutscher Staatsangehörigkeit sollte der Bund bei der Rückführung zuständig sein, da der Wohnsitz, in welchem Bundesland auch immer er wäre, meist strittig ist. Nun zu einem dritten Problem: Die Umstellung der ambulanten Versorgung auf niedergelassene Ärzte in eigener Praxis führte zur Auflösung der Polikliniken in den neuen Ländern. Diese medizinische Versorgung durch Polikliniken war durch die Bevölkerung akzeptiert ({1}) und hat auch durch ihre Bündelung ärztlicher, paramedizinischer und sozialfürsorgerischer Versorgungsangebote durchaus Vorteile für die Bürger, besonders für die Senioren mit mehrfachen Beschwerden und Krankheiten, gehabt. ({2}) Wir werden erneut unseren Antrag einbringen, Modellprogramme für die Umstrukturierung der ehemaligen Polikliniken in integrierte Gesundheitszentren zu entwickeln und diese durch eine wissenschaftliche Forschung im Hinblick auf ihre Effektivität ({3}) insbesondere als eventuell richtungsweisende medizinische Einrichtungen der Zukunft zu begleiten. Es dürfte Ihnen vielleicht nicht bekannt sein, daß sich in dem Bereich, für den Herr Menzel auch zuständig ist, in Sachsen-Anhalt, in Magdeburg, ({4}) eine florierende Poliklinik in einem Gebäude der AOK befindet. ({5}) Jetzt in der Diskussion um neue Strukturen der ambulanten Versorgung auch durch die Ärzte müßte der Gesundheitsminister selbst die Initiative ergreifen. Es besteht die Gefahr, daß am falschen Ende gespart wird. Wir müssen uns heute darauf vorbereiten, welche Struktur nach dem Jahre 2000, wenn eine deutliche Zunahme der Senioren in unserer Gesellschaft gegeben ist, optimal für die ambulante, ärztliche und rehabilitative sowie psychosoziale Versorgung ist. Wir erwarten eine konstruktive Diskussion von der Regierungskoalition bei der Haushaltsdebatte im Ausschuß. Auf einige Mängel im Haushaltsplan habe ich hingewiesen. Wenn der Haushalt nach den Worten unseres Finanzministers ein Spar- und Konsolidierungshaushalt sein soll, der nicht zu Lasten der Konjunktur spart, dann müssen wir auch in unserem Bereich, in dem des Gesundheitsministers, nachdenken und übernehmen, was der Konsolidierung der medizinischen Betreuung in den kommenden Jahren, insbesondere nach dem Jahre 2000, dient. Kurzsichtige Streichungen und Auslassungen sowie Verschiebungen sollten, wenn es um das wertvollste Gut unserer Bürger, die Gesundheit, geht, nicht angebracht sein. Wir sollten darüber nüchtern, sachlich und begründet streiten und uns dann nach der Diskussion einigen, so wie wir uns heute auch bei den Hämophiliekranken - wie hier aus dem Auditorium, dem Plenarsaal, zu erkennen war - geeinigt haben. Ich danke Ihnen. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun liegen mir zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Gesundheit keine Wortmeldungen mehr vor. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Ich kann dem zuständigen Minister, Dr. Klaus Töpfer, das Wort erteilen.

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Umweltpolitik in Deutschland im Jahre 1993 ist mehr denn je ein zentrales Element der Strukturpolitik und ist zugleich ein zentrales Element bei der Verzahnung von Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik. Dies ist zum einen besonders deswegen der Fall, weil unsere Umweltpolitik, die Umweltpolitik in einer Marktwirtschaft, dem Verursacher- und Vorsorgeprinzip verpflichtet war, ist und weiter bleiben wird. Dies bedeutet aber im Klartext: Umweltpolitik muß Kosten der privaten Produktion und des Konsums, die gegenwärtig auf die Umwelt, auf kommende Generationen und auf die Dritte Welt abgewälzt werden, wieder zu betrieblichen Kosten machen. Sie muß sie in die Preise hineinbringen. Wir brauchen, wie Ernst Ulrich von Weizsäcker gesagt hat, ökologisch ehrliche Preise. Verursacherprinzip also, nicht Gemeinlastprinzip! Die Qualität einer Umweltpolitik mißt sich an der erfolgreichen Durchsetzung des Verursacherprinzips, so wichtig ergänzende Haushaltsmittel auch sind. Dieses Verursacherprinzip durchzusetzen, also, wenn Sie so wollen, einen Abbau der ökologischen Subventionen zu erreichen, ist natürlich in einer Schwächephase der Wirtschaft schwieriger als in einem wirtschaftlichen Boom. Ökologische Subventionen abzubauen ist schwieriger in einem offenen Weltmarkt, wo stets auch von Arbeitnehmern die Besorgnis geäußert wird, daß weltweit andere Wettbewerber, die nicht mit gleicher Nachdrücklichkeit Umweltpolitik betreiben, dadurch Arbeitsplätze über Umweltdumping anlocken und damit nicht die Umwelt entlasten, sondern nur die Standorte verändern. Diese Argumente, die auf eine Harmonisierung hinzielen, sind ernst zu nehmen. Deswegen müssen wir die Umweltfragen mit in die GATT-Verhandlungen integrieren, um nur ein Beispiel zu nennen. ({0}) Das ist sicherlich eine Lücke in unseren Diskussionen in Rio. Ich bin im Gespräch mit den Kollegen aus den anderen hochentwickelten Industriestaaten, um dies schrittweise abzubauen. Es ist kein Wunder, daß in einer solchen Zeit eine engagierte, eine handelnde Umweltpolitik auch in der Kritik von Wirtschaft und von Gewerkschaftern steht. Dies ist gegenwärtig bei uns der Fall. Manchmal wundert man sich ja, wie weit Wertungen auseinander gehen. Die einen sagen mir, wir würden nicht handeln, nur ankündigen. Die anderen sagen, wir stellten durch unsere Umweltpolitik den Standort Deutschland in Frage. Auf eines sollte sich die Opposition einigen. Ich glaube, wir haben konsequent gehandelt und damit eine gute Chance für den Standort Deutschland geschaffen. ({1}) Wir haben dies auch auf den Prüfstand wissenschaftlicher Analyse gestellt. Ich habe unabhängige sachverständige Institute gebeten, unsere Umweltpolitik auf ihre Arbeitsmarktwirkung zu untersuchen. Es zeigt sich deutlich: Unsere Umweltpolitik in Deutschland hat Arbeitsplätze geschaffen. Gegenwärtig sind 680 000 Menschen in Deutschland von Umweltpolitik abhängig, ({2}) und zwar mit steigender Tendenz. Und dies ist ein Nettoeffekt. Ich betone das, damit man nicht meint, wir hätten das, was durch zu hohe Umweltstandards weggefallen ist, gegenzurechnen vergessen. Gleichzeitig ist Umweltpolitik, ist Umwelttechnik eines der Markenzeichen Deutschlands in der Welt geworden. Wir haben den höchsten Anteil an umwelttechnologischen Exporten. Dem Kanzlerkandidaten der SPD sei gesagt: ({3}) Die Patentbilanz Deutschlands ist gerade bei den Umwelttechnologien mit Abstand führend. Wir haben hier weltweit Maßstäbe gesetzt. Meine Damen und Herren, Umweltpolitik ist im wiedervereinten Deutschland aber auch unmittelbar wesentliches Element einer aktiven Arbeitsmarktpolitik. In den neuen Ländern sind gegenwärtig allein auf der Grundlage des § 249h, den wir ja neu in das Arbeitsförderungsgesetz eingefügt haben, rund 50 000 Menschen unmittelbar mit Umweltsanierung beschäftigt. Wir haben in der letzten Zeit 120 000 Menschen im ABM-Bereich beschäftigt. Ich habe mir persönlich viele dieser Gesellschaften, die sich in Bitterfeld und anderswo damit beschäftigen, nicht nur angesehen, sondern ich habe auch mit den Menschen gesprochen, und ich muß sagen, es ist eine außerordentlich wichtige, für die Volkswirtschaft und für die Zukunft Deutschlands zentrale Arbeit. Ich wehre mich gegen eine Diffamierung dieser Arbeit. ({4}) Weil ich weiß, daß dies einer der Punkte in unserer Diskussion ist, sage ich Ihnen: Im Braunkohlebereich werden bei der Sanierung etwa 15 000 Menschen sinnvoll beschäftigt; 2 bis 3 Milliarden DM pro Jahr werden von Bund und Ländern dafür ausgegeben, Mittel, die nicht in meinem Haushalt erscheinen, die aber zu 75 % vom Bund gezahlt werden. Entscheidend ist, daß wir die Arbeit zur Umweltsanierung machen, und nicht, ob ich mit einen in der Optik besseren Haushalt wünsche. Entscheidend ist der Effekt und nicht die Optik. ({5}) Braunkohlensanierung, sinnvolle Nutzung des § 249h, weitere AB-Maßnahmen - alles das sind Ergebnisse unserer umweltpolitischen Arbeit. Wir werden sie gezielt fortsetzen. Das Ziel ist es, ökologische Subventionen abzubauen. Dabei sind Preise zu verändern, denn Preise verändern Verhalten, und Preise verändern technologische Entwicklungen. Das ist der Weg zu einer ökologischen Marktwirtschaft, und diese ist - davon sind wir fest überzeugt - erfolgreicher als jeder ökologische Dirigismus und jede planwirtschaftliche Überlegung. ({6}) Weltweit, meine Damen und Herren, werden wir als Beispiel für den mutigen Schritt von der Wegwerfgesellschaft zur ökologischen Kreislaufwirtschaft angesehen. Freiwillig haben wir uns als erste auf den Prüfstand einer internationalen Begutachtung durch die OECD gestellt. Das Ergebnis ist öffentlich vorgestellt worden. Es bestätigt nachhaltig unsere führende Rolle in der Bewältigung ökologischer Probleme. Ich sage das nicht mit irgendwelchem überzogenen Selbstbewußtsein, sondern um deutlich zu machen, daß wir die Herausforderung der Ökologie auch in einer Zeit aufgegriffen haben, wo der eine oder andere vielleicht glaubt, es sei nicht die Zeit dafür. Es ist eindeutig klar, daß wir aus der Wegwerfgesellschaft nur herauskommen, wenn wir mit den Produktpreisen auch die Abfallkosten bezahlen, wenn wir Rücknahmeverpflichtungen installieren. Diesen Schritt sind wir mit der Verpackungsverordnung gegangen, und diese Verordnung hat sich bisher bereits als die wirksamste Methode zur Vermeidung von Verpackung herausgestellt, die je in Angriff genommen worden ist. ({7}) In 40 Jahren bundesrepublikanischer Entwicklung sind die Verpackungsmengen ständig angestiegen. Jetzt sind sie zum ersten Mal um sage und schreibe 500 000 t zurückgegangen. Das ist eine Wirkung von Produktpreisen, die auch die Abfallendkosten enthalten und damit ein Eigeninteresse der Betroffenen auslösen, Abfall zu vermeiden. Auch die von unseren Bürgerinnen und Bürgern so großartig aufgegriffenen Möglichkeiten des Entpakkens im Laden haben zu einer Revolution der Umverpackungen geführt. Umverpackungen sind dezimiert worden. Fragen Sie nach, wo Sie wollen, und Sie stellen fest: Es ist praktisch keine Verpackung unverändert geblieben. Sie sind verkleinert, vermieden, ökologisch besser gestaltet worden. Damit ist eine völlige Veränderung auf dem gesamten Verpakkungsmarkt erreicht worden. Ich finde, es ist gut, unseren Bürgerinnen und Bürgern dafür zu danken, daß Sie das Instrument aufgegriffen und damit wirksam gemacht haben. Das ist gut und richtig. ({8}) Entgegen allen Besorgnissen ist der Anteil der Mehrwegverpackungen nicht gesunken, sondern er ist in dieser kurzen Zeit von etwa 72 % auf über 74 % angestiegen. Ich suche immer noch weltweit Leute, die in diesem Bereich weiter sind als die Bundesrepublik Deutschland. Wir brauchen keinen Vergleich zu scheuen. Noch einmal: Unsere Maßnahmen waren und sind in erster Linie Vermeidungsmaßnahmen. Aber auch der zweite Schritt muß gegangen werden. Was noch nicht vermieden wird, muß wiederverwertet werden. Auch hier wiederum Dank und Anerkennung unserem Bürgerinnen und Bürgern. Wir haben nicht an irgendeiner Stelle durch die Verordnung Plastikverpackungen bewirkt; aber wenn sie getrennt gesammelt werden, wird endlich einmal jedem vor Augen geführt, daß wir Entsorgungstechniken dafür bauen müssen. Ohne diesen Druck wäre nichts in Gang gekommen. Jetzt ist es so, daß in Zeitz, bei Espag, Schwarze Pumpe und anderswo Entsorgungs- und Wiederverwertungstechniken in Gang kommen, daß investiert wird für Arbeitsplätze und für eine Kreislaufwirtschaft, die vernünftig ist, und zwar, meine Damen und Herren, nicht als eine Maßnahme des Dirigismus, sondern als Ausfluß einer ökologischen Marktwirtschaft. Wir haben der Wirtschaft die Chance gegeben, in Eigenverantwortung diese Aufgaben zu bewältigen. Dabei hat es massive Schwierigkeiten gegeben, und ich stehe nicht an, auch hier deutlich zu sagen: Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, wenn es Leute gibt, die auf Verpackungen einen grünen Punkt als Signal für die Verwertungskosten drucken und ihre Finanzmittel nicht denen zur Verfügung stellen, die sammeln und wiederverwerten. Dies kann nicht sein! ({9}) Wir haben uns mit Erfolg bemüht, dies abzustellen. Davon gehe ich aus. Wir haben ihnen die Chance gegeben. Es ist eine Öffnung für die Wirtschaft. Ich kann mir vorstellen, daß die Kolleginnen und Kollegen der SPD offenbar nur Lösungen für möglich halten, die der Staat macht. Diese Meinung haben wir nicht. Wir wollen die privatwirtschaftlichen Möglichkeiten aufgreifen und damit Effizienzgewinn haben. Dies gilt in hohem Maße auch für Situationen in den neuen Bundesländern. Meine Damen und Herren, dies ist die zweite große Herausforderung. Wir brauchen eine Entsorgungsinfrastruktur, eine Umweltinfrastruktur bei Kläranlagen, bei Abfallbeseitigungsanlagen, bei der Sanierung von kontaminierten Böden, die uns aus der alten DDR-Zentralplanwirtschaft überkommen sind. Wir wollen auch hierzu privates Kapital heranziehen. Gegenwärtig werden in den neuen Bundesländern 46 Kläranlagen mit privatem Kapital geplant, gebaut, oder sie sind schon fertiggestellt worden. 4,3 Milliarden Mark werden damit bewegt. Ich wäre froh, wenn in den alten Bundesländern in 40 Jahren Bestehen der Bundesrepublik Deutschland jemals so viele private Kläranlagen gebaut worden wären. Respekt vor denen, die dort die Verantwortung dafür übernehmen und das so gemacht haben. Dies ist Wachstumspolitik und Umweltpolitik zugleich. Wir werden sie gezielt fortsetzen. Ich habe großen Anlaß, mich an dieser Stelle bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meines Ministeriums zu bedanken. Nur mit einer unglaublich hohen Arbeitsbelastung ist es möglich gewesen, so voranzukommen. Mit Blick auf den Etat tut mir im Augenblick die vorgesehene Einschränkung der Personalstellen am allermeisten weh. Wir wollen deswegen sehr viel stärker das Umweltbundesamt, das Bundesamt für Strahlenschutz und das neue Bundesamt für Naturschutz mit heranziehen - nicht mit einer Beschränkung der Unabhängigkeit. Lean Administration müssen wir auch bei uns besser und umfassender durchsetzen. Aber das ist wirklich schmerzlich, weil sehr viele engagiert mitgearbeitet haben. Dieses Engagement gilt es zu erhalten in einer Zeit, in der wir gerade durch die Durchsetzung des Verursacherprinzips mit sehr vielen konkreten Problemen konfrontiert sind.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Bundesminister, entschulden Sie, daß ich Sie unterbreche. Gemäß Art. 43 Abs. 2 unseres Grundgesetzes haben Sie unbeschränkt und jederzeit Rederecht. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß die Zeit, die Sie jetzt in Anspruch nehmen, auf Kosten Ihrer Fraktionskollegen geht.

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Herr Präsident, mir war gesagt worden, ich hätte zehn Minuten Zeit.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Sie hatten schon zwölf.

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Da sehen Sie einmal, wie schwierig es ist, eine gute Umweltpolitik in kurzer Zeit darzustellen. Aber ein Satz sei mir noch gestattet, Herr Präsident, ohne daß das auf Kosten der Fraktion geht, was mich wirklich betrüben würde. Ich wollte nur einen Hinweis auf die Energiegespräche geben, die wir führen. Ich möchte es deswegen tun, weil wir heute Anlaß hatten, das zu verdeutlichen. Ich halte diese Energiekonsensgespräche für außerordentlich konstruktiv in der Atmosphäre und in dem Bestreben aller, zu einem vernünftigen Ergebnis zu kommen. Es steht dabei fest, daß wir diese Probleme von den erneuerbaren Energien über Energiesparen, über die Nutzung heimischer Energien, Steinkohle und Braunkohle, bis hin zur Frage der Kernenergie klären müssen. Über eines sind wir uns alle im klaren, meine Damen und Herren, alle, egal, welche Vorstellungen über die Dauer der Nutzung der Kernenergie bestehen: daß wir zu einem Konsens in der Entsorgung kommen müssen. Wem hilft es denn, wenn wir hier den Bundestag blockieren? Überhaupt niemandem. Ich habe zu einem Gespräch eingeladen, aber nur unter der Bedingung, daß hier freiwillig abgezogen wird. Das ist die Voraussetzung dafür, daß wir vernünftige Gespräche führen. Als das nicht geschehen ist, habe ich gesagt: Wir werden es hier im Plenum darstellen. Erstens. Das Bundesverwaltungsgericht hat klar gesagt, daß Morsleben bis zum Jahre 2000 rechtens betrieben werden kann, und zwar für Deutschland insgesamt. Zweitens. Es ist ganz unstrittig, daß wir unabhängige Gutachten haben anfertigen lassen und daß nach Aussage der Reaktorsicherheitskommission das Lager Morsleben weiter nutzbar ist. Drittens. Es geht um eine veränderte Einlagerungsqualität. Viertens. Die Lagerung geschieht nicht auf Kosten des Steuerzahlers, sondern die Kosten werden über die Gebühren auf diejenigen abgewälzt, die dort einlagern. Dies wollte ich zumindest gesagt haben, Herr Präsident, einfach deswegen, weil es notwendig ist, in einer solchen Situation deutlich zu machen: Wir wollen nicht über die Interessen der Menschen hinweg entscheiden; aber wir sind in einer Situation, in der wir uns, wenn wir nicht entscheiden, aus der Verantwortung stehlen; und das kann wirklich niemand wollen. Ich danke Ihnen sehr herzlich. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Marion CaspersMerk.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, Sie haben zu Recht gesagt, entscheidend sei der Effekt und nicht die Optik. Am Effekt und auch am Erfolg Ihrer Politik müssen Sie sich messen lassen. Da kann es kein Zufall sein, daß Sie als Umweltminister ausgerechnet in der Haushaltswoche Ihrer umweltpolitischen Ratlosigkeit in einem bekannten Nachrichtenmagazin Ausdruck verliehen haben. ({0}) - Ach so, die dürfen Sie ja nicht lesen. Das haben wir von Herrn Schäuble hier erfahren. Insofern muß man das dann doch kurz referieren. ({1}) - Ich kann jedenfalls den Umweltminister nicht hindern, diesem Magazin Interviews zu geben. Unter der programmatischen Überschrift „Was soll ich denn tun?" wendet sich Klaus Töpfer an die staunende Öffentlichkeit. Die Mischung aus Rechtfertigungsversuchen, Schuldzuweisungen an andere und Umdeutungen von Niederlagen in Siege überrascht nicht. Was überrascht, ist aber der resignative Unterton, die resignative Grundhaltung in diesem Beitrag, der zeigt, daß der Umweltpolitiker Klaus Töpfer keine Kraft mehr zum Kämpfen hat. Doch gerade heute, in einer Zeit der wirtschaftlichen und ökologischen Krise, sind Durchsetzungsfähigkeit und Kampfgeist gefragt. Statt dessen spulen wir hier im Hause ein jährlich wiederkehrendes Ritual ab. Der Opposition ist der Umwelthaushalt natürlich deutlich zu niedrig. Wir beklagen, daß Sie wieder einmal gerupft aus dem Sparmonopol des diesjährigen Haushalts hervorgegangen sind. Die Steigerung Ihres Haushalts verdanken Sie einem Rechentrick. Durchlaufende Posten beim Kapital Strahlenschutz und Reaktorsicherheit blähen Ihren Haushalt künstlich auf, aber de facto wird der Handlungsspielraum in Ihrem Haushalt immer geringer. Immer mehr Gelder werden für den Bereich der verfehlten Atompolitik der Bundesregierung ausgegeben, und gleichzeitig werden die zukunftsträchtigen Umwelttechnologien, die Umweltforschung und der klassische Naturschutz, aber auch die Umweltinvestitionen in den neuen Ländern deutlich zurückgeschraubt. ({2}) Atomenergie ist für uns eine Dinosauriertechnologie. Mit uns kann man über den Ausstieg reden, über Ausstiegsfristen reden, aber dann muß hier auch mal in diesem Hause gesagt werden, daß Sie zu einem Ausstieg bereit sind. ({3}) Und das vermissen wir. ({4}) - Herr Kampeter, Sie haben hier nicht das Wort. Ich bin von Ihnen viel Vorlautes gewöhnt. Melden Sie sich bitte ordnungsgemäß zu einer Zwischenfrage! ({5}) Ich wiederhole: Wir sind hier zu Gesprächen bereit. Aber Sie müssen doch die Befürchtungen der Menschen in Ostdeutschland ernst nehmen, die Angst haben, daß dieses Endlager Morsleben nicht den Sicherheitsstandards entspricht. Sie wissen alle: Es gibt Gutachten, und es gibt Gegengutachten. Ich finde, wir sollten mit den Menschen über diese Befürchtungen reden und in dieser Sache nicht über ihre Köpfe hinwegreden. ({6}) Wir reden hier über einen Gesamthaushalt, Herr Umweltminister, von 1,3 Milliarden DM, und wir streiten über verhältnismäßig bescheidene Summen. Aber zur selben Zeit, wo um wichtige Einzelpositionen in Ihrem Haushalt gestritten wird, z. B. die schlimme Reduzierung der Personalkosten, besiegeln Sie als Moderator einen Kompromiß zum Erhalt des DSD, der der deutschen Entsorgungswirtschaft Forderungen in halber Höhe Ihres Gesamthaushaltes einräumt ({7}) und Umsätze in dreifacher Höhe garantiert. Fast 1 Milliarde DM, also fast so viel, ({8}) wie Ihr Haushalt beträgt, wurden fernab der Öffentlichkeit verschoben, um ein System zu retten, von dem Ihr politisches Überleben abhängt. Sie sind doch an den Erfolg des DSD auf Gedeih und Verderb gekoppelt. Verpflichtet ist der Umweltminister also nicht den Kolleginnen und Kollegen, die im Laufe der Haushaltsplanberatungen noch ein paar Milliönchen herauskitzeln, sondern beispielsweise der deutschen Entsorgungswirtschaft, die ihre Forderungen in Darlehen gegenüber dem DSD in Höhe von 640 Millionen DM umgewandelt hat. ({9}) Auch die kommunalen Spitzenverbände sollen dem DSD Geld in Höhe von 140 Millionen DM stunden. Der Handel trägt mit 150 Millionen DM jährlich für sogenannte Serviceverpackungen, wie beispielsweise Plastiktüten, zur Konsolidierung dieses Systems bei. Verpflichtet ist der Bundesumweltminister aber auch dem System selbst, das auch noch jetzt durch dieses fiskalische Feigenblatt ({10}) am Leben gehalten wird, wo wir sagen: Es bedarf einer ganz wichtigen strukturpolitischen Neuentscheidung und eines Neubeginns. Beim DSD spielt also wirklich die umweltpolitische Musik ohne öffentliche Kontrolle, ohne transparente Kostenkalkulation und mit noch weniger Erfolgsaussichten. Für ihr gutes Geld bekommen die Bürgerinnen und Bürger - denn sie haben für die Verpackung über den Grünen Punkt bereits gezahlt - keine Gegenleistung in Form einer sinnvollen Verwertung und leider auch keinen Umweltschutz. ({11}) Ihnen, Herr Minister, ist angesichts dieser Situation der Vorwurf zu machen, daß Sie immer noch nicht bereit sind, über neue Rahmenbedingungen der Verpackungsverordnung mit uns zu reden. Das DSD ist aus unserer Sicht eine abfallpolitische Sackgasse, aus der wir nur herauskommen, wenn die Verpackungsverordnung nach den Vorstellungen der SPD und auch - deswegen habe ich es mir extra auf geschrieben - der SPD-regierten Bundesländer geändert wird. Denn hier sind wir einer Meinung, Herr Dr. Friedrich, auch wenn Ihnen in Bayern das nicht gefällt. ({12}) Der Antrag liegt Ihnen seit Juni vor und wird, hoffe ich, in der nächsten Sitzung des Umweltausschusses beraten. ({13}) Erstens. Das DSD wird dem Wettbewerb ausgesetzt. Seine Monopolstruktur muß überwunden werden. Zweitens. Der Grüne Punkt wird abgeschafft und durch ein neutrales Zeichen ersetzt. Alle Verpackungen werden gekennzeichnet. ({14}) Drittens. Die Vermeidung muß absolute Priorität haben. Dies muß auch instrumentell in der Verpakkungsverordnung so ausgedrückt werden. ({15}) Wir sind uns in diesem Punkt im übrigen einig mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, das in einem von Ihnen in Auftrag gegebenen Gutachten zu unseren Ergebnissen kommt, nämlich daß prinzipiell der sinnvollere Weg die Vermeidungspolitik ist und daß man bei umweltbelasteten Verpackungen und Produkten über Produktverbote nachdenken sollte. ({16}) Das stammt vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, das immerhin keine Kaderschmiede der SPD ist. Mit dem DSD haben wir eine Nebenregierung in Sachen Müll, die nicht demokratisch legitimiert ist und nicht dem Prinzip der Verantwortlichkeit folgt. Wie kommt es denn, daß jetzt ganz aktuell wieder Kunststoffmüll mit dem grünen Punkt illegal nach Lettland verschoben wurde und sich dort zu riesigen Müllhalden auftürmt? Wieso kann sich das DSD immer wieder mit Subunternehmern und Sub-Subunternehmern aus der Verantwortung für die Verpakkungen herausstehlen? Wie vereinbaren Sie es eigentlich mit Ihrer internationalen Reputation, daß die Bundesregierung Deutschland in Umweltfragen nicht mehr als Vorreiter von Rio, sondern immer mehr als Müllexporteur, der seine Entsorgungsprobleme zu Lasten der Nachbarn löst, in der Welt bekannt wird? ({17}) Dies ist ein internationaler Prestigeverlust, den Sie zu verantworten haben. ({18}) Dem Prestigeverlust im Ausland entspricht ein Verlust an Glaubwürdigkeit und vor allen Dingen an umweltpolitischer Kompetenz im Inland. Es ist schon ein bemerkenswerter Vorgang, daß im Zuge der Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt sich die umweltpolitischen Fachminister Rexrodt und Wissmann zu Fragen der Benzinpreiserhöhung äußern. Alle überholen Töpfer, natürlich links, und setzen sich mit Forderungen nach der Benzinpreiserhöhung an die Spitze der ökologischen Bewegung. ({19}) Der Bundeswirtschaftsminister stellt fest - hier zitiere ich eine Presseerklärung -, die Belastung von Gesellschaft und Natur werde bei den Kosten für das Auto noch nicht genügend deutlich. Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt dieser Erkenntnis ausdrücklich zu. Sie bleiben bei der Frage nach der Erhöhung der Energiepreise wohl bewußt undeutlich. Die 5 DM pro Liter Benzin, die als Ente durch den deutschen Blätterwald flog, haben Sie ja in der Tat nicht gefordert, sondern Sie haben sich mit einer Erhöhung knapp über der Inflationsrate einverstanden erklärt. Es ist ein interessanter Vorgang, daß der Bundeskanzler die 5-DM-Forderung dementiert hat, die der Bundesumweltminister nie erhoben hat. ({20}) Man traut Ihnen offensichtlich bei Ankündigungen alles zu. ({21}) Da lobe ich mir doch den Chef des Umweltbundesamtes, Herrn von Lersner, der wenigstens eine klare Forderung nach Erhöhung der Benzinpreise um 25 Pf pro Liter zur politischen Diskussion gestellt und damit Fragen nach den Rahmenvorgaben zukünftiger Verkehrspolitik beantwortet. Wir brauchen eine Erhöhung der Energiekosten, damit auch in diesem Bereich endlich die Preise die ökologische Wahrheit sagen, und wir brauchen gleichzeitig eine Entlastung der Kosten der Arbeit. ({22}) Eine ökologische Steuerreform mit dem Ziel, den Einsatz von Energie und Rohstoffen effizienter zu machen, bietet dazu den geeigneten Ansatz. Die Steuermehreinnahmen aus der Verteuerung von Energie und Rohstoffen müssen zu einer gezielten Senkung der Lohnnebenkosten verwendet werden, was positive Folgen auch für den Arbeitsmarkt hätte. Das, Herr Minister, wäre zukunftsweisende Umweltpolitik. Ich möchte Ihnen zum Schluß Ihre Frage, was Sie denn tun sollen, beantworten: Erstens. Weniger ankündigen, mehr durchsetzen. Zweitens. Keine Niederlagen in Siege umdeuten. Drittens. Bündnispartner für eine umweltpolitische Offensive suchen. ({23}) Vielen Dank. ({24})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Feige. ({0})

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für Fünf-Mark-Ankündigungen sind wir geprügelt worden. Ich würde Ihnen gerne die Zwischenrufe geben. Aber so nähern sich die Parteien einander an, Herr Töpfer. Wir sind beide für fünf Mark geprügelt worden. Herr Töpfer, Ihr Interview in der „Spiegel"-Ausgabe dieser Woche ist ein Offenbarungseid, mit dem Sie deutlich signalisiert haben, daß der Natur- und Umweltschutz in der Bundesrepublik aus Rezessionsgründen den Bach heruntergeht. ({0}) Wenn Sie es nicht gelesen haben, sollten Sie es nachlesen und vielleicht dementieren. Mit dieser Schlußfolgerung steht der Bundesumweltminister in dieser Regierungsmannschaft jedoch nicht alleine. Gestern hat Bundeskanzler Kohl in seinem Standortbericht eine klare Bilanz gezogen. Zehn Jahre Kohl, und der Wirtschaftsstandort Deutschland ist in Gefahr. Der Bundesumweltminister hat nur sechs Jahre gebraucht, um einen umweltpolitischen Scherbenhaufen zu hinterlassen. ({1}) Oder wie ist es sonst zu verstehen, daß im Standortbericht, in dem eigenen Standortbericht, zu lesen ist, daß die Bewahrung der Schöpfung bzw. der natürlichen Lebensgrundlagen eine immer dringlicher werdende Aufgabe ist? Wie kann das nach einer so erfolgreichen Politik, die Sie angeblich machen, immer dringlicher werden? Auch die Klimapolitik reduziert sich auf immer unglaubwürdigere Ankündigungen, nicht nur des Ministers. ({2}) Der Rückgang der CO2-Emissionen in den neuen Ländern ist auch nach höchstministerieller Einschätzung weitgehend auf die chaotische Deindustrialisierungspolitik in Ostdeutschland zurückzuführen. ({3}) Sie selbst waren es, die unser Konzept zur Neuorganisation der Treuhand abgelehnt haben. Heute wären Sie froh, wenn Sie das gemacht hätten. ({4}) Ihr Verständnis von der Umweltpolitik der neunziger Jahre, meine Damen und Herren von der Koalition, erkennt man zudem an Ihren Gesetzen. Diese sind seit zwei Jahren allein durch den Abbau demokratischer Beteiligungsrechte und den Abbau von Rechtsnormen gekennzeichnet. Das wissen Sie ganz genau. Verkehrswegeplanung, Beschleunigungsrecht und Investitionserleichterungsmaßnahmen passen ganz exakt dort hinein. Sie sind - das zeigt bereits die kurze Anwendungstechnik - nicht für den Naturschutz und den Umweltschutz. Wie ehemals die Atomtechnologie wird jetzt die Biotechnologie zum Allheilmittel erklärt. Schön. Aber: Gentechnik über alles! Regularien zum Schutz der Umwelt werden als lästig und überflüssig abgeschafft. Ich glaube, heute ist es bald so, daß die Opposition in das bewahrend Konservative hineingefallen ist, konservativer, als es die CDU in ihren schwärzesten Tagen gewesen ist. Aber das bezeichnet, wie weit Sie selber zurückschreiten wollen. Meine Damen und Herren, die Bedeutungslosigkeit der Umweltpolitik schlägt sich auch im Entwurf des Bundeshaushalts 1994 nieder. Zieht man im Einzelplan 16 die Mittel für den Strahlenschutz ab, dann verbleiben dem Bundesumweltminister noch lächerliche runde 200 Millionen DM. Das sind etwa 80 Millionen DM weniger als 1993. Der Bundesumweltminister hat wieder einmal recht, ({5}) und zwar bezeichnete er Umweltpolitik als Querschnittsaufgabe. Akzeptiert. Aber auch in den anderen Ressorts sieht es düster aus. Die Forschungsmittel für regenerative Energien beispielsweise werden gekürzt und notwendige Programme laufen demnächst aus. Dafür gewinnt angeblich der Verkehrshaushalt an Umweltbedeutung. 85 Millionen DM für - man höre und staune - Lärmschutzmaßnahmen im Zusammenhang mit dem Bau von Bundesfernstraßen werden als bedeutende Umweltschutzmaßnahme eingestuft. Auf die Spitze getrieben hieße das: Wir brauchen noch mehr Straßen, dann werden mehr Lärmschutzwälle gebaut, und dadurch steigen die Ausgaben für den Umweltschutz. ({6}) Das ist eine verquere Logik. Oder denken Sie an die KfW-Mittel in Höhe von 837 Millionen im Einzelplan 60, die der Bundesumweltminister komplett dem Umweltschutz zuschlägt! Tatsächlich jedoch dienen diese Mittel dem Ausbau der technischen Infrastruktur, der Krankenhäuser, der Altenpflege oder der vorläufigen Unterbringung von Aussiedlern und Zuwanderern. Das ist eine sehr wichtige Aufgabe, die dort gemacht wird, aber man kann sie nicht einfach dem Umweltschutz zuschlagen. Mit solchen Taschenspielertricks aber täuscht die Bundesregierung umweltpolitisches Engagement vor. Einziger Rettungsanker - ich habe es vorhin wieder gehört - sind marktwirtschaftliche Instrumente, die als Allheilmittel angepriesen werden. Was davon zu halten ist, zeigt das Fiasko mit dem Grünen Punkt. Wie eine Krake - das ist ein Monopol - beherrscht das DSD den Markt. Das hat mit Ihrer marktwirtschaftlichen Auffassung, die Sie selbst propagieren, absolut nichts mehr zu tun. ({7}) Die großen Energie- und Entsorgungsunternehmen machen Kasse, und die Verbraucherinnen und Verbraucher bezahlen die Zeche. Das kommt heraus, wenn man blind auf solche Mechanismen setzt. Das internationale Ansehen der Bundesrepublik Deutschland wird immer mehr beschädigt. Deutscher Müll in aller Welt, das ist die unübersehbare Folge der gelben Säcke und Grünen Punkte. Das DSD und die Verpackungsverordnung sind gescheitert. ({8}) Nachbesserungen dienen niemals der Umwelt. Sie sind nur dazu da, daß der Bundesumweltminister seinen Stuhl noch nicht räumen muß. Meine Damen und Herren, die Abgeordneten vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben mit ihren Anträgen und Gesetzentwürfen zum Naturschutz, zur Abfallwirtschaft, im Verkehrsbereich und an vielen anderen Stellen gezeigt, wie die auch von ihnen geforderte ökologische Wende in der Wirtschaft zu gestalten ist. Wir müssen nur irgendwann einmal damit anfangen, bevor es zu spät ist. Lassen Sie uns gemeinsam aus diesem Haushaltsplanentwurf in den folgenden Monaten ein strahlungsarmes, wenn nicht strahlungsfreies und ehrliches Finanzwerk machen. ({9}) Unsere Umwelt hat es bitter nötig. Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich mich jetzt zurückziehen muß. Nehmen Sie es nicht als Unhöflichkeit. Ich werde selbstverständlich im Protokoll nachlesen, mit welchen Attacken Sie wieder gegen alles Grüne vorgehen. ({10})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Gerhart Rudolf Baum.

Gerhart Rudolf Baum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000111, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Vorsitzender! Meine Damen und Herren! Es wäre zur Umweltpolitik eine Menge kritisch zu sagen, aber nicht das, was Sie gesagt haben, Herr Feige. Das geht an der Realität vorbei. ({0}) Es ist sehr einfach, Ziele aufzuzeigen und die Schwierigkeiten bei der Realisierung einfach beiseitezuwischen. Ich meine, daß es auch in der Umweltpolitik einer Umorientierung bedarf. Auch hier ist nichts mehr so, wie es war. Es geht um eine Neubestimmung der Schwerpunkte und Instrumente. Wir würden die Koalitionsvereinbarung heute anders schreiben. Ein Schwerpunkt sind unbestritten die neuen Bundesländer; das ist uns bewußt geworden, ({1}) und wir werden und wollen auch neue Instrumente anwenden. Es gilt auch Angriffe abzuwehren; das sage ich kritisch. Umweltschutz ist nicht nur eine Sache für konjunkturelle Schönwetterzeiten. Das haben wir in der Republik schon einmal erlebt, dann haben wir einen Akkord von Gymnich mit dem damaligen Bundeskanzler Schmidt gehabt, und danach haben wir - das muß ich selbstkritisch für die frühere Regierung sagen - mehr reparieren müssen als Vorsorge treffen können. In eine solche Situation dürfen wir uns hier jetzt nicht begeben. ({2}) In der Tat ist der Umwelthaushalt kein Indikator für das, was geschieht. Das ist ja eigentlich ganz kurz gesprungen; man muß all die Investitionen nehmen, und da liegen wir im Weltvergleich auf einem sehr guten Platz. Wir brauchen uns da überhaupt nicht zu verstecken. ({3}) Aber es gibt Blockaden, die ich hier auch ganz deutlich nenne - nicht als Kritik am Umweltminister, denn er hat auch innerhalb der Bundesregierung und gegen Interessentengruppen seine Schwierigkeiten. ({4}) Das Bodenschutzgesetz und die damit verbundene TA Boden sind überfällig, für die Investitionssicherheit gerade in den neuen Bundesländern, aber auch in den alten Bundesländern. Wir müssen wissen, was Altlasten sind. Es müssen gemeinsame Standards da sein, überall und nicht unterschiedlich in 16 Ländern. ({5}) Es muß jetzt vom Landwirtschaftsminister grünes Licht für die Ressortanhörung gegeben werden. Eine umfassende Lösung des Problems der Distanz- und Summationsschäden, die keine finanziellen Lasten für die öffentlichen Haushalte mit sich bringen würde, ist in dieser Situation nicht möglich. Wir brauchen das Gesetz. ({6}) Die Umsetzung der EG-Richtlinie in einem Umweltinformationsgesetz ist überfällig. Die bayerischen Widerstände sollten aufgegeben werden. ({7}) Wir erwarten die Gegenäußerung der Bundesregierung zum Kreislaufwirtschaftsgesetz - ein Gesetz, das im Zusammenhang mit der gesamten Verpakkungsproblematik dringend notwendig ist. Am 15. September soll die Gegenäußerung ins Kabinett. Wir können froh sein, daß wir in den letzten Jahrzehnten so nachdrücklich auf umweltpolitische Veränderungen gedrängt haben - gegen viele Widerstände. Wir haben dadurch einen deutlichen Fortschritt im Weltvergleich, was unsere Produkte und Anlagen angeht. Ich nenne nur eine Zahl. Deutsche Firmen halten bei Umweltschutzgütern 21 % des gesamten Weltmarktes vor den USA und Japan. Das heißt, wir haben durch unsere stringente Politik unsere Innovationen bewirkt, die jetzt auch ein Exportargument für unsere Wirtschaft sind. Der Anteil der Umweltschutzkosten an den Produktionskosten ist gering - 0,7 %. Umweltschutz ist, richtig angelegt, eben kein standortschädlicher Faktor. Er verlangt Spitzentechnologie und eröffnet neue Märkte. Die Umweltpolitik braucht auf dem Weg zu einer ökologischen Marktwirtschaft jedoch neue Orientierungen. Ich will heute hier drei nennen: erstens den konsequenten Einsatz marktwirtschaftlicher Instrumente in einem Konzept der ökologischen Weiterentwicklung des Steuersystems, zweitens die Entrümpelung des Ordnungsrechts und drittens die verstärkte Privatisierung von Umweltleistungen. Die ökologisch begründeten Steuern, Abgaben oder Gebühren müssen stärkere Anreize für wirkungsvolle Umweltvorsorge schaffen. Es ist in der Tat so, Herr Töpfer, wie Sie gesagt haben. Wir müssen die externen Kosten internalisieren. Wir müssen die Preise ehrlich machen. Die ökologische Marktwirtschaft setzt verstärkt auf die Gemeinsamkeit von Ökonomie und Ökologie, auf den Nutzen von wirtschaftlichen Interessen für den Umweltschutz. Wir müssen wirtschaftliche Interessen aktivieren, die den Umweltschutz bewirken, und müssen von einer Überregulierung wegkommen, die alle Investitionen nur erschwert. ({8}) Das bedeutet eine Umstrukturierung des Steuersystems durch Gewichtsverlagerung von den direkten Steuern zu den Verbrauchssteuern, Steuersenkung bei Arbeitseinkommen, kompensiert durch ökologisch begründete Verbrauchsteuern. Ein junger Unternehmer hat das kürzlich in der „Zeit" so ausgedrückt: Wer Arbeitsplätze schafft und Gewinne erwirtschaftet, wird dafür mit hohen Steuern bestraft. Wer aber die Umwelt verschmutzt, kommt fast ungeschoren davon. ({9}) In der Tat ist es richtig, daß wir Entlastungen bei Kapital und Arbeit geben müssen, und dort, wo wir eine Lenkungswirkung haben, wo wir knappe Ressourcen haben, müssen wir in berechenbaren Stufen verteuern. ({10}) Die Finanzpolitik muß die richtigen Signale geben, und zwar langfristig. Wer sich ökologisch verantwortlich verhält, verringert bei unveränderten Steuersätzen seine Steuerlast. Das heißt: verursachergerechte Steuern mit Lenkungswirkung. Dies gibt gleichzeitig die Chance, andere Steuern zu senken und damit Investitionen und Beschäftigung zu bewirken. Das ist keine Sache von heute auf morgen, ({11}) sondern ein langfristiges Umsteuern, beispielsweise im Verkehr. Wir erleben ja jetzt diesbezüglich eine Diskussion. Hier im Hause besteht Übereinstimmung darin, daß der Verkehr verteuert werden muß. Die Frage ist, wie und in welchen Schritten. ({12}) Wir haben eine weitere Stufe der Mineralölsteuererhöhung beschlossen. Das Geld soll für die Tilgung der Bahnschulden verwendet werden. Es geht um 18 Pf ab 1994. Wir sind der Meinung - in meiner Partei wird das sehr lebhaft diskutiert, und wir werden im Oktober dazu einen Beschluß auf Bundesebene zu diesem ganzen Paket der ökologischen Marktwirtschaft fassen -, ({13}) daß eine zweite Stufe folgen soll, die mit einer Steuerabschaffung verbunden ist. Wir sind nämlich der Meinung, daß die Kraftfahrzeugsteuer verwaltungsintensiv, eine bürokratische Steuer und eine nicht umweltgerechte Steuer ist. ({14}) Wir wollen also eine zweite Stufe der Mineralölsteuererhöhung mit der Abschaffung einer Steuer verbinden, ({15}) um hier neue Effekte auf dem Markt zu bewirken. Wir sind der Meinung, daß weitere Stufen dann folgen sollten; zwar nicht mit der Schreckenszahl von 5 DM in irgendeinem Zeitraum, der nicht einmal genau fixiert ist, aber doch kontinuierlich und spürbar, so daß sich die Konstrukteure und die Verbraucher darauf einrichten können. Es ist ja erstaunlich, daß jetzt plötzlich auf der Automobilschau Autos präsentiert werden, die geringere Verbrauchswerte haben. Diesen Prozeß müssen wir von der Politik her unterstützen. ({16}) Ich bin übrigens nicht der Meinung von Herrn von Lersner, daß dieses Aufkommen dann irgendwo in anderen Bereichen verbraucht wird, sondern ich bin der Meinung, daß es dann - ich wiederhole das - zur Entlastung bei anderen Steuern, bei den direkten Steuern auf Kapital und Arbeit verwendet werden soll. Das ist also ein Umsteuern, eine Verlagerung innerhalb des Steuersystems. In diesem Sinne müßten wir uns auch in der Europäischen Gemeinschaft, Herr Töpfer, darin bemühen, daß die Mindestsätze der Mineralölsteuer angehoben werden. In der gleichen Philosophie liegt eine CO2-Energie-Steuer, die Sie ja verfolgen. Da gibt es ein Projekt. Ich sage nur, daß es nach dem Scheitern von Clinton und Gore in diesem Punkte - da die Erwartungen hier sehr hoch sind - sehr schwerfallen wird, eine europäische Einigung herbeizuführen, so daß man - das ist jetzt meine persönliche Meinung - einmal versuchen sollte, ob nicht eine sinnvolle Konstruktion unter den Prämissen, wie ich sie soeben genannt habe, auch national möglich wäre. ({17}) Meine Damen und Herren, die Energiesteuerdiskussion hat natürlich einen unmittelbaren Bezug zu den Konsensgesprächen. Gerade die letzte Frage, die ich aufgeworfen habe, hat einen solchen Bezug. Ich halte sie nach wie vor für dringend notwendig. Bund und Länder, Opposition und Regierungsparteien müssen sich über Mindeststandards einer Energiepolitik in einem offenen europäischen Energiemarkt einigen. Nur so können wir auch die Herausforderungen bestehen, die sich in Osteuropa stellen. Dort tickt eine Zeitbombe. Der internationale Sicherheitsfonds zur Verbesserung der Kernkraftwerke sowjetischer Bauart ist da, aber er ist finanziell unterbestückt. Ich habe die dringende Bitte an unsere Haushälter, daß sie die Bundesregierung, die international hier eine Meinungsführerschaft hat, in bezug auf den Haushalt hinsichtlich dieser Mittel nicht im Stich lassen. ({18}) Wir brauchen eine Entrümpelung des Ordnungsrechts. Das Ordnungsrecht hat nach wie vor eine wichtige Funktion. Es hat zu den Erfolgen im klassischen Umweltrecht wesentlich beigetragen. Es muß flexibler und effektiver werden. ({19}) Wir brauchen die Privatisierung von Umweltleistungen. Ich bin der Meinung, daß wir die Bundeshaushaltsordnung ändern sollten. Das heißt: Wir sollten die Gebietskörperschaften zur Durchführung von Markttests verpflichten, und staatliche Zuschüsse sollten an die Voraussetzung gekoppelt werden, daß zunächst versucht wird, einen privaten Investor zu finden, bevor man den Staat zu Hilfe ruft. ({20}). Ich frage mich, warum unsere Gemeinden eigentlich jetzt nicht darangehen, ihre Einrichtungen etwa im Abwasserbereich zu verkaufen. Warum sollen sie diese eigentlich weiterbetreiben? Alle Untersuchungen zeigen, daß private Unternehmer dies kostengünstiger können. ({21}) Ein Stück Privatisierung - am Schluß möchte ich auch das erwähnen - sollte eigentlich auch das Duale System sein. Durch Mißmanagement und Strukturmängel ist es in eine Krise gekommen, die nach meiner Ansicht noch keineswegs überwunden ist. Die Entscheidungen der letzten Woche waren wichtig. Herr Töpfer hat gekämpft, um dieses System zu erhalten, und das war richtig. Es ist keineswegs nur die mangelnde Zahlungsmoral, die Anlaß zur Sorge gibt. Das System muß - so hat es meine Kollegin Homburger in den letzten Wochen immer wieder mit Nachdruck zum Ausdruck gebracht - im Hinblick auf seine ökonomische Effizienz, aber auch auf seine ökologische Effizienz überprüft werden. Die Verpakkungsverordnung muß geändert werden. Wir brauchen eine bessere Transparenz bei den Kosten. Wir brauchen deutlichere und ehrlichere Kennzeichnungen auf den Verpackungen. Es wächst auch unsere Sorge - ich sage das als Liberaler - über das Wachsen wettbewerbshemmender monopolistischer Strukturen. Die jetzt noch engere Verzahnung zwischen Dualem System und Entsorgern darf keine Dauerlösung sein. Unter den Entsorgern muß Wettbewerb bestehen. In der Kunststoffverwertung sollten auch mittelständische Unternehmen mit regionalen Lösungen zum Zuge kommen. Ich mache mir, Herr Töpfer, auch Sorgen über die Staatsnähe des Unternehmens, das ja eine private Initiative sein soll, die Staatsnähe, die in dem Krisenmanagement zum Ausdruck kommt. Sie, Herr Töpfer, konnten gar nicht anders, Sie mußten dafür kämpfen. ({22}) - Das hat er gut gemacht. ({23}) Aber auch dies darf keine Dauerlösung sein. Der Umweltminister darf nicht in der täglichen Sorge leben, ob ein Unternehmen, das privatwirtschaftlich organisiert ist, liquide ist. Das muß die Wirtschaft nun selber leisten. ({24}) Es bedarf jetzt also deutlicherer Vorgaben. Im übrigen darf ich für uns, das Parlament, hinzufügen: Wir haben über die Verpackungsverordnung und auch über die Realisierung überhaupt nicht zu entscheiden gehabt. Sie ist Ausfluß eines Gesetzes, das wir einmal gemacht haben. Wir werden bei dem Kreislaufwirtschaftsgesetz - ich nehme hier Obereinstimmung im Hause an - etwas mehr dafür sorgen, daß die parlamentarische Mitwirkung und Entscheidung gesichert bleibt. ({25}) Das ist kein Mißtrauen gegenüber der Bundesregierung. Wir wollen aber nicht, daß nur die Regierung entscheiden soll. Die parlamentarische Mitwirkung muß gesichert sein. Ein gesundes Mißtrauen gegenüber der Regierung ist allerdings auch nicht schlecht. Meine Damen und Herren, ich möchte mit der Bemerkung schließen, daß der Umweltschutz eine Chance für den Standort Deutschland ist. Wir sollten sie nutzen und sollten jetzt auch Widerstände überwinden, die gegen den Umweltschutz auftreten. Ich habe einige genannt. In einigen Jahren werden wir fragen, wer das, was jetzt jedermann will, eigentlich verzögert hat, warum das eigentlich nicht gekommen ist. Nutzen wir also die Chance und kämpfen wir weiter auf diesem Felde. Die Bundesregierung hat insoweit unser Vertrauen. ({26})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Dagmar Enkelmann.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst ein Wort zu Ihrer Rede, Herr Minister Töpfer! Ich hätte mir gewünscht, daß Sie aus der alten Planwirtschaft der DDR wenigstens das Sero-System übernommen hätten. Dann wären wir schon ein Stückchen weiter. ({0}) Auch ich darf seit drei Jahren den „Spiegel" lesen und habe mit großem Interesse das Interview, das Herr Minister Töpfer - ({1}) - Vorher durfte ich das nicht. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, nicht alle auf einmal! Es kommt dann nicht ins Protokoll, und die Rednerin kann es auch nicht hören. - So, bitte schön.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Auch ich habe also das Interview mit großem Interesse gelesen. Herr Minister Töpfer - es ist schon einmal zitiert worden - sagte den verantwortlichen Redakteuren Kühnl und Steingart ganz resignierend: Was soll ich denn tun, meine Herren? - Genau das war das Eingeständnis für das Fiasko Ihrer Umweltpolitik. Subjektiv und privat mögen Sie ja ein Ökofreak sein, aber de facto sind Sie ausführendes Organ für die Chemie- und Atomindustrie. ({0}) Meine Damen und Herren, der vorliegende Umwelthaushalt 1994 entpuppt sich als Mogelpakkung - in diesem Fall ohne Grünen Punkt, dafür aber mit dem Radioaktivitätssymbol „Gelber Punkt" . Er ist im wesentlichen ein Atomhaushalt, besser gesagt, ein Atommüllhaushalt, und das trotz der Tatsache, daß der größte Teil der Atomförderung - im übrigen wie jedes Jahr - im Haushalt des Forschungsministers enthalten ist. Mit 1,3 Milliarden DM erfährt der Plan für den Umwelthaushalt 1994 eine Steigerung gegenüber 1993 von 7,1 %, was sich optisch zunächst gut ausmacht. Realistisch gesehen beträgt der Umwelthaushalt jedoch unverändert nur 0,3 % des Gesamthaushalts. Fast die Hälfte dieses Haushalts soll mit 626,9 Millionen DM der Etat des Bundesamtes für Strahlenschutz schlucken, eine satte Steigerung von 27,55 %, doch nicht, um die Menschen vor Strahlen zu schützen, sondern für das, was hier so nüchtern „Endlagerung" genannt wird. Jeder weiß doch, daß es kein Ende für die Lagerung von Atommüll geben kann, sondern daß dieser mit großer Wahrscheinlichkeit wieder in die Biosphäre zurückkehren wird. Der Atommüll steht Herrn Töpfer offensichtlich bereits bis zum Kragen. Weil das so ist, soll offenkundig noch in diesem Monat in Morsleben eingelagert werden. 35 Millionen DM sind im Haushaltsentwurf für den Ausbau von Morsleben veranschlagt, 7,5 Millionen DM mehr als 1993. Umweltminister Töpfer dürften die unkontrollierten Laugenzuflüsse in das Lager durch das Gutachten der Gesellschaft für Reaktorsicherheit bekannt sein. Wenn nicht, würde ich Ihnen dieses Buch gerne borgen; ich möchte es dann aber gern zurückhaben. Um eine grundsätzliche Sicherheitsbeurteilung über Morsleben abgeben zu können, müßten zuallererst zusätzliche geotechnische, geomechanische sowie hydrogeologische Untersuchungen durchgeführt werden. Erst kürzlich hat die Landesregierung Sachsen-Anhalt ein von ihr in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten über den Schacht erhalten, das weder in Magdeburg noch in Bonn konsequent ausgewertet wurde. Der renommierte Umweltrechtler Michael Klöpfer hatte daran herausgearbeitet, daß die zu DDR-Zeiten erteilte Betriebsgenehmigung nur für Ostdeutschland gilt. Trotzdem verbreitet die Bundesregierung mit großer Eile: Morsleben ist sicher, und es darf Atommüll aus der gesamten Bundesrepublik eingelagert werden. Aus ideologischen Gründen wird offenbar nach dem Motto verfahren, „daß nicht sein kann, was nicht sein darf" oder „Was Recht ist, bestimmen wir! " Bemerkenswert ist dabei, daß Umweltminister Töpfer von einer vorhandenen rechtmäßigen Genehmigung, d. h, der DDR-Regierung, für Morsleben ausgeht, während die Bundesregierung sonst immer unterstellt, es hätte in der DDR nur Unrecht gegeben. Wenn es atomar pressiert, wird es offenbar nicht so genau genommen. Festzustellen bleibt: Mit Hilfe des Einigungsvertrags hat sich die Bundesregierung ohne Planfeststellungsverfahren und ohne Öffentlichkeitsbeteiligung ein Endlager genehmigt. An Gebühren sollen in Morsleben im nächsten Jahr 75 Millionen DM eingenommen werden. Dies sollen „kostendeckende Gebühren" nach dem Atomgesetz sein. Einmal davon abgesehen, daß ich diese Summe noch nicht im Staatssäckel sehe - das DSD läßt grüßen -, bezweifle ich, daß die bis zum Ende der Betriebszeit real oder geplant eingenommenen Gebühren auch nur einen Bruchteil der Kosten dekken, die in den nächsten Jahrzehnten durch die Kippe entstehen. Ich sage Ihnen, Herr Töpfer: Mit Morsleben wird nicht nur eine ökologische Zeitbombe gelegt, sondern auch eine finanzielle. ({1}) Was, glauben Sie, passiert, wenn diese in Staatsregie betriebene wilde Atomüllkippe ausläuft? Können Sie auch nur ansatzweise die Kosten für die Sanierung einer solchen Altlast, die schon heute ein Problem ist, beziffern? Wie wollen Sie überhaupt jemals eine auslaufende Atommüllkippe sanieren? Nach § 1 Abs. 2 des Atomgesetzes hat der Staat die Verpflichtung, Leben, Gesundheit und Sachgüter vor den Gefahren der Atomenergie und der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlung unbegrenzt zu schützen. ({2}) Ein Endlager für radioaktive Abfälle muß daher nicht nur „im genehmigten Zeitraum" - der geht nur bis zum 30. Juni 2000 -, sondern für alle denkbaren geologischen Zeiträume sicher sein. Oder: nach uns die Sintflut? Ich sage, wer Atommüll sät, wird neben dem ökologischen Desaster auch ein Haushaltsdesaster ernten. Deshalb sollten Sie, Herr Töpfer, das Verursacherprinzip hier ganz konsequent anwenden und die Quelle des Atommülls stopfen: Schluß mit den Atomanlagen . . . ({3}) - Nicht nur in Rußland, auch hier. ({4}) Herr Töpfer, in dem erwähnten „Spiegel" -Interview sagten Sie am Schluß: „Ich will, daß in allen Ministerien kleine Umweltminister sitzen. " Ein großer in Ihrem Ministerium würde mir für den Anfang schon reichen. Mir scheint, Sie haben als Umweltminister schon resigniert. Oder wie soll ich Ihre Kandidatur für den Vorsitz der UN-Kommission für nachhaltige Entwicklung verstehen? Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Hans Georg Wagner.

Hans Georg Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002406, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man sich den Entwurf des Bundeshaushalts 1994 ansieht, kann man unschwer erkennen, daß der Umweltminister erneut der große Verlierer ist. Das wäre um den Minister gar nicht so schade, wenn nicht die großen Politikbereiche der Umwelt und des Naturschutzes darunter leiden würden. ({0}) Zwar konnte Herr Kollege Töpfer frohgemut eine Steigerung seines Haushaltes von 7,1 % verkünden, aber wenn man genau hinguckt, erkennt man den riesengroßen Trick. Denn im eigentlichen Bereich von Umwelt und Naturschutz wird dieser Haushalt gekürzt, nämlich um 64 Millionen DM, real um 3,3 %. Daß der Haushalt in Wirklichkeit gar nicht um 7,1 % steigt, ist eben schon einmal gesagt worden. Diese Zahl beruht eindeutig auf Umwälzungen oder durchlaufenden Posten im Bereich der Reaktorsicherheit. Nun, wenn man die Kürzungen im Haushalt 1993 hinzunimmt, dann ist seit 1992 eine Reduzierung des Umweltteils des Haushalts um 17 % eingetreten. Das heißt: Seit 1992, als die Umweltprobleme auf Grund der Situation in den neuen Ländern für uns alle explosiv gewachsen sind, ist dieser Haushalt fast um ein Fünftel geschrumpft. ({1}) Das, was eigentlich Umweltpolitik bedeuten sollte, findet also nicht mehr statt. Sie sind eigentlich nur noch als Lautsprecher gut. Sie dürfen verkünden, aber jedermann weiß, daß nichts dahinter ist. Zusammengefaßt heißt das: Der Bundesumweltminister ist lediglich ein Lautsprecher der Umweltpolitik. Kollegen von Ihnen haben sich durchgesetzt. Herr Minister, Sie haben innerhalb des Kabinetts ein mangelndes Durchsetzungsvermögen. ({2}) Ich bedauere das außerordentlich. Es ist aber so: Der Verkehrsminister bringt eine Erhöhung von 22,8 seines Haushaltes zustande, die Wohnungsbauministerin sogar eine Steigerung von 32,3 %. ({3}) Ihr Haushalt weist im Bereich der Umwelt eine Kürzung um 3,3 %, seit 1992 eine Reduzierung um ein Fünftel auf. Bedauerlicherweise geht diese Reduzierung des Umwelthaushaltes mit einem zunehmenden Mangel an Interesse in der Bevölkerung einher. Das Ergebnis einer kürzlichen Umfrage über die Prioritäten der Westdeutschen und der Ostdeutschen ist ebenso klar wie erschreckend. Selbst im Westen zählen nur noch 7 % der Befragten den Umweltschutz zu den wichtigsten Prioritäten, im Osten gar 0 %. Neben dem Chaos in der Abfallpolitik, wo die Bevölkerung verärgert und verunsichert ist, gibt es nun eine Verstärkung der Ressentiments gegen den Umweltschutz. Ich meine, es ist Aufgabe aller, zu versuchen, die Azeptanz in der Bevölkerung für notwendige Umweltmaßnahmen wieder zu erhöhen und damit vernünftige, allen dienende Lösungen zu erreichen. Dazu gehört auch, daß man offen und ehrlich argumentiert. Doch dies versucht die Bundesregierung erst gar nicht. Im ersten nationalen Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung der Klimakonvention von Rio führt Bundesumweltminister Klaus Töpfer gleich 30 Einzelmaßnahmen im Rahmen der CO2-Minderung auf, die entweder bereits in Kraft getreten sind oder deren Verabschiedung noch für die laufende Legislaturperiode vorgesehen ist. ({4}) Wenn man sich aber die 30 Punkte genau ansieht, Herr Kollege, erkennt man, daß dieser Bericht ein gnadenloses Bild des Zauderns, ja der Hilflosigkeit der Bundesregierung darstellt. Wenn man sich nur einige der Punkte vergegenwärtigt, fällt nämlich auf, daß viele überhaupt nichts mit der Klimakonvention zu tun haben und lediglich deshalb aufgeführt worden sind, damit überhaupt etwas in den Bericht geschrieben werden konnte. Ich will als Belege nennen: das Förderungsprogramm Windenergie. ({5}) Das sehr gut angenommene Programm, Herr Minister, soll in zwei Jahren auslaufen. ({6}) Eine Verlängerung ist von dieser Bundesregierung nicht zu erwarten. Ich nenne das Förderungsprogramm Photovoltaik: Durch die geringe Dimensionierung des sogenannten 1 000-Dächer-Programms kam es zu einem Auftragsrückgang in dieser Zukunftsindustrie Nummer eins. Wie bei der Windenergie wäre hier ein Wechsel von der Forschungsförderung zur großangelegten Markteinführung notwendig. Durch die geringe Dimensionierung wurden die Preise von Photovoltaikanlagen in die Höhe getrieben und damit das Gegenteil dessen erreicht, was eigentlich erreicht werden sollte. ({7}) Nehmen wir weitere Beispiele: die Beratung für kleine und mittlere Unternehmen insbesondere in den neuen Ländern. Die Umweltberatung für Unternehmen in den neuen Ländern ist bis Ende dieses Jahres befristet. Eine Verlängerung ist trotz offensichtlichen Bedarfs nicht in Sicht. ({8}) Ein weiteres Beispiel: das Umweltzeichen. Mit der Auflistung des Umweltzeichens „Blauer Engel" in Ihrem Bericht, Herr Minister, stecken Sie sich eine rote Feder an den schwarzen Hut; denn der „Blaue Engel" wird seit 1977 vergeben, läßt sich also kaum, wie geschehen, als Klimaschutzmaßnahme dieser Bundesregierung verkaufen. Stichwort Verpackungsverordnung: Was die Verpackungsverordnung mit einer Minderung der CO2Emissionen zu tun haben mag, bleibt das Geheimnis der Bundesregierung und von Ihnen, Herr Minister. Das Ansteigen der Mülltransporte in unsere europäischen Nachbarländer kann doch wohl damit nicht gemeint sein. ({9}) Technische Anleitung Siedlungsabfall: Wo hier eine CO2-Minderung erfolgen soll, bleibt ebenfalls schleierhaft. Die Wärmeschutzverordnung wird in den 30 Punkten angeführt. Die lange verkündete Wärmeschutzverordnung wird erst 1995 in Kraft treten. Da der Altbaubestand kaum erfaßt wird, bleibt die Wirkung nur sehr eingeschränkt. Ohne entsprechende Besteuerung und damit Verteuerung des Energieverbrauchs, Herr Minister, wird der CO2-Ausstoß nicht spürbar vermindert werden können. Hier verstecken Sie sich hinter der Europäischen Gemeinschaft - der Kollege Baum hat eben die EG zwei-, dreimal zitiert -,weil Sie genau wissen, daß in den nächsten Jahren absolut nichts passieren wird. Herr Minister, es wäre in der Tat ein mutiger Schritt nach vorne gewesen, wenn Sie unabhängig von der EG, aber ähnlich wie unsere Nachbarn Niederlande und Dänemark eine nationale Energiesteuer eingeführt hätten. ({10}) Die Nichteinführung der Energiesteuer ist der ökologische Offenbarungseid dieser Bundesregierung. Die von den Herren Kohl und Töpfer in der Klimakonvention von Rio eingegangenen Verpflichtungen sind so nicht zu erfüllen, und dies vor dem Hintergrund, daß die Bundesrepublik Deutschland Ende 1994/Anfang 1995 Gastgeber der ersten Vertragsstaatenkonferenz für die Klimaschutzrahmenkonvention sein wird. Entsprechende Haushaltsmittel sind im Haushalt 1994 mit einer Verpflichtungsermächtigung vorgesehen. Wenn sich diese Konferenz nicht zu einer einzigartigen Blamage für die Bundesrepublik Deutschland entwickeln soll, müssen spätestens 1994 für jedermann nachvollziehbare konkrete Schritte durchgeführt werden. Gänzlich vom Minister vernachlässigt wurden die Bereiche Naturschutz und Erhaltung der Artenvielfalt - nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil der Umweltminister den Konflikt mit den Ressortkollegen scheut und sich weder mit der Landwirtschaft noch mit Bau oder Verkehr anlegen will, von seinem Chef einmal ganz zu schweigen. ({11}) Seit sieben Jahren kündigt Klaus Töpfer nun die überfällige Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz an, ohne daß sich bis heute irgendeine konkrete Umsetzung für das „unbewaffnete" Auge erkennen ließe. Die Zahl der ausgestorbenen, akut oder potentiell gefährdeten Tier- und Pflanzenarten hingegen wird immer größer. Hinterrücks gab es natürlich eine Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes: Die faktische Abschaffung der Eingriffsregelung im Bundesnaturschutzgesetz durch das Investitions- und Baulandgesetz ist natürlich möglicherweise Ihr Beitrag zur Überwindung der Probleme mit der Einheit Deutschlands. Tatsächlich aber werden damit reale blühende Landschaften den utopischen Ihres Chefs geopfert. Dessen blühende Landschaften aber zeichnen sich vorzugsweise durch Fehlentwicklungen beim Aufbau der Verkehrs-, Wohn- und Industriestruktur in den neuen Ländern aus, andere Merkmale einmal außen vor gelassen. Aber auch in einem anderen Bereich erkennt man die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit des Ministers. Angesichts der weltwirtschaftlichen Lage und angesichts der Notwendigkeit, die deutsche Wirtschaft im internationalen Rahmen wettbewerbsfähiger zu machen, d. h. mit Produkten an den Weltmarkt gehen zu lassen, die Wachstums- und Zukunftschancen erwarten lassen - gerade im Bereich der Umwelttechnologien sind wir weltweit führend ({12}) und sollten dies durch unterstützende Maßnahmen soweit treiben, daß wir diese Führungsrolle weiter ausbauen können; das wäre eine vernünftige arbeitsmarktbezogene Politik, die allerdings bei Ihnen nicht stattfindet -, ist nur eine unzureichende Steigerung der Mittel für Forschungsvorhaben vorgesehen. ({13}) Bereits im Jahre 1993 wurden diese Forschungsmittel in skandalöser Weise um 27 Millionen DM gekürzt, ({14}) mit dem Ergebnis, daß das Umweltbundesamt 1993 kein einziges Projekt vergeben konnte. Auch die geringfügige Steigerung wird keine Verbesserung der Forschungssituation erbringen. Im Interesse der deutschen Wirtschaft und der Zukunftstechnologien im Umweltbereich wäre es jedoch das mindeste, die Forschungsförderung auf die Höhe des Jahres 1992 anzuheben. Ebenso verheerend sieht die Förderung bei Umweltinvestitionen für die neuen Länder aus. Sie wissen, diese sind entsprechend gekürzt worden. Ich habe bereits bei der Beratung des Haushaltes 1993 gesagt, daß durch die ständigen Stellenkürzungen ein ganz erheblicher Substanzverlust in der Umweltpolitik eingetreten ist. Die Stellenvernichtung geht im Jahre 1994 weiter, wobei jetzt schon klar ist, daß bis 1996 weitere 43 Stellen abgebaut werden sollen. Von diesem herben Substanzverlust her gesehen, stellt sich erneut die Frage, weshalb die Bundesregierung sich einen Bundesumweltminister hält, wo doch jedem klar ist, daß das Ministerium auf die Größe einer Abteilung eines anderen Ressorts reduziert worden ist, ({15}) deren Eingliederung in ein anderes Ressort den Steuerzahler wesentlich billiger käme. - Ich habe Ihren Zwischenruf nicht verstanden. Sie haben etwas zur Seite gesprochen. Vielleicht können Sie ihn wiederholen. Ich will gern darauf eingehen. ({16}) - Das ist also mit Nichtwissen bei Ihnen zu begründen. ({17}) Wenn Herr Töpfer die eigenen Ankündigungen ernst nähme, dann müßten die personellen und finanziellen Konsequenzen gezogen werden. Das heißt, dem Umwelt- und Naturschutz müßte jener Rang eingeräumt werden, der ihm als Zukunftsinvestition zukommt. ({18}) Die Behandlung des Umwelthaushalts durch diese Regierung und diese Koalition deutet jedoch auf das direkte Gegenteil hin. Die Aufgaben im Bereich der Umwelt sind vielfältig. Sie versprechen Arbeitsplätze und weltweite Wettbewerbsfähigkeit. Von alledem ist jedoch in diesem Haushalt nichts zu spüren. Sie werden Verständnis dafür haben, daß wir ihm die Zustimmung nicht geben können. Schönen Dank. ({19})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nun dem Abgeordneten Dr. Ulrich Briefs das Wort.

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler ist trotz der ihm eigenen beachtlichen politischen Statur ökologisch ein blinder Fleck, einfach nicht existent. Der Bundesumweltminister wird mit dieser Haushaltsrunde und mit dem Standortsicherungspapier vom Alibiminister zum Kabinettsstatisten degradiert. Ich sage das zugleich mit Respekt vor dem unbestreitbar guten Willen des Bundesumweltministers, dem Umweltschutz in dieser desolaten Koalition auf die Sprünge zu helfen. ({0}) Der Etat des Bundesumweltministeriums steigt zwar um 7 %, real bleiben davon aber nur 2 % bis 3 % übrig. Außerdem wird nur beim Strahlenschutz wirklich aufgestockt. Selbst unter Einbeziehung der umweltrelevanten Positionen - davon ist aber einiges ökologisch zweifelhaft - in anderen Etats kommt die Umweltpolitik dieser Bundesregierung gerade auf 1,9 % des gesamten Haushaltsvolumens, wahrhaftig ein beschämendes Bild. Die Autowahnfanatiker in diesem Bundeskabinett dagegen erhalten einen um 22 % aufgestockten Verkehrsetat, der mehr als fünfmal so groß ist wie die Umweltschutzausgaben insgesamt. Das Standortkonzept des Bundeswirtschaftsministers, vom Kabinett akzeptiert, stellt die Weichen eindeutig in Richtung auf den Vorrang der Ökonomie gegenüber der Ökologie, und das zu einem Zeitpunkt, wo eine parteiübergreifende Initiative von Umweltlandesministern - darunter sind auch CDU- und F.D.P.-Landesminister - einen „Marshallplan" - in Anlehnung an den amerikanischen Vizepräsident Al Gore - für die Umwelt fordern. Aus den Punkten dieses „UmweltMarshallplans" wird deutlich, wie gewaltig einerseits die ökologischen Probleme sind und wie geradezu kläglich andererseits demgegenüber die Politik der derzeitigen Koalition ist. In dem „ökologischen Marshallplan" wird gefordert, wirksame Maßnahmen zu ergreifen: gegen die selbstverschuldete Klimakatastrophe, die Ausdünnung der Ozonschicht, das Artensterben, die Bevölkerungsexplosion, die Gefahren durch unsichere Atomkraftwerke, die Gefahren durch regionale Gewaltkonflikte um 01 und Wasser und einiges mehr. Das zeigt, mit welch breitem Spektrum von Problemen wir es zu tun haben. Dazu sollen die Industrieländer erst einmal ihre ökologischen Hausaufgaben machen - das richtet sich gerade auch an uns -, d. h. Fortentwicklung zu einer wirklich ökosozialen Marktwirtschaft - sie ist beides nicht, weder ökologisch noch sozial ist sie bisher in Wirklichkeit -: die ökologische Steuerreform vorantreiben, Energiesteuern als Anreiz zu effizientem Energiesparen und zur Abgabenentlastung für menschliche Arbeit usw. entwickeln, konkrete und wirksame Maßnahmenprogramme zur Reduktion der CO2-Emission erstellen - dabei hinken wir in Deutschland gewaltig nach, selbst gegenüber unseren eigenen Ankündigungen -, eine Klimaschutzabgabe realisieren, Förderung der regenerativen Energien wirksam betreiben, Entwicklung von Kreislaufwirtschaftsstrukturen vorantreiben und eine Beendigung des Wachstumszwangs, u. a. durch eine Neubewertung des Bruttosozialprodukts, zumindest in die Wege leiten. Dazu sollen zweitens - das gehört dazu - vier konkrete Teilpläne dienen, nämlich erstens ein Klimaschutzteilplan durch Energieeinsparung und erneuerbare Energien, zweitens ein Plan zur Rettung der Tropenwälder, drittens ein Plan zur Bevölkerungsstabilisierung und viertens ein Plan zur Ost-WestUmweltkooperation.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Briefs, meine roten Signale sind Ihnen doch bekannt. Ich brauche Sie nicht aufzuklären.

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Ich mag seit langem die Farbe rot sehr gerne.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Aber nicht, wenn ich Ihnen Signale in dieser Farbe gebe. Beachten Sie sie aber trotzdem!

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Bedingte Reflexe funktionieren manchmal etwas anders. Ich komme zum Schluß, Herr Präsident. - Das zeigt, daß Umweltpolitiker aller Parteien im Gegensatz zu dieser Bundesregierung in ihrer politischen Verantwortung also einen systemimmanenten Kurswechsel fordern. Das ist auch richtig. Doch wo bleiben die Konzepte und insbesondere die Ansätze, wenigstens die ersten Schritte, insbesondere auf der Ebene und im Rahmen der Handlungsmöglichkeiten dieser Bundesregierung? Das ist doch die Frage, die wir hier stellen müssen. Was die Bundesregierung mit Morsleben macht, ist lediglich das Schaffen einer regelrechten Zeitbombe. Das kann dazu führen - das zeigen u. a. die Ergebnisse der Untersuchungen von Greenpeace -, daß die Menschen in den angrenzenden Gebieten irgendwann an Leib und Gesundheit gefährdet werden. Dieses Morsleben darf so, wie es die Bundesregierung plant, nicht entstehen. Herr Präsident, ich danke Ihnen. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Ulrich Klinkert.

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie in jedem Jahr versuchen wir auch in diesem Jahr in der Haushaltsdebatte der Opposition beizubringen, daß der Haushalt des Bundesumweltministers kein zentralstaatlicher Geldmittelverteilungstopf für alle Umweltprobleme dieses Landes ist. Herr Wagner, daß gerade Sie das noch nicht verstanden haben, erfüllt mich mit einer gewissen Sorge. Deswegen noch einmal ganz langsam speziell für Sie: Die Kosten für den Umweltschutz in Deutschland sind nach der Philosophie dieser Regierungskoalition verursachergerecht anzulasten. Sie sind nicht planwirtschaftlich staatlich einzutreiben und zu verwalten, sondern möglichst vor14976 sorgend von dem aufzubringen, der sie verursacht hat. Dies gesetzlich und administrativ zu regeln ist eine der Aufgaben des Bundesumweltministers. Insofern ist ein relativ geringer Haushalt de» Bundesumweltministers, verglichen z. B. mit dem Sozialhaushalt, als Beweis für den Erfolg einer vorsorgenden Umweltpolitik anzusehen. Nicht der Bundesumweltminister muß das Geld für Umweltschutzmaßnahmen aufbringen, sondern der, dessen Anlagen ohne diese Maßnahmen Schäden für Mensch und Umwelt hervorrufen würden. Nicht der Bundesumweltminister muß das Geld für die Beseitigung von Umweltschäden aufbringen, sondern der, der sie verursacht hat. Natürlich weiß ich, daß trotz aller Vorsorge immer noch Umweltsünden begangen werden und daß für viele Altlasten, vor allen in den neuen Bundesländern, heute kein Verursacher mehr gefunden werden kann. Dafür gab es in der Tat in den ersten beiden Jahren der deutschen Einheit spezielle Titel im Haushalt des Bundesumweltministers. Wenn Sie das Fehlen dieser Haushaltsmittel heute wehklagend kritisieren, dann ist Ihnen sicherlich entgangen, daß ein Vielfaches dieser ehemaligen Mittel des Bundesumweltministers inzwischen in die Haushalte der Bundesländer eingestellt wurde. Beispielsweise ist der Haushalt des sächsischen Umweltministers nahezu genauso hoch wie der Haushalt des Bundesumweltministers. Dies war halt am Beginn der deutschen Einheit noch nicht so. ({0}) Eine Reihe weiterer Mittel in Milliardenhöhe werden jährlich aus dem Bundeshaushalt, aber eben nicht aus dem Haushalt des Bundesumweltministers, für die ökologische Sanierung der neuen Bundesländer transferiert - übrigens unter ausdrücklicher Billigung derer, die sie aufzubringen haben, nämlich der bundesdeutschen Steuerzahler. Ganz besonders die Steuerzahler West haben nach meiner Meinung großes Verständnis dafür, wenn mit ihren Geldern in den neuen Bundesländern Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanziert wird, Sanierung statt Stillstand. Sie sollten lieber einmal diese Tatsache würdigen, als ewig an denen herumzunörgeln, die dies auf den Weg gebracht haben. ({1}) Frau Caspers-Merk, Sie haben Erfolge der Umweltpolitik in dieser Legislaturperiode gesucht. Dazu will ich Ihnen ein Beispiel bringen. Der Bundesfachausschuß Umwelt der CDU war in der vergangenen Woche zu Gast in dem Gebiet Deutschlands, das einmal ein Synonym für Umweltzerstörung war, nämlich in Bitterfeld. Dieses Gebiet ist heute nicht mehr wiederzuerkennen. Die Schadstoffwerte in Luft und Wasser gleichen sich bundesdeutschem Durchschnitt an, hunderte Hektar Boden wurden saniert. Leider ist es wahr, daß ein erheblicher Anteil der Schadstoffreduzierung auf Betriebsschließungen zurückzuführen ist. ({2}) Wenn Herr Feige noch hier wäre, würde ich ihn fragen, ob er genau das kritisiert, wenn er von einer Deindustrialisierung in den neuen Bundesländern spricht, ob er meint, daß die Anlagen in Bitterfeld hätten weiterproduzieren sollen, ob sie mit ihren Emissionen weiterhin die Umwelt hätten schädigen sollen. Tausende Arbeitnehmer haben zunächst ihren Job verloren. Wohl in keiner Industrieregion Deutschlands, meine Damen und Herren, sind jemals so viele Arbeitsplätze in so kurzer Zeit verlorengegangen. Aber gerade dieses Bitterfelder Gebiet hat seine Herausforderungen und seine Chancen erkannt und hat die Möglichkeiten, die über die Sanierung der Umwelt durch die Bundesregierung gegeben waren, genutzt. Die Region Bitterfeld hat heute, meine Damen und Herren, eine Arbeitslosenrate, die um 6 bis 7 % unter der der durchschnittlichen Arbeitslosenrate in den neuen Bundesländern liegt. Dazu tragen im wesentlichen folgende Mittel bei: zunächst einmal rund 1,5 Milliarden DM jährlich für die Braunkohlensanierung in den neuen Bundesländern, insgesamt 2,3 Milliarden DM für die Sanierung von Chemiestandorten, und weitere 3,5 Milliarden DM für insgesamt 14 Großvorhaben. Dies gilt natürlich für die neue Bundesländer insgesamt, aber ein relativ erheblicher Anteil davon fließt verdient in die Region Bitterfeld. ({3}) Dafür wie für viele weitere Maßnahmen ist nicht eine Mark im Haushalt des Bundesumweltministers ausgewiesen. Die ökologische Sanierung der neuen Bundesländer als nationales Umweltprogramm läuft auf vollen Touren. Sie von der Opposition werden es nicht schaffen, dies durch kleinkariertes Auseinanderpflükken des BMU-Haushaltes kaputtzureden. ({4}) Der Erfolg in Bitterfeld zeigt sich u. a. in der Tatsche, daß auf den bereits sanierten Flächen mehrere 100 Millionen DM Investitionen, z. B. in eine pharmazeutische Fabrik oder in eine Großkläranlage, in Realisierung sind. Aber auch für Kläranlagen insgesamt sind im Gegensatz zu den Jahren 1990 bis 1992 im Haushalt des BMU keine Mittel mehr vorgesehen außer für Pilotanlagen, weil der Aufbau einer modernen Infrastruktur, zu der nicht zuletzt Abwasserbehandlungsanlagen gehören, prinzipiell Landesaufgabe ist. Deswegen sind die dafür notwendigen Mittel in den Länderhaushalten einzustellen. Wenn die Länder dazu aus eigenem Finanzaufkommen nicht in der Lage sind - in den neuen Bundesländern wird dies noch lange Zeit so sein -, dann müssen Ausgleichsleistungen aus dem Bundeshaushalt erbracht werden. Aber schon der riesige Finanzbedarf für Wasser und Abwasser - Schätzungen gehen dort auf bis zu 200 Milliarden DM - ist allein aus der öffentlichen Hand kurz- und mittelfristig nicht zu realisieren. ({5}) Hier müssen endlich neue Wege gefunden werden, um ausreichend vorhandenes privates Kapital für diese Aufgaben zu mobilisieren. In die private Wirtschaft und in privates Management wird zudem die Hoffnung gesetzt, solche Bauvorhaben zügiger und effektiver zu managen. - Daß sich diese Aussage nicht nur auf Kläranlagen bezieht, zeigt die Tatsache - dies möchte ich hier am Rande einmal erwähnen dürfen -, daß wir fast ein Jahr nach der feierlichen Einweihung des neuen Plenarsaals noch immer im Wasserwerk sitzen. ({6}) In den letzten Wochen hat aber die deutsche Wirtschaft insgesamt nicht gerade dazu beigetragen, daß das Vertrauen in ihre Managementfähigkeit gestiegen ist. ({7}) - Wenn Sie vielleicht etwas weniger brüllen würden; wenn Sie eine Zwischenfrage haben, können Sie sich gerne an mich wenden. Es spricht sich nur schlecht gegen jemanden, der permanent brüllt. Danke. ({8}) Sie hat in der Vergangenheit von der Politik und nicht zuletzt von der Umweltpolitik immer wieder verlangt, marktwirtschaftlichen Prinzipien Raum zu lassen. Sie wollte weniger ordnungsrechtliche Regularien und mehr Marktwirtschaft. Mit der Verpackungsverordnung hat sie dazu ein Angebot erhalten und hat dieses Angebot auch angenommen. Der Grüne Punkt und das DSD sind marktwirtschaftliche Instrumente, sind Erfindungen der Wirtschaft. ({9}) Daß das DSD zumindest beinahe finanziell gescheitert wäre, liegt nicht daran, daß der Gedanke der Verpackungsverordnung, nämlich die stoffliche Verwertung von Verpackungen, schlecht ist. Ursache war, daß simpelste kaufmännische Gesetze durch honorige Manager dilettantisch verletzt wurden. Diese Erfahrungen zeigen, daß die Verpackungsverordnung nicht in ihrem Grundgedanken korrigiert werden muß, sondern daß an den Stellen, an denen sie der Wirtschaft zuviel Spielraum gelassen hat, Korrekturbedarf besteht. Eine wichtige Erfahrung der Verpackungsverordnung - darin bin ich mit Ihnen, Frau Caspers-Merk, sicherlich einig - ist die, daß man sagen kann: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Aber solange uns die SPD ein einziges Wirrwarr von Alternativvorschlägen vorlegt - jedes SPD-regierte Land hat ja eine andere Einstellung zur Verpackungsverordnung -, werden wir insgesamt kaum etwas Konstruktives aus dem, was Sie entwickelt haben, machen können. ({10}) Frau Caspers-Merk, wenn Sie sich allein an der Farbe grün des Grünen Punktes stoßen, dann geht das eher in Richtung einer Ideologisierung, die insgesamt wenig hilfreich für eine Diskussion über die stoffliche Wiederverwertung von Verpackungen ist. Ihre politischen Vorstellungen reichen - zumindest bei dem, was ich bisher gehört habe - über den Ruf nach Verboten nicht hinaus. Meinen Sie wirklich, daß auch nur eine Tonne weniger Abfall ins Ausland exportiert werden würde, wenn es das DSD, wenn es die Verpackungsverordnung nicht geben würde? ({11}) Frau Enkelmann, Ihr Ruf nach dem guten alten DDR-SERO, so verständlich er aus Ihrer Sicht vielleicht sein mag, läßt sich nur so erklären, daß wir in einer Zeit leben, wo die Mark nicht mehr nur 20 Pf wert ist, und dadurch, daß die DDR mit ihrer chronischen Devisenknappheit und Rohstoffknappheit jeden Preis gezahlt hat, um das auszugleichen, was sie auf den internationalen Märkten nicht erwirtschaften konnte. Wir können es uns nicht mehr leisten, für jede leere Weinflasche einen Betrag zu zahlen, der ein Vielfaches des Wertes der Flasche ist. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition fordern, die Verpackungsordnung müßte insgesamt geändert werden, dann haben Sie nicht erkannt, daß gerade durch diese Verordnung von Umweltminister Klaus Töpfer die größte ökologische Wende im Verhalten der Konsumenten seit Bestehen der Bundesrepublik herbeigeführt würde. Mehr als 500 000 t Verpackungen wurden eingespart. Kaum eine Verpackung von heute hat noch die Ausmaße wie vor der Verpackungsverordnung. Eine 90 %ige Beteiligung der Bevölkerung zeigt, daß die Idee der Kreislaufwirtschaft bei Verpackungen genau ins Schwarze getroffen hat. Wir werden diese Idee mit dem Kreislaufwirtschaftsgesetz, dem wichtigsten umweltpolitischen Vorhaben in dieser Legislaturperiode, konsequent fortsetzen. Auch die Verpackungsverordnung und das Kreislaufwirtschaftsgesetz erfordern keine Haushaltsmittel, im Gegenteil. Sie entlasten die entsorgungspflichtigen Körperschaften und legen die Kosten gerecht auf die um, die sie verursachen, nämlich Erzeuger, Handel und Verbraucher. Nicht mehr künftige Generationen bezahlen unseren heutigen Wohlstand, indem wir ihnen ausgeplünderte Rohstofflager und dafür volle Mülldeponien zurücklassen. Ziel christdemokratischer Umweltpolitik ist es, aus der Wegwerfgesellschaft in eine verantwortungsbewußte Kreislaufwirtschaft zu kommen. Dies muß natürlich heutigen ökonomischen Gegebenheiten angepaßt sein. Aber viele Beispiele gerade aus den neuen Bundesländern zeigen, daß sich Behauptungen der etablierten Industrie zum Trotz neue lohnenswerte Wirtschaftsfelder eröffnen. Ein weiteres Kapitel aktiver, aber haushaltsneutraler Umweltpolitik ist die ökologische Bahnreform, die Anfang kommenden Jahres begonnen wird. Mit maßvollen Benzinpreiserhöhungen und nicht mit den Horrorzahlen reißerischer Medien wird die Bahn entschuldet und damit die Voraussetzung für ein wettbe14978 werbsfähiges, ökologisches und attraktives Verkehrsmittel geschaffen. Ich weiß, daß nicht überall bei den Menschen unseres Landes die Akzeptanz für die Benzinpreiserhöhung aus ökologischen Gründen gegeben ist. Ganz besonders trifft dies auf die Bürger der neuen Bundesländer zu, weil sie sich zu Recht fragen, warum sie im Jahr 4 der deutschen Einheit immer noch 5 bis 8 Pf mehr für den Liter Benzin bezahlen müssen. Diese Frage drängt sich schon deshalb auf, weil man vermutet, daß hier marktbeherrschende Positionen ausgenutzt werden. Die Antworten der Mineralölindustrie sind oft der Bau der vielen neuen Tankstellen und die weiten Transportwege für Tanklastzüge. Aber ich frage mich, ob die Tankstellen im Osten unbedingt schneller refinanziert werden müssen als die im Westen und ob eine Fahrt in den neuen Bundesländern mit einem Tanklastzug wirklich um die 2 000 DM mehr kostet als anderswo. Warum baut die Mineralölindustrie, wenn es denn so sein sollte, nicht endlich die entsprechenden Raffinerien und Lager im Osten? Oder kann sie mit dieser Situation besser leben, als wenn sie endlich handelte? Ich fordere die Mineralölwirtschaft auch aus ökologischen Gründen auf, endlich vergleichbare Verhältnisse in Ost und West zu schaffen. ({12}) Aber auch die SPD soll endlich sagen, was sie will. Verteuerung von Energie ist ein Schlagwort, das sehr oft und sehr gern von Umweltpolitikern der SPD kommt. Das klingt ökologisch, aber damit werden Sie in der SPD selbst nicht richtig ernstgenommen; denn noch niemand hat aus Ihrer Partei verbindliche Zahlen genannt und gesagt, in welche Richtung dies gehen soll. Dies sollten Sie der Ehrlichkeit halber vor dem nächsten Wahlkampf endlich einmal auf den Tisch legen. Ein großer Teil der Haushaltsmittel kommt dem Umweltschutz zugute, ohne daß diese Mittel im Haushalt des BMU auftauchen. Insgesamt sind dies im Jahre 1994 9 Milliarden DM. So laufen die vielfältigen Forderungen im Rahmen des CO2-Minderungsprogramms der Bundesregierung über die Haushalte der Fachressorts. Diese Forderungen gibt es natürlich nicht nur für die neuen Bundesländer, sondern sie werden auch in den alten Bundesländern konsequent fortgesetzt. Herr Wagner, wenn Sie die Frage stellen, warum die vielen Maßnahmen, die Sie hier erwähnt haben, nichts mit CO2-Minderung zu tun haben, muß man Ihnen das sicherlich zum einen ganz simpel technisch erklären. Zum anderen müssen Sie schon davon ausgehen, daß in der Bundesrepublik, zumindest unter dieser Regierung, keine Dauersubventionstatbestände geschaffen werden. Jedermann kann sich anhand des nationalen Klimaschutzberichts des Umweltministers davon überzeugen, daß das CO2-Minderungssprogramm der Bundesregierung konsequent umgesetzt wird. Wir halten das Ziel von 25 bis 30 % CO2-Emissionsreduzierung bis zum Jahr 2005 nach wie vor für erreichbar. ({13}) Wenn auch der bereits zu verzeichnende deutliche CO2-Rückgang von 1987 bis 1992 um 14,5 % vor allem auf die neuen Bundesländer zurückgeht, ist im laufenden Jahr 1993 bereits mit einem Absinken des CO2Ausstoßes auch in den alten Bundesländern zu rechnen. Die Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und CO2-Ausstoß ist erreicht, der nächste Schritt ist der entgegengesetzte Trend. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich unterstützte das, was der Kollege Baum zu den Haushaltsmitteln für die Erhöhung der Sicherheit in osteuropäischen Kraftwerken sowjetischer Bauart gesagt hat. Das sind Investitionen, die der Umwelt, die uns allen zugute kommen. Wenn wir die Möglichkeit haben, hier unterstützend einzugreifen, sollten wir es eher auf diese Art und Weise tun als mit Belehrungen über sofortiges Abschalten, weil dies den Menschen in den osteuropäischen Ländern nicht hilft, da es sie in eine immer größere Verelendung treiben würde. Meine Damen und Herren, die Koalition kann und will Umweltpolitik nicht gegen die Wirtschaft machen, auch wenn sie mitunter die Wirtschaft zu ihrem Glück zwingen muß. Viele Attribute des Standortes Deutschland, seine Standortvorteile sind durch eine vorsorgende Umweltpolitik entstanden, haben Milliarden Investitionen gebracht und tausende Arbeitsplätze geschaffen. Abwasserbehandlungsanlagen, Rauchgasreinigung und der Pkw-Katalysator sind nur einige Beispiele dafür. Das Marktvolumen für Umweltschutzgüter wird in Deutschland auf zur Zeit 40 Milliarden DM geschätzt, in der EG auf über 200 Milliarden. Deutschland hat einen Anteil von 21 % am Welthandel mit Umweltschutzgütern. Klaus Töpfer wies darauf hin, daß rund 700 000 Arbeitsplätze in Deutschland direkt oder indirekt vom Umweltschutz abhängen. Die Exportnation Deutschland ist auf die Fortführung erfolgreicher Umweltpolitik angewiesen. Durch das Kreislaufwirtschaftsgesetz, durch verbindliche Vorgaben zum Bodenschutz, durch weitere Beschlüsse zur Beschleunigung von Zulassungs- und Genehmigungsverfahren vor allem für umweltverbessernde Maßnahmen und durch vieles andere mehr wird die Attraktivität des Standortes Deutschland mit der Umweltpolitik dieser Koalition weiter verbessert. Vielen Dank. ({14})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit liegen mir nicht vor. So können wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau kommen und der Bundesministerin das Wort erteilen.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Haushalt des Bundesbauministeriums erreicht im Jahre 1994 mit einem Volumen von über 10,5 Milliarden DM eine Rekordhöhe. Mit einer Steigerung der Ausgaben um mehr als 32 % weist dieser Einzelplan den mit Abstand größten Zuwachs aller Ressorts auf. Der Gesamtverpflichtungsrahmen steigt sogar um 47,5 %. Meine Damen und Herren, diese Zahlen machen deutlich, daß sich die Bundesregierung für die Wohnungssuchenden in Ost und West, aber genauso für die konjunkturelle Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland verantwortlich fühlt und auch die richtigen Prioritäten setzt. ({0}) Ich zitiere immer ganz gerne aus seriösen Zeitungen, aber heute zitiere ich ganz besonders gern aus einer besonders seriösen Zeitung, nämlich der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" , die in ihrem Wirtschaftsteil den Kommentar zur Wohnungsbaupolitik der Bundesregierung mit dem Titel „Hoffnungsträger Wohnungsbau" überschreibt. ({1}) Wenn man nun in die Details des Einzelplans einsteigt, dann stellt man sehr schnell fest, daß ein besonders markanter Punkt herausragt, nämlich die Hilfen für die Wohnungswirtschaft Ost und hier insbesondere die Überbrückung für die Altschuldenhilfe der Wohnungswirtschaft und der Wohnungsgenossenschaften im Jahre 1994. Das, meine Damen und Herren, war ja der entscheidende Durchbruch, den wir bei den Solidarpaktverhandlungen erzielt haben. Auf Vorschlag der Bundesregierung haben wir die Länder überzeugt, daß jetzt die Altschulden der Wohnungswirtschaft zu über 50 % vom Bund übernommen werden und damit der wichtigste Hemmschuh für Investitionen in den Wohnungsbau in den ostdeutschen Bundesländern weggeräumt wird. ({2}) - Wenn Sie, Herr Großmann, sagen, dies sei zwei Jahre zu spät, dann frage ich Sie: Wer hat denn verhindert, daß das schon früher entschieden worden ist? Ganz sicher nicht die Bundesregierung, die alle halbe Jahre neue Angebote gemacht hat, ({3}) aber immer wieder von der Opposition kritisiert worden ist, die nichts vorgeschlagen hat außer der Null-Lösung! ({4}) - Natürlich regieren wir! Deswegen haben wir es ja durchgesetzt. Aber Ihre Miesmacherei, meine Damen und Herren von der Opposition, die nimmt Ihnen Gott sei Dank heute draußen auch keiner mehr ab. ({5}) In den vergangenen Jahren ist der Einstieg in die Modernisierung des Wohnungsbestandes Ost gelungen. Er ist ja auch mit umfangreichen Hilfen von Bund und Ländern erleichtert worden. 25 % der Wohnungen in den ostdeutschen Bundesländern sind inzwischen im Grunde saniert.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Ministerin, der Abgeordnete Dr. Seifert wollte gern eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie diese beantworten?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Gilt immer noch, daß das nicht auf die Redezeit angerechnet wird?

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das wird nicht auf die Redezeit angerechnet.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Dann kann der Abgeordnete Seifert gern eine Zwischenfrage stellen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte sehr, Herr Dr. Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Ministerin, wollen Sie wenigstens der Ehrlichkeit halber dazusagen, daß das Geld, das Sie den Wohnungsgesellschaften und -genossenschaften hier zugestehen, praktisch nur geparkt wird, daß in Wirklichkeit die Menschen aus Ostdeutschland das doch bezahlen müssen, indem Wohnungen zwangsweise verkauft werden?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Dr. Seifert, ich bin immer ehrlich, und Sie nehmen mir die Argumentation, warum dieser Weg, den wir eingeschlagen haben, richtig ist, geradezu vorweg. Mit der Altschuldenhilfe ist nämlich ein umfangreicher Schub zu mehr privatem Eigentum in den ostdeutschen Bundesländern verbunden. ({0}) Das mögen die Kommunisten nicht gerne hören; das kann ich mir wohl vorstellen. Aber für die Menschen in Ostdeutschland ist das eine Chance. Wir haben in den 31 Modellversuchen zur Privatisierung, die jetzt abgeschlossen sind, festgestellt, daß überall dort, wo in den Wohnungsgesellschaften und in der Gemeinde der politische Wille da ist, dem Privateigentum wirklich einen angemessenen Platz einzuräumen, die Privatisierung möglich ist und erfolgreich verläuft, die Menschen nicht überfordert. Sie sind im Gegenteil für diese Chance in vielen Fällen zutiefst dankbar. ({1}) Ich möchte an dieser Stelle noch darauf hinweisen, daß wir bei den Wohnungsgenossenschaften das 15-%-Erfordernis auch weiter für notwendig halten. Aber dies ist nicht Privatisierung. Genossenschaften sind ja schon privat. Wir wollen, daß Mitglieder der Genossenschaften Vollanteile erwerben können. Das ist der Weg, den wir auch in den Arbeitshilfen vorgeschlagen haben, die jetzt zur Grundlage der Anträge, die wir in den nächsten Monaten erwarten, gemacht werden. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Ministerin, Sie können das Fragebedürfnis des Abgeordneten Janzen befriedigen, wenn Sie wollen.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Gerne.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte sehr, Herr Janzen.

Dr. - Ing. Ulrich Janzen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001020, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Ministerin, ich hatte gestern die Gelegenheit, in meinem Wahlkreis auf der Straße auf einem Infostand mit Bürgern zu sprechen, und dort kam gerade diese Frage der Privatisierung bzw. Eigentumserzwingung in den Wohnungsgenossenschaften zur Sprache. Ich stelle an Sie die Frage: Hatten Sie schon die Gelegenheit, in Genossenschaften direkt zu diesen Fragen Stellung zu nehmen?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Abgeordneter, ich weiß selbstverständlich, daß auch viele Verantwortliche in den Genossenschaften die Macht, die damit verbunden ist, nicht gerne aus der Hand geben. Aber ich kenne aus sehr vielen Briefen, aber auch aus persönlichen Gesprächen bittere Klagen von Genossenschaftsmitgliedern, daß ihnen ihre Genossenschaft den Erwerb von Volleigentum verweigert. Denen möchten wir mit dem sanften Druck des Altschuldenhilfegesetzes doch auch zu ihrem Recht verhelfen, Herr Kollege Janzen. ({0}) - Der Vorrang der Privatisierung zugunsten der Mieter steht im Gesetz drin. Aber wir werden sicher noch genügend Zeit haben, dies in den nächsten Monaten weiter zu diskutieren. Nur wird aus Ihren Zwischenfragen vom Grunde her das Mißtrauen gegen das Einzeleigentum und das Privateigentum deutlich, was vielleicht noch ein Stück Erblast ist. Dies gilt es zu durchbrechen. Ich kenne sehr viele Bürger in den ostdeutschen Bundesländern, die das mit uns durchbrechen wollen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Ministerin, ich lasse jetzt noch die Frage, wenn Sie sie beantworten wollen, von Dr. Hitschler zu. Ich mache aber darauf aufmerksam, daß wir die Gesamtzeitplanung schon um über eine Stunde überschritten haben. Ich bitte um Verständnis, daß ich weitere Zwischenfragen an diese Bundesministerin nicht zulassen werde. Bitte sehr, Herr Hitschler.

Dr. Walter Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Ministerin, ist Ihnen inzwischen bekanntgeworden, daß auch die Friedrich-Ebert-Stiftung demnächst unter der Leitung unseres Kollegen von der SPD, Herrn Großmann, in Berlin einen Kongreß durchführt und in der Einladung zu dieser Veranstaltung von der Privatisierung im Wohnungsbau in den neuen Bundesländern als einer wichtigen und bedeutsamen Aufgabe spricht? Offensichtlich gibt es unter den sozialdemokratischen Kollegen außerhalb des Hauses mehr Leute, die Privatisierung als eine zentrale Aufgabe in den neuen Bundesländern ansehen, als hier.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Kollege Hitschler, ich bin Ihnen dankbar für diesen Hinweis. In der Tat - die Friedrich-Ebert-Stiftung steht den Sozialdemokraten nicht ganz fern - wird unter diesem Titel ein solcher Kongreß veranstaltet. Aber vielleicht ist das die interne Arbeitsteilung: Der Herr Großmann spricht sich für die Privatisierung aus, und der Herr Janzen spricht dagegen. Da muß die SPD vielleicht noch ihre Positionen klären.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Aber die Bemerkung, daß es sich um einen Hinweis und nicht um eine Frage handelte, Frau Ministerin, war berechtigt.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Das ist Ihr Kommentar, Herr Präsident. Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung zur Entwicklung in den ostdeutschen Bundesländern machen. Auch die Neubauentwicklung verläuft glücklicherweise jetzt positiver. Mit 21 600 Baugenehmigungen von Januar bis Mai dieses Jahres können wir praktisch eine Verdoppelung gegenüber dem Vorjahresergebnis erwarten. Das ist noch nicht genug, um den Bedarf zu decken, aber es zeigt, daß es auch da aufwärtsgeht. Im Wohnungsbau West, meine Damen und Herren, werden die Erfolge der marktwirtschaftlich orientierten Politik dieser Bundesregierung aus den letzten Jahren deutlich sichtbar. Mit ca. 500 000 Baugenehmigungen allein im Jahre 1993 wird ein Stand erreicht wie in den vergangenen 15 Jahren nicht. ({0}) - Herr Großmann, selbst in Nordrhein-Westfalen hat man 1985, als zwischen 500 000 und einer Million Wohnungen im Westen leerstanden, davon geredet, daß man keine Wohnungen mehr bauen muß, und das waren immer Ihre Parteifreunde. Also lassen Sie doch diese Geschichtsklitterung! 500 000 Baugenehmigungen allein im Jahr 1993 zeigen ganz deutlich, daß wir die Probleme nicht überwunden haben, aber daß wir hier auf einem erfolgreichen Weg sind. Dieser Weg, meine Damen und Herren, darf nicht unterbrochen werden. Deswegen erfüllt es mich mit Sorge, wenn jetzt die Sozialdemokraten, wie gestern Ihr Parteivorsitzender, hier anfangen, die Neiddiskussion auf die steuerliche Förderung von Wohnungsbau auszudehnen. Meine Damen und Herren, man kann Wohnungsbau nicht ohne wirtschaftspolitischen Sachverstand machen. Wir brauchen privates Kapital, und privates Geld ist heute selbst für Sozialdemokraten nicht mehr anrüchig. Also lassen Sie es uns doch in den WohBundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer nungsbau investieren! Aber dann muß man auch sehen, daß die Investitionen in den Wohnungsbau mit anderen Anlageformen konkurrieren, die ganz selbstverständlich nach unserem Besteuerungssystem gefördert werden. Deswegen ist es nur Auswuchs einer völlig verqueren Neiddiskussion, die den Neubau gefährdet, wenn Sie jetzt anfangen, dies in Frage zu stellen. ({1}) Wir werden, um noch ein anderes wichtiges Thema zu erwähnen, den sozialen Wohnungsbau im Jahre 1994 auf hohem Niveau weiter fördern, und zwar in exakt den Ansätzen, wie mit den sozialdemokratisch regierten Ländern ({2}) im Solidarpakt vereinbart. Insofern mutet es schon etwas merkwürdig an, wenn die Sozialdemokraten jetzt wieder auf das kurze Gedächtnis spekulieren und sagen: Aber guck mal, das ist doch alles viel zuwenig. - Zugestimmt haben Sie diesen Ansätzen, und ich bitte Sie, sich endlich dazu zu bekennen. ({3}) 130 000 Wohnungen werden im nächsten Jahr damit gefördert. Aber ich sage: Das ist mir eigentlich nicht genug. Ich möchte gerne, daß mit dem gleichen Geld 180 000 bis 200 000 Wohnungen gefördert werden. Das ist möglich, wenn hier endlich die ideologischen Barrieren gegenüber dem alten Fördersystem aufgegeben werden. Ich habe ein neues Fördersystem mit einer Objektförderung und einer kombinierten Subjektförderung vorgeschlagen. Es führt zu einkommensorientierten Mieten. Damit wird der soziale Skandal der Fehlbelegung von vornherein vermieden. Seit einem Jahr sperren sich jetzt die Länder - außer Baden-Württemberg und Bayern -, dieses System einzuführen, weil sich die Minister - intern sagen sie immer: selbstverständlich ist das mit der einkommensorientierten Förderung richtig; die Gleichmacherei können wir uns nicht mehr leisten; Subventionen von 30 DM/qm für eine Sozialwohnung können wir uns nicht mehr leisten- offensichtlich gegen ihre eigene Förderbürokratie und gegen ihre eigenen Ideologen nicht mehr durchsetzen können. Deswegen werden wir das im nächsten Jahr mit denjenigen Ländern machen, die das mit uns tun wollen. ({4}) Ich denke, wir werden den anderen Ländern vorführen, daß man mit diesem System schneller und sozial gerechter die angelaufenen Probleme bewältigen kann. ({5}) Meine Damen und Herren, ein Wort zum Wohngeld. Wohngeld ist die notwendige soziale Abfederung einer schwierigen wohnungspolitischen Situation. ({6}) - 20 % der Haushalte sind noch nicht gerade der Regelfall. 20 % der Haushalte ist viel im Osten der Bundesrepublik Deutschland. Etwa 4 % sind es im Westen; auch das ist noch nicht der Regelfall. Aber ich möchte, meine Damen und Herren, um der Verunsicherung entgegenzuwirken, die hier immer wieder verbreitet wird, ganz klar sagen: Die Wohngeldregelungen bleiben so, wie sie mit den Sozialdemokraten im vergangenen Jahr festgelegt worden sind. ({7}) Daran wird nichts gekürzt, nichts verändert. Die bleiben, wie mit den Sozialdemokraten festgelegt. ({8}) Daß trotzdem der Ansatz für das Wohngeld 1994 etwas niedriger ausfällt als 1993, meine Damen und Herren, reflektiert steigende Einkommen in den ostdeutschen Bundesländern. Das sind die Zusammenhänge. Ich meine, um der Verängstigung vorzubeugen, ist es wichtig, dies immer wieder zu erwähnen, Meine Damen und Herren, die Bundesregierung setzt mit diesem Haushalt Akzente für mehr Wohnungen in Ost und West. Sie setzt Akzente für die Konjunkturlokomotive Wohnungsbau in Ost und West und damit die richtigen Akzente für die Menschen in Deutschland. ({9})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun hat der Kollege Achim Großmann das Wort.

Achim Großmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000735, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man brauchte keine seherischen Gaben, um zu wissen, was die Bauministerin uns heute vortragen wird. ({0}) Frau Schwaetzer würde auf den Engpaß im Wohnungsmarkt hinweisen, der nicht zu leugnen sei, und würde darauf hinweisen, daß man auf dem richtigen Weg sei. Sie würde stolz auf die zweistelligen Zuwachsraten bei den Wohnungsfertigstellungen verweisen. Es sind 400 000 in diesem Jahr. ({1}) Schließlich würde - auch damit hat jeder gerechnet - Frau Schwaetzer ihren eigenen Haushalt loben. Schließlich habe man ja eine Steigerung von 32,3 % auf 10,5 Milliarden DM aufzuweisen. ({2}) Das war völlig klar. Alles paletti im Wohnungsbau? Schlechte Karten für die Opposition? Keineswegs! Diese Geschichte von der heilen Welt glauben Ihnen Millionen von Wohnungssuchenden, Obdachlosen, Umwandlungs- und Verdrängungsgeschädigten, kinderreichen Familien, Alleinerziehenden, Studenten und selbst Bauwilligen nicht mehr. ({3}) Man ändert die Wirklichkeit nicht dadurch, daß man sie auf das reduziert, was einem politisch in den Kram paßt. ({4}) Auch Schönreden und Märchenerzählen auf tausendundeiner Pressekonferenz helfen nicht mehr weiter. Die Wirklichkeit auf dem bundesdeutschen Wohnungsmarkt ist gegenüber der letzten Haushaltsberatung unverändert dramatisch. ({5}) Ich will das an einigen Beispielen aufzeigen. Erstens. Nach wie vor fehlen 2 bis 3 Millionen Wohnungen. Das Defizit an Wohnungen steigt. ({6}) Das Rechenexempel ist sehr einfach: Rund 400 000 Wohnungen werden neu gebaut; etwa 100 000 verschwinden durch Abriß, Zweckentfremdung oder Zusammenlegung. Den netto etwa 300 000 neuen Wohnungen steht ein Bedarf von 500 000 bis 600 000 Wohnungen gegenüber. Zweitens. Die Mieten schießen ungebremst in den Himmel. Bei Wiedervermietung sind in den Ballungsräumen, wie das Institut für Städtebau, Wohnungswirtschaft und Bausparwesen vermerkt, auch dieses Jahr bereits in den ersten sieben Monaten Mietsprünge von 20 bis 30 % keine Seltenheit. In den ersten sieben Monaten sind die Durchschnittsmieten um 6,2 % gestiegen. Drittens. Die Zahl der sozial gebundenen Wohnungen geht dramatisch zurück. 1987 waren es noch 4 Millionen; zur Zeit sind es noch ungefähr 2,7 Millionen, wahrscheinlich schon weniger. Jedes Jahr werden es weniger, weil weniger Sozialwohnungen hinzugebaut werden, als aus der Bindung herausfallen. Dabei führen die zunehmende Armut und die immer schlimmer werdende Arbeitslosigkeit dazu, daß natürlich immer mehr preiswerter Wohnraum nachgefragt wird. Viertens. Das Heer der Obdachlosen wächst immer weiter. Inzwischen hat die Zahl der Menschen, die kein ordentliches Dach über dem Kopf haben, 1 Million überschritten. Im letzten Winter sind 30 obdachlose Menschen gestorben, und alle haben davor Angst, wie es im kommenden Winter aussieht. Fünftens. Die Regierung hat über ein Jahr Maßnahmen gegen die spekulative Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen verzögert. Tausende von Mietern haben täglich Angst, das Dach über dem Kopf zu verlieren. Es ist eine Wohnungsklau- statt einer Wohnungsbaupolitik. Sechstens, siebtens, achtens. Die Realitätsbeschreibung müßte fortgesetzt werden; aber die Fakten sind bekannt. Ist die Bundesregierung nun mit dem vorgelegten Haushalt in der Lage, nach einem Jahrzehnt völlig verpfuschter Wohnungspolitik endlich das Ruder herumzureißen? Um diese Frage zu beantworten, muß man zweimal hinsehen. Der Gesamtetat steigt um 4,4 %; der Etat des Bauministeriums steigt um 32,3 %. Wer glaubt, daß damit die dringend notwendige Trendwende im Wohnungsbau eingeleitet worden ist, wird beim zweiten Hinsehen jäh enttäuscht. Zieht man nämlich die 2,3 Milliarden DM ab, die man als Zinsen für die Altschulden der Wohnungsunternehmen in den neuen Bundesländern zahlen muß, so verbleibt noch ein Plus von 230 Millionen DM. Die Steigerung schrumpft auf gerade einmal 3 %. Sie liegt damit unter der Steigerung des Gesamthaushalts. Wenn man in den Finanzplan hineinschaut, stellt man fest, daß 1996 mit 7,9 Milliarden DM wieder die gleiche Summe zur Verfügung steht wie 1993. Das ist der eigentliche Skandal dieses Haushalts. ({7}) Wer angesichts der immer größer werdenden Herausforderungen der Wohnungsnot zielgerichtete und längerfristig angelegte Aktivitäten der Bauministerin erwartet hatte, wird enttäuscht. Die Wohnungspolitik der Regierung stellt sich dar, wie sie sich in den letzten Jahren dargestellt hat: ideenlos, konzeptlos, orientierungslos. Sie ist, was Gift für den Wohnungsmarkt ist, sprunghaft und kurzsichtig, und sie ist, was wiederum keinen mehr überrascht, sozial ungerecht. Wie wollen Sie, Frau Bauministerin, z. B. den Arbeitnehmern erklären, daß Sie ihnen die Arbeitnehmersparzulage beim Ansparen für das Häuslebauen streichen; ein Mehrfaches der eingesparten Summe aber den Vielverdienern zuschieben, die ein weiteres Jahr lang Schuldzinsen für das bereits gebaute Häuschen von der Steuer absetzen können? ({8}) Wie wollen Sie eigentlich einer Familie mit 3 Kindern und einem Jahreseinkommen von 56 000 DM erklären, daß sie keinen Pfennig Baukindergeld bekommt, weil das nämlich nur Familien erhalten, die ein höheres Einkommen haben müssen?

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Kollege Großmann, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen?

Achim Großmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000735, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber gerne.

Dr. Walter Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Großmann, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß sich die F.D.P.-Fraktion für den Erhalt der Arbeitnehmersparzulage in den Gesprächen mit dem Koalitionspartner einsetzen will, dafür Kompensationsvorschläge bei anderen Einsparungen machen wird und hoffentlich dafür sorgen wird, daß die Arbeitnehmersparzulage erhalten bleibt?

Achim Großmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000735, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich höre das mit Freude, und wir warten alle gespannt ab, ob Sie sich durchsetzen können. Wie, Frau Bauministerin, erklären Sie einem Polizisten oder einer Kindergärtnerin in München, daß sie zwar nicht viel, aber leider etwas zuviel verdienen und deshalb keine Sozialwohnung bekommen können und dann auf dem freien Wohnungsmarkt auf Mieten von über 20 DM angewiesen sind? ({0}) Wie wollen Sie eigentlich denen, die Wohngeld beantragen, Frau Bauministerin, erklären, daß die Miete leider zu hoch ist, weil sie über der Höchstgrenze liegt, und sie deshalb für den Mehrbetrag überhaupt kein Wohngeld mehr bekommen? Daß auch in Zukunft das Wohnungsuchen kein Zuckerschlecken, sondern für viele der blanke Existenzkampf wird, dafür sorgt diese Bundesregierung mit weiteren tiefen Einschnitten. Die Zahl der Sozialwohnungen in unserem Land geht dramatisch zurück; ich habe es eben an Zahlen klargemacht. Nur noch 10 % der Wohnungen bei uns sind sozialgebunden. Jedes westeuropäische Nachbarland hat einen größeren Bestand an Sozialwohnungen als die Bundesrepublik. Aus dem Neubau will man sich Schritt für Schritt zurückziehen. 30 % Kürzungen zeigt der Finanzplan für den sozialen Wohnungsbau. Man muß sich das einmal vorstellen. Das bedeutet, um 1 Milliarde DM wird der Finanzrahmen für den sozialen Wohnungsbau in den nächsten drei Jahren zurückgeschnitten. Daß die Länder dem Vorschlag der einkommensbezogenen Sozialmiete sehr kritisch gegenüberstehen, den die Bauministerin vorgelegt hat - nicht dem Gedanken stehen sie kritisch gegenüber; das wird schon lange z. B. in Nordrhein-Westfalen und Hessen praktiziert -, liegt daran, daß das Modell, von dem wir seit einem Jahr hören, es sei vorhanden, bis heute nicht durchgerechnet worden ist und daß z. B. beim letzten Mal die Gutachter, die das Modell durchrechnen sollten, von einer Zusatzförderung sprechen mußten, die enorm war. Dann hat man sich darauf geeinigt, daß wahrscheinlich ein Programmfehler vorliegen würde. Ich habe mir noch im Juli die Frage gestellt: Wie sieht es noch aus? Was kommt auf die Länder und auf die Kommunen zu? Die Antwort war: Wir haben noch gar keine Modellrechnungen. Es gibt sie noch nicht. Legen Sie die Modellrechnungen auf den Tisch, dann können wir über das Modell sprechen. Bis dahin ist es heiße Luft, die den Mietern nicht hilft, vor allem denen nicht, die auf der Straße stehen. Der zweite große Einschnitt erfolgt beim Wohngeld. Da brüstet sich die Wohnungsbauministerin gerade noch, wie wichtig das Wohngeld sei, und sagt, daran werde nichts verändert. Nur läuft im Osten das Wohngeldsondergesetz 1994 aus. Dort steigt die Arbeitslosigkeit. Es gibt immer mehr Sozialhilfeempfänger, weil nämlich die Arbeitslosenhilfe ausläuft und die Leute auf Sozialhilfe angewiesen sind. Gleichzeitig explodieren vielerorts die Mieten auf Grund der Umlage, der Instandsetzungs- und Modernisierungskosten. Wir haben also in vielen Städten das Problem, daß die schlechtesten Wohnungen, in die am meisten Geld gesteckt werden mußte, die höchsten Mieten haben. Das sind Mieten von 10, 11, 12, 13, 14 DM, die dort teilweise zustande kommen. ({1}) Bei diesem Zustand kürzen Sie das Wohngeld in der Finanzplanung. Die Regierung kürzt es bis 1995 um 25 % - das sind die Eckdaten dieses Haushalts - und tischt uns dabei - wir haben es gerade live erlebt - noch das Märchen auf, gestiegene Einkommen machten weniger Wohngeld nötig. Es sind die hohen Mieten, die aus dem Wohngeld herausfallen, weil Sie die Miethöchstbeträge nicht rechtzeitig angepaßt haben. Über 40 % der Mieten liegen bereits über den Miethöchstgrenzen für Wohngeld. Die Mieten steigen seit Jahren viel schneller als die Einkommen. Allein im ersten Halbjahr - ich habe die Zahl erwähnt - um rund 6 %. Aufgabe einer sozialverantwortlich handelnden Bauministerin wäre es also, das Wohngeld schleunigst anzupassen und im Osten das Wohngeldsondergesetz zu verlängern, statt eine unsoziale Ausgabensenkung zu betreiben. ({2}) Der dritte große Einschnitt betrifft wieder diejenigen, die die staatliche Förderung am meisten brauchen. Erst mit der staatlichen Unterstützung beim Ansparen von Eigenkapital wurde es über Jahrzehnte hinweg für die Bezieher kleinerer und mittlerer Einkommen möglich, zu einem eigenen Haus zu kommen. Mit der Streichung der Arbeitnehmersparzulage würde die Bundesregierung also nicht nur Schaden für die einzelnen Arbeitnehmer anrichten, sondern sie würde den Wohnungsbau insgesamt schädigen. Man muß sich das einmal vorstellen: Mit einer minimalen staatlichen Förderung von rund 300 Millionen DM Förderung werden privat 7 Milliarden DM angespart. Das macht rund 20 % der bei den Bausparkassen eingehenden Spareinlagen aus. Diese Summe wiederum entspricht ungefähr 30 000 Vollfinanzierungen. Ich komme noch einmal auf das zurück, was ich eben Herrn Hitschler sagte. Wir können nur hoffen, daß das rückgängig gemacht wird, weil es wirklich ökonomischer Blödsinn wäre. ({3}) - Herr Kansy und Herr Hitschler, vielleicht können Sie kurz hinausgehen und sich verständigen, ob wir es nun erleben dürfen, oder ob wir es nicht erleben dürfen. ({4}) Vielleicht ist da noch eine Koalitionsrunde nötig. Der Wegfall der Arbeitnehmersparzulage würde nicht nur den Bau selbstgenutzten Eigentums gefährden, sondern auch einen gesellschaftspolitischen Kahlschlag bedeuten; denn schließlich hat dieses über Jahrzehnte funktionierende und tarifvertraglich fest14984 geschriebene Konzept dazu geführt, daß Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand stattgefunden hat. Ich habe es eben schon erwähnt: Die soziale Stoßrichtung dieser finanzpolitischen Maßnahme wird überdeutlich, wenn man sieht, daß derselbe Gesetzentwurf die Verlängerung des Schuldzinsenabzuges für selbstgenutztes Wohneigentum um ein Jahr festschreibt. Damit kassieren gut bis sehr gut verdienende Bauherren, die die Förderung des Staates meistens gar nicht nötig haben, 1 Milliarde DM Steuervorteile zusätzlich. ({5}) Beim kleinen Häuslebauer würde abkassiert, wenn es so käme - ich gehe davon aus; noch steht es fest -, den Vielverdienern wird es nachgeworfen. Das ist wirklich Klientelpolitik, wie man sie krasser nicht formulieren könnte. ({6}) Der vierte unverständliche Einschnitt ist die geplante Abschaffung des Schlechtwettergeldes, - erneut eine Milchmädchenrechnung. Schwerwiegende sozialpolitische Verwerfungen werden die Folge sein; denn den kurzfristigen Einsparungen in Höhe von etwa 900 Millionen Mark jährlich stehen Folgekosten von knapp 3 Milliarden DM gegenüber, die sich aus den erhöhten Belastungen für die Bundesanstalt für Arbeit und die Sozialversicherungsträger bzw. aus Steuerausfällen ergeben. In den Wintermonaten werden fortan zusätzlich etwa 300 000 arbeitslose Bauarbeiter das bereits 4 Millionen Menschen betragende Heer der Arbeitslosen ergänzen. Der Baubranche wird damit als einem der wenigen expandierenden Wirtschaftszweige bewußt Schaden zugefügt, die Schwarzarbeit wird neu aufblühen, und hochqualifizierte Beschäftigte werden wie anno 1959 zu Saisonarbeitern degradiert, und viele werden aus ihrem Beruf abwandern. ({7}) Zu Recht kann man eine solche Politik nur als „ökonomischen Schwachsinn" bezeichnen, wie es jüngst der Vorsitzende der IG Bau-Steine-Erden auf den Punkt gebracht hat. ({8}) Den Stein der Weisen will die Bundesregierung jetzt in der Winterbauförderung gefunden haben, ohne allerdings bis heute ein Konzept dazu vorgelegt zu haben. Seit einem Jahr warten wir nach einem Obleutegespräch darauf, daß sich der Bauausschuß mit Konzepten der Bundesregierung zu diesem Thema beschäftigt. Bis heute Fehlanzeige. Wer aber jetzt Hunderttausende von Menschen bewußt in die Arbeitslosigkeit treiben will, ohne daß ein langfristiges Winterbaukonzept auch nur angedacht ist, handelt zynisch und verantwortungslos. ({9}) Wir werden verhindern, daß das in mehr als 30 Jahren bewährte Schlechtwettergeld ohne akzeptierte Alternative zur Konsolidierung der maroden Staatsfinanzen herhalten soll. Konzeptionslosigkeit findet sich auch im Papier des Wirtschaftsministers mit dem blumigen Titel „Zukunftssicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland". Es enthält die wahrlich revolutionäre Forderung, die Kommunen sollten schwer zu vermittelnden Mietern öfter eine Wohnung zuweisen. Dies ist Alltag, Frau Bauministerin! Wo leben Sie eigentlich, daß Sie nichts von der beklemmenden Finanznot der meisten Kommunen gehört haben? Wer diese Finanznot kennt, muß schon deutlich machen, welche konkreten finanziellen Hilfen für den Erwerb von Belegungsrechten seitens des Bundes zur Verfügung gestellt werden sollen, nachdem Herr Eekhoff, der Ihnen ja nicht so fernsteht, gerade in seinem Buch erklärt hat, daß sei nach dem Grundgesetz gar nicht möglich. Klammheimlich den Kommunen die Kosten für eine verfehlte Wohnungspolitik in die Schuhe zu schieben ({10}) ist in höchstem Maße dreist und unseriös. ({11}) Völlig konzeptionslos wurstelt die Regierung bei der Häuslebauersteuerförderung herum. Noch nie ist ein einziger Steuerparagraph innerhalb einer einzigen Legislaturperiode so oft geändert worden wie der § 10e. ({12}) - Ja, wir müssen ihn noch einmal ändern, weil Sie es nicht geschafft haben, ihn vernünftig zu ändern. Sozial gerechter ist die Sache dabei nicht geworden, im Gegenteil. Zusammen mit dem Schuldzinsenabzug kassieren die Vielverdiener viel und kräftig ab; der Facharbeiter schaut in die Röhre. ({13}) - Was nutzt die schönste steuerliche Förderung, Herr Hitschler, wenn Otto Normalverbraucher, und zwar erst recht der in den neuen Bundesländern, sie nicht in Anspruch nehmen kann? Kein Wunder, daß der Anteil der Menschen, die im Eigentum wohnen, auf unter 40 % gefallen ist. Wir haben als Bundesrepublik Deutschland die rote Laterne in Westeuropa. Die dringend erforderliche Umgestaltung des § 10 e in eine sozial gerechtere Förderung blockieren Sie wider jede Vernunft. Ein Teil des dafür nötigen Geldes haben Sie sich auch noch vom Kollegen Waigel abnehmen lassen, Frau Ministerin; denn statt die eingesparten Steuermittel bei der Halbierung der steuerlichen Förderung von Bestandskäufen für sinnvolle Reformen zu nutzen, lassen Sie den Bauetat Stück für Stück plündern. Meine Damen und Herren, fast 25 % des Haushalts fließen in die Altschuldenhilfe der neuen Länder. Das begrüßen wir ausdrücklich. Die SPD hat jahrelang darauf gedrängt, zu einer wirklich akzeptablen Lösung zu kommen. Daß die Lösung eindeutig zu spät kommt und den Steuerzahler zusätzliche Milliarden kostet, bestätigt mit Zahlen aus dem Bundesbauministerium auch das Bundeskanzleramt. In einem Papier an die Abgeordneten heißt es wörtlich: Einen entscheidenden Impuls für diese Investitionsoffensive hat sicherlich die Lösung der Altschuldenproblematik gegeben. Dadurch wird, so schätzt das Bundesbauministerium, das Bauvolumen im Wohnungsbestand von gegenwärtig 13 Milliarden auf voraussichtlich über 30 Milliarden DM ansteigen. Das ist, meine Damen und Herren, nichts anderes als das Eingeständnis, daß die von der Bundesregierung verschuldete Verzögerung der Altschuldenfrage über mehrere Jahre hinweg Investitionen in zweistelliger Milliardenhöhe blockiert hat. ({14}) Der Entwurf des Haushalts 1994 und der Finanzplanung zeigen: Im Wohnungsbau nichts Neues. Die Wohnungsnot wird ebenso weiter steigen wie die Mieten. Das Umverteilen von unten nach oben geht lustig weiter; eine schlimme Enttäuschung für alle, die eine sozial gerechte Wohnungspolitik so dringend nötig haben. Mit der Sichtweise von Frau Schwaetzer habe ich meine Rede begonnen, aber auch Herr Kansy soll noch zu Wort kommen. Er sieht - Zitat - „Anzeichen von Obdachlosigkeit in Deutschland, die wir uns bislang nur in Manchester oder in der Bronx vorstellen konnten." Über Ihre, Frau Bauministerin, gesamte Wohnungspolitik fällt der Kollege Kansy das vernichtende Urteil: „Eine Kiste voller Krücken". ({15}) Dieser regierungsinternen Sicht der Dinge ist aus oppositioneller Sicht nichts hinzuzufügen. Vielen Dank. ({16})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Als nächster spricht der Kollege Dieter Pützhofen.

Dieter Pützhofen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001759, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Entwurf für den Haushalt 1994 des Bundesbauministeriums, der heute zur Beratung eingebracht wird, hebt sich in vielen Daten deutlich von den Eckdaten ab, die den Bundeshaushalt insgesamt prägen oder prägen müssen. Während der Gesamthaushalt von Sparnotwendigkeiten, von dem Bemühen um ein Eindämmen der Staatsausgaben bestimmt ist, steigen die Mittel, die die Bundesregierung für den Wohnungs- und Städtebau mit diesem Etat 1994 zur Verfügung stellt, um 32 % - von knapp 8 Milliarden DM auf 10,6 Milliarden DM. Das ist die höchste Steigerungsrate, die überhaupt ein Einzeletat vorzuweisen hat. ({0}) - Ja, nun warten Sie einmal. Wir erreichen damit die höchsten Volumen an Bundesmitteln, die bislang für diesen Aufgabenbereich zur Verfügung gestellt worden sind. Ich hatte eigentlich gedacht, daß der Kollege Großmann seine Rede mit den Worten beginnen würde: Hochachtung, Frau Ministerin, für diese großartige Leistung. ({1}) Wir sind der Regierung sehr dankbar dafür, daß es zu einer solchen Ausweitung des Etats kommt. ({2}) Oder: Das ist ein großartiger Kraftakt, Frau Ministerin. Irgend so etwas hatte ich jetzt erwartet. Aber der Herr Großmann: Nörgeln und keine Freude an der Entwicklung; wir bringen den Staat in Ordnung. Sie bringen ja immer diese Vergleiche, lieber Herr Großmann. ({3}) Wenn Sie diese Vergleiche bringen: Der letzte Etat, der letzte Haushaltsentwurf für Bauen und Wohnen, der unter sozialdemokratischer Verantwortung entstand, erreichte nicht einmal die 5-Milliarden-Grenze; es waren 4,95 Milliarden DM. ({4}) Wenn man diese Zahlen liest, meine Damen und Herren, und dann hört, daß die Sozialdemokraten ein Papier vorgelegt haben, das den Titel „Für einen Wechsel in der Wohnungspolitik" haben soll, dann fragt man sich natürlich: Wohin denn wechseln? Auf die alten Positionen der Sozialdemokraten? Um Gottes willen! Ihr Verhältnis zur Wohnungspolitik haben Sie doch damals nachgewiesen. Das ist doch die größte Lachnummer der Jahre bis 1982 gewesen. ({5}) - Reizen Sie mich nicht! Sonst lese ich Ihnen vor, was Sie bis 1982 gebaut haben. Da würde es Ihnen aber schlecht. Angesichts dieser Daten der Bundesregierung von einem Abbau der Leistungen zu sprechen, ist also schlicht falsch oder zumindest kühn. Die enorme Steigerung der Bundesmittel für den Wohnungs- und Städtebau im kommenden Jahr - trotz aller Sparzwänge - hat guten Grund. Sie ist einmal Ausdruck der sozialen Verantwortung der Bundesregierung, die die Wohnung als eine der Grundvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben sieht. Das gilt gleichermaßen für Ost und West. Gerade dieser Haushalt ist ein guter Beleg dafür, wie abwegig der ständig wiederholte Vorwurf ist, es werde eine Sparpolitik einseitig zu Lasten der sozial Schwachen betrieben. Der zweite Grund für die Steigerung liegt in der wirtschaftlichen Bedeutung, die gerade dieser Haushalt hat. Wir kennen die Daten in Ost und West. Im Wohnungs- und Städtebau gehen wirtschaftliche und soziale Ziele wie in kaum einem anderen Bereich zusammen. Dieser Haushalt trägt mit der großen Steigerung der investiven Mittel dafür Sorge, daß die Bauwirtschaft Stütze und Motor der gesamten Wirtschaft bleibt. Wenn heute die bauwirtschaftliche Entwicklung gegenüber vielen anderen Wirtschaftsbereichen in den alten Bundesländern nach wie vor positiv verläuft, wenn die Bauwirtschaft in den neuen Bundesländern weiterhin einen rasanten Aufschwung nimmt, dann ist das im wesentlichen der Haushaltspolitik des Bundes und damit auch Ihrer Haushaltspolitik, Frau Ministerin, zu verdanken. ({6}) Während sich die Wohnungspolitik der Opposition im Ruf nach dirigistischen staatlichen Eingriffen erschöpft, die den Wohnungsmarkt strangulieren und Neubau verhindern, handelt diese Bundesregierung mit den Mitteln einer sozialen Wohnungsmarktwirtschaft, die die ja nur scheinbaren Gegensätze zwischen sozialen und ökonomischen Ansprüchen überbrücken. Der Weg, den die Bundesregierung im Wohnungs- und Städtebau eingeschlagen hat und den sie mit dem Haushaltsentwurf 1994 fortsetzt, zeigt inzwischen deutliche Erfolge. Die Zahl der Wohnungsbaugenehmigungen allein in den alten Bundesländern ist im vergangenen Jahr auf 460 000 gestiegen. In diesem Jahr nehmen wir an, daß die Zahl der Neubaugenehmigungen 500 000 überschreiten wird. Zum Vergleich: Vor vier Jahren waren es nur wenig mehr als 200 000. Der Aufschwung im Wohnungsneubau hat auch die neuen Bundesländer, in denen zunächst ganz notwendig Instandhaltung und Modernisierung im Vordergrund standen, erfaßt. 1992 wurde der Bau von über 25 000 Wohnungen genehmigt, im Jahre 1993, von Januar bis Mai, 21 500, davon allein im April und Mai über 10 000. Das heißt: Bis Mai 1993 wurden beim Wohnungsneubau bereits 84 % des Vorjahresergebnisses erreicht. Ich will hier nur kurz auf die wichtigsten Daten des Haushaltsentwurfs eingehen. Für die Städtebauförderung veranschlagt dieser Haushalt einen Verpflichtungsrahmen von insgesamt 1 Milliarde DM. Davon sind 920 Millionen DM für die neuen Bundesländer vorgesehen, das kleinere Kontingent von 80 Millionen DM geht - jedenfalls nach Meinung der Regierung - in die alten Bundesländer. Das Schwergewicht liegt damit ganz eindeutig wieder bei den neuen Ländern. Damit verstetigt der Bund seine Finanzhilfen in den neuen Ländern für städtebauliche Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen und für den Denkmalschutz auf hohem Niveau. Förderhilfen für die Erschließung von Wohnbauland und die städtebauliche Weiterentwicklung der Plattensiedlungen kommen hinzu. Gerade von diesen Mitteln werden erhebliche wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Anstoßeffekte ausgehen. Gerade hier wird ein besonderer Beitrag zum Strukturwandel in den neuen Ländern geleistet. ({7}) 80 Millionen DM für die alten Bundesländer: Ich weiß, das ist kein hoher Ansatz. ({8}) - Ich weiß. Ich kenne diese Position. Sie kennen meine Meinung zu diesem Thema, die ich hier an dieser Stelle im letzten Jahr geäußert habe. Ich habe im letzten Jahr gesagt: Das gesamte Geld geht voll in die neuen Länder, gar nichts geht in die alten Länder. Die jetzigen 80 Millionen DM, Frau Ministerin, sehe ich auch ein wenig als Ermahnung an uns. Vielleicht sind sie ein Signal dafür, daß die Bundesregierung auch weiterhin die Aufgaben sieht, die sich auf diesem Feld in den alten Bundesländern stellen. ({9}) Trotzdem muß - und das will ich in aller Deutlichkeit sagen - der Schwerpunkt der Städtebauförderung in den nächsten Jahren eindeutig bei den neuen Bundesländern liegen. Nachdem wir in den alten Bundesländern 40 Jahre lang Städtebau betrieben haben, werden wir es verkraften können - und ich sage das als Kommunalpolitiker -, daß diese Mittel fast ausschließlich in die neuen Länder gehen. ({10}) Für den sozialen Wohnungsbau stellt die Bundesregierung im nächsten Jahr Finanzhilfen in Höhe von insgesamt 3,5 Milliarden DM zur Verfügung. 2,5 Mil-harden DM für die alten Bundesländer, 1 Milliarde DM für die neuen Bundesländer. Auch diese Zahlen widerlegen den Vorwurf des sozialen Abbaus. Sie sind Garant dafür, daß das Wohnen bezahlbar bleibt, daß der Wohnung in ihrem Charakter als Sozialgut ebenso wie in ihrem Charakter als Wirtschaftsgut Rechnung getragen wird. Erhebliche Bedeutung für die Verbesserung der Wohnsituation in den neuen Ländern hat in den kommenden Jahren darüber hinaus das außerordentlich erfolgreiche Zinsverbilligungsprogramm, dessen Kreditvolumen wir schon im Rahmen des Nachtragshaushalts von 30 Milliarden auf 60 Milliarden DM verdoppelt haben. Ein letzter wichtiger Eckpunkt im umfangreichen Maßnahmepaket der Bundesregierung für den Aufschwung des Wohnungsbaus in den neuen Ländern war die Lösung der Altschuldenproblematik. Damit hat die Bundesregierung eines der gravierendsten Investitionshemmnisse für die Wohnungswirtschaft beseitigt. Damit steht - wie die Wohnungswirtschaft übrigens selbst sagt - eine Investitionsoffensive in zweistelliger Milliardenhöhe bevor. Möglich ist dies nur dank der im Haushalt 1994 dokumentierten enormen Anstrengungen der Bundesregierung, die mit diesem Etat an Zinshilfen für die Altschulden mehr als 2,3 Milliarden DM einsetzt. Unvermindert in seiner Bedeutung bleibt - trotz aller Unkenrufe beim letzten Mal von der Seite der SPD - die soziale Absicherung über das Wohngeld mit insgesamt 3,6 Milliarden DM. Diese WohngeldleiDieter Pützhofen stungen sind nach wie vor unverzichtbar für die soziale Flankierung. ({11}) Diese Entscheidungen haben politischen Mut gefordert. Dieser Mut zahlt sich jetzt aus und dokumentiert sich in der überall sichtbar werdenden Verbesserung der Wohn- und Lebensverhältnisse in den neuen Ländern. Die Entwicklung am Wohnungsmarkt können wir natürlich nicht nur durch Haushaltsentscheidungen beeinflussen. Eine positive Entwicklung am Wohnungsmarkt ist von vielen Rahmenbedingungen abhängig - Sie kennen sie -: bau- und planungsrechtlichen, gesamtwirtschaftlichen, mietrechtlichen, steuerrechtlichen usw., um einige zu nennen. Gemeinsames Ziel aller Maßnahmen auf diesen Feldern ist für die Bundesregierung die Steigerung des Angebots am Wohnungsmarkt, weil allein damit die Lösung der nach wie vor bestehenden Probleme möglich ist. Die Opposition wird nicht müde, auf diesen Feldern Entscheidungen der Bundesregierung einzufordern. Die Bundesregierung hat auf diesen Feldern Entscheidungen getroffen. Es sind wichtige gesetzliche Neuregelungen in Kraft getreten. Ich nenne das Wohnbauerleichterungsgesetz, das den Gemeinden die notwendigen Instrumente für die schnelle Ausweisung von Bauland an die Hand gibt. Ich nenne auch die neuen mietrechtlichen Regelungen, die gerade zu Beginn dieses Monats in Kraft getreten sind. Mit diesen Neuregelungen haben wir einen der aktuellen Marktsituation angemessenen Ausgleich zwischen Interessen von Mietern und Vermietern geschaffen, während Sie, meine Damen und Herren von der SPD, mit Ihren Reden nur ein Klima der Zwietracht zwischen Mieter und Vermieter aufschaukeln, das für weitere Investitionsvorhaben ausgesprochen hinderlich ist, und die Mieter haben davon überhaupt nichts. ({12}) Der Haushalt 1994 muß ein notwendiges Signal in Richtung Berlin setzen. Die damit zusammenhängenden Fragen sind nicht Gegenstand der heutigen Debatte. Für mich ist aber eines entscheidend - und das muß seinen Niederschlag auch im Haushalt 1994 finden -: Es muß ein konkretes Datum festgelegt werden. ({13}) Aber es muß ein Datum sein, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das kritischen Überprüfungen standhält. Es darf nicht von Wunschdenken in die eine oder andere Richtung geprägt sein, sondern muß sich aus den realistischen und nachprüfbaren Schritten einer abgeschlossenen Planung und einer Realisierung ergeben. Dieses Datum muß gesetzt werden, weil wir nur so Planungssicherheit - vor allem auch für die Wirtschaft - in Berlin schaffen und auch nur so sichere Grundlagen für die Lebensplanung all derer schaffen können, die in ihrer Lebensumwelt in Bonn von der Hauptstadtentscheidung berührt sind. Herzlichen Dank. ({14})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Als nächster spricht nun der Kollege Dr. Ilja Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Pützhofen, ich bin zwar nicht der Herr Großmann, aber ich kann einmal versuchen, die Frau Bauministerin zu loben. Ich bitte Sie allerdings schon vorher, mich nicht des Zynismus zu zeihen. Frau Minister, ich bin begeistert, wie Sie hier mit großer Geste 32,2 % Zuwachs verkünden können, während Herr Großmann vorhin eindeutig nachgewiesen hat, daß es im Grunde überhaupt keinen Zuwachs gibt. Ich kann mich insofern auf Herrn Großmann beziehen und brauche die Zahlen nicht zu wiederholen. Frau Ministerin, ich bin begeistert, daß Sie die „Nacht der Obdachlosen" schon wieder vergessen haben, wo uns Menschen, die keine Wohnung haben, einmal gezeigt haben, wie das ist, und wo sie uns sehr, sehr deutlich aufgefordert haben, etwas dagegen zu tun. Frau Ministerin, ich bin begeistert, daß Sie nicht auf die Idee kommen, die Beschaffenheitszuschläge in Höhe von 60 Pfennig auszusetzen, die Sie den Menschen in Ostdeutschland ab nächstes Jahr auch noch aufbürden wollen. Die Beschaffenheitszuschläge sind ja extra für Ossis „erfunden" worden. Dafür, daß das Haus ein Dach hat, dafür, daß das Haus eine Wand hat, und dafür, daß das Haus Fenster hat, bezahlt man Zuschläge, ({0}) während bei allen seriösen Verträgen höchstens Abschläge dafür gezahlt würden, daß das Dach nicht in Ordnung ist, daß die Wand nicht in Ordnung ist oder daß das Fenster nicht in Ordnung ist. Wie gesagt: Ab dem 1. Januar 1994 dürfen die Ossis auch noch dafür Zuschläge zahlen, daß eine Treppe im Haus ist und daß Strom und Wasser vorhanden sind. Ich bin wirklich begeistert. ({1}) - Ich bin ja von Ihrem Koalitionskollegen aufgefordert worden, die Bauministerin einmal zu loben. Ich bin auch begeistert, Frau Ministerin, daß Sie gar nicht zu sagen brauchen, daß die eigentlich schlimmen Dinge im Wohnungswesen erst nach dem Wahlmarathon, nämlich Mitte 1995, kommen, wenn das sogenannte Vergleichsmietensystem über die Ossis hereinbrechen wird. Frau Ministerin, ich bin auch unheimlich begeistert davon, daß Sie überhaupt nicht sagen, daß die steuerliche Förderung natürlich mit voller Wucht alle die trifft, die Wohnungen aus dem Bestand kaufen. Ob sie das blockweise machen oder erst einmal nur zehn Wohnungen, spielt keine Rolle. Jedenfalls, die wenigsten jetzigen Mieterinnen und Mieter können sich das leisten. - Von den Löhnen und den Benzinpreisen in Ostdeutschland war ja schon die Rede, auch wenn Sie zu dem Zeitpunkt noch nicht da waren. Das neue Wunderwort „Wirtschaftsstandort Deutschland" ist hier hundertmal im Mund geführt worden. Auch ich finde, Deutschland könnte ein hervorragender Arbeitsstandort sein, könnte ein hervorragender Wohnort sein, könnte ein prima Lebensort sein. Denn der Wohnungsbau ist natürlich eine ortsgebundene Industrie; man kann das nicht so leicht nach Südostasien verlagern. Für Sie ist es aber leider wichtig, daß in Ihrem Haushalt 10 Millionen DM dafür eingestellt werden, daß der Palast der Republik nun endlich abgerissen wird - eine rein ideologische Entscheidung. ({2}) Für Sie ist es wichtig, daß die neue Wunderwaffe „Expertenkommission Wohnungspolitik" noch 1 Million DM dazubekommt. Bis jetzt weiß keiner - jedenfalls ich nicht und wahrscheinlich kein anderer Abgeordneter -, was diese Kommission überhaupt macht. Ich bin gespannt, ob wir im Dezember tatsächlich einmal etwas erfahren. Ich wäre jedenfalls froh darüber. ({3}) - Aber ich war doch da. Es ist natürlich bedauerlich, daß wir vorläufig nur eine kleine Gruppe sind. Wir können uns leider nicht teilen. Der Frau Kollegin Schenk geht es ja leider genauso. ({4}) - Aber Herr Kittelmann! Sie sind doch noch viel seltener da als ich. Es ist leider so, daß ich in mehreren Ausschüssen tätig sein muß; ich muß nachher noch einmal reden, wenn es um die Post geht. Das ist auch nicht das Problem. Das Problem ist, daß die Menschen weder im Osten noch im Westen genügend Wohnungen haben. Insofern, Frau Ministerin - das ist mein letzter Satz zu diesem Thema -, bin ich begeistert und danke Ihnen ganz herzlich, daß Sie wenigstens die 2 Millionen fehlenden Wohnungen nicht auch noch den 40 Jahren SED-Politik zuschustern. Dafür muß ich Ihnen danken. Sie sind ehrlich, bleiben Sie so! ({5}) - Sie dürfen ja klatschen, Herr Kansy, das ist ja nicht verboten. ({6})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Als nächster spricht der Kollege Carl-Ludwig Thiele.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! - Entschuldigung! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Es ist eindeutig.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es ist eindeutig, Frau Präsidentin, dem kann ich nur zustimmen. Ich möchte Sie auch zu Ihrer heutigen Kleidung beglückwünschen; sie steht Ihnen. ({0}) Die Diskussion über den Wohnungsbauetat möchte ich zum Anlaß nehmen, Ihnen einen Sachverhalt zu schildern, der wahrscheinlich für relativ viele Bereiche unseres zwischenzeitlich ausufernden sozialen Systems und seiner Mißbräuche symptomatisch ist. Ich habe das zuständige Amt meiner Heimatstadt Osnabrück gebeten, fiktiv zu überprüfen, ob ein Bundestagsabgeordneter mit einer steuerpflichtigen Entschädigung in Höhe von 121 536 DM brutto, keine fünf Jahre verheiratet, drei Kinder, Anspruch auf eine Sozialwohnung hätte. Die Antwort lautete, daß in dem dargestellten Beispielfall einer jungen Familie mit drei Kindern und Bruttojahreseinkünften von insgesamt 121 536 DM eine Bescheinigung zum Bezug einer im Rahmen des Mietwohnungsbaus in Regionen mit erhöhter Wohnungsnachfrage geförderten Wohnung erteilt werden kann. ({1}) Hierzu möchte ich anmerken - ich kann Ihnen das gleich geben, ich habe es hier -, daß dieser fiktive Beispielfall meine persönliche Situation bis Dezember letzten Jahres betraf. Ich möchte ferner anmerken, daß ich weder jemals die Absicht hatte, eine solche Bescheinigung anzufordern, noch dieses zukünftig tun werde. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte dies für einen handfesten Skandal. Ich habe inzwischen allerdings den Eindruck, daß es mehrere Bereiche gibt, in denen solche skandalösen Situationen bestehen. Es zeigt eben, daß unser soziales Netz an einigen Stellen so ausgedehnt ist, daß Abstauber richtig absahnen können. Wie soll man dieses Beispiel wirklich in Not geratenen Menschen erklären, die eine Wohnung suchen und einen Anspruch darauf haben, sie aber möglicherweise deshalb nicht erhalten, weil andere - einkommensstärkere - Bürger ebenfalls Anspruch auf eine Sozialwohnung haben und diesen dann möglicherweise auch wahrnehmen? Wie soll man einen solchen Tatbestand ferner denjenigen erklären, die durch ihre Leistungskraft dazu beitragen, daß die finanziellen Grundfesten unseres Staates überhaupt funktionieren? Wenn allerdings die Opposition angesichts solcher Sachverhalte im Rahmen einer Sozialneidkampagne die Behauptung aufstellt, daß die Überprüfung solcher Vorschriften unterbleiben muß, verschließt sie die Augen vor der Realität in unserem Lande. Sie weiß gar nicht mehr, was hier in Deutschland eigentlich geschieht. In dieser Situation fordert der Bundesrat in einem Gesetzentwurf, die Einkommensgrenzen für den Anspruch auf Sozialwohnungen zu erhöhen.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hitschler?

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Dr. Walter Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Thiele, sind Sie auch bereit, der staunenden Zuhörerschaft zu erklären, daß Grundlage der Berechnung, auf die Sie sich stützen, nicht § 25 des Wohnungsbaugesetzes ist, sondern eine spezielle Vorschrift des von der SPD regierten Landes Niedersachsen?

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist § 88a des Wohnungsbaugesetzes. ({0}) - In Verbindung mit einem Spezialprogramm, aber es ist § 88a des Bundesgesetzes. ({1}) Dieses Beispiel zeigt allerdings auch, daß innerhalb des sozialen Wohnungsbaus Mißstände bestehen, die dringend zu überprüfen sind. Hierzu gehört für mich auch, daß dieser Berechtigungsschein lediglich bei Bezug der Wohnung vorgelegt werden muß. Sollte sich danach das Einkommen erheblich erhöhen, erlischt nicht der Anspruch auf diese Wohnung. Deshalb wäre es hier sinnvoll, den sozialen Wohnungsbau endlich von der Objektförderung auf die Subjektförderung umzustellen, wie das seitens der F.D.P. schon seit langem gefordert wird. ({2})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Kollege, gestatten Sie auch eine Zwischenfrage aus einer anderen Fraktion?

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne. Ich vermute, Sie meinen Herrn Kollegen Großmann.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Ja.

Achim Großmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000735, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Thiele, sind Sie in der Lage, uns zu sagen, welche Quadratmetermiete Sie hätten zahlen müssen, und sind Sie bereit, zuzugestehen, daß alle Fraktionen der Meinung sind, daß bei der einkommensabhängigen Sozialmiete - über die nachgedacht wird - es völlig klar ist, daß kinderreiche Familien - sicherlich, den Sonderfall, den Sie aus Niedersachsen genannt haben, muß man einmal überprüfen - zu Recht eine höhere Einkommensgrenze haben müssen als z. B. die deutsche Normalfamilie mit einem Kind oder ein kinderloses Ehepaar, die bereits bei einem Einkommen von unter 30 000 DM keinen Anspruch auf Sozialmiete haben?

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich halte es für absolut richtig, daß Familien mit Kindern eine besondere Förderung erhalten. Hierüber besteht zwischen uns überhaupt kein Dissens. Ich halte es allerdings für abenteuerlich, wenn mit gut 120 000 DM steuerpflichtigem Bruttoeinkommen eine Familie mit fünf Kindern Anspruch auf eine Sozialwohnung hat. Ich brauche es nicht; ich benötige es nicht; ich nehme es nicht in Anspruch. Und ich gehe davon aus, daß andere bei dieser Einkommensgröße eine solche Förderung im Grunde genommen überhaupt nicht wollen - nur: Das ist Tatbestand. Diesen Tatbestand gilt es aufzudecken und auch abzuschaffen. ({0})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Gestatten Sie eine zweite Zusatzfrage des Kollegen Großmann?

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Achim Großmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000735, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben leider meine Frage nach der Quadratmetermiete nicht beantwortet. Deshalb frage ich Sie: Ist Ihnen bekannt, daß z. B. in Berlin sozialer Wohnungsbau über die vereinbarte Förderung zu Quadratmetermieten von 18 DM stattfindet? Sind Sie nicht der Meinung, daß eine Wohnung, die 18 DM pro Quadratmeter kostet, gemeinhin nicht als Sozialwohnung angesehen wird, auch wenn sie unter diesem Begriff läuft?

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerade dieses Beispiel zeigt, Herr Großmann - hier sind Sie möglicherweise mit mir nicht der gleichen Ansicht -, daß die Förderung im sozialen Wohnungsbau zwar für bestimmte Bevölkerungsgruppen erforderlich ist, daß sie aber auf Grund des immensen Aufwandes öffentlichen Kapitals überhaupt nicht geeignet ist, die Wohnungsprobleme der Gegenwart und der Zukunft zu beseitigen. ({0}) Wir müssen ganz andere Wege gehen und wegkommen von diesem antiquierten System, welches in der Vergangenheit schon dazu führte, daß eine Wohnung, die vielleicht 250 000 DM kostete, mit 100 000 DM staatlicher Gelder gefördert wurde. Das ist eine Verschleuderung von Geldern. Die kann man ein bißchen intelligenter einsetzen. Was wir benötigen, ist eine Befreiung des Bürgers von den Fesseln des Staates, die zwischenzeitlich überholt, unzweckmäßig, unwirtschaftlich und wirklichkeitsfremd sind. Als Abgeordneter habe ich häufig den Eindruck, bei gewissen Dingen, die man erfährt oder aufdeckt, mit dem Kopf gegen die Wand zu laufen. Die eigenen Bordmittel und die Fülle der Themen lassen einem Abgeordneten eben nicht die Möglichkeit, sich eines jeden Themas - auch in der gebotenen Beharrlichkeit - anzunehmen. ({1}) Man könnte sich ja als Außenstehender denken, daß die Verwaltung selbst darangeht, solche aufgedeckten Mißstände auszuräumen. Ich habe auch den Eindruck, daß viele Mitarbeiter in der Verwaltung bereit wären, einen solchen Weg zu gehen. Es sind dann allerdings der alte Trott, die Bequemlichkeit, die mangelnde Bereitschaft zu Konflikten und häufig auch die Hierarchie, die solche Ansätze zunichten machen. Ich begrüße es deshalb, daß die Bundesbauministerin Dr. Irmgard Schwaetzer eine Kommission zur Kostensenkung und Deregulierung im Wohnungsbau einsetzt. In dieser Kommission sollten nach meiner Meinung sämtliche Vorschriften gnadenlos überprüft und entrümpelt werden. ({2}) Hierzu gehört auch und insbesondere das Planungsrecht. Das Bauen muß einfacher und billiger werden, und das Planungsrecht darf sich in Deutschland nicht als ein Investitionshemmnis größter Art darstellen. Wir wissen alle, daß Deregulierung und Privatisierung eine Sisyphusarbeit sind. Aber es war selten so wichtig wie heute, daß sie auch konkret getan wird. Ich möchte der Ministerin dafür danken, daß es durch ihre beharrliche Arbeit gelungen ist, festgefahrene Probleme, z. B. die Altschuldenfrage, die Verbesserung der Finanzierungsspielräume, die Pflicht zur Privatisierung von mindestens 15 % der Wohnungen in den neuen Bundesländern, zu lösen. Gerade dieses Engagement hat dazu beigetragen - wie es auch die „FAZ" vom heutigen Tage kommentiert -, den Wohnungsbau als Hoffnungsträger und die Stütze der Wirtschaft und der Konjunktur überhaupt zu sehen, insbesondere aber in den neuen Bundesländern. ({3}) Gerade für den Wohnungsbau ist die beabsichtigte Konsolidierung des Bundeshaushalts von entscheidender Bedeutung, weil hierdurch der Bundesbank die Möglichkeit weiterer Zinssenkungen gegeben wird. Es gibt kein staatlich aufgelegtes Konjunkturprogramm für die Wirtschaft und den Wohnungsbau, welches auch nur annähernd eine solche Wachstumsperspektive eröffnet wie ein bescheidener Staat und dadurch sinkende Zinsen. ({4})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Als nächste spricht die Kollegin Christina Schenk.

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung beabsichtigt, im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung die Mittel für den sozialen Wohnungsbau zu kürzen. Mietervereine haben das beklagt, die SPD hat es beklagt, und es ist auch schlimm. Viel schlimmer, meine ich, ist es jedoch, daß die Wohnungsbaumittel insgesamt, seien es nun ein paar Milliarden mehr oder weniger, in einer Weise ausgegeben werden, die ausgesprochen kontraproduktiv, ökologiefeindlich und für alle diejenigen, die nicht zu den Bessersituierten in dieser Gesellschaft gehören, absolut schädlich ist. Diejenigen, die meinen, viel Geld bewirke automatisch eine gute Wohnungspolitik, irren sich. Es kommt auch nicht allein darauf an, möglichst viele Wohnungen zu bauen - daher sind die von der Ministerin ausgestreuten Zahlen der geförderten oder bewilligten Wohnungen für uns wenig eindrucksvoll -; es kommt, meine ich, vielmehr darauf an, daß staatliche Wohnungsbaumittel für die Wohnungsversorgung derjenigen verwendet werden, die finanziell nicht in der Lage sind, sich aus eigenen Kräften auf dem sogenannten freien Markt selbst zu versorgen. Es kommt außerdem darauf an, daß der Staat diesen sogenannten freien Markt durch eine entsprechende Gesetzgebung dahin gehend beeinflußt, daß er für Umwandler und Knappheitsprofiteure weniger frei wird, für Mieterinnen und Mieter jedoch Freiheit von Angst, d. h. mehr Sicherheit, gewährleistet. Die Art und Weise, wie staatliche Wohnungsbaumittel in der Bundesrepublik bisher angewendet wurden, hat genau das Gegenteil bewirkt. Gefördert werden erstens die Erhöhung des Flächenverbrauchs finanzkräftiger Haushalte über Steuererleichterungen, d. h. über indirekte Subventionen, die in keinem Haushaltsplan auftauchen; zweitens der sogenannte frei finanzierte Wohnungsbau, der gar nicht frei finanziert ist, da auch er von enorm hohen indirekten Steuersubventionen lebt, die ebenfalls nirgendwo auftauchen; drittens der soziale Mietwohnungsbau, der deswegen nicht sozial ist, weil er nicht dauerhaft, sondern nur befristet sozial gebunden ist und weil die Mieten nicht einkommensabhängig sind, was heißt, daß sie für die einen unbezahlbar sind und für die anderen unnötig hoch subventioniert werden. Die Konstruktion aus Wohngeld und Fehlbelegungsabgabe ist Flickschusterei. Ich habe den Eindruck, daß sich diese Erkenntnis mittlerweile durchgesetzt hat. Ich möchte in diesem Zusammenhang klar sagen: Wir, die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, haben ein besseres Konzept. Die GRÜNEN haben schon in der letzten Legislaturperiode in ihrem Antrag mit dem Titel „Für einen neuen Sozialen Mietwohnungsbau" dargelegt, wie der kommunale Wohnungsbau organisiert und finanziert werden kann. Von der Bundestagsgruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die sich der Probleme im Osten in besonderer Weise annimmt, ist dieses Konzept für den Bestand der ehemals volkseigenen Wohnungen, hauptsächlich also für die Plattenbauten, weiterentwickelt worden. Wir wollen, daß die ehemals volkseigenen Wohnungen - ausgenommen natürlich diejenigen, für die Restitutionsansprüche geltend gemacht worden sind - in der Hand der Kommunen bleiben. Die Privatisierungskonzepte der Bundesregierung sind ohnehin gescheitert. Folglich hat der Sozialstaat jetzt die Aufgabe, die Kommunen bei der Instandsetzung und der Modernisierung dieser Wohnungen finanziell zu unterstützen. Wenn er das nicht tut, wird den Kommunen nichts anderes übrig bleiben, als die Wohnungen doch noch zu verkaufen, allerdings zu einem Preis, der weit unter dem liegt, was sie objektiv wert sind, und zu Bedingungen, die für die jetzigen Mieterinnen und Mieter verheerend sein werden. Die Mittel der Kreditanstalt für Wiederaufbau konnten von den Kommunen im Osten für die Instandsetzung und Modernisierung bisher kaum in Anspruch genommen werden, weil die Zinsen dafür noch zu hoch sind und weil eine 100-%-Finanzierung nicht möglich war. Ich meine, das muß anders werden. Der Zins für diese Kredite muß weiter fallen - was durch Bund und Länder subventioniert werden muß -, und der Bund muß die Bürgschaften für 100-%-Finanzierungen übernehmen. Unserem Konzept entsprechend, dem genaue Berechnungen zugrunde liegen, könnten alle ehemals volkseigenen Wohnungen sowie die Wohnungen der Genossenschaften im Osten bis zum Jahre 2001 instandgesetzt und modernisiert werden, wenn die Regierung dazu bereit wäre, innerhalb der nächsten 29 Jahre - also bis zum Jahre 2022 - insgesamt 7,3 Milliarden DM mehr auszugeben. Das, meine Damen und Herren, ist allein eine Frage des politischen Willens. Wir wollen, daß die Kommunen das alleinige Belegungsrecht für die ehemals volkseigenen Wohnungen bekommen, und wir wollen, daß diese Wohnungen, so eine Neubelegung ansteht, allein nach Dringlichkeitskriterien vergeben werden. Außerdem wollen wir einkommensabhängige Mieten einführen, um auf die Flickschusterei mit Wohngeld und Fehlbelegungsabgabe verzichten zu können. Niemand soll ausziehen müssen, niemand soll wegen eines zu niedrigen Einkommens daran gehindert werden, einzuziehen. Aber alle sollen entsprechend ihren finanziellen Möglichkeiten an der Finanzierung der Wohnungen beteiligt werden. Voraussetzung dafür sind allerdings Ausgleichszahlungen an die Kommunen, die von Bund und Ländern dann aus den Mitteln bezahlt werden können, die diese beim Wohngeld einsparen. Meine Damen und Herren, unser wohnungspolitischer Appell richtet sich im Grunde genommen an alle Fraktionen in diesem Hause: Auf Versuche, die jeweiligen wohnungspolitischen Lieblingskonzepte - Marktwirtschaft pur oder sozialer Wohnungsbau herkömmlicher Art, was beides schon im Westen gescheitert ist auf den Osten zu übertragen, sollte verzichtet werden. Es gibt bessere Konzepte, und gerade die Situation im Osten bietet die Chance dazu, sie zu realisieren.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun spricht der Kollege Rolf Rau.

Rolf Rau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001781, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im vorliegenden Regierungsentwurf des Haushaltes 1994 für den Bereich des Bauwesens ist ein Zeichen gesetzt worden, wie der Weg zur inneren Einheit Deutschlands weiter beschritten werden kann. So ist die Entscheidung, im Rahmen des Föderalen Konsolidierungsprogramms die Zinshilfen nach dem Altschuldenhilfegesetz für die jungen Bundesländer mit 2,35 Milliarden DM aufzunehmen, wohl der größte Erfolg. Ich erinnere Sie daran, daß wir in diesem Hause die erste Debatte zur Altschuldenhilfe im Juni 1991 geführt haben und heute im Rahmen des Föderalen Konsolidierungsprogramms ein Ergebnis auf dem Tisch liegen haben, mit dem die Bürger in den neuen Bundesländern, die Kommunen, aber auch die Genossenschaften und die privaten Hauseigentümer sowie die Gesellschaften leben können. ({0}) Daß der Bund ab Juli 1995 weitere 31 Milliarden DM Schulden aus der ostdeutschen Wohnungswirtschaft übernehmen muß, um sie in den Erblastfonds aufzunehmen, möchte ich an dieser Stelle nur noch einmal erwähnen. Insofern, Frau Schenk, ist mir ihre Rechnung nicht bündig. Wenn ich Ihre Zahlen auf Quadratmeter umrechne, komme ich auf andere Zahlen. Ich glaube, das, was Sie uns hier vorgeführt haben, ist Augenwischerei. ({1}) Möglich ist das. Somit sind Grundvoraussetzungen geschaffen worden, um die Wohnungen zu sanieren und zu modernisieren. Es sind Voraussetzungen geschaffen worden, damit das heimische Handwerk und die Bauindustrie den Motor des Aufschwungs auf Touren bringen. Mit diesen Voraussetzungen ist auch der Weg geebnet, um verstärkt an die Privatisierung von Wohnungen herangehen zu können. Unterstützt durch die Privatisierungshilfe des Bundes ist hier ebenfalls die Möglichkeit geschaffen worden, Eigentum zu erwerben. Daß die Länder gerade in der Frage Altschuldenhilfe ebenfalls einen gleichen Beitrag zur Zinstilgung einbringen, möchte ich bei der angespannten Haushaltslage als besonders wertvoll unterstreichen. Ich halte es für wichtig, gerade im Zusammenhang mit der Wohnungsbauprivatisierung nochmals darauf hinzuweisen, daß diese Unterstützungen befristet sind und daß Zuschüsse nur noch bis zum 31. Dezember 1994 möglich sind. Vor einer Privatisierung von Wohnungen ist eine umfangreiche Aufklärung und Beratung erforderlich. Landein und Landauf bestätigen dies viele Gespräche mit den Bürgern, aber auch die begonnenen Maßnahmen. Ich halte es deshalb für wichtig, daß gerade in diesem Bereich die zur Verfügung stehenden 6,5 Millionen DM Anwendung finden, und, wenn das nicht ausreicht, gegebenenfalls erhöht werden. Denn ohne Aufklärung und konkrete Hinweise, ohne Vertrauen ist es schwer, die Privatisierung in einem Umfang zu vollenden wie sie von uns gewünscht ist. Kollege Dr. Janzen ist nicht mehr da, aber das kann ja übermittelt werden: Zwischen Rostock und Leipzig ist ja ein Stückchen Weg. Da es bei uns schon Genossenschaften gibt, die privatisieren wollen ({2}) - in Stralsund ist die gleiche gute Luft -, denke ich doch, daß das möglich ist. Ein Ausrufezeichen möchte ich hinter die Städtebauförderung setzen. Insbesondere - ich glaube, es ist gut, wenn man das anspricht halte ich es für richtig und im Hinblick auf die alten Länder für dankenswert, daß für die neuen Länder 920 Millionen DM und für die alten, wie bereits angesprochen, 80 Millionen DM vorgesehen sind. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, jeder, der sich unser Vaterland anschaut, weiß, welch ein hoher Bedarf in den neuen Ländern besteht. Insofern ist es wichtig, daß diese 920 Millionen DM im Rahmen der Städtebauförderung in den Bereichen städtebauliche Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen, städtebaulicher Denkmalschutz sowie städtebauliche Modellvorhaben zur Wiederbelebung unserer Städte Anwendung finden. ({4}) Dabei weiß ich, daß gerade hier unsere Städte eine ganze Menge Vorleistung erbringen müssen, um diese Mittel sach- und inhaltsgerecht einzusetzen. ({5}) Die Bemühungen in den Kommunen sind jedoch riesengroß. An dieser Stelle möchte ich einfügen, daß bei der gesamten Frage Stadtentwicklung, Wohnungsbau und Wohnungsbausanierung ein großes Problem vor uns hergetragen wird: Es ist die Entsorgung von Wasser und Versorgung mit Frischwasser. Allein im Freistaat Sachsen haben wir hochgerechnet einen Bedarf von etwa 43 Milliarden DM, für die nächsten zehn Jahre von 30 Milliarden DM. Hier müssen wir gemeinsam, da das weder vom Bund noch vom Land zu finanzieren ist, für das private Kapital solche Rahmenbedingungen schaffen, daß für die Bürger bezahlbare und für die Städte transparent begleitbare Betreibermodelle in größerer Anzahl vereinbart werden. ({6}) Ein dritter Komplex ist die Bereitstellung der Mittel für den sozialen Wohnungsbau. Bei dem vorhandenen Bedarf sind die vorgesehenen Zahlen natürlich immer zu gering, so daß es wichtig ist, daß die Mittel besonders dort eingesetzt werden, wo der Wohnungsmarkt, so z. B. in Ballungsräumen, überaus strapaziert ist. In den neuen Ländern ist der Verpflichtungsrahmen kontinuierlich bis 1997 bei jährlich 1 Milliarde DM festgeschrieben. Ich freue mich, daß der Freistaat Sachsen meine Idee unterstützt, wesentlich mehr Mittel des sozialen Wohnungsbaus als bisher in die Modernisierung und Sanierung einfließen zu lassen. Dadurch besteht die Chance, sozial verträglichen Wohnraum auch in Zukunft zu erhalten - nur dort ist es möglich - und durch diesen Fördermitteleinsatz dämpfend auf die Mietpreisentwicklung einzuwirken. Der Neubau sollte sich im wesentlichen durch die steuerlich begünstigte Regelung der Sonderabschreibung aus privatem Kapital gestalten. Ich glaube, Dr. Seifert, in diesem Zusammenhang ist die beste Lösung, daß wir mehr Wohnungen bauen und daß wir das Problem auf dem Wohnungsmarkt so angehen, daß das Kapital eine Chance hat, für den Bau von Wohnungen überhaupt eingesetzt zu werden, was für die Mieter dort der beste Mieterschutz wäre. Ich glaube auch, daß in diesem Zusammenhang die Modernisierung und Sanierung wichtig ist. Ich meine, wir müssen an dieser Stelle mehr als bisher dafür Sorge tragen, daß besonders in den neuen Ländern die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß das Kapital auch kommt. ({7}) Im Zusammenhang mit der Modernisierung und Sanierung möchte ich eine Forderung an das BMF aufmachen, die sich aus den Erkenntnissen zahlreicher Gespräche mit Fachleuten ergibt. Es ist meiner Ansicht nach erforderlich, daß trotz eines ansprechenden zusätzlichen Kreditvolumens und Zinshilfen die Bundesprogramme einschließlich des Programms der Kreditanstalt für Wiederaufbau mit den Landesprogrammen kompatibel gestaltet werden. Das ist erstmalig im Zusammenhang mit dem KfW-Kredit und dem Plattenbau ermöglicht worden. Aber in Zukunft sollte dies bei der Modernisierung und Sanierung auch von monolithischen Altbauten gegeben sein. Diese Veränderung hilft nicht nur den Genossenschaften und Gesellschaften, sondern auch den privaten Vermietern, die nicht die Chance haben, durch mehrere Objekte Ausgleich zu schaffen. Noch ein Wort zu Schlechtwetterregelung, obwohl dieses Problem in unserem Haushalt nicht erkennbar ist: Für meine Begriffe ist die Streichung des Schlechtwettergeldes ohne alternativen Lösungsvorschlag falsch. ({8}) Die Arbeit auf dem Bau darf nicht zur Saisonarbeit schrumpfen. Die Sicherheit einer zur Stunde als Motor sich bewegenden Industrie mit großen Möglichkeiten in den Ausbildungsplätzen muß gewährleistet bleiben. Deshalb sind in den nächsten Wochen Gespräche zwischen den Tarifpartnern und dem Gesetzgeber erforderlich, um bei allen Einsparerfordernissen eine Harmonisierung dieses Problems zu schaffen. Vielen Dank. ({9})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen nicht vor. ({0}) - Irritieren Sie mich doch bitte nicht so arg. Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Post und Telekommunikation. Das Wort hat Herr Bundesminister Dr. Wolfgang Bötsch.

Dr. Wolfgang Bötsch (Minister:in)

Politiker ID: 11000228

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Der Herr Kollege Thiele hat vorhin Ihr nettes Kleid bewundert, Frau Präsidentin. Ich genieße das Privileg, zu wissen, zu welchem Anlaß Sie es sich heute ausgewählt haben; denn wir mußten zu unserem Leidwesen vorhin gemeinsam eine Veranstaltung verlassen, um hier jetzt im Schutz der Dunkelheit den Haushalt für Post und Telekommunikation zu beraten. ({0})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Kollege, hier ist es ziemlich hell. Dunkel war es da drüben in dem Zelt.

Dr. Wolfgang Bötsch (Minister:in)

Politiker ID: 11000228

Draußen meine ich natürlich; hier ist es schon beleuchtet. ({0}) Ich bin jedenfalls den Parlamentarischen Geschäftsführern sehr dankbar, daß sie diese Debatte so gelegt haben. Allerdings, das Licht braucht dieser Haushalt natürlich überhaupt nicht zu scheuen. ({1}) Ich freue mich, daß ich zum erstenmal seit Januar als der für die Post- und Telekommunikationspolitik in der Bundesrepublik Deutschland zuständige Minister die Gelegenheit habe, einige kurze Ausführungen vor diesem Hause zu machen, insbesondere vor einem interessierten Kollegenpublikum. Über den jetzigen Kreis der Abgeordneten hinaus hat unser Haushalt so großes Interesse gefunden, daß der ehemalige Kollege aus dem Deutschen Bundestag, der Kollege Heinz Schwarz, auf der Ehrentribüne Platz genommen hat, worüber ich mich besonders freue. ({2}) Ich will mich bei der Betrachtung des Haushalts auf zwei Aussagen beschränken. Erstens. Der besonders schwierigen Situation dieses Haushalts wurde im Entwurf des Einzelplans 13 eindeutig Rechnung getragen. Das Haushaltssoll ist gegenüber 1993 um 16,1 % von 559 Millionen DM auf 469 Millionen DM vermindert worden. ({3}) - Im Entwurf. Ich habe vernommen, daß sich die Berichterstatter heute auch schon etwas Mühe gegeben haben, diese Minuszahl von 16,1 % noch etwas nach unten zu fahren. Wenn es dabei bleibt, á la bonne heure; aber ich wäre dankbar, wenn man nach Möglichkeit die Arbeitsfähigkeit des Hauses nicht in Frage stellen würde. ({4}) Zweitens. Die Personalausgaben, die beim Einzelplan 13 die Hälfte der Ausgaben ausmachen - das ist in der Struktur so begründet -, sinken um 9,3 % von 258 Millionen DM auf 234 Millionen DM. Und das geschieht, obwohl mein Ministerium das überaus wichtige Projekt der Postreform II - um mich selbst einmal zu loben - mit großem Schwung in Angriff genommen hat. ({5}) Ich will die Gelegenheit nicht verstreichen lassen, mich zunächst bei allen Kolleginnen und Kollegen - es sind in diesem Fall hauptsächlich Kollegen - dafür zu bedanken, daß sie in schwierigen Einzelberatungen im vergangenen halben Jahr an dieser Arbeit mitgewirkt haben. Das gilt sowohl für die Kollegen der Koalition als auch für die der Opposition. Von den unmittelbar handelnden Personen sehe ich allerdings im Moment keine, wenn ich auch weiß, was der Kollege Börnsen in der Kommission, die bis Ende 1992 hier tätig war, im einzelnen geleistet hat. ({6}) Diese Aufgabe ist auch notwendig, ({7}) denn eine moderne und leistungsfähige Post- und Telekommunikationsinfrastruktur ist für eine so hochentwickelte Industrienation wie die Bundesrepublik Deutschland von herausragender, ja eigentlich von lebenswichtiger Bedeutung. ({8}) Aus diesem Grunde sind gerade auch im Rahmen der Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland die Post- und Telekommunikationspolitik sowie die Zukunft der drei Unternehmen der Deutschen Bundespost nicht nur für die Bundesregierung, sondern auch für Wirtschaft und Gesellschaft von größtem Interesse. Und, meine Damen und Herren, Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland heißt Sicherung von Arbeitsplätzen. ({9}) Wir treiben hier keine l'art pour l'art, keine Kunst um der Kunst willen. Viele von uns haben das ja alles bis 1990 als selbstverständlich hingenommen und dann in den neuen Bundesländern und in den Ländern des ehemaligen Ostblocks gemerkt, daß wirtschaftliches Handeln, wirtschaftlicher Fortschritt überhaupt Wirtschaften nur möglich ist, wenn Kommunikation stattfindet. Das heißt, die Menschen müssen entweder unmittelbar zueinanderkommen, per Straße, per Flugzeug, per Eisenbahn - per Schiff nicht so leicht, das geht zu langsam -, oder, wo dies nicht möglich, nicht notwendig oder unzweckmäßig ist, im Wege der Telekommunikation - das griechische „tele" heißt fern. Deshalb ist dieser Bereich so wichtig. Die Postreform von 1989 war ein erster und richtiger Schritt einer Politik, die dem Wettbewerb auf den Telekommunikationsmärkten die Türe geöffnet hat. Die durch diese Reform geschaffenen Voraussetzungen sind allerdings noch längst nicht ausreichend und verlangen dringend und umgehend eine Anpassung. Meine Damen und Herren, am 16. Juni 1993 hat sich der EG-Postministerrat in Luxemburg darauf verständigt, das Telefondienstmonopol zum 1. Januar 1998 aufzuheben. Es wird also von diesem Zeitpunkt an möglich sein, auf einem bisher geschützten Markt Wettbewerb zu veranstalten. ({10}) Und wenn Deutschland künftig einen starken nationalen Anbieter behalten will, muß man sich heute schon für diesen Zeitpunkt präparieren. ({11}) Nur durch eine Privatisierung werden wir in diesem Bereich den Anforderungen eines sich stetig verschärfenden Wettbewerbs im In- und Ausland gewachsen sein. Sie wissen, eine interfraktionelle Verhandlungskommission - ich habe das bereits erwähnt - hat Lösungsansätze für eine Reform ausgearbeitet. Sie wurden vor der Sommerpause von den Fraktionen - zustimmend, billigend, jedenfalls - zur Kenntnis genommen und sehen die Umwandlung aller drei Unternehmen der Deutschen Bundespost in Aktiengesellschaften vor. Meine Damen und Herren, das Ergebnis ist ein Kompromiß. Im Deutschen Bundestag braucht man für Verfassungsänderungen eine Zweidrittelmehrheit, und da muß man auch Kompromisse schließen. Wir haben die ersten Rohentwürfe für die notwendigen Gesetze als Formulierungshilfe für die Fraktionen jetzt erarbeitet; denn wir müssen die fertigen Gesetzentwürfe bald einbringen, wenn die Postreform II noch in dieser Legislaturperiode Gesetz werden soll. Ich hoffe, daß wir die notwendige Einigung mit der SPD erreichen und das Reformvorhaben auch entsprechend den Grundsätzen des Standortsicherungskonzepts rechtzeitig realisieren können. Für mich - ich sage das noch einmal - ist das keine Veranstaltung, die man einfach so macht, sondern wir haben auch hier den Belangen der Beschäftigten in den Unternehmen hohe Aufmerksamkeit zu schenken. Deshalb werden wir das natürlich bei den anstehenden Gesetzesberatungen zu berücksichtigen haben. Aber - das betone ich auch - die Kompromißbereitschaft beschränkt sich natürlich auf sinnvolle Lösungen. ({12}) Ich habe zu einem sehr frühen Zeitpunkt gesagt - ich sage es jetzt so, wie ich es damals formuliert habe -: Einen Schmarren beschließen wir natürlich nicht, dann lassen wir es lieber bleiben. Meine Damen und Herren, ich darf vielleicht noch einige Bemerkungen zu einem Umstand machen, der angesichts des niedrigen Posthaushalts von weniger als 500 Millionen DM vielleicht übersehen werden könnte: Die Unternehmen der Deutschen Bundespost, vor allen Dingen Telekom, haben im Rahmen des Aufbaus Ost eine große Leistung vollbracht. ({13}) Im letzten Jahr und in diesem Jahr wird die Bundespost Telekom jeweils 11 Milliarden DM in den neuen Ländern investiert haben. Sie ist damit erneut der größte Einzelinvestor in den neuen Bundesländern. Ich hoffe, daß der Kollege Seifert, der auch zu diesem Haushalt spricht, seine Begeisterung hier vielleicht weniger ironisch zum Ausdruck bringen kann. ({14}) Indirekt wurden hier im Jahre 1992 50 000 Aufträge im Wert von 2,7 Milliarden DM an ostdeutsche Firmen vergeben. Dabei will ich auch darauf hinweisen, daß die Telekom in den neuen Bundesländern rund 40 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt und durch Investitionen weitere 50 000 Arbeitsplätze in Handwerk, Handel und Industrie sichert. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich schließen mit dem Dank an jene Kolleginnen und Kollegen des Hauses, die in den zuständigen Ausschüssen an der Aufstellung des Einzelplanes 13 mitarbeiten werden und den Belangen der Post und Telekommunikation diese große Aufmerksamkeit entgegenbringen. Vielen Dank. ({15})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun hat der Kollege Arne Börnsen das Wort.

Arne Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000226, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! ({0}) - Darauf kommen wir noch. Ich werde sicherlich nicht nur auf das Handgelenk, sondern auch auf die Postreform II noch zu sprechen kommen. Herr Minister, es freut mich, daß wir heute erstmalig die Möglichkeit haben, uns hier auszutauschen. Aber erst einmal muß ich einleitend ordentlich Frust abladen. Ich glaube, ich spreche da für eine Vielzahl von Kollegen nicht nur von der einen Seite, sondern mit Sicherheit auch bei Ihnen, für eine Vielzahl von Beschäftigten der Deutschen Bundespost und für viele Kunden. Das, was uns in den vergangenen Monaten seitens der Unternehmen der Deutschen Bundespost teilweise zugemutet wurde, ging über jede Hutschnur. Es ist zwar richtig, daß die Unternehmen der Deutschen Bundespost unabhängig von der Politik arbeiten sollen und daß sich die Einflußnahme der Politik auf die Unternehmen auf sehr wenige zentrale Positionen beschränken sollte, aber die Unternehmen der Deutschen Bundespost müssen mehr als in der Vergangenheit erkennen, daß sie in einem hochsensiblen politischen Raum tätig sind und daß das, was an Entscheidungen auch den Bürgern zugemutet wird, oftmals der Politik angelastet wird. ({1}) Die Unternehmen der Deutschen Bundespost würden sich selbst einen sehr großen Gefallen tun, wenn sie stärker, als das bisher der Fall war, versuchten, notwendige, oftmals auch unpopuläre Entscheidungen mit der Politik rückzukoppeln. Das sind nicht allein die Kollegen hier im Hause, das sind die Arne Börnsen ({2}) Kollegen in den Landesparlamenten, in den Landesregierungen, aber auch in den Kommunen selber. Wenn die Deutsche Bundespost und in diesem Falle insbesondere der Postdienst meint, ohne jegliche Information der Öffentlichkeit, ohne jegliche Kooperation mit den verschiedenen politischen Ebenen eine Vielzahl von Postämtern schließen zu können, dann tut sich das Unternehmen damit selbst keinen Gefallen, weil die Kollegen auf der politischen Ebene geradezu provoziert werden, dagegen Stellung zu nehmen. ({3}) Ich will gar nicht verhehlen, daß dabei auch oftmals eine Portion Opportunismus eine Rolle spielt. Aber ich möchte auch daran erinnern, daß in einem Beschluß des Bundestages vom Mai 1981 - zwar bezogen auf die Postversorgung auf dem Lande, aber immerhin - davon die Rede ist, daß Veränderungen der Infrastruktur, für die wir mitverantwortlich sind, von den Unternehmen der Deutschen Bundespost im Benehmen mit den Betroffenen, mit der Politik, mit den Kommunen vorgenommen werden. „Benehmen" bedeutet für mich nicht, daß die Entscheidung bereits gefallen und nicht mehr veränderbar ist. Ich sage das hier sehr deutlich, weil wir gerade dann, wenn es um betriebswirtschaftlich notwendige Entscheidungen geht, die nicht immer ganz einfach umzusetzen sind, uns auch engagieren wollen für diese Notwendigkeiten. Aber wir können das natürlich nur, wenn wir einbezogen werden. Das gilt auch - ich will einige Punkte kurz nennen - für die Zusammenlegung der Verwaltungsdienststellen in Rheinland-Pfalz. Das betrifft ebenso die dauernden neuen Arbeitsplatzverluste die für die Unternehmen der Deutschen Bundespost prognostiziert werden. Es ist auch darauf hinzuweisen, daß eine etwas sorgfältigere Vorbereitung bei neuen Gebührenstrukturen manchmal ganz angemessen wäre, um späteren Ärger zu vermeiden. ({4}) Das, was wir im Zusammenhang mit der neuen Gebührenstruktur bei der gelben Post an Korrespondenz- und Bereinigungsaktionen nach dem Beschluß zum 1. April 1993 zu bewältigen hatten, war ja nicht von schlechten Eltern. Auch das, Herr Minister, was an unterschiedlichen Ankündigungen hinsichtlich möglicher neuer Gebührenstrukturen bei der Telekom jetzt kommt, sollte vielleicht durch ein verbindliches Konzept abgelöst werden. Das wäre sehr hilfreich. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, meine Damen und Herren - das geht uns alle an -, daß die Unsicherheit bei den Beschäftigten der Deutschen Bundespost nicht mehr lange hingenommen werden kann. Das ist allerdings eine Forderung an uns selber. Denn Unsicherheit hinsichtlich künftiger Perspektiven kann nur dann beseitigt werden, wenn die Politik klar sagt, was sie will, welche Veränderungen im Personalbereich bei der Post tatsächlich beabsichtigt sind. Hier wird es wirklich bannig Zeit, daß wir endlich verbindliche Konzeptionen vorlegen, die mit den Beschäftigten diskutiert werden können, damit sie wissen, was die Politik denn eigentlich will. In vielen Diskussionen mit Vertretern der Beschäftigten kommt zum Ausdruck, daß die Unkenntnis darüber, was an Konzeptionen erarbeitet wird, die Unsicherheit schürt und daß sich insbesondere im einfachen und mittleren Dienst bei der Deutschen Bundespost die Beschäftigten allmählich verschaukelt fühlen. Das auch angesichts der Tatsache, daß sich die Unternehmen und damit die Beschäftigten bei der Deutschen Bundespost seit ungefähr 1986 in einer permanenten Diskussion über die mögliche künftige Struktur ihrer Unternehmen befinden. Seit sieben Jahren wird den inzwischen 700 000 Beschäftigten zugemutet, daß ihre Perspektive und die des Unternehmens immer wieder neu in Frage gestellt wird. Also nicht nur aus den objektiv notwendigen Gründen, die Sie zum Teil auch genannt haben, sondern auch aus der Sicht der Beschäftigten müssen wir dort endlich zu einer klaren Beschlußfassung kommen, damit dann auch die persönliche Perspektive des einzelnen Beschäftigten ausgearbeitet werden kann. Ich wollte darauf hinweisen, Herr Minister, daß es eine Menge von der Politik beeinflußbare Punkte gibt, durch die es den Betroffenen auf der regionalen Ebene, auf der Landesebene schwergemacht wird, sich positiv über eine mögliche Postreform II zu äußern, weil sie geradezu in eine ablehnende Position gezwungen werden. Hier sollten wir vorsichtig sein; denn wir wissen ganz genau: Wir sind auf die Zustimmung der Bundesländer angewiesen. Ich will mich noch auf einige andere Punkte konzentrieren, die Sie, Herr Minister, auch angesprochen haben. Sie haben darauf hingewiesen, daß die Postreform I, 1988 beschlossen, vieles auf den Weg gebracht habe, das nun von der Postreform II möglicherweise zu einem Abschluß gebracht werden soll. Wenn ich allerdings heute einige Erwartungen - es sind ja nicht nur politische Sprüche -, die mit der Postreform I verbunden waren, zitiere, werden sie merken, daß es genau dieselben Erwartungen waren, die jetzt mit der Postreform II in Verbindung gebracht werden. Es wurde uns ein goldenes Zeitalter nach der Postreform I versprochen. Es wurde darauf hingewiesen, daß die Wettbewerbsstellungen der Unternehmen der Deutschen Bundespost wesentlich verbessert werden sollen, daß die Finanzkraft der Unternehmen gestärkt werden soll - immer Postreform I -, die Dienstleistungsqualität erhöht werden soll, die politische Unabhängigkeit erhöht werden soll, die Motivation der Mitarbeiter gefördert werden soll. ({5}) Meine Damen und Herren, ich will das jetzt nicht wiederholen, aber ein Unternehmen lebt auch von einer positiven Motivation der Mitarbeiter. ({6}) Um so wichtiger ist das, was ich eingangs nannte. Arne Börnsen ({7}) Daß Deregulierungspolitik nach der Postreform I oftmals auch zu Lasten der Unternehmen ausgeführt wurde, weist auf die Notwendigkeit einer Postreform II hin. Aber vieles von dem, was uns vorgegaukelt wurde - mit der Postreform I sei das zu erreichen -, ist jetzt die Begründung dafür, daß wir die Postreform II machen sollen. ({8}) Ich möchte einmal sagen, auch wenn ich weiß, daß das vielleicht ein leiser Appell an uns alle sein sollte: Ein bißchen Ehrlichkeit bei der Begründung der jeweiligen Vorhaben hilft in der Zukunft manchmal weiter. ({9}) Ich will gar nicht davon ablenken, daß die Zeit für die Postreform II drängt. Ich möchte - und Sie sehen, daß meine Fraktion diese Aussagen unterstützt, sonst wären mehr hier, die dem widersprechen würden ({10}) Überlegungen ganz klar eine Absage erteilen, die möglicherweise - ich will das nicht unterstellen - bei dem einen oder anderen vorhanden sein könnten, daß man diese Postreform auf die Zeit nach den Neuwahlen 1994 verschieben könnte. Ich sage ganz klar: Jeder Monat, den wir bei der Schaffung einer neuen Organisationsstruktur für die Bundespostunternehmen verlieren, ist ein Verlust an Marktanteilen und damit auch ein Verlust an Arbeitsplätzen. ({11}) - Alle, die seitens der SPD-Fraktion fehlen, haben sich namentlich bei mir entschuldigt. Das ist selbstverständlich. ({12}) Meine Damen und Herren, die Zeit einer nationalen Telefonverwaltung ist vorbei. Die Telefonverwaltung wird sich in der Zukunft nicht auf Sprachvermittlung konzentrieren können, sondern muß zusätzliche neue intelligente Angebote im Bereich der Telematik, neue Dienste im Bereich Information und Kommunikation geben. Wenn ein Unternehmen wie die Telekom ihre Marktanteile und ihre Stellung auf dem Markt in Deutschland erhalten will, dann ist das Unternehmen auf strategische internationale Allianzen angewiesen. Die Wettbewerber zeigen, wie dies gemacht wird und daß wir allmählich hinterherhinken. Das ist auch ein Hinweis darauf, daß wir keine Zeit zu verschenken haben: AT & T in Amerika in der Kooperation mit der Computerfirma NCR, der Einstieg von AT & T in den Mobilfunkmarkt in den Vereinigten Staaten, der das ganze Gefüge dort durcheinanderwirbelt, British Telecom und MCI, der andere international tätige Anbieter in den USA, wo es die Telekom auch ganz gerne gehabt hätte, wo sie aber nicht in der Lage ist, diese strategische Allianz einzugehen, weil sie finanziell zu schwach ist. Die Telekom braucht einen Handlungsspielraum für das Eingehen in diese Allianzen, und dafür braucht es Kapital. Der Eigenkapitalanteil der Telekom sinkt mehr und mehr. Er befindet sich bei 24 %; gesetzlich vorgeschrieben - das weiß ja allmählich jeder - sind 33%. Es ist in dieser Situation widersinnig, daß Telekom, Post und Postbank in dieser Höhe und in diesem System Abgaben an den Bund zu leisten haben. ({13}) Meine Damen und Herren, wenn man mit Bürgern ab und zu darüber spricht, wie das mit der Finanzsituation der Postunternehmen ist, dann sagen die: Die leben ja von unseren Steuern. Dann muß man sie erst einmal darauf hinweisen, daß das Gegenteil richtig ist. Wenn man sich zusätzlich vor Augen führt, daß der Eigentümer eigentlich verpflichtet wäre, in einer solchen Situation das Eigenkapital des Unternehmens zu erhöhen, um es wettbewerbsfähig zu halten, muß man feststellen: Dazu ist er nicht in der Lage. Das ist eine objektiv richtige Feststellung. Wenn man feststellen muß, daß der Postdienst 2 Milliarden DM Abgaben zahlen muß, obwohl er auch 2 Milliarden DM Verlust hat, dann ist das schon nicht mehr ganz nachvollziehbar. Wenn die Telekom 5 Milliarden DM an den Bund zahlen muß, was einer systemübertragenen Steuerbelastung von ca. 75 % entspricht - einer wesentlich höheren als bei anderen im Wettbewerb tätigen Unternehmen -, und wenn man zugleich bedenkt, daß auf Grund dieser finanziellen Belastung - bei aller Wertschätzung dessen, was in Ostdeutschland getan wird - Telekom und Post Investitionen in Ostdeutschland zurücknehmen mußten, weil diese nicht mehr finanzierbar waren, weil die Unternehmen zu hohe Abgaben an den Bund zu leisten haben, dann ist das ein Punkt, der schleunigst bereinigt werden muß. Dieser Punkt führt in vielen Bereichen zu Problemen, die nicht nur die künftige Entwicklung der Unternehmen gefährden, sondern auch Einfluß haben auf den Industriestandort Bundesrepublik Deutschland. Ich will nur einmal drei vergleichende Zahlen nennen hinsichtlich der Forschungsausgaben im Bereich der fernmeldetechnischen Industrie einschließlich Telekom. Ich gebe zu, daß die Vergleiche hinken, weil die Grundlagen nicht ganz identisch sind. In Japan gab es im Jahre 1992 18 000 Patentanmeldungen, in den USA immerhin noch knapp 10 % dieses Werts, nämlich 1 450, und in Deutschland 730. Ich habe darauf hingewiesen, daß das nicht ganz vergleichbar ist. Die Größenordnungen weisen aber darauf hin, daß hier in den letzten Jahren eine Entwicklung eingetreten ist, die gefährlich sein kann. Sie, Herr Minister, haben auf den Zeitplan hingewiesen. Wir haben, teilweise auch durch eigene Schuld, viel Zeit verloren. Wir haben uns vorgenommen, daß wir bis spätestens Ostern nächsten Jahres die Postreform II durchbringen wollen. Sie haben heute abend erwähnt, daß die ersten Rohentwürfe - Sie nannten es „Formulierungshilfen für die FrakArne Börnsen ({14}) tionen" - auf dem Wege seien. Es freut mich zu hören; ich habe allerdings noch nichts bekommen. ({15}) Ich bedaure etwas, daß wir in den Sommermonaten viel Zeit verloren haben, in denen vielleicht etwas intensiver und mit mehr Kooperation hätte gearbeitet werden können. Ich hoffe sehr, daß wir in der notwendigen Kooperation und der konstruktiven Arbeit auch im Ausschuß diese Zeit werden so nutzen können, daß wir ein vernünftiges Ergebnis erzielen. Niemand im Hause wird Ihnen widersprechen: Es kann nur ein Ergebnis herbeigeführt werden, welches, wenn es sich um Kompromisse handelt, solche Kompromisse nur im sachlichen Bereich erlaubt; denn politische Kompromisse würden sich zu Lasten der Unternehmen auswirken, und das können wir uns nicht leisten. ({16}) Ich möchte noch einige andere Bemerkungen zu aktuellen Entwicklungen machen. Ich habe einleitend ja schon zu der Frage der Optimierung des Filialnetzes der Bundespost, Postdienste, gesprochen. Das will ich jetzt nicht wiederholen, um die Leute nicht allzusehr einzuschüchtern. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal auf das hinweisen, was mir heute aus meinem eigenen Wahlkreis hinsichtlich einer kleinen Poststelle dort genannt wurde. Es ist eine Poststelle, die zwei Stunden am Tag geöffnet ist. Der Kostenfaktor wird sich also wohl in Grenzen halten. Sie ist außerordentlich gut angenommen. ({17}) Sie befindet sich übrigens in einem größeren Supermarkt, genauso wie man sich das für die Zukunft vorstellt. Die Poststelle befindet sich in einer Ecke. Es gibt dort einen hervorragenden Kundenstrom. Die Poststelle ist wenig geöffnet, wird aber sehr gut angenommen. Sie soll geschlossen werden. Dazu habe ich mich schon geäußert. Bei einem Informationsbesuch, den ich dort vor 14 Tagen durchführte, berief man sich darauf, daß die Generaldirektion sich noch nicht entschieden habe. Wenn ich heute gesagt bekomme, daß zu diesem Zeitpunkt schon der Auftrag zum Abriß dieser Einrichtung erteilt worden ist, und wenn ich unterstelle, daß davon auch nur ansatzweise etwas stimmt, dann habe ich den Eindruck, daß man sich hier leicht verschaukelt fühlen könnte und daß das mit Benehmensregeln wirklich nichts zu tun hat. In diesem Zusammenhang noch einige Worte zu den geplanten Postagenturen und zu dem Kooperationsmodell, welches zwischen Post und Postbank vereinbart worden ist und die Bereitschaft vorsieht, auch dort als eine Art Probeeinrichtung blaue Schalter zu schaffen. Herr Minister, meine Damen und Herren, ich erkläre für meine Fraktion, daß wir diese Kooperation dahin gehend begrüßen, daß endlich der Streit zwischen Post und Postbank aus der Welt ist, daß wir aber in der Art, wie blaue Schalter zugunsten der Postbank vereinbart worden sind, den ersten Schritt hin zu einer Abkoppelung der Postbank von der Post sehen. Wenn blaue Schalter in insgesamt 350 Einrichtungen vorgesehen werden und wenn blaue Schalter gegebenenfalls sogar unabhängig von den Posteinrichtungen eingerichtet werden können, dann fürchte ich, daß, wenn wir nicht politisch tätig werden, die Postbank tatsächlich von der Post abgekoppelt wird. Das würde mit Sicherheit dazu führen, daß die heute selbstverständliche Präsenz beider Institutionen in der Fläche nicht mehr gewährleistet wäre. Das würden wir auf keinen Fall akzeptieren. Um so mehr ist das eine Forderung an uns, durch politische Entscheidungen, unternehmensrechtliche Entscheidungen Post und Postbank wieder miteinander zu verknüpfen, so daß unter dem Dach eines gemeinsamen Unternehmens solche Sondereinrichtungen sehr wohl geschaffen werden können. Dann ließe sich darüber reden. Aber dieses ist eine der Hauptforderungen, die wir bei der Postreform II mit einbringen. ({18}) - Na gut, Hauptforderungen liegen auf einer anderen Ebene. Da gebe ich Ihnen recht. Aber es ist eine wesentliche Forderung deswegen, weil hier deutlich wird, ob diese Postreform II nur an den Interessen des Industriestandortes, an den ohne Zweifel berechtigten, aber nicht nur den Interessen der Wirtschaft ausgerichtet ist. Da werden die Bürger nämlich feststellen, ob die Postreform II auch nach ihren Interessen ausgerichtet ist - nicht nur deswegen, bei den Gebühren werden wir auch Auswirkungen haben. Aber wenn die Bürger den Eindruck haben, mit der Postreform II zieht sich die Post aus der Fläche zurück, dann werden wir in der Öffentlichkeit keine Akzeptanz haben. Deswegen ist es einer der Hauptpunkte für uns. Lassen Sie mich zum Schluß noch zwei Themen kurz ansprechen. Meine Damen und Herren, ich habe einen umfangreichen Schriftverkehr bekommen wegen strafrechtlicher Ahndung der Nutzung nicht postzugelassener Modems. Es ist ein Modem zur Integration verschiedener Dienste, die gerade bei privaten EDV-Nutzern ein selbstverständliches technisches Hilfsmittel darstellen. Es ist nicht legal, wenn diese nicht zugelassen sind, sie zu verwenden. Es ist aber genauso unstrittig, daß sie keinen störenden Einfluß auf das Netz haben. Es ist nicht angemessen, wie die Staatsanwaltschaft auf diesen Kauf zahlenmäßig beschränkter Modems reagiert. Meine Damen und Herren, ich meine, daß wir hier tätig werden müssen, und dort, wo es möglich ist, diese Hürde der Zulassung durchlässiger zu machen, daß auch im Rahmen der Novellierung des Fernmeldeanlagengesetzes gehandelt werden muß. Ansonsten würde ein Bereich, eine Szene kriminalisiert, wo es keinerlei Rechtfertigung hat. Wir sollten, auch anderen Sprüchen entsprechend, hier Liberalisierung durchführen und nicht Kriminalisierung indirekt unterstützen. Zum zweiten, meine Damen und Herren, ein kurzes Wort noch zu der schlimmen Telekomaffäre, der Vorwurf der Veruntreuung, des Betrugs, der Bestechlichkeit. Das ist ein schwebendes Verfahren, auf das ich selbstverständlich nicht eingehen werde. Aber ich Arne Börnsen ({19}) muß doch hier sagen, wenn inzwischen auch mit gebremstem Schaum und nicht mit der Erregung, die vor 14 Tagen, vor i Woche herrschte: Ich finde es merkwürdig, in welcher Form spekulative Berichte über die Einbeziehung von Mitgliedern des Postausschusses in diesem Skandal an die Öffentlichkeit kamen. Ich finde es merkwürdig. Das möchte ich nur einmal feststellen und möchte abschließend dafür danken, daß Bundesregierung und Sie persönlich, der Vorstand der Telekom und der Ausschußvorsitzende Peter Paterna, der heute abend wirklich entschuldigt ist, in Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft die Feststellung getroffen haben, daß überhaupt keine Anhaltspunkte vorliegen, die eine solche Verdächtigung rechtfertigen. Der Presseerklärung des Ausschußvorsitzenden ist insofern nichts hinzuzufügen, außer wirklich der Dank für die schnelle Klärung. Auch Ihnen Dank für die Aufmerksamkeit. ({20})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Und was ist jetzt mit der Hand?

Arne Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000226, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, ich finde es nett, daß Sie mich hier noch einmal zurückrufen.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Erst Sachen ankündigen und dann nicht sagen.

Arne Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000226, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da sehen Sie einmal, welch disziplinierende Wirkung Sie hier ausüben. Sehen Sie, wie es hier blinkt?

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Bekommen wir das jetzt in einem Satz erzählt?

Arne Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000226, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Kollege fragte mich, und deswegen möchte ich Ihnen eine Uhr übergeben, eine gelbe, auf der steht: Postdienst. Ich möchte Sie fragen, ob Sie feststellen, ob darauf Edelsteine sind.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nein.

Arne Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000226, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es gibt Uhren, die wir bekommen haben, aber diese hier habe ich meinem Sohn wieder abgenommen, der 7 Jahre alt ist, und der ist darüber beleidigt. Das sind Kinderuhren. Mit Cartier usw. wurden wir „leider" nicht belästigt. Schönen Dank. ({0})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Jetzt hat der Kollege Manfred Kolbe das Wort.

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Sehr geehrter Herr Bundesminister Bötsch! Trotz Bonner Oktoberfest heute auf der Regierungsbank - ein weiterer Beweis für Ihre untadelige Dienstauffassung. ({0}) Sparen und Konsolidieren ist das Motto dieses Haushalts, und der Bundesfinanzminister hat deshalb auch einen Sparhaushalt vorgelegt. Unser Einzelplan 13 leistet als reiner Verwaltungshaushalt dazu einen hervorragenden Beitrag. Herr Bötsch, Sie haben es schon erwähnt - die Ausgaben gehen von 559 Millionen DM in 1993 auf 469 Millionen DM in 1994 zurück. Das sind sage und schreibe minus 16 %. Damit geht der Posthaushalt am zweitstärksten zurück. Trotzdem hat die Arbeitsgruppe Haushalt noch einmal den Entschluß gefaßt, weitere Einsparungen vorzunehmen. Herr Bundesminister Bötsch, wie immer habe ich mich als gehorsamer Fraktionskollege strikt an die Vorgaben des Arbeitsgruppenvorsitzenden und der Fraktionsführung gehalten ({1}) und das durchgeführt, Herr Thiele. Wir haben es auch in gutem Einvernehmen erreicht und, wie ich glaube, auch die Arbeitsfähigkeit des Hauses bewahrt. Alle Ausgabenbereiche des Einzelplans 13 haben dazu ihren Beitrag geleistet - Personalausgaben minus 9,3 %, sächliche Verwaltungsausgaben minus 16,4 %, Zuweisungen an internationale Organisationen minus 27 %, Investitionen minus 24 %. Besonders bemerkenswert sind die Personaleinsparungen im Ministerium selbst. Als ehemaliger Ministerialbeamter weiß ich, daß das mit die geheiigsten Horte sind, ({2}) bei denen man sich bis zuletzt wehrt. ({3}) Wir hatten 1992 nach der Umstrukturierung ein Gutachten des Rechnungshofes, in dessen Ergebnis wir 40 Planstellen von 472 kw-gestellt haben. Weitere vier hatten wir nach einem allgemeinen Beschluß kw-gestellt, also insgesamt 44 Planstellen. Das sind 10 % kw, darunter acht der begehrten B-Stellen. Das muß man auch einmal sagen: Stelle ist ja nicht gleich Stelle. ({4}) Wir haben also den Personalhaushalt des Ministeriums kegelgerecht um 10 % gekürzt. ({5}) Infolge der personellen Fluktuation sind auch tatsächlich bereits 35 dieser Stellen eingezogen worden. Allein die acht eingezogenen B-Stellen bringen jährliche Einsparungen von 1,2 Millionen DM. - Jetzt warte ich hier eigentlich auf den Beifall der SPD-Fraktion, ({6}) denn Ihre finanzpolitische Sprecherin sieht man ja jede Woche im Fernsehen, und dann ist immer ihr Spruch: Sparen, sparen, sparen! - Hier haben wir gespart, und jetzt müssen Sie auch einmal klatschen und Ihre finanzpolitische Sprecherin unterstützen! Das müssen Sie einmal tun. ({7}) Herr Bötsch, alle reden von der schlanken Verwaltung oder auf Neuhochdeutsch „lean administration". Ich glaube, hier haben wir ein gutes Stück praktiziert. Da sage ich allerdings auch: Mit diesen Kürzungen haben wir in gewissem Umfang auch eine Schmerzgrenze erreicht. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund des Wachstumsbereichs Telekommunikation und der Postreform II. Wir werden jetzt unsere Aufmerksamkeit darauf verwenden, daß auch die anderen Häuser uns da folgen. ({8}) - Ich begrüße die F.D.P.-Fraktion. ({9}) Zum Einzelplan 13 gehört auch die Bundesdruckerei, die Rechtsnachfolgerin der 1879 in Berlin gegründeten Reichsdruckerei. Sie erledigt Druckaufträge im Zusammenhang mit Hoheits- und Verwaltungsaufgaben, also Banknoten, Briefmarken, Personalausweise. ({10}) Anders als im Bereich Telekom haben wir hier eine wirtschaftlich besorgniserregende Entwicklung. Hatten wir ursprünglich 1991/92 Gewinne, so drohen uns 1993/94 größere Verluste. Allein ein Blick in den Erfolgsplan für 1994 zeigt Handlungsbedarf. Wir haben Umsatzerlöse von 364 Millionen DM. Denen steht ein Personalaufwand von 293 Millionen DM gegenüber. Das ist kein gutes Verhältnis. Hier besteht Handlungsbedarf. Wir müssen die Bundesdruckerei sanieren, wobei ich persönlich der Auffassung bin, daß ein Staat wie die Bundesrepublik Deutschland, wie alle anderen vergleichbaren Staaten auch, eine Druckerei betreiben muß, allerdings in einer anderen Rechtsform. Angedacht ist hier eine GmbH-Lösung, um kurze Entscheidungswege und ein aktives Marketing zu gewährleisten. Notwendig ist nach Auffassung aller Beteiligten auch - ich war am Freitag in Berlin, und das haben alle Anwesenden bestätigt - ein Personalabbau. Dort hat sich in den letzten Jahrzehnten auf Grund der besonderen politischen Lage West-Berlins, wo bis 1990 ein Personalabbau tabu war, ein Überhang herausgebildet, den wir im Interesse der Zukunft der Bundesdruckerei abbauen müssen. Herr Minister, ich darf Sie ganz herzlich bitten, diese Sanierung tatkräftig anzupacken, damit die Bundesdruckerei eine gute Zukunft hat. Handlungsbedarf besteht auch bei einer weiteren Behörde des Einzelplans 13, dem Bundesamt für Zulassungen und Telekommunikation. 1990, damals war mein erstes Berichterstattergespräch, war eine Kostendeckung angedacht. Jetzt sind wir in einer schwierigeren Situation. Auf Grund der europaweiten Konkurrenz lassen sich diese Gebühreneinnahmen nicht realisieren. Wir müssen hier gemeinsam nach Lösungen suchen. Abschließend ist es mir noch ein besonderes Bedürfnis als sächsischer Abgeordneter, kurz - der Kollege Göttsching macht das sicher noch ausführlicher - die Leistungen der Telekom beim Aufbau Ost herauszustellen. ({11}) Herr Bötsch, Sie haben es gesagt: 11 Milliarden DM Investitionen; größter Einzelinvestor. Ein zweites Faktum: Innerhalb von drei Jahren erfolgte eine Verdoppelung der Zahl der Telefonanschlüsse. Das will etwas heißen. In der ehemaligen DDR hat man ja auf ein Telefon noch länger als auf ein Auto gewartet. ({12}) Mit den blühenden Landschaften haben wir ja alle hier im Haus so unsere Probleme. Aber: Bei der Telekommunikation, Herr Minister, sind wir voll im Zeitplan, und dafür möchte ich Ihrem Vorgänger, Herrn Christian Schwarz-Schilling, ({13}) seinem Staatssekretär Wilhelm Rawe und allen Mitarbeitern der Telekom vor Ort noch einmal ganz herzlich danken, und ich bin mir auch sicher, daß Sie dieses Werk fortsetzen werden und wir 1997 gleiche Verhältnisse in West und Ost haben werden. Wir sind damit wahrscheinlich die ersten in Deutschland, die das geschafft haben. Danke. ({14})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun spricht der Kollege Jürgen Timm.

Jürgen Timm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002329, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! ({0}) - Ich freue mich natürlich persönlich auch ganz besonders, daß die liberale mobile Einsatzgruppe aus dem Erdgeschoß hochgekommen ist, um mir zuzuhören. ({1}) Für solche Überraschungen sind wir allemal gut. Das zweite ist, Frau Präsidentin: Ich besitze tatsächlich eine Uhr mit einem echten Stein. Was soll ich nun machen? Das ist ein Stein der Dresdner Frauenkirche, mit dem man in dieser Uhr für den Wiederaufbau wirbt.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Ich weiß nicht, was Sie alle mit Ihren Uhren haben. Sie können mir jetzt alle Ihre Uhren zeigen. Das ist mir Wurscht.

Jürgen Timm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002329, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das Positive daran ist, Kollege Börnsen, die gehört sogar noch mir. ({0}) Wirtschaftsstandort Deutschland, das ist das Wort des Jahres 1993. Das möchte ich einmal so behaupten. Man sollte dieses Wort zumindest für 1993 anmelden, damit es eingeht. Wenn es doch bloß nicht so schwierig wäre, sich darauf zu verständigen, wie man den Wirtschaftsstandort Deutschland verbessern, befördern oder vielleicht sogar in Einzelfällen aus dem Schlaf erwecken könnte. Aber das ist wohl nach dem gleichen Ritual zumindest bei der ersten Lesung des Haushalts so nicht möglich. ({1}) - Mache ich gleich. Es ist wohl so, daß dieses Ritual immer dasselbe ist, nämlich daß die Regierung wissen müßte, wie es geht, und daß die Opposition immer besser weiß, wie es geht, und wir uns erst im Laufe der Beratungen in den Ausschüssen auf irgend etwas verständigen oder auch nicht. Ich gehe einmal davon aus, daß wir es schaffen werden, einen Haushalt zu beschließen, der dem Wort „Wirtschaftsstandort Deutschland" gerecht wird. In diesem Wirtschaftsstandort ist selbstverständlich die Deutsche Bundespost ein Unternehmen - für mich immer noch ein Markenzeichen -, das von großer Bedeutung ist, allein schon wegen der Größe dieser Unternehmen und wegen der Vielzahl der Arbeitsplätze, die es für die Zukunft nicht nur zu erhalten, sondern, wenn es geht, durch Innovation und Kreativität auszubauen, zumindest aber so zu sichern gilt - da stimme ich mit dem Kollegen Börnsen durchaus überein -, daß den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern heute schon eine Perspektive für die Zukunft gegeben wird. Das ist unsere Aufgabe. ({2}) Das führt mich dazu, daß ich an dieser Stelle gern auch einmal ein Dankeschön an diejenigen sagen möchte, die unter diesen schwierigen Bedingungen den Wiederaufbau nicht nur in den jungen Bundesländern, sondern ja auch in den alten Bundesländern in Angriff genommen haben. Ich denke, daß die Möglichkeiten, die damit geschaffen wurden, durchaus einen Motivationsschub bedeuten können. Denn ich stelle mir vor, daß eine wirtschaftliche Neustrukturierung - und in dieser befindet sich ja zweifellos die Deutsche Bundespost z. B. mit dem Aufbau von neuen Brief- und Frachtzentren, mit modernsten Anlagen der Telekommunikation - für die Mitarbeiter in ihrem Arbeitsleben nicht ohne Bedeutung ist. ({3}) Wir haben beim Thema Post natürlich das Problem der Postabführung an den Staat. Das sollen etwas mehr als 6 Milliarden DM werden. Ich denke - und das hat die Postreform I eigentlich auch schon vorgesehen -, daß es Zeit wird - auch da stimmen wir überein, Kollege Börnsen -, daß aus diesen Unternehmen normale steuerzahlende Unternehmen werden, auch damit nicht immer wieder die Hoffnung des Staates in den Vordergrund gerückt wird, hier könne man aus dem Staatsunternehmen, aus dieser Hoheitsaufgabe, Geld ziehen und es für andere Zwecke gebrauchen. Die Unternehmen müssen so schnell wie möglich vom Kopf auf die Füße gestellt werden, damit sie nicht nur gewinnorientiert, sondern auch in ihrem Infrastrukturauftrag für die Nutzer, für unsere Bevölkerung wirtschaften können, damit sie auch Investitionen tätigen und Innovationen für die Zukunft darstellen können. ({4}) Denn die Wettbewerber im europäischen und internationalen Bereich stehen ja nicht nur vor der Tür, sondern sie haben den Fuß schon in der Tür. Es wurde eben schon gesagt: Wenn dann auf europäischer Ebene Monopole fallen, dann müssen unsere Postunternehmen in den Stand versetzt werden, Normen zu setzen, und zwar so schnell, wie es geht. ({5}) Dazu müssen wir sie befähigen, dazu brauchen wir Kapital. Dieses Kapital können wir nicht aus einem Bundeshaushalt herausschneiden. ({6}) Wir können mit den Postunternehmen nicht „eine zweite Bundesbahn" aufbauen - das kann nicht angehen -, sondern wir müssen gewinnorientierte und an ihrer Aufgabe zu messende Unternehmen strukturieren. ({7}) Dazu gehört - und das ist auch eine Folge der Postreform I -, daß die Postunternehmen natürlich jetzt schon gefordert sind, sich zu modernisieren. Sie müssen jetzt schon Wettbewerbsfähigkeit herstellen. Das ist nicht in jedem Fall gelungen. Bei der Postbank und beim Postdienst ist es nicht gelungen. Aber es ist absehbar, daß es sein muß. Denn wir können Unternehmen natürlich nicht eine privatrechtliche Struktur geben, wenn nicht sicher ist, daß sie mit Wettbewerbern aus allen Bereichen Europas und international Schritt halten können. Zu dieser Modernisierung gehören natürlich auch Entscheidungen wie „5 ist Trümpf". ({8}) - Das heißt, daß die neuen fünfstelligen Postleitzahlen eine zukunftsorientierte Entscheidung sind, damit die Postunternehmen mit modernen Hilfsmitteln arbeiten können. ({9}) Das gehört dazu, und dazu gehört auch, daß wir andere Wege finden, als sie bisher möglich waren, daß Post auch in der Fläche erhalten bleibt. Soweit ich es beurteilen kann, hat die Einrichtung der ersten kleinen Agenturen zu einem großen Erfolg geführt. Wenn das so ist, dann müssen wir auch diesen Weg in einer Vielzahl von Fällen beschreiten dürfen. Wir müssen auch - da bin ich etwas im Widerspruch zum Kollegen Börnsen - bei der Postbank den Weg beschreiten, daß sie eine Koalitionsmöglichkeit, eventuell eine Fusionsmöglichkeit erhält, um überhaupt als Bankinstitut für die Post weiter existieren zu können. Das setzt auch voraus - das ist nun einmal liberale Auffassung -, daß die Unternehmen Postdienst und Postbank in freier Vereinbarung entscheiden können müssen, wie sie in Zukunft miteinander umzugehen haben. ({10}) Wir sind bei den Verhandlungen zur Postreform II ein gutes Stück vorangekommen. Ich finde, es ist eigentlich müßig, daß wir uns darüber streiten, ob schon die Postreform I einen weiteren Schritt hätte mit sich bringen können. Ich denke, daß damals - ich war damals nicht dabei; daran hat es wahrscheinlich gelegen - eine Mehrheit zu einer Verfassungsänderung nicht gegeben war. Ich bin mir noch nicht einmal ganz sicher, ob wir den Zug jetzt schon so in Fahrt haben, daß wir sie dann auch durchsetzen können. ({11}) Die Bundesländer haben unsere Marschrichtung in einer Entschließung - sogar einstimmig - eigentlich bestätigt. Gut, in einigen Politikbereichen gibt es natürlich noch unterschiedliche Auffassungen, die wir miteinander aushandeln wollen. Deswegen werden die Bundesländer in Zukunft mehr daran beteiligt. Sobald das, was in der Sommerpause aufgearbeitet worden ist, den Fraktionen schriftlich vorliegt, werden wir es auch den Bundesländern offerieren, so daß wir gemeinsam weitere Schritte unternehmen können. Ich denke, daß uns die grundsätzliche Zustimmung - ich gehe einmal davon aus, daß sie in allen drei Fraktionen erfolgt ist -, wie wir die Postreform II denn umsetzen wollen, auch befähigt, auf dem Rest der Strecke zu guten Ergebnissen zu kommen. Es geht um die Arbeitsplätze, es geht um unsere Postbenutzer, und es geht um unsere deutsche Wirtschaft, um den Wirtschaftsstandort Deutschland. ({12}) Wir befinden uns auch in einem Zwang, denn wir können an diesem Problem nicht noch über diese Legislaturperiode hinaus herumoperieren. Es muß in dieser Periode entschieden werden, und zwar definitiv. ({13}) Sonst - da gebe ich Kollegin Frau Peters recht - ist nicht nur der Fuß in der Tür, sondern der Wettbewerber oder die Wettbewerber sind schon durch die Tür hindurch. Ich denke, daß wir in der Pflicht sind. Ein Zurück kann es nicht mehr geben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Dann hat Kollege Dr. Ilja Seifert das Wort.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister Bötsch, Sie möchten von mir gelobt werden. ({0}) Das wäre so, als wenn ich die Eleganz des Degenstoßes, der mich tötet, auch noch hervorheben müßte. Dies ist nicht so richtig der Stoff, aus dem die Dinge gemacht sind, die ich loben kann. Bei allen Bewertungen, mit der der von der Bundesregierung vorgelegte Haushaltsplanentwurf in den vergangenen beiden Tagen hier schon bedacht worden ist, pflichtgemäß begleitet vom Beifall lediglich der Fraktionen der Regierungskoalition, kann man der Regierung eines nicht absprechen, nämlich die Unbeirrbarkeit, mit der die Axt an die Existenzgrundlagen vieler Bürgerinnen und Bürger dieses Staates gelegt wird. Den Haushalt durch noch tiefere Griffe in die Taschen vor allem derjenigen, die ohnehin schon bald nicht mehr wissen, wie sie ihr Leben finanzieren sollen, zu sanieren, ist wirklich keine originelle Idee. Bereits vor Jahrhunderten war es übliche Verfahrensweise. Wenn die Staatsfinanzen ausgingen oder auszugehen drohten, wurden flugs die Steuern erhöht oder neue Abgaben oder Postgebühren und andere Gebühren erfunden. Man war gar nicht so fein beim Eintreiben der Gebühren von denjenigen, die nicht soviel besaßen. ({1}) - Aber ja, natürlich. ({2}) - Da sind Sie gerade fleißig dabei. Schauen Sie sich einmal die Selbstmordrate im Osten an - wohlgemerkt: die von jetzt. ({3}) Aber damit nicht genug. Zur Erfüllung Ihrer ordnungspolitischen Zielvorgabe - sparen, sparen, sparen! - sind die finanzpolitischen Hexenmeister der Regierung auf einmal auf ein ziemlich gefährliches Rezept verfallen, übrigens auch für Sie. Sie trennen sich von traditionellen staatlichen Einrichtungen, die nicht unbedeutende Einnahmen bringen. Ich rede jetzt einmal rein unter Haushaltsaspekten: Mittels der Zauberformel Privatisierung soll eine Gesundung der Staatsfinanzen erreicht werden, aber in Wirklichkeit geben Sie doch wunderbare Einnahmemöglichkeiten aus der Hand. Natürlich ist es wie immer: Die Gewinne werden privatisiert, die Verluste werden sozial gerecht verteilt. Es geht in diesem Falle um die Post. Die Reichsbahn und die Bundesbahn, Autobahnen, das Gesundheitswesen sollen folgen - alles soll privatisiert werden. Aber ich muß noch einmal sagen: Bei der Post geht es in meinen Augen zuerst einmal darum, wie die Bürgerinnen und Bürger mit Postleistungen versorgt werden. Das ist für mich der entscheidende Punkt. ({4}) - Lassen Sie mich doch bitte einmal ausreden. ({5}) - In wie vielen Dörfern gibt es denn keine Post mehr? Reden Sie doch nicht so einen Unsinn, als ob jetzt alles besser wäre. Wie viele Leute, die - wie ich - nicht laufen können, kommen jetzt nicht mehr zur Post? ({6}) - Das mit dem Telefon finde ich ja auch gut. Ich sage ja gar nicht, daß alles schlecht ist. Ich bin doch kein Miesmacher. Nur, warum sind Sie denn nicht auf die Idee gekommen, die Angleichung der Verhältnisse zwischen Ost und West so zu gestalten, daß im Westen so viele Poststellen eingerichtet werden wie im Osten? Nein, hier wird mit einem Zirkel ein Kreis von 2 km gezogen, und die Leute müssen laufen, laufen, laufen. Manche aber können gar nicht soviel laufen. Denken Sie doch bitte einmal nach, und reden Sie nicht so einen Unsinn, daß hier alles besser ist als im Osten. So ein Quatsch! Gucken Sie sich lieber an, was dort vernünftig war und hier vernünftig ist. Dann bin ich dafür, daß wir hier einmal darüber reden. ({7}) Erzählen Sie doch nicht so einen Unsinn, daß früher alles nur mies war. ({8}) - Ich komme doch von dort. Reden Sie doch nicht so einen Unsinn! Ich merke schon, Sie haben es geschafft, mir ein bißchen die Redezeit wegzunehmen. Gut, das kann ich verschmerzen. - Wichtig ist, daß die Bürgerinnen und Bürger nicht noch weiter geschröpft werden: Die Postgebühren werden erhöht, und nur der Standardbrief, der nicht einmal 10 % des ganzen Aufkommens ausmacht, wird im Preis nicht erhöht. Was kommt denn davon unten bei den Briefträgern an? Wenigstens dazu wollte ich noch ein Wort sagen. Sie arbeiten mehr als 40 Stunden in der Woche und trauen sich nicht, krankzumachen, weil sie gar nicht wissen, wie sie es sonst schaffen sollen; sonst müßten ihre Kolleginnen und Kollegen ihre Arbeit machen. Das ist Sanierung auf Kosten Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, über die Sie hier so tolle Worte gesagt haben, Herr Bötsch. Ich finde, Sie sollten sowohl an Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter denken wohlgemerkt, nicht an die auf Staatssekretärsebene, sondern an die auf der Ebene der Briefträger - als auch an die Kunden, die jeden Tag ihre Post haben wollen, auch wenn sie auf dem letzten Dorf wohnen. Sie wollen jeden Tag ihre Briefmarken kaufen und ihr Telegramm aufgeben können. ({9}) - Die Agenturen möchte ich erst einmal sehen. Dann kommt es wie in Amerika, wo die Briefmarke 20 % mehr kostet, als man auf den Brief kleben muß. Das kann es doch wohl nicht sein, daß die Agenturen auch noch mitverdienen. Fahren Sie doch einmal nach Amerika, dann sehen Sie es. ({10}) Dort können Sie im Supermarkt eine Briefmarke kaufen, die einen Dollar wert ist, aber sie bezahlen dafür 1,20 Dollar. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Es war immerhin eine lebhafte Debatte. ({11})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun spricht der Kollege Martin Göttsching.

Martin Göttsching (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000702, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich habe Ihnen natürlich auch meine Uhr zu offerieren, wie das meine Kollegen gemacht haben, muß aber neidvoll eingestehen, daß meine 21 Steine hat. ({0}) - Nein, Herr Briefs, ich habe das nicht nötig.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Darf ich einmal ganz sanft unpräsidentinnenhaft fragen, ob ihr alle einen Schlag habt. ({0})

Martin Göttsching (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000702, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sicherlich, aber vielleicht ist es günstig, daß ich noch etwas dazu sage, wenn die Presse berichtet hat, was es mit den Uhren auf sich hat: Meine ist eine gute alte Glashütte-Uhr, die ich in Mark der DDR bezahlt habe. Herr Briefs, vielleicht haben Sie auch eine Uhr, aber die haben Sie sicherlich in D-Mark bezahlt. ({0}) - Oder in holländischen Gulden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Postreform II ist für den Wirtschaftsstandort Deutschland wichtig. Als lebensnotwendig hat sie der Postminister bezeichnet. Das ist richtig. Ich ergänze dies als Thüringer Abgeordneter: Ohne das Engagement des Unternehmens Telekom liefe bei uns fast nichts. ({1}) Das klingt im ersten Moment vielleicht etwas übertrieben, bei genauerem Hinsehen aber wird schnell ersichtlich, welch wirklich herausragende Rolle Telekom beim Aufbau eines funktionierenden Telekommunikationsnetzes in den neuen Ländern gespielt hat. Seit der Wiedervereinigung unterstützt Telekom den wirtschaftlichen Aufbau mit - Zahlen sind genannt worden - Milliardenbeträgen, um die Infrastruktur und damit die Gesundung bzw. den wirtschaftlichen Aufschwung zu gewährleisten. Aber - das sage ich auch - bei Telekom sollte manche Investition durchschaubarer sein. Ich meine aber auch, daß das Unternehmen Telekom mal ganz intensiv die Augen auf Anbieter von Telekommunikationsendgeräten - das sind die alten Telefone - in den neuen Ländern richten sollte. Da gibt es nämlich ausgezeichnete Anbieter, aber leider scheinen die Gleise für die Einkäufer an der alten innerdeutschen Grenze zu enden, und lediglich eine Schmalspurbahn führt in den Osten. ({2}) 11 Milliarden DM flossen in die neuen Länder. Daß Telekom der größte Einzelinvestor ist, muß einfach noch einmal gesagt werden. ({3}) Man muß es sich einfach mal auf der Zunge zergehen lassen - ich sage es ganz langsam -: 540 000 neue Telefonanschlüsse bis zum 30. Juni 1993. ({4}) - Vielleicht ist er aus dem berühmten Postamt 5 in Berlin, womit manche so ihre Probleme haben. ({5}) - Ich bin Theologe, da kann ich auch in Gleichnissen reden. Wenn man bedenkt, wie lange man früher auf einen Telefonanschluß gewartet hat-Jahre, Jahrzehnte -, dann kann man sich vorstellen, welchen Stellenwert der Aufschwung Ost hat und wie real er hier umgesetzt wird. Ich erlebe in dieser Frage ganz konkret auch in meinem Umfeld, daß es in dieser Sache vorangeht. Die Investitionen von Telekom und von der Post im Osten sind für die Akzeptanz der Politik der Bundesregierung insgesamt von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Natürlich weiß ich, daß es regional große Unterschiede gibt und mancher Bürger und vor allem auch Existenzgründer auf ihren Anschluß oft länger warten müssen, als ihnen lieb ist, aber auch mir lieb ist. Im Petitionsausschuß beschäftige ich mich in diesem Zusammenhang sehr mit den Grundrechten der Bürger, sich mit Bitten und Beschwerden an das Parlament zu wenden, gerade auch in Sachen Abführung an die Telekommunikation. ({6}) Insgesamt aber kann dies das positive Gesamtbild nicht trüben. Das Engagement der Postunternehmen in den neuen Ländern wird auf dem hohen Niveau der vergangenen Jahre fortgesetzt. ({7}) Allerdings sollte die Postbank ganz besonders daran denken, daß sie ein gutes Geschäft machen würde, wenn sie z. B. in der Computerbranche einen Auftrag in Millionenhöhe an ostdeutsche Unternehmen vergibt. Dadurch würde sie helfen, in wirtschaftlich gebeutelten Regionen Arbeitsplätze zu schaffen bzw. zu erhalten. In einem Betrieb, in einer Kreisstadt der Computer herstellt und in dem es einmal 12 500 Arbeitsplätze gab, von denen jetzt noch 300 bis 500 da sind, würde ein solcher Auftrag wirklich ein gutes Zeichen setzen. Der Haushalt des BMPT befindet sich auf Talfahrt. Das haben auch Herr Kolbe und andere schon gesagt. Der Ansatz ist um 16 % verringert. Aber die Investitionen der Postunternehmen bleiben gleich bzw. steigen. Das ist das, was ich gedanklich und inhaltlich sehr gut nachvollziehen kann. ({8}) Denn die überdurchschnittliche Senkung des Einzelplans 13 gibt dem Finanzminister die Möglichkeit, bei anderen Ressorts sanfter zuzulangen, etwa bei Arbeit und Soziales. Dieser Gedanke erleichtert es mir gewissermaßen, die Kürzungen zu ertragen, wenn es auf Dauer mit den Kürzungen beim BMPT auch nicht so weitergehen kann. Danke. ({9})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun hat der Kollege Dr. Ulrich Briefs das Wort. ({0})

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich würde ganz gerne die launige Tonart, die sich hier eingeschlichen hat, weiterführen. Aber es geht nicht. Es gibt auch noch ein paar andere Probleme in diesem Zusammenhang. ({0}) Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Post ist ein weiteres Beispiel für die durch und durch unsoziale Politik dieser Bundesregierung. Nach der Zerschlagung der früheren Bundespost ist das eingetreten, wovor Kritiker bei der ersten Poststrukturreform gewarnt haben. Es sind bereits Arbeitsplätze in großer Zahl abgebaut worden. Weiterer Abbau steht bevor: allein 20 000 im Briefdienst bis zum Jahre 2000, 3 000 im Frachtdienst bis 1996. Bei der Telekom soll jeder achte Arbeitsplatz - insgesamt 30 000 Arbeitsplätze, 100 000 Menschen sind betroffen - bis zum Jahre 2000 verschwinden. Das Arbeitsplatzangebot der Postbank soll bis 1996 fast halbiert werden. Diese Arbeitsplatzabbaupolitik alleine schon ist - besonders in dieser Zeit mit bundesweit 7 Millionen fehlenden Arbeitsplätzen - falsch. Sie ist verantwortungslos. Sie belegt aber auch wie andere Erfahrungen, daß die Informationsgesellschaft der Zukunft, die vor allem auf der Expansion der Informations- und Kommunikationstechniken beruht, vor allem eine Gesellschaft der fehlenden Erwerbsmöglichkeiten sein wird. Doch diese Bundesregierung und diese Koalition treiben die Entwicklung noch weiter. Die Poststrukturreform II soll den Einstieg und schließlich die völlige Privatisierung von Post und Telekom bringen. Alles das haben die Bundesregierung und die Koalition übrigens 1987/88 weit von sich gewiesen. Ich weiß noch, wie empört damals die Reaktionen waren, als von verschiedenen Seiten geäußert wurde: Das ist der Einstieg in die Privatisierung. Jetzt werden wir sie bekommen. ({1}) Wir bekommen sie mit den entsprechenden Folgen. Damit werden nicht nur weitere Arbeitsplätze der Ideologie der marktwirtschaftlichen Effizienz geopfert. Ob das im weiteren nicht zum Aufbau privatwirtschaftlicher Wasserköpfe führen muß, für die letzten Endes die Verbraucher über die Gebühren zahlen müssen, ist auch noch nicht heraus. ({2}) Durch die geplante Privatisierung werden auch dringend notwendige Interventions- und Kontrollmöglichkeiten im Hinblick auf die Anwenderbereiche der IuK-Techniken - das ist ein besonderes Anliegen, denke ich- aus der Hand gegeben. Das gilt für den Datenschutz, das gilt für den Arbeitsschutz, das gilt sogar für bestimmte Aspekte der Qualifikations- und Bildungspolitik und nicht zuletzt für die Forschungs- und Technologiepolitik. Der Rückzug der Gesellschaft aus dem Kommunikationswesen bringt zudem die Gefahr der Unterversorgung des flachen Landes und sonstwie benachteiligter Wohngebiete und Regionen mit sich. Der Infrastrukturauftrag der früheren Post bleibt womöglich ganz auf der Strecke. Auf der Strecke bleiben auch dringend notwendige Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften, z. B. in den Aufsichtsräten der privatisierten Unternehmen. ({3}) - Kollege Börnsen, wenn Sie sich ein bißchen mit dem Elend der Mitbestimmung nach dem 76er Gesetz vertraut machen würden - gegen das Sie ja sind -, dann wüßten Sie das. ({4}) Die SPD fordert, wenn ich das richtig mitbekommen habe, weitere Mitbestimmungsrechte. Das ist auch richtig. Ich hoffe, Sie bekommen da etwas durch. Ich hoffe, es wird nicht zu dem gelegentlich feststellbaren Wackelkurs kommen. Ich komme zu meiner Schlußbemerkung, Frau Präsidentin. Auch hierbei ist es wie bei der sonstigen Politik, insbesondere der Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung und dieser Koalition: Geradezu mit Brachialgewalt - das ist die harte, brutale Logik dieser ganzen Entwicklung ({5}) sollen rentable Kapitalanlagemöglichkeiten für die riesigen und trotz Rezession und Massenarbeitslosigkeit weiter anfallenden Profite eröffnet werden. Das ist schlicht und einfach der Punkt. Die Telekommunikationsmärkte sind der große Expansionsbereich der Zukunft, mit entsprechenden, zum Teil sehr problematischen Konsequenzen für die vielen Arbeitsplätze, z. B. in den Anwenderbereichen. Auf der Strecke bleiben womöglich die Interessen aller Bürgerinnen und Bürger - die der Wirtschaft bleiben nicht auf der Strecke - an einer preisgünstigen und ausreichenden Telekommunikation und Postversorgung. Auf der Strecke bleibt - ich denke, das ist ganz besonders problematisch - ein wichtiges Element gesellschaftlicher Gestaltungspolitik. Noch eine kurze Anmerkung. Ich könnte mir vorstellen, daß wir vielleicht in zehn Jahren oder etwas später gezwungen sein werden, Teile dieser Poststrukturreform II in wesentlichen Aspekten wieder rückgängig zu machen, wieder mehr gesellschaftliche Transparenz, wieder mehr öffentliche Transparenz und auch öffentliche Interventionsmöglichkeiten in diesem Bereich einzuführen. Frau Präsidentin, ich danke Ihnen. ({6})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Es ist auch zu diesem Bereich keine weitere Wortmeldung vorhanden. ({0}) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 und die Zusatzpunkte 2j bis 2 m auf: 2. Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. Juli 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Erleichterungen der Grenzabfertigung - Drucksache 12/5279 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({1}) Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Verkehr Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO Vizepräsidentin Renate Schmidt b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Patentgebührengesetzes - Drucksache 12/5280 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({2}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes - Drucksache 12/5614 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({3}) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung EG-Ausschuß Haushaltsausschuß gemäß § 96 d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung und Beschleunigung registerrechtlicher und anderer Verfahren ({4}) - Drucksache 12/5553 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({5}) Finanzausschuß Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsfristen - Drucksache 12/5613 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit ({6}) - Drucksache 12/5617 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({7}) Innenausschuß Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Entgeltfortzahlungsgesetzes - Drucksache 12/5616 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({8}) Innenausschuß Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO h) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft Gendarmerie-Kaserne in Mannheim-Schönau - Drucksache 12/5291 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß i) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft Fahnenbergplatz 4 in Freiburg/Br. - Drucksache 12/5292 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß ZP2 j) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann, Ingrid Köppe, Konrad Weiß ({9}), weiteren Abgeordneten und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsfristen bei DDR-Unrechtstaten - Drucksache 12/5628 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß k) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung strafrechtlicher Verjährungsfristen - Drucksache 12/5637 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß 1) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Bau des Abschnitts KönnernLöbejün der Bundesautobahn A 14 Magdeburg-Halle ({10}) - Drucksache 12/5000 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr ({11}) Rechtsausschuß Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit m) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Bau des Abschnitts Wismar West-Wismar Ost der Bundesautobahn A 20 Lübeck-Bundesgrenze ({12}) - Drucksache 12/5001 - ({13})

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Ausschuß für Verkehr ({0}) Rechtsausschuß Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Entwurf zur Änderung des Gentechnikgesetzes auf Drucksache 12/5614 soll zusätzlich dem Haushaltsausschuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf: 3. Abschließende Beratungen ohne Aussprache a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 24. März 1992 über den offenen Himmel - Drucksache 12/4074 - ({1}) aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({2}) - Drucksache 12/5209 Berichterstattung: Abgeordnete Katrin Fuchs ({3}) Dr. Olaf Feldmann bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({4}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 12/5290 Berichterstattung: Abgeordnete Adolf Roth ({5}) Dr. Sigrid Hoth Ernst Waltemathe b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Notenwechseln vom 25. September 1990 und vom 23. September 1991 über die Rechtsstellung der in Deutschland stationierten verbündeten Streitkräfte und zu dem Übereinkommen vom 25. September 1990 zur Regelung bestimmter Fragen in bezug auf Berlin - Drucksache 12/4021 - ({6}) Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({7}) - Drucksache 12/5307 Berichterstattung: Abgeordnete Peter Kurt Würzbach Karsten D. Voigt ({8}) Dr. Olaf Feldmann c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({9}) zu dem Entschließungsantrag der Gruppe der PDS/Linke Liste zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie der Veränderungen im militärischen Kräfteverhältnis ({10}) - Drucksache 12/2442, 12/2891, 12/5211 Berichterstattung: Abgeordnete Peter Kurt Würzbach Günter Verheugen Dr. Helmut Haussmann Dr. Hans Modrow Wir kommen zunächst zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 3 a. Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/5209, den Gesetzentwurf zu dem Vertrag über den offenen Himmel unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Das hätte ich jetzt gern gewußt, Kollege Briefs: Was haben Sie gegen den offenen Himmel? ({11}) Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig bei einer Enthaltung angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 3 b. Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/5307, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? ({12}) Der Gesetzentwurf ist wiederum einstimmig bei einer Enthaltung angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 3c. Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/5211, den Entschließungsantrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich wünsche Ihnen mit Ihren Uhren viel Spaß. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 10. September 1993, 9 Uhr ein. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und schließe die Sitzung.