Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Die heutige Sitzung habe ich nach Art. 39 des Grundgesetzes auf Verlangen des Herrn Bundeskanzlers einberufen.
Ich möchte Sie zunächst bitten, sich von den Plätzen zu erheben. Ich möchte den Nachruf zum Tod des Kollegen Günther Tietjen zu Gehör bringen.
Am Mittwoch der vergangenen Woche verstarb nach schwerer Krankheit unser Kollege Günther Tietjen. Er wurde am 9. November 1943 im ostfriesischen Heisfelde, Landkreis Leer, geboren. Bereits als junger Polizeibeamter hat sich Günther Tietjen politisch engagiert. 1967 trat er in die SPD ein. Als Sohn einer Arbeiterfamilie lagen ihm die Sorgen und Nöte derer, die nicht auf der Sonnenseite stehen, immer besonders am Herzen.
Seine politischen Lehrjahre in der Kommunalpolitik - er war Vorsitzender des Ortsvereins HeisfeldeNüttermoor, sodann Vorsitzender im Unterbezirk Leer und Vorsitzender der SPD-Fraktion im Rat der Stadt Leer - haben ihn auch später in seiner Arbeit als Bundestagsabgeordneter geprägt. Günther Tietjen verstand sich selbst als der „Mann der kleinen Leute" in Bonn.
Er fühlte sich besonders den Behinderten verbunden. Als Schirmherr der Multiple-Sklerose-Gruppe im Landkreis Leer hat er dieses Gefühl der Verbundenheit immer wieder in politisches Handeln umgesetzt und andere ermutigt, auch in ehrenamtlicher Arbeit für Schwächere einzutreten.
Günther Tietjen gehörte dem Bundestag für die SPD zum erstenmal 1974 bis 1976 und danach ununterbrochen seit 1980 an. Im Deutschen Bundestag war er zuletzt ordentliches Mitglied im Fremdenverkehrsausschuß und stellvertretendes Mitglied im Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten sowie im Sportausschuß.
Ich spreche den Angehörigen des Verstorbenen, besonders seiner Frau und seinen drei Kindern, sowie der Fraktion der SPD namens des ganzen Hauses meine Anteilnahme an diesem frühen Tod aus. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden ihrem verstorbenen Kollegen Günther Tietjen ein ehrendes Andenken bewahren.
Lassen Sie uns in Anknüpfung an dieses Gedenken auch des jungen, 25 Jahre alten Polizeibeamten Michael Newrzella gedenken, der in Bad Kleinen sein Leben für diese Rechtsordnung und die Freiheit unseres Rechtsstaats ließ. Auch seinen Angehörigen, seinen Eltern, sprechen wir unsere Anteilnahme aus und bewahren ihm ein ehrendes Andenken.
Sie haben sich zu Ehren der Verstorbenen erhoben. Ich danke Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Gruppen PDS/ Linke Liste und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben beantragt, die heutige Tagesordnung zu erweitern. Diese Geschäftsordnungsanträge werde ich nach der Vereidigung aufrufen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf: Eidesleistung eines Bundesministers
Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit sagen: Es ist in der vergangenen Woche viel über die Sondersitzung des Deutschen Bundestages spekuliert und die Kostenfrage thematisiert worden. Es gehört zu unseren grundlegendsten Pflichten, zu dieser Sondersitzung zusammenzukommen, denn wir können nicht über Parlamentarismus reden und dann, wenn es ernst wird, fragen: Aber was kostet er? Dies möchte ich hier ausdrücklich bekräftigen.
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Ich komme nun zu dem aufgerufenen Tagesordnungspunkt.
Der Herr Bundespräsident hat mir mit Schreiben vom 7. Juli 1993 folgendes mitgeteilt:
Gemäß Art. 64 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland habe ich heute auf Vorschlag des Herrn Bundeskanzlers
den Bundesminister des Innern, Herrn Rudolf Seiters, auf seinen Antrag aus seinem Amt als Bundesminister entlassen und
Herrn Manfred Kanther zum Bundesminister des Innern ernannt.
Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet ein Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56 des Grundgesetzes vorgesehenen Eid.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Herr Bundesminister Kanther, ich darf Sie jetzt zu mir bitten, um den im Grundgesetz vorgesehenen Eid zu sprechen.
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Herr Bundesminister, Sie haben den im Grundgesetz vorgesehenen Eid gesprochen. Ich möchte Ihnen im Namen dieses Hauses Glück und gutes Gelingen für Ihr Amt wünschen.
Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin.
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Bevor ich zur Tagesordnung übergehe, möchte ich nach diesem Glückwunsch dem aus dem Amt ausgeschiedenen Bundesminister Rudi Seiters von dieser Stelle den Dank des Hauses für seine verdienstvolle Tätigkeit aussprechen.
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Für sein weiteres Wirken begleiten ihn unsere guten politischen Wünsche.
Wie vorhin bereits erwähnt, liegen zwei Aufsetzungsanträge vor. Die Gruppe PDS/Linke Liste hat beantragt, die heutige Tagesordnung um die Beratung ihres Antrags zum Widerruf der Genehmigung des Kali-Fusionsvertrags auf Drucksache 12/5386 zu erweitern.
Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wünscht, ihren Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zur Aufklärung der Umstände im Zusammenhang mit der Ergreifung von Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams, Drucksache 12/5402, heute mit zu beraten.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat Frau Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste beantragt die Aufsetzung des Antrags „Widerruf der Genehmigung des Kali-Fusionsvertrages" auf die heutige Tagesordnung.
Ziel unseres Antrags ist es, den Bundesfinanzminister aufzufordern, die von ihm am 6. Juli 1993 gegebene Genehmigung für den Fusionsvertrag zwischen der Mitteldeutschen Kali AG und der Kali und Salz AG zu widerrufen.
Wir stellen diesen Antrag, weil erstens die Fusion der deutschen Kali-Industrie einseitig zu Lasten der ostdeutschen Kali-Werke erfolgt. Sowohl der Kapazitätsabbau als auch der Arbeitskräfteabbau erfolgen überproportional in den ostdeutschen Ländern. Hinzu kommt außerdem, daß die Schließung der Werke in Bischofferode und Merkers bis Ende dieses Jahres stattfinden soll, während die westdeutschen Betriebe, die zur Schließung anstehen, bis 1996 planmäßig abgefahren werden sollen.
Zweitens verletzt die Treuhand mit der Fusion eindeutig ihren Auftrag zur Erhaltung ostdeutscher Arbeitsplätze in industriellen Kernbereichen. Statt dessen werden nachweislich Treuhandmittel in beachtlichem Umfang zur Sanierung der westdeutschen Kalibetriebe eingesetzt. Zum Beispiel dienen die Herstellung des Untertageverbundes zwischen Thüringen und Hessen und der Abbau des Thüringer Salzes von der hessischen Seite aus dem Weiterbetrieb des Werkes in Hattdorf.
Drittens gehen die vereinbarten Schließungen offensichtlich auf interne Absprachen zurück und dienen einer Marktbereinigung. Mit der Genehmigung dieses Vertrages wird damit die Grundlage für eine Wettbewerbsverzerrung geschaffen, die nach dem EG-Vertrag nicht zulässig ist.
Viertens wird im Kali-Werk Bischofferode ein Produkt hergestellt, das in seiner chemischen und physikalischen Besonderheit in keinem anderen deutschen Kali-Werk hergestellt wird. Es handelt sich um K 60 und K 61. Mit diesem Produkt war Bischofferode bereits vor der deutschen Einheit langjähriger Zulieferer für Düngemittelhersteller in Nord- und Westeuropa. Es ist völlig unverständlich, warum dieser sichere Marktanteil aufgegeben werden soll. Einen Sinn ergibt das nur, wenn die nord- und westeuropäischen Kunden von Bischofferode dadurch in ihrer Wettbewerbsfähigkeit gegenüber der BASF beeinträchtigt werden sollen.
Fünftens gibt es für das Werk Bischofferode einen seriösen Investor, mit dem die Treuhandanstalt bis heute keinerlei ernsthafte Verhandlungen aufgenommen hat. Das von der Treuarbeit erstellte Gutachten zum Peine-Konzept ist den Abgeordneten des Treuhandausschusses nicht zugänglich gewesen. Die im Ausschuß vorgetragene zusammenfassende Darstellung des Gutachtens hat eine beträchtliche Zahl von offenen Fragen zurückgelassen.
Sechstens unterstützt auch die Thüringer Landesregierung den Weiterbetrieb des Werkes Bischofferode. Die Bedenken der Landesregierung fanden ebenfalls keinerlei Beachtung. Die Landesregierung sieht kurzfristig keine Möglichkeiten einer Industrieansiedlung. Die Situation wird dadurch verschärft, daß bereits alle anderen Betriebe dieser Region geschlossen wurden. Damit sind auch die Entwicklungsmöglichkeiten für Handwerk und Dienstleistungen auf längere Sicht behindert.
Aus den Medien, meine Damen und Herren, ist Ihnen sicher bekannt, daß die Beschäftigten das Kali-Werk in Bischofferode seit mehreren Monaten bei vollem Betrieb besetzt halten. Nach der Entscheidung des Treuhandausschusses sind zwölf Kumpel in den Hungerstreik getreten, denen sich bis heute weitere 30 Kumpel und ein Abgeordneter des Thüringer Landtags angeschlossen haben. Über 20 Frauen haben die Grube besetzt. In der gesamten Region gibt
es Proteste verschiedenster Art, von Solidaritätsbekundungen bis zu Parteiaustritten.
Wir sind deshalb der Auffassung, daß sich der Deutsche Bundestag mit dem Problem der Kali-Fusion umgehend befassen muß. Unser Versuch, den Tagesordnungspunkt regulär einzubringen, wurde von den Geschäftsführern der CDU/CSU und der SPD abgeschmettert. Deshalb jetzt noch einmal unser Versuch, an die wirtschaftliche Vernunft und das soziale Empfinden der Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu appellieren: Stimmen Sie bitte dafür, daß dieser Antrag heute auf die Tagesordnung gesetzt wird.
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Als nächste spricht zum Geschäftsordnungsantrag die Abgeordnete Ingrid Köppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir unterstützen den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste.
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Außerdem beantrage ich im Namen unserer Gruppe, die Tagesordnung um die Beratung und Abstimmung unseres Antrags auf Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses Bad Kleinen zu ergänzen und diesen Punkt mit der vereinbarten Aussprache zu dem Thema zu verbinden.
Seit zwei Wochen - Sie wissen es - ergeben sich im Zusammenhang mit der Festnahmeaktion in Bad Kleinen sowie insbesondere mit den vorangegangenen Fahndungen immer neue Fragen. Diese Fragen sind bisher nicht befriedigend beantwortet worden. Die Bundesregierung und ihre Sicherheitsbehörden geben immer nur gerade das zu, was nach den Recherchen der Medien nicht mehr zu leugnen ist. Das Parlament aber darf sich nicht darauf verlassen, daß die Ermittlungs- und Informationsaufgaben der Sicherheitsbehörden stellvertretend weiterhin von den Medien übernommen werden.
Weil die bisherigen Aufklärungsversuche nicht ausreichten, haben wir einen Untersuchungsausschuß beantragt. Wir meinen, hiergegen kann nicht eingewendet werden, die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft müßten zunächst abgewartet werden. Denn auch in der Vergangenheit sind Untersuchungsausschüsse parallel zu Strafermittlungsverfahren eingeleitet worden. Diese Parallelität ist sogar ein Charakteristikum brisanter Vorgänge, aber kein Hindernis.
Zudem sind außer den vielen Ungereimtheiten im Detail, welche auch von der Staatsanwaltschaft zu ermitteln sind, die Pannen der beteiligten Ämter in der jeweiligen Vorgehensweise und Koordination untereinander dringend aufzuklären.
Ferner sind die Fragen zu beantworten: Unter welchen Umständen ist vor allem in den letzten zwei Monaten unter Mitwirkung von V-Leuten nach mutmaßlichen RAF-Verdächtigen gefahndet worden? Von welchen Opportunitätserwägungen wurde in der Vergangenheit die Entscheidung über die Ergreifung dieser Personen abhängig gemacht?
Dies alles sind Fragen, die nicht von Staatsanwaltschaften, sondern in erster Linie vom Parlament geklärt, politisch bewertet und mit Schlußfolgerungen und Maßnahmen zu beantworten sind, z. B. organisatorischer oder personeller Art im Bereich der Sicherheitsbehörden.
Für die Aufklärung dieser Fragen ist ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß das richtige und offensichtlich notwendige Gremium. Daher bitte ich um Ihre Zustimmung, unseren Antrag heute zu behandeln, sowie anschließend auch um Unterstützung in der Sache selbst.
Danke.
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Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Jürgen Rüttgers.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Anlaß unserer heutigen Sondersitzung ist die Vereidigung des neuen Bundesministers des Innern. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion gratuliert Ihnen, lieber Herr Kanther, sehr herzlich zu Ihrer heutigen Vereidigung.
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Wir wünschen Ihnen viel Erfolg in Ihrem neuen Amt. Auf die Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion können Sie sich verlassen.
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Wir danken Rudi Seiters. Rudi Seiters hat sich große Verdienste um unser Land erworben. Wir wissen auch, lieber Rudi Seiters, daß unsere Arbeit in der CDU/CSU-Fraktion weiter maßgeblich Ihre Handschrift tragen wird. Dafür sind wir dankbar.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, BÜNDNIS 90 und PDS versuchen heute, durch Anträge zur Geschäftsordnung die Tagesordnung zu erweitern. Die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion kann beiden Anträgen nicht zustimmen. Der Antrag von BÜNDNIS 90 auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses in Sachen Bad Kleinen ist nach unserer Auffassung verfrüht. Die Bundesregierung, aber auch der Innen- und Rechtsausschuß arbeiten an der notwendigen Aufklärung. Ein vollständiger Bericht ist bereits zugesagt. Wer jetzt, ohne daß Klarheit in der Sache herrscht, einen Untersuchungsausschuß einsetzt, der muß wissen, daß er die Aufklärung verzögert. Die Aufklärung kann nicht warten, bis ein möglicher Untersuchungsausschuß im September seine Arbeit aufnimmt.
Der Antrag der PDS/Linke Liste, über den Widerruf der Genehmigung des Fusionsvertrages für das Kali-Werk Bischofferode zu debattieren, leidet unter demselben Mangel.
Der Bundestag hat sich in einer Sondersitzung des Treuhandausschusses ausführlich mit diesem Thema beschäftigt. Er hat mit den betroffenen Arbeitnehmern aus Bischofferode gesprochen. Der Treuhandausschuuß kam zu dem Entschluß, alle Anstrengungen zu unternehmen, um den Standort Bischofferode
zu erhalten. Bis zum 30. September soll dazu ein Bericht vorgelegt werden.
Die heutige Debatte, liebe Kolleginnen und Kollegen, würde also keinen Beitrag zur Lösung des Problems bringen. Deshalb lehnen wir beide Anträge ab.
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Als nächster spricht zur Geschäftsordnung der Abgeordnete Dr. Peter Struck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Rüttgers, wir sind heute hier nicht nur zu einer Sondersitzung anläßlich der Vereidigung des neuen Bundesinnenministers zusammengekommen, sondern wir wären wahrscheinlich auch zusammengekommen, weil in der Tat seit vierzehn Tagen eine Desinformation der Öffentlichkeit stattgefunden hat, die nur hier heute aufgeklärt werden kann.
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Ich komme dann auch gleich zu dem Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Ich will für die SPD-Bundestagsfraktion erklären, daß wir sehr enttäuscht und verbittert sind über die bisherigen öffentlichen Erklärungsversuche der Vorgänge, die sich in Bad Kleinen abgespielt haben, und daß für uns das Entscheidende ist, wie es überhaupt zu dem Zustand der beteiligten Behörden kommen konnte, in dem sie sich offenbar jetzt befinden.
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Wir stellen fest, daß sich das Bundeskriminalamt, der Generalbundesanwalt, das Bundesjustizministerium, das Bundesinnenministerium und wer auch immer beteiligt gewesen sein mag oder vielleicht noch zu beteiligen sein wird in einem schweren Durcheinander und einem großen Organisationschaos befinden. Ich glaube, das wird eine Aufgabe sein, die über die tatsächliche Untersuchung der Vorgänge in Bad Kleinen weit hinausgehen wird: Wie konnte es dazu kommen, daß sich unsere wichtigen Behörden gerade im Innen- und Justizbereich, auf die unsere Bürger vertrauen, in eine solche Angelegenheit verstricken konnten?
Ich schließe nicht aus, meine Damen und Herren, daß nach den entsprechenden Beratungen im Innen-und Rechtsausschuß sich die Frage für die SPD-Bundestagsfraktion stellt, ob gerade wegen dieses Umstandes noch weitere Untersuchungsmöglichkeiten des Parlaments genutzt werden sollen. Ich will mir das für meine Fraktion ausdrücklich vorbehalten.
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Was nun den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste angeht, so muß ich Ihnen, verehrte Kollegin Fischer, sagen: Mich erfüllt das Auftreten der PDS im Deutschen Bundestag mit einiger Verbitterung - sie hat ja ausdrücklich die Rechtsnachfolge der SED angetreten -, wenn Sie sich zum Anwalt von Menschen aufspielen wollen, denen Sie durch Ihre falsche Politik, in deren Rechtsnachfolge Sie sind,
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zu diesem Elend verholfen haben. Das will ich hier feststellen.
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Ich sage aber auch, daß wir die Situation der Menschen in Bischofferode mit großem Mitleid und Mitgefühl sehen. Aber wer so wie Sie agiert, wer so wie Sie versucht, populistisch auf eine Stimmung der Bevölkerung zu setzen, ohne konkrete Lösungsvorschläge zu machen, der versündigt sich gegenüber den Menschen.
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Wir wollen dafür sorgen, daß die Angst um die Existenz der Menschen in Bischofferode aufhört, wir wollen dafür sorgen, daß denjenigen, die im Hungerstreik sind, geholfen wird. Auch wir wollen und werden uns dafür einsetzen, daß der Standort Bischofferode erhalten bleibt. Dafür treten wir Sozialdemokraten ein.
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Der Weg, den Sie heute vorgeschlagen haben, ist nicht der geeignete Weg.
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Als nächster Redner spricht der Abgeordnete Manfred Richtet.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zum Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste hat Herr Rüttgers das Notwendige gesagt. Ich möchte hinzufügen, dieses Thema ist mehrfach Gegenstand von Erörterungen im Deutschen Bundestag gewesen. Die unterschiedlichen Meinungen dazu sind durchaus ausgetauscht worden. Eine Abweichung von der heutigen Tagesordnung ist nicht angezeigt. Einer Aufsetzung dieses Antrags auf die heutige Tagesordnung, die einen ganz anderen Schwerpunkt hat, stimmt die F.D.P.-Bundestagsfraktion nicht zu.
Der Anlaß der heutigen Bundestagssitzung war in der Tat die Eidesleistung eines Bundesministers. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, dem ausgeschiedenen Bundesminister Seiters namens meiner Fraktion für die gute Zusammenarbeit herzlich zu danken.
({0})
Ich möchte dies mit guten Wünschen für Bundesminister Kanther für seine wichtige Arbeit der Sicherung des liberalen Rechtsstaats verbinden.
({1})
Dazu bieten wir unsere Kooperation an.
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Manfred Richter ({3})
Meine Damen und Herren, der Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wirft die Frage auf, welchen Beitrag denn das Parlament zu der Aufklärung einer Situation wie der, in der wir uns heute befinden, eigentlich leisten kann. Mein Eindruck ist, daß in diesem Zusammenhang eher zu viele Leute geredet haben als zu wenige.
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- Außerhalb und innerhalb des Parlaments.
Mein Eindruck ist weiterhin, daß in diesem Zusammenhang eher zuviel mit veröffentlichten Vermutungen gearbeitet wurde als zuwenig.
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Mein Eindruck ist drittens, daß der Beitrag, den wir als Parlament jetzt den zuständigen Behörden schuldig sind, der sein kann, daß wir sie in Ruhe arbeiten lassen. Das müssen sie, und zwar zügig.
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Jetzt sind die Ermittlungsbehörden am Zug. Die heute vereinbarte Debatte zu diesem Thema wird dem Anliegen des Parlaments, sich hierüber in der Öffentlichkeit auszutauschen, gerecht. Einer Aufsetzung dieses Punktes auf die Tagesordnung bedarf es nicht.
Gleichwohl will ich sagen, daß man, wenn man sich den Antrag genau durchliest, zu dem Ergebnis kommt, daß er ohnehin nicht zustimmungsfähig ist. Der Antrag ist nachbesserungsbedürftig - das ist das mindeste -, wenn er auf die Aufklärung des Gesamtkomplexes abzielen soll und wenn er mehr sein soll als Bestandteil einer erstaunlichen Kampagne, die zur Zeit in der Öffentlichkeit stattfindet. Es ist eine erstaunliche Kampagne, in der ein getöteter Terrorist - die Todesumstände sind in der Tat dringend klärungsbedürftig - zum Märtyrer hochstilisiert werden soll.
({7})
Es .ist eine ganz erstaunliche Kampagne, die verdrängt, daß ein Polizeibeamter ermordet worden ist, offensichtlich übrigens ein Beamter, der selbst gar nicht geschossen hat.
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Es ist in meinen Augen kein gutes Zeugnis für die Befindlichkeit einiger Leute in unserer Gesellschaft, wenn Gedenktafeln angebracht werden für den, der den Polizisten erschossen hat, und nicht für den, der als Polizist in Ausübung seines Dienstes erschossen wurde.
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Nein, meine Damen und Herren, dieser Antrag ist auch inhaltlich nicht zustimmungsfähig. Aber seiner Aufsetzung auf die heutige Tagesordnung bedarf es ganz bestimmt nicht. Jetzt sind die zuständigen Behörden an der Reihe. Wir wollen ihnen die Arbeit leicht machen und nicht erschweren.
Wir stimmen der Aufsetzung nicht zu.
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Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine Gruppe unterstützt heute den Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, eine Diskussion bzw. Beratung und Beschließung zu einem Untersuchungsausschuß im Zusammenhang mit den Ereignissen von Bad Kleinen vorzunehmen.
Meine Begründung: Heute sind wieder viele Widersprüche im Innenausschuß deutlich geworden. Nichts ist geklärt worden. Neue Fragen sind aufgeworfen worden, z. B. über die Videos, aber auch über den Tod des GSG-9-Mannes. Es ist auch weiterhin noch offen, wie Wolfgang Grams ums Leben gekommen ist. Die Behörden geben immer noch unterschiedliche Darstellungen. Ein Bericht ist vor vier Wochen nicht zu erwarten, wie uns heute gesagt worden ist.
Ich halte das Argument für falsch, daß es eine Verzögerung der Ermittlungen bedeuten würde, wenn heute ein Untersuchungsausschuß beschlossen würde. Wir werden im Moment ständig nach Bonn zu Sondersitzungen herzitiert. Von daher könnte ein Untersuchungsausschuß sofort anfangen zu arbeiten bzw. die entsprechenden Vorarbeiten dafür leisten.
Insofern halte ich es für sehr dringlich - da meiner Meinung nach die verstreichende Zeit Vertuschungen immer leichter machen wird -, daß der Untersuchungsausschuß unmittelbar eingesetzt wird.
Ich möchte noch eine Bemerkung zu Herrn Struck machen. Ich meine, Sie haben hier heute ganz billige Demagogie betrieben,
({0})
wenn Sie davon ausgehen, daß die SED bzw. die PDS dafür verantwortlich ist, daß wieder einmal ein Betrieb von der Treuhand dichtgemacht wird und daß viele Arbeitsplätze verlorengehen. Denn es ist ja bekannt, wie viele Fehlentscheidungen sich die Treuhand inzwischen leisten durfte und konnte.
Zum Abschluß möchte ich die Präsidentin noch einmal daran erinnern, daß es auch einen dritten Toten gibt, dessen Tod uns heute hier zusammenbringt, nämlich Wolfgang Grams. Den haben Sie heute nicht genannt. Ich finde das schon ziemlich skandalös.
({1})
Meine Damen und Herren, dazu möchte ich jetzt nicht Stellung nehmen.
({0})
Wir kommen zur Abstimmung über die Geschäftsordnungsanträge, zuerst zum Aufsetzungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei einigen Enthaltungen von der Mehrheit der CDU/ CSU-, der F.D.P.- und der SPD-Fraktion abgelehnt.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Wer stimmt für den Aufsetzungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN? - Gegenprobel - Enthaltungen? - Damit ist auch dieser Antrag gegen die Stimmen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS/Linke Liste bei einigen Enthaltungen abgelehnt.
Bevor ich den Tagesordnungspunkt 2 aufrufe, möchte ich nachträglich - ich habe es eben vergessen - unserem Kollegen Strube noch ganz herzlich gratulieren, der am 6. Juli 60 Jahre alt geworden ist. Unseren ganz herzlichen Glückwunsch und Dank für seine Arbeit im Haushaltsausschuß.
({1}) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Vereinbarte Debatte
zu den Vorgängen in Bad Kleinen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat der Bundesminister des Innern, Herr Manfred Kanther, das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren! Es ist gewiß ungewöhnlich, wenn man wenige Minuten nach der Vereidigung vor dem Deutschen Bundestag zu einem so wichtigen Thema der deutschen Innenpolitik sprechen muß. Ich will es dennoch tun, um vor dem Parlament und der Öffentlichkeit darzulegen, wie sich die Bundesregierung die Aufarbeitung der verschiedenen Sachverhalte vorstellt.
Zum ersten: Es gibt einen toten Polizisten, der in Erfüllung seiner Pflicht ums Leben gekommen ist. Das ist in allen zivilisierten Staaten der Welt ein besonders erschreckendes Moment. Das führt überall in besonderem Maße zum Nachdenken. Ich finde, es ist in den letzten Tagen in Deutschland ein wenig untergegangen, daß das ein schreckliches Zeichen ist.
({0})
Ich muß das in doppelter Hinsicht betonen. Hier zeigt sich die Gefährlichkeit des Terrorismus in unserem Lande, die leider unverändert fortbesteht. Vor diesem Terrorismus schützen uns die Sicherheitsorgane. Es geht aber nicht an, daß von manchen im Lande die Sicherheitsorgane nun einem pauschalen Verriß unterworfen werden, selbst wenn sie im Einzelfall gefehlt haben sollten.
Das zweite ist: Der Polizeiberuf ist ein schwerer. Es ist keiner mit normalen Risiken. Es gehört zu dieser Gelegenheit, anzuerkennen, daß sich Menschen diesem Beruf unterziehen, um uns alle zu schützen, und nicht zur Tagesordnung überzugehen, wenn einer von ihnen stirbt.
({1})
Ich sage das auch vor dem Hintergrund der Motivation
der Sicherheitskräfte, die doch eine öffentliche Bestätigung ihres Auftrags erfahren müssen, nicht jedes
einzelnen Ablaufs in einer Aktion - dies bleibt zu prüfen -, aber ihres Auftrags.
Das dritte ist der Tod von Wolfgang Grams. Es trifft zu: Wann immer ein Mensch gewaltsam ums Leben kommt, ist Bedauern am Platze, und es trauert eine Familie. Das ist aber jetzt nicht Gegenstand dieser Debatte. Gegenstand dieser Debatte ist auch nicht, ob Grams etwa selbst dazu beigetragen hat oder schuldig im Sinne des Gesetzes ist. Gegenstand dieser Debatte ist die Aufklärung aller Umstände, schnellstmöglich und ohne Wenn und Aber. Das, meine Damen, meine Herren, wird geschehen.
({2})
Nur, die Faktensammlung ist noch nicht zu Ende. Die Bewertung von Vorgängen kann doch erst stattfinden, wenn man die Hergänge genau kennt, und darf nicht vorweggenommen werden, wenn man Gerechtigkeit üben will.
({3})
Wenn man gerecht bewerten will, muß man auf Unterschiede hinweisen. Es ist die eine Seite, die Vorbereitung und Durchführung der Maßnahmen in Bad Kleinen im Ganzen zu bewerten; die andere Seite sind der tödliche Schuß gegen Grams im einzelnen, die Aufklärungsarbeit danach zur Sache und deren gesamte öffentliche Darbietung. Man kann das nicht in einen Topf werfen; sonst kommt man zu falschen Ergebnissen. Es ist ein sehr großer Unterschied für die Bewertung der Vorgänge, ob Strukturfragen der Sicherheitsdienste auf dem Prüfstand stehen, ob im Einzelfall organisatorische Abläufe nicht funktioniert haben, ob Personen in einem Einzelfall gefehlt haben oder ob sie in ihrer Führungskompetenz versagt haben und wie der Grad ihrer Fehler war, falls es solche gegeben haben sollte. Wer ist denn von uns fehlerfrei? Es kommt sehr wohl darauf an, ob große oder kleine Fehler vorliegen und an welcher Stelle des Verfahrens sie gemacht werden.
Das alles kann man jetzt noch nicht abschließend beantworten. Es fehlen noch gutachterliche Aussagen; es fehlt die Bewertung von Zeugenaussagen, und damit fehlt in diesem Augenblick die fachliche und die anschließende politische Bewertung. Ich meine nicht, daß man sie aus dem Handgelenk gewinnen darf.
({4})
Dabei sind Vorschläge, die zur Aufarbeitung des Tathergangs gemacht werden, von jedermann willkommen. Die Bundesregierung ist nicht auf die Verbesserungsvorschläge aus ihrem eigenen Lager begrenzt. Jedermann ist aufgerufen, sich an der Debatte uni das bestmögliche Funktionieren von Sicherheit in unserem Lande zu beteiligen. Das muß allein deshalb so sein, weil die Opposition in vielen Bundesländern Mitverantwortung für die innere Sicherheit trägt und dieses keine alleinige Frage der Kompetenzen des Bundes darstellt.
An dieser Stelle möchte ich mich an meinen verehrten Herrn Amtsvorgänger wenden und auf seinen Rücktritt eingehen. Er hat - auch für jemanden, der
diesen Staat eher für repressiv denn für offen halt - den Weg zu uneingeschränkter Aufklärung freigemacht. Das ist doch ein ganz wesentlicher politischer Beitrag, für den ihm hohe Anerkennung gebührt, was immer bei der Prüfung im einzelnen herauskommen mag.
({5})
Ich meine, daß bei diesem Stand des Verfahrens das Ziehen voreiliger Konsequenzen und vielerlei Erklärungen ohne gesicherte Sachkenntnis allerorten eher schaden als nach vorne führen wird. Damit sind alle gemeint, die sich an dieser Voreiligkeit gelegentlich beteiligt haben.
Wann immer jemand am nächsten Morgen das nicht mehr richtig findet, was er noch am Abend kommentiert hat, dann taucht doch die Frage nach der Kompetenz von uns Politikern und die Frage nach der Kompetenz der Sicherheitsbehörden und der Rechtspflege auf. Wir wollen nicht, daß solche Kompetenzfragen so kritisch gestellt werden und nicht vollständig beantwortet werden können. Deshalb arbeiten wir so entschieden an dieser Aufklärung.
Nur, wo man aufklären will, kann man nicht aus dem Handgelenk das beliebige Schauspiel des Absetzens, Umsetzens und des Personalkarussells bieten.
({6})
- Ich habe doch niemandem einen Vorwurf gemacht. Ich entwickle nur die Vorstellung der Bundesregierung zur Aufarbeitung des Falles - in aller Ruhe.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?
Ich bin parlamentarisch gewohnt, so etwas zu tun. Bitte sehr.
Herr Minister, wie soll ich Ihren Satz verstehen, daß der Kollege Seiters durch seinen Rücktritt den Weg zur Aufklärung freigemacht habe?
({0})
Der Kollege Seiters hat jedermann die Behauptung versperrt, der Staatsapparat funktioniere zum Zwecke der Deckung von Politikern repressiv. Das halte ich für einen wesentlichen Beitrag. Ich nenne jetzt nur diesen einen Punkt.
({0})
Ich sage, daß nun in den beteiligten Behörden viele beim Aushalten in ihrem Amte, bei der Beantwortung schwierigster Fragen, bei der Aufklärung aller Sachverhalte bei kritischer Reflexion des eigenen Verhaltens und auch des Verhaltens der eigenen Behörde, bei der Mitwirkung an der Gewinnung sachlicher Konsequenzen und gegebenenfalls, wenn denn die Sachverhalte entsprechend sind, auch bei dem Ziehen personeller Konsequenzen in die Pflicht genommen sind. Angesprochen sind hier alle Konsequenzen: organisatorische, sachliche, personelle.
Die Bundesregierung will die schnelle und vollständige Aufklärung aller Vorgänge um Bad Kleinen, ohne Wenn und Aber.
({1})
- Ich habe es nicht aufnehmen können; deshalb kann ich auf Ihre Zwischenrufe nicht antworten.
Wir wollen, daß dies, einschließlich aller kritischen Folgen, an die Öffentlichkeit kommt. Wir wollen kurz-oder langfristig - je nach dem, wie es sich erweist - zu Konsequenzen gelangen.
Eines scheint mir sicher: Wir müssen an dem Zusammenhang zwischen Sacharbeit der Sicherheitsorgane und dem Darbieten in der Öffentlichkeit, das für die Gewinnung und die Erhaltung von Vertrauen so wesentlich ist, ganz gewaltig arbeiten. Dazu gibt der Vorgang schon jetzt Anlaß.
Die beteiligten Ressorts wollen, wie wir es miteinander abgestimmt haben, gemeinsam mit allem Nachdruck an der Aufarbeitung des Sachverhalts arbeiten. Ich kann Ihnen bei diesem Stand des Sachverhalts keine Frist nennen, in der es möglich sein wird, alle offenen Fragen zu beantworten. Ich erteile aber eine Absage an Hektik und an Aktionismus. Es ist in solchen Fragen gelegentlich ein Ausweis besserer Nerven, ein Interview nicht zu führen als mehrere zu viel.
({2})
Ich lade für die Bundesregierung jedermann ein, an dem wichtigsten Ziel mitzuwirken, ein uneingeschränktes Vertrauen in die Sicherheitspolitik des Staates und seiner Behörden schnellstmöglich und umfassend wiederherzustellen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Als nächstes spricht die Kollegin Frau Anke Fuchs.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevor ich mich dem neuen Minister zuwende, liegt mir daran, auch für die SPD-Bundestagsfraktion noch einmal des Polizisten Michael Newrzella zu gedenken. Warum? Ich glaube, wir sind es ihm, seinem Einsatz und der Trauer seiner Angehörigen schuldig, alle Versuche beseite zu lassen, ihn in die politische Diskussion einzubeziehen. Er hat in Pflichterfüllung sein Leben lassen müssen. Das erkennen wir an, und dem zollen wir Respekt. Ich denke, unser aller Mitgefühl gehört den Angehörigen.
Ich möchte ungern, daß wir über diesen Tod miteinander streiten. Deswegen sage ich zu Beginn, sozusagen vor der Klammer: Sie kennen mich gut genug, um zu wissen, daß ich mich auch streite. Um diese Frage aber streite ich mich nicht. Ich glaube, wir schulden
Anke Fuchs ({0})
dem jungen Mann Respekt für die Arbeit, die er geleistet hat.
({1})
In Bad Kleinen in Mecklenburg-Vorpommern hat am 27. Juni 1993 ein Ereignis stattgefunden, das unsere Republik stark erschüttert hat. Schonjetzt steht fest, daß sich die Aktion in Bad Kleinen als das größte Desaster der Sicherheitskräfte im Kampf gegen den Terrorismus seit 20 Jahren erwiesen hat.
({2})
14 Tage, Herr Minister, liegen nun zurück, und noch immer ist so gut wie nichts aufgeklärt, ist nicht die Wahrheit über das, was in Bad Kleinen wirklich passiert ist, auf dem Tisch. Dabei geht es nicht um ein zufälliges Ereignis, sozusagen um einen Unfall, sondern um eine lange geplante Aktion der Sicherheitsbehörden unseres Landes, die zwei mutmaßliche Terroristen verhaften wollten. Die entscheidenden Fragen aber, die immer wieder gestellt worden sind, sind noch immer nicht beantwortet worden.
({3})
Wer ist denn für den tragischen Tod des Polizeibeamten verantwortlich? Auf welche Weise und durch wen kam der mutmaßliche Terrorist Grams ums Leben? Wie war der wirkliche Tathergang? Die politisch entscheidende Frage lautet: Wer ist verantwortlich für den Geschehensablauf in Bad Kleinen und für dessen nachträgliche Aufklärung?
Verantwortlich, meine Damen und Herren, für diese völlig außer Kontrolle geratene Aktion ist ausschließlich die Bundesregierung.
({4})
Sie hätte durch die Ermittlungsbehörden die Verfahrensherrschaft über den Geschehensablauf in Bad Kleinen in ihrer Hand halten müssen; denn sie ist zuständig für BKA, Grenzschutz und den Generalbundesanwalt. Aber Sie waren offensichtlich zu keinem Zeitpunkt Herr der Lage, meine Damen und Herren von der Bundesregierung.
({5})
Seit 14 Tagen ist es nicht möglich, einen vernünftigen Bericht auf den Tisch zu bekommen, der Klarheit über den Tathergang in Bad Kleinen gibt. Statt dessen versuchen Mitglieder der Bundesregierung sich aus der Verantwortung zu stehlen, indem sie sich auf besondere Amtsverschwiegenheiten berufen und indem sich Geschäftsbereiche der verantwortlichen Ministerien gegenseitig Verantwortlichkeiten zuschieben.
Hier hat die Bundesregierung eklatant versagt; denn nicht allein die offenkundig mangelhaft durchgeführte Aktion ist Gegenstand der Diskussion. Sie hat sich nicht einmal dazu bekennen können, daß hier schlampig und unprofessionell gearbeitet worden ist und hat keinen Beitrag geleistet, um diese Tat wirklich aufzuklären.
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Diese Bundesregierung hat damit - das sage ich mit Nachdruck - das Vertrauen in die innere Sicherheit in einem Maße beschädigt, wie wir es uns alle überhaupt noch nicht vorstellen können.
({7})
Der neue Minister hat ein Interview gegeben, obwohl er eben gesagt hat, wir sollten dies nicht tun. Sie, Herr Minister, haben, bevor Sie vereidigt wurden, in einem Interview gesagt: In der Sicherheitspolitik gibt es einen beachtlichen Veränderungsbedarf. Das ist eigentlich ein Armutszeugnis für den Bundeskanzler; denn er ist zuständig für diese gesamte Veranstaltung.
({8})
Wer so sehr die innere Demokratie beschädigt, muß auch mit starken Verlusten an Vertrauen in die Organe der Demokratie rechnen. Dies tut uns angesichts der schwierigen Situation, in der sich die Demokratie momentan befindet, besonders weh. Aber Sie lernen nicht daraus; Sie empören sich, wenn man Sie auf die Probleme hinweist. Statt Wahrheiten gibt es Spekulationen, statt Verantwortlichkeiten gibt es einen Rücktritt; aber auch danach ist noch nichts besser geworden.
Ich habe den Rücktritt von Herrn Seiters als honorig empfunden. Ich glaube nicht, daß er zurückgetreten ist, damit der Eindruck entsteht, es würde jetzt Aufklärung betrieben; er hat vielmehr ein Stück politische Verantwortung auf sich genommen. Das war richtig, und das verdient auch unseren Respekt.
({9})
Ob man diese Verantwortlichkeit nun auf alle Mitglieder der Bundesregierung ausdehen kann, möchte ich im Moment noch dahingestellt sein lassen. Ich habe aber den Eindruck, der eine oder die andere sollte sich fragen, ob jene Frage von Ihnen, Herr Minister, auf ihn oder sie zutrifft, nämlich ob man am nächsten Tag eigentlich noch weiß, was man am Tag zuvor in der Tagespresse gesagt hat. Ich glaube, man sollte ein bißchen vorsichtig sein.
({10})
Wenn ich mich hinter der Bürokratie verschanze, die mir angeblich verbietet, über gewisse Punkte zu reden, dann kündige ich nicht vorher an, ich werde im Ausschuß alles darlegen, wobei ich aber dann, wenn der Ausschuß tagt, sage: Ich darf es gar nicht. Meine Damen und Herren, was ist das für eine Haltung?
({11})
Wie sehr wurde die Aktion in Bad Kleinen - erinnern wir uns - als großer Erfolg herausgestellt! Nach den ersten Pressemeldungen hat die Bundesregierung versucht, diese Aktion als großen Erfolg im
Anke Fuchs ({12})
Kampf gegen den Terror darzustellen. Ich glaube, so etwas konnte nur tun, wer den Tod zweier Menschen als Nebensache, sozusagen als unvermeidlich im Dienste der Sache, abhakt.
Wer sich damals so einließ, hat sich entweder nicht über den Ablauf der Aktion informiert, er hat sich vielleicht auch nicht vorstellen können, mit welchem Dilettantismus die Sicherheitsorgane da vorgegangen sind, oder er hat gegenüber Parlament und Öffentlichkeit bewußt die Unwahrheit gesagt; alles wäre gleich schlimm, meine Damen und Herren.
({13})
Ich wiederhole: Die Bundesregierung war zu keinem Zeitpunkt der Aktion Herrin der Lage. Es ist auch jetzt nicht so, daß es um rückhaltlose Aufklärung des Tathergangs in Bad Kleinen geht.
({14})
Da fragt man sich: Was steckt eigentlich dahinter?
Meine Sorge ist, daß sich die Sicherheitsorgane und Sicherheitsbehörden ein Eigenleben angewöhnt haben, das für die demokratische Entwicklung in unserem Lande gefährlich werden kann.
({15})
Ist es etwa der Korpsgeist der Beamten, die die Information nicht an die Minister weitergeben, oder der Korpsgeist der Beamten, die zu verhindern suchen, daß deutlich wird, was wirklich vorgegangen ist?
Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren - Herr Minister, da appelliere ich an Sie -: Die Sicherheitsorgane sind kein Staat im Staate. Wenn dieser Eindruck jetzt entstehen konnte, dann ist es an der Zeit, daß man durch Neuorganisation und neue professionelle Arbeit diesen Eindruck vom Tisch wischt; sonst nehmen wir alle Schaden an der Entwicklung in unserem Lande.
({16})
Ein paar Fragen sind noch erlaubt. Warum sind in den letzten Wochen die Instrumente eigentlich nicht genutzt worden, die der Rechtsstaat zur Aufklärung von strafrechtlich relevanten Sachverhalten zur Verfügung stellt? Warum sind die Beteiligten nicht unmittelbar durch den Generalbundesanwalt oder den Generalstaatsanwalt in Schwerin vernommen worden? Warum wurden nicht alle Waffen eingesammelt und untersucht?
Das Einmaleins der Strafprozeßordnung ist - so scheint es - in Bad Kleinen in Vergessenheit geraten. Deswegen bleibe ich dabei: Hier ist nicht effektiv und professionell gearbeitet worden, sondern hier wurde und wird geschlampt. Das erfüllt uns Sozialdemokraten mit Sorge. Jeder Tag mit weiterer Ungewißheit stärkt die Distanzierung von der Polizei und nährt zugleich die Zweifel am Funktionieren des demokratischen Rechtsstaates.
({17})
Lassen Sie mich zum Abschluß, meine Damen und Herren, noch etwas hinzufügen. Der Minister hat eben gesagt, wir sollten nicht so viele Interviews geben. Da stimme ich ihm zu. Ich glaube, daß wir dabei - es geht darum sorgfältig zu überlegen, womit man an die Presse geht, und zu fragen ob das Gesagte am nächsten Tag noch Bestand haben wird oder ob man dieses, wenn man am nächsten Tag in die Zeitung schaut, schon widerrufen muß - übereinkommen können.
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- Ich sage das, Herr Schäuble, im Hinblick auf die RAF.
Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Die RAF ist in diesem Lande keine Macht, mit der die offizielle Politik zu verhandeln hat, sondern die Ø muß mit den Methoden des liberalen Rechtsstaates bekämpft werden. Wir wollen die politischen Probleme aufarbeiten und jene mit der Härte des Gesetzes treffen, die die Stabilität unseres Staates untergraben und die die staatliche Ordnung in Frage stellen.
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Ich sage das an uns alle, weil mich die Hysterie ärgert und stört, mit der wir jede Äußerung, die aus diesem Bereich kommt, zu einer Staatsaktion hochstilisieren, meine Damen und Herren. Hier sind Gelassenheit, Entschlossenheit und politisches Handeln gefragt.
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Wenn wir den RAF-Leuten nämlich jene Anerkennung geben, die sie brauchen, um publikumswirksam zu sein, dann ist das eine Schwäche. Ich sage das bewußt deswegen - Herr Schäuble, hören Sie gut zu -,
({21})
weil dieses nicht nur an unsere Adresse geht, sondern auch an die Adresse der Beamten. Der BW-Präsident hat ein Interview gegeben, das ich nicht für richtig halte.
Ich glaube nicht, daß man die Angst vor Terroristen und die Sorge, die man hat, so leichtfertig in Presseinterviews vermitteln sollte. Hier wäre Zurückhaltung geboten, meine Damen und Herren. Das ist das, was ich sagen wollte.
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Bei der Bekämpfung des Terrorismus sind Professionalität und Entschlossenheit gefragt. Das Feld eignet sich nicht für Presseinterviews und Schlagzeilen, die Angst und Unsicherheit schüren. „Mehr handeln - weniger Presseinterviews" ist das Gebot der Stunde.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung schien mir in den letzten 14 Tagen ein aufgescheuchter Hühnerhaufen zu sein, d. h. alle rannten herum, und keiner wußte, wo es eigentlich langgeht. Ich habe
Anke Fuchs ({23})
nach der heutigen Rede des Innenministers nicht gerade den Eindruck, daß sich das sehr bald bessern wird;
({24})
aber wir wollen nicht voreilig Schlüsse ziehen. Trotzdem sage ich: Sie sehen gegenwärtig aus wie eine verschreckte Laienspielerschar, der entscheidende Teile des Drehbuchs abhandengekommen zu sein scheinen. Ich hoffe, daß dieses bald beendet sein kann.
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Die Bundesregierung ist in der Pflicht. Die Gewährleistung der inneren Sicherheit ist durch Sie, die Bundesregierung, aufs Spiel gesetzt worden.
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Die innere Sicherheit und die demokratische Entwicklung unseres Landes haben Schaden genommen. Ich möchte Sie sehr herzlich auffordern, jetzt endlich die Fakten auf den Tisch zu legen und für Aufklärung und für eine vertrauensvolle Neuorganisierung der Sicherheitsbehörden zu sorgen. Wir Sozialdemokraten werden Sie auf diesem Weg begleiten.
Wenn die Fragen aber nicht beantwortet werden, dann werden wir auch von der Installierung eines Untersuchungsausschusses nicht absehen, meine Damen und Herren,
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Als nächster spricht der Abgeordnete Johannes Gerster.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf zunächst Sie, Frau Fuchs, im Kreis der innenpolitischen Experten begrüßen. Ihre Würdigung von Rudolf Seiters und Ihre Mahnung zur Gelassenheit haben innenpolitisches Niveau erreicht. Ansonsten scheinen Sie mir noch etwas lernbedürftig und lernfähig zu sein.
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Ich lade Sie herzlich zu den Beratungen im Innenausschuß und - wenn Ihre Fraktion Ihnen die Gnade der Berufung läßt - auch in der PKK ein. Sie können da in der Tat viel in bezug auf Differenzierungen lernen, wenn es um die innere Sicherheit und die Sicherheitsbehörden geht.
({1})
Herzlich willkommen im Kreise der Fachleute!
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Meine Damen, meine Herren, der kleine Ort Bad Kleinen, bis vor 15 Tagen überregional wenig bekannt, steht für Fehler und Pannen unserer Sicherheitsbehörden bei der Festnahme von zwei mutmaßlichen Terroristen. Welche Polizeieinheit will in ihrem schwierigen Auftrag, mutmaßliche Verbrecher festzunehmen, in Kauf nehmen, daß es Tote gibt, daß es
Menschenleben kostet? Hier sind ganz offensichtlich nicht gewollte Dinge passiert. Ich warne alle davor, hinter dem sicheren Schreibtisch beckmesserisch die Polizeibehörden beurteilen zu wollen, wenn man selbst nicht in dieser Lage war. Ich warne hier vor Besserwisserei und vor Pharisäertum. Unabhängig von diesen Pannen, die aufgeklärt werden müssen, haben die Sicherheitsbehörden auch nach den Vorgängen in Bad Kleinen unser volles Vertrauen.
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Natürlich war das, was danach kam - eine Vielzahl von Teilinformationen, etwa auch des Generalbundesanwaltes, die widerrufen werden mußten, da sie einer näheren Prüfung nicht standhielten -, keinesfalls geeignet, die Öffentlichkeit ausreichend und zufriedenstellend zu informieren. Es war ein weiß Gott uns alle bedrängendes Bild. Es begann, wie gesagt, mit Falschinformationen und endete vorläufig in der letzten Woche mit Schuldzuweisungen der Behörden.
Das Ganze war alles andere als erfreulich. Aber zur allgemeinen Verwirrung haben viele beigetragen, auch Spekulationen von Fachleuten, die es anders wissen mußten. So hat der Kollege Bernrath, den ich sehr schätze, zu einem Zeitpunkt, als klar war, daß der sogenannte dritte Mann gar nicht bei der Schießerei beteiligt war, noch die Vermutung geäußert, möglicherweise könnte er für den Tod von Grams verantwortlich sein. So gab es viele, viele Spekulationen, was sagen will: Natürlich waren öffentliche Stellen verantwortlich für Verunsicherung. Aber sie waren es keinesfalls allein; viele haben mitgewirkt.
Es muß an alle der Appell gehen, das zu tun, was der neue Innenminister Kanther gesagt hat, nämlich eine vollständige Aufklärung zu betreiben, ab jetzt nicht weitere Halb- und Fehlinformationen sowie Spekulationen zu streuen, sondern ein Stück Vertrauen in die Selbstreinigungsfähigkeit des Staates zu finden.
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Es ist keine Frage, daß durch die Vorgänge in Bad Kleinen, die danach folgende Sprachverwirrung und die bis heute nicht mögliche vollständige Aufklärung der Geschehnisse vor Ort Polizei und Justiz - und ich sage bewußt: damit unser ganzes Gemeinwesen - an Ansehen verloren, ja, ein Stück Schaden genommen haben. Ziel jedes Redens und Handelns muß es sein, diesen Schaden so schnell wie möglich, so glaubwürdig wie möglich zu begrenzen und zu mindern. Denn, wenn wir diesen Schaden nicht begrenzen, dienen wir letzten Endes den Terroristen, die den Staat, die Behörden als einen Unterdrückerstaat diffamieren, die den demokratisch gewählten Politikern Vertuschung vorwerfen und letzten Endes auch die freie Presse kumpaneihaft zu einem Quasi-Unterdrückersystem zählen.
Nein, die Sache ist zu ernst, als daß sich die Demokraten, Frau Kollegin Fuchs, in egoistischem Parteiengezänk zerstreiten dürften. Darüber würden sich diejenigen freuen, die diesen Rechtsstaat, die diese Demokratie mit Bomben bekämpfen wollen, die die Demokratie im wahrsten Sinne des Wortes weg-bomben wollen.
Johannes Gerster ({6})
Deswegen, Frau Kollegin Fuchs, eine Klarstellung: Sie sagten, die Fehler von Bad Kleinen und ihre Folgen seien das größte Desaster der Bundesrepublik Deutschland in der Bekämpfung von Terroristen. Ich darf nur an zwei Dinge erinnern: erstens an den schrecklichen Anschlag 1972 auf die israelischen Sportler.
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- Sie haben auf die Zeit seit Beginn der Bundesrepublik verwiesen. Dies ist ja rund 20 Jahre her. - Haben Sie zweitens wirklich die schreckliche Fahndungspanne im Entführungsfall Schleyer im Jahre 1977 vergessen, die dazu geführt hat, daß die Entführer nicht gefunden wurden und Schleyer nicht gerettet werden konnte. Wenn diese Panne damals nicht passiert wäre, könnte er heute noch leben.
Sehen Sie, Frau Fuchs, da liegt der Unterschied: Die Christlich-Demokratische und die Christlich-Soziale Union haben damals nicht der Bundesregierung die Verantwortung für diese Pannen zugerechnet, sondern waren in beiden Fällen bereit, mit der Regierung dafür zu sorgen, daß derartige Pannen in Zukunft vermieden werden.
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Wer die Not der Bürger kennt - gerade wegen der Vorfälle in Bad Kleinen -, hat für diese vordergründige Parteipolitik aus egoistischen Gründen wenig Verständnis. Die Bürger erwarten jetzt von uns, daß wir gemeinsam zusammenstehen, um es besser zu machen, daß wir nach den Fehlern gemeinsam ein Vorbild an Uneigennützigkeit und Sachbezogenheit bieten, um Fehler dieser Art in Zukunft zu vermeiden.
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Wenn Sie, Frau Fuchs, dankenswerterweise Rudolf Seiters wegen seines Rücktrittes hier besonders würdigen, dann können Sie an ihm Maß nehmen. Er hat keinerlei persönliche Schuld; er hat keinerlei politische Schuld. Er hat seine Person hinter die Sache gestellt, weil er dieser Republik dienen wollte. Das heißt, er hat genau das Gegenteil von dem getan, was Sie hier vorgeführt haben. Er hat nicht etwa aus Gründen des Machtgewinns oder des Machterhalts irgend etwas vorgeführt, sondern er hat sich in den Dienst der Sache gestellt.
Lieber Rudolf Seiters, wir hätten dich gern weiter als Innenminister gesehen. Wir respektieren aber deine Entscheidung, weil jetzt der Rudolf Seiters durchschien, den wir würdigen und ehren als einen glaubwürdigen und tadelsfreien, ordentlichen und sauberen Politiker. Dir und deiner Familie herzlichen Dank!
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Bei dieser Gelegenheit sage ich auch: Wir begrüßen, daß der Bundeskanzler sehr rasch über die Nachfolge entschieden hat. Die Fraktion hat in ihrer Sitzung vor zwei Stunden die Berufung von Manfred
Kanther zum Bundesinnenminister begrüßt. Wir gratulieren ihm.
Lieber Herr Kanther, wir kennen uns ja gewissermaßen als Nachbarn über den Rhein. Sie können sich darauf verlassen, daß Sie in diesem schweren Amt, das Sie in einer schwierigen Zeit wahrnehmen, unsere volle Unterstützung und - dies ist vielleicht genauso wichtig - unsere volle Sympathie haben werden. Glück auf und Gottes Segen in dem neuen Amt!
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Was hat zu geschehen? Natürlich muß die ganze Wahrheit auf den Tisch. Was auch im einzelnen in Bad Kleinen geschehen sein mag: Nicht die Wahrheit schadet - mag sie möglicherweise im Endergebnis auch schmerzen -, sondem der Eindruck, es könnte irgend jemand etwas vertuschen oder verschleiern wollen. Erst wenn die Wahrheit zutage gefördert worden ist, können allerdings auch sachliche Konsequenzen lach- und personengerecht gezogen werden.
Nur, meine Damen, meine Herren: Bereits heute wehren wir uns gegen Vorverurteilungen. Sollte tatsächlich ein Polizeibeamter ohne akute Not den am Boden liegenden Grams vorsätzlich getötet haben, müßte er natürlich wie jeder andere Bürger, der einen Menschen rechtswidrig und schuldhaft tötet, voll zur Verantwortung gezogen werden. Aber auch für Polizisten gilt bei behaupteten Straftaten im Amt die Vermutung der Unschuld bis zum Beweis des Gegenteils.
({12})
Ich halte es in diesem Zusammenhang für wenig verantwortlich, daß ein Presseorgan die Behauptung eines Beamten, Grams sei vorsätzlich von einem Polizisten ermordet worden, veröffentlicht und sogleich unter Berufung auf den Quellenschutz eine Gegenüberstellung und damit die Wahrheitsfindung behindert.
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Sollte es diesen Beamten wirklich geben, fordere ich ihn und den „Spiegel" auf, öffentlich zu bekennen und der Wahrheitsfindung und sonst keinen anderen Interessen zu dienen.
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Für ebenso unerträglich halte ich es wie fast alle Vorredner, daß der bedauerliche Tod des Herrn Grams zum Opfertod hochstilisiert wird, während der Tod des Polizeibeamten Michael Newrzella offenbar gar nicht mehr zur Kenntnis genommen wird.
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Ein mußmaßlicher Verbrecher, der, von der Polizei gestellt, einen Schußwechsel in Gang setzte, elf Revolverschüsse abgab und dabei sein Leben verlor, ist offenbar im allgemeinen Bewußtsein, auch der Medien, ein bedauernswertes Opfer. Aber ein Polizeibeamter, der beim gesetzmäßigen Einsatz für Sicher14668
Johannes Gerster ({16})
heit und Ordnung von einem mutmaßlichen Verbrecher erschossen wird, ist nicht der Erwähnung und nicht des menschlichen Mitgefühls wert.
({17})
Die CDU/CSU-Fraktion bedauert, daß die Festnahmeaktion in Bad Kleinen überhaupt Menschenleben gekostet hat. Unser Mitgefühl gilt aber in besonderem Maße dem Polizeibeamten Michael Newrzella und seiner Familie, seinen Angehörigen und allen, die um ihn trauern.
({18})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich müssen die Fehler von Bad Kleinen und die Fehler danach zu einer grundlegenden Beseitigung von Schwachstellen und Koordinationsmängeln bei den Sicherheitsbehörden führen, wie übrigens auch die von mir genannten beiden Fälle 1972 und 1977 jeweils zu Änderungen in der Struktur der öffentlichen Sicherheitsbehörden geführt haben. Ich kann dies hier nicht im einzelnen ausführen.
Wenig hilfreich ist dagegen der durchsichtige Vorschlag, die GSG 9 aufzulösen. Er ist genauso verantwortungslos wie die Unterstellung, GSG-9-Beamte würden kollektiv das Leben von Menschen weniger achten und schützen als andere Polizeibeamte oder andere Menschen. Wer die Ausbildung der GSG 9 kennt, weiß, daß sie genauso wie andere Polizisten angeleitet werden, Menschenleben nach Möglichkeit zu schützen. Alles andere ist ein Märchen, das möglicherweise in ein Märchenbuch paßt, aber nicht in die Realitäten der Bundesrepublik Deutschland.
({19})
Der gesamte Bundesgrenzschutz, auch die GSG 9, sind für die innere Sicherheit in Bund und Ländern unverzichtbar. Hier frage ich vor allem die Kolleginnen und Kollegen aus der SPD-Fraktion: Haben nicht gerade SPD-regierte Länder ihre Bereitschaftspolizeien zu Lasten des BGS abgebaut? Haben nicht gerade SPD-regierte Länder auch andere Sicherheitsbehörden abgebaut?
({20})
Ich brauche nur an die Länder Niedersachsen, Hessen, Saarland und Bremen zu denken, die ihre Landesämter für Verfassungsschutz um 35 bis 40 % reduziert haben, obwohl die Gefahren von links und rechts derzeit wachsen.
({21})
Ich sage das deshalb, weil ich gerade Sie auffordern muß: Hände von den Sicherheitsbehörden des Bundes, solange gerade eine Reihe der von Ihnen regierten Länder keinen wirksamen Ersatz bieten kann!
({22})
Bad Kleinen darf sich nicht wiederholen, sowenig sich Fehler, Versäumnisse und Pannen der Sicherheitsbehörden bei früheren Anlässen wiederholen dürfen. Natürlich müssen die Sicherheitsbehörden die Erschütterungen der letzten 15 Tage möglichst rasch überwinden.
Während wir uns zu Recht schwertun, mit den geschilderten Ereignissen fertigzuwerden, wollen die RAF-Terroristen weiterhin das System überwinden, d. h. sie wollen die Demokratie wegbomben. Daneben ist besorgniserregend, daß derzeit fast unbemerkt Rechtsradikale auf dem Weg der Gewalt weitermarschieren. Wenden wir uns daher den Gefahren von links und rechts zu. Sie müssen gebannt werden. Das ist wichtiger als alles andere.
Ziehen wir, wo es notwendig ist, auch Polizeibeamte, die gefehlt haben, zur Verantwortung. Aber bitte im konkreten Einzelfall, ohne undifferenziert die gesamten Sicherheitsbehörden zu diffamieren!
({23})
Entziehen wir den Sicherheitsbehörden nicht pauschal unser Vertrauen,
({24})
das diese brauchen, um Recht und Ordnung, Demokratie und Rechtsstaat gemeinsam mit uns zu schützen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({25})
Ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Burkhard Hirsch das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine erste Bemerkung gilt Ihnen, Herr Seiters. Sie haben Ihr Amt in einer außerordentlich schweren und von Umwälzungen gekennzeichneten Zeit übernommen. Sie waren ein guter Innenminister. Sie waren auf Zusammenarbeit bedacht und haben sich um die Lösung der außerordentlich schwierigen Probleme nach besten Kräften und mit Erfolg bemüht. Ich möchte Ihnen darum auch meinen persönlichen Dank aussprechen.
({0})
Ihr Rücktritt war honorig, aber er löst nicht die Probleme, die bei den Vorgängen während und nach der Polizeiaktion in Bad Kleinen entstanden sind.
Die aufgeregte Diskussion verliert die polizeilichen Kernfragen aus dem Blick. Das erste ist: War der Einsatz so sachgerecht geplant, daß der Tod des tapferen Polizeibeamten Newrzella hätte vermieden werden können? Es ist ja wiederholt gesagt und zu Recht darauf hingewiesen worden, daß dieser Mann ohne die mindeste Chance einer Gegenwehr ermordet worden ist.
Die zweite Frage: Ist der mutmaßliche Terrorist Grams von der Polizei erschossen worden, nachdem er bereits überwältigt worden war? Das ist eine Frage, die nicht dadurch an Bedeutung verliert, daß Grams
ein Straftäter war. Sie berührt den Rechtsstaat. Es ist zu bedauern, daß die Tatortsicherung und die Öffentlichkeitsarbeit die Kritik verdient, die die Aufklärung des Vorganges nicht erleichtert.
Drittens. Sind die bei einem solchen Einsatz beteiligten Kräfte der Polizei und der Staatsanwaltschaft optimal organisiert und koordiniert worden?
Viertens. Welche Folgerungen sind für die Terrorismusbekämpfung zu ziehen? Es geht dabei nicht um Personen. Es ist enttäuschend, daß die Opposition nichts Besseres weiß, als das Gesellschaftsspiel zu verantworten, wer wann und egal wofür zurücktreten sollte.
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Wir stellen uns vor die Polizei, wo sie rechtmäßig handelt. Sie verdient diesen Schutz. Wir stellen uns auch vor die Justizministerin, an deren Amtsführung nicht zu tadeln ist.
({2})
Ich stelle fest, daß auch der Generalbundesanwalt für die Vorgänge in Bad Kleinen keine Verantwortung trägt.
Bisher sind folgende Konsequenzen erkennbar. Erstens. Die GSG 9 sollte nicht aufgelöst, aber besser als bisher in die praktische Polizeiarbeit der Länder eingeordnet werden. Der Bund muß die Erfahrungen zur Kenntnis nehmen, die die Länder bei dem Aufbau ihrer SEK in der Bekämpfung der Gewaltkriminalität inzwischen gemacht haben.
Zweitens. Die politisch erneut ins Gerede gekommene Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Staatsanwaltschaft und der Polizei muß klarer geregelt werden. Es muß über jeden Zweifel erhaben sein, daß die Staatsanwaltschaft weder das Recht noch die Pflicht hat, in die technische Durchführung polizeilicher Maßnahmen einzugreifen.
Drittens. Es ist ungereimt, daß zwar der Generalbundesanwalt ein politischer Beamter ist, nicht aber der Präsident des Bundeskriminalamts. Beide sollten gleichgestellt werden, so oder so.
Viertens. Wir wollen nicht in das Presserecht eingreifen. Aber die Presse hat eine große Verantwortung, der sie nicht immer gerecht geworden ist. Sie hat möglicherweise einen Skandal aufgedeckt, aber die Vorvernehmung von Zeugen erschwert gleichzeitig seine objektive Klärung.
({3})
Was wir an öffentlicher Leichenschau gesehen haben, finde ich, mit Verlaub, zum Kotzen.
({4})
Schließlich gibt es eine erbarmungslose Jagd auf
einen angeblichen V-Mann ganz unabhängig davon,
ob er damit um sein Leben fürchten muß oder nicht.
Fünftens. Wir dürfen nicht aufhören, denjenigen Tätern und Terroristen eine Brücke zu bauen, die sich aus ihrer kriminellen Verstrickung lösen wollen. Dem muß der Strafvollzug und auch die Begnadigungspraxis entsprechen. Sie darf nicht unerbittlicher sein als bei anderen Tätern. Darum sind wir für die Fortsetzung der sogenannten Kinkel-Initiative, weil die Spirale der Gewalt durchbrochen werden muß.
({5})
Ich möchte schließlich ein Wort an den neuen Innenminister Kanther richten. Wir bieten Ihnen die Zusammenarbeit an. Sie ist für die innere Sicherheit unseres Landes mehr als bisher notwendig. Sie ist aber auch für die Koalition notwendig. Wir haben nur gemeinsam Erfolg und dann, wenn keiner den anderen überfordert und jeder die Grundüberzeugung des anderen respektiert.
Sie sind als ein Mann von Law and order bezeichnet worden. Das kann man mit Recht und Gesetz, aber auch mit Gesetz und Befehl übersetzen. Law and order ist ein Synonym für eine Politik, die in erster Linie auf staatliche Macht setzt.
Es ist ganz unstreitig, daß die Polizei so gut wie irgend möglich gerüstet und in ihrer Arbeit von der Politik geschützt werden muß. Darauf muß sie sich verlassen können. Aber die staatliche Macht versagt, wenn sie nicht vom Common sense getragen wird, wenn sie nicht auf inhaltliche Anerkennung gegründet ist und auf die Bereitschaft des Bürgers, Mitverantwortung zu übernehmen. Darin beruht die eigentliche Stärke des Rechtsstaates, so wie wir ihn verwirklichen wollen. Ich hoffe, daß wir das gemeinsam tun werden.
({6})
Frau Kollegin Ulla Jelpke, Sie haben jetzt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Apparat der inneren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland erlebt in diesen Tagen seine größte Krise in seiner Geschichte. Man muß erfahren, daß Polizeibeamte vermutlich einen wehrlosen mutmaßlichen Terroristen regelrecht hingerichtet haben. Das belegen jedenfalls mindestens zwei Zeugenaussagen, und gerichtsmedizinische Gutachten stützten diese Aussagen. Derlei Berichte kannte man bisher nur aus Militärdiktaturen.
Aber schlimmer noch: Man mußte auch erfahren, daß diese Liquidierung durch alle staatlichen Institutionen gedeckt wird. Und man erkennt, daß in diesem Vertuschen und Verdunkeln der genauen Umstände der tödlichen Schüsse auch ein gewisses unausgesprochenes Einverständnis zwischen Staatsorganen und polizeilichen Todesschützen besteht. Denn wir müssen erleben, daß der Staat keineswegs mit aller Härte gegen die mutmaßlichen polizeilichen Todesschützen vorgeht und energisch Aufklärung verlangt, sondern daß sich staatliche Stellen selber wie ertappte Täter verhalten.
Da werden allen Ernstes die unglaublichsten Geschichten aufgetischt. Da teilt das professionelle BKA dem Generalbundesanwalt mit, daß Birgit Hogefeld sofort ihre Pistole gezogen hat und das Feuer
eröffnete. 24 Stunden später mußte diese Aussage zurückgenommen werden. Da kann angeblich das hochgerüstete BKA mit einem Mal nicht mehr Spuren sichern und einen Tatort absperren. Tage später finden Journalisten und Schaulustige immer noch Patronenhülsen in den Gleisanlagen von Bad Kleinen.
Da kann dem Innenausschuß nach Tagen nicht mitgeteilt werden, wie viele Schüsse Polizeibeamte abgegeben haben. Da wird über die Einsatzstärke die Unwahrheit gesagt - übrigens bis heute. Da wird angeblich erst nach fünf Tagen dem Generalbundesanwalt mitgeteilt, daß es eine Zeugin gibt, die gesehen hat, wie Beamte durch einen aufgesetzten Schuß Grams töteten.
({0})
Angeblich hielt man diese Aussage nicht für wich-fig.
Und da sagen die GSG-9-Beamten aus, daß sie Grams nicht durch einen aufgesetzten Schuß getötet haben, daß er aber auch nicht Selbstmord begangen hat. Wie es aber angehen kann, daß er eben durch einen aus unmittelbarer Nähe abgegebenen Schuß getötet worden ist, können sie nicht erklären. Die Menschen spüren, daß dies alles völlig urplausibel ist.
Das betrifft im übrigen auch die Todesumstände des GSG-9-Beamten. Herr Gerster, ich möchte Sie daran erinnern, daß bisher in jeder Innenausschußsitzung eindeutig und klar gesagt wurde, daß Herr Grams den GSG-9-Beamten Newrzella erschossen hat. Heute haben wir etwas anderes gehört, nämlich daß die Todesumstände überhaupt nicht klar sind.
({1})
Dieser Tod sollte, wie gesagt, angeblich bereits aufgeklärt sein. Auch hier stützt man sich im wesentlichen auf die Aussagen der eingesetzten Beamten. Darüber hinaus liegen uns bis heute keine Untersuchung und keinerlei Fakten vor, die die Todesumstände wirklich aufklären.
In der Presse wurde indessen darauf hingewiesen, daß der GSG-9-Beamte durch einen Querschläger aus der Waffe einer seiner Kollegen getötet worden sein kann. Ebenfalls wurde behauptet, daß er durch ein Dumdumgeschoß aus Grams' Waffe getötet worden sei; das behauptete Ex-Generalbundesanwalt von Stahl in einer Innenausschußsitzung. Trotz dieser Widersprüche wurde der Beamte auffallend schnell beerdigt.
In der Tat ist es meiner Meinung nach so: Hier soll nicht aufgeklärt, hier soll weiter vertuscht werden. Denn das wissen Sie auch: Je mehr Informationen, Einzelinformationen, Teilinformationen über diesen Fall tagtäglich in die Öffentlichkeit dringen, desto weniger blicken die Leute durch, was eigentlich wahr ist.
Hier stehen nicht nur Posten zur Disposition - ich sage das ganz ehrlich: mir ist es ziemlich egal, ob Frau Leutheusser-Schnarrenberger oder Herr Zachert auch noch zurücktreten müssen; denn ich bin schon genug mit dem Rechtsausleger, unserem neuen Innenminister, Herrn Kanther, bedient;
({2})
hier steht ein System zur Disposition, das die polizeiliche Arbeit immer mehr in den geheimen Bereich rückt und Verfassungsschutz und Polizei zu einer unkontrollierten und ungeheuren Macht verschmelzt, und dies bei gleichzeitiger Ausschaltung der parlamentarischen und öffentlichen Kontrolle.
Der Innenminister ist schon zurückgetreten, und der Generalbundesanwalt ist schon in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden, aber die Abgeordneten im Innenausschuß haben immer noch nichts über die wahren Hintergründe der Operation erfahren, die zur Verhaftung von Birgit Hogefeld und Erschießung Wolfgang Grams' führten. Einzig aus den Medien erfahren die Abgeordneten über den Einsatz von einem V-Mann, der Existenz von Stasi-Akten und davon, daß der Aufenthaltsort Grams' und Hogefelds bundesweiten Sicherheitsbehörden schon lange bekannt war. Im Innenausschuß wird dies aus „prinzipiellen Erwägungen", wie das immer genannt wird, von BKA-Beamten verweigert.
Genau dieses Prinzip führt meines Erachtens dazu, daß man davon ausgehen muß, daß sich dieser Staat diese Grauzone im Geheimen geschaffen hat, um die Prinzipien des Rechtsstaates auszuhebeln.
Bad Kleinen wirft deshalb immer noch eine Vielzahl von Fragen auf: Seit wann waren die Fahnder auf den Spuren von Hogefeld und Grams? Waren Hogefeld und Grams vielleicht sogar Aussteiger aus der RAF, und haben sie in der ehemaligen DDR mit neuer Identität gelebt?
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- Das sind alles unbewiesene Sachen, und Sie behaupten hier genau das Gegenteil. Deswegen stelle ich diese Fragen.
Seit wann war der V-Mann in der RAF, und seit wann hat er mit staatlichen Stellen zusammengearbeitet?
Die Tatsache, daß von den Sicherheitsbehörden keinerlei Auskunft über den Vorlauf der Operation gegeben worden ist, läßt vermuten, daß das ganze Ausmaß noch viel gravierender ist. Ich bin in der Tat der Meinung, daß der Vorlauf sehr wichtig ist für die Gesamtbeurteilung der Aktionen.
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Diese Dinge liegen nicht auf dem Tisch, und wir wissen nicht genau, was wirklich passiert ist. Ich erinnere nur an das Stichwort Kommandoebene. Der Generalbundesanwalt konnte lediglich eine Sympathisantenschaft von Grams feststellen bzw. eine Mitgliedschaft und bei Frau Hogefeld, daß sie einen Pkw in der Sache Tietmeyer angemietet hat bzw. daß man vermutet, daß Schriftstücke aus einem RAF-Depot ihr zugeordnet werden können.
Wie dem auch sei, diese Dinge müssen auf den Tisch. Wir befürworten einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß; das habe ich bereits gesagt.
Aber was ich viel wichtiger finde, ist, daß die Errnittlung aus den Händen der Behörden genommen werden; denn sie ermitteln im Grunde gegen sich selber. Deswegen halte ich die Forderung der „Humanistischen Union", eine internationale Untersuchungskommission einzurichten, für sehr richtig.
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Meine Damen und Herren, nächste Rednerin ist Frau Kollegin Ingrid Köppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat im Zusammenhang mit der Aktion in Bad Kleinen bisher die Öffentlichkeit und das Parlament nur unzureichend oder sogar unzutreffend informiert. Ich möchte noch einmal daran erinnern, daß wir zunächst mit Falschmeldungen versorgt worden sind. Sie wurden vorhin schon genannt, so z. B. die Meldung, Birgit Hogefeld habe das Feuer eröffnet. Dann stellte sich heraus, das stimmt nicht.
Es ist gesagt worden, als Treffpunkt für die beiden Verdächtigen habe die Gaststätte gedient. Letztendlich stellt sich heraus, diese Gaststätte hatte an dem betreffenden Tag geschlossen. Dort kann der Treff nicht stattgefunden haben. Es kann uns nicht gesagt werden, wie viele Leute dort überhaupt im Einsatz waren. Das alles war sehr verwirrend.
In einer zweiten Phase konnten wir feststellen, daß Mitteilungen unterdrückt wurden. So ist uns im Innenausschuß nichts mitgeteilt worden über die Existenz von Videos von diesem Tag. Des weiteren haben wir heute erfahren, daß bereits der erste Obduktionsbericht Hinweise auf einen Kopfschuß von Wolfgang Grams enthielt. Dieser Obduktionsbericht war Vertretern der Bundesregierung bekannt, als sich der Innenausschuß zum erstenmal zusammensetzte, um über die Vorgänge in Bad Kleinen zu sprechen. Auch das hat man uns nicht mitgeteilt.
Dann möchte ich Sie daran erinnern, daß wir im Innenausschuß danach gefragt haben, wie viele Leute in der Gaststätte anwesend waren. Als Antwort ist uns gesagt worden: Ganz sicher Birgit Hogefeld, Wolfgang Grams und vielleicht auch noch die Wirtin. Mehr konnte man uns nicht sagen. Es sind konkrete Fragen gestellt worden, ob denn noch eine dritte Person dabei war, weil die Presse das behauptet hatte. Dazu wurde immer gesagt: Man weiß es nicht.
Heute erst, zwei Wochen nach der Aktion, wird von Vertretern der Bundesregierung zugegeben, daß eine solche dritte Person beteiligt war und daß sie auch in der Gaststätte anwesend war.
Das alles verärgert uns sehr. Vor allem kommt, denke ich, ein ganz berechtigter Verdacht auf, wenn man uns bisher nicht die Wahrheit gesagt hat und so zögerlich mit den Fakten umgeht, und man fragt sich, was denn jetzt der Stand bei der Bundesregierung ist und welche Kenntnisse dort vorliegen, von denen wir nichts wissen. Ich frage mich weiter: Warum sollen wir davon nichts wissen?
Ich denke, daß es insgesamt sehr, sehr viele Fragen gibt bezüglich der Einsatzvorbereitung, der Durchführung, aber auch der Nachbereitung dieses Einsatzes. Etliche dieser Fragen sind hier von Kollegen genannt worden. Wenn ich die Fragen höre - einige wurden auch von der SPD gestellt -, wundert es mich doch, warum Sie nicht unserem Antrag auf Befassung des Parlaments mit der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zustimmen wollen. Den wollten wir behandelt wissen.
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- Ich denke, daß das dann zu spät ist. Ich hätte es richtiger gefunden, wenn wir uns heute dazu entschließen könnten. Alles, was wir in den vergangenen Wochen erlebt haben, deutet darauf hin, daß hier vertuscht wird.
Wir erleben ein sehr unwürdiges Schauspiel, daß Verantwortung hin- und hergeschoben wird und anderen zugeschoben wird. Wir haben heute die Fortsetzung dieses Schauspiels erlebt, nämlich daß sich Vertreter der Bundesbehörden auf eine von einem Land X - so nenne ich es einmal; wir wissen ja nicht, um welches Land es sich handelt - verordnete Geheimhaltung bezüglich des V-Mannes berufen. Die Berufung auf diese Geheimhaltung ist, denke ich, ein weiteres Ablenkungsmanöver. Denn unabhängig von der Identität des V-Mannes, um die es ja bei der Frage gar nicht geht, trägt letztendlich die Bundesregierung die Verantwortung für den Einsatz und hätte dann auch diese Fragen beantworten müssen.
Es sind jetzt insgesamt zwei Wochen vergangen. Wir wissen sehr wenig. Wenn wir zurückblicken, dann stellen wir fest, daß wir den größten Teil unserer Informationen aus der Presse bezogen, nicht aber von der Bundesregierung erhalten haben.
Deswegen kann man abschließend noch einmal feststellen: Wir werden wohl um einen Untersuchungsausschuß nicht herumkommen.
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Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt der Bundesministerin für Justiz, Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Lieber Herr Seiters! Ich möchte mich auch an dieser Stelle ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit bedanken. Wir hatten in vielen Fragen Konsens; wir hatten natürlich auch in einigen Punkten unterschiedliche Auffassungen. Aber das haben wir uns gesagt. Ich glaube, das ist auch der richtige Umgang miteinander, Ich bedanke mich dafür, daß Sie mir geholfen haben, mich als Neuling in die Aufgaben des Justizministeriums, besonders was auch die Berührungen zur Innenpolitik betrifft, schnell einzuarbeiten und einzuführen.
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Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist wichtig, gerade auch nach dem vorletzten Redebeitrag, noch einmal deutlich zu machen, daß wir die Ereignisse von Bad Kleinen nicht verkehren dürfen. Es hat sich in Bad Kleinen um eine Festnahmeaktion gehandelt, die sich gegen mutmaßliche RAF-Terroristen richtete.
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Dabei sind - das ist sehr tragisch - zwei Menschen zu Tode gekommen, Wolfgang Grams, ein mutmaßlicher Terrorist, und Michael Newrzella, ein junger GSG-9-Beamter. Er hatte keinen Schuß abgegeben, als ihn die tödliche Kugel traf. Die beiden mutmaßlichen Terroristen waren schwer bewaffnet. Haftbefehle liegen seit den Jahren 1988 und 1989 vor. Das Feuer wurde von Wolfgang Grams eröffnet.
Schaffen wir doch jetzt keine falschen Feindbilder. Ich glaube, Gedenktafeln, wie sie am gestrigen Tag aufgestellt worden sind, können dazu beitragen, daß falsche Feindbilder aufgebaut werden.
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Sie, die Parlamentarier, und die gesamte Öffentlichkeit verlangen mit Recht schnelle und vollständige Aufklärung über das, was am 27. Juni dieses Jahres in Bad Kleinen geschehen ist. Der Schaden, der dem Rechtsstaat durch den Eindruck, daß nicht energisch und so schnell wie möglich alles zur Aufklärung Erdenkliche getan wurde, entstanden ist, kann sehr groß sein. Dem werden wir, mein Kollege Herr Kanther und ich, energisch und mit allen unseren Möglichkeiten entgegenwirken. Denn ich glaube, das sind wir auch den Institutionen und Organisationen schuldig, die für unsere innere Sicherheit und für die Verbrechensbekämpfung schwierige Aufgaben wahrnehmen.
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Teilinformationen, vorläufige Gutachten und noch nicht abgeschlossene Untersuchungen können nicht dazu beitragen, Ihren berechtigten Anspruch auf vollständige Aufklärung zu befriedigen. Deshalb werden wir in vier Wochen, wie heute in der gemeinsamen Sitzung des Innen- und Rechtsausschusses zugesagt wurde, einen Bericht vorlegen. Wenn er auch dann noch kein endgültiger Bericht sein kann, dann werden wir das deutlich machen und klarlegen, wo möglicherweise und aus welchen Gründen zu einzelnen Punkten noch nicht abschließend bis zu diesem Zeitpunkt Stellung genommen werden konnte.
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Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Büttner?
Ja.
Bitte, Herr Kollege!
Frau Ministerin, halten Sie es für einen Beitrag zur Schadensbegrenzung, wenn Sie gestern ankündigten, Sie würden heute im Ausschuß für Aufklärung sorgen, und sich heute dann auf Ihre Geheimhaltungspflicht berufen
Ich darf dazu vielleicht ganz deutlich sagen - so war es ja auch im Text nachzulesen -, daß ich der Meinung bin, daß wir alles tun müssen - diese Meinung teile ich mit dem Innenminister -, daß Spekulationen der Boden entzogen wird und daß wir die Informationen, die wir aus Gründen des Schutzes und der Sicherheit von Personen nicht an jeder Stelle und in der Öffentlichkeit mitteilen können,
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denjenigen Gremien mitteilen wollen, die dazu berufen sind. Der Innen- und der Rechtsausschuß haben ja heute diesen Vorschlägen entsprochen. Ich freue mich, daß heute auch schon die erste Gelegenheit dazu ist.
Frau Ministerin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Hirsch?
Ja.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Frau Ministerin, ist es zutreffend, daß Sie noch durch die Entscheidung einer Landesregierung daran gehindert waren, im Innenausschuß die Details, die von Ihnen erfragt wurden, vorzutragen? Sie haben eben - wenn ich das richtig verstanden habe - bestätigt, daß heute nachmittag die Parlamentarische Kontrollkommission tagen wird, in der Sie dann, nehme ich an, diese Einzelheiten darstellen werden.
Es handelt sich um verschiedene Stellen, die betroffen sind und die entsprechend beteiligt werden müssen. Von daher trifft der Sachverhalt zu.
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Meine Damen und Herren, es standen und stehen teilweise die Kompetenz und Zuständigkeiten -
Frau Ministerin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen de With?
Ja.
Vizepräsident Helmuth Becker Herr Kollege.
Frau Ministerin, hat nicht heute in der gemeinsamen Sitzung des Innen- und Rechtsausschusses der Vertreter des Bundesministers des Innern, ein Staatssekretär, gesagt, in erster Linie gebe es ein Schweigen deshalb, weil das Leben des V-Mannes geschützt werden müsse? Alles andere sei nachrangig gewesen.
Ich habe eben gesagt, daß aus Gründen des Schutzes und der Sicherheit von Personen nicht an allen Stellen und auch nicht in der Öffentlichkeit Informationen weitergegeben werden können. Ich glaube, es ist auch richtig und wichtig, daß wir hier, nachdem seit einer Woche viele Spekulationen durch verschiedene Zeitungen geistern, nicht dazu beitragen, jetzt mit neuen Spekulationen Vermutungen und Gerüchten Tür und Tor zu öffnen.
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Es geht vor allen Dingen darum, was Sie alle fordern und verlangen, nämlich zu Recht eine möglichst schnelle Aufklärung über all das, was in Bad Kleinen gewesen ist. Ich glaube, das führt auch mit dazu, daß dieser Weg, der jetzt beschritten wird, der richtige ist.
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Meine Damen und Herren, die Zuständigkeit und Kompetenzen, auch der Generalbundesanwaltschaft, standen in den letzten Tagen im Mittelpunkt von Kritik und Anregungen. Ich darf hier einmal ganz deutlich machen, wo die Zuständigkeiten des Generalbundesanwalts liegen. Er ist zuständig für das Ermittlungsverfahren gegen Birgit Hogefeld. Der Haftbefehl wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und anderer Verbrechen liegt schon mehrere Jahre zurück. Er ist auch zuständig für das Ermittlungsverfahren wegen des Todes des GSG9-Beamten. Auch dieses Verfahren muß so schnell wie möglich zu einem Ende gebracht werden, auch wenn das möglicherweise zu einer Einstellung des Verfahrens führen kann, weil es wichtig ist, alle Umstände, die zum Tod dieses Beamten geführt haben, möglichst schnell und eindeutig und ohne weitere Zweifel hier auf den Tisch zu legen.
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Die Zuständigkeiten insgesamt durchtrennen hier einen einheitlichen Lebenssachverhalt, indem für die Umstände, die zum Tod von Wolfgang Grams geführt haben, die Staatsanwaltschaft in Schwerin zuständig ist, die das Ermittlungsverfahren jetzt betreibt.
Wir werden alles gemeinsam tun, gerade was das Einholen von Gutachten, die derzeit schon in Auftrag gegeben sind, betrifft, um möglichst schnell die Erkenntnisse von Experten und Gutachtern zu haben, die für eine einheitliche und abschließende Bewertung dieses Sachverhalts notwendig und erforderlich sind. Wir werden keine Informationen und nichts unter den Teppich kehren, sondern wir haben ein ureigenes Interesse daran, daß wirklich alles aufgeklärt wird. Es sind schon 14 Tage vergangen, aber ich sage auch einmal, es sind, wenn man den Umfang der Ermittlungen sieht, vielleicht auch erst 14 Tage vergangen. Man muß das auch einmal in eine Gesamtrelation stellen.
Ich bitte Sie: Vertrauen Sie auch uns, daß wir bei allem, was an Mängeln, was an Pannen, was an Fehlern aufgetreten sein mag, alles daran setzen werden, daß wir den Sachverhalt schnell aufklären. Das heißt auch nicht, daß wir dann nicht überlegen, ob Konsequenzen gezogen werden müssen. Auch da werde ich zusammen mit meinem Kollegen, Herrn Kanther, überlegen, ob und in welchem Umfang notwendige Entscheidungen zu treffen und Konsequenzen zu ziehen sind.
Vielen Dank.
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Vizepräsident Helmuth Becker Nächster Redner ist unser Kollege Hans Gottfried Bernrath.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Zunächst eine kurze Replik auf Sie, Herr Kanther. Sie haben gesagt, die Bewertung eines Vorganges kann man erst dann vornehmen, wenn die Fakten auf dem Tisch liegen. Dem stimme ich uneingeschränkt zu, aber dann müssen wir Sie auch fragen - und hier liegt eine Ihrer ganz schnell wahrzunehmenden Aufgaben -: Wie kann es denn sein, daß Ministerien, Behörden in einem nicht endenen Schwall von Erklärungen, Gegenerklärungen, neuen Bewertungen, zurückgezogenen Erklärungen eine solche Verwirrung in der Öffentlichkeit anrichten und damit Vermutungen Tür und Tor öffnen?
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Wer sich nicht an den Vermutungen beteiligte, war geradezu außerhalb der Gesellschaft in diesen Tagen. Es war ein Gesellschaftsspiel.
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Ich glaube auch, daß es keine gute Erklärung im Zusammenhang mit dem Rücktritt des Herrn Seiters war, den wir respektieren, denn es war ein Rücktritt nach Bewertung der Sachlage, nämlich hier Fakten und auf der anderen Seite sich ständig widersprechende Erklärungen aus den beteiligten Ämtern, so daß es ihm schier unmöglich erscheinen mußte, hier überhaupt zur Aufklärung und damit zur politischen Verantwortung kommen zu können. Ich komme darauf noch einmal kurz zurück.
Ich möchte aber gar nicht so sehr auf die Fakten eingehen, eher ein paar Gedanken äußern, die mir in diesen Tagen gekommen sind. Ich habe nämlich den Eindruck, daß die in diesen Tagen sichtbar gewordenen Schwierigkeiten viel tiefere Ursachen haben. Mehr und mehr stellte sich nämlich in diesen Tagen heraus, daß die Institutionen der inneren Sicherheit bedroht sind, weil ganz offenkundig Organe der inneren Sicherheit ein Eigengewicht beanspruchten und durchsetzen wollten und sozusagen in sich einen Korpsgeist entwickelten, der höher bewertet wurde als ihre Pflicht, im Rahmen der parlamentarischen Demokratie zu berichten, und zwar wahrheitsgemäß
Hans Gottfried Bernrath
zu berichten, damit Aufklärung überhaupt möglich wurde.
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Wenn wir das auf Dauer unwidersprochen hinnehmen, was wir in den zwei Wochen vor allen Dingen in den Amtern erlebt haben, dann legen wir die Axt, wie es heute bei uns in der Fraktion gesagt wurde, an unsere demokratische Ordnung, dann sehe ich große Gefahren auf uns zukommen.
Ich glaube, die Institutionen der inneren Sicherheit, auch ihre Hierarchien, tragen nicht mehr. Von daher muß auch darüber nachgedacht werden, wie es dazu kommen konnte. Wenn es anfangs noch so aussah, als wäre hier nur die Innen- und Rechtspolitik betroffen, legten sich aber zunehmend gefährliche Schwächen von Politik und Exekutive offen. Über die müssen wir sprechen. Durch die wohl einmalig verworrene Informationspolitik wohl aller Beteiligten, ist eine Kontrolle, heute kann man das schon so sagen, so dramatischer Vorgänge fast nicht mehr möglich. Jedenfalls wird eine parlamentarische Aufarbeitung, wenn wir nicht andere Mittel, als die bisher von uns eingesetzten, verwenden, nicht möglich sein.
Dabei geht es natürlich auch um Namen. Einer ist der Generalbundesanwalt von Stahl, ein Sinnbild für Hilflosigkeit und Überforderung in diesen Tagen.
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Der Innenminister erkannte, was auf ihn zukommen würde, konnte dafür nicht mehr die politische Verantwortung tragen. Das respektieren wir, und wir stützen ihn auch in dieser Auffassung, weil wir wissen, daß er nicht kneifen wollte, sondern diesen Wirrwarr vor sich sah, an dem er sich nicht erneut versuchen wollte.
Die Spitze des BKA in wunderlicher Unfähigkeit und zeitweiser Abwesenheit - das war ja noch schlimmer, ein Kompetenter war nicht mehr zu treffen - und schließlich die Justizministerin, deren Freundlichkeit jedermann schätzt, deren Rolle in diesem Desaster aber noch offen ist: darüber werden wir sicherlich auch noch einmal sprechen müssen.
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Ich glaube, wir müssen uns auch fragen, welche Rolle unser Staat nach diesen Ereignissen künftig in der Innen- und Rechtspolitik spielen will. Wir gewinnen das Vertrauen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger nur zurück, wenn wir diese Organe der inneren Sicherheit wieder handlungsfähig machen, und wenn sie ihrerseits den Primat der Politik anerkennen und die Politik nicht zu umgehen versuchen. Das ist der eigentliche Kern dessen, was wir heute erörtern müssen.
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Sie müssen wieder Vertrauen fassen können in Polizei und Polizisten, in Staatsanwaltschaften und Staatsanwälte, aber auch in Regierungsmitglieder, in Minister, die für diese Demokratie stehen und deren Wahrhaftigkeit einer der wichtigen Grundpfeiler unserer Ordnung ist. Wenn wir das herunterspielen, laufen wir
Gefahr, den Anspruch, ein Rechtsstaat zu sein, zu verlieren. Man wird uns in die Nähe einer Bananenrepublik rücken. Es wird sehr schwer sein, den Anspruch, ein Rechtsstaat zu sein, zurückzugewinnen.
Deshalb fordern wir Sozialdemokraten penible Aufklärung der Vorgänge in Bad Kleinen, die Vorlage eines lückenlosen Berichtes, zumindest was den Schlußbericht angeht. Wir fordern die Durchleuchtung der Institutionen der inneren Sicherheit auf ihre Effizienz und auf ihre Bereitschaft, Führungsentscheidungen der Politik anzuerkennen. Wir fordern auch eine Darstellung der Zusammenarbeit der Behörden der inneren Sicherheit, insbesondere zwischen dem Generalbundesanwalt und dem BKA.
Letztlich fordern wir - das hat nichts mit einer Forderung nach Auflösung der GSG 9 zu tun; bei uns habe ich das nicht gehört - eine Darstellung und Bewertung der GSG 9 über ihre Eignung in ihrem jetzigen Zustand für besondere operative Einsätze und ihr Selbstverständnis. Das muß von uns gefordert werden, damit wir darüber nachdenken können, welche operativen Aufträge wir künftig an solche Gruppen geben können.
Angesichts so vieler Versäumnisse und so viel Unterdurchschnittlichkeit wirkte der Rücktritt von Herrn Innenminister Seiters für sich schon befreiend. Wir sagen Ihnen heute Dank für die Zusammenarbeit, die wir hatten: aus unterschiedlichen Positionen, aber immer fair und offen. Ich bin schon heute gewiß, daß wir uns Ihrer gern erinnern werden, Herr Seiters.
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- Er kriegt auch eine Chance; ich komme noch darauf zurück. Man lobt aber immer erst am Ende; zunächst müssen Sie hören, was wir von Ihnen erwarten.
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- Ich komme darauf zurück.
Dieser respektheischende Rücktritt berührt noch nicht - das möchte ich hinzufügen - die Verantwortlichkeiten des Innenministers und seiner politischen Beamten. Alles, was in diesen Tagen an Versäumnissen, Mängeln, Unzulänglichkeiten und vorsätzlicher Informationszurückhaltung offenkundig geworden ist, hat sich nicht von gleich auf jetzt ergeben. Füh- rungsschwäche bei den Ämtern, das Übergewicht routinemäßiger Beschäftigung mit weniger wesentlichen Aufgaben haben in den Ministerien und bei den Ämtern zu Selbstblockaden und zu vordergründigen Eifersüchteleien geführt, die zwangsläufig das Ergebnis, das wir nun erlebt haben, hatten.
Spätestens nach diesen Ereignissen frage ich mich auch, was eigentlich Ihre Beteuerungen in den späten 70er und in den frühen 80er Jahren sollten, wo Sie gesagt haben, allein ein Regierungswechsel werde Deutschland schon mehr innere Sicherheit bringen. Sie haben dann Ihre Plane ausgebreitet und nichts verwirklicht. Sie hatten keine Fahndungserfolge,
Hans Gottfried Bernrath
wenn man einmal von den Zufällen absieht, die Ihnen die deutsche Einigung beschert hat.
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Sie haben Gott sei Dank auch zugegriffen; es war aber nicht Ergebnis Ihrer Politik.
Ich möchte noch eines hinzufügen: Rechts haben sich bei uns inzwischen Abgründe aufgetan, die noch immer nicht, jedenfalls nicht annähernd zureichend bekämpft werden. Wie viele Opfer hat uns schon der Rechtsradikalismus in diesen Monaten gebracht, deren Verantwortlichkeiten nicht aufgeklärt sind?
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Ich bin mit Herrn Gerster einer Meinung: Wir alle sind in der Verantwortung: Bund, Länder und die Parlamente. Da werden wir mitwirken; Sie haben es an den. Anregungen, die wir vermittelt haben, bemerkt.
Ich wende mich noch an Herrn Minister Kanther: Ihnen geht der Ruf eines rechten Konservativen voraus. Das braucht Sie nicht zu stören. Sie bewegen sich im demokratischen Spektrum; das ist entscheidend. Von daher wird es auch Ihre Tätigkeit nicht behindem, wenn Ø Handeln auf Ausgleich gerichtet ist. Darauf kommt es gerade in diesen Ämtern an.
Worte allein werden allerdings noch nichts bewirken. Herr Schäuble, Sie werden es uns nicht übelnehmen: Wenn einer der ersten Sätze von Herrn Kanther in der Öffentlichkeit der Hinweis auf "law and order" war, dann wird man schon etwas hellhörig.
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- Nicht ich habe das gesagt, sondern Herr Kanther. Lassen Sie mich zu Ende reden.
Auch in der deutschen Übersetzung ist das nicht das Dogma unserer Politik. Für uns findet sich das Dogma ausschließlich in unserer Verfassung. Diese spricht von Verfassungstreue und von Gerechtigkeit.
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Das sind die Merkmale, die wir bedenken müssen.
Sie wissen, was Sie schützen müssen: nicht den Lack unseres gesellschaftlichen Zustandes - der hat ohnehin schon Kratzer -, sondern die Inhalte, die Verfassung. Sie schützen die Bürger, die ihre Rechte aus der Verfassung ziehen. Sie schützen die Bürger - um aktuell zu bleiben - vor Verbrechen und Verbrechern, aber auch vor den Unrechtmäßigkeiten des Staates. Das dürfen wir nicht übersehen; das ist genauso wichtig.
({12})
Gestatten Sie mir zum Schluß - auch Herr Schäuble wird es gestatten - noch ein Wort als Vorsitzender eines Ausschusses.
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- Natürlich.
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- Das habe ich immer gemacht, werde ich auch immer tun. Ich spreche hier aber für die SPD, so wie Frau Süssmuth, die Präsidentin unseres Parlamentes, hier für uns spricht, aber sehr oft auch ihre eigene, sehr zu respektierende Meinung äußert.
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Gestatten Sie mir ein kurzes Wort als Vorsitzender des Innenausschusses. Ich will es offen sagen: Ich nehme an, Herr Schäuble, daß die Exekutive vor dem Innenausschuß wie vor allen Ausschüssen, wie vor dem Parlament auskunftspffichtig ist und wahrheitsgemäß Auskunft geben muß. Ich habe in den letzten Monaten den Eindruck gewonnen, daß diese Selbstverständlichkeit durch Gleichgültigkeit gegenüber dem Parlament erstickt worden ist.
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Wir waren oft mit dem, was wir gehört haben, unzufrieden.
Die Wirksamkeit des Verhältnisses von Legislative und Exekutive ist davon abhängig, daß beide die verfassungsmäßig vorgegebenen Positionen respektieren.
Ich füge hinzu: Auch Paralmentarier haben diesen Respekt nicht immer vor der Administration, vor der Exekutive, erkennen lassen. Hier fordere ich meine Kollegen genauso auf, nicht zu vordergründig an Beamtenschaft oder an die Repräsentanten der Regierung heranzugehen. Wenn das nicht zurückgeht, sage ich Ihnen voraus, wird die politische Kontrolle nicht mehr funktionieren. Die Leidtragenden werden in erster Linie wir sein. Hier sitzen wir mit der Exekutive in einem Boot.
Ich fordere darum mehr Offenheit, mehr Verantwortungsbewußtsein gegenüber dem eigenen und dem Pflichtenkreis des jeweils anderen. Das Parlament kann auf Dauer nicht damit leben, daß es von Informationen der Exekutive, die immer einen Vorlauf hat, ausgesperrt bleibt, diese Informationen aber ungefiltert in die Öffentlichkeit gehen und uns in den Zwiespalt bringen, der sich heute darin ausdrückt, daß man uns draußen fragt, warum wir denn überhaupt noch tagen, wenn wir nichts zur Sache hören.
Danke schön.
({17})
Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Erwin Marschewski.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Anfang steht für mich - wie, Herr Kollege Bernrath, für fast alle Redner - die Trauer, die Trauer um den Tod von Michael Newrzella. Der 25jährige Polizeikommissar mußte bei seinem ersten Einsatz sterben, weil er sein Leben in den Dienst von Recht und Freiheit gestellt hat - auch der Pressefreiheit. Diese Pressefreiheit - das hat diese Debatte ergeben - verlangt nach mehr Verantwortung, insbesondere in diesen Tagen.
Es ist leider wahr, daß die Vorgänge um die Polizeiaktion in Bad Kleinen Fragen aufgeworfen haben: Fragen im Bereich der inneren Sicherheit, der Bundesanwaltschaft, Fragen an das Bundeskriminalamt und an die GSG 9.
Politiker, die oft zweifeln, zweifeln auch hier bereits am Wert dieser Einheit. „Eine Polizei, die nur übt, ist gefährlich", formulierte Kollege Dr. Hirsch neulich.
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Wenn ich dies auch nicht so ausdrückte - Herr Kollege Dr. Hirsch, die Problematik ist nicht neu -, so sind wir uns doch in einem einig: Die GSG 9 darf keinesfalls aufgelöst werden; denn trotz dieser Probleme habe ich Vertrauen in die Sicherheitsorgane.
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Was ich will, bevor wir Konsequenzen ziehen, was ich fordere, ist Wahrheit, ist Aufklärung. Wir wollen keine sich widersprechenden Erklärungen, aber, Herr Kollege Bernrath, auch kein Zuviel an Erklärungen. Ich frage, ob Sie sich als Vorsitzender des Ausschusses nicht doch zuviel in die Öffentlichkeit gewagt haben. Wenn ich an Ihre gestrige Aussage denke, der V-Mann solle schnell nach Bonn kommen, urn dort verhört werden zu können, stelle ich fest, Herr Kollege Bernrath: Das war sicherlich keine Glanzleistung des Vorsitzenden des Innenausschusses des Bundestages.
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Meine Damen und Herren, Herr Kollege Bernrath, ich finde Ihre Attacke gegenüber der Bundesjustizministerin nicht fair.
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Es geht doch letzten Endes darum, meine Damen und Herren, daß die Arbeit der Staatsanwaltschaft nicht beeinträchtigt wird, daß Dienstgeheimnisse nicht offenbart werden, um das Leben eines V-Manns zu retten, der sich im Kampf gegen den Terrorismus eingesetzt hat.
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Wir alle haben für das Vertrauen der Bürger in unseren Rechtsstaat, für die Integrität der Strafverfolgungsbehörden einzustehen. Deswegen wollen wir das wirklich Geschehene erfahren. Darüber hinaus:
Ich will keine Legenden, denen dann wenig Gutes, nein, Schlimmes folgen könnte.
Wenn ich diese Debatte zusammenfasse, meine Kolleginnen und Kollegen, erscheint mir folgendes wichtig:
Erstens. Die Achillesferse bei der Bekämpfung und Verfolgung terroristischer Straftaten und Gewalttaten ist, so meine ich, die Kompetenzaufsplitterung zwischen Bund und Ländern sowie innerhalb verschiedener Bundesbehörden. Dieses Kompetenzwirrwarr muß beendet werden.
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Wer Herr des Verfahrens ist, der hat Verantwortung zu tragen für das gesamte Geschehen, von Anfang bis Ende, ohne Wenn und Aber. Meine Damen und Herren, auch darüber haben wir nachzudenken.
Zweitens. Das Grundrecht der Pressefreiheit - darüber gibt es überhaupt keine Diskussion - muß unantastbar bleiben. Aber sollten nicht bei Kapitalverbrechen Pressefreiheit und Zeugnisverweigerungsrecht gegenüber der erforderlichen Aufklärung zurückstehen? Kurt Rebmann hat keineswegs Unrecht mit seiner Aussage, die Pressefreiheit sei manchmal weniger notleidend als die innere Sicherheit. Daher sollten wir einen Weg finden, um in diesen Fällen zu Zeugenaussagen zu gelangen.
Trotzdem ein Appell an den „Spiegel": Es heißt ausdrücklich „Zeugnisverweigerungsrecht"; das bedeutet nicht die Pflicht zur Zeignisverweigerung.
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Drittens. Was die Besetzung höchster Stellen in diesem Lande anbetrifft: Unwürdiges parteipolitisches Gezerre, Proporz vor Vernunft, das darf nicht sein.
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- Ja, Sie machen dies ja. Das hat insbesondere für alle anstehenden Personalentscheidungen bezüglich politischer Ämter - damit meine ich alle Ämter - in nächster Zeit zu gelten.
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Eine weitere Erkenntnis aus diesen Vorgängen, aus dieser Debatte: Die Rote-Armee-Fraktion hat keineswegs der Gewalt abgeschworen; im Gegenteil, sie hat ihr Repertoire erweitert. Die neuerliche Erklärung ist eindeutig. Glaubt man noch immer, die RAF mit Verhandlungsangeboten, Häftlingsbesuchen und Sondervergünstigungen beim Strafvollzug zur Aufgabe, zur Einsicht bewegen zu können? Verkennt man nicht, daß die ideologische Verstocktheit der Terroristen eine echte Aussöhnung mit dem freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat wohl niemals zulassen wird?
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Zum Abschluß möchte ich ein Wort zum Rücktritt des Bundesinnenministers sagen. So sehr mich dieser Rücktritt persönlich bewegt hat - denn wir Innenpolitiker haben gerade in den letzten Monaten intensiv und sehr erfolgreich mit Rudolf Seiters zusammengearbeitet -, so sehr habe ich Respekt vor dieser Entscheidung. Es mag ungerecht sein, für die Fehler anderer einstehen zu müssen, ohne selbst gefehlt zu haben. Man kann dies politische Kultur nennen oder, wie ich meine, besser: Einlösung der Gemeinwohlverpflichtung eines Ministeramtes im demokratischen Staatswesen.
Was bleibt mir anderes übrig, lieber Herr Seiters, als Ihre Entscheidung zu aktzeptieren und danke zu sagen?
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Übrigens, ich komme aus dem Kreis Recklinghausen. Dazu gehört Gladbeck, die Stadt, in der das Geiseldrama stattfand. Sollten die, die heute ununterbrochen nach Rücktritten rufen, Gladbeck und den nordrhein-westfälischen Innenminister wirklich völlig vergessen haben?
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Politische Kultur, politische Moral sind für mich unteilbar. Unsere Demokratie und unser Staat brauchen und brauchten sie dringender denn je, genauso dringend wie geschärfte Instrumente, um den Extremismus von links und von rechts niederhalten zu können. Diese Debatte, meine Damen und Herren, sollte besonders diesem Zweck dienen.
Ich danke Ihnen.
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Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Ulrich Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Vorgänge von Bad Kleinen, die Tötung eines Polizeibeamten und die Tötung eines mutmaßlichen RAF-Angehörigen sind für die Bürger und Bürgerinnen in diesem Lande und vielleicht erst recht für die Menschen draußen in hohem Maße beängstigend.
Beängstigend wegen der möglichen Bedrohung der verfassungsmäßigen Ordnung sind insbesondere die Umstände des Todes von Grams. Hat hier - wie der „Spiegel" einen Augenzeugen wiedergab - tatsächlich eine kaltblütige Exekution stattgefunden? Hat hier ein Exekutivorgan, das streng an Recht und Auftrag gebunden ist, Schicksal gespielt und sich über die Rechts- und Verfassungsordnung gestellt, jene Rechts- und Verfassungsordnung, die aus guten Gründen nach den schrecklichen massenhaften Staatsmorden der NS-Zeit die Todesstrafe abgeschafft hat? Wenn es so ist, dann muß schärfstens gegen alle Verantwortlichen vorgegangen werden.
Politische Tötung mit Exekutionscharakter im Amt - sei es aus Affekt, sei es in kaltblütiger Überlegung - darf nicht geduldet werden. Sollte der Verdacht erhärtet werden, daß die GSG 9 dieses Vorgehen geduldet oder gar grob fahrlässig oder wie auch immer ermöglicht hat, dann muß sie ersatzlos und als politische Demonstration aufgelöst werden.
Der honorige Rücktritt von Bundesinnenminister Seiters muß in diesem Falle Konsequenzen insbesondere auch bei den Strukturen der entsprechenden operativen Organe haben.
Beängstigend ist die Situation nach den Vorfällen in Bad Kleinen aber auch wegen der Mauer des Schweigens und der Verdeckung, möglicherweise auch der Vertuschung, die offensichtlich errichtet worden ist.
Die Situation, die wir hier und heute haben, ist insbesondere eine schallende Ohrfeige für dieses Parlament und seine Ausschüsse. Der Kollege Bernrath als Vorsitzender des Innenausschusses ist trotz seines ausgleichenden rheinischen Temperaments nicht der ruhende Pol in diesem Verfahren - er kann es gar nicht sein -, sondern er vollzieht nach, er deutet, er schlußfolgert im nachhinein. Das ist nicht gerade eine Sternstunde dieses Parlaments.
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Die Bürger und Bürgerinnen draußen im Lande spüren, wie relativ machtlos dieses Parlament ist.
Die Forderung nach Nutzung der schärfsten Mittel dieses Parlaments, z. B. nach Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, wie vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gefordert, ist angesichts der entstandenen Situation nur allzu berechtigt.
Was wir in der Zukunft brauchen - das sei an die Adresse der RAF-Unterstützerszene gesagt -, sind wirksam organisierte Schutzvorkehrungen insbesondere für diejenigen, die schutzlos in diesem Lande an Leib und Leben bedroht werden. Letzte Nacht ist wieder eine libanesische Familie mit fünf Kindern von rechtsradikalen Terroristen in Herzogenrath bei Aachen überfallen worden. In Warnemünde sind gestern norwegische Touristen von rechtsradikalen Jugendlichen überfallen worden.
Wir brauchen Hilfe für diese Bedrohten, Fluchtgelegenheiten, Telefonketten, vielleicht auch so etwas wie Notwehr- oder Abwehrgewalt gegen rechtsradikale Mörder und gegen zu Pogromen bereite deutsche Bürger und Bürgerinnen, wenn es die gibt. Der gewaltsame Tod von Detlev Rohwedder hat nichts an der verheerenden Politik der Treuhandanstalt geändert. Bischofferode und andere Fälle zeigen das.
Nochmals: Politischer Terror hat keine Chance, er darf sie nicht haben. Andererseits: Auch Staatsterror, der beim derzeitigen Aufklärungs- und Informationsstand nach wie vor im Raume steht, darf nicht zugelassen werden und muß, falls es ihn gegeben hat, streng geahndet werden.
Herr Präsident, ich danke Ihnen.
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Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, zu einer Kurzintervention nach § 27 unserer Geschäftsordnung hat unser Kollege Kleinert das Wort.
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- Wir betrachten das Mikrophon hier vorne als Saalmikrophon.
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Bitte.
Herr Präsident, ich danke für den Hinweis. Ich benutze gerne die Gelegenheit, Ihnen etwas näher zu sein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere Trauer gilt Michael Newrzella und Herrn Grams. Dem letzteren gilt auch unsere geschärfte Aufmerksamkeit. Das heißt aber nicht, daß wir bereit sind, uns zur Unzeit in abschließende Beurteilungen jagen zu lassen, die nach Lage der Dinge nun einmal nicht abschließend sein können.
Es ist in den letzten 14 Tagen meiner Meinung nach sehr viel Zeit damit unnütz vergangen, daß Sitzungen abgehalten worden sind, die viel weniger der Aufklärung von Tatsachen, der Beibringung von Unterlagen und der Ordnung dieser Fakten gedient haben als vielmehr einem unwürdigen Spiel, sich den nächsten Abzuschießenden auszusuchen, bevor überhaupt klar sein konnte, welche Grundlagen es für die diversen Rücktrittsersuche, die immer noch durch die Luft geistern, geben konnte.
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Das ist nicht die Art, wie wir der Sache dienen.
Das Parlament hat einen ungewöhnlich weiten Rahmen für seine Mitwirkung an der Verwirklichung der Ziele dieses Staates - das ergibt sich daraus, daß das Grundgesetz hierzu schweigt -, also auch seiner Innen-, Sicherheits- und - sehr wichtig - Rechtspolitik. Wie es diesen Rahmen ausnutzt, darüber sollten wir am Schluß der heutigen Debatte, so glaube ich, noch einmal miteinander nachdenken.
Hierbei scheinen mir ganz einfache, logische Regeln weiterzuhelfen: Erst müssen alle Fakten zusammengetragen und richtig geordnet werden. Dann erst kann man saldieren und zum tatsächlichen Hergang und zu dessen Einzelheiten kommen. Anschließend kann man sich über die organisatorischen Gegebenheiten - falsch oder richtig - unterhalten, die zu diesem Ergebnis geführt haben. Ganz zum Schluß kann man dann zur etwaigen Frage kommen, für wen sich aus politischen Gründen, aus der sogenannten politischen Verantwortung heraus, oder etwa gar wegen eines Fehlverhaltens Konsequenzen ergeben. Das wäre die Art von Zurückhaltung gewesen, die ich mir wünschen würde.
({1})
Ratschläge von außen hinsichtlich unserer Verfahrensweise in diesen Angelegenheiten möchte ich mir verbitten.
Aber bei all seinem Bemühen um Aufklärung und um Ausgleich gebe ich auch Herrn Bernrath zu bedenken, ob wir uns nach einem solchen Geschehnis nicht selbst eine Pause verordnen und sagen sollten: Nun wollen wir die zuständigen Behörden in den ersten Tagen nicht behindern und belästigen; vielmehr möchten wir erst ein einigermaßen greifbares Ergebnis vorgetragen haben und den Gang der Dinge nicht ständig mit Zwischenfragen und mit Spekulationen aufhalten.
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Das sollten wir sehr wohl für die Zukunft im Blick auf unsere eigene Mitwirkung an der dringend notwendigen Kontrolle mitnehmen.
Ich bedauere sehr, daß ich keine Gelegenheit mehr haben soll, Herrn Seiters in der gebotenen Ausführlichkeit - nicht nur aus politischen, sondern auch aus persönlichen Gründen - sehr herzlich zu danken, gleichzeitig auch Herrn von Stahl zu danken, der mich persönlich als Generalbundesanwalt mehr als verschiedene andere hohe Behördenchefs dieses Landes in den meisten Fällen durch Zurückhaltung erfreut hat, der desungeachtet mit der zuständigen Ministerin in Meinungsverschiedenheiten über die richtige Art der Öffentlichkeitsarbeit gekommen ist, so daß es das gute Recht der Ministerin war, sich ihrerseits von ihm zu trennen. Unser Dank und Respekt gebühren ihm trotzdem, so wie unsere guten Wünsche Herrn Kanther gebühren.
Danke schön.
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Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Gestatten Sie mir noch einige Sätze: Ich glaube, wir alle haben das Gefühl, daß sich alle Rednerinnen und Redner in dieser Debatte darum bemüht haben, für uns alle und für die Bevölkerung Klarheit und Wahrheit in diese Angelegenheit zu bringen. Der Innenausschuß und der Rechtsausschuß haben sich bemüht. Es ist ein Bericht angefordert; dieser Bericht soll in vier Wochen vorgelegt werden. Bis dahin besteht Gelegenheit - hoffentlich -, alle notwendigen Fakten zusammenzutragen. Dann ist es an uns - nicht vorher mit Vorverurteilungen -, darüber nachzudenken, wo etwas falsch gemacht worden ist. Meine und unser aller Lebenserfahrung ist: Da, wo Menschen handeln, werden Fehler gemacht. Das wird auch in Zukunft nicht anders sein. Aber welche Konsequenzen wir dann zu ziehen haben, sollten wir in Ruhe bedenken und gemeinsam überlegen.
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Vizepräsident Helmuth Becker
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dies waren nun die ersten acht Tage der sogenannten Sommerpause.
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Ich habe schon zum Ausdruck gebracht - Sie wissen es alle -, wieviel Arbeit weiter auf uns zukommt. Ich kann dem Teil der Kollegen, der es schafft, in die Sommerpause zu gehen, ein paar frohe Ferientage wünschen. Ich weiß aber nicht, wann es notwendig sein wird - wie die Präsidentin eingangs dieser Debatte erwähnt hat -, das Parlament wieder zusammenzuholen. Wenn das notwendig ist, dann werden wir wieder hier zusammentreten.
Meine Damen und Herren, ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages - wenn es uns denn gelingt - auf den 7. September ein. Vielleicht können wir uns dann nicht nur wiedersehen, sondern in dem neuen Saal auch wiederhören.
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Die Sitzung ist geschlossen.