Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 7/1/1993

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Die Sitzung ist eröffnet. Die Gruppe PDS/Linke Liste hat fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung um die Beratung ihres Antrags zur Verbesserung der Sicherheit von Tankschiffen auf Drucksache 12/5265 zu erweitern. Auf jeden Fall soll die Nr. 4 des genannten Antrags heute beraten werden, da die Rücknahme des IMO-Beschlusses - die IMO ist die Internationale Schifffahrtsorganisation der Vereinten Nationen - bezüglich der Tankersicherheit nur noch bis zum 6. Juli 1993 beantragt werden könne. Wird zu diesem Aufsetzungsantrag das Wort gewünscht? - Frau Kollegin Dr. Barbara Höll, Sie haben das Wort.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste beantragt die Aufsetzung des Antrags „Verbesserung der Sicherheit von Tankschiffen zum Schutz von Menschen und Umwelt" auf die heutige Tagesordnung. Ziel unseres Antrags ist es, die Bundesregierung aufzufordern, die internationalen Seerechtsabkommen endlich zu unterschreiben und die Frist bis zum 6. Juli dieses Jahres zu nutzen, um in die höchsten Sicherheitsstandards beim Tankerneubau, wie sie im Jahre 1990 von den Vereinten Nationen formuliert worden sind, einzutreten. Wir stellen diesen Antrag im Bundestag, weil für die Verbesserung der Sicherheit von Tankschiffen zum Schutz von Menschen und der Umwelt ein dringender Handlungsbedarf besteht. Bis heute hat sich die Bundesregierung geweigert, das UN-Seerechtsabkommen von 1982 zum Schutz der Weltmeere zu unterschreiben. Mit diesem Abkommen werden die unterzeichnenden Staaten zum Umweltschutz auf den Meeren und zur Vermeidung jeglicher Verschmutzung der Gewässer verpflichtet. Mittlerweile haben bereits 119 Staaten diesen Vertrag unterschrieben. Nur eben die großen Industrienationen in Europa haben dies nicht getan. Auch die Bundesregierung will sich diesem Abkommen offenbar entziehen. Umfangreiche Vorschriften unter anderem für Schiffsneubauten, für die Qualifikation der Mannschaften und für Schiffsrouten sowie für die Kontrollinstanzen können deshalb seit Jahren nicht in Kraft treten. Weiterhin gelten die Weltmeere als Freiraum für alle und alles. Ein Blick auf die Altersstruktur der Welthandelsschiffe und insbesondere auf die der Öltanker zeigt, daß ein großer Teil davon 15 Jahre und älter ist. Für die Sicherheit der Ladung und der durch Rationalisierung immer weiter verkleinerten Mannschaften hat das zum Teil lebensgefährliche Konsequenzen, zumal längere Liegezeiten für Reparaturen aus Kostengründen von den Schiffseignern gescheut werden und die Schiffe unter Billigflaggen kaum einer Kontrolle über ihre technische Sicherheit unterliegen. Als einziges Land haben die USA erste Konsequenzen aus der Tankerkatastrophe vor Alaska gezogen. Sie sperrten im Jahre 1990 ihre Häfen und Küstengewässer für einwandige Öltanker und für ältere Chemietankermodelle und setzen sich international seit zwei Jahren vehement dafür ein, für alle ÖltankerNeubauten nur noch Doppelhüllenschiffe zuzulassen. Anders das Verhalten der Bundesregierung und anderer europäischer Staaten. Sie lehnen das Doppelhüllenschiff als unnötig ab und wollen wesentlich schlechtere japanische Standards verbindlich machen. Die PDS/Linke Liste geht davon aus, daß ein Beitritt zu den genannten Konventionen nicht nur im Interesse des Schutzes von Gewässern und Küsten sowie der Sicherheit der Mannschaften, sondern gleichzeitig ein entscheidender Beitrag zur Verbesserung der Auftragslage der norddeutschen Werften und zur Schaffung von Arbeitsplätzen wäre. Es besteht unmittelbarer Handlungsbedarf. Der Termin 6. Juli steht. Deshalb bitten wir darum, daß dies heute beraten wird. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Jürgen Rüttgers.

Dr. Jürgen Rüttgers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001899, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Diskussion ist weder in der Sache richtungsweisend noch weiterführend, weil sie sich an und für sich nicht lohnt. Man braucht dazu nur zu wissen, daß dieses Abkommen - es geht hierbei sicherlich um ein wichtiges Thema, werte Kolleginnen und Kollegen - vom Inhalt her am 6. Januar 1993 in Kraft gesetzt worden ist und daß die Frist zu jenem Zeitpunkt zu laufen begann. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der PDS, seit dem 6. Januar 1993 hatten Sie also Zeit, hier im Bundestag aktiv zu werden. Ihnen ist aber nichts anderes eingefallen, als am vorletzten Tag vor der Sommerpause über einen Antrag noch eine Geschäftsordnungsdebatte in Gang zu setzen. ({0}) Dies muß man einfach wissen, um klar zu erkennen, daß dieser Antrag heute hier abgelehnt werden muß. Im übrigen hat kein Land dieser Welt irgendwelche Änderungsvorschläge im Rahmen dieses Verfahrens gemacht. Es ist überhaupt nicht einzusehen, daß dies die Bundesrepublik Deutschland in einem Schnellschub wenige Tage vorher machen sollte. Wir lehnen den Antrag ab. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Dr. Margrit Wetzel, Sie haben das Wort.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch die SPD-Fraktion lehnt die Aufnahme dieses Antrags in die Tagesordnung ab. Dieser Antrag scheint auch uns sehr vordergründig zu sein. Er ist verfahrensrechtlich überhaupt nicht haltbar. Wir müssen zudem wissen, daß die Sachpunkte in der Begründung, die Frau Dr. Höll uns vorgetragen hat, bereits Gegenstand von vorliegenden Anträgen sind. Die SPD-Fraktion hat in der Sache dazu einen Antrag gestellt, der auf Drucksache 12/4267 vom 3. Februar 1993 nachzulesen ist. Die CDU/CSU-Fraktion hat eine Woche danach mit einem ganz ähnlichen Antrag nachgezogen. Diese Anträge sind im Beratungsverfahren. Es hat dazu eine Anhörung gegeben, die zur Zeit ausgewertet wird. Darüber hinaus hat es die EG-Ministerratstagung zu diesen Themen gegeben. Außerdem hat eine IMO-Ratskonferenz stattgefunden, die sich mit diesen Themen befaßt hat. Die Bundesrepublik Deutschland hat die entsprechenden Positionen, über die es einen Konsens gab, durch ihre Vertreter vortragen lassen und sie zum Teil auch durchsetzen können. Bezogen auf die Punkte, die noch nicht durchgesetzt sind - von denen wir im übrigen keinesfalls annehmen können, daß sie in diesen wenigen Tagen auch nur gehört würden, weil dies allein vom Verfahren her schlicht nicht möglich wäre -, bei denen es also noch keinen Konsens gibt, ist es für uns wichtig, auf einer so breiten Basis wie möglich einen Kompromiß zu finden, damit der Minister und die anderen Vertreter in diesen Konferenzen eben auf einer breiten Grundlage und mit einem großen Rückhalt in die Verhandlungen gehen können, um unsere Forderungen dort seriös, sachgerecht und auch zeitgerecht durchzusetzen. Deshalb ist eine Dringlichkeit für uns überhaupt nicht gegeben. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Manfred Richter.

Manfred Richter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001835, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wird behauptet, daß hier Fristen verstrichen und Nachteile einträten. Schauen wir uns das Abkommen doch einmal genau an. Das völkerrechtliche Inkrafttreten der am 6. März 1992 von der IMO beschlossenen Änderungen des MARPOL-Abkommens kann nicht verhindert werden. Die Änderungen sind nämlich nach Art. 16 Abs. 2 mit einer Zweidrittelmehrheit beschlossen worden. Zugleich wurde der 6. Januar 1993 als Zeitpunkt bestimmt, zu dem die Änderungen als angenommen gelten. Keine einzige Vertragspartei - keine einzige! - hat nach meiner Kenntnis dagegen Einsprüche angemeldet. Im übrigen wäre dafür auch ein Quorum von einem Drittel der Vertragsparteien bzw. von 50 % der Welthandelsflotte nötig. Ein Alleingang der Bundesrepublik Deutschland hätte also nichts gebracht. Meine Damen und Herren, das zeigt überdeutlich, daß dieser Antrag der PDS Schaumschlägerei und sonst nichts ist. ({0}) Es geht nicht um die Sache, sondern es geht um einen billigen Effekt. Es ist schon dargestellt worden, daß sich der Verkehrsausschuß des Bundestages sehr intensiv mit dieser Materie beschäftigt. Bei den Anhörungen zur Sache ist die PDS im Ausschuß aber nicht vertreten gewesen. ({1}) Ihnen geht es darum, hier eine Show abzuziehen. Schauen wir uns doch den Antrag der PDS genauer an. Er ist ein Musterbeispiel für schlampige Parlamentsarbeit. Unter Nr. 6 steht ein falsches Datum. Der IMO-Beschluß wird auf den 6. März 1993 datiert. Tatsächlich ist der Beschluß genau ein Jahr vorher gefaßt worden. Gut, man kann sagen: schlecht Korrektur gelesen. Schauen wir uns die Nr. 1 an. Dort wird die Bundesregierung aufgefordert, unverzüglich das Seerechtsabkommen von 1982 zu unterschreiben. ({2}) - Hören Sie gut zu! Sie können da noch etwas lernen. Sie fordern die Bundesregierung auf, ein Abkommen zu unterschreiben, dessen Zeichnungsfrist seit Jahren abgelaufen ist. Das kann man also gar nicht machen. Sie fordern etwas Unmögliches. ({3}) Nun sage ich Ihnen noch eines: Das internationale Seerecht ist eine komplexe Materie, aber es lohnt sich, sich mit ihr zu beschäftigen. Es gibt in diesem Hause in der F.D.P., in der CDU/CSU, in der SPD eine Reihe von Kollegen, die sich der komplizierten Sacharbeit nicht entziehen, und die trifft man dann auch auf einschlägigen Konferenzen. Von der PDS habe ich da noch niemanden gesehen, aber hier bei Geschäftsordnungsdebatten. ({4}) Manfred Richter ({5}) Meine Damen und Herren von der PDS, Sie entziehen sich, wenn es darum geht, zur Sache zu arbeiten. Sie wollen hier eine Show abziehen. Wir machen das nicht mit. Wir lehnen Ihren Antrag ab. ({6})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Haus sollte der PDS dankbar sein, daß sie auf diese Weise heute früh gleich für Stimmung gesorgt hat. Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die Aufsetzung des gesamten Antrags der Gruppe der PDS/Linke Liste? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Simme? - Die Aufsetzung des gesamten Antrags ist von der Mehrheit des Hauses gegen fünf Stimmen abgelehnt. Wer stimmt dafür, die Nr. 4 des Antrags aufzusetzen? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Auch dieser Antrag ist abgelehnt. Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit ({0}) - Drucksache 12/5262 - b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Entgeltfortzahlungsgesetzes - Drucksache 12/5263 Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache drei Stunden vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Julius Louven. ({1})

Julius Louven (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zugegeben, es war eine schwere Geburt. Aber es war keine Zangengeburt, bei der das Kind, die Pflegeversicherung, Schaden genommen hätte. ({0}) Insofern ist der heutige Tag ein guter Tag für die Pflegebedürftigen in der Bundesrepublik Deutschland. ({1}) Wir haben einen langen Weg hinter uns. Zunächst ging es um das System: Privatversicherung im Kapitaldeckungsverfahren oder Umlageverfahren oder irgend etwas dazwischen. Genau vor einem Jahr haben wir dann in der Koalition beschlossen, daß es eine Sozialversicherung geben wird. Wir haben ferner beschlossen, daß die Gesamtbelastung der Wirtschaft durch die Einführung der Pflegeversicherung nicht steigen darf. ({2}) Nach hartem Ringen in der Koalition, aber auch in der CDU/CSU-Fraktion liegt nun der Gesetzentwurf auf der Basis dieser Beschlüsse vor. ({3}) Eine fünfte Säule in der sozialen Sicherung wird eingeführt, organisatorisch unter dem Dach der Krankenversicherung. Häusliche Pflege hat Vorrang. Die Einführung erfolgt in zwei Stufen. Dies halte ich vor allem deshalb für wichtig, damit die Bürger zunächst einmal kennenlernen, welche Leistungen und Hilfen im ambulanten Bereich gewährt werden. Dies ist auch deshalb wichtig, damit sich nicht eine Tendenz einschleicht, die einem Abschieben ins Heim um jeden Preis Vorschub leistet.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Kollege Louven, der Kollege Seifert würde gern eine Zwischenfrage stellen.

Julius Louven (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Bitte.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Louven, wie wollen Sie ernsthaft glauben machen, daß häusliche Pflege Vorrang hat, wenn dafür maximal nur 1 200 DM gezahlt werden, für das Heim aber 2 100 DM?

Julius Louven (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Kollege, nun habe ich gerade erst angefangen. Ich werde sicherlich im Laufe meiner Rede noch auf die Leistungen eingehen; dies wird schwerpunktmäßig allerdings der Minister tun. Ich denke, wir können in dieser Debatte klarmachen, daß das, was ich hier ausgeführt habe, richtig ist und daß wir das auch umsetzen werden. ({0}) Es werden nicht alle Wünsche erfüllt werden können. Die Absicherung stellt eine Grundsicherung dar, wobei ich darauf hinweise, daß wir einen zusätzlichen Sonderabgabenabzug für Vorsorgeaufwendungen in der Pflege einführen. Wichtig ist meiner Meinung nach, daß für Privatpflegende eine Rentenversicherung und eine Unfallversicherung vorgesehen sind. Über den Beitrag entscheidet zukünftig der Gesetzgeber. Über Anpassungen der Leistungshöhe wird im Wege der Verordnung entschieden. Diese Pflegeversicherung verwirklicht eine einnahmeorientierte Ausgabenpolitik, d. h. die Leistungen werden gedeckelt. Versicherungspflicht besteht für alle. Die Pflegeversicherung folgt der Krankenversicherung. Wer jetzt in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert ist, wird dort pflegeversichert sein. Gleiches gilt für die Personen, die in der Privatversicherung krankenversichert sind. Die Kompensation war für uns ein schwieriges Problem. Der Kollege Dreßler nennt sie Skandal. ({1}) Nach Meinung der SPD ist eine Kompensation nicht notwendig. ({2}) Ich komme darauf aber noch zu sprechen. Mit der Änderung des Lohnfortzahlungsgesetzes werden wir bis zu sechs Karenztage einführen, wofür wahlweise Urlaub genommen werden kann. An dieser Stelle darf man ja vielleicht einmal darauf hinweisen, daß der Durchschnittsurlaub vor 20 Jahren 15 Tage betrug, während es heute 30 Tage sind. ({3}) Wir sehen in der Einführung von Karenztagen ein Steuerungselement gegen mißbräuchliche Krankschreibungen. ({4}) - Herr Kollege Büttner, wenn Sie doch nur mal ein bißchen ruhig sein könnten. Ich habe nichts gegen Zwischenrufe, aber Sie bleiben ja dran, und man kann da überhaupt nicht mehr folgen. Um es einmal vereinfacht zu sagen: Sie stören nicht nur den Redner, sondern wahrscheinlich sogar Ihre eigenen Kollegen. Dies ist kein Eingriff in den Kernbestand der Tarifautonomie, sondern ein Beitrag zum Umbau des Sozialstaats. Im übrigen ist die Lohnfortzahlung die einzige Zahlung in der Sozialgesetzgebung, die zu 100 % gewährt wird. Wir sollten in diesem Zusammenhang auch einmal sehen, wie sich das Verhalten beim Krankschreiben in den letzten Jahren geändert hat. 1970 machte die Zahl der Kurzzeiterkrankungen von ein bis drei Tagen 5 % aus. Heute liegt sie bei 25 %. Es ist auch bemerkenswert, daß der Krankheitsbeginn zu einem hohen Prozentsatz an einem Montag ist und daß das Krankheitsende zu einem noch höheren Prozentsatz an einem Freitag ist. Meine Damen und Herren von der SPD, wer von vornherein den Umbau des Sozialstaats als sozialen Abbau bezeichnet, um zu blockieren, handelt meiner Meinung nach verantwortungslos. ({5}) Das, was wir hier in der Frage der Kompensation tun, ist auch ein Beitrag zur Sicherung des Standorts Deutschland. Sie sollten einmal vergleichen, was andere westeuropäische Länder in den letzten Monaten getan haben, obwohl sie nicht wie wir die deutsche Einheit zu schultern haben. Es gibt ja inzwischen auch bemerkenswerte Zitate von führenden SPD-Politikern, die durchaus einsehen, daß es nicht so weitergehen kann wie bisher. Frau Matthäus-Maier, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, hat auf einer großen Veranstaltung des Handwerks in Düsseldorf erklärt ({6}) - sie war dort die Festrednerin -, ({7}) daß die Pflegeversicherung zwar kommen muß, daß aber die Belastung der Wirtschaft nicht weiter steigen darf. Wie recht sie hat! ({8}) Es kann nicht angehen, meine ich, meine Damen und Herren von der SPD, daß Sie in großer Besetzung zum Zentralverband des Deutschen Handwerks marschieren und anschließend in Presseerklärungen verdeutlichen, daß die Lohnnebenkostenentwicklung inzwischen bedenklich geworden sei, ({9}) wenn Sie auf der anderen Seite nicht bereit sind, daraus auch Konsequenzen zu ziehen. ({10}) In dieser Frage, meine Damen und Herren, geht es auch um die Sicherung von Arbeitsplätzen. Selbst die AWO hat inzwischen eine Stellungnahme des Inhalts herausgegeben, daß dieser Entwurf eines Pflege-Versicherungsgesetzes ein guter ist. ({11}) - Ich kann sie Ihnen vorlesen, Frau Weiler! ({12}) - Ja, ich habe sie mitgebracht. ({13}) Ich habe auch mitgebracht, was andere führende SPD-Politiker gesagt haben. ({14}) Die AWO hat erklärt: „Daß angesichts der heutigen wirtschaftlichen Situation ein weiterer Anstieg der Lohnnebenkosten vermieden werden soll, ist zumindest verständlich. " ({15}) Dann schreibt sie weiter: „Die Einführung der Pflegeversicherung mit dem Ausgleich zu verknüpfen, daß die Arbeitnehmer im Krankheitsfall entweder zwei Tage auf Lohn verzichten oder Urlaub einbringen, ist sicherlich keine Ideallösung. Einen Angriff auf den Sozialstaat sehe ich hierin jedoch nicht." ({16}) Meine Damen und Herren, bei der Kompensation - das erkläre ich hier für mich - sind wir auch für die Streichung von Feiertagen offen. ({17}) Länder, Kirchen, Tarifpartner müssen sie ermöglichen. Es geht nicht an, daß wir noch einmal ein Jahr verhandeln müssen. ({18}) Sollte es zu einer Kompensation über Feiertage kommen, bleibt für uns die mißbräuchliche Krankschreibung auf der Tagesordnung. ({19}) An dieser Stelle sage ich: Dabei geht es nicht nur um die, die sich krankschreiben lassen, sondern auch um die, die krankschreiben. Beamte und Abgeordnete werden in die Karenztageregelung einbezogen, wobei dies für die Abgeordneten nicht in diesem Gesetz geschieht, sondern hieran arbeitet die Rechtsstellungskommission des Bundestags. Meine Damen und Herren, vieldiskutiert sind die demographischen Risiken in der Pflegeversicherung. Es sind auf der demographischen Entwicklung basierende Beitragshöhen genannt worden, die ich nicht nachvollziehen kann. Die demographischen Risiken sind um so geringer, denke ich, je besser die Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland ist. Daran sollten wir alle gemeinsam arbeiten. Übrigens zahlen auch die Rentner Beiträge, was zu einer Minimierung des demographischen Risikos beiträgt. Im übrigen darf ich darauf hinweisen, daß wir durch eine gezielte Rehabilitation verhindern wollen, daß allzuviel Heimpflege notwendig wird. Es gilt Pilotprojekte von seiten des Arbeitsministeriums, in denen Tagespflege, Nachtpflege und Rehabilitation getestet werden. Ich verspreche mir hiervon eine ganze Menge. Der Gesetzentwurf der SPD, den Herr Dreßler in diesen Tagen immer wieder feierte, ist mit einem Beitragssatz in Höhe von 1,4 %, wenn auch bei einer höheren Beitragsbemessungsgrenze, nicht finanzierbar, Herr Dreßler. Ich habe Ihnen dies wiederholt vorgerechnet ({20}) und könnte dies auch jetzt wieder tun. Sie sollten in dieser Frage wirklich seriöser diskutieren. Wenn Sie Ihre Leistungen nicht deckeln und wenn Sie im Bereich der ambulanten Pflege die Zahlen verwirklichen wollen, die in Ihrem Gesetzentwurf stehen, brauchen Sie wenigstens 6 Milliarden DM, wenn nicht 8 Milliarden DM mehr und sind dann auf einer völlig anderen Beitragshöhe, als Sie jetzt mit 1,4 % vorgeben. Wenn Sie, Herr Dreßler, wiederholt erklären, der CDU/CSU-F.D.P.-Gesetzentwurf zur Pflege verdiene den Namen Pflegeversicherung nicht, so kann ich darauf nur mit einem Zitat antworten: Es ist leichter Kritik zu üben, als recht zu haben. ({21}) Auf uns Sozialpolitiker, meine Damen und Herren, kommt in den nächsten Monaten eine Menge Arbeit zu; denn es ist ein ehrgeiziges Ziel, den ersten Schritt der Pflegeversicherung zu Beginn des nächsten Jahres in Kraft zu setzen. ({22}) - Ich habe doch gerade etwas zu Ihrem Gesetzentwurf gesagt, Frau Kollegin. Ich kann mir nicht ernsthaft vorstellen, daß Sie daran glauben, daß Ihr Gesetzentwurf das hält, was Sie nach draußen verkünden. ({23}) Ich wäre bereit und in der Lage - das habe ich ja gerade gesagt -, Ihnen ganz leicht vorzurechnen, daß Sie mit Ihrem Gesetzentwurf das, was Sie versprechen, nicht halten können. Statt gegen unseren Gesetzentwurf zu polemisieren, Frau Kollegin Weiler, sollten Sie mit uns zusammenarbeiten. Jetzt stellt sich die Frage, ob unsere Gesellschaft noch zur Solidarität fähig ist. ({24}) Diese Frage, Herr Büttner und Frau Matthäus-Maier, richtet sich auch an die SPD. Ich lade Sie ein, mit uns zusammen die Pflegeversicherung zu verwirklichen. ({25})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Rudolf Dreßler. ({0})

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach nunmehr zweijähriger, meist quälender Diskussion haben sich die Koalitionsparteien auf einen Vorschlag verständigt, von dem sie behaupten, er werde zukünftig eine soziale Absicherung gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit bewerkstelligen. Diese Behauptung geht allerdings fehl. Das heute zur ersten Beratung anstehende Gesetz über die Einführung einer gesetzlichen Pflegeversicherung ist sozialpolitisch unzureichend, es ist von seinem Leistungsrahmen her kümmerlich, es ist in seiner Finanzierung unsolidarisch und es ist systematisch wenig durchdacht. ({0}) Die Koalitionsfraktionen, meine Damen und Herren, verbinden mit dem Gesetz über die Pflegeversicherung ein sogenanntes Entgeltfortzahlungsgesetz. Das ist ein bemerkenswerter Titel; denn dieses Gesetz regelt nicht - wie die Überschrift glauben machen will -, wann denn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern das Entgelt fortgezahlt wird, sondern es regelt, wann es ihnen nicht fortgezahlt werden soll. Hier liegt die Täuschung also schon in der Überschrift. Ich darf Ihnen versichern: Der Versuch, durch semantische Kunstgriffe von sozialen Grobheiten abzulenken, wird Ihnen nicht gelingen. ({1}) Wenn CDU/CSU und F.D.P. mit ihrem Entgeltfortzahlungsgesetz für Angestellte nach mehr als 60 Jahren und für Arbeiter nach mehr als 30 Jahren wieder Karenztage einführen wollen, helfen weder Kunstgriffe noch Ablenkungsmanöver. Dieser Versuch gefährdet den sozialen Frieden, und er mutet unserem Land in schwieriger Zeit eine gesellschaftspolitische Belastungsprobe zu, die es in sich haben wird. Die SPD wird alles in ihren Kräften Stehende tun, um diesen Plan zum Scheitern zu bringen. ({2}) Der Sozialminister, meine Damen und Herren, der von den auseinanderstrebenden Kräften seiner Koalition in den vorangegangenen zwei Jahren in Sache Pflege wie ein Tanzbär am Nasenring durch die politische Manege geführt wurde, ({3}) appelliert im Zusammenhang mit der Wiedereinführung der Karenztage seit längerem an die Opferbereitschaft der Menschen: Es lohne sich, dieses Opfer zu bringen, um das Los der Pflegebedürftigen zu verbessern. - Es ist reichlich dreist, denke ich, ausgerechnet die Sorgen kranker Menschen gegen die Not von Pflegebedürftigen auszuspielen. ({4}) Ich füge hinzu: Mit einer solchen Regelung wird einer sozialen Perversion das Wort geredet. Es gehört schon ein gehöriges Maß an Verdrehungskunst dazu, so zu tun, als brächten kranke Menschen mit den Karenztagen ein Opfer für die Pflegebedürftigen. Wahr hingegen ist folgendes: Die Pflegebedürftigen haben nichts davon, Nutznießer sind einzig und allein die Arbeitgeber. Ich frage Sie, Herr Blüm, warum Sie eigentlich die Menschen in dieser Art und Weise täuschen. ({5}) Es muß in den letzten Tagen bei Ihnen sehr wohl gedämmert sein, was Sie damit anrichten. Ansonsten kann ich mir Ihren Ausrutscher am letzten Sonntag in einer Fernsehsendung nicht erklären, als Sie das deutsche Volk für verkalkt und borniert erklärten, weil es dieses Spiel von Ihnen und Ihren Parteifreundinnen und Parteifreunden wohl durchschaut hat. Man wolle mit den Karenztagen gegen das Blaumachen angehen, ist auch so eine Redensart, die wir gerade wieder gehört haben. Niemand bestreitet, meine Damen und Herren, daß es Blaumacher gibt. Mißbrauch gibt es überall in einer demokratischen Gesellschaft. Nur diese trifft man nicht, damit das klar ist, mit Karenztagen; denn die gehen dann wieder arbeiten. Übrig bleiben kranke Menschen. Sie allein haben die Zeche in Mark und Pfennig zu bezahlen, die CDU/CSU und F.D.P. ihnen heute servieren. ({6}) Nun wollen Sie mit den Karenztagen den Arbeitgebern ihren Beitragsanteil zur Pflegeversicherung zurückerstatten. Es gibt unterschiedliche Zahlen über die finanziellen Auswirkungen; sie schwanken zwischen 8 und 13 Milliarden DM. Wenn Herr Blüm kranken Menschen Löhne und Gehälter in Milliardenhöhe vorenthalten will: Hat er Herrn Waigel gesagt, daß er auf Milliarden an Steuern verzichten muß und Herr Seehofer auf Hunderte von Millionen DM an Beitragseinnahmen in der Krankenversicherung? Hat die Koalition eigentlich im eigenen Hause nachrechnen lassen, wieviel Beiträge sie in der Renten- und Arbeitslosenversicherung verlieren wird? Nicht nur gesellschaftspolitisch, sondern auch finanzpolitisch stiften Karenztage allenfalls Unheil. Ich kann noch einen Effekt nennen, den Sie erreichen werden: Der Arbeitnehmer, der zwei Tage zu Hause bleibt, um seine Grippe auszukurieren, wird zukünftig zum Arzt gehen und von dort mit einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung über eine Woche zurückkommen. So ist das, wenn man den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Verantwortung nimmt und sie einfach bei Dritten ablädt. ({7}) - Sie sollten öfter die Fachpresse lesen. Mittlerweile haben sich ganze Reihen von Ärzten und auch Ärzteorganisationen ebenfalls in dieser Hinsicht geäußert. Die müssen es schließlich wissen. ({8}) Ich denke, auch der Kollege Cronenberg wird möglicherweise genau daran gedacht haben. Wenn sich nämlich der Kollege Cronenberg von der F.D.P. sehr massiv gegen die Einführung von Karenztagen wehrt, so denke ich, da er mittelständischer Unternehmer ist, daß er weiß, wovon er redet. ({9}) CDU/CSU und F.D.P. haben sich mit ihrem Versprechen, den Arbeitgeberbeitragsanteil an der Pflegeversicherung zurückzugeben, einen Mühlstein um den Hals gelegt, den sie bis heute noch nicht wieder losgeworden sind. Was haben Sie uns dazu in den vergangenen zwei Jahren nicht alles an Kürzungen angeboten und an Klimmzügen vorgeführt? Was mich dabei jedoch am meisten erbost, ist die Tatsache, daß Sie es mit Ihrer unsinnigen Diskussion geschafft haben, ein zentrales Anliegen jeder humanen und solidarischen Gesellschaft, nämlich die Absicherung bei Pflegebedürftigkeit, allein zu einer Frage der Finanzen zu verbiegen. Die Finanzierbarkeit ist eine wichtige Frage. Das gilt erst recht in schwieriger Zeit. Diese Frage aber zum gesellschaftspolitischen Maß der Dinge zu machen, heißt, das damit verbundene Anliegen einer benachteiligten Minderheit zu diskreditieren. Das bedeutet, Menschen, die Hilfe brauchen, das Gefühl zu geben, sie seien Ballast. Herr Blüm, wie vereinbaren Sie ein solches Verhalten mit Ihren üblichen Reden, in denen Sie mit Augenaufschlag und Tremolo doch immer für die Pflegebedürftigen und ihre Interessen werben? ({10}) Die Wahrheit ist: Unsere Gesellschaft kann sich eine humane und angemessene Absicherung bei Pflegebedürftigkeit leisten. Die Wahrheit ist: Sie will das auch, aber sie will, daß es bei der Aufbringung der notwendigen Leistungen gerecht zugeht, ohne giftige Mixturen oder Tricks à la Karenztage. ({11}) Die Wahrheit ist schließlich: Sie will an der Aufteilung der Beitragsleistungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern nichts verändern. Vor allem will sie unter keinen Umständen, daß die Pflegeversicherung als Probelauf für einen Ausstieg der Arbeitgeber aus den Finanzierungsverpflichtungen für die Sozialversicherung mißbraucht wird. ({12}) Das Zentrum der Kritik an den Gesetzesprojekten von CDU/CSU und F.D.P. auf die Wiedereinführung von Karenztagen, also auf das Entgeltfortzahlungsgesetz, zu richten, mag auf den ersten Blick verständlich sein, liegt doch hier ein gesellschaftspolitischer Sprengsatz erster Ordnung vor. Eine eingehende Beschäftigung mit der inhaltlichen Ausgestaltung des anderen Teils, also des Pflegegesetzes, lohnt jedoch allemal. Ich lade jeden ein, eingehend die Inhalte dieses Gesetzentwurfs zu prüfen und festzustellen, für was eigentlich kranken Menschen die Opfer, von denen Herr Blüm immer spricht, abgezwungen werden sollen. Die SPD-Fraktion hat dies getan, und unser Urteil steht fest: Eine solche Pflegeversicherung, wie CDU/ CSU und F.D.P. sie wollen, nämlich von anderen Opfer und Einschränkungen zu verlangen, grenzt an sozialpolitischen Betrug. ({13}) Jeder muß wissen: Für ein solches Gesetz steht die deutsche Sozialdemokratie nicht zur Verfügung. ({14}) Ich kann nur jeden auffordern, den seit zwei Jahren von der Koalition sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat blockierten SPD-Vorschlag zur Plegeversicherung mit dem der Koalition zu vergleichen. Da fällt zuallererst der Unterschied beim Kreis der Mitglieder auf: Die SPD will, daß alle Bürgerinnen und Bürger Mitglied in einer gesetzlichen Pflegeversicherung werden. CDU/CSU und F.D.P. wollen, daß nur diejenigen in der gesetzlichen Pflegeversicherung Mitglied werden, die bereits Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung sind. ({15}) „Pflegeversicherung folgt Krankenversicherung" heißt das Motto, das, wie es der Zufall will, ein besonders inniges Anliegen der privaten Versicherungswirtschaft ist. Dabei weiß doch jeder: Je kleiner die Solidargemeinschaft, desto höher für jeden einzelnen die Beiträge. Es geht nicht darum, wie besonders immer wieder die F.D.P. behauptet, Gutverdienende zu Pflichtmitgliedern in der Pflegeversicherung zu machen und ihnen dadurch Versicherungsleistungen nachzuwerfen, die sie genausogut selbst bezahlen könnten. Es geht darum, auch Gutverdienende als Beitragszahler für den Solidarausgleich in der Pflegeversicherung heranzuziehen; denn ohne sie würde er nicht funktionieren. ({16}) Daß Graf Lambsdorff und wir alle hier aus Bonn unsere Pflege selbst bezahlen können, weiß jeder. Aber wir werden in der gesetzlichen Versicherung als Mitglieder gebraucht, damit für Otto Schulze aus Luckenwalde in der Pflegeversicherung Beiträge gelten, die er auch tragen kann. Eine Pflegeversicherung, bei der die finanziell weniger Gutgestellten allein bleiben, sich also gleichsam die Leistungen gegenseitig selbst bezahlen müssen, brauchen wir nicht. Eine solche Versicherung ist überflüssig. ({17}) Genau diesen Weg gehen CDU/CSU und F.D.P. Sie schaffen unter Vorgabe von populistischen Pseudogründen Sonderrisikogemeinschaften, bei denen die finanziell guten Risiken zu günstigen Konditionen ebenso unter sich bleiben wie die finanziell weniger guten zu schlechteren Konditionen. Damit kein Zweifel besteht: Die SPD wird dieses Modell der sozialen Spaltung nicht akzeptieren. ({18}) Der zweite Unterschied liegt in der Art und Weise, wie die Beiträge zur Pflegeversicherung festgelegt werden. Die Koalition will sie gesetzlich festlegen, die SPD durch die Selbstverwaltung. Was auf den ersten Blick wie eine wenig wichtige Formalie aussieht, hat weitreichende Folgen für die Wirksamkeit der sozialen Schutzfunktion einer Pflegeversicherung. Der Effekt liegt nämlich auf der Hand: Wenn der gesetzlich festgelegte Leistungsrahmen mit einem per Gesetz oder Verordnung bestimmten Beitragssatz nicht finanziert werden kann, dann werden Leistungen gekürzt. Vor allem die F.D.P. macht kaum ein Geheimnis daraus, daß genau dies gewünscht ist. Der Leistungskatalog der Pflege soll zur Disposition eines politisch zu bestimmenden Beitragssatzes gestellt werden. Mit den objektiven Hilfsbedürfnissen der Pflegebedürftigen, die doch weder von finanzpolitischen Vorgaben noch von Konjukturdaten oder -entwicklungen abhängen, hat das alles nichts zu tun. Das ist Sozialpolitik nach Kassenlage, die die SPD nicht mitmacht. ({19}) Der dritte Unterschied liegt in der Höhe des in der Pflegeversicherung beitragspflichtigen Einkommens. Die Koalition will Einkommen bis zur Höhe der für die Krankenversicherung geltenden Grenze von 5 400 DM im Monat heranziehen. Die SPD will jene Grenze, die für die Rentenversicherung gilt; sie liegt bei 7 200 DM im Monat. Auch hier gilt, was bereits die von der Koalition angestrebte Begrenzung des Mitgliederkreises bedeutet: Das niedrigere beitragspflichtige Einkommen in der Regierungsvorlage behindert den Solidarausgleich.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Dreßler, der Kollege Seifert würde gern eine Zwischenfrage stellen.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Seifert, kann ich eben den Gedanken zu Ende führen? - Auch hier gilt, was bereits die von der Koalition angestrebte Begrenzung des Mitgliederkreises bedeutet: Das niedrigere beitragspflichtige Einkommen behindert den Solidarausgleich. Um höhere Einkommen zu schonen, belastet die Koalition die niedrigeren Einkommen mit relativ höheren Beiträgen, obwohl doch im vergleichbaren Fall für alle die gleichen Leistungen fällig werden. So etwas hat weder mit sozialer Gerechtigkeit noch mit Solidarität zu tun. Das ist schlicht deplaciert, weil es finanziell diskreditiert. ({0})

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Dreßler, Ihren Gedanken, die etwas besser Verdienenden heranzuziehen, greife ich gern auf. Aber wäre es nicht konsequent, dann wirklich alle Einkommen ohne Begrenzung nach oben heranzuziehen, so daß man, je mehr man verdient, auch um so mehr für die Pflegeversicherung einzahlt? Das wäre über die Steuer am leichtesten.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich will Ihnen ausdrücklich zustimmen, daß dieser Gesichtspunkt bei allem, was uns dazu gebracht hat, Pflege als notwendige, in das Gesetz zu integrierende Maßnahme zu regeln, was die Gerechtigkeit betrifft, am gerechtesten wäre: jeder im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit in einer Solidargemeinschaft. Wer wollte das bestreiten? Nur, Herr Seifert, ich gestehe Ihnen ganz freimütig ein: Wenn ich Überlegungen anstelle, wie so etwas gemacht werden soll, denke ich auch an die Machbarkeit. Ich habe beispielsweise in der gesundheitspolitischen Runde den Vorschlag gemacht, die Grenze in der Krankenversicherung nur um 300 DM zu erhöhen, um ganz bestimmte Rentneranteile nicht in die damalige Maßnahme integrieren zu müssen. Wir hatten noch nicht einmal mit 300 DM diese Möglichkeit. Nun stellen Sie sich einmal vor, wir würden sagen: Wir lockern die Grenze oder erhöhen sie auf 10 000 DM oder wie auch immer. Das hätte zur Zeit in diesem Parlament nicht den Hauch einer Chance. Darum haben wir uns auf die Grenze in der Rentenversicherung konzentriert, weil sie bereits gesetzgebenden Charakter hat und weil diese Grenze im Prinzip von der Bevölkerung und von der Politik akzeptiert ist. Das war der Hintergrund. Meine Damen und Herren, der vierte Unterschied liegt in dem von der Koalition geplanten verzögerten Inkrafttreten der Pflegeversicherung. Ambulante Pflegeleistungen soll es ab 1994, stationäre ab 1996 geben. Dabei ist doch klar: Diejenigen, die am dringendsten der Hilfe bedürfen, sind die in den Pflegeheimen untergebrachten Mitbürgerinnen und Mitbürger. Sie sind es doch, denen unsere Gesellschaft für ihre Aufbauleistungen dadurch dankt, daß sie ihnen im Falle der Pflegebedürftigkeit den Status eines Taschengeldempfängers zuweist. Sie sind es doch, deren Lebensleistung mit dem amtlichen Siegel „Kann finanziell nicht selber für sich sorgen" versehen wird. Bei aller körperlichen Beschwernis, die diese Menschen ohnehin zu ertragen haben - können wir uns wirklich vorstellen, welche Wirkungen eine derartige soziale Deklassierung in ihrer Psyche anrichtet? Ist es denn nicht allzu verständlich, wenn solche Menschen, erst recht, wenn sie selbst bei guten Rentenansprüchen noch von ihren Angehörigen unterstützt werden müssen, ihr Lebenswerk für gescheitert halten, obwohl sie doch eigentlich gar nicht gescheitert sind, sondern, objektiv gesehen, recht ansehnliche Einkünfte hatten? Zwei Jahre haben die Koalitionsparteien über Pflege geredet und geredet. Sie haben nichts zuwege gebracht, obwohl ein vernünftiger Gesetzentwurf im Bundestag vorlag; aber der hatte ja den politischen Makel, von der SPD zu sein. ({0}) Und jetzt wollen Sie den Betroffenen noch einmal zwei Jahre des Wartens zumuten! Ich nenne dies eine gesellschaftspolitische Brüskierung hilfsbedürftiger Minderheiten und deren berechtigter Anliegen. ({1}) Die Menschen haben lange genug gewartet. Sie brauchen jetzt Hilfe. Machen Sie sie also nicht länger zum Opfer Ihrer politischen Zerstrittenheit und Gestaltungsunfähigkeit. Der Sozialminister zieht durch die Lande mit der Bemerkung, die Pflegekraft der Familie müsse gestärkt werden, deshalb habe ambulante Pflege Vorrang. ({2}) Das ist geschenkt. Das konnten Sie schon seit zwei Jahren in unserem Gesetzentwurf nachlesen. Daß Sie heute schon auf die Idee gekommen sind, macht mich in der Tat froh. ({3}) Aber seit wann ist denn das eine Entschuldigung dafür, meine Damen und Herren, für die am meisten Bedrängten in den Heimen zunächst einmal wieder nichts zu tun? Das ist doch der Kernpunkt der Auseinandersetzung. ({4}) Damit bin ich beim fünften Unterschied. Glauben Sie wirklich, Herr Blüm, Sie könnten die Pflegekraft der Familien dadurch stärken, daß Sie ihnen ein nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit gestaffeltes monatliches Pflegegeld von 400 DM, 800 DM oder 1 200 DM gewähren? Man muß doch kein Fachmann sein, um festzustellen, daß das weit weniger als das Notwendige ist. Die Pflegeversicherung ist doch dazu gedacht, unzureichende Zustände zu überwinden, nicht aber dazu, sie durch andere - teilunzureichende - Zustände zu ersetzen. Geradezu als skandalös - das ist der sechste, besonders gewichtige Unterschied - stellt sich der Leistungskatalog des Koalitionsentwurfs bei stationärer Pflege dar. Nicht nur, daß eine abermalige zweijährige Vertagung schon für sich ein Stück Ungerechtigkeit bedeutet, die von der Koalition vorgesehene Begrenzung der Leistungen auf 2 100 DM pro Monat ist - im Sinne des Wortes - jämmerlich. ({5}) Die durchschnittlichen Heimpflegeplätze in Deutschland nähern sich der 5 000-DM-Grenze, oder sie sind schon weit darüber. Der pflegebedingte Anteil daran, der von der Versicherung zu tragen wäre, nähert sich der 3 000-DM-Grenze. Wie sollen da die von der Koalition vorgesehenen 2 100 DM eigentlich weiterhelfen? ({6}) Diese Obergrenze wirkt als sozialpolitische Guillotine. Die Lage der Mehrzahl der Pflegebedürftigen wird sich nicht ändern. Sie werden bleiben, was sie sind: auf Sozialhilfe angewiesen und damit Taschengeldempfänger. ({7}) Herr Louven, ich habe zwar schon viermal versucht, Ihnen deutlich zu machen, welchem Irrtum Sie bei Ihrer Berechnung bezüglich unseres Gesetzentwurfes unterliegen. Sie haben zwei Jahre Zeit gehabt, das nachzuprüfen. Aber ich will von dieser Stelle aus noch einmal versuchen, Ihnen auf die Sprünge zu helfen. Der Gesetzentwurf der Koalition geht von einer monistischen Finanzierung aus. Diesen Grundgedanken habe ich nicht zu kritisieren. Ich habe mich gerade über die Höhe ausgelassen. Wenn Sie im SPD-Gesetzentwurf nachlesen, werden Sie feststellen, daß das bei uns nicht der Fall ist. Deshalb sind die Finanzierungsaufwendungen der Teile für Pflege auf einer völlig anderen Grundlage zu berechnen. Das ist auch der Grund, Herr Louven, warum Ihr Sozialminister, Herr Blüm, innerhalb von zwei Jahren nie - bis zu dieser Minute jedenfalls - auch nur einen einzigen Halbsatz über die angebliche Unkorrektheit der Berechnungen unseres Gesetzentwurfs geäußert hat. Mit anderen Worten, Herr Blüm wußte es, aber bis zu Ihnen, Herr Louven, hat es sich nicht herumgesprochen. Aber heute haben wir ja auch eine Lehrstunde im Deutschen Bundestag. ({8}) Ich will Ihnen zum Schluß folgendes sagen. ({9}) CDU/CSU und F.D.P. wissen, daß ein Pflegegesetz ohne die Zustimmung der SPD nicht zustande kommen wird, denn die unterschiedlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat schließen das aus. ({10}) Die Koalition muß dazu zweierlei in Rechnung stellen. Erstens. Zu Ihrem gesetzgeberischen Kümmerling, genannt Pflegeversicherung, wird es eine Zustimmung der SPD nicht geben. ({11}) Maßstab für unsere Entscheidung ist der Gesetzentwurf der SPD mit seinen inhaltlichen Vorgaben im Bundestag und im Bundesrat. Zweitens. Die Koalition gefährdet die Verwirklichung der Pflegeversicherung in dieser Wahlperiode, sollte sie an ihrer Karenztagsperversität festhalten. ({12}) Damit kein Mißverständnis besteht: Die SPD wird Karenztage in keinem Falle akzeptieren. Da können Sie Gesetzgebungstricks anwenden, wie Sie wollen. ({13}) Richten Sie sich also auf folgendes ein: Die Sozialdemokratie hat der Koalition Gespräche zur gemeinsamen Lösung der Pflegeproblematik in den letzten zwei Jahren mehrfach angeboten. Sie sind am Widerstand der CDU/CSU, nicht am Widerstand der F.D.P. gescheitert. ({14}) Ein drittes Angebot wird es von der SPD nicht geben. Sollte die Koalition von sich aus meinen, der SPD Gesprächsangebote machen zu sollen, so will ich keinen Zweifel daran lassen: Ohne daß die Karenztage fallen, wird es keine Gespräche geben. ({15}) Die SPD hat auch 1994 ein Wahlkampfthema „Pflegeversicherung" nicht zu fürchten. Im Gegenteil, wir haben saubere Karten und werden sie offensiv ausspielen. Ob das für die Koalition angesichts ihrer Vergangenheit auch zutrifft, muß sie selber beurteilen. Eines allerdings steht schon heute fest. Was uns die Koalition mit ihren Gesetzentwürfen an sozial giftigen Mixturen präsentiert hat, wird so das Bundesgesetzblatt nicht erreichen. Ich danke Ihnen. ({16})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zu einer Erklärung nach § 30 unserer Geschäftsordnung erteile ich dem Kollegen Dieter-Julius Cronenberg das Wort.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000342, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, ich möchte mich dafür bedanken, daß ich die Möglichkeit habe, eine Richtigstellung vorzunehmen. Kollege Rudolf Dreßler hat gemeint, daß es die Karenztage wären, die mich veranlaßten, das gesamte Gesetzesvorhaben abzulehnen. Er irrt. Ich lehne das ganze Gesetzesvorhaben ab, weil ich der Meinung bin, daß es dem gesetzten Ziel nicht dient, und ich glaube, daß der Titel, den das Gesetzesvorhaben trägt, falsch ist. Es ist kein Pflegegesetz; es ist ein Sozialhilfeträgerentlastungsgesetz. ({0}) Kollege Seehofer hat mit Recht einmal gesagt - wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht; ich hatte mich nicht auf die Rede einstellen können -: Profiteure sind hauptsächlich die Länder und die Kommunen. Es ist in einem gewissen Umfang - nicht die Karenztage sind es, die mich veranlassen, eine solche Stellungnahme abzugeben, sondern dieser Grund - ein Erbschaftssicherungsgesetz für die Generation der Erben, weil die Regreßansprüche nach dem Bundessozialhilfegesetz eingeschränkt werden. ({1}) Wenn Sie wollen, ist es - weil ich überzeugt bin, daß die Kostensteigerung unvermeidbar ist - auch ein Exportförderungsgesetz, ein Exportförderungsgesetz allerdings für Arbeit, die exportiert wird, nicht für Waren und Leistung, wie das notwendig ist. ({2}) Es sind also nicht, meine Damen und Herren, die Karenztage, die mich zu dieser Stellungnahme veranlassen. Ich glaube auch, daß der Kompensationsvorschlag unaufrichtig ist. Man behauptet, man vermeide Eingriffe in die Tarifautonomie. Diese Regelungen seien zulässig, weil man den Gesamtbereich regele. Aber man weiß: Man tut es nur aus einem Grund, der Kompensation. Auch das Bundesverfassungsgericht, meine Damen und Herren, arbeitet ja nicht im luftleeren Raum und weiß um den Zusammenhang. Also nicht die Karenztage sind es, sondern auch eine gewisse Mißachtung des Bundesverfassungsgerichts, die in dieser Konzeption liegt und die ich ablehne. Es ist auch die falsche Weichenstellung, und es sind nicht die Karenztage, die mich zu dieser Stellungnahme veranlassen, weil wiederum der Lohn zur Bemessungsgrundlage für die Abgabe gemacht wird. Beim Bruttosozialprodukt, meine Damen und Herren, sinkt der Anteil von Erträgnissen aus Lohn und Gehalt immer weiter, und der Anteil aus Kapitalerträgnissen steigt immer weiter - und das auch richtigerweise, weil Hand- und Kopfarbeit durch Computer und Maschinen ersetzt werden. Man belastet nun den Anteil, der weiter sinkt, und nicht den, der weiter steigt. Das ist eine Gefährdung des Generationenvertrages. ({3}) Ich bin überzeugt, Nell-Breuning würde sich im Grabe umdrehen, wenn er heute diese Vorlage sehen würde. Ein Caritas-Direktor - ich glaube, sein Name ist Berghaus - hat einmal gesagt: Dieses Gesetz ist eine unerhörte Schlamperei. - Ich füge hinzu, meine Damen und Herren: Ihnen wird vorgeschlagen, das Gesetz in den Ausschuß zu überweisen; ich persönlich bin überzeugt: Es ist Ausschuß. Es gehört in den Papierkorb. ({4}) Meine Damen und Herren, ich will nicht die gute Motivation der Handelnden bezweifeln. Ich bin überzeugt, verehrte Kolleginnen und Kollegen, daß Sie, die hier handeln wollen, aus guten Motiven handeln; aber so, wie ich dies anerkenne, meine Damen und Herren, bitte ich, auch denjenigen, die das Gesetz ablehnen, nicht soziale Kälte zu unterstellen. Auch sie wollen eine Pflegeversicherung, aber eine solide finanzierte Pflegeversicherung. Soziale Kälte zeigen, eiskalte Spekulanten sind jene, meine Damen und Herren, die nicht Erwirtschaftetes verteilen und die nächste Generation überbelasten. Das geschieht mit diesem Gesetz. Ich danke für Ihr Verständnis. ({5})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile dem Kollegen Dr. Hermann Otto Solms das Wort.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bedaure es, Herr Kollege Dreßler, daß Sie dem Kollegen Julius Cronenberg die Chance gegeben haben, seine persönlich abweichende Meinung so ausführlich darzulegen. Das war nicht verabredet; aber es war zulässig. ({0}) Wer aber die Einführung dieses Pflegegesetzes als soziale Perversion, als sozialpolitischen Betrug bezeichnet, Herr Dreßler, der zeigt, daß er die Zeichen der Zeit wahrlich nicht erkannt hat. ({1}) Wer glaubt, wir könnten neue soziale Leistungen auf unser sowieso schon überfordertes System einfach draufsatteln, ohne an die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft, ohne an die Arbeitsplätze zu denken, der ist nicht auf der Höhe der Zeit, ({2}) und er verbaut Brücken. Gerade durch den Ihnen eigenen Verbalradikalismus verbauen Sie sich Brükken zum Kompromiß, den wir immer wieder schließen müssen. Im übrigen nehme ich die Drohung, die Zustimmung der SPD würde nicht erteilt werden, nicht so ernst. Wir haben es in der Vergangenheit häufig erlebt, daß die SPD-Bundestagsfraktion ihre Zustimmung verweigert, aber mit den SPD-geführten Bundesländern dann vernünftige Kompromisse erzielbar sind. Das hat der Vermittlungsausschuß gerade gestern erst erwiesen. ({3}) Dr. Hermann Otto So1ms Ich will aber nicht verschweigen, daß die Einführung dieses Gesetzes für die F.D.P.-Fraktion ein sehr schwieriger, ein lange diskutierter und sehr hart diskutierter Prozeß war. Ich will den Verdächtigungen, die auch politisch erhoben worden sind, wir wollten eigentlich keine Pflegeversicherung, gleich begegnen. Wir wollten von Anfang an den pflegebedürftigen Menschen und den Personen, die die Pflege übernehmen und diese schwierige Aufgabe leisten, helfen, und zwar helfen im Rahmen dessen, was wir uns volkswirtschaftlich leisten können. Der Streit ging nicht um das Ob der Pflegeversicherung, sondern um das Wie, um die Art und Weise der Finanzierung dieser Pflegeversicherung, und dabei hatten wir Vorbehalte gegen das Umlageverfahren. Wir sind weiterhin der Meinung, daß es eigentlich besser wäre, persönlich Vorsorge zu treiben. In einem Land, in dem wir nicht am Punkt Null anfangen, in dem die meisten ein kleines Sparvermögen haben, ({4}) wäre es angemessen, daß jeder für sein individuelles Pflegerisiko selbst Vorsorge treibt und daß man diese Last nicht der nächsten Generation auferlegt, wie das beim Umlageverfahren geschieht. ({5}) Das ist einer der zentralen Nachteile des Umlageverfahrens. Darüber hinaus würde ein Kapitaldeckungsverfahren nicht die Arbeitsplätze belasten. Die Anbindung der Finanzierung der Pflegeversicherung an die Arbeitsplätze ist ein gravierender Fehler; denn sie erhöht die Lohnnebenkosten und belastet die Arbeitsplätze in Deutschland. Sie treibt im übrigen die Pflegekosten in die Höhe. ({6}) Das Kapitaldeckungsverfahren entspricht dem Subsidiaritätsprinzip, bei dem der einzelne und die Familie zunächst Eigenvorsorge für sich leisten müssen, bevor die Solidargemeinschaft eintritt. Schließlich zerstört nichts so sehr die Familienbande wie ein anonymes Finanzierungssystem, das gerade zum Abschieben in die Pflegeheime einlädt und auffordert. ({7}) All diese Argumente haben wir immer wieder nachdrücklich vorgetragen. In endlosen Diskussionen und Verhandlungsrunden haben wir auf die grundsätzlichen Nachteile des Umlageverfahrens hingewiesen, und man hat unseren Argumenten überhaupt nicht widersprochen. Das war das Interessante. Trotzdem, Herr Kollege Blüm, haben Sie darauf bestanden, daß das Umlagesystem eingeführt wird, und das hat uns schließlich in eine sehr schwierige Situation gebracht. ({8}) Schließlich und endlich, um sozusagen der Vernunft zu gehorchen - der Klügere gibt nach, sagt der Volksmund -, aber insbesondere, um die negativsten Auswirkungen eines reinen Umlagefinanzierungssystems zu vermeiden, haben wir unsere Mitwirkung nicht versagt; denn sonst hätte - das hat die Rede von Herrn Dreßler gerade wieder erwiesen - die große Mehrheit eines Teiles von CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS/Linke Liste im Deutschen Bundestag ein reines Umlageverfahren durchgesetzt - und darüber hinaus alle 16 Bundesländer. Das galt es zu verhindern: eine Umlagefinanzierung ohne Kompensation der Arbeitsplatzkosten, ohne Stärkung der Eigenverantwortung und des Familienverbandes und ohne Begrenzung der Kostendynamik.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Sohns, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Sohns, pflichten Sie mir bei, daß wir alle frustriert waren, die auf das Kapitaldeckungsverfahren gesetzt hatten, daß die Versicherungswirtschaft nicht in der Lage war, uns einen akzeptablen Vorschlag zu machen, der auch die Altfälle miteinbezieht, und daß wir deshalb dann teilweise dazu übergegangen sind, auf das Umlageverfahren zu setzen? ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Hinsken, wir können die Verantwortung nicht auf die Versicherungswirtschaft schieben. Ich darf nur auf die etwa zehn Kompromißmodelle verweisen, die Ihr Kollege Louven vorgelegt hat. Alle wären realisierbar gewesen. ({0}) Es gab keine Kompromißbereitschaft in diesem Punkt - das gilt nicht für Sie, aber für andere in Ihren Reihen; das müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen. ({1}) Die reine Umlagefinanzierung läuft, wie Sie alle wissen, nur unter Schönwetterbedingungen störungsfrei - bei hohen Wachstumsraten, bei hohem Beschäftigungsstand, bei einem ständigen Zustrom neuer, zusätzlicher Beitragszahler. Das ist gegenwärtig und in Zukunft nicht zu erwarten. Deswegen ging es darum, Grenzen zu ziehen, Hürden aufzurichten, damit die reine Umlagefinanzierung nicht Platz greifen kann. Wir wissen, daß gegenwärtig die Zahl der alten Menschen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung bei uns ansteigt, daß die Lebenserwartungen deutlich steigen und daß damit die Gefahr verbunden ist, daß auch immer mehr Menschen zu Pflegefällen werden können. Immer weniger Beitragszahler werden mit immer höheren Sozialabgaben belastet. So werden die Arbeitskosten zusätzlich erhöht, weitere Arbeitsplätze gehen verloren. Diesen Teufelskreis müssen wir durchbrechen - im Interesse der Arbeitnehmer, im Interesse der Sozialversicherung. Die F.D.P. konnte der umlagefinanzierten Pflegeversicherung daher nur unter sehr strengen Bedingungen zustimmen. Ziel war, das von der Koalition im vergangenen Jahr vereinbarte Pflegeversicherungsmodell wirtschaftlich tragfähig, dauerhaft leistungsfähig und humanitären Gesichtspunkten entsprechend auszugestalten. 14434 Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 168. Sitzung. Borm, Donnerstag, den 1. Juli 1993 Dabei standen für uns drei zentrale Fragen im Vordergrund: Wie läßt sich der Vorrang der häuslichen gegenüber der stationären Pflege sicherstellen? Wie können die der Wirtschaft entstehenden Zusatzkosten stabil und verläßlich kompensiert werden? Und wie kann das Pflegekonzept so ausgestaltet werden, daß es auch langfristig finanzierbar und tragfähig bleibt? Alle drei Fragen sind in dem vorliegenden Gesetzentwurf aus unserer Sicht gut, jedenfalls deutlich besser geregelt als im ursprünglichen Entwurf und natürlich erheblich besser als im SPD-Entwurf. ({2}) Für uns war ein zentrales Anliegen, daß wir auch einen zeitlichen Vorrang für die häusliche Pflege durchsetzen. Das ist nun gelungen, die Leistungen für die häusliche Pflege kommen zwei Jahre zuvor. Nur so wird es möglich sein, die Infrastruktur für die ambulante Pflege aufzubauen, die Sozialstationen flächendeckend zu gründen und das dafür notwendige Personal anzuwerben und auszubilden. Denn wir wissen: Die Menschen wollen, solange es geht - und wenn es geht, bis zum Ende ihres Lebens -, in ihrer häuslichen Umgebung bleiben. Wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, daß dieses auch möglich ist. ({3}) Keiner will in ein Pflegeheim abgeschoben werden. Heute ist es immer noch so, daß 80 % der Pflegefälle zu Hause gepflegt werden. Wir müssen nicht nur verhindern, daß dieser Anteil sinkt, wir müssen vielmehr erreichen, daß ein noch höherer Prozentsatz zu Hause gepflegt werden kann. ({4}) Den vielen zumeist weiblichen Pflegepersonen, die heute schon häufig über 60 Jahre alt sind, schulden wir einen besonderen Dank, denn sie erbringen die Hauptlast in diesem Zusammenhang. ({5}) Wir sollten dafür sorgen, daß die Leistungen, die diese Personen erhalten, deutlich verbessert werden können. Die zweite Bedingung war die einer Kompensation, um die Mehrbelastung der Wirtschaft im Sinne der Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen auszugleichen. Das Angebot der Union zur Kompensation durch zwei Karenztage, die auch als Urlaubstage angerechnet werden können, ist von uns aus gesehen rechnerisch stimmig. Auch die Wirtschaft hat in ihren Eingaben bestätigt, daß diese Kompensationslösung die Zusatzkosten jedenfalls gegenwärtig ausgleichen würde.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Solms, der Kollege Seifert würde gern eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte schön.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Sohns, meinen Sie allen Ernstes, daß es eine deutliche Verbesserung für die häufig weiblichen Pflegepersonen ist, wenn sie, die sie vielleicht schon jahrzehntelang diese sehr, sehr schwere Arbeit leisten, 400 bis 1 200 DM dafür bekommen sollen, daß sie unter Umständen 24 Stunden am Tag dasein müssen, und unter Umständen noch Landespflegeleistungen mit dieser Pflegeversicherung gestrichen werden? Halten Sie das tatsächlich für eine deutliche Verbesserung, oder haben Sie etwas gesagt, was Sie gar nicht verantworten können?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich halte das für eine ganz erhebliche Verbesserung, denn sie bekommen im Schwerstpflegefall nicht nur bis zu 1 200 DM, sondern sie bekommen auch die Leistungen für die Rentenversicherung. Das können Sie auch mit 500 DM bewerten. ({0}) Und wenn eine Person, die eine solche Pflege übernimmt, eventuell zwei Personen pflegt - das kann sie auch bei Schwerstpflegebedürftigen -, dann kommt sie auf 2 400 DM plus Altersversicherungsabdekkung. Das ist mehr, als viele Frauen heute in anderen Berufen verdienen. ({1}) Ich will noch einmal darauf hinweisen, daß die Karenztage keine unsoziale Lösung sind. Denn Sie dürfen nicht vergessen, daß ja erheblicher Mißbrauch in diesem Bereich betrieben wird. Der Anteil der Kurzzeitkrankmeldungen ist in den letzten 20 Jahren von 5,4 auf 25,6 % in 1990 gestiegen. Das kann ja nicht mit dem Gesundheitszustand der deutschen Bevölkerung zusammenhängen, denn gleichzeitig sind die Arbeitszeiten gesunken und die Urlaubszeiten gestiegen. Man konnte sich also auch besser erholen. ({2}) Praktisch wird heute nur noch an vier Tagen in der Woche gearbeitet, an drei Tagen wird bereits geruht. Hier geht es darum, unter diesen Verhältnissen die Lohnfortzahlung zu überprüfen. ({3}) Der dritte Punkt, der für uns als Bedingung wichtig war, ist, daß die Pflegebeiträge stabil bleiben. Wir haben gefordert, daß die Gefahr der Kostendynamik begrenzt wird. Dem wurde durch eine ganze Reihe von Maßnahmen entsprochen. Folgendes ist dabei hervorzuheben: Die Pflegeversicherung ist keine Vollversicherung, die für sämtliche Kosten der Pflege aufkommt. Sie gewährt nur einen festen Zuschuß zu den häuslichen bzw. stationären Pflegekosten. Der Beitragssatz ist fest und kann nicht automatisch steigen oder durch die Verwaltung angehoben werden. Dies bedarf der Zustimmung des Gesetzgebers. Herr Dreßler, ich weiß nicht, was daran kritikwürdig ist, daß die Zustimmung des Gesetzgebers eingeholt werden muß. Und schließlich: Die F.D.P. konnte durchsetzen, daß durch mehr Wettbewerb der Zwang zu einer wirtschaftlichen Betriebsführung in den Pflegeheimen durchgesetzt wurde. Wie bei der KrankenhausfinanDr. Hermann Otto Solms zierung angestrebt, wird hier von vornherein eine Finanzierung aus einer Hand erreicht, die sogenannte monistische Finanzierung, was ebenfalls dazu beiträgt, daß Wettbewerb zwischen den verschiedenen Pflegeinstitutionen besteht und dadurch eine wirtschaftliche Verhaltensweise durchgesetzt wird. Der Pflegezuschuß und der Investitionszuschuß sollen einheitlich aus dem Topf der Pflegeversicherung bezahlt werden. Voraussetzung für den Investitionszuschuß ist dabei natürlich, daß die Länder dazu bereit sind, einen Teil ihrer Einsparungen im Sozialhilfebereich an den Bund zurückzuzahlen. Nur unter dieser Voraussetzung und bei dieser Bereitschaft kann dieser Zuschuß gewährt werden, sonst muß er entfallen. Das würde dazu führen, daß natürlich ein größerer Teil auf die Sozialhilfe angewiesen bliebe und dadurch Länder und Gemeinden wieder starker belastet würden. So ist es auch im Interesse der Kommunen, hier entgegenzukommen. ({4}) Abschließend weise ich ausdrücklich darauf hin, daß die jetzt gefundene Lösung auch die Vereinbarung enthält, daß über die Pflegeversicherung erst dann abschließend entschieden wird, wenn die Kompensation gesetzlich einwandfrei und zweifellos gesichert ist. Ein Inkrafttreten nur bestimmter Teile des Modells ohne ausreichende Gewähr für die Kompensation wird es somit nicht geben und darf es im Interesse der Tragfähigkeit unseres sozialen Sicherungssystems auch nicht geben. Es gibt da durchaus Alternativen. Wir bestehen nicht auf den Karenztagen. Man kann auch über einen prozentuellen Abschlag bei der Lohnfortzahlung diskutieren und man kann auch über die Abschaffung von Feiertagen diskutieren. Jedoch, wie Sie wissen, ist das nicht allein die Kompetenz des Bundesgesetzgebers, mit Ausnahme des 3. Oktober und des 1. Mai, die wir nicht abschaffen wollen. Wenn die Bundesländer vermeiden wollen, daß die Karenztage eingeführt werden, dann sollten sie sich zügig zusammensetzen und darüber beraten, was die Alternative wäre. ({5}) Allerdings bedarf es da einer Übereinstimmung von 16 Bundesländern, die dann in 16 Landesgesetzen die gleichen Feiertage abschaffen müßten. Die Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, Frau Simonis, ist ja mutig vorangegangen, sie hat sogar die Abschaffung von drei Feiertagen vorgeschlagen. Ein guter Vorschlag, kann ich nur sagen. Ich hoffe nur, daß die 15 Gentlemen, die die Verantwortung in den anderen Ländern tragen, genausoviel Mut aufweisen und sich ihr anschließen, denn nur dann kann es zu diesem Ergebnis kommen. Deswegen sage ich auch als Botschaft an die Bundesländer: Wenn sie die Pflegeversicherung wollen und die Karenztage nicht akzeptieren, dann müssen sie sich rechtzeitig auf eine alternative Kompensation einigen. Die Bürger im Lande und - davon bin ich überzeugt - selbst die Betroffenen wollen keine Pflegeversicherung auf Kosten der Arbeitsplätze. Deshalb müssen Sie wissen, daß an einer stabilen, einer verläßlichen Kompensation kein Weg vorbeiführt. Vielen Dank. ({6})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile dem Kollegen Dr. Gregor Gysi das Wort.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das durch die Regierungskoalition vorgelegte Pflegeversicherungsmodell verlangt zumindest in vier Punkten eine deutliche Auseinandersetzung. Erstens. Es stellt für die Pflegebedürftigen und die Pflegenden keine wirkliche Verbesserung dar. Dazu wird unser Kollege Dr. Ilja Seifert ausführlich Stellung nehmen. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich möchte um etwas mehr Ruhe bitten.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Unsere Regierung redet mehr, als sie Ideen hat. Das ist auch verständlich. ({0}) Lassen Sie mich hier nur soviel dazu sagen: Allein durch die wesentlich schlechtere Finanzierung einer häuslichen Pflege im Vergleich zu einer Heimpflege findet ein indirekter Zwang zur Heimpflege und damit zugunsten auch privater Betreiber von Heimen statt. Auch das Angebot zur Pflege wird letztlich nicht erweitert, und für die Pflegenden tritt nur insofern eine Verbesserung ein, als die Pflegezeit künftig bei der Rentenberechnung berücksichtigt werden soll. Es gibt nach wie vor keine Berücksichtigung der häuslichen pflegenden Tätigkeit in der Arbeitslosenversicherung, bei Umschulung etc. Das heißt, nach wie vor wird die Pflege nicht als wirklich gleichwertige Leistung in der Gesellschaft anerkannt, und das bedeutet, daß das Modell der Koalition indirekt ein Heimeinweisungsgesetz darstellt. ({1}) Zweitens. Der Entwurf des Pflege-Versicherungsgesetzes ist auch ein Angriff auf das Sozialstaatsprinzip und ein Versuch zum Ausstieg aus dem Sozialversicherungssystem. Das Sozialstaatsprinzip besteht unter anderem darin, daß notwendige soziale Leistungen in Solidarität von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmem einerseits und von Arbeitgebern andererseits erbracht werden. Das erstemal wird hier festgelegt, daß Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und dazu auch noch andere Personen zahlungspflichtig sind, während der entsprechende Beitrag der Arbeitgeber vollständig ersetzt werden soll. Das ist ein Ausstieg aus dem Sozialversicherungssystem, weil sein tragendes Prinzip die gleichwertige Beteiligung von Arbeitgebern einerseits und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern andererseits ist. Dieses Prinzip ist vor über 100 Jahren erkämpft worden und soll mittels dieses Pflegeversicherungsmodells in diesem Bereich abgeschafft werden. Auch die Tatsache, daß nur die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung zusätzlich zahlen sollen, bedeutet einen Akt der Entsolidarisierung. Damit würden wir eindeutig - und das muß man sich einmal überlegen - hinter die Sozialversicherungsgesetzgebung von Bismarck zurückfallen. Und im übrigen: Wer eine Gesellschaft auf diese Art und Weise entsolidarisiert, muß auch die Folgen hinsichtlich eines unsolidarischen Bewußtseins in Kauf nehmen. Zusätzlich wird auch noch der Staat entlastet, indem er sich über Zahlungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und anderer Personen seiner eigenen Verantwortung zu entziehen versucht. ({2}) - Ja, sicher, es wird weiterhin sehr viel Sozialhilfe geleistet werden müssen, weil die Heimkosten weiter ansteigen, und das bedeutet, daß im übrigen für die Pflegenden diesbezüglich keine Verbesserung eintritt, sondern sie bleiben die Empfänger von Taschengeld und Sozialhilfe, und Sie wissen, wie demütigend das ist. Es bedeutet außerdem, daß die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Beamte und andere gegen Kranke eingestellt werden, weil bei ihnen der Eindruck entstehen muß, daß sie allein zur Finanzierung der Pflege herangezogen werden. Was das für die Zukunft in einer Gesellschaft bedeuten kann, in der Rechtsextremisten bereits begonnen haben, gegen Menschen mit Behinderungen und andere Kranke eine Stimmung zu organisieren und Gewalt anzuwenden, braucht hier wohl nicht näher erläutert zu werden. Drittens. Und dann wird das Gesetz noch mit dem Plan zur Wiedereinführung von Karenztagen verbunden. Das bedeutet natürlich einen beachtlichen sozialen Rückschritt hinsichtlich der Lohnfortzahlungsgesetzgebung. Die Behauptung, daß in Tarifverträgen etwas anderes festgelegt werden könne, ist selbstverständlich absurd, weil in dem Moment, in dem diesbezüglich zwischen Unternehmen unterschiedliche Regelungen entstehen, klar ist, daß die Arbeitgeber darauf bestehen müssen - ich sage hier nicht nur „können", sondern „müssen" -, auch in ihren Bereichen die Karenztage einzuführen, weil sie ansonsten gegenüber der Konkurrenz hinsichtlich der Kosten erheblich benachteiligt wären. Das weiß natürlich auch die Bundesregierung, und deshalb geht sie davon aus, daß sich die Tarifverträge hinsichtlich der Einführung der Karenztage verändern werden. Das aber bedeutet letztlich eine Einmischung in die Tarifautonomie, weil der Gesetzgeber Maßstäbe setzt, die zur Veränderung der Tarifverträge zwingen. Wenn aber zu Veränderungen der Tarifverträge gezwungen wird, ist es keine Tarifautonomie mehr. Das alles kann sich die Bundesregierung offensichtlich nur leisten, weil es den Systemwettkampf nicht mehr gibt. Ich behaupte: Noch vor fünf Jahren wäre ein solcher Schritt völlig undenkbar gewesen. Schritt für Schritt soll den Gewerkschaften Marge-macht werden, daß ihre bisher erkämpften Erfolge nichts mehr gelten. Deshalb ist das ein gravierendes Problem. Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zum „Blaumachen": Ich weiß ja nicht, ob Sie dabei an den ehemaligen Verkehrsminister denken, der sich nach einem Gaststättenbesuch am nächsten Tag unwohl fühlte. Ich weiß nicht, ob Sie damit solche Fälle für die Zukunft verhindern wollen. ({3}) Ich kann nur eines sagen: Wissen Sie, was passieren wird? Wenn eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer die ersten zwei Tage sowieso nicht bezahlt bekommt, dann wird sie oder er nicht mehr drei Tage krank sein, sondern dann wird sie oder er gleich eine Woche oder länger krank sein. ({4}) - Ja, dann ist aber das andere Argument mindestens genauso absurd! Es gibt inzwischen schon wissenschaftliche und soziologische Untersuchungen, die das eindeutig bestätigen! ({5}) Es ist ein Akt gegen Kranke, das ist ganz eindeutig. Lassen Sie mich aber auch etwas zu dem Vorschlag sagen, die gesetzlichen Feiertage abzuschaffen. Ich verstehe ja, daß Sie den 3. Oktober nicht mehr unbedingt feiern wollen. Aber was die kirchlichen Feiertage betrifft, habe ich schwere Bedenken. Ich will das hier äußern. ({6}) Dieses Dazwischengelache wird mir aber nicht angerechnet?

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Entschuldigung, es liegt an der Durchsetzungsfähigkeit des Redners, mit seiner Zeit zurechtzukommen.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Na ja, gut. Hören Sie einmal zu: Ich war in Israel und habe festgestellt, daß z. B. dort der Sabbat auch für die nichtreligiösen Menschen ein wichtiger Tag ist. Kinder sehen an diesem Tag nicht fern, sie lesen, sie beschäftigen sich mit ihren Eltern. Das heißt, Feiertage sind auch ein Element einer Kulturgesellschaft. ({0}) Ich behaupte, daß Sie hier gegen eine christliche Kultur vorgehen, wenn Sie Feiertage abschaffen, und auch diese Art von Kulturabbau können wir uns nicht mehr leisten. ({1}) - Sie kennen doch gar nicht meine Auffassung aus früherer Zeit; Sie quatschen doch ohne jede Kenntnis. Das ist doch Ihr Hauptproblem! Es gibt nur eine wirklich gerechte Lösung. Das ist die Steuerfinanzierung, bei der diejenigen, die am meisten verdienen, auch am meisten bezahlen. Das wäre eine Art von Solidarität. Danke schön. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Konrad Weiß.

Konrad Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002461, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Gysi, ich bin nur froh, daß Sie keine Chance haben, jemals Papst zu werden, obwohl Sie auf dem besten Wege dorthin sind! ({0}) Meine Damen und Herren, die Notwendigkeit, das Pflegefallrisiko abzusichern, wird in der Bundesrepublik seit über 20 Jahren diskutiert. Diese zähe Diskussion erhielt in den 80er Jahren durch besorgniserregende Prognosen über die demographische Entwicklung und die Kostenentwicklung in der Sozialhilfe neuen Auftrieb. Trotzdem konnte sich die Bundesregierung erst im vergangenen Jahr dazu durchringen, das Vorhaben einer Pflegeversicherung voranzutreiben. Dabei bekannte man sich zu einem entscheidenden Vorbehalt, der heute selbst von einem der ehemaligen Wirtschaftsminister der F.D.P. für ein klassisches Eigentor gehalten wird, daß nämlich die Einführung einer sozialen Pflegeabsicherung an die Bedingungen einer Kostenkompensation für die Wirtschaft gekoppelt wurde. Der nun von der Koalition vorgeschlagene Weg, die Einschränkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, stellt keine praktikable Lösung dar, sondern verlagert die Auseinandersetzung auf die Tarifpartner bzw., wie absehbar, wieder einmal nach Karlsruhe. Der Kniefall der Koalition vor der Wirtschaft befördert den Ausstieg aus der sozialen Marktwirtschaft. Hart erkämpfte soziale Errungenschaften, die über Jahrzehnte die Stabilität der deutschen Wirtschaft und des deutschen Wirtschaftswachstums garantiert haben, sollen nun kurzsichtigen Liquiditätsinteressen geopfert werden. Ich hoffe, daß die SPD ihren kräftigen Worten diesmal auch wirklich kräftige Taten folgen läßt. Mit uns jedenfalls ist eine Karenztaglösung nicht zu machen. Gegen die Einführung von Karenztagen sprechen zu viele sachliche Gründe. Ich kann hier nur einige ansprechen. Die geplante Neuregelung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist aus betriebswirtschaftlicher Sicht außerordentlich kontraproduktiv. Durch die Karenztage werden betriebliche Fehlzeiten vermutlich nicht vermindert werden, sondern zunehmen. Wer früher nur einen oder zwei Tage Erholung in Anspruch nahm - das ist schon mehrfach gesagt worden -, wird künftig keinen Anreiz mehr sehen, sich nicht gleich eine ganze Woche zu erholen, da die sogenannte Selbstbeteiligung die gleiche bleibt. Hinzu kommt, daß sich der fortgesetzte und unbewiesene Mißbrauchsverdacht nachteilig auf das Betriebsklima und die Arbeitsmotivation der Beschäftigten auswirken wird. Das betriebliche Vertrauensverhältnis, der Betriebsfrieden und damit letztlich auch das Betriebsergebnis werden leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Solche Strategien widersprechen allen modernen Ansätzen von Unternehmens- und Personalführung. Es ist nur konsequent, wenn selbst Unternehmensberater inzwischen empfehlen, durch freiwillige Betriebsvereinbarungen die unproduktiven Karenztage wieder auszuhebeln. Die geplante Verschärfung der Meldepflicht mit Attestzwang vom ersten Tag an wird die Krankenkassen und somit auch die Betriebe zusätzlich teuer zu stehen kommen. Im Regierungsentwurf sind nur die attraktiven Einsparungen genannt worden, nicht aber die erhöhten Kosten. Es ist eine Bürokratisierungsoffensive, die da gefahren wird. Die Verschleppung von leichteren Krankheiten wird sich nach Ansicht von medizinischen Sachverständigen sowohl auf die Dauer der betrieblichen Fehlzeiten als auch auf die Kostenentwicklung der Krankenkassen mittelfristig sehr nachteilig auswirken; denn wer heute eine Krankheit verschleppt, muß morgen längere Krankheitszeiten in Anspruch nehmen. Beides kann nicht im Interesse auch der Unternehmen sein. Schließlich darf nicht verschwiegen werden, daß der Regierungsentwurf für 1994 bis 1996 zumindest auf dem Papier den Unternehmen eine Úberkompensation für ihren Beitragsanteil von 0,5 % anbietet. Angesichts der notwendigen umfangreichen Investitionen im ambulanten und stationären Pflegebereich ist diese Entscheidung nicht zu verantworten und nicht vermittelbar. In den Auseinandersetzungen um die Frage der Kompensation wurden streckenweise Töne angeschlagen, die erheblichen Zweifel an der sozialen Kompetenz und dem Bewußtsein für die aus dem Eigentum erwachsende Verantwortung aufkommen lassen. Ich erinnere hier nur an das von Tyli Necker gebrauchte Wort von der Kampfansage an die Wirtschaft, welches zumindest von Teilen der F.D.P., wie ich es wahrnehme, goutiert wird. Ich denke, wir sind uns in der Auffassung einig, daß die politische Instrumentalisierung der Pflegebedürftigen und ihrer Familien unerträglich ist und ein Ende haben muß. Ich bin auch nicht der Auffassung, Kollege Dreßler, daß das ein Wahlkampfthema im nächsten Jahr sein sollte. Wir müssen es doch packen, bis dahin diesen unerträglichen Zustand, daß eine Pflegeversicherung fehlt, zu beenden. Wir müssen hier an die Betroffenen denken, nicht an uns. ({1}) Wenn ich so vor mich hinschaue, sehe ich doch, daß in absehbarer Zeit auch viele von uns wahrscheinlich zu den Betroffenen gehören werden. Das ist doch nicht mehr so fern. ({2}) - Auch Sie werden einmal 70, Herr Kollege, ich auch; das ist gar nicht mehr so weit weg. So ist vor allem die unrealistisch niedrige Leistungshöhe zu kritisieren. Für die Menschen, die im Bereich der häuslichen Pflege Außerordentliches leisten, wird Konrad Weiß ({3}) sich in der Mehrzahl der Fälle nicht viel ändern, da der Ansatz zu gering ist und im Gegenzug das Pflegegeld der gesetzlichen Krankenkassen entfällt. In dieser Hinsicht wird der Gesetzentwurf für die Betroffenen, die endlich eine Verbesserung ihrer Situation erhoffen, eine herbe Enttäuschung sein. Auch die zentrale Forderung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nach mehr Wahlfreiheit für die Betroffenen wird durch die Konzeption der Bundesregierung nicht erfüllt. ({4}) Notwendig wäre vielmehr die volle Übernahme der ambulanten wie der stationären Pflegekosten. Nur so wäre sichergestellt, daß pflegebedürftige Menschen wirklich selbst entscheiden können, wo und von wem sie gepflegt werden. - Das heißt das. ({5}) Es muß verhindert werden, daß finanzielle Gründe zur Abschiebung in stationäre Einrichtungen führen. Weiterhin ist die vorgesehene Altersversorgung der pflegenden Angehörigen unzureichend geregelt. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geht davon aus, daß eine problemadäquate Alterssicherung die fiktive Anrechnung eines Durchschnittseinkommens voraussetzt, daß also mindestens ein Entgeltpunkt für die Rentenberechnung zu berücksichtigen ist. Für die Jahre ab 1996, wenn endlich auch die stationäre Pflege abgesichert werden soll, gilt das Problem der mangelhaften Leistungshöhe noch verstärkt. Bei heute durchschnittlich vollstationären Pflegekosten von ca. 4 000 bis 4 500 DM entfallen allein auf Pflege und Betreuung bereits ca. 2 300 DM. Der Entwurf sieht jedoch nur 2 100 DM vor. Angesichts der zu erwartenden Kostensteigerung im Pflegebereich und des anhaltenden Trends zu einem Abbau des Sozialstaates ist nicht anzunehmen, daß die ab 1996 vorgesehene Anpassung im notwendigen Maße erfolgen wird. Hinzu kommt, daß die durchschnittlichen Altersrenten selbst in Westdeutschland gegenwärtig noch deutlich unter 2 000 DM liegen, also bei weitem nicht ausreichen, um die Kosten für Unterbringung und Verpflegung zu tragen. Wir kritisieren insbesondere, daß die Sozialhilfebedürftigkeit pflegebedürftiger Menschen und damit das unwürdige Prozedere, das mit dem Sozialhilfebezug verbunden ist, durch den vorliegenden Entwurf nicht beseitigt werden. Gerade hierin besteht jedoch sozialer politischer Handlungsbedarf. Bei Selbstbeteiligung der Pflegebedürftigen an den Kosten muß gewährleistet sein, daß die Betroffenen dieses nicht aus Sozialhilfe bestreiten müssen. Dazu ist es u. a. erforderlich, die Kosten der Unterkunft am örtlichen Mietspiegel auszurichten. Insgesamt mißt der Regierungsentwurf der qualitativen Dimension zu geringe Bedeutung bei. Wahlfreiheit setzt eine pluralistische Infrastruktur an pflegerischen Angeboten und Diensten voraus, über die wir insbesondere auch in den ostdeutschen Bundesländern noch nicht verfügen. ({6}) Der Regierungsentwurf ist zu wenig an den Bedürfnissen der Betroffenen orientiert und läßt innovative Ansätze vermissen. ({7}) So fehlt es in Ostdeutschland fast flächendeckend an altersgerechten Wohnungen. Trotz einer alarmierenden Studie des Familienministeriums gibt es bislang keine nennenswerten Initiativen der Bundesregierung, die hier Abhilfe schaffen könnten. Für viele Betroffenen wird es in absehbarer Zeit schlicht keine Alternative zur Heimunterkunft geben. Familiäre Pflegeleistungen können dieses Defizit nicht ausgleichen. Die unzähligen Frauen, die pflegebedürftige Angehörige betreuen und oftmals jenseits ihrer physischen und psychischen Leistungsfähigkeit große Opfer bringen, dürfen nicht länger zu Lückenbüßerinnen für die Versäumnisse der staatlichen Sozialpolitik gemacht werden. Es ist daher notwendig, die Pflegeversicherung von Anfang an so auszustatten, daß sie ihren Aufgaben gerecht werden kann. Ein Schritt hierzu wäre die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze auf das Niveau der gesetzlichen Rentenversicherung. Es ist nicht einzusehen, warum die höheren Einkommen nicht wenigstens bis 7 200 DM in Westdeutschland bzw. 5 300 DM in Ostdeutschland versicherungspflichtig sein sollen. Für die Zukunft sind angesichts der demographischen Entwicklung und der Beschäftigungsentwicklung dennoch Beitragserhöhungen absehbar. Der Regierungsentwurf sieht vor, daß Beitragsstabilität durch eine Deckelung des Leistungsvolumens erreicht werden soll. Daraus folgt, daß die schon aus heutiger Sicht unzureichenden Leistungen weiter abgesenkt werden müssen. Dieser Ansatz ist obskur und sozialpolitisch nicht vermittelbar. Wie wollen Sie ernstlich besonders der jungen Bevölkerung vermitteln, daß sie heute in eine Versicherung einzahlen müssen, die später im eigenen Risikofall nicht ausreicht? Um später Leistungen nicht abbauen zu müssen und um rechtzeitig künftigen Beitragsexplosionen vorzubeugen, haben wir im Entwurf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu einer Pflegeversicherung die Bildung eines Kapitalstockes aus einem Sechstel der Einnahmen vorgeschlagen. ({8})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Weiß, Ihre zehn Minuten sind um.

Konrad Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002461, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, Herr Präsident. - Wir stellen Ihnen diese und andere gute Ideen aus unserem Entwurf gern und Konrad Weiß ({0}) uneigennützig zur Verfügung, wenn denn den Betroffenen geholfen wird. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde heute dem Bedürfnis nach dem üblichen parlamentarischen Schlagabtausch nicht nachgeben, ich werde mir auch den Spaß der Polemik nicht gönnen - nach keiner Seite -, sondern ich möchte an diesem wichtigen Tag über die Probleme und unsere Vorschläge zu ihrer Lösung reden. Unter der Flut von täglich neuen Ereignissen und Nachrichten im Pulverkampf des Tages gehen leicht die Hauptfragen verloren. Der Volksmund hat diese Gefahren in den Satz gebracht, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Deshalb vor allen Detail- und Fachfragen: Worum geht es? Es geht um uralte Einsichten: den Hilflosen helfen, die Schwachen nicht abschieben, die Generationen zusammenhalten! Die Großfamilie hat dies in früheren Zeiten recht und schlecht gemeistert. Die gibt es heute nicht mehr. Aber es geht um die nachbarschaftliche Gesellschaft. Paragraphen und Versicherungen schaffen diese Gesellschaft noch nicht, aber sie können den Weg bahnen. Die Pflegeversicherung ist nicht die nachbarschaftliche Gesellschaft, aber sie kann eine Stütze sein. Das neue Gesicht der Armut heißt Einsamkeit. Sie ist eine Spätfolge der Singlegesellschaft. Worum geht es? Die Pflegeversicherung ist die fünfte Säule unseres Sozialversicherungssystems. ({0}) 1883 Krankenversicherung, 1884 Unfallversicherung, 1889 Rentenversicherung, 1927 Arbeitslosenversicherung, und wenn unser Gesetz sein Ziel erreicht, wird das Jahr 1994 in die Reihe dieser sozialstaatlich großen Jahre eingehen. ({1}) 20 Jahre ist von der Pflegeversicherung geredet worden. Das kleine Zugeständnis an Polemik, Herr Kollege Dreßler: Sie haben uns, der Koalition, vorgeworfen, zwei Jahre diskutiert zu haben. Sie haben 13 Jahre regiert und in diesen 13 Jahren außer Diskussionen nichts zur Pflegeversicherung beigetragen. ({2}) So nah vor dem Ziel waren die Pflegebedürftigen noch nie. 1,6 Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger sind auf Pflegehilfe angewiesen. 1,2 Millionen werden zu Hause versorgt. 450 000 sind in stationärer Pflege untergebracht. 377 000 von diesen 450 000 Heimbewohnern finanzieren ihre Pflege durch die Sozialhilfe. 278 000 erhalten Sozialhilfe für ambulante Pflege. Das sind die nüchternen, kalten Zahlen; aber hinter diesen Zahlen, hinter dieser Statistik steht ein Schicksal. Nur 2 % der Bevölkerung sind pflegebedürftig; aber jeder von den 98 %, der es nicht ist, kann es morgen sein. Die Familien, die von der Pflegebedürftigkeit betroffen sind, müssen ihre Lebensgewohnheiten elementar umstellen. Manche werden finanziell total aus dem Gleis geworfen. Wenn, meine Damen und Herren, Pflegebedürftigkeit kein elementares Risiko ist, das solidarisch abgesichert werden muß, was ist dann überhaupt ein Risiko, für das wir die Sozialversicherung brauchen? ({3}) Wir versichern in der Sozialversicherung Krankheiten, die beiläufig sind, nur ein paar Tage dauern, und behandeln sogar Bagatellbeschwerden auf Krankenschein. Die Pflegebedürftigkeit, die nicht nur ein paar Tage, sondern Jahre dauern kann, haben wir allerdings bis heute aus der Sozialversicherung ausgesperrt. Was ist der Unterschied zwischen einem Langzeitkranken und einem Pflegebedürftigen? Der eine hat seine Krankenversicherung, und den anderen schieben wir auf Sozialhilfe ab. Das verstehe, wer es verstehen will; ich verstehe es nicht. ({4}) Wir bezahlen das Heftpflaster solidarisch, aber in der Pflege überlassen wir jeden sich selber oder der Sozialhilfe. Ist das richtig? Soll das so bleiben? Alle sind sich einig, daß es nicht so bleiben kann. Alle antworten energisch mit Nein; aber das war es dann auch schon. Die Beschreibung der Probleme ist noch keine Lösung. Der Betroffenheitstourismus, bei dem von Problem zu Problem gereist wird, bei dem besichtigt, beschrieben und bedauert wird, verändert die Lage der Betroffenen nicht. Wir wollen sie verändern. Der Pflegefall ist bis heute der große Gleichmacher. Im Pflegeheim fallen fast alle auf den Status eines Taschengeldempfängers zurück, weil keine Rente ausreicht, ein Pflegeheim zu bezahlen. Egal, ob jemand ein Lebenlang viel gearbeitet hat oder wenig, im Pflegeheim werden alle Sozialhilfeempfänger. Ist das richtig? Das ist leistungsfeindlich. Der Pflegefall in der Sozialhilfe ist auch der große Eigentumsfeind. Das eigene Haus, dessen Finanzierung vielleicht ein Lebenlang vom Munde abgespart wurde, wird im Pflegefall von der Sozialhilfe abkassiert. Ist das richtig? ({5}) Das ist eigentumsfeindlich. Alle reden nur vom Geld und seiner Verteilung. ({6}) - Auch ich rede gleich darüber. - Herr Kollege Dreßler, ich habe Ihre Rede wirklich mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. In vier Fünfteln der Rede ging es nur um Geld und Finanzierung. ({7}) Für was wir diese Anstrengungen unternehmen, das kam leider nur im Rahmenprogramm vor. ({8}) - Ich habe bis jetzt noch gar nicht vom Geld gesprochen. Ich werde heute meinem Vorsatz treu bleiben, Zusammenhängendes darzustellen. Sonst falle ich in die Versuchung zurück, polemisch zu werden. Es geht uns nicht nur um Verteilungspolitik. Es geht um Ordnungsprinzipien unseres Sozialstaates. In welchem Verhältnis stehen Eigenvorsorge und Solidarität? In welchem Verhältnis stehen Arbeit und Eigentum zur Sozialleistung? Aber ich will auch gern von Geld reden. Es ist nicht so, als hätte die Pflegeversicherung bisher nichts gekostet und als koste sie nun plötzlich Milliarden. 13 Milliarden DM zahlt die Sozialhilfe für Pflege. Die Kosten steigen explosionsartig. Ist das richtig? Die Sozialhilfe ist für die Ausnahmen und nicht für ein allgemeines Risiko als Regelleistung vorgesehen. 40 000 Pflegefälle liegen in Krankenhäusern, obwohl sie im Pflegeheim besser und sogar kostengünstiger untergebracht wären. Die Pflege kostet die Krankenversicherung 3 Milliarden DM. Ist das sozial? Ist das richtig? Zehntausende haben nur deshalb Zuflucht im Pflegeheim gesucht, weil sich zu Hause niemand um sie kümmert. Wir, unser Sozialstaat, bieten im allgemeinen nur die große Wahl zwischen zwei Möglichkeiten an: allein daheim oder ab ins Heim. Die ambulanten Pflegedienste sind schwach ausgebaut. Wir haben so gut wie keine teilstationäre Versorgung. Allein der Bedarf an Kurzzeitpflegeplätzen wird in Nordrhein-Westfalen auf 3 500 Plätze geschätzt. Im ganzen Bundesgebiet stehen nur 2 600 zur Verfügung. Wir haben so gut wie keine Tagespflegeplätze. Ihr Bedarf wird auf 34 000 geschätzt. Dem stehen nur 1 500 vorhandene Plätze gegenüber. Zwischen zu Hause und dem Heim gibt es keinen Übergang. Ist das richtig? Das ist unsozial und teuer. Die häusliche Pflege besorgen die Frauen. Für diese hat die herkömmliche Männergesellschaft die häuslichen Pflegedienste reserviert. Oft sind es die älteren Frauen, die unter Aufbringung ihrer letzten Kräfte ihren Ehemann so lange pflegen, bis sie selber pflegebedürftig sind. Die jungen Frauen, die sich für ihre Angehörigen opfern, können nicht erwerbstätig werden und werden deshalb im Alter selber Sozialhilfeempfänger. Der Sozialstaat behandelt die Samariter schäbig. Ist das richtig? ({9}) Ein Schlaganfallpatient im Krankenhaus erhält alles und behält seine Rente. Hat das Krankenhaus genügend freie Betten, kann er sogar über Wochen und Monate als Behandlungsfall bleiben und erhält auch noch Leistungen der Rehabilitation. Hat das Krankenhaus Bettenmangel, so wird der Patient nach zwei bis drei Wochen zum Pflegefall und ins Heim verlegt. Ein Schlaganfallpatient im Pflegeheim erhält keine Rehabilitation und verliert seine Rente. Der Zufall der Einweisung entscheidet über Lebensschicksale. Ist das richtig? Das ist nicht nur unsozial, das ist auch teuer. Wir sind in vielen Sozialbereichen in Europa Spitzenreiter. In der Pflege sind wir Nachzügler; wir müssen aufholen. Ab 1. Januar 1994 soll es eine Unterstützung der ambulanten Pflege geben, ja nach Grad der Pflegebedürftigkeit 400 DM, 800 DM, 1 200 DM und Sachleistungen bis 2 100 DM. Die große Sozialpolitik, wie wir sie gewöhnt sind, soll in die Nachbarschaft der Menschen gebracht werden. Wir brauchen eine neue Kultur des Helfen aus der Nähe. Die Pflegeversicherung wird mehr positive Wirkungen entfalten, als ihre Kritiker ahnen. Ich bin sicher: Ein neues Beschäftigungsfeld wird sich öffnen. Krankenschwestern, die aus dem Krankenhausdienst ausgeschieden sind, weil sie den Schichtbetrieb nicht mit Familienarbeit kombinieren konnten, werden sich selbständig machen. Pfleger werden Dienste anbieten. Wer mehrere Pflegebedürftige versorgt, hat ein gutes Monatseinkommen. So ist der Pflege und dem Arbeitsmarkt geholfen. Der Pflegeberuf wird attraktiver werden. Der Dienst am Menschen muß an Ansehen gewinnen. Vielleicht könnte auch ein freiwilliges Pflegedienstjahr für die Jugend zur sozialen Universität des Lebens werden. ({10}) Diese Universität verleiht keine Diplome; aber sie gibt die Bewährungsprobe für Mitmenschlichkeit, die eine Lebenshilfe für die ist, die dazu erzogen wurden. Vielleicht brauchen wir neben den Fachkräften, den Profis, in unserem Sozialstaat auch die vielen Amateure. Der Samariter war kein Fachmann. ({11}) Vielleicht könnte die Pflegeversicherung mehr sein als das, als welche sie heute morgen pausenlos diskutiert wurde, nämlich nur als ein Geld- und Finanzproblem. Vielleicht könnte sie die Tür zu einer neuen nachbarschaftlichen Gesellschaft sein, wenn das Thema nicht so kleinkariert diskutiert würde, wie es heute morgen zum Teil diskutiert wurde. ({12}) Ein Versorgungsstaat wird durch die Pflegeversicherung gleichwohl nicht entstehen. Die Angehörigen werden zwar entlastet, aber noch viel zu tun haben und noch mehr Opfer bringen als viele von denjenigen, die ständig über Überversorgung klagen. Viele von denen bringen weniger Opfer. Die cleveren Mitnehmer, die raffinierten Abstauber und die kriminellen Ausbeuter unseres Sozialstaats sitzen ganz woanders. Das sind nicht die Pflegebedürftigen und ihre Familien. Die Pflege ist kein Hobby und die Pflegebedürfigkeit kein Spaß. ({13}) 1994 beginnen wir mit der ambulanten Pflege, 1996 wird die stationäre Pflege in die Pflegeversicherung folgen. Noch ein kleines Zugeständnis, wenn Sie gestatten. Kollege Dreßler hat unsere Leistungen kritisiert. Er hat in seinem Vorschlag einen Beitragssatz von 1,4 %. Trotz höherer Beitragsbemessungsgrenze, trotz anderen Personenkreises hat er 1 Milliarde DM weniger Einnahmen als in unserem Modell. Wie er mit weniger Geld mehr bezahlt, das bleibt das mathematische Geheimnis des Herrn Dreßler. ({14}) Die Absicherung der stationären Pflege folgt der ambulanten in einem Abstand von zwei Jahren. Diese zeitliche Stufung entspricht nicht nur - das gestehe ich - finanziellen Überlegungen, sondern folgt auch der Einsicht, daß wir für eine echte Wahlmöglichkeit zwischen ambulanter und stationärer Pflege zunächst die ambulante ausbauen müssen. Ambulant vor stationär gilt im zweifachen Sinne, in der zeitlichen Abfolge und im sachlichen Vorrang. Wir können aus den Fehlern der Holländer lernen. Holland sorgte zuerst für die stationäre Versorgung und löste damit einen Sog in die Heime aus. Inzwischen hat Holland diese Fehlsteuerung korrigiert und die beste Absicherung, die es in ganz Europa gibt. Wir folgen diesem Beispiel. Die unabhängige Variable in der Pflegeversicherung ist der Beitragssatz. Bei gleichbleibendem Beitragssatz steigen dennoch die Leistungen, welche die Pflegeversicherung gewährt, denn mit jeder Lohnerhöhung steigen die Einnahmen. Die Ausgaben der Pflegeversicherung folgen den Einnahmen. Rechnerisch konnte bei einem Beitragssatz von 1,7 % im Jahre 1991 ein Heimplatz bis zu 2 100 DM mitfinanziert werden. 1996 wird ein wesentlich höherer Betrag möglich sein. Schon im Jahre 1994 könnte mit 1,7 % Beitrag eine Pflegeleistung bis zu 2 400 DM bezahlt werden. Es ist also eine Falschmeldung, wenn heute morgen Herr Dreßler behauptet hat, 2 100 DM sei die feststehende Leistungshöhe. ({15}) Hinzu kommt, daß wir -Basisjahr 1991- das Geld, das die Kommunen an der Sozialhilfe sparen, mindestens zur Hälfte für die Pflegeversicherung nutzen wollen. Die Pflegeversicherung soll schließlich kein Gesetz zur kommunalen Entlastung sein, sondern eine Entlastung der Versicherten. ({16}) Bei dem vorgesehenen Bundeszuschuß handelt es sich um eine Umleitung der Mittel, die in Zukunft nicht mehr von der Sozialhilfe für Pflege ausgegeben werden. Deshalb können die Leistungen zusätzlich aufgestockt werden. Wir halten an dem ehrgeizigen Ziel fest, die Pflegebedürftigkeit so weit wie möglich von der Sozialhilfe abzukoppeln. Wer allerdings, ohne Pflegefall zu sein, schon Sozialhilfeempfänger ist, wird auch durch die Pflegeversicherung von der Sozialhilfe nicht befreit, denn die Pflegeversicherung ist keine allgemeine Armutsversicherung. Wer aber sein Lebenlang gearbeitet und eine ordentliche Rente erworben hat, dem wollen wir den Gang zur Sozialhilfe ersparen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können und wollen die Kosten der Pflegeversicherung nicht einfach auf die Soziallasten draufsatteln. Was wäre das für eine Sozialpolitik, die durch höhere Belastung der Arbeitsplätze eben die Arbeitsplätze ruinieren würde, von denen sie anschließend Beiträge erwartet? Diese Sozialpolitik wäre so dumm wie der Bauer, der die Kuh schlachtet, die er melken will. So dumm ist kein Bauer, und so dumm ist die Sozialpolitik nicht. Jedenfalls die Sozialpolitik, die die Koalition macht, ist nicht so dumm. Wenn wir die Arbeitgeberbeiträge ausgleichen wollen, ist das kein Geschenk an die Arbeitgeber, denn die Arbeitgeber bezahlen ihren Beitrag nicht aus der Privatschatulle, sondern aus dem Betrieb. Der Arbeitgeberanteil ist Bestandteil der Arbeitskosten, also Kosten der Wirtschaft. An der Kostensenkung in der Wirtschaft sind die Arbeitnehmer mindestens so interessiert wie die Arbeitgeber, denn die Arbeitnehmer wollen Arbeit. Deshalb ist Kostensenkung, Kostenentlastung auch ein Beitrag, denen die Arbeit haben die Arbeitsplätze zu sichern und denen, die arbeitslos sind, Arbeit zu verschaffen. ({17}) Meine lieben Kollegen, ich habe mich in monatelangen Gesprächen um eine einvernehmliche Lösung der Kompensation bemüht. Bei der Überschrift „Solidarität" haben Sie immer Zustimmung. Es gibt niemand, der gegen Solidarität ist. Wenn daraus aber die Konsequenzen gezogen werden müssen, dann bringt jeder den Vorschlag, was der andere machen soll. Diese Solidaritätslyrik hilft niemand. Es gilt, Konsequenzen zu ziehen. Ich ziehe einen friedlichen Weg dem strittigen vor. Eine friedliche Lösung für die Kompensation - das bekenne ich, habe ich bis zum heutigen Tag nicht zustande gebracht. Also kann dem Streit nicht ausgewichen werden, weil die Pflegeversicherung noch wichtiger ist als die Vermeidung von Streit. ({18}) Die Pflegebedürftigen können nicht so lange auf ihre Versicherung warten, bis sich alle zu einer einvernehmlichen Lösung bereitgefunden haben. Dann warten sie vielleicht noch einmal 20 Jahre. Jetzt wird sie durchgesetzt, und wenn es sein muß, im Streit. ({19}) Die Möglichkeit zum Konsens besteht auch jetzt noch. ({20}) Auch die, die vielleicht noch zu spät kommen, sind dazu eingeladen. - Im Streit. - Natürlich geht das nicht mit der Maxime, die heute morgen verkündet wurde, als wäre kein Anlaß zur Kompensation. Auf dieser Basis gibt es keine Vereinbarung. Auf der Null-Basis kann man sich nicht einigen. ({21}) Bis zur letzten Minute gibt es offene Türen. Aber die Lösung der Pflegebedürftigkeit werden wir nicht von Konsens oder nicht abhängig machen. Jetzt noch zu dem heute attackierten Vorschlag der Selbstbeteiligung an der Lohnfortzahlung. Meine Damen und Herren, gemessen an den Belastungen aus der Pflegebedürftigkeit ist die Selbstbeteiligung bei der Lohnfortzahlung fast eine Nebensache. Eine Sozialleistung, die so hoch ist wie der Lohn, ist mit einer eingebauten Versuchung verbunden, sich das gleich hohe Einkommen ohne Arbeit zu verschaffen, das man auch mit der Arbeit erhalten würde. Es gibt nur zwei Sozialleistungen, die zu 100 % mit dem Lohn übereinstimmen. Das sind das Mutterschaftsgeld und die Lohnfortzahlung, wobei der Nachweis der rechtmäßigen Inanspruchnahme bei der Lohnfortzahlung leichter zu umgehen ist. ({22}) Das eine ist eine Fortsetzung des Lohns zu 100 %. In einer solchen Fortsetzung, behaupte ich, ist eine Versuchung zum Mißbrauch eingebaut. Der Mißbrauch der Lohnfortzahlung hat zugenommen. Wer es mit den Arbeitnehmern gut meint, kann das doch nicht verteidigen. Die Anständigen müssen doch die Arbeit der Blaumacher mitmachen. Was ist denn das für eine Arbeiterbewegung! ({23}) Wir sind die Spitzenreiter mit der kürzesten Arbeitszeit, Spitzenreiter im Urlaub, Spitzenreiter in Feiertagen, wir sind aber auch die Spitzenreiter der durchschnittlichen Fehlstunden je Industriearbeiter. Wenn Sie wollen, lese ich Ihnen das vor: 146 Stunden im Jahr in Deutschland, 133 in den Niederlanden, 125 in Frankreich, 113 in Italien, 106 in Belgien, 55 in den USA, 33 in Japan. Rund um uns herum ist es deshalb zu Einschränkungen der Lohnfortzahlung gekommen. Lediglich in Luxemburg und Dänemark ist es so wie bei uns. Wenn wir hier leichte Veränderungen vornehmen, dann kann das kein Anschlag auf den Sozialstaat sein. ({24}) Was mich stört: Diese Gesellschaft redet rund um die Uhr darüber, was es kostet. Es rede mal einer darüber, wofür wir das tun und wer eigentlich diejenigen sind, denen wir helfen wollen. Sie sollten die Gewichte einmal richtig verteilen und sich dann mit Ihrer Polemik etwas zurückhalten. ({25}) In Schweden fiel der Krankenstand durch die Einführung einer Selbstbeteiligung der Arbeitnehmer in den ersten drei Krankheitstagen um 23 %. Wenn bei uns montags ein besonders hoher Krankenstand zu verzeichnen ist und freitags nach einem Donnerstag, der Feiertag war, die Zahl der Krankmeldungen in die Höhe schnellt, dann kann das doch nicht nur gesundheitlich bedingt sein. Will denn hier jemand erzählen, montags läßt der liebe Gott die Bazillen los und dienstags sammelt er sie wieder ein? Will das hier jemand erzählen? ({26}) Sie sind ja in Ihren Festungen so eingemauert, daß Sie die wirklichen Probleme schon gar nicht mehr sehen. Mutet man wirklich zuviel zu, wenn der Urlaub höchstens bis zu sechs Tagen im Jahr eingesetzt werden muß, um unbezahlte Krankheitstage zu vermeiden? In manchen Fällen ist das Krankfeiern ja ein Blaumachen. Selbst wenn jemand die vollen sechs Tage in Anspruch nimmt, hat er immer noch mehr Urlaub als bei der Einführung der Lohnfortzahlung und immer noch mehr Urlaub als die Arbeitnehmer in den meisten Ländern Europas. ({27}) Bei Licht betrachtet geht es nicht um Karenztage, sondern um die Wahl zwischen einem bezahlten Urlaub und unbezahlten Tagen. Ist dieses Opfer - so frage ich - unzumutbar, wenn man daran denkt, wem es zugute kommen soll: den Pflegebedürftigen in den Heimen und Tausenden oder Hunderttausenden von Frauen, denen der Sozialstaat bis heute nicht geholfen hat? Um denen zu helfen, nehme ich manchen Streit in Kauf; wer ihn haben will, kann ihn haben. ({28}) Von der Selbstbeteiligung nehmen wir die Schwangerschaft, die Arbeitsunfälle und die Berufskrankheiten aus. Wir werden auch Regelungen für die Wiederholungserkrankungen finden. In Härtefällen muß die Lohnfortzahlung weiterhin greifen. Ich frage, ob wir nicht auch ohne die Einführung der Pflegeversicherung dem Mißbrauch bei der Lohnfortzahlung hätten entschiedener entgegentreten müssen. ({29}) 1970 machte der Anteil der Kurzzeiterkrankungen von weniger als drei Tagen 5 % der Arbeitsunfähigkeit aus. 23 Jahre später - nicht 100 Jahre später - sind es 25 %. Ist hier jemand anwesend, der diese Steigerung gesundheitlich begründen will? Nein, die Sozialstaatspflichten sind nicht mehr so verinnerlicht, wie sie es in der Generation der Arbeiterbewegung jahrzehntelang waren. ({30}) Meine Damen und Herren, ich wäre schon zufrieden, wenn auch nur ein Viertel der Protestkraft, die die Gewerkschaften gegen die Karenztage mobilisieren -ich bin ja anspruchslos -, von eben diesen Gewerkschaften für die Pflegeversicherung mobilisiert würde. Das würde mich schon beeindrucken. ({31}) Innerhalb von 24 Stunden hatte die Deutsche Postgewerkschaft 1 Million Flugblätter gegen die Karenzage unter die Leute gebracht, aber für die Pflegeversicherung bis zum heutigen Tage kein einziges Blatt Papier. ({32}) Gegen die Karenztage schickte die IG Metall 75 000 Demonstranten innerhalb weniger Stunden auf die Straße, aber für die Pflegeversicherung bis zum heutigen Tag noch keinen einzigen. Das ist der Zustand der Arbeiterbewegung. ({33}) So ist das: Die etablierten Interessen sorgen für sich selber. Die Pflegebedürftigen können nicht streiken. Die Mutter, die ihr behindertes Kind pflegt, hat keine Zeit zur Demonstration. Ich frage: Hilft der Sozialstaat nur denjenigen, die sich wehren können? Handelt er nur, wenn es Rabatz gibt, oder handeln wir auch für diejenigen, die still sind und die sich nicht wehren können? Für diese bin ich da. Ein Sozialstaat, der nur auf Protest reagiert, ist nicht mein Sozialstaat. ({34}) Es wäre gut, wenn die Gewerkschaften ihren Sturmlauf gegen die Selbstbeteiligung und die Arbeitgeber ihre fast kriegslüsternen Attacken gegen die Pflegeversicherung aufgäben. Es wäre gut, wenn sich Opposition und Koalition zu einer Zusammenarbeit in der Pflegeversicherung aufraffen könnten. ({35}) Ich bin dazu bereit. Gewinner wären weder Opposition noch Koalition; Gewinner wären die Hilflosen, die Pflegebedürftigen. In der bevorstehenden parlamentarischen Beratung ist noch viel Sacharbeit zu leisten, auch an unserem Gesetzentwurf. Für bessere Argumente werden wir immer offen sein. Es geht gar nicht um parteipolitische Rechthaberei, sondern um eine gemeinsame Anstrengung für die beste Lösung für die Pflegebedürftigen. Die Pflegeversicherung kommt. Ein neues Haus wird gebaut. Es wäre schade, wenn man im Streit einziehen würde. Notfalls jedoch findet der Einzug auch im Streit statt. Eine Pflegeversicherung im Streit ist immer noch besser als ohne Streit keine Pflegeversicherung. ({36}) Es ist jedoch nie zu spät für eine gemeinsame Anstrengung für diejenigen, die auf unsere Hilfe warten. Zu dieser gemeinsamen Anstrengung lade ich ein. ({37})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Gerd Andres.

Dr. h. c. Gerd Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich stelle mir schon die Frage: Wenn sich der Bundesarbeitsminister, wie ich finde, in einer sehr scheinheiligen Art und Weise hier hinstellt ({0}) und erklärt, vier Fünftel der Zeit werde nur über die Finanzierung geredet, dann darf ich Sie einmal fragen, was Ihre famose Koalition in den letzten zwei Jahren anderes gemacht hat, als über die Finanzierung zu reden. ({1}) Was sollen denn hier der Druck auf die Tränendrüsen und die Vergleiche, die in bezug auf die Pflegeprobleme herangezogen werden? Was hat das mit Karenz zu tun, Herr Bundesarbeitsminister? Ich nenne das, was Sie hier abgezogen haben, scheinheilig. Ich werde Ihnen das in meiner Rede auch Punkt für Punkt belegen. Wir wollen uns einmal ansehen, was Sie nach den Beratungen der vorliegenden Gesetzentwürfe in der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion gesagt haben. Nach einer ddp-Meldung sagte Bundesarbeitsminister Blüm: Die Betroffenen können nicht länger warten. Für den Sozialstaat ist das Inkrafttreten der ersten Stufe der Pflegeversicherung am 1. Januar 1994 ein großes historisches Datum. Wenige Wochen zuvor verlautbarte der gleiche Arbeitsminister in seiner ihm eigenen pathetischen Art und Weise, die wir auch hier eben noch einmal genießen konnten: ({2}) Was ist die jahrelange Pflege eines spastisch gelähmten Kindes gegen die Einführung von zwei Karenztagen? Beide Äußerungen machen die strategische Ausgangslage der letzten Wochen deutlich. In mehr als zwei Jahren erlebten wir zunächst ein heftiges Geschacher der Koalition um die prinzipielle Richtungsentscheidung bei der Pflegeversicherung ({3}) und danach ein über ein Jahr dauerndes Gezerre um die von der Koalition für notwendig gehaltene Kompensation. Genau jener Bundesarbeitsminister, für den es hohe Zeit zur Regelung des Problems ist, trieb, wochenweise wechselnd, ein kompensationspolitisches Ferkel durch die Dörfer, wohlwissend, daß die betroffenen Pflegebedürftigen für eine solche Art der Debatte kaum noch Verständnis haben. Nach über einjährigem Gewürge sind nun die Karenztage verabredet. Gleichwohl wird von vielen prominenten oder unprominenten Koalitionspolitikern mit einer anderen Form der Kompensation geliebäugelt. Ich weiß: Viele betroffene Pflegebedürftige und besonders ihre Familienangehörigen haben von diesem Trauerspiel längst die Nase voll. Sie sind an praktischer Hilfe und der Lösung ihrer Probleme interessiert. ({4}) Die SPD hat sowohl im Bundesrat als auch im Bundestag bereits im Sommer 1991 einen kompletten Gesetzentwurf zur Einführung einer gesetzlichen Pflegeversicherung eingebracht. Damit wollen wir alle Pflegebedürftigen unabhängig von Alter, Ursache und Dauer der Pflegebedürftigkeit erfassen, in allen Pflegesituationen, also bei häuslicher und stationärer Pflege, eine bedarfsgerechte und ausreichende Versorgung sicherstellen, die Bereitschaft und Fähigkeit von Angehörigen zur Übernahme häuslicher Pflege stärken und die Sozialhilfeträger entlasten. Zu diesem Zweck wird eine Pflegeversicherung als eigenständige Säule der Sozialversicherung geschaffen. Nach unserem vorgeschlagenen Leistungskatalog haben alle Pflegebedürftigen grundsätzlich ein Wahlrecht zwischen ambulanter und stationärer Pflege. Bei häuslicher Pflege erhalten alle mindestens erheblich pflegebedürftigen Personen ein nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit gestaffeltes Pflegegeld. Bei Vorliegen von außergewöhnlicher Pflegebedürftigkeit bzw. Schwerstpflegebedürftigkeit können die Betroffenen entweder das Pflegegeld oder eine häusliche Pflegehilfe durch Fachkräfte, ergänzt urn ein gekürztes Pflegegeld, in Anspruch nehmen. - Ich könnte noch weitere Inhalte unseres Gesetzentwurfes aufzählen. Auf der Grundlage dieses SPD-Entwurfes hätte die Pflegeversicherung längst realisiert sein können, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({5}) Nach den jahrelangen Diskussionen gibt es bei den Betroffenen die Erwartung, daß mit einer Pflegeversicherung ihre menschlichen und materiellen Probleme gelöst werden. Dramatische Schicksale sowie menschliches Leid und Elend verbergen sich sehr oft hinter der anonymen Zahl von rund 1,7 Millionen Pflegebedürftigen. Offensichtlich spielten diese Schicksale seit der Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl für die beteiligten Koalitionäre keine Rolle. Offensichtlich interessierte sie auch nicht, was sie mit den Falschmeldungen anrichteten, die sie bewußt zur Täuschung der Öffentlichkeit produzierten. Ich erinnere: Frühjahr 1991: Gesetzentwurf der Koalition kommt bis Anfang 1992; Mai 1992: großer Durchbruch in der Pflegediskussion; ({6}) Juli 1992: Gesetzentwurf kommt im Oktober; Oktober 1992: Blüm braucht nur noch wenige Wochen zur Vorlage seines Entwurfs; Herbst 1992: Pflegeversicherung wird im Solidarpakt geregelt. Meine Damen und Herren, wir haben jetzt Juli 1993. ({7}) Alles, was Sie gemacht haben, diente nur dazu, die Öffentlichkeit bewußt an der Nase herumzuführen und falsche Meldungen zu produzieren, um von Ihrer Unfähigkeit abzulenken. ({8})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Andres, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Karl Stockhausen?

Dr. h. c. Gerd Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich möchte im Zusammenhang reden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist wichtig, zunächst über die Qualität dieses Pflegeentwurfs, der hier vorgelegt worden ist, zu reden und nicht über Kompensation und Geld. Schauen wir uns an, wie dieser Pflegegesetzentwurf aussieht, mit dem Norbert Blüm als hilfreicher Samariter in die bundesdeutsche Sozialgeschichte eingehen will -- koste es, was es wolle. Wie schlimm wird das Erwachen bei den Betroffenen sein, wenn sie dahinterkommen, mit welcher Mogelpackung diese Bundesregierung ihrem Lebensproblem gerecht werden will. Nicht nur die Aufgabe sozialstaatlicher Prinzipien ist zu beklagen, sondern massive Enttäuschung und das Gefühl, betrogen worden zu sein, werden sich dann gegen die Politik ganz allgemein in massivster Art und Weise richten. Deshalb halte ich hier fest: Erstens. Der Gesetzentwurf der Koalition löst das Pflegeproblem in unserer Republik nicht. ({0}) Jeder Blick in das Gesetz belehrt die Fachleute - und in der Folge auch die Betroffenen - eines Besseren. ({1}) Zweitens. Nach den Gesetzeskonstruktionen der Koalition, besonders durch die Ausgestaltung des Leistungsrechts und besonders durch die Deckelung der Leistungen bei 2 100 DM und die nicht vorgesehene Dynamisierung dieser Leistungen, wird die Folge sein, daß über 50 % der Betroffenen aus pflegebedingten Gründen weiterhin auf Sozialhilfe angewiesen sein werden. Von namhaften Fachleuten gibt es Schätzungen, die sogar höher liegen. Wie dramatisch muß die Enttäuschung sein, wenn den Betroffenen die Einführung einer Sozialversicherung vorgegaukelt wird, die als schlimm empfundene Sozialhilfeabhängigkeit aber - trotz Versicherungsbeitrags und Kompensationsgeschäften - für die Mehrzahl bestehen bleibt! Drittens. Die Koalition führt die Pflegeversicherung als Stufengesetz ein. Leistungen für ambulante Pflegefälle sollen ab 1994 wirksam werden. Der schwierige und kostenträchtige stationäre Bereich wird auf 1996 vertagt. Ihr Leistungskatalog und die bürokratiGerd Andres sche Gestaltung des Leistungsrechts werden ab 1994 - wenn sie merken, daß die Leistungen der Krankenkasse und der Sozialhilfe wegfallen - zur Enttäuschung Hunderttausender von Pflegebedürftigen führen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({2}) Viertens. Mit den Inkrafttretensdaten, besonders für den ambulanten Bereich ab 1. Januar 1994, werden die Betroffenen ihr blaues Wunder erleben: über zwei Jahre Gezerre um die Pflege und ihre Kompensation, ein viertel Jahr im Parlament für die fach- und sachkundige Beratung, ({3}) am 1. Januar 1994 Inkrafttreten eines Leistungsteils, der bei den Trägern nur zum Chaos führen kann. Das sage ich Ihnen vorher. Wer erlebt hat, wie die Antragslage bei der Einführung der Pflegeleistung bei den Krankenkassen war, der wird erleben, daß dies im kommenden Jahr - wenn Sie sich damit durchsetzen - zum blanken Chaos führen wird. ({4}) Fünftens. Die bürokratischen Regelungen des Gesetzentwurfs werden sehr schnell dazu führen, daß Anspruchsberechtigte merken werden, wie das Strickmuster der Koalition aussieht. Es wird darauf gesetzt, daß die besten Leistungen nur dann gewährt werden, wenn man die Familienangehörigen zwingt, die Pflege weiter zu Hause zu betreiben, und dafür mannigfache Gängelungen des medizinischen Dienstes, der Pflegekassen, eine „ordentliche Selbstbeteiligung" - so steht es im Gesetzestext - und Leistungsabzug bei anderen Arten der Versorgung in Erwägung zieht. Sechstens. Der Gesetzentwurf sorgt letztendlich nur für eine Grundversorgung. ({5}) Alles, was darüber hinaus geht, wird der privaten Daseinsfürsorge zugeordnet. Das Prinzip der Entsolidarisierung ist in ihm angelegt; ({6}) von einer solidarischen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit keine Spur. Die von den Betroffenen erhoffte umfassende Sicherung des Lebensrisikos „Pflege" bleibt bei Ihrem Entwurf auf der Strecke. Siebtens. Die Koalition baut zwei verschiedene Solidarsysteme auf: das der gesetzlichen Krankenversicherung und das der privaten Pflichtversicherung, für die Sie sozusagen eine Bundesorganisation vorschreiben. Beamte, Selbständige, über der Beitragsbemessungsgrenze liegende Erwerbstätige werden einer privaten Versorgung zugeführt. Dabei ist eine Reihe von Sonderregelungen natürlich schon einkalkuliert. Daß die gesamte Wohnbevölkerung, einschließlich der geringfügig Beschäftigten, in eine solidarische Versicherung einbezogen ist, ist bei Ihnen nicht vorgesehen; bei uns, beim SPD-Entwurf, ist das der Fall. Beispielsweise ist der große Kreis der geringfügig Beschäftigten im Koalitionsentwurf nicht versicherungspflichtig. Achtens. Durch die Wahl der Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Krankenversicherung, die gegenwärtig in den alten Ländern bei 5 400 DM und in den neuen Ländern bei 3 975 DM liegt, und durch jegliche Entlastung des Bundes, beispielsweise hinsichtlich der Rentenversicherungsbeiträge der Pflegepersonen, wird ein Beitragssatz von 1 Prozentpunkt ab 1994 und von 1,7 Prozentpunkten ab 1996 eingeführt. Die SPD hat mit ihrem Gesetzentwurf vom Herbst 1991 eine Beitragsbemessungsgrenze von 7 200 DM West und 5 300 DM Ost und damit einen Beitragssatz von 1,4 Prozentpunkten vorgesehen. Mit der Festlegung der Beitragsbemessungsgrenze wird darüber entschieden, wie solidarisch eine Pflegeversicherung letztendlich gestaltet werden kann. ({7}) Neuntens. Für die ambulante Pflegeleistung wird - je nach Pflegegrad - mit 400 DM, 800 DM oder 1 200 DM und dem Fehlen jeglicher Dynamisierung ein Leistungsangebot unterbreitet, das bei weitem nicht den Notwendigkeiten entspricht. Auch in diesem Bereich werden alle Sachleistungen, die wahlweise in Anspruch genommen werden können, bei 2 100 DM ohne Dynamisierung gedeckelt. ({8}) Zehntens. Besonders spannend wird der Gesetzentwurf, wenn man sich die Regelungen der Investitionskosten ansieht. Entgegen dem ursprünglichen Entwurf wurde eine monistische Finanzierung gewählt, die nach meiner Einschätzung jedoch nur eine vorgeblich monistische Finanzierung ist. Monistische Finanzierung bedeutet, daß die Pflege- und Investitionskosten über verabredete Leistungs- und Pflegesatzvereinbarungen durch die Träger gewährleistet werden und sie dabei gleichzeitig die Chance haben, betriebswirtschaftlich Gewinn zu erwirtschaften. Eine solche Finanzierungsart setzt allerdings voraus, daß die notwendigen Investitionskosten über den Pflegepreis auch aufgebracht werden. Mit den gefundenen Lösungen des Gesetzentwurfs zerschlägt der Bund alle bisherigen Finanzierungsund Zuständigkeitsregelungen. Die Rolle der Länder wird durch den Gesetzentwurf absolut marginalisiert. Sie dürfen noch die Geschäftsführung für die Landespflegekonferenz übernehmen und dafür die Geschäftsordnung entwerfen. Gleichzeitig werden sie jedoch zur Finanzierung der Investitionskosten in erheblichem Maße herangezogen. Jede Form einer vernünftigen Bedarfsplanung geht dabei verloren. - Ich könnte diese Reihe fortsetzen. Festgehalten werden muß: Die ganze Wahrheit über die Qualität dieses Gesetzentwurfs wird sich in den weiteren Beratungen herausstellen. Nicht mehr der notwendige Pflegebedarf, seine angemessene Versorgung, die Wahlfreiheit - und damit Selbstbestimmung - der Betroffenen, die Entwicklung einer bedarfsgerechten Infrastruktur für das kommende Jahrzehnt stehen im Mittelpunkt dieses Entwurfs, sondern Beitragssatzinstabilität, Verordnungswut, entfallende Dynamisierung und Verschlechterung der Pflegeinfrastruktur im kommenden Jahrzehnt werden das Ergebnis dieses Entwurfs sein. ({9}) Es ist schon besonders pikant, wie die sozialpolitische Sprecherin der F.D.P.-Bundestagsfraktion in einer Presseerklärung die Entsolidarisierung und Privatisierung feiert und gleichzeitig Gängelung und Maßregelung der Betroffenen und damit eine zunehmende Entmündigung der Pflegebedürftigen im Gesetzentwurf fröhliche Urständ feiern. Für die Kommunen und die Länder wird dieser Gesetzentwurf, sollte er Wirklichkeit werden, zu einem Nullsummenspiel werden, weil sich der Bund mit der Sicherung aller Kompetenzen und geschickten Finanzierungstricks wieder einmal zu Lasten anderer saniert. Hinzukommt, daß all die Lander, die bisher dafür gesorgt haben, daß eine vernünftige Infrastruktur im Pflegebereich zur Verfügung gestellt wird, künftig von den Pflegekassen bestraft werden. Sie müssen sehr wahrscheinlich die größten Finanzsummen an die Pflegekassen abführen, während sie wegen des höheren Bedarfs anderer am wenigsten zurückerhalten. Auch die Kommunen, die sich zunächst vordergründig freuen werden, werden bei einer solchen Konstruktion mittelbar - wie bei vielen anderen Gesetzgebungsverfahren dieser Koalition in den letzten Jahren auch - ins kurze Gras kommen. ({10}) Zusammenfassend: Das Pflegegesetz ist absolut unzureichend, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({11}) Vor diesem Hintergrund kann die monatelange Kompensationsorgie nur noch als blanker Zynismus bezeichnet werden, Herr Blüm. ({12}) Der Minister mit den Zementschuhen wird bei Umsetzung dieser Konzeption als größter Roßtäuscher in die bundesdeutsche Sozialgeschichte eingehen. ({13}) Wenn man dies zur Kenntnis nimmt, muß die Kompensationsdiskussion eine weitere verheerende Beurteilung erfahren. Die Neuregelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall verfolgt ganz andere Ziele. Es geht um einen massiven Eingriff in die Tarifautonomie. ({14}) Alle Krokodilstränen helfen nicht. Karenztageregelungen sind der Pflegeversicherung wesensfremd, haben mit der Regelung der Pflege absolut nichts zu tun. Dieses Gesetz ist der verheerenden Lohnnebenkostendebatte dieser Regierungskoalition zu verdanken. Weder die Höhe des Jahresurlaubs noch die finanziellen Belastungen der Arbeitgeber durch die Lohnfortzahlung, aber erst recht nicht die Einführung einer solch schlechten Regelung eines Pflegegesetzes rechtfertigen ein solches gesetzliches Koppelgeschäft. ({15}) Die Kalkulation war auch eine ganz andere, meine sehr verehrten Damen und Herren. Der Erfinder der Kompensation, Herr Geißler, verband mit der Kompensationsdiskussion ganz andere Hoffnungen. Einerseits wollte er damit dem Koalitionspartner F.D.P. die Sozialversicherungslösung schmackhaft machen, andererseits dem vereinigten bundesdeutschen Arbeitgeberlager die Widerstände gegen eine Pflegeversicherung als Sozialversicherungskonzeption abkaufen. Das Kompensationsgeschäft wurde zur Schlinge, die sich die Union selbst um den Hals gewunden hat. Schadenfroh hat die F.D.P. über Monate hinweg den Koalitionspartner vorgeführt. Dafür wurden drastische Verschlechterungen in der Pflegeversicherung in Kauf genommen. ({16}) Gleichzeitig wird die CDU/CSU in einem wichtigen sozialpolitischen Felde vorgeführt. Das werden wir noch sehen, wenn wir Ihre Pflegeversicherung im einzelnen diskutieren, Herr Blüm. Die Rolle, die der Arbeitnehmerflügel der Union dabei spielt, kann nur noch als tragisch bezeichnet werden. ({17}) Das bundesdeutsche Arbeitgeberlager mobilisiert gegen die Pflegeversicherung, egal welche Kompensation dieser Koalition noch einfällt. Dankbar werden sie die Karenztageregelung hinnehmen. Aber der kleine Finger führt in dieser Auseinandersetzung dazu, daß sie der Koalition, und hier ganz besonders der Union, auch noch die Hand abnehmen werden. Der Spielplan für die weitere Beratung der Pflegeversicherung wird sehr spannend. Herr Blüm, Herr Solms und andere führende Koalitionsstrategen philosophieren nach wie vor öffentlich über andere Kompensationsformen. Über ein Jahr hat die Koalition außer der Karenztageregelung nichts zustande gebracht. Sie wird - das sage ich Ihnen voraus - auf unseren erbitterten Widerstand stoßen und unsere Gesellschaft in eine Konfliktsituation führen, die den gesamten sozialen Frieden in Frage stellt. ({18}) Andere Kompensation verhinderten schon große Teile der Unionsfraktion selbst. Außer Fensterreden von Bundesarbeitsminister Blüm war intern nur zu hören, daß der Bundeskanzler selbst jede Feiertagsregelung torpediert hat. Fraktionsvorsitzender Schäuble hat dann dafür gesorgt, daß Norbert Blüm und dem Arbeitnehmerflügel die Flügel gestutzt und die Karenztage aufgezwungen wurden. Aus Bayern und Bonn ließ die CSU durch Herrn Stoiber und Herrn Waigel ihre Position zu Feiertagen mitteilen. Davon abgesehen, daß jede Feiertagsstreichung gegenwärtig zur Erhöung des Arbeitsvolumens und damit unmittelbar zum Anstieg der Arbeitslosigkeit führen muß, lehnten sie jede Feiertagskompensation mit bemerkenswerten Argumenten ab. Feiertage - so Herr Stoiber - gehörten zum Tafelsilber Bayerns, gehörten zur kulturellen Eigenart und Vielfalt der bayerischen Bevölkerung. - Recht hat er! 14 Feiertage, gesetzlich geregelt, haben doch für Bayern keineswegs zu Standortnachteilen geführt. Ganz im Gegenteil: Offensichtlich verhalfen sie zu besonderen Produktivitätsschüben. ({19}) Daß Herr Waigel vor diesem Hintergrund die Karenztageregelung lobt, verwundert dabei nicht mehr. Wie will eigentlich die CSU bei dieser öffentlichen Gefechtslage glaubwürdig bleiben? In der Koalition powert man die Karenztage durch, öffentlich läßt man ein paar Hansel andere Signale ausstreuen. Insgeheim strickt man vielleicht an einer Strategie, das Pflegeprojekt in dieser Legislaturperiode insgesamt scheitern zu lassen und mit Krokodilstränen anderen die Schuld daran zuzuschieben. Diese Strategie, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird nicht aufgehen. Das sage ich Ihnen voraus. ({20}) In der gestrigen Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung machte der Leiter der Bundesanstalt für Arbeitsschutz, Professor Wolfram Jeiter, folgende Rechnung auf: ({21}) Wir hatten im letzten Jahr 89 Millionen Arbeitsausfalltage. In Modellprojekten der Bundesanstalt war es gelungen, durch gezielte Maßnahmen des Arbeitsschutzes den Krankenstand um einen Prozentpunkt von rund 5 % auf 4 % zu senken. Dies macht eine 20%ige Absenkung der Arbeitsausfalltage aus. - Ich sage Ihnen: Durch gezielte Maßnahmen des Arbeitsschutzes, die diese Koalition allerdings umsetzen müßte, könnten nach einer Modellrechnung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz rund 17 Milliarden DM eingespart werden.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Andres, Sie haben Ihre Redezeit bei weitem überschritten. Ich bitte, zum Schluß zu kommen. ({0})

Dr. h. c. Gerd Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ich bitte meine Fraktion - das war auch vorher so besprochen -, daß ich noch eine Minute bekommen kann. Ich fasse zusammen: Eine Karenztageregelung kommt für die SPD nicht in Frage. Wir werden sie mit allen Mitteln und Möglichkeiten bekämpfen. Dies gilt besonders für verfassungsrechtliche Fragestellungen und für den im Bundesrat zustimmungspflichtigen Teil. Ihr Pflegegesetzentwurf ist unzureichend und widersprüchlich. Er führt bei seiner Umsetzung in den nächsten Jahren für die Betroffenen zu erheblichen Verschlechterungen und Unsicherheiten. Er ist darüber hinaus unsozial und, gemessen am SPD-Entwurf, eine Mogelpackung, die den überwiegenden Teil der Betroffenen weiterhin in der Sozialhilfe beläßt. ({0}) Die Pflegeversicherung hat als Sozialversicherungssystem mit Kompensation nichts zu tun. Eine Pflegeversicherung, die nur vorgibt, Arbeitgeber und Arbeitnehmer je zur Hälfte zur Beitragszahlung heranzuziehen, durch andere gesetzgeberische Maßnahmen aber die Arbeitgeber von der Beitragsleistung entlastet und dafür die Arbeitnehmer heranzieht, hat mit unseren bisherigen Prinzipien einer Sozialversicherung nichts zu tun. So wie Sie Kompensation und Pflegeversicherung jetzt angelegt haben, besteht bei mir der Verdacht, daß Sie an einer Lösung des Lebensrisikos „Pflege" in solidarischer Form kein Interesse haben.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Andres, das sind schon wieder eineinhalb Minuten gewesen.

Dr. h. c. Gerd Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich hoffe für alle Betroffenen, daß genau diese Ihre Kalkulation nicht aufgeht. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, darf ich bei allem Engagement, das bei dieser Frage zum Ausdruck kommt, noch einmal daran erinnern, was der amtierende Präsident schon heute morgen eingangs gesagt hat: Seien wir doch bei der Wortwahl etwas vorsichtig. „Roßtäuscher" und ähnliche Vokabeln sind, glaube ich, in unser aller Interesse nicht angebracht. ({0}) Meine Damen und Herren, das Wort hat nunmehr Frau Abgeordnete Dr. Gisela Babel.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stelle fest, daß sich die Kollegen von der SPD bis jetzt seriös an der Frage der Pflegeversicherung nicht beteiligt haben. Wir haben nur zwei Botschaften von ihnen: Sie finden, daß sie zuwenig Leistungen bietet, und sie möchten nicht, daß sie auch noch irgendwie bezahlt werden muß. - Ich glaube, damit melden Sie sich in der Sache nun wirklich ab. ({0}) Die Koalition legt heute den Entwurf für eine Pflegeversicherung vor, und das ist sicher ein bedeutsamer Tag für die Sozialpolitik. Daß es ein nur glücklicher Tag ist, kann uneingeschränkt vielleicht nur der Bundesarbeitsminister Norbert Blüm sagen. Ansonsten ist die Begleitmusik eher mißtönend, das Echo zwiespältig. Mit der Pflegeversicherung errichten wir eine fünfte Säule in der sozialen Sicherung Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mal einen kurzen Blick auf die anderen vier Säulen werfen. Die Krankenversicherung trat im Jahre 1885 in Kraft und umfaßte 9 % der Gesamtbevölkerung, heute sind es 88 %. Die Unfallversicherung umfaßte nach Ablauf eines vollen Rechnungsjahres 1886 8 % der Gesamtbevölkerung, heute sind es 81 %. Die Rentenversicherung aus dem Jahre 1890 hatte damals 11 Millionen Versicherte, das sind 23 % der Gesamtbevölkerung. Heute beträgt der Anteil 62 %. Die Arbeitslosenversicherung aus dem Jahre 1927 umfaßte seinerzeit 21 Millionen abhängig Beschäftigte und versicherte damit etwa 30 % der Wohnbevölkerung. Heute beträgt diese Zahl etwa 35 %. Nun also die Pflegeversicherung. Sie sollte zunächst 100 % der Wohnbevölkerung versichern, mit Befreiungsmöglichkeit auf Antrag. Jetzt ist das zwar etwas gelockert, aber wir können davon ausgehen, daß es immer noch 98 % der bei uns Lebenden sind, die hier versichert werden. Wir haben daraus zwei Erkenntnisse zu entnehmen: Früher hat man diese vier Säulen etwas schlanker gebaut, die Versicherungen nur für einen schutzbedürftigen Teil der Personen in Deutschland gedacht, aber stetig ausgedehnt. Heute beginnt man eine Sozialversicherung mit einem mächtigen Sockel: Alle sollen teilhaben an Rechten und Pflichten. Und die bange und offene Frage, die sich uns bald stellen wird, ist die, ob es nicht unsere Aufgabe sein wird, zu den schlanken Säulen zurückzukehren und die sozialen Sicherungssysteme funktionsfähig und bezahlbar zu machen. Es gibt heute eine „Reparaturwerkstatt" Rente, es gibt die „Reparaturwerkstatt„ Krankenversicherung, es gibt schließlich Strukturprobleme in der Arbeitslosenversicherung. Die kleine, aber feine Unfallversicherung bleibt in dieser Diskussion meist unerwähnt, weil sie nämlich gut arbeitet. Und es wird, meine Damen und Herren, so traurig es klingt, auch eine neue, zusätzliche „Reparaturwerkstatt" Pflege geben. Denn die Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen, die Mitnahmeeffekte, die Mißbrauchstatbestände, die Kostenentwicklung werden uns auch hier immer wieder zu Reformen zwingen. Deswegen hatte ja die F.D.P. vor einem Umlageverfahren gewarnt. Zwei Einwände will ich noch einmal wiederholen: Erstens. Das Umlageverfahren verpflichtet jede Generation, nur für ihre Pflegebedürftigen aufzukommen. Wir wissen, daß damit eine demographische Entwicklung nicht mit einbezogen wurde. Heute aber, meine Damen und Herren, müssen wir ja Vorsorge auch für spätere und sehr ungünstige Verhältniszahlen zwischen Erwerbstätigen und Pflegebedürftigen treffen. Insofern ist dieser heutige Generationenvertrag ein Vertrag zu Lasten späterer, jüngerer Generationen. ({1}) Zweitens, meine Damen und Herren, die neue Sozialversicherung wiederholt den Fehler der anderen: Sie knüpft am Lohn an. Der Lohn des Versicherten ist Maßstab für den Beitrag in der Pflegeversicherung. Ich will nicht länger auf die Argumentation eingehen, daß Pflegebedürftigkeit mit dem Arbeitsverhältnis nichts zu tun hat und daß der Arbeitgeber nicht herangezogen werden dürfte; das mag sein. Aber entscheidender und verheerender ist, daß die Kosten der Versicherung über die Kosten beim Lohn aufgebracht werden. Und da ruhen nun schon gewaltige Lasten. ({2}) Die Quote steigt auf 40 %, und das ist eine unerhörte Beitragslast. Der Arbeitnehmer muß dies alles erwirtschaften und für den Unternehmer trotzdem noch lohnender sein als z. B. Maßnahmen der Rationalisierung und Verlagerung der Arbeit ins Ausland. Von daher ist die Forderung nach Ausgleich berechtigt. Der Vorschlag, diese Entlastung durch Karenztage zu erreichen, ist ja insofern etwas problematisch, als er wiederum beim Arbeitnehmer ansetzt. Die lautstarken Proteste der Gewerkschaften sind ein Beweis für die Schwierigkeit, zu der dieser Weg führt. Einfacher - und ich denke, da war die Aufforderung von Bundesarbeitsminister Norbert Blüm völlig berechtigt - und richtiger wäre es, einvernehmlich zu Ausgleichsregelungen zu kommen, und zwar von beiden Tarifpartnern. Ich begrüße es ausdrücklich, daß der Gedanke, man könne eine neue Sozialversicherung einfach, wie gehabt, mit weiteren Kosten beschließen, auch in den Reihen der SPD zunehmend auf Kritik stößt, nicht bei Rudolf Dreßler, wohl aber bei Frau Simonis und Herrn Schröder, ({3}) und daß sich die Alternative, etwa zwei oder drei Feiertage zu streichen, dort in den Köpfen schon festsetzt. Vor einem Jahr war das noch nicht der Fall. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten sind schließlich zu groß, als daß man sich die besorgten Fragen: „Wie soll es bezahlt werden? Können wir uns das leisten, ohne Arbeitsplätze zu gefährden?" einfach ersparen kann, wie das bislang bei den Sozialdemokraten war. ({4}) Richtig ist die These von Norbert Blüm - und hier unterstützt ihn die F.D.P. -, daß der Sozialstaat bei uns an Grenzen stößt und neue, wichtige Leistungen nur beschlossen werden können, wenn vorher ein Umbau stattfindet. ({5}) Die Pflege ist teuer, mitunter sehr teuer. Wenn hier Rechtsansprüche entstehen und Leistungen gezahlt werden, muß verantwortliche Politik unter schmerzhaften Eingriffen an anderer Stelle erst die finanziellen Freiräume schaffen. ({6}) Der Entwurf sieht die Beteiligung an der Lohnfortzahlung vor. Andere Wege sind nicht ausgeschlossen, vielleicht wären es weniger steinige Wege. Und nun zur Pflege selbst: Die F.D.P. bejaht die Notwendigkeit, das Thema Pflegebedürftigkeit durch den Gesetzgeber zu regeln. Es bleibt zwar in unserem Staat - wir sollten das hier vielleicht auch einmal durchaus selbstbewußt feststellen- keiner ohne Hilfe bei der Pflege und ohne Pflege, aber die Lasten liegen schwer auf den Familien. Es fehlen die Voraussetzungen dafür, daß Pflegebedürftige zu Hause bleiben können, wenn sie das wollen, und daß pflegende Familienangehörige bei der Pflege unterstützt werden. Es fehlt für die Pflegepersonen die Möglichkeit, eine Alterssicherung aufzubauen. Es fehlen Einrichtungen der Kurzzeitpflege, der Tagespflege, die zwischen Familienpflege und Heimaufenthalt stehen. Die Lage ist durch eine unterschiedliche Versorgungslage, horrende Kosten bei den Einrichtungen und durch Angebotslücken gekennzeichnet. Sie ist für den, der genauer hinschaut, durch Angst und Erschöpfung in den Familien gekennzeichnet, in denen Angehörige gepflegt werden. Keineswegs nur, weil diese früher selbstverständliche Pflicht heute nicht mehr übernommen wird, sondern weil sie nicht mehr übernommen werden kann! Die Hälfte der Pflegepersonen ist über 65 Jahre alt und damit - zumindest nach den heutigen Maßstäben und auch nach den Maßstäben von früher - zu alt für eine schwere Arbeit. Die Pflegebedürftigen selbst sind hochbetagt, 80, 90 Jahre alt, so daß sich die Frage immer dringender stellt, wer hier eigentlich pflegen kann. Die F.D.P. begrüßt den ersten Schritt: Unterstützung der ambulanten Pflege, der ja dann auch schon 1994 in Kraft treten soll, und begrüßt, daß das Geld vor allem in die Familien gelangt und dort die notwendigen zusätzlichen Hilfen - seien es einfache Besorgungen, seien es fachliche Pflegeleistungen - beschafft und bezahlt werden können. An dieser Stelle auch einmal ein Wort der Hochachtung für Frauen, die bislang diese Arbeit wirklich in hervorragender und aufopferungsvoller Weise getan haben. ({7}) Die Sozialstationen mit einem breiten Angebot von gemeinnützigen und privaten Anbietern sollen sich entwickeln und, wo es sinnvoll ist, sich auch abstimmen. Für die zweite Phase - Leistungen im stationären Bereich - hätte sich die F.D.P. gerne mehr Zeit genommen. Wir hätten gerne eine Denk- und Atempause eingeschaltet, aber der Koalitionspartner war hier von erstaunlicher Sturheit. ({8}) Wir haben uns daher in das einmal Beschlossene gefügt. Lassen Sie mich zu weiteren inhaltlichen Punkten der Pflegeversicherung einige Bemerkungen machen. Die F.D.P. hat für die Privatversicherten erreicht, daß sie nach einer Übergangszeit, in der pauschalierte, an der gesetzlichen Pflegeversicherung angelehnte Beiträge erhoben werden, im Kapitaldeckungsverfahren versichert werden. Darin ist ja, wie Sie wissen, das Element Vorsorge enthalten, das zur Kostenstabilität in den nächsten Jahrzehnten dringend gebraucht wird. Wir bedauern, daß wir dies nicht zur Grundlage des gesamten Entwurfs machen können; aber zumindest für einen kleineren Teil ist das geschehen. Im Vertragsrecht haben die Liberalen dafür gesorgt, daß breiter Wettbewerb unter allen Einrichtungen herrscht, wenn sie den notwendigen Qualitätsstandard nachweisen. Es gibt keine Bedarfsplanung. Ich glaube, das ist wichtig. Der Pflegebedürftige kann die Pflegeeinrichtungen frei wählen. Alle Heime erhalten die Möglichkeit, zusätzlich zum Normalstandard auch andere Leistungen - Wahlleistungen - anzubieten. Das hatte das Bundesarbeitsministerium zunächst nicht vorgesehen, sondern die Ein-Klassen-Pflege für alle Versicherten. Aber der Pflegebedürftige hat wie jeder andere Mensch auch in seinem letzten Lebensabschnitt das Recht auf individuelle Lebensführung und, wenn er dafür zu zahlen bereit ist, auch das Anrecht auf einen besonderen Komfort. Pflegebedürftige können sich auch für solche Heime entscheiden, die auf Grund ihres Preisniveaus keine Pflegesätze mit den Pflegekassen und Sozialhilfeträgern vereinbaren. Hier sollen dem Pflegebedürftigen die Kosten erstattet werden - ein Durchbruch für das liberale Prinzip der Kostenerstattung zumindest in diesem Bereich. ({9}) So wird künftig ein breitgefächertes Angebot bestehen, das Konkurrenz gewährleistet. Einen Fehler aber galt es von Anfang an für alle Einrichtungen zu vermeiden, nämlich daß stationäre Einrichtungen mit dualer Finanzierung geschlagen werden und sozusagen unwirtschaftlich arbeiten müssen. Wir haben uns für die monistische Finanzierung entschlossen und sind froh, daß es diesen Weg dahin gibt. Ein Zuschuß des Bundes in die Pflegekasse ermöglicht die Finanzierung aus einer Hand. Allerdings muß der Bund die Möglichkeit erhalten, diesen Zuschuß auch refinanziert zu bekommen. Die Sozialhilfeträger profitieren von der Einführung dieser Pflegeversicherung in Milliardenhöhe, und da, denke ich, ist es schon richtig, daß hier ein Teil in die Pflegekasse kommt. ({10}) Im Chor der Kritik fehlen nicht die Stimmen, die die Leistungshöhe im stationären und ambulanten Bereich bemängeln. Meine Damen und Herren, es ist ja nie genug, was man bekommt. Man kann immer noch mehr fordern und unzufrieden bleiben. Die Politik muß aber Vorsicht walten lassen im Wecken von Hoffnungen und Erwartungen. Wie viele dieser berühmten Eckrentner nun also tatsächlich aus der Sozialhilfe herausgeholt und zu Selbstzahlern werden, ist für die F.D.P. zumindest eine offene Frage. Ich denke nicht, daß das große Ziel der Pflegeversicherung schon dann verfehlt ist, wenn sich die Verhältnisse in den Heimen nicht völlig umkehren lassen. Ich glaube, die Bürger erwarten vor allem eine Verbesserung der Infrastruktur und die Hilfe für die Familie; sie erwarten, daß Pflege leistbar und verfügbar gemacht wird. Dazu taugt die Pflegeversicherung. Daß die Pflegeversicherung aber alle Pflegeleistungen finanziert, wie das von der SPD gewollt wird, bezweifelt die F.D.P. Wir treten da etwas bescheidener auf. Die Pflegeversicherung wird Kosten mitfinanzieren. Es bleibt für den einzelnen noch eine erhebliche Mitbeteiligung, und für die Sozialhilfeträger trifft das auch zu. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß - nach einem kritischen Beginn und einem etwas positiven Mittelteil vielleicht vorsichtig abwägend -: Der Bundesarbeitsminister hat mit beispielloser Energie - vielleicht nicht immer ganz leicht zu ertragenden Mitteln - diese Pflegeversicherung betrieben, in wirtschaftlich sich verdüsternden Zeiten ein riskantes und ein sehr gewagtes Unterfangen. Aber daß er sich nicht davon abbringen ließ, daß soziale Problem lösen zu wollen, verdient Respekt, zumal ja nun wirklich die gewählte Kompensation Wind sät und vielleicht Sturm erntet. Die F.D.P. hat - das will ich auch nicht beschönigen - mit der gleichen Energie, aber nicht mit demselben Erfolg dagegengehalten, andere Lösungswege zu beschreiten; sie hat ihre Bedenken formuliert, und sie sieht die dunklen Wolken auch noch keineswegs verweht. Aber ein Ja ist ein Ja, und eine Vereinbarung, der wir zugestimmt haben, soll auch eingehalten werden.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Dr. Babel, auch Sie sind weit über die vereinbarte Redezeit gegangen.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir sind entschlossen, gemeinsam den Weg zu einer Pflegeversicherung zu gehen. Ich bedanke mich. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, als nächster Redner erhält jetzt das Wort unser Kollege Dr. Ilja Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man hat manchmal den Eindruck, als ginge es hier um den Spatz in der Hand oder die Taube auf dem Dach. Ich sage - und ich weiß, was ich sage -, es geht hier um den Heuschreckenschwarm im Saatgut. Was hier Umbau des Sozialstaats genannt wird, ist eine schlimme Sprachverwirrung, mit der Sie die Menschen irreführen. Ich erlaube mir, an dieser Stelle ein Gedicht vorzutragen, damit Sie vielleicht einmal merken, wohin es führen kann, wenn man mit der Sprache so umgeht: Zitronenfalter falten Zitronen. Fußballer ballen die Füße. Behinderte behindern. Kanzler kanzeln ab. Obdachlose losen ob eines Daches. Obdachlose kanzeln Zitronenfalter ab. Kanzler ballen ein Dach. Fußballer losen ob einer Zitrone. Behinderte falten die Füße. Zitronenfalter behindern das Abkanzeln. Mit geballten Füßen Falten Unter losem Dach Behinderte Fußballernde Kanzler Zu Zitronen. Ich hoffe, Sie haben gemerkt, was Sprache vermag. ({0}) - Vielleicht haben Sie bessere Gedichte gelesen; das will ich nicht bezweifeln. Ich wollte Ihnen ja auch nur vorführen, was für eine Verwirrung Sprache stiften kann. Die Frage ist: Worum geht es eigentlich bei der Pflegeversicherung? Herr Blüm, ich bin entsetzt darüber, was Sie in dieser Hinsicht von sich gegeben haben. Sie sagen, daß sich Krankenschwestern selbständig machen und dann tagsüber pflegen können, weil sie keinen Schichtdienst mehr machen wollen; dann können sie zwei oder drei Leute pflegen, und dann sind sie sogar ganz gut gestellt. Wenn ich Sie - und auch Herrn Solms - richtig verstanden habe, dann ist das ja wunderbar: Dann pflege ich zehn Leute und habe 12 000 DM. Das ist ja wirklich zum Lachen! Pflegebedürftigkeit heißt, 24 Stunden am Tage, 7 Tage in der Woche, 366 Tage im Schaltjahr auf Anwesenheit eines Pflegenden angewiesen zu sein. Ich weiß, wovon ich rede, ich bin nämlich ein solcher Pflegebedürftiger. ({1}) - Ich weiß, wovon ich rede. Diese Arbeit wird massenhaft, von Hunderttausenden von Menschen geleistet, insbesondere von Frauen. Diese körperlich und geistig sehr, sehr schwere Arbeit soll ordentlich bezahlt werden; darum geht es. Es wäre, Herr Blüm, eine ganz einfache Lösung möglich, die überhaupt keine große Gesetzesänderung verlangt: ({2}) Weiten Sie doch einfach die jetzt schon seit 25 oder 30 Jahren bestehende Regelung für Kriegsopfer und für Beamte auf alle Menschen aus, die in der gleichen Situation sind. Das sind steuerfinanzierte Leistungsgesetze; die sind ganz gut. Sie hätten mich sofort auf Ihrer Seite, nicht aber für Ihre sehr mickrige Pflegeversicherung, die einen einzigen Fortschritt enthält, nämlich die Rentenanrechnung. Arbeitslosenzeiten werden aber z. B. nicht angerechnet. Was ist denn, wenn eine 35jährige Frau 20 Jahre ihren Vater pflegt? Sie ist dann 55, die Pflege ist nicht mehr erforderlich, weil der Vater entweder gestorben ist oder eine andere Lösung gefunden wurde. Sie geht dann zum Arbeitsamt und bekommt noch nicht einmal eine Umschulung bezahlt. ({3}) Ich muß sagen, Sie sollten als Arbeitslosen- und Sozialhilfeminister andere Dinge in den Vordergrund stellen als das, was Sie hier allen Leuten so hervorragend verkaufen. Die Privatversicherungen machen doch den Reibach bei dieser Sache; denn das, was Sie Grundversorgung nennen, zwingt regelrecht dazu, nebenbei noch eine Privatversicherung abzuschließen. Ich weiß nicht, Frau Babel, warum Sie so tun, als ob Sie sich nicht durchgesetzt hätten. Sie haben doch voll gewonnen. ({4}) - Aber wer soll denn bitte draufsatteln, wenn er nichts hat? Was ich noch sagen muß und was ich für ganz verhängnisvoll halte, ist dies: In dieser gesamten Diskussion geht es seit einem Jahr um nichts anderes als um das, was Sie Kompensation nennen. Es geht um nichts anderes als darum: Wie kann man diesen Klotz am Bein der Gesellschaft erträglich machen? Das ist für diejenigen, die es betrifft, psychologisch verheerend, und es ist - da werden Sie als Christen in dieser Hinsicht hundertprozentig auf meiner Seite sein - auch menschlich unverantwortlich, wenn Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, zu Klötzen am Bein der Gesellschaft werden, zumindest erst einmal im Kopf. Ein wirklicher Umbau wäre es, wenn am Ende die Reichen wenigstens ein bißchen weniger und die Armen ein bißchen mehr hätten. Was Sie machen, ist, daß die Armen mit den ganz Armen Solidarität üben sollen. Das finde ich nicht in Ordnung. Es gibt in dieser Gesellschaft wirklich genügend Möglichkeiten, arm zu werden. Ich möchte, daß man zumindest nicht deshalb arm wird, weil man auf assistierende Pflege oder auf Anleitung angewiesen ist, weil man - das zu sagen halte ich für nicht unbedeutend - Hilfe zur Selbsthilfe braucht; denn das ist der Zweck von assistierender Pflege in meinem Verständnis. Es muß darum gehen, Menschen die Möglichkeit zu geben, immer in Würde und weitgehend selbstbestimmt zu leben, und zwar auch dann, wenn sie z. B. nicht mehr allein aufstehen können, wenn sie sich nicht mehr waschen können, wenn sie das Essen nicht mehr zubereiten können, wenn sie nicht allein zur Arbeit können. Ich weiß, wie gesagt, wovon ich rede. Ich bin seit mehr als 25 Jahren betroffen. Herr Blüm, erlauben Sie mir, noch ein Gedicht vorzutragen. Ich habe dieses Gedicht geschrieben im August 1989 in bezug auf die DDR und auf das, was damals in der Öffentlichkeit, als öffentliche Meinung verbreitet worden ist. Als ich mir dieses Gedicht jetzt noch einmal angesehen habe, war ich bestürzt dar über, wie aktuell es ist. Allerdings hat das jetzt mit der SED nichts mehr zu tun. Bilanz Wir sind Gut. So Verdammt gut. So Verdammt, gut zu Sein. Wir sind so Gut, zu sein. Wir Sind so zu. Wir Seien. Verdammt, Wir sind zu gut! Herr Blüm, vielleicht sagt Ihnen das etwas. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich erteile jetzt das Wort dem Herrn Bundesminister für Gesundheit, unserem Kollegen Horst Seehofer.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Leistungen der Pflegeversicherung kann man nur dann richtig einordnen, wenn man sie einmal in Bezug setzt zu dem, was ein Arbeitnehmer an Alterssicherung bekommt, wenn er 45 Jahre beschäftigt war. Die Durchschnittsrente eines Rentners mit 45 Beitragsjahren liegt im Westen bei 1 870 DM und im Osten bei 360 DM. Die Leistungen der Pflegeversicherung liegen im stationären Bereich bei 2 100 DM im Monat; im ambulanten Bereich sind es bis zu 1 200 DM Pflegegeld, und bei Sachleistungen wiederum bis zu 2 100 DM. Hinzu kommen die Beiträge für die Rentenversicherung. In diesem Zusammenhang von einer unzureichenden oder kümmerlichen Pflegeversicherung zu reden ist geradezu ein Hohn. ({0}) Die Leistungen der Pflegeversicherung sind höher als die Eckrente nach 45 Beitragsjahren. Was der größte Erfolg dieser Pflegeversicherung ist: Diese Leistungen stehen auch dem heute Pflegebedürftigen bereits zur Verfügung, ohne daß er auch nur einen Monatsbeitrag in die Pflegekasse eingezahlt hat. ({1}) Deshalb sage ich, daß diese Pflegeversicherung in ihrer Wirkung, in ihrer Bedeutung und in ihrer Funktion des sozialen Schutzes durchaus vergleichbar ist mit der Einführung der bruttolohnbezogenen, dynamischen Rente im Jahre 1957. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Minister, gestatten Sie Zwischenfragen?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Ja, bitte!

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Dr. Seifert, bitte!

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Seehofer, wollen Sie uns den Eindruck vermitteln, daß die Pflegeleistung sozusagen ein Einkommen für diejenigen ist, die Pflege brauchen?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Das habe ich nicht gesagt. Aber es ist eine Hilfe, eine materielle Hilfe auch bei der Infrastruktur, eine Hilfe für den Pflegenden, die weit über das hinausgeht, was es in den Sozialsystemen anderer industrialisierter mitteleuropäischer Länder bisher gibt. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Pfaff? - Bitte!

Prof. Dr. Martin Pfaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, es geht um den Unterschied zwischen dem Äquivalenz- und Leistungsfähigkeitsprinzip auf der einen Seite und dem Bedürftigkeitsprinzip auf der anderen Seite. Wollen Sie dieselben Kriterien, die Sie jetzt fälschlicherweise an die Ansprüche aus der Pflegeversicherung anlegen, auch auf die gesetzliche Krankenversicherung anwenden? Man zahlt ja immerhin z. B. mehrere tausend Mark für eine Operation im Krankenhaus. Wäre es nicht sinnvoller, einen solchen Vergleich von vornherein zu unterlassen? ({0})

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Nein, Herr Professor Pfaff. Die Leistungen der Pflegeversicherung erhöhen das verfügbare Einkommen eines Haushalts mit einem pflegebedürftigen Angehörigen. Vor dem Hintergrund, daß wir Deutschen immer dazu neigen, dann, wenn 2 100 DM gewährt werden, nicht über diese 2 100 DM zu reden, sondern die Frage zu stellen, warum es nicht 4 000 DM sind, ({0}) wollte ich einmal klarstellen, daß diese Leistungen der Pflegeversicherung die Eckrente eines Durchschnittsrentners übersteigen und daß diese Leistungen deshalb ein gewaltiger sozialer Fortschritt sind. Das wollte ich damit sagen. ({1}) Das zweite Argument: Die Kranken zahlen für die Pflegebedürftigen. Das ist auf den ersten Blick ein sehr emotionales Argument. Im Grunde geht es darum, bei der Verteilung unserer Sozialleistungen neue Prioritäten zu setzen, von leichteren Fällen etwas wegzunehmen, um den wirklich Schwachen, Bedürftigen vernünftig helfen zu können. Herr Dreßler, haben wir ähnliches nicht auch bei der von uns gemeinsam getragenen Gesundheitsstrukturreform gemacht? Sind wir da nicht auch hergegangen und haben gesagt „Mehr Selbstbeteiligung oder Leistungausgrenzung in den Fällen, in denen wir das in die Eigenverantwortung überführen können, um den schwereren Fällen in der gesetzlichen Krankenversicherung helfen zu können"? ({2}) Dieses Grundprinzip war doch unsere gemeinsame Überzeugung bei der Formulierung der Gesundheitsstrukturreform, und wir wiederholen das jetzt bei der Pflegeversicherung. ({3}) Ein drittes Argument: Ständig wird gesagt, ein Karenztag oder zwei Karenztage führten dazu, daß die Menschen länger krank geschrieben würden. Ich stehe ja nicht in dem Verdacht, jeden Tag eine Harmonieveranstaltung mit den deutschen Ärzten zu haben. Aber vor diesem Argument möchte ich die deutschen Ärzte wirklich in Schutz nehmen, daß ein Karenztag automatisch, auf Knopfdruck dazu führt, daß alle kranken Menschen für fünf Tage oder für acht Tage krank geschrieben werden. ({4}) So ist unsere deutsche Ärzteschaft nicht. Vor diesem Argumènt möchte ich sie in Schutz nehmen. ({5}) Allerdings gehört zur Wahrheit auch, daß dies nicht für alle gilt. Deshalb haben wir ja im Gesetz Vorkehrungen getroffen, so daß wir, falls es hier schwarze Schafe geben sollte, mit Schadenersatzansprüchen und auch mit dem Entzug der Facherlaubnis zur Kassenzulassung möglicherweise reagieren können. Aber insgesamt wird diese Wirkung nicht eintreten, und den Einzelfällen des Mißbrauchs begegnen wir mit diesem Gesetzentwurf sehr nachdrücklich. Meine Damen und Herren, was bei der Diskussion über die Pflegeversicherung häufig übersehen wird: Es gibt heute unbestritten 40 % Fehlbelegung in den Krankenhäusern, d. h. Patienten, die eigentlich länger in den Krankenhäusern sind, als es medizinisch geboten wäre. Das bedeutet allein in der Bundesrepublik ({6}) 85 000 überflüssige Betten, 26 Millionen Pflegetage pro Jahr durch Fehlbelegung. Motiv vieler Fehlbelegungen ist die Tatsache, daß das System der sozialen Sicherung beim Krankenhausaufenthalt heute praktisch 100 % der Kosten übernimmt, daß aber ein Pflegebedürftiger in dem Moment, in dem er nicht mehr im Krankenhaus ist, praktisch durch den sozialen Rost fällt. Das ist eine unwürdige Situation, weil sie den Pflegebedürftigen gewissermaßen einem Zufallsprinzip aussetzt: Findet man in einem Krankenhaus einen Krankenhausarzt, der die Diagnose „Krankheit" stellt, dann tritt heute noch die gesetzliche Krankenversicherung voll ein. Wird aber die Diagnose gestellt „Hier tritt die medizinische Behandlung in den Hintergrund; bei dir ist die Pflege überwiegend" und erfolgt die Krankenhausentlassung, dann ist mit Ausnahme der Sozialhilfe kein sozialer Schutz vorhanden. Wir alle, insbesondere die Krankenhausbeschäftigten, kennen die tägliche Realität in den Krankenhäusern, daß die Krankenhausärzte von den Angehörigen bestürmt werden, die Verweildauer doch zu verlängern, entweder weil die notwendige Anschlußbehandlung und -betreuung für Pflegebedürftige von der Infrastruktur her fehlt oder weil die Kosten für die Unterbringung in einem Heim nicht aufgebracht werden können. Das ist eine Realität, die bei der Finanzierung der Pflegeversicherung oft übersehen wird. ({7}) Das ist zum einen unwürdig für die Menschen, für die Angehörigen und zum zweiten im Grunde eine versteckte Subventionierung der Pflege über die gesetzliche Krankenversicherung. Meine Damen und Herren, ich sage vor dem Hintergrund der Gesundheitsstrukturreform: Wir haben hier revolutionäre Veränderungen im Krankenhauswesen durchgeführt: Wegfall des Selbstkostendekkungsprinzips, mehr Ambulanz im Krankenhaus, vor-und nachstationäre Untersuchung, neues Vergütungssystem. Ich sage als Gesundheitsminister: Diese Maßnahmen und Instrumente werden Stückwerk bleiben, werden trotzdem nicht verhindern können, daß die Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung mittelfristig hochgehen, wenn es nicht gelingt, für die Pflegebedürftigen, die heute in einem hohen Maße noch in den Krankenhäusern versorgt werden, eine fünfte Säule, nämlich die Pflegeversicherung, einzuführen, die die gesetzliche Krankenversicherung ergänzt. ({8}) Die Maßnahmen im Krankenhaussektor werden ohne Pflegeversicherung nicht dazu beitragen können, daß wir die Beiträge stabil halten. Deshalb sage ich: Ich unterstütze auch aus diesem Grunde die Pflegeversicherung nachdrücklich. Im übrigen wird der Krankenhausbereich durch die Pflegeversicherung um 2,5 Milliarden DM entlastet.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Professor Pfaff?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Professor Pfaff, ich habe Ihnen doch nichts getan. Aber bitte.

Prof. Dr. Martin Pfaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, ich bin auch nicht dafür bekannt, daß ich Ihnen allzuviel angetan hätte. Nehmen wir doch einmal Ihre Zahlen. Sie haben gesagt, bis zu 40 %. Man könnte darüber streiten, ob es nun 33 % sind. Müßte man nicht, wenn man Ihre Argumentation fortsetzt, daß eine Entlastung der Beitragssätze möglich und wahrscheinlich ist, wenn endlich einmal nicht nur im Heim, sondern auch im Krankenhausbereich die gesetzliche Pflegeversicherung kommt, sagen, daß schon jetzt die Arbeitgeberseite zumindest von einem Drittel der über 50 Milliarden DM zur Hälfte entlastet wird, so daß das ganze Gerede um Karenztage eigentlich hinfällig ist?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Wissen Sie, Herr Pfaff, dieses Einsparvolumen wird ja als Gegenfinanzierung der Pflegeversicherung eingesetzt. Deshalb brauchen wir nicht in dem Umfang Karenz- oder Feiertage, wie es Teile Ihrer Partei vorschlagen. ({0}) Wir brauchen die drei Tage der Frau Simonis gar nicht, weil wir im Krankenhausbereich umwidmen und die Einsparung zugunsten der Pflegeversicherung einsetzen. So einfach ist das. ({1}) Meine Damen und Herren, was ich auch sehr begrüße, ist, daß es dadurch, daß wir die Pflegeversicherung unter dem Dach der gesetzlichen Krankenversicherung vollziehen, gelingt, einen neuen Zweig der sozialen Sicherung einzuführen, ohne daß wir eine neue Bürokratie schaffen. Das ist ein ganz wichtiges Moment dieser Pflegeversicherung. ({2}) Wir nutzen die vorhandene Verwaltungsinfrastruktur der gesetzlichen Krankenversicherung, die Datenbestände, das Know-how. Die Krankenkassen haben eine langjährige Erfahrung mit Pflegebedürftigen und ihren Bedürfnissen. Sie haben eingespielte Verfahren zur Ermittlung der Pflegeversicherten, zur Erhebung der Beiträge für die Pflegeversicherung von Arbeitgebern, sonstigen Zahlungsverpflichteten und Versicherten, zum Abschluß von Verträgen. Wir haben gestern mit Vertretern der Krankenkassen gesprochen. Ich bin überzeugt, daß die gesetzliche Krankenversicherung mit gleichem Engagement an den Vollzug dieses Gesetzes herangehen wird wie an andere große Aufgaben. Ich bin ganz zuversichtlich, daß es, auch wenn die Beratung sehr straff sein wird, durch die gesetzlichen Krankenversicherungen möglich sein wird, das Gesetz, lieber Bundesarbeitsminister, pünktlich zum 1. Januar 1994 im Interesse der Pflegebedürftigen zu vollziehen. ({3}) Es ist auch wichtig, daß wir zwischen der Kranken-und der Pflegeversicherung eine sehr klare Trennung der Finanzen haben werden. Es wird also nicht zu Verschiebungen von Lasten und Finanzen kommen. Das ist dadurch sichergestellt, daß die Pflegeversicherung der gesetzlichen Krankenversicherung 4 % der Verwaltungsausgaben erstattet und daß die Hälfte der Aufwendungen für den medizinischen Dienst sowohl von der Krankenkasse wie von der Pflegeversicherung getragen wird. So ist einerseits eine klare Kostenabgrenzung gewährleistet, andererseits aber entsteht durch die Pflegeversicherung keine neue Bürokratie, weil wir die bewährte gesetzliche Krankenkasse dafür heranziehen. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Ja.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte, Kollege Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Minister, entschuldigen Sie bitte, aber wie wollen Sie das erklären? Wollen Sie gespaltene Persönlichkeiten hervorrufen? Sie sagen, das sollen dieselben Menschen, dieselben Institutionen machen. Das bezeichnen Sie als klare Trennung, oder wie ist das? ({0})

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Seifert, ich habe von der klaren Kostentrennung gesprochen, damit nicht der Vorwurf auftaucht, daß ein Apotheker, ein Arzt, ein Zahnarzt, ein Masseur die Pflegeversicherung indirekt mitfinanziert. Deshalb ist diese Kostenabgrenzung sehr wichtig. Was das Personal der Krankenkassen und die Geschäftsführer betrifft: Herr Seifert, ich lade Sie ein: Begleiten Sie mich! Sie glauben gar nicht, wie wendig und flexibel diese Herrschaften sind. ({0}) - Jederzeit. Die Terminabsprache können wir gleich machen. Ein letzter Gedanke, meine Damen und Herren: Trotz der Diskussion über Infrastruktur für Pflege und die Höhe der Pflegeleistungen müssen wir uns in der Bundesrepublik Deutschland noch verstärkt dem Thema zuwenden: Wie können wir Pflegebedürftigkeit vermeiden? ({1}) In der Frage einer rasch einsetzenden Rehabilitation sind wir in der Bundesrepublik Deutschland eher unterentwickelt, sowohl was den Umfang wie auch den zeitlichen Einsatz betrifft; dabei denke ich z. B. an die Frührehabilitation. Alle Experten sind der Meinung, daß es, wenn die Frührehabilitation bei Schlaganfällen bereits in den Akutkrankenhäusern umfassender stattfinden würde, in einem höheren Maße möglich wäre, Menschen soweit zu rehabilitieren, daß sie die täglichen Verrichtungen des Lebens selbst erledigen können. Deshalb müssen wir den Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege", der sich im Pflege-Versicherungsgesetz gewissermaßen wie ein roter Faden durchzieht, verstärkt angehen. Dazu zählt auch, daß wir die geriatrische Aus- und Weiterbildung unserer Ärzte und Medizinstudenten verbessern müssen und daß wir, was mir sehr am Herzen liegt, auch die Frührehabilitation in den Akutkrankenhäusern in der Bundesrepublik Deutschland verstärken. Das ist nicht nur menschlicher; ich denke, mit einer aktivierenden Pflege können wir auch Kosten sparen und so die Lebensqualität der Pflegebedürftigen entscheidend verbessern.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Minister, es gibt nochmals den Wunsch von Herrn Seifert. - Bitte sehr, Herr Kollege Dr. Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Minister, da Sie von Rehabilitation sprechen: Was halten Sie denn in diesem Zusammenhang von der Forderung nach lebenslanger Rehabilitation, und zwar auch bei nachgewiesener Pflegebedürftigkeit?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Ich habe von der aktivierenden Rehabilitation und Pflege gesprochen. Pflege darf man nicht nur als etwas Passives, als etwas Bewahrendes verstehen, sondern auch als etwas Aktivierendes. ({0}) Insofern sind wir vom Grundgedanken her völlig einer Meinung. Meine Damen und Herren, ich bin der tiefsten Überzeugung: Die Pflegeversicherung kommt; da hat Norbert Blüm recht. Wenn sie denn am 1. Januar 1994 in Kraft getreten ist, dann haben wir eine fünfte Säule der sozialen Sicherung. Das bedeutet, daß wir dann auch auf dem Feld, wo wir bisher eher Entwicklungsland waren, sowohl was die Qualität der Pflege als auch den sozialen Schutz bei Pflegebedürftigkeit betrifft, weltweit ganz oben, wenn nicht sogar an der Spitze stehen. Das reiht sich dann nahtlos in alle anderen Sozialversicherungszweige ein, insbesondere auch in die gesetzliche Krankenversicherung, wo wir entgegen aller Unkenrufe auch bezüglich der Qualität und des sozialen Schutzes in der Welt einmalig sind. ({1}) Deshalb ist es nur gut, Frau Babel, daß wir die bewährten Prinzipien unserer Sozialversicherung, das Umlagesystem und die Solidarität - auf die übrigens bei ihrer Gesundheitsreform auch die Amerikaner, die Franzosen und die Engländer schauen - auch in der Pflege verwirklicht haben. Ich bin sehr stolz darauf. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, an sich ist die vereinbarte Debattenzeit zu Ende. Es gibt aber noch Redewünsche für etwa eine Stunde. Ich wollte das nur sagen, damit alle über den weiteren Ablauf Bescheid wissen. ({0}) Das Wort erhält jetzt der Landesminister aus Nordrhein-Westfalen für Arbeit, Gesundheit und Soziales, unser früherer Kollege Franz Müntefering. ({1}) Minister Franz Müntefering ({2}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als wir vor Jahren begonnen haben, über Pflege zu sprechen, schien es so zu sein, daß die Sozialdemokraten, die Christdemokraten und die Christsozialen dicht beieinander sind. Ich habe lange Zeit gedacht, es werde die Möglichkeit geben, daß wir uns darüber verständigen. Ich bin nun auf Grund dessen, was Sie uns auf den Tisch gelegt haben, sehr skeptisch geworden. Da Minister Franz Müntefering ({3}) haben Sie lange, lange Anlauf genommen, und der kurze Sprung, der hinterherkam, war mehr als dürftig. Im Alltagsleben sagt man in einem solchen Fall: Angeber! Zwei Jahre zu brauchen und dann ein solches Gesetz auf den Tisch zu legen, wie es uns jetzt vorliegt - das ist weniger, als wir vermutet haben. ({4}) Wir haben vor zwei Jahren unseren Gesetzentwurf auf den Tisch gelegt. In den zwei Jahren hat die Öffentlichkeit, haben die Menschen im Lande begriffen, daß es ohne eine gute Pflegeversicherung nicht gehen wird. Nur: Was Sie jetzt anbieten, ist keine gute. ({5}) Wir wollen, daß es eine Pflegeversicherung für alle gibt - für alle! -, nicht nur für die gesetzlich Krankenversicherten, nicht nur für die, die mit ihrem Einkommen unter der Beitragsbemessungsgrenze liegen, sondern eben eine Pflegeversicherung für alle, keine Spaltung der Solidargemeinschaft, nicht eine Pflegeversicherung sozusagen für das gemeine Volk und dann noch eine de luxe daneben. ({6}) Das ist aber im Endergebnis das, was Sie vorgelegt haben. ({7}) Nehmen Sie alle Menschen, alle Bürgerinnen und Bürger des Landes in die Pflegeversicherung auf, so wie wir das wollen! ({8}) - Sie haben die nicht gesetzlich Krankenversicherten nicht einbezogen, und Sie haben die Beitragsbemessungsgrenze so angesetzt, daß ein echter Solidarausgleich verhindert wird. ({9}) Damit bleiben Sie weit hinter dem zurück, was wir wollen: ({10}) Pflegeversicherung für alle. ({11}) Zweitens. Wir wollen die häusliche Pflege stützen. Da sind wir uns offensichtlich einig. Die Frage ist nur: Wie macht man das denn eigentlich? - 85 % der Pflegefälle werden zu Hause gepflegt, was ganz überwiegend zu Lasten der Töchter, der Schwiegertöchter, der Frauen geht. ({12}) Wir wollen denen helfen und wollen ihnen Unterstützung geben. Wir wollen Rentenversicherungsbeiträge, die nicht vom Grad der Bedürftigkeit abhängig sind. Wir wollen, daß es eine angemessene Höhe der Hilfe zur Pflege gibt, und zwar für die, die pflegebedürftig sind. Damit komme ich auf die Zahl 1 200 DM zu sprechen, weil der Herr Solms die eben zweimal gebracht hat. - Doppelt abstrus! Ab 1. Juli 1993 gibt es 997 DM Sozialhilfe, Pflegehilfe. 200 DM gibt es von der Krankenkasse dazu. Das sind zusammen 1 197 DM. Nun schlagen Sie vor: 3 DM mehr, nämlich 1 200 DM als höchsten Satz. - Haben Sie das eigentlich schon einmal genauer beleuchtet? Sind Sie sich eigentlich dessen bewußt, wie Sie da die, die auf eine Entscheidung warten, mit den Zahlen, die Sie vorschlagen, geradezu verhöhnen? ({13}) - Jetzt lenken Sie mal nicht ab, Herr Blüm! Von wegen schäbige Behandlung der Samariter! Wenn die jetzt 1 197 DM bekommen, und Sie sagen „3 DM mehr, und das war es dann", dann sage ich: Schäbige Behandlung der Samariter! - Das ist aber Ihr Gesetz, das auf dem Tisch liegt! ({14}) - Ja, ja. Dann zu Herrn Solms mit seiner Idee, man brauche ja nicht nur einen zu pflegen; man könne auch zwei pflegen; dann gebe es nicht 1200 DM, sondern 2 400 DM. - Der Herr Solms scheint nicht zu wissen, daß die 1 200 DM nicht an den gezahlt werden, der da pflegt, sondern an den, der gepflegt wird. ({15}) Er sollte sich diese Feinheiten wenigstens einmal ansehen, damit er damit vernünftig umgehen kann. Die 2 100 DM jährlich für Urlaubspflege sind weiß Gott kein stolzer Betrag. Dazu haben wir andere Vorschläge gemacht. ({16}) Ich will an dieser Stelle das aufgreifen, was Herr Seehofer in bezug auf Prävention und Rehabilitation angesprochen hat. - In der Tat - das ist richtig -: Wir werden uns neben dem, was häusliche Pflege ausmacht, und dem, was stationäre Pflege ausmacht, noch vieles überlegen müssen in der Differenzierung dazwischen: Kurzzeit-, Urlaubspflege, Tagespflege. ({17}) In diesem Konzept werden unsere Sozialstationen im Lande eine große Rolle spielen. Minister Franz Müntefering ({18}) Wenn ich eben lobend gesagt habe „Da sind zu Hause Töchter, Schwiegertöchter, Frauen, die pflegen", will ich hinzufügen: Auch bei den Sozialstationen im Lande gibt es viele, viele, die hauptamtlich oder freiwillig und ehrenamtlich helfen, über das hinaus, was hier bereits hinreichend gewürdigt wurde. Auch Sie sollten sich einmal überlegen - deshalb spreche ich es an -, ob Sie mit Ihren Maßnahmen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik nicht auch in diesem weiten Bereich, in dem vielen Menschen geholfen wird, nämlich zwischen der häuslichen Pflege und der stationären Pflege, Strukturen zerstören, die nicht zerstört werden dürfen. ({19}) Das hat nämlich etwas mit Altenpolitik und mit Geriatrie zu tun. Das hat sehr viel damit zu tun! Sie machen auch an dieser Stelle die Strukturen kaputt, die wir schon aufgebaut haben. ({20}) Wir wollen, daß alle pflegebedingten Kosten in den stationären Einrichtungen - nicht nur die bis 2 100 DM - übernommen werden; denn sonst bleiben immer noch die meisten in den Heimen Sozialhilfeempfänger. Nach 40 oder 45 Jahren Beitragszahlung dann nur noch das Taschengeld für die Zeitung, für die Zigaretten und für das Parfüm und nicht mehr! Das soll in Zukunft nicht mehr so sein! Deshalb wollen wir, daß alle pflegebedingten Kosten übernommen werden. Wir wollen die Dynamisierung der Leistungen. Wir wollen daß die Länder, die bisher zusammen mit ihren Partnern dieser Aufgabe gut gerecht geworden sind, auch zukünftig die Versorgung der Pflegebedürftigen selbst organisieren und sicherstellen. Deshalb müssen Sie sich auch an dieser Stelle noch korrigieren. Nordrhein-Westfalen wird es nicht zulassen, daß die Länder ihren bewährten Einfluß auf Bedarfsplanung, Investitionsförderung und qualitiative Standards in der pflegerischen Versorgung verlieren, sie aber unverändert bezahlen müssen. ({21}) Der Gesetzentwurf sieht vor, daß der Umsatzsteueranteil der Länder in Höhe von 3,6 Milliarden DM jährlich verringert wird. Diese 3,6 Milliarden DM sollen gleichzeitig als „Bundeszuschuß" zur Finanzierung der Investitionen verwendet werden. Man muß vor der sprachlichen Verdrehungskunst der Koalition Respekt haben. 3,6 Milliarden DM werden bei Ländern und Gemeinden gestrichen, und diese 3,6 Milliarden DM gibt der Bund dann sozusagen wieder in dieses ganze Verfahren hinein. ({22}) Das ist kein Bundeszuschuß, den Sie hier wollen. Vielmehr nehmen Sie den Ländern und den Gemeinden Geld weg und versuchen, sich damit selbst etwas Gutes zu tun. Das ist Vortäuschung falscher Tatsachen, überhaupt nichts anderes! ({23}) Wir alle wissen, daß es in den neuen Ländern besondere Bedingungen gibt, daß der Nachholbedarf bei der Infrastruktur dort besonders hoch ist, daß fast jedes Bett neu finanziert werden muß. Der Bund versucht, sich aus dieser Mitverantwortung herauszumogeln, und er schiebt diese Verantwortung den Versicherten und den anderen Ländern zu. Für die Verbesserung der Situation in den neuen Ländern muß es eine andere Regelung geben als die, die Sie in Ihr Gesetz hineingeschrieben haben. Ich komme zum Schluß. ({24}) - Da hat der liebe Gott keinen Einfluß genommen; aber vielleicht liegt ja in der Kürze die Würze. - In der jetzigen Form ist der Gesetzentwurf der Bundesregierung für die Länder nicht zustimmungsfähig. Er ist auch nicht diskutabel. ({25}) Er verfehlt die sozialpolitischen Ziele. Er ist sachlich an vielen Stellen unausgegoren. Er entmündigt die Länder. Nordrhein-Westfalen und andere Länder, die mit uns zusammen 1991 den Gesetzentwurf eingebracht haben, bleiben am Zustandekommen der Pflegeversicherung interessiert. Wir wollen, daß sie zustande kommt! Wir sind auch bereit, in den Gremien des Bundestages und des Bundesrates zu reden. Aber Sie werden sich bewegen müssen! ({26}) Was Sie Pflegeversicherung nennen, ist keine und kann so nicht beschlossen werden. Wir wollen eine gerecht und solidarisch finanzierte Pflegeversicherung für alle. Ich fordere Sie auf, auf unser Konzept der Pflegeversicherung einzuschwenken, auch was die Finanzierung angeht. ({27}) Ein Wort noch zur Finanzierung: Was wir heute morgen dazu gehört haben, war ja interessant. Ich habe gedacht, die Sache mit den Karenztagen sei etwas, was die ganze Koalition trage. Nun höre ich folgendes: Herr Louven sagt, vielleicht könnte es ja auch anders ein. - Der Herr Solms sagt: Ja, eigentlich ist das überhaupt nicht das Richtige. - Der einzige, der das hier glühend verteidigt hat, ist der Herr Blüm. ({28}) Minister Franz Müntefering ({29}) Er hat die Karenztage mit Argumenten verteidigt, die wirklich bemerkenswert sind. ({30}) Er hat nicht als derjenige gesprochen, der die Pflegeversicherung will, sondern als einer, der die Karenztage haben will und dazu die Pflegeversicherung als Vehikel nutzt. ({31}) Herr Blüm, zur Sache mit den Blaumachem: Ich hatte früher in der Schule einen Lehrer, der, wenn einer geschwänzt hat, die ganze Klasse durchgehauen hat. Ich habe das damals immer als ungerecht empfunden, und das ist auch so. ({32}) Wenn Sie die Ausnahme zur Regel machen wollen, Herr Blüm, dann empfehle ich Ihnen, bei uns gleich alle Millionäre ins Gefängnis zu sperren. Darunter sind nämlich einige, die soviel Steuern entziehen, daß sie dafür ins Kittchen müßten. Dann machen Sie das also gleich. Wenn schon, dann bitte alle! ({33}) Sie sollten nicht auf der Schiene „Mißbrauch" fahren, obwohl es natürlich auch welche gibt, die Mißbrauch betreiben. Deshalb sollte man aber nicht alle in ein Boot setzen und bestrafen. Was ist denn das für eine Politik? ({34}) Wir können dieser Politik nicht zustimmen. Vizepräsident Helmuth Becker Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scharrenbroich? Minister Franz Müntefering ({35}): Nein, ich möchte meine zehn Minuten nicht überschreiten. ({36}) Ich sage Ihnen deshalb, Herr Blüm: Wenn das so bleibt, daß Sie als einziger die Karenztage hier verteidigen und fordern, dann werden Sie die Schuld dafür tragen, daß die Pflegeversicherung nicht zustande kommt. Bewegen Sie sich an dieser Stelle! ({37})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, zu einer Kurzintervention gemäß § 27 Abs. 2 der Geschäftsordnung hat jetzt unser Kollege Scharrenbroich das Wort.

Heribert Scharrenbroich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001945, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich nur deswegen gemeldet, weil Herr Minister Müntefering nach einer bewußten Falschdarstellung der Worte des Ministers eine Zwischenfrage nicht zugelassen hat. Er hätte sich sonst nämlich auch darauf beziehen müssen, daß der Minister sehr lang und ausführlich dargestellt hat, daß er viele weitere Bemühungen unternommen hat, um eine andere Kostenkompensation herbeizuführen. Nachdem alle sehr viel über Solidarität geredet haben - so, glaube ich, hat er wörtlich gesagt -, aber nicht bereit waren, diese Solidarität zu praktizieren, ist die Bundesregierung und diese Koalition bereit, diesen Weg zu gehen, und da werden wir im Sinne der Pflegebedürftigen keinen Streit meiden. ({0}) Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, zur unmittelbaren Erwiderung hat der Herr Minister Müntefering das Wort. ({1}) Minister Franz Müntefering ({2}): Nach Louven und Solms will also jetzt auch Herr Scharrenbroich eigentlich keine Karenztage; es wird an etwas anderes gedacht. Ich habe eine Frage an Herrn Minister Blüm: Herr Blüm, das ist jetzt eine historische Stunde. Wenn Sie jetzt nach vorne kommen würden und sagten, es gibt keine Karenztage, können wir gerne sofort verhandeln. ({3}) Vizepräsident Helmuth Becker Der Minister folgt der Aufforderung, und ich möchte ihm gern das Wort erteilen.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Meine Damen und Herren! Ich stelle fest, daß die SPD-Fraktion es heute morgen abgelehnt hat, überhaupt über Kompensation zu sprechen. ({0}) Insofern geht Ihr Angebot ins Leere, Herr Müntefering. ({1}) Vizepräsident Helmuth Becker Herr Kollege Andres, ich muß Sie zur Ordnung rufen. Ich habe Sie zweimal ermahnt, nicht von „Rolltäuschern" zu sprechen. ({2}) Jetzt hat zu einer weiteren Kurzintervention unser Kollege Pfaff das Wort.

Prof. Dr. Martin Pfaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister Blüm, Herr Minister Seehofer, Sie haben heute vormittag - für alle, die Ohren haben, um zu hören, und Augen, um zu sehen, war das Argument eigentlich offensichtlich 14458 eindeutig gesagt, es gehe um eine Entlastung der gesetzlichen Krankenversicherung durch eine Pflegeversicherung. Es wurde von einer Fehlbelegung in Höhe von 40 % bei einem Kostenumfang von weit über 50 Milliarden DM gesprochen. ({0}) Wenn ich diese Ziffer des Ministers ernst nehme, dann geht es um ein Potential von maximal 20 Milliarden DM, wovon die Hälfte auf die Arbeitgeberseite fällt. Ebenfalls hörten wir hier, daß heute schon 13 Milliarden DM für die Hilfe zur Pflege aus der Sozialhilfe für Pflegebedürftige verwendet werden. Auch an der Finanzierung dieser Leistungen sind die Arbeitgeber über ihre Gewerbesteuer und über andere Steuern heute schon beteiligt. Es ist also falsch, hier von Kompensation zu reden, wenn es in dem Sinne geschieht, daß die Arbeitgeberseite an der Pflegeversicherung sogar verdienen will. ({1}) Ich sage das einmal in aller Deutlichkeit. Es findet nämlich faktisch eine Entlastung der Arbeitgeberseite in dem Umfange statt, in dem die Fehlbelegung im Krankenhaus durch den Bau von Heimen beseitigt wird, und sie findet statt, wenn es wirklich zu einer echten Pflegeversicherung kommt, die diesen Namen verdient, weil dann die Sozialhilfe entlastet wird. Beides entlastet die Arbeitgeber. Es tut mir wirklich leid, hier sagen zu müssen, daß die Sozialpolitiker der Union der historischen Bedeutung dieser Stunde heute in meinen Augen in keiner Weise gerecht geworden sind. ({2}) Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, zu einer weiteren Zwischenbemerkung hat jetzt der Herr Abgeordnete Seehofer das Wort.

Horst Seehofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002140, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Professor Pfaff, ich habe Sie in der Gesundheitsstrukturreform als einen Mitstreiter kennengelernt, der nicht nur richtig rechnen, sondern auch zuhören kann. Ich habe von einer Fehlbelegung von 40 % in den Krankenhäusern und von 85 000 Betten gesprochen und hinzugefügt, in vielen Fällen liege die Motivation darin, daß im Falle der Pflegebedürftigkeit der soziale Schutz nicht gegeben ist. Ich habe dann als drittes Element die konkrete Zahl genannt, daß 2,5 Milliarden DM in den Krankenhäusern eingespart werden könnten. Sie können mir jetzt also nicht in den Mund legen, 40 % von den 50 Milliarden DM Krankenhausausgaben könnten eingespart werden, so daß wir dann gar keine Karenztage mehr bräuchten. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Nun möchte noch unser Kollege Weng eine Zwischenbemerkung machen. Bitte sehr.

Dr. Wolfgang Weng (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002479, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Der Herr Minister Müntefering hat hier gesagt, für den Fall einer bestimmten Äußerung des Kollegen Blüm sei er sofort verhandlungsbereit. Ich möchte ihn hier öffentlich fragen, für wen er verhandlungsbereit ist und worüber er bereit ist zu verhandeln. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Das Wort zu einer Zwischenbemerkung hat jetzt der Kollege Rudolf Dreßler.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren, damit das klar ist, sage ich dies, weil es ja manchmal hilft, etwas zu wiederholen, damit es endlich verstanden wird: Bereits seit 14 Tagen ist für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion und für die Sozialdemokratische Partei bekannt, daß wir kein neues Verhandlungsangebot machen werden, nachdem Sie in den letzten zwei Jahren mehrere Verhandlungsangebote abgelehnt haben. ({0}) Sollten Sie ein Verhandlungsangebot machen und die Karenztage auf dem Tisch lassen, wird es mit uns keine Verhandlungen geben können. ({1}) Herr Weng, nach dem Analogieschluß, von dem Sie vielleicht schon etwas gehört haben, heißt das auf Deutsch: Wenn Sie von diesem unsinnigen Tun mit der Einführung der Karenztage lassen, können wir morgen früh über Pflege verhandeln. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, nachdem diese Frage hinreichend diskutiert ist, geht es jetzt in der Debatte weiter. Das Wort hat nun der Kollege Konrad Weiß. ({0})

Konrad Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002461, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In meiner zweiten Rede möchte ich mich mit denen befassen, die in diesem Zusammenhang am meisten betroffen sind: den Frauen. Pflegeleistungen im häuslichen wie im außerhäuslichen Bereich werden nämlich in erheblichem Maße von Frauen erbracht. Frauen waren und sind in vielen Lebensbereichen benachteiligt. Nach dem Willen der Koalitionsregierung werden sie auch bei der Pflegeversicherung benachteiligt sein. Auf Grund der Benachteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt, die sich u. a. im hohen Anteil von Frauen an der Erwerbslosigkeit, in der Überrepräsentanz von Frauen in ungesicherten oder kurzzeitigen Beschäftigungsverhältnissen sowie in der disproportionalen Einkommensverteilung widerspiegelt, erreichen Frauen sehr häufig keine existenzsichernden Anwartschaften in der Sozialversicherung. Das würde auch Konrad Weiß ({0}) bei dem vorgelegten Pflegeversicherungsmodell so sein. Da es gegenwärtig an einem pluralistischen System bedarfsgerechter Pflegeangebote mangelt, werden Menschen, die fremde Hilfe zur Bewältigung der Lebensführung bedürfen, überwiegend von Familienmitgliedern oder aber in Pflegeheimen gepflegt. Die häusliche Pflege wird noch immer fast ausschließlich von Frauen geleistet, und zwar zu 83 %. Das kann gar nicht genug gewürdigt werden. Aber die Würdigung bleibt Schönrednerei, wenn daraus nicht wirklich Konsequenzen für die gerechte und gleichberechtigte soziale Sicherung der Frauen gezogen werden. ({1}) Heute ist bereits jeder Fünfte älter als 60. Im Jahre 2030 wird es jeder Dritte sein. Durch diesen Anstieg, insbesondere durch den Anstieg des Anteils der Hochbetagten, sind die ehrenamtlich pflegenden Frauen in zunehmendem Maße selbst bereits den pflegenahen Jahrgängen zuzurechnen. Viele Frauen sind einer erheblichen physischen und psychischen Überforderung ausgesetzt. Immerhin pflegen 15,3 % der Hauptpflegepersonen in den westdeutschen Familien bereits seit mehr als 20 Jahren. In den neuen Ländern sind es 9,3 %. Man mache sich einmal bewußt, was es heißt, 20 Jahre diese harte, schwere Arbeit zu leisten! ({2}) - Und ohne Lohn; Sie haben recht, Herr Kollege Seifert. Derzeit gibt es ca. 1,6 Millionen Pflegebedürftige sowie weitere 2,1 Millionen Menschen in privaten Haushalten, die auf Hilfe angewiesen sind. Viele Menschen, die heute eher mangels Alternative denn auf Grund ihres individuellen Pflegebedarfs in Pflegeheimen leben, würden durch eine rechtzeitige aktivierende und begleitende Förderung in die Lage versetzt, in ihrem gewohnten Lebensumfeld verbleiben zu können. Auch Seniorenwohngemeinschaften und Pflegewohngruppen stellen eine Alternative zur Heimunterbringung dar, die aber mangels öffentlicher Akzeptanz und Förderung gegenwärtig noch keine nennenswerte Rolle spielt. So bleibt es dabei, daß Pflegebedürftigkeit für viele letztlich auf Heimunterbringung hinausläuft. Für stationäre Unterbringung sind zur Zeit in Westdeutschland durchschnittlich ca. 4 000 DM bis 4 500 DM aufzubringen. Angesichts des geringen Alterseinkommens von Frauen, das im Schnitt noch immer weit unter dem der männlichen Rentner liegt, sind solche Kosten grundsätzlich nur unter Hinzuziehung der Sozialhilfe zu tragen. Einmal abgesehen von dem grundsätzlich entwürdigenden Unterhaltsrecht und Prozedere der Sozialhilfe, verbleibt den Empfängerinnen der laufenden Sozialhilfe innerhalb der Einrichtungen faktisch nur ein Taschengeld, und das für eine lebenslange Arbeitsleistung. Der nun vorgelegte Regierungsentwurf führt zu keiner Lösung des Problems. Vielmehr wird die noch immer unzureichende Absicherung letztlich auf dem Rücken der weiblichen Familienmitglieder ausgetragen. Für die Benachteiligungen, die pflegende Frauen gerade im Hinblick auf die eigene Erwerbstätigkeit hinnehmen, werden sie nach dem Willen der Regierungskoalition im Rentenalter dann noch einmal bestraft. Wenigstens müßte hier durch Anrechnung eines vollen Entgeltpunktes - nicht nur von 0,7 Punkten, wie die Koalition es plant - eine Gleichstellung mit dem Durchschnittsverdiener herbeigeführt werden, damit nicht ausgerechnet diejenigen, die einen unerhört wichtigen sozialen Dienst leisten, im Alter von Sozialhilfe leben müssen. ({3}) Die erschreckende Altersarmut, die von der Caritas in ihrem Bericht eindrücklich dargestellt worden ist, besonders unter Frauen, kann und muß auch durch eine problemadäquate Pflegeversicherung zurückgedrängt werden. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt dem Kollegen Rudolf Krause ({0}) das Wort.

Dr. Rudolf Karl Krause (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001205, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß wir heute über Pflegeversicherung reden müssen, hat ja gesamtgesellschaftliche Ursachen. Wollte eine Hausfrau ihrem Mann und ihren Kindern alles, was sie getan hat, nach gewerkschaftlichen Tarifen aufrechnen, dann wäre diese Familie sofort pleite. Im Augenblick schauen anderthalb Millionen Pflegebedürftige mit ihren Angehörigen und Pflegern hierher; und sie sind sicherlich nicht erfreut, wenn sie die vielen leeren Bänke sehen. Die selbstlose Arbeit der Väter für die Familie, der selbstlose Dienst der Mütter, der älteren Geschwister und der Großeltern in der Familie gelten heute nichts mehr. Wir bewegen uns auf eine Kommerzialisierung von Kindererziehung und Altenpflege zu. So wie jeder Vater pleite würde, wenn er seine Frau bezahlen müßte, ist auch der Bestand unserer Gesellschaft akut gefährdet, wenn alle Leistungen, die bisher in der Familie umsonst und als Dienst erbracht werden, von den einen bezahlt werden müssen und von den anderen als Verdienst verbucht werden. Ich finde es sehr schlimm, wenn die Kosten für die einen die Erlöse für die anderen sind und die Kosten für die Pflege eben der Verdienst der anderen sind. Zu einigen Paragraphen aus der Sicht der Betroffenen: Es ist sicherlich nicht vermittelbar, daß die Frau, die nach § 33 zu Hause pflegt, weniger Geld bekommt, als einem kommerziellen Pflegeunternehmen zur Verfügung steht. Wenn bei Schwerstbedürftigen 75 Pflegeeinsätze mit 2 100 DM bezahlt werden, sind trotzdem noch viele, viele Stunden pro Tag und Monat nötig, die unentgeltlich von den Familienangehörigen geleistet werden müssen. Es wäre deshalb doch besser - wie auch schon gefordert worden ist, ganz gleich, von wem, denn bei Dr. Rudolf Karl Krause ({0}) diesem schweren Thema ist für Parteienstreit kein Platz -, wenn es eine einheitliche Summe gibt und der zu Pflegende selbst entscheiden kann, auf welche Weise diese Summe eingesetzt wird. Ich möchte noch einmal auf die Notwendigkeit hinweisen, die Rentenansprüche rückwirkend auf alle Pflegenden auszudehnen. Ich möchte das unterstreichen. Wie viele Rentenansprüche haben wir allein aus der DDR übernommen, manchmal auch auf 1,0 Entgeltpunkte herabgestuft! Wie viele waren dabei und sind auch hier in dieser Gesellschaft dabei, die ihr Geld wesentlich leichter verdienen als diejenigen, die mit großer persönlicher Opferbereitschaft körperlich schweren und seelisch anstrengenden Pflegedienst leisten! Wenn wir nach der Wiedervereinigung mit der früheren DDR allen pauschal hohe Rentenansprüche zugestehen, dann bitte auch denen, die in Deutschland 20, 30 oder mehr Jahre lang gepflegt haben. Zum dritten: die Pflegeversicherung aus Sicht der Zahlungspflichtigen. Natürlich wäre das Kapitaldekkungsverfahren das beste. Dabei bliebe das Geld in jedem Falle im Lande. Was gegenwärtig beschlossen werden soll, ist eine Erhöhung der Staatsquote um 1,7%. Die in Deutschland produzierten Waren und erzeugten Dienstleistungen werden wieder um 1,7 % teurer. Die sogenannte Kompensation bedeutet ja nur, daß der Zwischenposten vom Arbeitgeber auf den Arbeitnehmer umgewälzt wird. In Wirklichkeit ist es so, daß der Kunde, der deutsche Waren kauft und in Deutschland Leistungen in Anspruch nimmt, die 1,7 % zusätzlich bezahlt. Es wird also die Gefahr größer werden, daß ausländische statt deutscher Waren gekauft werden, daß ausländische Urlaubsleistungen in Anspruch genommen werden, bei denen diese 1,7 % Pflegeleistungen nicht mit anfallen, und daß darüber hinaus mit der Erhöhung der Lohnnebenkosten auch der graue Markt zunimmt. Es wird nicht nur so sein, daß weniger in die Gaststätten gehen, weil sie das Bier lieber zu Hause trinken, sondern viele andere Gewerke werden um so weniger Aufträge bekommen, je höher die Lohnnebenkosten sind. Eine andere Möglichkeit wäre noch die Umschichtung als Solidargemeinschaft innerhalb der Krankenversicherung, wie wir es in der DDR zum Teil hatten, daß also für eine bestimmte Anzahl von Wochen nur etwa 90 % oder 80 % Krankengeld gezahlt wird und das dabei eingesparte Geld für die Pflegeversicherung eingesetzt wird, ohne daß die Lohnnebenkosten erhöht werden. Allen Bürgern in den neuen Ländern wäre das verständlich. Sie würden es auch im Hinblick darauf gern tun, daß sie bei besserer Wettbewerbsfähigkeit deutscher Waren auch wieder in Arbeit kommen. Lassen Sie mich bitte am Schluß noch zu einem vierten Punkt sprechen. Was muß sich grundsätzlich ändern, um das Primat der Wirtschaftspolitik vor der Sozialpolitik wiederherzustellen? ({1}) - Das Primat der Wirtschaftspolitik vor der Sozialpolitik! ({2}) Nur wenn die Wirtschaftsentwicklung vorangeht, sind auch steigende Sozialausgaben vertretbar und bezahlbar. ({3}) Auf Grund der demographischen Entwicklungen brauchen wir eine anteilig stärkere Wirtschaftsentwicklung als anteilige Sozialforderungen pro Kopf, eben weil die Zahl der Köpfe größer wird. Eine Möglichkeit, eine Aufgabe ist, daß nicht alle Lohnnebenkosten, nicht alle anderen Steuern bis auf die Mehrwertsteuer auf die Arbeit in Deutschland umgelegt werden und hier eine Eigendiskriminierung der deutschen Arbeit gegenüber ausländischen Produkten und gegenüber dem grauen Markt betrieben wird. Wir müssen zu einer völlig anderen Verteilung von Steuern und Sozialabgaben kommen, weg von der Eigendiskriminierung. Außerdem brauchen wir international vergleichbare Relationen, wenn wir bestimmte Forderungen aufstellen und auch erfüllen. Wir müssen uns mit den Gehältern und Pensionen von Staatsbediensteten in industriellen Konkurrenzländern vergleichen. Wir müssen unsere Zahlungen - ich sage das hier bewußt - an das Ausland, an die EG, an Rußland und sonstwohin und an Ausländer im eigenen Land mit den Leistungen in anderen europäischen Ländern, in anderen Industrieländern vergleichen, weil diese Leistungen ebenfalls als Lohnnebenkosten unseren Standort Deutschland belasten. Ein letztes. Wir haben viele Arbeitswillige, Arbeitsfähige in Deutschland, die Sozialhilfe bekommen, die im Vorruhestand sind; in den neuen Ländern haben 4,5 Millionen Menschen ihre Arbeit verloren. Es ist nicht zu vermitteln, daß bei so viel Arbeit die einen von der Arbeit ausgeschlossen werden. Ich meine, es sollten wenigstens die finanziellen Leistungen, die jeder ohnehin erhält, durch Arbeitsleistungen für die Gesellschaft abgegolten werden; natürlich nicht, wie es bei ABM-Mißbrauch ist, in Konkurrenz zu bestehenden Mittelstandsunternehmen. Aber überall da, wo Arbeit nicht in Konkurrenz zur gewerblichen Wirtschaft steht, also in allen Bereichen, die bisher von der Wirtschaft und vom Kunden über Lohnnebenkosten finanziert werden, könnten wir Vorruheständler - gesetzlich ist das schon möglich -, Sozialhilfeempfänger und andere Arbeitsfähige und Arbeitswillige zu Leistungen heranziehen, die die Lohnnebenkosten entlasten, die unserer Wirtschaft nicht Konkurrenz bieten und die Konkurrenzfähigkeit unserer Produkte im Ausland erhöhen. Auch in der Pflege können diese Menschen sinnvoll eingesetzt werden. ({4}) - „Arbeit macht zufrieden!"

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Als vorletztem Redner erteile ich jetzt unserem Kollegen Dr. Heiner Geißler das Wort.

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Beim Studium des Gesetzentwurfs, vor allem der Begründung, bin ich auf etwas gestoßen, was mich persönlich gefreut hat. Ich habe nämlich auf der Seite 65 gelesen, daß es inzwischen in Deutschland 4 000 Sozialstationen gibt. Sie sind Anfang der siebziger Jahre eingeführt worden. Die erste Sozialstation, die wir gegründet haben, war in Worms. Es war eine Sozialstation der Caritas. Wir haben damals in Rheinland-Pfalz mit der Sozialstation begonnen. Sie hat einen Siegeszug durch sämtliche Lander gehalten, und wir haben jetzt auch in den neuen Bundesländern 1 000 Sozialstationen. ({0}) So kann eine gute Idee anfängliche Widerstände siegreich überwinden. Auch damals gab es erhebliche Probleme und Schwierigkeiten. Es ist gesagt worden: Es geht überhaupt nicht! Daß es diese Sozialstationen gibt, 4 000 an der Zahl, ist unter anderem auch eine Voraussetzung dafür, daß wir das, was wir mit der Pflegeversicherung erreichen wollen, auch realisieren können. Deswegen möchte ich gleich am Anfang sagen: Die Pflegeversicherung - das gilt sowohl für den Entwurf, den die SPD vorgelegt hat, wie für unseren - soll natürlich auch einem Übelstand abhelfen, nämlich dem Pflegenotstand. Wir haben im Pflegebereich die Entwicklung, daß von 1985 bis 1990 die Zahl der gemeldeten offenen Stellen bei den Krankenschwestern um das Fünffache und bei den Altenpflegerinnen um das Sechsfache gestiegen ist. Die Pflegeversicherung wird uns in die Lage versetzen, endlich etwas zu erreichen, was wir im Grunde genommen schon längst hätten tun müssen, nämlich bessere Arbeits- und Lebensbedingungen für diejenigen zu schaffen, die die Pflege ausüben, und zwar nicht nur im ambulanten Bereich, sondern auch im stationären Bereich. Das heißt, die Pflegeversicherung wird uns in die Lage versetzen, dafür zu sorgen, daß Menschen, die für Menschen und mit Menschen, die pflegebedürftig sind, arbeiten, endlich nicht schlechter bezahlt werden als Menschen, die mit Maschinen arbeiten. Das ist ein wichtiges Ergebnis, das wir mit der Pflegeversicherung erreichen wollen. Natürlich müssen sich an die Pflegeversicherung zusätzliche Maßnahmen anschließen. Wir brauchen Maßnahmen der Politik, aber auch der Träger der Pflegeeinrichtungen und der Sozialpartner, um die Attraktivität der Altenpflegeberufe zu steigern. Dazu gehören flexiblere, familienfreundlichere Dienstzeiten, Teilzeitarbeitsplätze, bessere Betreuungsmöglichkeiten, natürlich auch die Rückgewinnung von Fachkräften im Pflegebereich, vor allem von Frauen, die nach ihrer Familienphase in diesen Bereich zurückkehren wollen. Im übrigen haben wir es hier mit einem wachsenden Arbeitsmarkt zu tun. Wir werden in der Zukunft nicht weniger Arbeitsplätze im Pflegebereich brauchen, sondern natürlich mehr.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Geißler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitteschön.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte, Herr Kollege Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Dr. Geißler, Sie sprachen von der ordentlichen Finanzierung derjenigen, die die Pflege erbringen. Nun wissen Sie so gut wie ich, daß die meiste Arbeit von Familienangehörigen bzw. anderen geleistet wird, von Frauen, die nicht ausgebildete Pflegerinnen oder Pfleger sind, sondern die hauptsächlich mit Liebe und Zuneigung und derartigen nicht spezifizierbaren Kategorien herangehen, dadurch aber die Arbeit nicht schlechter machen, sondern eher besser. Wollen Sie die so bezahlen, wie das tariflich Pflegeberufen zusteht, oder wie wollen Sie die bezahlen?

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das werden wir leider nicht können. Ich glaube auch gar nicht, daß wir es nicht brauchen; denn wir gehen davon aus, daß die ambulante Versorgung zu Hause auch in Ergänzung zu dem erbracht wird, was an gesetzlicher Leistung vorhanden ist. In der ambulanten Versorgung haben wir bei den drei Pflegestufen -- jetzt gehe ich von unserem Gesetzentwurf aus - bei der Pflegestufe eins 400 DM, dann 800 DM und 1 200 DM. Das bekommen die Leute. Dazu kommt die Rente des Pflegebedürftigen. Das ist heute vormittag ausführlich dargestellt worden. Ich will, weil das ein ganz wichtiger Gesichtspunkt ist, hinzufügen, daß diese Pflegeversicherung natürlich auch frauenpolitische Auswirkungen hat. Das ist zwar auch schon zwei- oder dreimal gesagt worden; aber ich meine, das kann man nicht deutlich genug unterstreichen, weil die überwiegende Zahl der Menschen, die zu Hause die Pflege für den Opa oder die Oma übernehmen, Frauen sind. Es sind auch Männer; aber wahrscheinlich nähert sich das zahlenmäßig in der Tendenz gegen null; in Wirklichkeit sind es eben die Frauen. Wir hatten die Situation, daß diese Jahre den Frauen verlorengehen, was die Berechnung ihrer Rente anbelangt. Wenn man sich einmal vorstellt, was noch vor zehn oder zwanzig Jahren in unserer Rentenversicherung geltendes Recht war, dann haben wir doch einen beachtlichen Fortschritt, daß wir heute die Pflegejahre anerkennen. Das entspricht einer Grundentscheidung dieser Koalition unter der Stab- und Federführung von Norbert Blüm, daß wir endlich diesen verfehlten Grundsatz verlassen haben, daß Arbeit nur gewertet wird - und das war in der Reichsversicherungsordnung noch vor zehn Jahren so -, insoweit diese Arbeit im Büro oder in der Fabrik geleistet wird, und daß Familienarbeit, Kindererziehung und Pflegearbeit keine Anerkennung als Lebensleistung findet. Daß wir im Jahre 1986 mit der Anerkennung von Erziehungsjahren diese alte Betrachtungsweise verlassen haben, ist fast eine Revolution in der Rentenversicherung. Im übrigen hat das etwas mit Ideologie zu tun, Herr Seifert; auch das will ich Ihnen einmal sagen. Im Marxismus - das können Sie besser beurteilen - sind gesellschaftlich relevante Werte eben nur entstanden oder konnten nur entstehen - in der Ideologie natürlich -, soweit sie im Produktionsprozeß entstanden sind. Insofern war der Sozialismus gar nicht so weit vom Kapitalismus entfernt, der ebenfalls keine Werte jenseits von Angebot und Nachfrage kennt. Wir waren von Anfang an der Meinung - ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege - Dr. Heiner Geißler ({0}): Gleich, Herr Präsident. Darf ich das erst fortsetzen: Dies ist eine Idee, die von der Christlich-Demokratischen und der Christlich-Sozialen Union entwickelt worden ist, daß Arbeit nicht nur die Arbeit im Produktionsprozeß ist, sondern daß jemand, der Kinder erzieht, der für die Familie arbeitet oder der in der Pflege arbeitet, eine genauso wertige und für die Gesellschaft bedeutende Leistung erbringt wie jeder andere in der Fabrik oder im Büro. ({1}) Das ist ein entscheidender Fortschritt. Wenn ich es Ihnen einmal sagen darf. Das ist eine Grundsatzfrage, über die wir hier sprechen können. Das ist auch kennzeichnend für Ihre Familienpolitik gewesen. Das Mutterschaftsgeld in den ersten vier Monaten, die 500 DM oder was es da gegeben hat, haben unter Ihrer Regie nur die Arbeitnehmerinnen bekommen. Ich sage „nur" nicht deswegen, weil ich es nicht für richtig gehalten hätte, aber die sogenannte Nur-Hausfrau, die Bäuerin, die Winzerin, die mithelfende Handwerkerfrau haben die Mutterschaftsleistung nicht bekommen. ({2}) Es war, als ob es zwei Klassen von Müttern gäbe. So war die Geschichte. ({3}) Wir haben sowohl beim Erziehungsgeld als auch bei der Anerkennung von Erziehungsjahren mit diesem veralteten, ideologisch geprägten Standpunkt in der Familienpolitik und in der Rentenpolitik aufgeräumt und eine neue Politik begonnen, die heute eine zusätzliche Vollendung durch die Sozialversicherung der Pflegekräfte zu Hause findet.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Geißler, es liegen zwei Wünsche nach Zwischenfragen vor. Der erste kommt vom Kollegen Dr. Seifert.

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Geißler, ich möchte jetzt nicht mit Ihnen über den Wertbegriff im Marxismus diskutieren. Das können wir vielleicht ein andermal machen.

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber nicht!

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Wenn Sie davor Angst haben, ist das Ihre Sache.

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, überhaupt nicht. Aber Sie müssen in die Zukunft sehen! ({0})

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Wollen wir zum eigentlichen Gegenstand zurückkommen. Sie haben es hier als großen Erfolg gepriesen, daß die Rentenversicherung angerechnet wird. Leider nur mit 0,7 % - ich weiß gar nicht, weswegen -, als wenn das eine minderwertige Arbeit wäre. Aber warum, nach Ihrer eigenen Argumentation, sind Sie nicht für die Anrechnung beispielsweise auch in der Arbeitslosenversicherung? Ich habe vorhin versucht, das anzudeuten. Sie könnten ja darauf mal eine Antwort geben.

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, vielleicht rufen Sie gleich auch die zweite Frage auf, dann kann ich sie mit beantworten.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Weiler, Sie haben das Wort.

Barbara Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das hat mit Ihrer Einlassung, Herr Geißler, zum Thema Anrechnung von Kindererziehungszeiten zu tun. Sind Sie nicht der Meinung, daß es ausgesprochen ideologisch ist, wenn Sie diese Kindererziehungszeiten nur bei den Müttern anrechnen, die in ihrer Erwerbstätigkeit aufhören, und sie bei den durchgängig Beschäftigten, diesen 3 % Frauen, die nach der Geburt eines Kindes weiter arbeiten müssen, aus welchen Gründen auch immer, nicht anrechnen? Ist das nicht eine ideologische Fixierung?

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Darüber kann man wirklich debattieren. Sie haben wieder denselben Vorgang. Wir haben über den Punkt ja schon im letzten Jahr geredet. Da gab es sogar eine gemeinsame Entschließung des Deutschen Bundestages. Da hat sich Frau Babel besondere Verdienste erworben, damit man es weiter auf den Weg bringt. Jetzt muß man es schrittweise realisieren. ({0}) - Doch; das weiß ich durchaus. Jetzt geht es mir so wie damals bei den Sozialstationen. Kaum hatte man die ins Leben gerufen, dann hat nach einem oder zwei Jahren plötzlich das eine nicht mehr gereicht, dann war das andere noch nicht in Ordnung. Es hat ein Stadium der Diskussion gegeben, wo ich gesagt habe: Hätten wir das lieber nicht eingeführt, weil diese gute Geschichte plötzlich auf so viele Widerstände gestoßen ist, statt daß man sich gefreut hätte, daß wir überhaupt etwas Neues, Zukunftsträchtiges gemacht haben. Und hier ist das genauso. Natürlich können Sie die jetzige Ausgestaltung der Anerkennung von Erziehungszeiten beklagen. Aber Sie dürfen nicht vergessen, daß es die vorher überhaupt nicht gegeben hat. Jetzt kommen Sie mit den 3 %, wo man möglicherweise darüber debattieren kann, ob das nun so vollständig ganz richtig ist, ({1}) und sprechen von Ideologie. Wir sind der Meinung: Man kann nicht beides miteinander machen. Ich kann Renten eigentlich nur mit Beiträgen auf Grund von Arbeitszeit erwerben. Ich kann ja nicht zweimal zur selben Zeit Arbeit leisten und dafür dann eine doppelte Rente bekommen. Das Problem bestand darin, daß diejenigen, die z. B. vorher gearbeitet hatten und nachher in die Kindererziehung gegangen sind, ihren Rentenanspruch verloren haben. Das wollten wir verhindern. Jetzt laßt uns mal darüber reden, wie wir in der Geschichte weiterkommen können, was die berufstätigen Frauen anbelangt. ({2}) - Das hat mit Ideologie überhaupt nichts zu tun, ({3}) sondern hat ein bißchen mit dem zu tun, was man in der Pfalz „Bimbes" nennt, nämlich eine Frage des Geldes. Aber darüber reden Sie ohnehin so ungern. Das haben wir ja auch bei der Pflegeversicherung gesehen. ({4}) Nun will ich in dem Zusammenhang doch noch etwas sagen. Was nun nach meiner Auffassung einfach völlig unberechtigt ist, ist der Anwurf an den Arbeitsminister, wir hätten zwei Jahre herumdiskutiert und es sei nichts gekommen. Gut, da haben Sie die Replik erhalten: In den 13 Jahren, in denen Sie an der Regierung waren, hätten auch Sie nur diskutiert. Ich bin damals Sozialminister gewesen. Ich kann feststellen: Sie haben noch nicht einmal diskutiert. Die Pflegeversicherung war für Sie in den 70er Jahren kein Thema. ({5}) 1974 habe ich als Sozialminister in Rheinland-Pfalz ein Landespflegegeldgesetz eingeführt. Die Bremer haben es gemacht - das waren Sozialdemokraten - und die Berliner. ({6}) Auf Bundesebene - da waren Sie an der Regierung - war „tote Hose", war nichts zu wollen. Der Gedanke war wie eine Idee von einem fremden Stern. Gar nichts ist da gekommen. Also es ist nicht einmal das Thema dagewesen. ({7}) Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, sollte man das mit den zwei Jahren nicht als Vorwurf bringen. Das hat ein bißchen länger gedauert, mit den zwei Jahren. Im Schwäbischen heißt es: Man soll die Hochzeitskapelle nicht bestellen, bevor man die Braut hat. Das ist die F.D.P., Frau Barbe. Jetzt ist die Braut da. ({8}) Deswegen können wir die Hochzeit feiern. Und da gab es auch böse Schwiegermütter. Und Herr Cronenberg z. B. hat das ein bissel verhindert, bis es so weit war. ({9}) - Trauzeuge hoffentlich nicht. Wir haben länger gebraucht - das ist richtig -, weil wir miteinander gerungen haben, wie die Pflegeversicherung vom Grundsatz her aussehen und wie sie finanziert werden soll. ({10}) - Herr Seifert, Sie stellen immer wieder dieselbe Frage. Die Frage ist Ihnen schon beantwortet worden. Jetzt lassen Sie mich auf das kommen, was nach meiner Auffassung zu dem Thema zusätzlich zu sagen ist. Das Entscheidende ist doch, daß wir ein Gesamtkonzept vorlegen, nicht nur Geldleistungen - das ist sicher ein ganz wichtiger Punkt -, sondern ein Gesamtkonzept, das die pflegerische Infrastruktur mit dem ambulanten, stationären und teilstationären Bereich und - das habe ich schon gesagt - auch den ganzen Bereich der Pflegeberufe und der Pflegenden zu Hause, der ehrenamtlichen Kräfte, umfaßt. Da geht es um die 1,65 Millionen, die heute schon pflegebedürftig sind. Die hätten wir z. B. in eine Privatversicherung gar nicht hineinbekommen. Das ist ein großes Problem gewesen - das darf man sagen -, und darum haben wir uns dann doch für die umlagefinanzierte Pflegeversicherung entschieden. Wir haben die rund 16 Millionen älteren Mitbürger über 60 Jahre, die pflegenahen Jahrgänge, von denen schon in den nächsten Jahren ungefähr eine Million pflegebedürftig werden, und insgesamt die 63 Millionen unterhalb der Sechzigjährigen, für die die Pflegebedürftigkeit noch in weiter Ferne liegt - das ist richtig -, aber die halt den Pflegefall nicht ausschließen können. Das ist aus den dankenswerten Statistiken, die da beigefügt worden sind, zu entnehmen. Immer mehr junge Leute und Leute mittleren Alters werden durch Unfälle pflegebedürftig. Deswegen ist es insgesamt eine wichtige und gute, eine grundsätzliche Entscheidung für die Zukunft, die wir heute treffen. ({11}) Herr Dreßler, ich fand es wirklich nicht gut: Sie haben diese Pflegeversicherung, auch die der Koalition, mit Begriffen bedacht, die ich jetzt nicht wiederholen will. Ich will Ihnen sagen, wie ich diese Pflegeversicherung beurteile. Es ist endlich die Sicherung eines Grundrisikos des menschlichen Lebens für die Hilflosesten in unserer Gesellschaft. Das Sozialversicherungsmodell braucht keine Subventionen, schließt die bereits Pflegebedürftigen ein, wird aus Beiträgen finanziert, die einkommensabhängig sind und die vom Gesetzgeber festgesetzt werden. Auch das ist wichtig. Die Pflegeleistungen werden mit den Gesundheitsleistungen der Krankenkasse verzahnt. Die Beiträge für die Rentenversicherung und für die Unfallversicherung werden für die häuslichen Pflegekräfte übernommen. Eine neue Bürokratie wird vermieden, und die kommunalen Haushalte werden entscheidend entlastet. Da behauptet worden ist - und das ist ein wirklich schlimmer Vorwurf, der mit nichts zu begründen ist -, die Pflegeversicherung werde für die Leute nichts bringen - Horst Seehofer hat die Zahlen ja vorhin genannt -, will ich noch einmal darauf hinweisen: Die pflegebedingten Kosten liegen heute im Durchschnitt bei 3 800 DM. Die Leistung von 2 100 DM im stationären Bereich bezieht sich auf das Basisjahr 1991. Das heißt, wenn im Jahre 1996 die Pflegeversicherung in Kraft tritt, werden es nicht 2 100 DM sein. Ich kann jetzt nicht sagen, ob es 2 600 oder 2 700 DM sind. ({12}) - Das wird dann genau festgelegt werden. Auf jeden Fall sind es mehr als 2 100 DM. Ich gehe jetzt einmal von 2 700 DM aus. Etwa 12 % müssen Sie wegen der 3 Milliarden DM Bundeszuschuß abziehen. Davon gehen wir aus. Damit steht und fällt die ganze Geschichte. Das sind umgerechnet noch einmal 400, 500 DM. Dann stehen 3 100 DM zur Verfügung. Wer langjährig versichert war, regelmäßig gearbeitet und durchschnittlich verdient hat - ich gehe gar nicht so sehr von dem Eckrentner aus -, so hatte er im Jahre 1991 eine Rente zwischen 1 800 und 2 000 DM in der Arbeiterrentenversicherung. Auch das wird im Jahre 1994 mehr sein. Aber ich bleibe einmal bei der Zahl 2 000 DM. Dann habe ich auf der einen Seite die pflegebedingten Kosten von 3 800 DM und auf der anderen Seite 2 700 DM plus 500 DM, macht 3 200 DM, und dann noch die Rente von 2 000; dann bin ich, wenn ich richtig rechne, bei 5 200 und 3 800 DM. Das sind Beträge, meine sehr verehrten Damen und Herren, die wir doch unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern - ({13}) - Das ist doch völlig in Ordnung, was ich gesagt habe. Soll ich es wiederholen? ({14}) - Das mache ich sehr gern, damit Sie mitschreiben können. Wir gehen also von pflegebedingten Kosten von 3 800 DM aus. Das ist das, was die Sache kostet. ({15}) - Monistische Finanzierung. Ich gehe davon aus, daß die Leistungen im stationären Bereich im Jahr 1996, wenn das in Kraft tritt, bei 2 700 DM liegen, nicht bei 2 100 DM. Aber wenn Sie es wollen, gehe ich auf 2 600 DM herunter. Das ist mir egal. Es muß ja fortgeschrieben werden. Jetzt kommt im monistischen System der Bundeszuschuß von 3 Milliarden DM. Einen Abzug von 12 % müssen Sie dazurechnen. Ich gehe jetzt also, auch noch einmal ganz knapp gerechnet, von 400 DM aus. ({16}) - Entschuldigung; das ist völlig richtig. Das ist unser System. Das haben Sie nicht drin, aber das haben wir bei uns drin. Das sind 3 000 DM. Jetzt kommen die 2 000 DM Rente dazu. 3 000 und 2 000 sind nach Adam Riese, wenn Sie keine integrierte Gesamtschule in Bremen besucht haben, wo Sie das vielleicht nicht mitkriegen, 5 000 DM. Dem stehen 3 800 DM an pflegebedingten Kosten gegenüber. Somit behält der Mann 1 200 DM übrig. Aber jetzt hat er nichts, ist Sozialhilfeempfänger und ist auf ein Taschengeld angewiesen. Das ist der Unterschied gegenüber der jetzigen Situation. ({17}) - Ja, das muß man hier klar sagen, weil Sie die Leute verunsichern. Der Tyll Necker spricht von „Kriegserklärung", der Herr Dreßler nennt die Sache „Kümmerling", der Herr Cronenberg „Sozialhilfeentlastungsgesetz", andere sprechen von „Erbschaftssicherungsgesetz", n blankem Zynismus", „Roßtäuscherei". Ich halte das für absolut unangemessen für das, was wir hier miteinander verabschieden. ({18}) Ich möchte insoweit auch den Arbeitsminister gegen diese Angriffe in Schutz nehmen. Der Präsident hat es schon getan. Er hat dem Herrn Andres verboten, das Wort „Roßtäuscher" in den Mund zu nehmen. Das bedaure ich eigentlich, weil ich dadurch nämlich gehindert bin, jetzt das Entsprechende über ihn zu sagen, was ich an sich gern tun möchte. Ich lasse es bleiben. Nur, lieber Norbert Blüm, lieber Arbeitsminister, rege dich nicht auf! Von der SPD bis zum Bundesverband der Deutschen Industrie gibt es eine breite Front von Gegnern. Wenn dir alle - das wissen die Geisterfahrer - entgegenkommen, dann bist du auf der falschen Spur. Du aber bist auf der richtigen Spur! Ich glaube, daß das, was wir heute von Ihnen gehört haben, auch darin begründet ist, daß Sie gar nicht geglaubt haben, daß diese Koalition die Kraft besitzt, die Pflegeversicherung zu verabschieden. ({19}) Sie haben nämlich damit gerechnet, daß wir scheitern; und jetzt, nachdem das anders gelaufen ist, schauen Sie wie die Gans, wenn's donnert! ({20}) Sie beschimpfen den Minister und uns alle mit diesen Ausdrücken. ({21}) Natürlich kann man über die Frage „Selbstbeteiligung bei der Lohnfortzahlung" reden. Das ist ein strittiges Thema. Da haben wir uns nicht gerade leichtgetan. Aber ich will auch noch einmal die Frage stellen: Was hätten wir denn eigentlich machen sollen? Im Gegensatz zu Ihnen haben wir uns seriös Gedanken darüber gemacht, wie wir die Sache finanzieren. Darüber haben wir uns wirklich Gedanken gemacht, und das ist nicht ganz einfach gewesen. Wenn ich von dem Bedarf ausgehe, den wir kompensieren müssen, nämlich 11 Milliarden DM für die Arbeitgeber, dann ist es doch so, daß alle miteinander, von den SPD-Finanzministern und den Ministerpräsidenten bis zu Ihrem neuen Vorsitzenden, Rudolf Scharping, aus Gründen der Standortsicherung es sogar abgelehnt haben, die Ergänzungsabgabe - wie Sie sie genannt haben - oder den Solidaritätszuschlag schon am 1. Januar 1994 in Kraft zu setzen. Das hat Herr Scharping aus Gründen der Standortsicherung ausdrücklich abgelehnt. Wenn das schon so ist, muß Ihnen doch klar sein, daß wir bei der Pflegeversicherung, wenn wir so einen neuen Zweig einführen, die Wirtschaft nicht weiter belasten dürfen. Das sind 11 Milliarden DM. Um die geht es. Diese 11 Milliarden DM könnten wir glatt finanzieren, wenn die Deutschen - was weiß ich - 10, 11, 12 Stunden mehr länger arbeiten würden oder wenn die Arbeitgeber und die Gewerkschaften in den vergangenen zwei Jahren miteinander vereinbart hätten, die Löhne nicht um 3 oder 4 oder 5 % zu erhöhen - das war ja vor zwei Jahren, als wir miteinander diskutiert haben -, sondern um 4,2 % oder um 3,2 %. Das wäre ja möglich gewesen. Dann wäre die Pflegeversicherung auf Dauer finanziert gewesen, weil von dem niedrigeren Sockel aus die Geschichte weiter finanziert worden wäre. ({22})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Geißler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pfaff?

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich beantworte die Fragen gern. Aber es geht jetzt langsam in die Zeit, es ist schon fast 13 Uhr. Bitte schön, Herr Professor.

Prof. Dr. Martin Pfaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Dr. Geißler, ich frage Sie als einen wirklich gelernten und bewährten Sozialpolitiker: Wie können Sie denn diese Argumentation - und ich meine das jetzt nicht polemisch - nach der heutigen Diskussion ernsthaft aufrechterhalten? Auf der einen Seite sagen Sie selbst, daß es um Lohnerhöhungen von 3 oder 4 % geht. In einer solchen Welt, wo die Lohnnebenkosten ca. 0,86 DM pro 1 DM Lohnkosten betragen, davon aber nur ca. 36 % gesetzliche Lohnnebenkosten darstellen, sind das 0,7 Zehntel eines Beitragssatzpunktes. Gemessen an den Lohnerhöhungen soll eine solche Belastung die Wirtschaft zugrunde richten? Und der zweite Punkt: Gerade Sie - ich sage es noch einmal - als gelernter Sozialpolitiker müßten doch dieses Kompensationsargument von der Hand weisen; denn wenn die Entlastung auch nur einen Bruchteil der Größenordnung, wie sie Herr Minister Seehofer -

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Kollege Pfaff, Sie sollten keine Rede halten, sondern nur eine Frage stellen.

Prof. Dr. Martin Pfaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Okay. Meine Frage ist: Wie hoch schätzen Sie denn die Entlastung im Krankenhausbereich ein, wenn wirklich eine Pflegeversicherung kommt? Und wie hoch schätzen Sie die Entlastung im Sozialhilfebereich ein?

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber Herr Professor, wir können jetzt hier nicht eine Inzuchtveranstaltung durchführen und die Debatte immer weiter hinausziehen. Wir haben das alles schon ausführlich diskutiert, und Sie haben von Bundesminister Seehofer auch die Antwort bekommen; ich brauche sie nicht zu wiederholen. Die Entlastung wird auf 2,5 Milliarden DM geschätzt, ganz allgemein und im übrigen auch von der Deutschen Krankenhausgesellschaft, die von etwas weniger Betten ausgeht als das Bundesgesundheitsministerium. Aber in der Größenordnung sind sie sich einig. Ich wollte nur sagen: Was hätten wir denn tun sollen? Lohnverzicht oder länger arbeiten wären Möglichkeiten gewesen. Dann kam der Vorschlag, einen Feiertag oder zwei Feiertage zu streichen; auch das wäre möglich gewesen. Norbert Blüm hat das ja probiert. Ich will nicht schildern, welche Versuche ich unternommen habe, wo ich gewesen bin, um z. B. eine Feiertagsregelung zu erreichen. ({0}) Es ist nichts, aber auch gar nichts an Vorschlägen akzeptiert worden. Alle haben erklärt, daß eine Pflegeversicherung notwendig ist. Aber niemand - weder Gewerkschaften, noch Arbeitgeberverbände, noch Länder - hat tragfähige Vorschläge zur Finanzierung gemacht. Man hat manchmal den Eindruck, diese Leute hauen sich um das Buttosozialprodukt, holen alles heraus, was sie überhaupt nur herausholen können, dann liegen sie ermattet in den Sesseln und erklären: Für alle anderen ist nichts mehr da. Das ist die Situation. ({1}) Pflegebedürftige haben keine Lobby. - Darüber ist mit den Gewerkschaften geredet worden, der Minister hat das mit der Postgewerkschaft getan; ich habe mit den Leuten der IG Metall geredet. - Das wundert mich überhaupt nicht. Das hat einen ganz einfachen Grund, das kapiere ich sogar ({2}) - nein -: Pflegebedürftige zahlen keine Beiträge. Sie sind nicht Mitglieder. Das ist das ganze Problem. ({3}) Ich habe Verständnis dafür, Herr Andres. Aber dann soll man die großen Sprüche lassen, was soziale Verantwortung anbelangt. ({4}) Das gilt für die Arbeitgeberverbände genauso: ({5}) In unserer Gesellschaft steht offenbar nicht mehr die Solidarität mit den Schwächsten im Vordergrund, sondern unverhohlener Gruppenegoismus und eine Hartherzigkeit, wie ich sie in der langen Geschichte der Sozialpolitik, als ich dabei war, in diesem Umfang und mit diesen Vokabeln noch nicht erlebt habe. Das muß ich wirklich sagen. ({6})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Der Kollege Weiß möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.

Konrad Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002461, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Geißler, sind Sie nicht der Auffassung, daß die beiden Feiertage, die in der Verfügungsgewalt des Deutschen Bundestages liegen, nämlich der 1. Mai und der 3. Oktober, ({0}) eine gute Möglichkeit zur Kompensation wären? Ich denke, es ist doch mehr solidarisch, wenn man sich, statt auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren, mit den Schwächsten der Gesellschaft an diesen beiden Tagen solidarisiert.

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sicher kann man darüber diskutieren. Aber es wurde hier schon richtig gesagt: Der 1. Mai steht nicht in der Kompetenz des Deutschen Bundestages - soweit ich informiert bin -, sondern nur der Nationalfeiertag. Aber nun muß man doch wirklich sehen: Wir haben die Einheit gerade seit dem 3. Oktober 1990. Jetzt kommt die Pflegeversicherung, und dann fällt dem Deutschen Bundestag, um die Kosten von 0,85 % zu finanzieren, nichts anderes ein, als den Nationalfeiertag - ich bin nicht als überragender Nationalist in der Bundesrepublik bekannt, aber das muß auch ich sagen - zwei Jahre später wieder abzuschaffen, weil wir nicht genügend Phantasie entwickeln, weil wir nicht bereit sind, uns andere Gedanken zu machen. Ich finde das keinen gescheiten und guten Vorschlag. Laßt uns vielmehr über ein paar andere Punkte reden, wenn es denn sein muß. Ich bleibe bei der jetzigen Lösung - damit auch das ganz klar ist. ({0}) Wenn wir die Selbstbeteiligung bei der Lohnfortzahlung aufgäben, wenn wir das machen würden, was Herr Dreßler gerade vorgeschlagen hat, würde das nur dazu führen, daß wir nachher gar nichts bekommen. Das ist ein Paket, und das ist eine Konzeption. Ich will auch sagen: Für die 2 Millionen Pflegebedürftigen und für die Angehörigen, die die Pflegebedürftigen pflegen und betreuen, nehme ich fast alles in Kauf. Zur Selbstbeteiligung bei der Lohnfortzahlung: Lieber Herr Andres, ich kann ja verstehen, daß Sie um diese Sache einen solchen Riesenlärm machen. Aber im Grunde genommen - das hat der Minister schon gesagt - haben wir auch in allen anderen Sozialleistungsbereichen eine Form von Eigenbeteiligung oder Selbstbeteiligung. Das Lohnfortzahlungsgesetz wird doch nicht verändert; gegenteilige Behauptungen stimmen nicht. Das Lohnfortzahlungsgesetz hatte die Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten zum Ziel; das ist der Punkt. Daran ändert sich überhaupt nichts. Es werden alle gleichbehandelt. Ich füge hinzu: Hinzu kommen müssen bei der Regelung ganz selbstverständlich die Beamten, hinzukommen müssen die Minister, und zwar jeder Kategorie, alle, die ein Amtsverhältnis haben, und selbstverständlich auch die Bundestagsabgeordneten und die Landtagsabgeordneten. Da gibt es keine Ausnahmen und keine Privilegien. Die kommen voll mit herein, damit wir für die Pflegebedürftigen die richtige Lösung finden können. Ich bin diese Feiertagsdiskussion langsam leid. Jeder schaukelt dem anderen einen anderen Feiertag in den Schoß. Schließlich landen wir noch beim Rosenmontag. Diese unseriöse Debatte mache ich nicht mit. Wir haben jetzt eine Finanzierungsregelung gefunden. Alle Welt sagt - auch die SPD-Finanzminister sagen es, wohin ich auch gucke -: Wir müssen die Sache finanzieren. Dann laßt uns einmal an die Finanzierung herangehen. Wir gehen davon erst ab - wenn überhaupt; es gibt auch viele, die sagen, die Sache ist an sich richtig, weil wir eine Selbstbeteiligung brauchen ({1}) - ich sage, viele sagen das -, wenn es eine seriöse Alternative gibt. Im übrigen, was die SPD betrifft - auch das muß ich noch einmal sagen -: Ihre Vorstellungen, die Angriffe, die Sie hier gefahren haben, sind von ganz merkwürdiger Art, vor allem was das Leistungsvolumen anbelangt; ich muß da den Minister noch einmal unterstützen. Sie bringen bei 1,4 % Beitrag und einer Grenze wie in der Rentenversicherung nach ihren eigenen Angaben 24,78 Milliarden DM auf den Tisch. Wir finanzieren mit 1,7 % Beitrag und der Krankenversicherungsgrenze 25,8 Milliarden DM. Das sind 1 Milliarde DM mehr. Jetzt frage ich Sie - rechnen Sie doch bitte noch einmal nach -: Wie wollen Sie mit 1 Milliarde DM weniger eine höhere Leistung erbringen, als die Koalition es in ihrem Gesetz vorschlägt? ({2}) Das haben Sie bis jetzt nicht aufgeklärt. Es würde uns sehr interessieren, wenn Sie dazu gleich anschließend etwas sagen würden. Im übrigen sollten wir bei der Pflegeversicherung - im Gegensatz zu Ihrem Entwurf; auch darüber sollten Sie noch einmal nachdenken - endlich von dem Prinzip wegkommen, das unsere Krankenversicherung bisher an den Rand des Bankrotts getrieben hat. Es ist das Prinzip, daß sich die Einnahmen nach den Ausgaben richten, das jeden Haushalt, jedes Unternehmen in den Bankrott treibt. Genau das ist das Finanzierungssystem bei Ihrer Pflegeversicherung. Die Einnahmen richten sich nach den Ausgaben. Wir machen es anders. Bei uns ist es umgekehrt: Es sind einnahmeorientierte Leistungen, die vom Gesetzgeber festgelegt werden. Es ist richtig: Wir können hier nicht den Geburtsfehler von Anfang an in die Pflegeversicherung hineinbringen, den wir bei der Krankenversicherung mühsam Jahr für Jahr versucht haben zu bekämpfen. Alles andére ist einfach nicht zu machen. Insoweit ist Ihre Konzeption einfach unehrlich und unseriös, letztendlich auch unsozial, weil wir spätestens nach zwei oder drei Jahren wieder Eingriffe vornehmen müssen, die zur Enttäuschung der Betroffenen führen. Wer nicht tanzen kann, der schimpft auf die Musikkapelle. ({3}) Genau das haben wir von Ihnen heute gehört. Aus diesem Grunde glaube ich, daß wir die bessere Konzeption haben. Herr Müntefering hat mich wirklich fast verwirrt, als er von einer „Pflegeversicherung de luxe" sprach, weil wir die Privatversicherung mit dabei haben. In § 20 unseres Gesetzentwurfs steht im Zusammenhang mit denen, die bei Privatversicherungen versichert sind: Der Vertrag muß für sie selbst und ihre Angehörigen, für die in der sozialen Pflegeversicherung nach § 21 eine Familienversicherung bestünde, Vertragsleistungen vorsehen, die der Art und dem Umfang nach den Leistungen der sozialen Pflegeversicherung gleichwertig sind. Das steht im Gesetz; das muß man nur lesen. Norbert, die größte Berühmtheit erreicht man heute dadurch, Bewunderung oder Abscheu zu erregen, ohne gelesen zu werden. Das ist die Situation, mit der wir es ohnehin zu tun haben, daß wir nämlich ständig Diskussionen führen -- das war heute vormittag leider Inhalt der ganzen Debatte -, ohne daß sie sachbezogen gewesen wären und dieses Gesetz zur Grundlage gehabt hätten. ({4}) Das muß ich wirklich sagen. Sie haben Sachen gesagt, aus denen klar zu erkennen war, daß Sie den Gesetzentwurf überhaupt nicht angeschaut haben. ({5}) Sie haben Sachen behauptet, die im Gesetzentwurf überhaupt nicht enthalten sind. Ich möchte auch aus meiner langjährigen Verantwortung heraus feststellen: Alle großen Sozialgesetze - das kann man nicht oft genug wiederholen -, die Mitbestimmung, die Betriebsverfassung, die Montan-Mitbestimmung, der Familienlastenausgleich, die große Rentenreform des Jahres 1957, die Bundessozialhilfe, das Arbeitsförderungsgesetz, jetzt die Anerkennung von Erziehungsjahren, das Erziehungsgeld, der Erziehungsurlaub, der Lastenausgleich für Millionen von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen, die Krankenversicherung, die Unfallversicherung, sind von der Christlich-Demokratischen und der Christlich-Sozialen Union entwickelt, ({6}) zu großen Teilen mit den Liberalen zusammen und sehr oft - auch das ist richtig - nicht gegen den Widerstand der Sozialdemokraten, aber eben doch aus unserem Ideengut heraus entwickelt und mit unseren Mehrheiten verabschiedet worden. Deswegen hat Norbert Blüm völlig recht: Die Pflegeversicherung ist - das kann man sagen - eine Krönung unseres Sozialversicherungssystems, das seinesgleichen in der Welt sucht und das uns alle Sozialisten und übrigens auch Kapitalisten auf der ganzen Welt erst einmal nachmachen müssen, bevor sie das kritisieren, was wir hier tun. ({7})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Andres, die Strenge meines Vorgängers auf diesem Stuhl hat mich leider um den Genuß einer Geißlerschen Replik gebracht. Das Wort hat die Kollegin Weiler.

Barbara Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will hier nicht über die Urheberrechte bei bestimmten großen Sozialwerken sprechen. ({0}) Sie wissen sehr genau, Herr Geißler, daß solch eine Debatte in der Bevölkerung von vielen Gruppen geführt wird. Das ist auch gut so. Auch über die Pflegeversicherung sprechen Gott sei Dank nicht nur die Parteien, sondern auch viele Wohlfahrtsverbände, viele Selbsthilfegruppen und andere in unserer Gesellschaft. Viel wichtiger ist in der heutigen Zeit, wer dafür verantwortlich ist, die großen sozialen Reformwerke auf das Skelett heruntergeführt zu haben. Das sind nämlich Sie. ({1}) Ich möchte noch eines zu Ihnen sagen, Herr Geißler, weil Sie hier Vorschläge für alternative Finanzierungen angemahnt haben - ich komme gleich in meinem Referat noch einmal darauf -: Alle Beispiele, die Sie in Ihrer langen Rede als Modellfälle angeführt haben, gingen einseitig zu Lasten der Arbeitnehmer. Sie haben nicht ein einziges Modell genannt, nicht einen Vorschlag gemacht, der eine andere Finanzierung aufgezeigt hätte, sondern Sie haben nur über Feiertage - Bundes- oder Landesfeiertage -, Karenztage oder sonst etwas, also nur über einseitige Belastungen, gesprochen. Das ist mit uns nicht zu machen. ({2}) Wir hätten gerne - das wissen Sie; die Sozialdemokraten sind immer gesprächs- und kooperationsbereit ({3}) in dieses Reformwerk - das haben wir Ihnen vor anderthalb Jahren im Dezember auch gesagt - unse14468 ren Sachverstand und unseren politischen Willen mit eingebracht. Dies zusammen mit Ihrer Mehrheit hätte zu einem gemeinsamen Gesetz geführt. ({4}) 18 Monate haben Sie vertan. In diesen 18 Monaten koalitionsinterner Widersprüchlichkeiten haben Sie auch Resignation bei den Wohlfahrtsverbänden, vor allen Dingen bei den Pflegepersonen, bei den Menschen, die sich etwas erhofft haben, hervorgerufen. Ich denke, auch das ist ein Zeichen Ihrer Zerrissenheit und Ihrer Zerstrittenheit. Wir haben uns nach anderthalb Jahren Beratungen bei Ihnen erhofft, daß die vorgesehenen Leistungen unserem Katalog entsprechen würden. Auch das ist nicht der Fall. Sie nehmen sich sehr spärlich aus. Sie sind in der Finanzierung - wir haben das schon einmal angedeutet - verfassungsrechtlich höchst bedenklich. Ich möchte fragen: Wo sind denn die Sozialauschüßler? Ich habe mit den Vertretern der CDA, der KAB, der CAJ, mit all diesen Herren und auch einigen Damen bei mir im Wahlkreis gesprochen. ({5}) Sie alle haben gesagt: kein Abbau von Arbeitnehmerrechten, keine Karenztage. Sie haben auch gesagt: kein Pfingstmontag oder andere Feiertage. ({6}) - Sie sind aber bereit zu zahlen. Ich frage mich, ob Sie mit Ihrer Basis überhaupt darüber gesprochen haben, daß Sie so einen Abbau machen können. ({7}) - Hören Sie mir einmal zu. Das ist eben nicht zu trennen. ({8}) Ober die Leistungen sind wir uns im großen und ganzen einig. Ihr Modell ist ausgesprochen spärlich ausgefallen; aber im Rahmen der Beratungen - ({9}) - Ich möchte jetzt ungestört reden können. Ich höre immer nur Zwischenrufe. Herr Laumann, aus diesem Grunde möchte ich jetzt zu Ende reden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, einen Moment. Jetzt möchte der Kollege Laumann eine Frage stellen. - Darf ich die Bemerkung machen: Ich habe auch schon zu Beginn dieser Debatte eine Weile präsidiert. Die Heftigkeit, mit der die SPD-Fraktion Redner der Mitte bedient hat, war ein gutes Stück stärker, und ich habe das nicht gerügt. Hier wird eben um eine Frage gerungen. Ich glaube nicht, daß die Zwischenrufe zu heftig waren. Der Redner der Union, der sich gegen Herrn Büttner gewehrt hat, hat ihn namentlich gepackt und ihn zum Schweigen gebracht. Ich unterstelle, daß Sie das jetzt mit dem Kollegen auf dieser Seite unternehmen werden. Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Kollegen Laumann zu beantworten?

Barbara Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, Herr Laumann, diesmal nicht. ({0}) Die seltsame Finanzierungskonstruktion, die jetzt vorliegt, paßt in keiner Weise in unser bewährtes Sozialsystem und stößt in dieser Vermengung von sozialer Absicherung einerseits und Strafaktion gegen kranke Arbeitnehmer andererseits auf den Widerstand auch der Industrie. Wir haben den vielversprechenden Titel „Pflege-Versicherungsgesetz" gelesen. Aber wenn man das Kleingedruckte liest, ist klar: Die großen Erwartungen, die Sie geweckt haben, sind zunichte gemacht worden auch angesichts eines Regelwerkes - das sage ich an das Ministerium gerichtet - mit Tücken und Fallstricken, in dem es von Ermächtigungen nur so wimmelt. Nicht nur die Fachöffentlichkeit wird enttäuscht sein, wenn sie den Gesetzentwurf zu lesen bekommt, sondern auch die Betroffenen und die Beitragszahler. Dabei hätte es allen sehr gut angestanden, mit diesem Gesetz so wie mit unserem ein Zeichen für eine neue Kultur des Helfens und des mitmenschlichen Handelns zu setzen. Herr Geißler war der einzige, der einige Worte darüber verloren hat. Dennoch möchte ich noch einmal feststellen, daß die Pflege selbstverständlich hauptsächlich ein Frauenproblem ist - in der Vergangenheit und in der Gegenwart -, und zwar nicht nur bei den Pflegebedürftigen, sondern auch bei den Pflegenden, egal, ob es sich um ehrenamtliche oder professionelle Helferinnen handelt. Bis zu 90 % der Pflegebedürftigen werden zu Hause gepflegt, und zwar ausschließlich von weiblichen Angehörigen, den Töchtern, Schwiegertöchtern und Ehefrauen. Frauenarbeit bildet somit eine wichtige Säule des Sozialwesens. Das Pflegesystems wäre ohne den unbezahlten oder allenfalls symbolisch honorierten Einsatz der Frauen gar nicht denkbar. ({1}) Ein Grund dafür, daß eine Lösung dieses Problems so lange verzögert wurde, liegt vielleicht auch darin, daß sich die Frauen der ihnen noch immer zugedachten Verantwortung nicht entzogen haben. ({2}) Die Rollenzuweisungen führen dazu, daß Frauen noch immer zugemutet wird, wie selbstverständlich die häusliche Pflege unentgeltlich zu leisten und ihren Beruf aufzugeben. Da Herr Solms von dem attraktiven Modell der Rentenanrechnung gesprochen hat, kann ich nur hoffen, daß sich in Zukunft bedeutend mehr Männer dieser Aufgabe stellen werden und sich in diesem Sinne eine andere Art der Lebensaufgabe stellen. ({3}) - Ich bin überzeugt, Herr Laumann, daß das sicherlich auch für Männer zutrifft. Bis jetzt gibt es nur relativ wenige. Wir hoffen, daß mit diesem Gesetz deren Bereitschaft dazu gestärkt wird. ({4}) - Aber selbstverständlich. ({5}) - Nein, nein. Da irren Sie sich, Herr Laumann. Ich sage nur: Die Rollenzuweisung, wie Sie sie vornehmen - die Frauen sind für das Haus, nebenher für ein paar kleine Jobs und das Ehrenamt zuständig und die Männer für das feindliche Leben -, ist antiquiert und gehört ins letzte Jahrhundert. Und Sie verteidigen sie noch. ({6}) Ich möchte etwas anderes. Ich möchte wie meine Fraktion und auch Herr Geißler den Bereich ambulanter Einrichtungen ausbauen, unterstützen, finanziell konsolidieren. Damit ist dann die Möglichkeit gegeben, daß jeder Mensch tatsächlich die Wahlfreiheit hat, wie er gepflegt werden will. ({7}) Ich möchte das Engagement und das Interesse in der Gesellschaft für pflegebedürftige Menschen verstärken, und zwar nicht das von Frauen, das ist wach genug, sondern in Zukunft auch von Männern.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Barbara Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. ({0}) - Herr Schemken hat auch nicht so dazwischengeredet.

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Weiler, sind Sie mit mir einer Meinung, daß, wie auch immer das Frauenbild von Ihnen dargestellt wird, diese Frauen von der Gesellschaft im Grunde genommen still ausgebeutet werden, und dies 365 Tage im Jahr, und daß von uns durchaus zwei Tage abverlangt werden können, damit diese stille Ausbeutung ihr Ende hat und diese Frauen ihre Absicherung erhalten?

Barbara Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Was meinen Sie mit „von uns"? Von den Arbeitnehmern in unserem Lande oder von wem?

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Von allen, die sich daran jetzt beteiligen müssen, vom Minister bis hin zum Handwerker.

Barbara Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich will zum Finanzierungsmodell gleich noch etwas sagen. Vorab kann ich Ihnen zu Ihrer Frage schon einmal sagen: Ich bin fest davon überzeugt, daß eine pflegebedürftige 80jährige Frau nicht den Beitrag ihres Schwiegersohnes oder Sohnes haben möchte, der wahrscheinlich irgendwo noch schwer malocht, krank wird und dafür dann eine Lohneinbuße erfahren wird. ({0}) Wir sind, wir haben es gesagt, auch skeptisch, ob die nach Ihrem Gesetz vorgesehenen Leistungen mit der Deckelung bei 2 100 DM reichen. Kollege Geißler hat eben gesagt, daß darüber noch - ({1}) - Nein. Regen Sie sich nicht so auf! Auch von Ihnen lasse ich jetzt keine Zwischenfrage zu. ({2}) - Sie wissen genau, daß unser Modell auf anderen Zahlen beruht. ({3}) - Nein, nein. Wir haben ein anderes Modell. Sie wissen aus den Anhörungen, die wir durchgeführt haben, bei denen Sie, Herr Blüm, zum Teil sogar anwesend waren, ganz genau, daß alle Fachverbände, alle Wirtschaftsverbände unser Modell grundsätzlich für richtig durchgerechnet befunden haben, einige haben es aus politischen Gründen nicht akzeptiert. Aber die meisten, alle Wohlfahrtsverbände, die Caritas, die Diakonie, alle diejenigen, die auch Ihnen nahestehen, haben gesagt, unser Modell ist gut und richtig. ({4}) Bei diesem spärlichen Leistungsmodell haben sich die Liberalen viel mehr durchgesetzt, als Frau Babel es heute dargestellt hat. ({5}) Ich denke, sie haben sich auch in anderen Punkten durchgesetzt. Es gibt - das werden Ihnen die Verbände in den Anhörungen bestätigen - eine minimale Grundversorgung. Diese minimale Grundversorgung paßt hervorragend zu den Interessen der privaten Versicherungswirtschaft. Herr Hinsken ist jetzt nicht mehr da. Er hat sich damals gewundert, warum sie damals kein komplettes Modell vorgelegt haben. Das ist völlig klar: Die private Versicherungswirtschaft wollte die Pflege nie ganz übernehmen, sondern nur die Creme und einige wenige schöne 14470 Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 168. Sitzung. Borm, Donnerstag, den 1. Juli 1993 Sachen abkassieren. Diese Möglichkeit haben sie jetzt. ({6}) Ich möchte noch etwas zu den Belastungen sagen. Auch Sozialdemokraten und Gewerkschafter haben ein ganz großes Eigeninteresse an der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Es gibt viele wichtige Überlegungen und Modelle. Ein Beispiel hat Herr Andres schon genannt: daß Verbesserungen des Arbeitsschutzes und der Arbeitsbedingungen sehr viel verändern können, zum einen bei der Produktivität, zum anderen hinsichtlich der Prävention von Krankheiten und auch im Bereich der Prävention von Pflege. Ich will jetzt nicht darüber streiten, ob 17 Milliarden DM richtig waren oder ob es nur 15 oder gar 19 Milliarden DM sind, auf jeden Fall gibt es große Ressourcen für Verbesserungen in einem Bereich, der uns allen, der Wirtschaft und den Arbeitnehmern, zugute kommt. Dies ist überhaupt nicht ausgelotet, und darüber reden Sie auch nicht. Zur Finanzierung haben wir auch Modelle zur stärkeren Heranziehung von Steuerbetrügern; ich will diese Vorschläge nicht wiederholen, Sie kennen sie alle. Wir stellen nur fest, daß alle Vorschläge von Ihnen zu Lasten der Arbeitnehmer gehen und daß Sie überhaupt keine anderen Vorschläge machen. Ich kann es einfach nicht mehr hören. Es gibt - das vergessen Sie ganz, und ich sage dies besonders an die Sozialausschüßler in diesem Raum - durch die Pflegeversicherung, auch nach unseren Vorschlägen, sehr wohl eine zusätzliche Belastung für die Arbeitnehmer, denn die 0,7 % müssen aufgebracht werden. Dies betrifft sowohl kleine Beamte, die bis jetzt noch nichts bezahlt haben, als auch viele Arbeitnehmer, die in den letzten Jahren zum Teil durch Ihre Politik hoch belastet wurden und auch jetzt noch belastet sind. ({7}) Für sie ist es sehr wohl schmerzlich, daß sie mit 25, 30 Jahren für die Pflegeversicherung etwas zahlen sollen - 0,7 % -, ({8}) in einem Alter, in dem man denkt, man wird nie pflegebedürftig. Aber sie sind zur Solidarität bereit. Alle, mit denen ich gesprochen habe, auch Beamte der Post und der Bahn, die in den unteren Bereichen sehr geringe Einkommen haben, waren bereit, ihren Beitrag für eine solidarische Pflegeversicherung zu leisten, aber dies darf nicht einseitig geschehen. Sie wehren sich nur - deshalb möchte ich die Gewerkschaften hier in Schutz nehmen - gegen die doppelte Belastung. ({9}) Herr Cronenberg ist leider nicht mehr da. Ich möchte auf seinen Einwand zurückkommen, das Gesetz sei nur zur Entlastung der Sozialhilfe und der Kommunen gedacht. Ich finde es nicht unanständig, sondern im Gegenteil sehr richtig und vernünftig, wenn wir mit diesem Gesetz - dies gilt auch für unser Gesetz - auch die Kommunen und Sozialhilfeträger entlasten. Ich finde dies richtig, weil sich die Sozialhilfeträger dann zum einen ihren ursprünglichen Aufgaben, deren Erfüllung auch notwendig ist, widmen können und weil zum anderen die Träger dann in qualitative Verbesserungen investieren. Für mich ist es kein Luxus, wenn pflegebedürftige Menschen im Altenpflegeheim ein Einzelzimmer haben. Die meisten haben es eben noch nicht. ({10}) Diese Entlastung der Sozialhilfeträger ist politisch gewollt, und zu ihr stehen wir auch. Für uns alle müßte wichtig sein, daß mit dem eingesparten Geld Vernünftiges gemacht wird, daß die Kommunen handlungsfähig werden oder bleiben und sich deren Finanzen stabilisieren, damit sie ihrem Auftrag zur Vorsorge und Hilfe der Bürger vor Ort gerecht werden können. Wenn wir so weitermachen wie jetzt - richten Sie es Herrn Cronenberg bitte aus -, dann ist sehr, sehr bald der Punkt erreicht, daß die Sozialhilfeträger vor dem Bankrott stehen. Herr Blüm, zum Schluß möchte ich noch folgendes sagen. Wir haben aus den Medien erfahren, welch hohen Wert Sie diesem Gesetz beimessen. ({11}) Wir haben auch erwartet, daß Sie den Gesetzentwurf, der aus Ihrer Fraktion gekommen ist, hier verteidigen. Aber eine Rechtfertigungsrede zum Abbau von Arbeitnehmerrechten habe ich hier nicht erwartet. ({12}) Mit diesem Gesetzentwurf - das muß ich Ihnen leider sagen - werden Sie sich nicht bei den großen deutschen Sozialreformern einreihen. Mit diesem Gesetz werden Sie Ihrem Anspruch nicht gerecht, ein Reformwerk vorzulegen. ({13})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/5262 und 12/5263 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften - Drucksache 12/4195 - ({0}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Frauen und Jugend ({1}) - Drucksache 12/5297

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Abgeordnete Ilse Falk Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink Wilhelm Schmidt ({0}) Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster unserer Kollegin Ilse Falk das Wort.

Ilse Falk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000513, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Zeit zwischen der ersten Beratung des Gesetzes im Februar und der heutigen Debatte hat die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften wieder 126 Medien indiziert, darunter 49 Videofilme, 15 Zeitschriften, 10 Taschenbücher, 12 Computerspiele und 30 Musikkassetten, die, wie es in den Bestimmungen für eine Indizierung heißt, „verrohend wirken, zu Gewalttätigkeiten, Verbrechen und Rassenhaß anreizen und den Krieg verherrlichen". Eindeutiger Schwerpunkt der letzten Monate war die Indizierung rechtsradikaler Rockmagazine oder Tonträger, in denen in unverhohlener Weise zur Aggression gegen ausländische Mitbürger aufgerufen wird, wobei die Palette der angebotenen Maßnahmen vom „Bekämpfen" bis hin zum „Erschlagen" reicht. Die große Anzahl der allein in einem Zeitraum von nur vier Monaten indizierten Medien ist erschrekkend, zumal sie sicherlich nur einen Bruchteil der in Wirklichkeit kursierenden Schmierereien wiedergibt. Doch wie kommt es, daß der Konsum solcher gewaltverherrlichenden und offen zu Verbrechen aufrufenden Texte, Videofilme und Computerspiele so dramatisch ansteigt? Steigt das Angebot mit der Nachfrage oder die Nachfrage mit dem Angebot? Wieviel Sinn macht es, mit Hilfe staatlicher und gesetzgeberischer Maßnahmen zum Schutz der Jugend wenigstens die härtesten Schriften durch Indizierung aus dem Verkehr zu ziehen? Sollte es nicht vielmehr ein Alarmsignal für uns alle sein, daß dieser Konsum stattfindet, und müßten wir nicht vielmehr nach Ursachen fragen, statt an den Symptomen zu kurieren? Ich denke, das eine schließt das andere nicht aus. Das heißt, Beschränkung ist ohne Ursachenforschung und die entsprechenden Konsequenzen ein recht unzulängliches Mittel der Einflußnahme. ({0}) Viele Jugendliche, die heute zur Gewaltbereitschaft neigen, kommen aus Elternhäusern, die ihnen nicht genügend Rückhalt und Orientierung geben oder geben können. Von früh an vor dem Fernseher ruhiggestellt, wurden viele von ihnen schweigend groß. Gespräche und Auseinandersetzungen finden in vielen Familien nicht mehr statt. Schulstreß, Bewegungsmangel, Orientierungslosigkeit in der Freizeit und mangelnde Perspektiven für die Berufsausbildung kommen hinzu. Bei vielen Jugendlichen scheint die Gewalt ein Notruf zu sein, mit dem sie auf sich aufmerksam machen wollen. Hervorgerufen wird dies durch das Gefühl, den Erwartungen und Leistungsanforderungen in Schule, Elternhaus und Gesellschaft nicht mehr standzuhalten. In einer Gesellschaft der Starken ist für Schwache oftmals kein Platz. Wenn sich die Schwachen ihrer Schwäche bewußt werden, suchen sie instinktiv nach anderen, die noch schwächer sind als sie. Der Einfluß der Schriften, und hier besonders der Bildmedien, kann bei entsprechender Disposition wie ein Katalysator für angestaute Aggressionen wirken. Gewalt im Fernsehen, besonders lebensnah in den sogenannten Reality-TV-Shows, regt zur Nachahmung an. Zumindest sinkt die Hemmschwelle, wird Gewalt hier doch als ein legitimes, ja alltägliches Mittel der Konfliktbewältigung dargestellt. Haben die jugendlichen Täter von Mölln und Solingen vielleicht auch am Fernsehen gesessen, als Ende letzten Jahres vor laufenden Kameras die zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen unter Beifall oder zumindest mit stillschweigender Duldung der Zuschauer angezündet wurde? Das war doch ein Medienspektakel erster Güte; das war doch Reality-TV in der reinsten Form. ({1}) Nun ist zwar Berichterstattung - das war es ja - nicht offiziell zensierbar oder gar indizierbar; sie ist unverzichtbarer Bestandteil unserer Pressefreiheit. Dennoch gehört eine kritische Betrachtung auch der Nachrichtensendungen gewiß in den Gesamtzusammenhang. ({2}) Die Änderung des Gesetzes, die wir heute abschließend beraten, betrifft das Vorschlagsrecht für ehrenamtliche Beisitzer bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, also verfahrensrechtliche Maßnahmen, die vom Bundesverfassungsgericht 1990 als bisher unzureichend angemahnt worden waren. Diese Verfahrensregeln sind wichtig, da sie der Bundesprüfstelle den Rücken stärken. Um Gewalt in den Medien und damit in unserer Gesellschaft wirksam zu bekämpfen, sind aber weitere Maßnahmen nötig, die ihre Kompetenzen erweitern. Es ist nach wie vor ärgerlich und im Sinne eines wirksamen Jugendschutzes unzureichend, daß die Bundesprüfstelle Medien, die der Kunst oder der Wissenschaft im weitesten Sinne zugeordnet sind, nicht indizieren darf - denn hier wird viel Mißbrauch betrieben - und daß sie auf Fernsehsendungen und Btx keine Zugriffsmöglichkeiten hat. Die Medien tragen eine erhebliche Mitverantwortung für den Wertverlust unserer Jugend und für die wert- und damit kulturzerstörenden Entwicklungen unserer Gesellschaft. Aber wir haben keine oder nur sehr unzureichende Sanktionen, um diese Verantwortung einzufordern. ({3}) Vielen Medienvertretern stünde daher ein wenig mehr Selbstkritik gut zu Gesicht. Ohne eine freiwillige Selbstbeschränkung der Sender und Landesmedienanstalten bezüglich der Ausstrahlung gewaltdarstellender und pornographischer Sendungen können wir das Problem nicht in den Griff bekommen. ({4}) Kontrolle ist wichtig, Vorbeugung aber ist besser. Wenn sich alle Bereiche der Gesellschaft wieder Use Falk verstärkt ihres Erziehungsauftrages und ihrer Verantwortung für die Wertorientierung kommender Generationen erinnern würden, könnten langfristig Sanktionen und staatliche gesetzgeberische Maßnahmen zum Jugendschutz wieder mehr in den Hintergrund treten. Dazu gehören im Elternhaus wieder Mut zur Erziehung, die Zeit und der Wille für eine echte Auseinandersetzung mit den Kindern und Jugendlichen. Wenn wir in unseren Familien wieder mehr Kreativität für eine gemeinsame Freizeitgestaltung entwickeln würden, wenn das Angebot attraktiver Veranstaltungen im Bereich der Jugendarbeit verstärkt würde und wenn in machen Familien einfach wieder intensiver miteinander kommuniziert würde, vielleicht säßen ja dann auch nicht so viele Kinder und Jugendliche stundenlang vor dem Fernseher, dem Videorecorder oder vor Computerspielen. Vielleicht müßten wir uns dann über die negativen Einflüsse dieser Medien nicht mehr solche Sorgen machen. ({5})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Wilhelm Schmidt ({0}).

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mich reizt es natürlich, zunächst einmal auf den Schluß der Rede von Frau Falk einzugehen. Ich sehe ihn insgesamt als durchaus begrüßenswert an. Aber Sie müßten sich natürlich auch noch einmal nach den Ursachen gerade auf diesem Felde umsehen. Ich bitte Sie, sich noch einmal sehr genau daran zu erinnern: Wer hat denn diese Form der Medienvielfalt gegen den Widerstand von Sozialdemokraten auf den Weg gebracht? Diejenigen, die die Verkabelung beschlossen haben und die mehr als 20 Milliarden DM an Steuermitteln auch in die Verkabelung hineingesteckt haben, um damit das alles zu ermöglichen und die entsprechenden Dinge auf den Weg zu bringen. Das muß man schon wissen. ({0}) In den siebziger Jahren waren die Warnungen davor groß, diesen Weg zu gehen. Wir haben sehr häufig gerade als Jugendpolitikerinnen und Jugendpolitiker in jenen Jahren gewarnt, und nun stehen wir alle vor dem Scherbenhaufen, der durch die politischen Entscheidungen angerichtet worden ist, die aus der konservativen Regierungsecke kommen. ({1}) Ich denke, wenigstens das sollte einmal klargestellt werden, damit wir uns nicht unnötig an Dingen orientieren, die hätten vermieden werden können. Das will ich einmal sagen. Daß sich heute so wenig Abgeordnete im Plenum an der Debatte beteiligen, kann ich nachvollziehen. Ich will das einmal deutlich sagen. Denn eigentlich verbirgt sich hinter dem Anlaß unseres heutigen Tuns doch nur eine Formalie, jedenfalls scheinbar. Wir kommmen einem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts nach und verbessern die Gremienzusammensetzung, die bis dahin im GjS unzulänglich war. Ich finde, es ist ganz richtig, daß wir die Debatte dann nutzen, um über den Tellerrand, der uns hier vorgegeben ist, hinauszuschauen. Insofern begrüße ich auch Ihre Anregungen und Hinweise, Frau Falk, und will auch selbst einiges beitragen. Ich will aber, was das GjS und den heutigen Anlaß anbetrifft, noch hinzufügen, daß die SPD es sehr gern gesehen hätte, wenn bei der Gremienzusammensetzung - so hat es auch der Bundesrat gefordert - die Beteiligung der Frauen in den Gremien stärker und konkreter festgeschrieben worden wäre. Dies ist leider unterlassen worden, und Sie haben unseren entsprechenden Anträgen in den Ausschüssen nicht zugestimmt. Das bedauern wir zutiefst. Trotzdem stimmen wir dem Gesetz zu. Aber ich will das wenigstens erwähnt haben, weil ich finde, daß wir nicht erst auf das von Ihnen angekündigte Bundesgremiengesetz, wann immer es auch kommen wird, warten können, ({2}) wenn wir eine solche konkrete Beteiligung von Frauen in diesen Zusammenhängen verwirklichen wollen. ({3}) Das, denke ich, gehört jedenfalls dazu. Entsprechend haben wir uns verhalten. Wir mahnen Sie auch, das Bundesgremiengesetz so bald wie möglich auf den Tisch zu bringen, denn dann wird dieser Fehler möglicherweise geheilt. Das, was wir im Zusammenhang mit dem Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften alle gemeinsam bedenken müssen, ist die Tatsache, daß dieses Gesetz eigentlich ein viel zu unzulängliches Instrument ist, um den Dingen zu begegnen, die sich in der Medienlandschaft mittlerweile aufgetan haben. Es geht tatsächlich nicht nur um das Fernsehen, obwohl ich es in meinen Eingangsworten angesprochen habe. Bedauerlicherweise - das muß man sagen - ziehen sogar die Öffentlich-Rechtlichen den Privaten hinterher, was ich zusätzlich beklage, denn sie sind, was die Entwicklung bei den Privaten angeht, nicht mehr das kulturorientierte Gegeninstrument. Wir müssen sehen, daß sich über das Fernsehen hinaus eine ganze Reihe technischer Entwicklungen auf den Weg begeben haben, die sogar uns manchmal fast unzugänglich erscheinen. Aber die Kinder und Jugendlichen haben dazu offensichtlich einen sehr schnellen Zugang, weil sie sich mit den technischen Dingen viel besser zurechtfinden, als wir Älteren das glauben oder für uns selbst empfinden. Computerspiele, die nicht nur rechtsradikaler Art, sondern sehr gewaltlastig und auch sexorientiert sind, Videospiele und Videofilme sowie alle anderen Dinge, die sich in diesem Zusammenhang ergeben, nehmen eine zutiefst anwidernde Entwicklung. Ich muß sagen: Es ist sehr bedauerlich, daß sich nicht viel mehr Politikerinnen und Politiker auf diesem Felde Wilhelm Schmidt ({4}) engagieren und noch mehr als bisher gegen diese Entwicklung zu Felde ziehen. Ich will, weil es mir am Herzen liegt, auch einmal auf die Verantwortung der Landesmedienanstalten hinweisen, denn die Lander sind für die Ausführung der Rundfunkgesetze zuständig. Es gibt ernst zu nehmende Gutachten, die diese Entwicklung, die auf den Fernsehkanälen stattfindet, auch als verfassungswidrig ansehen. Es gibt ein Gutachten von Professor Meurer aus Marburg, das dies - jedenfalls in Ansätzen - belegt. Ich will es wenigstens eingeführt haben, weil ich finde, daß auch das überlegenswerte Ansätze sind, auf die man achten sollte, wenn man sich mit diesen Dingen auseinandersetzt. Ob das hundertprozentig stimmt, kann ich nicht beurteilen; ich bin auch kein Verfassungsrechtler. Die Dinge, die dort zusammengetragen worden sind, scheinen mir aber relativ logisch zu sein. Kinder werden tagtäglich einer ganz besonderen Gefährdung ausgesetzt, und zwar über das Angebot, das einfach nicht gebremst werden kann, weil es in den Fernsehapparaten bisher keine technischen Vorrichtungen dafür gibt oder weil es beispielsweise auch keine Möglichkeit gibt, diese Angebote in anderer Weise zu beenden. Denken wir an die internationalen Entwicklungen, wie die Dinge z. B. auch über Satellitenfernsehen, ohne Grenzen einhalten zu müssen oder zu können, weitergegeben werden. Ich will darauf hinweisen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß wir natürlich weit über das hinausgehen müssen, was die Regierung in den letzten Monaten getan hat. Sie hat eine Anhörung gemacht, um sich selbst auf diesem Sektor vielleicht ein bißchen schlauer zu machen; das kann ich verstehen. Sie hat aber dann eine Medienkampagne in ihrem Sinne losgetreten, von der ich meine, daß auch sie nur ein erster kleiner, ich möchte fast sagen: mickriger Ansatz sein darf; denn wenn man sich mit den Dingen wirklich ernsthaft auseinandersetzt, muß man mehr tun, nachhaltiger wirken, und vor allen Dingen muß man das Übel an der Wurzel bekämpfen. Ich denke, das ist genau der Punkt, der bisher fehlt. Es gibt auf der Regierungsseite kein Konzept, das uns allen gemeinsam vielleicht ein bißchen die Orientierung gibt. Wie könnten wir in den nächsten Monaten und Jahren gemeinsam - wir sind alle, quer durch die Fraktionen dieses Hauses, zur Zusammenarbeit bereit - in diesen Dingen vorgehen, um wirksam etwas für die Kinder und Jugendlichen zu erreichen und ihre Gefährdungen abzubauen? Ich will gar nicht auf die verschiedenen, auch von Ihnen, Frau Falk, angedeuteten Momente eingehen; ich will nur auf die Mitverantwortung von Eltern und Erziehenden auch aus unserer Sicht nachdrücklich aufmerksam machen. Ich finde, es ist eine ganz wichtige Aufgabe der Eltern selbst, die dafür fit gemacht werden müssen, sich mit den Dingen auseinanderzusetzen und im Elternhaus dann auch gegenzusteuern. Natürlich wäre es mir lieber, wenn ein solches Angebot und solche Möglichkeiten, wie sie bestehen, gar nicht erst ins Elternhaus kämen; aber solange wir uns mit den Fakten auseinandersetzen müssen, wie sie nun einmal sind, kommen wir nicht daran vorbei, auch Eltern ungeschützt und ungeschont auf die Folgen aufmerksam zu machen und sie dazu zu bringen, sich diesen Dingen mehr als bisher zu widmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen und nicht die Glotze tagtäglich zur Kinderbewahranstalt degenerieren zu lassen. Ein zweiter Punkt: Wir brauchen mehr als bisher Medienpädagogik, auch in den Schulen, auch im außerschulischen Bildungsangebot. ({5}) Ein Punkt, der mir ganz wichtig erscheint: Es ist ein sehr wichtiger Faktor von Kinder- und Jugendpolitik, wenn wir diese Aufgabe wahrnehmen. Was passiert? Genau das Gegenteil, denn alle Bildungseinrichtungen, in denen wir uns zur Zeit umsehen, werden eher abgebaut, weil beispielsweise die öffentliche Förderung wegfällt, obwohl solche Angebote in den Volkshochschulen, in den Weiterbildungseinrichtungen der Kirchen, der Gewerkschaften und aller anderen als dringend notwendig angesehen werden. Das notwendige Geld wird dazu leider nicht zur Verfügung gestellt. Ich muß sagen, das finde ich zutiefst verwerflich. Das gilt auf allen Ebenen; da nenne ich nicht nur den Bund, sondern da sind auch die Länder und die Kommunen gleichermaßen beteiligt. Das, was wir brauchen, ist eine sehr intensive Auseinandersetzung mit den Problemen auf allen Ebenen, die dadurch hervorgerufen werden. Ich rufe dazu auf, das wir dies ernsthaft in den nächsten Monaten angehen. Der Antrag der SPD zur Fernsehrichtlinie der Europäischen Gemeinschaft ist ein weiterer Anlaß, sich mit den Dingen auseinanderzusetzen. Wir haben das schon gestern morgen im Ausschuß im ersten Durchgang getan. Ich fand das sehr ermutigend und rufe dazu auf, daß wir möglicherweise jeden Monat einen solchen Anlaß hier im Hause suchen, damit auch draußen in der Öffentlichkeit klarer als bisher erkannt wird, welche Folgen sich damit verbinden, und damit wir endlich bei den wirklich Verantwortlichen, nämlich bei den Fernsehmachern, den Aufsichtsführenden über die Rundfunkhoheit in den Ländern, bei den Erziehenden, bei den Eltern das entsprechende Gewissen schärfen, um hier voranzukommen. ({6})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

In der Geschäftsordnung steht in § 33: „Die Redner sprechen grundsätzlich in freiem Vortrag. Sie können hierbei Aufzeichnungen benutzen. " Das ist aus vielerlei Gründen nicht mehr so üblich. Ich möchte jetzt diese Gelegenheit nutzen, zu sagen, daß der amtierende Präsident zwar keine Sanktionsmöglichkeiten hat, wenn jemand die Rede von vorne bis hinten abliest, aber die Möglichkeit hat zu sagen: Vizepräsident Hans Klein Der Kollege Wilhelm Schmidt hat in freier Rede gesprochen und wirklich nur Notizen benutzt. ({0}) Für Frau Weiler gilt das auch; es ist mir bei ihr zu spät aufgefallen. Frau Kollegin Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink, Sie haben das Wort.

Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000625, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften leistet unverzichtbare präventive Jugendarbeit. Mediendarstellungen und gewaltverherrlichende Schriften, die Kinder und Jugendliche sittlich gefährden, werden wachen Auges einer Überprüfung unterzogen. Die unreflektierte Gewaltproduktion in den Massenmedien bewirkt die Gefahr einer psychischen Umweltverschmutzung großen Stils. In Berichterstattungen und Unterhaltungssendungen wird abnormen Persönlichkeiten und Gewalttätern eine Plattform angeboten, die eine Heroisierung des Pathologischen bedeutet und Zerrbilder liefert. Dem will die Bundesprüfstelle entgegenwirken. Deshalb ist die vorliegende Novellierung notwendig und richtig. Der Jugendmedienschutz nach dem Gesetz über jugendgefährdende Schriften, GjS, und dem Gesetz zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit setzt die Zusammenarbeit von Jugendbehörden, Ordnungsämtern, Polizeibehörden und Bundesprüfstelle voraus. Nur dann wird der prophylaktische Charakter dieser Gesetze wirksam bleiben, wenn es neben den hinreichend formulierten Rechtsvorschriften auch eine angemessene Umsetzung der Vorschriften gibt. Darüber hinaus ist aber unbedingt eine Überarbeitung des Rundfunkstaatsvertrages notwendig. Der Terminus „schwere Jugendgefährdung" in § 3 des Rundfunkstaatsvertrages muß bundeseinheitlich definiert werden. Die Bundesprüfstelle und die Freiwillige Selbstkontrolle könnten dafür hinreichende Kriterien zur Verfügung stellen. § 3 des Rundfunkstaatsvertrages enthält eine Einschränkung der Ausstrahlung in der Weise, daß eine Ausstrahlung nur dann in Betracht kommt, wenn eine „mögliche sittliche Gefährdung von Kindern oder Jugendlichen ... nicht als schwer angesehen werden kann." Diese Definiton ist bisher nur im Rundfunkstaatsvertrag vorgesehen. Das Gesetz zur Verbreitung jugendgefährdender Schriften kennt den Terminus „schwere Jugendgefährdung" nicht. Wir brauchen aber einen bundeseinheitlichen Jugendmedienschutz. Es muß gewährleistet sein, daß ein Film, der bundesweit zugänglich ist, nicht in einem Bundesland ausgestrahlt werden kann, während in anderen Bundesländern diese Ausstrahlung zu einer Beanstandung führen würde. Eine Möglichkeit zur Reduzierung von Gewaltdarstellung wäre, die Sender zu motivieren - das haben wir Politikerinnen und Politiker im letzten Jahr schon gemacht -, auf die Ausstrahlung indizierter Filme freiwillig zu verzichten. So haben z. B. die öffentlich-rechtlichen Anstalten - bis auf eine Ausnahme, noch nie einen indizierten Film ausgestrahlt. Mit welchen Mitteln könnten wir aber auf die privaten Anbieter einwirken? Die für den Jugendmedienschutz effektivste Möglichkeit würde darin bestehen, im GjS zu regeln, daß indizierte Filme überhaupt nicht mehr ausgestrahlt werden dürfen. Dies stellt meines Erachtens keinen Verstoß gegen Art. 5 des Grundgesetzes dar, da die Filme jederzeit in Videotheken erworben werden können. Dies wäre die einschneidendste Maßnahme, bei der es aber - das weiß ich auch - gute Gegenargumente gibt. Zwei andere Möglichkeiten wären: Erstens. In das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften wird die Regelung aufgenommen, daß Filme, die mit indizierten inhaltsgleich bzw. im wesentlichen inhaltsgleich sind, nur in der Zeit von 23 Uhr bis 6 Uhr und durch die Bundesprüfstelle als „offenbar jugendgefährdend" eingestufte Filme nur von 1 Uhr bis 6 Uhr ausgestrahlt werden dürfen. Ich empfehle eine solche Lösung, wissend, daß der Videorecorder jederzeit aufnehmen kann. Hier wären aufmerksame Eltern technischen Codierungsinstrumenten wirklich vorzuziehen. Zweitens. Die Landesmedienanstalten müßten tatsächlich Bußgelder - wie im Rundfunkstaatsvertrag vorgesehen - verhängen. Bislang ist kein einziger Fall bekannt. Angesichts der lächerlichen Höhe von 500 000 DM ist im übrigen auch zu fragen, ob dies die Anbieter überhaupt von einem Verbot abhalten könnte. Fazit: Die Hemmschwelle für öffentlich wahrnehmbare reale wie fiktive Gewalt in den Massenmedien darf nicht weiter gesenkt werden. ({0}) Eine in jedem Bundesland geförderte Familienbildung, ein aktiverer, bundeseinheitlich definierter Jugendmedienschutz sowie eine Medienpädagogik in Schulen und Jugendarbeit könnten Hilfen zur Verarbeitung und Einordnung von Mediengewalt sein. Der jüngst verstorbene Philosoph Hans Jonas hat uns auf unsere Verantwortung aufmerksam gemacht - ich zitiere -: Kinder sind der Urgegenstand unserer Verantwortung, unkalkulierbaren Risiken für ihr Wohlergehen ist entgegenzusteuern. Vielen Dank. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Dr. Barbara Höll, jetzt haben Sie das Wort.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gegenwärtig erleben wir eine wahre Inflation an Studien, Untersuchungen, Medienveröffentlichungen, Sachbüchern, Konferenzen und ähnlichem, die sich mit Jugendgewalt beschäftigen. Immer wieder wird nach den Ursachen gefragt. Über Werteverluste in der Gesellschaft wird geklagt - es heißt, die Schule hätte versagt -, oder die Eltern bekommen den Schwarzen Peter, besonders die aus der 68er-Generation, weil sie ihren Sprößlingen keine Grenzen gesetzt haben. Der Herr Bundeskanzler hat ja in seiner letzten Regierungserklärung die Konfliktpädagogik als Ursache für die momentane Gewalt gerade bei Kindern und Jugendlichen entdeckt. ({0}) Um Pädagogik geht es hier aber meines Erachtens nicht, sondern es geht um den Versuch, jegliche Verantwortung der Bundesregierung für die zunehmende Gewalt wegzuschieben. Ich zitiere hier einmal den Kanzler: Ist es nicht ein Zeichen falsch verstandener Liberalität, wenn wir einfach klaglos zulassen, daß von vielen Kindern Rambo und vergleichbare Symbolfiguren zum Vorbild genommen werden? Rambo als Ergebnis kommerzieller Medienpolitik! Der Kanzler ist ja doch wohl mit seiner Regierungsmannschaft und dieser Koalition auch für das Privatfernsehen und für die Durchsetzung der Verkabelung verantwortlich. Ich meine, sie sind auch dafür verantwortlich, daß nicht konsequent gegen Gewaltverherrlichung in den Medien und in der Gesellschaft insgesamt vorgegangen wird. Rund 70 Morde werden täglich im Fernsehen frei Haus serviert, 2 700 Gewaltszenen pro Woche. Wer hierzulande die Schule verläßt, hat bereits etwa 16 000 Morde am Bildschirm miterlebt. Und oftmals sitzen Kinder leider länger vor dem Fernseher als in der Schule. Das kann man nicht nur auf die Eltern schieben, sondern das hat auch mit Kinder- und Jugendpolitik, mit Freizeitangeboten und anderen Sachen etwas zu tun. Ich frage mich ernsthaft, auf welchen moralischen Werten eine Haltung beruht, die sagt: Bei Gewalt, die Kindern nicht zuzumuten ist, ist es aber ab 23 Uhr für Erwachsene sehr wohl ein berechtigter Wunsch, sich damit berieseln zu lassen. Außerdem ist dieser Punkt meines Erachtens auch absolut realitätsfern. Das hat nicht nur etwas mit dem Videorecorder zu tun, es hat auch etwas damit zu tun, daß leider oftmals auch Kinder im Grundschulalter noch nach 23 Uhr fernsehen. Man kann sich hier über die Verantwortung der Eltern sicher verständigen. Aber es ist nun einmal Realität, und dieser haben wir uns zu stellen. Ich glaube, hier würde nur ein generelles Verbot gewaltverherrlichender Filme weiterhelfen. Das Strafgesetz mit seinen einschlägigen Paragraphen böte ja auch eine juristische Handhabe, wenn der Gesetzgeber es nur wollte. Aber ist es nicht so, daß man sich dann auch tatsächlich mit den Großverdienern am Medienmarkt anlegen müßte? Das kann man nicht einfach darauf schieben, daß freie Marktwirtschaft und Qualität einander absolut ausschließen, die Jagd nach höchsten Einschaltquoten nur mit immer brutaleren Horror- und Sexfilmen zu befriedigen sei. Zum wirksamen Jugendschutz gehört deshalb vor allem ein konsequentes Vorgehen gegen jede Form der Gewalt, der Heranwachsende hierzulande ausgesetzt sind. Ein besonderes Problem stellen dabei nicht nur Horror- und Sexfilme, sondern auch die gesellschaftliche Realität dar, wie sie dann eben auch in Nachrichtensendungen übertragen wird. Wenn wir in einer der letzten Kinderdebatten von einer CDU-Kollegin nur den Hinweis bekommen: „Dann sollen Kinder keine Nachrichtensendungen sehen" , dann ist das ja wohl mehr als realitätsfremd. Schon mit dem angestrebten Einsatz deutscher Soldaten in Somalia z. B. ist doch wieder u. a. eine Gesellschaftsfähigmachung von Gewaltanwendung, die auf Staatswillen beruht, bezweckt. Ganz wesentlich sollte uns eine Berichterstattung zu denken geben, die mit Empörung registriert, daß UNO-Soldaten getötet wurden, während am nächsten Tag mit größter Selbstverständlichkeit darüber berichtet wird, daß zur Vergeltung in eine friedliche Demonstration geschossen wurde und ganz nebenbei 25 Zivilisten verletzt wurden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Höll, Sie sind am Ende Ihrer Redezeit.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Das war mein letzter Satz. Ich glaube, wir haben hier alle gemeinsam viel zu tun. Ich möchte mich bedanken.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das rote Licht ist nämlich plötzlich kaputt. ({0}) - Also, Herr Kollege Kuhlwein, ich verbitte mir diese Bemerkung. Es ist wirklich wahr: Das rote Licht hat nicht aufgeleuchtet, und ich dachte: Wenn jemand eine so kurze Redezeit hat, dann gib ihm noch ein paar Sekunden. Aber Frau Dr. Höll hat es natürlich, wie immer, reichlich genutzt. Ich erteile der Parlamentarischen Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Frauen und Jugend, Cornelia Yzer, das Wort. Cornelia Yzer, Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Frauen und Jugend: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, daß wir die heutige Novellierung des GjS zum Anlaß nehmen, hier im Plenum allgemeine Aspekte des Jugendmedienschutzes einmal ausführlich zu erörtern. Denn bei der vorliegenden Novelle geht es in der Tat ausschließlich um formale Änderungen. Entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts wird die Auswahl der ehrenamtlichen Beisitzer bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften neu geregelt. ({1}) Neben acht im Gesetz aufgeführten Gruppen, die die Bereiche Kunst und Literatur, den Buchhandel, die Verleger, die Träger der freien und öffentlichen Jugendhilfe, die Lehrerschaft und die religiösen Glaubensgemeinschaften repräsentieren, haben künftig auch andere Organisationen ein Vorschlagsrecht. Das ist richtig so. Aber es ist in der Tat eine Formalie, die wir heute gesetzlich regeln. Herr Kollege Schmidt, was die Besetzung dieses Gremiums mit Frauen anbelangt, sind wir allerdings den Vorstellungen der SPD nicht gefolgt, Quoten einzuführen, weil wir das Gremiengesetz unmittelbar in die parlamentarische Beratung einbringen wollen. Wir halten das Instrumentarium, das dort vorgesehen ist, für das geeignete Instrumentarium, um Frauen besser repräsentiert zu sehen. Ich muß auch sagen: Wir sollten nicht bei einem Gremium wie der Bundesprüfstelle anfangen, in dem der Frauenanteil mit einem Drittel zwar ausbaufähig, aber schon relativ hoch ist. An dieser Stelle möchte ich auch einmal erwähnen, daß 90 % der Mitarbeiter in der Bundesprüfstelle Mitarbeiterinnen sind. Vielleicht liegt es auch daran, daß das GjS dort mit besonderem Engagement durchgesetzt wird. Allerdings sollte man die heutige Debatte auch nutzen, um darauf aufmerksam zu machen, vor welchen Schwierigkeiten die Bundesprüfstelle bei ihrer täglichen Arbeit steht. Denn mit der Erweiterung des Medienangebots sind die Gefährdungen gewachsen, die die Medien für Kinder und Jugendliche mit sich bringen. Dabei wird immer deutlicher, wie eng die Grenzen sind, die die Presse-, Rundfunk- und Kunstfreiheit dem staatlichen Jugendschutz setzen. Bei unseren Prüfungen, ob Fernsehsendungen in die Indizierung einbezogen werden können, ob wir Btx aufnehmen können, sind wir immer auf die Grenzen des Grundgesetzes gestoßen, was wir akzeptieren müssen, was aber angesichts der großen Gefahren manchmal auch bedauerlich erscheint.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schmidt?

Cornelia Yzer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002580

Aber ja.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte, Kollege Schmidt.

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatssekretärin, würden Sie mir aber zustimmen, daß schon die Verbreitung indizierter Filme über die privaten Fernsehkanäle eigentlich mehr als bisher unsere Kritik hervorrufen müßte und wir deswegen alles daransetzen sollten, die Landesrundfunkgesetze und alles, was damit zusammenhängt, entsprechend zu ändern?

Cornelia Yzer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002580

Da stimme ich Ihnen zu, Herr Kollege Schmidt. Wenn Sie ein wenig Geduld gehabt hätten, wäre ich gleich in meiner Rede darauf eingegangen; denn in der Tat glaube ich, daß wir dort gemeinsam mit den Ländern und auch fraktionsübergreifend ansetzen müssen. Es ist der richtige Ansatz, den Sie genannt haben. Es geht aber längst nicht mehr um den Fernseh- und Kinofilm. Video, Computer und Btx haben Einzug in die Kinderwelt gehalten, sind dort zu einer Selbstverständlichkeit geworden. 10 000 Computerspiele sind auf dem Markt, von denen ein Großteil zur Rubrik „Action" gehört. 185 indizierte Computerspiele, indiziert von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften - das zeigt, was an neuen Gefahren da ist. Gewalt- und Sexdarstellungen werden von vielen Medienanbietern als Selbstverständlichkeit hingenommen, wenn es um den Kampf um Einschaltquoten und Marktanteile geht. Das ist es, was wir kritisieren müssen. Denn in der Tat, die Medienanbieter sehen zwar ihre Freiheitsrechte, aber nicht die jedem Recht gegenüberstehende Pflicht und Verantwortung, die sie in gleicher Weise wahrzunehmen haben. ({0}) Darauf müssen wir sie verpflichten. Das heißt auch, daß wir kritisieren müssen, wenn Woche für Woche fünf indizierte Filme über unsere Bildschirme laufen. Es ist ja auch von Ihnen, Frau Kollegin Funke-Schmitt-Rink, bereits angesprochen worden: Hier müssen wir die Medien in die Verantwortung nehmen, und wir müssen insbesondere die privaten Rundfunkanstalten schärfer kontrollieren. Allerdings geht das nur durch eine Intensivierung der Kontrolle durch die Medienanstalten der Länder. Ich weiß auch nicht, Frau Kollegin, ob es 500 000 DM Geldbuße sind, die von der Gewaltdarstellung abhalten können, wenn man den Keller voll indizierter Filme hat, wie ein Privatsender kürzlich in der Anhörung des Bundesministeriums für Frauen und Jugend zugegeben hat. Aber es gibt auch die Möglichkeit des Lizenzentzugs. Ich habe manchmal den Eindruck, daß diese Möglichkeit auch einmal von einer Landesmedienanstalt genutzt werden muß, um deutlich zu machen, daß wir spürbare Sanktionen wollen. ({1}) Es gibt Selbstverpflichtungen der Öffentlich-Rechtlichen, die jetzt sagen, wir wollen keine indizierten Filme mehr senden. Eine solche Selbstverpflichtung erwarte ich auch von den Privaten. Und wenn diese die Konvention der Verantwortung verabschieden, ist das ein positiver Ansatz, der aber nicht ausreicht, sondern sie müssen das auch glaubhaft umsetzen. Wir können es tagtäglich auf dem Bildschirm kontrollieren. Bislang kann ich noch nicht sehen, daß die Konvention der Verantwortung der privaten Veranstalter umgesetzt worden ist. Möglicherweise haben Gewaltdarstellungen prozentual abgenommen, aber ich will überhaupt keine Gewaltdarstellungen mehr auf dem Bildschirm sehen, die Kinder und Jugendliche gefährden. ({2}) Deshalb haben wir uns auch im Anschluß an die Anhörung im Bundesministerium für Frauen und Jugend mit zwei Vorschlägen und mit der Bitte um geduldige Umsetzung direkt an die zuständigen Länder gewandt, nämlich einmal, den Rundfunkstaatsvertrag dahin gehend zu ändern, daß die Ausstrahlung von FSK-12-Filmen, also von Filmen, die erst ab 12 Jahren freigegeben sind, auf die Zeit nach 20 Uhr beschränkt werden, und zum anderen, ein umfassenParl. Staatssekretärin Cornelia Yzer des Sendeverbot für indizierte Filme durchzusetzen, ({3}) wie es heute hier mehrfach eingefordert worden ist. Ich hoffe, daß wir gemeinsam mit den Ländern hier einen Schritt weiterkommen werden. Allerdings können gesetzliche Regelungen Aufklärung, Einsicht und Verantwortungsbereitschaft nicht ersetzen. Lassen Sie uns dies gemeinsam einfordern! ({4}) Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf zur Änderung des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften auf der Drucksache 12/4195. Der Ausschuß für Frauen und Jugend empfiehlt auf Drucksache 12/5297, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Bei Stimmenthaltung der Frau Dr. Höll ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Ich rufe die dritte Beratung und Schlußabstimmung auf. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit demselben Stimmenverhältnis wie vorhin angenommen. Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 7 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung eines freiwilligen ökologischen Jahres ({5}) - Drucksache 12/4716 - ({6}) a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Frauen und Jugend ({7}) - Drucksache 12/5339 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Maria Böhmer Dr. Marliese Dobberthien b) Bericht des Haushaltsausschusses ({8}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 12/5340 Berichterstattung: Abgeordnete Susanne Jaffke Ina Albowitz Uta Titze-Stecher Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Frauen und Jugend ({9}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Marliese Dobberthien, Hermann Bachmaier, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Förderung eines freiwilligen ökologischen Jahres - Drucksachen 12/4470, 12/5339 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Maria Böhmer Dr. Marliese Dobberthien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch; dann ist auch das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst unserer Frau Kollegin Dr. Maria Böhmer das Wort.

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Immer mehr Jugendliche engagieren sich für den Erhalt unserer Umwelt, informieren andere, klären auf und suchen Lösungsansätze. Ein Beispiel dafür wird in Kürze der Hamburger Jugendumwelttag der BUND-Jugend sein. Er steht unter dem Motto: „Mitmachen statt weggucken". Ich glaube, daß dieses Motto genau das trifft, was wir heute hier debattieren, nämlich ein größeres Engagement von Jugendlichen im Umweltbereich zu ermöglichen. Wir haben es mit den Kindern der Überflußgesellschaft zu tun, und sie stellen ihre Eltern zur Rede; denn sie wollen anpacken, und sie wollen unsere und ihre eine Welt retten. Wir beobachten doch im familiären Kreis, daß der junge Mensch - das Mädchen, der Junge -, versorgt mit Chips und Cola, zu Hause vor dem Fernseher durch die Linse der Kameramänner und der Kamerafrauen natürlich auch all das sieht, was sich an Umweltzerstörung und -problemen tut. Sie fragen mit Recht: Kann das so weitergehen? Viele sagen ein hartes Nein, und sie wollen zu Änderungen kommen. Sie wollen unsere Umwelt besser schützen. Die Konsequenz aus einer solchen Haltung ist aber oft, daß auch bei Jugendlichen der Ruf nach dem Staat sehr laut wird. Hier sage ich ganz klar und deutlich: Es ist klar, daß wir von politischer Seite stärkere Rahmenbedingungen setzen und zu Veränderungen kommen müssen. Aber es muß genauso klar sein, daß der Staat nicht alles selbst regeln kann und nicht alles selbst regeln soll. Die Eigenverantwortung, gerade wenn es um umweltgerechtes Handeln geht, ist mehr denn je gefordert. Es kommt auf jeden einzelnen von uns an. ({0}) Einen Ansatzpunkt sehe ich in dem heute hier zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf der Bundesregierung; denn mit dem freiwilligen ökologischen Jahr werden Jugendliche künftig die Möglichkeit haben, sich stärker als bisher für Umweltbelange einzusetzen. Es gibt zwar Umweltverbände, es gibt Umweltorganisationen, es gibt vielfältige Möglichkeiten des Tuns. Aber wenn es darauf ankommt, über einen längeren Zeitraum ganzheitlich und mit pädagogischer Begleitung ein Öko-Engagement auszufüllen, dann war bisher eine Lücke. Wie die Modellversuche zeigen, ist diese Lücke mit dem freiwilligen ökologischen Jahr gut zu schließen. Deshalb begrüßen wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ganz ausdrücklich den von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf. Er macht deutlich: Es sollen auch für das freiwillige ökologische Jahr Rahmenbedingungen geschaffen werden wie schon für das freiwillige soziale Jahr. Die konkrete Umsetzung soll bei den einzelnen Trägern bleiben. Ich setze darauf, daß man vor Ort in der Tat am Besten einschätzen kann, wie die Bereitschaft junger Menschen in konkretes Handeln umgesetzt werden kann. Ich warne davor, alles bis ins Detail zu regeln, weil wir damit auch Gestaltungsmöglichkeiten einschränken. Wir sollten Erfahrungen sammeln und auf Grund dieser Erfahrungen dann überlegen, wie dieses Angebot ankommt. Daß Erfahrungen notwendig sind, hat der Verlauf des freiwilligen sozialen Jahres gezeigt. Wir haben von daher in den Beratungen im Ausschuß für Frauen und Jugend einen Antrag einstimmig verabschiedet, in dem es darum geht, die Einsatzfelder für das freiwillige soziale Jahr zu erweitern, und zwar ausdrücklich auf den Bereich der Jugendzentren und der Einrichtungen zum Schutz von Mädchen und Frauen. Ich denke, daß das gerade in unserer heutigen Zeit, wo die Gewaltbereitschaft bei einer kleinen Gruppe von Jugendlichen so stark zunimmt, wichtiger ist denn je. ({1}) Ich möchte aber Ihr Augenmerk auf einen weiteren Punkt lenken, der für uns im Zusammenhang mit der konkreten Ausgestaltung des freiwilligen ökologischen Jahres von großer Bedeutung ist. Ich sage dies auch vor dem Hintergrund der Ausschußberatungen, die wir gehabt haben. Wer arbeitet, muß auch wissen, warum er etwas tut und warum es nicht anders geschehen sollte. Das heißt für den Bereich des freiwilligen ökologischen Jahres: Wer mit Sand und Kies schaufelnd ein Feuchtbiotop anlegt, wer Brutkästen aufstellt oder Wiederbegrünungsaktionen macht, der muß verstehen, wie der Gesamtzusammenhang ist. Deshalb ist es uns allen sehr wichtig, daß wir eine gute pädagogische Betreuung beim freiwilligen ökologischen Jahr haben. Ich sehe diesen Ansatz in der Vorlage gewährleistet, wie wir sie im Entwurf der Bundesregierung durch die Seminarangebote haben. Ein zweiter Punkt ist auch ganz wesentlich, nämlich die Frage: Können wir einen neuen Schritt tun, um Umweltbewußtsein und Begegnungen von jungen Menschen aus unterschiedlichen Staaten zu erreichen? Wir haben deshalb einen Prüfauftrag an die Bundesregierung gerichtet, und er ist von allen unterstützt worden. Wir haben heute zwar die Möglichkeit für EG-Ausländerinnen und -Ausländer, an dem freiwilligen ökologischen Jahr wie auch an dem freiwilligen sozialen Jahr teilzunehmen. Aber warum sollten sich denn nicht auch ein junger Pole, eine junge Russin hier beteiligen und Erfahrungen sammeln können? Umweltfragen sind grenzüberschreitend, und Jugend sollte sich in diesem gemeinsamen Anliegen treffen, einander begegnen. Wir kommen dann zu einem neuen Umweltbewußtsein auch in Europa über den EG-Bereich hinaus. ({2}) Ein dritter Punkt, der auf breite Zustimmung stieß, ist, daß wir erreichen möchten, daß der gesellschaftliche Einsatz - ob im sozialen, erzieherischen, pflegerischen oder ökologischen Bereich - auch anrechnungsfähig ist auf die Berufsausbildung; denn für viele ist diese Phase des sozialen und des ökologischen Dienstes eine Phase der vorberuflichen Orientierung. Hier haben wir die Chance, jungen Menschen deutlich zu machen, daß dieser Dienst auch für den späteren Beruf Konsequenzen hat und somit mehr ist als eine Weichenstellung. Lassen Sie mich zum Abschluß noch auf einen Punkt eingehen, der vielleicht von dem einen oder anderen auch etwas kritisch gesehen wird, nämlich auf die Prüfbitte, daß die Teilnehmer und Teilnehmerinnen am freiwilligen Dienst in Zukunft auch eine Verlängerung der Familienmitversicherung über das 25. Lebensjahr hinaus erhalten sollten. Ich weiß, es ist problematisch, in Zeiten knapper Kassen so etwas zu fordern; aber wenn ich mir vor Augen führe, daß es um einen begrenzten Personenkreis geht, nämlich um 6 000 junge Leute im freiwilligen sozialen Jahr und schätzungsweise 1 000 junge Leute im freiwilligen ökologischen Jahr, und daß mitnichten jeder das in Anspruch nehmen wird, sondern daß es ein kleiner Personenkreis sein wird, dann habe ich doch die Hoffnung, daß dieser Punkt von der Bundesregierung noch einmal geprüft wird und daß sie zu einem positiven Ergebnis kommt. Lassen Sie mich enden mit der Aussage einer 14jährigen Schülerin. Astrid aus der 8. Klasse eines Gymnasiums hat festgestellt: Wir müssen mehr über die Umwelt wissen. Gerade jetzt, wo wir Kinder Erwachsene werden sollen, wo wir erst einen kurzen Teil unseres Lebens hinter uns haben, müssen wir mit der Angst leben, schon den größten Teil unseres Lebens hinter uns zu haben. Wenn die Natur kaputt ist, leben wir noch alle als Wesen, nicht mehr als Menschen. Wir müssen unbedingt lernen, mit der Umwelt umzugehen. Das freiwillige ökologische Jahr bietet jungen Menschen, die dazu willens sind, so eine Chance. Ich freue mich, daß wir es ihnen bald ermöglichen können. Ich empfehle Zustimmung zu dem Antrag. Ich danke. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, eine kurze Bemerkung zu unserem Beratungsstand: Wir sind im Augenblick mit unseren Beratungen nach der Planung etwa anderthalb Stunden im Rückstand. Voraussichtlich werden wir mit der Vizepräsident Helmuth Becker Fragestunde um 15.15 Uhr beginnen. Da nur noch acht Fragen vorliegen, ist damit zu rechnen, daß wir um 15.40 oder 15.45 Uhr mit der Aktuellen Stunde zum Thema Haltung der Bundesregierung zur Freigabe von Heroin weitermachen können. Dann folgen die weiteren Tagesordnungspunkte. Nun hat in diesen Beratungen als nächste unsere Kollegin Frau Dr. Marliese Dobberthien das Wort.

Dr. Marliese Dobberthien (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000394, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit fast 30 Jahren gibt es das freiwillige soziale Jahr. Ab Herbst dieses Jahres soll auch das freiwillige ökologische Jahr auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden. Erfahrungen zu diesen beiden freiwilligen Diensten, die positive Seiten ebenso wie Mängel sichtbar machen, liegen vor, insbesondere beim freiwilligen sozialen Jahr. Hauptsächlich junge Frauen und Mädchen erklären sich bereit, ein Jahr in Krankenhäusern, in der Altenpflege, in Behinderteneinrichtungen und anderen sozialen Institutionen zu arbeiten. Junge Menschen verrichten dabei schwere Arbeit, Arbeit, die Verantwortung, Einfühlungsvermögen und die Bereitschaft erfordert, sich auf andere Menschen mit ihren Schwierigkeiten und Problemen einzulassen. In einer Gesellschaft, die immer mehr Erscheinungen von Entsolidarisierung, mangelnder Hilfsbereitschaft und Egoismus zeigt, ist es um so bedeutsamer, den Wunsch von jungen Menschen zum sozialen und ökologischen Engagement zu unterstützen. Lange Zeit stand in der Diskussion um freiwillige Dienste die soziale Komponente im Vordergrund. Mit wachsender Sensibilität gegenüber ökologischen Fragen und mit der zunehmenden Bereitschaft, sich aktiv für den Umweltschutz einzusetzen, hat auch die Diskussion im ökologischen Bereich begonnen. Unsere Jugendlichen sind in dieser Frage sehr viel weiter als Teile der CDU/CSU-Fraktion, die sich noch bis heute weigern, den Umweltschutz in der Verfassung zum Staatsziel zu erklären. ({0}) Bisher fehlen jedoch noch Einsatzmöglichkeiten für junge Leute, außerhalb von Freizeit, Ausbildung oder Arbeit ökologisches Engagement in praktisches Handeln umsetzen zu können. Mit der gesetzlichen Verankerung des freiwilligen ökologischen Jahres soll sich dies ändern. Die Modellversuche in den Ländern Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Baden-Württemberg, Sachsen und Sachsen-Anhalt haben bewiesen, wie groß die Resonanz ist und wie ausgeprägt der ökologische Gemeinsinn ist. Nur 10 % der Bewerberinnen und Bewerber für diese Modellversuche fanden einen Platz, unter ihnen - übrigens vergleichbar mit dem freiwilligen sozialen Jahr - 90 % Mädchen und junge Frauen. Die enorme Nachfrage beweist, wie dumm das Gerede von einem Pflichtjahr far Mädchen ist. Wer nicht einmal die Nachfrage nach Freiwilligenplätzen befriedigen kann, hat kein Recht, ein Pflichtjahr zu verlangen; aber ich bin sicher, daß dieser altbackene Sommerlochfüller auch 1993 wieder aus Kreisen der Koalitionsfraktionen vorgebracht wird. ({1}) - Hausbacken, bitte, oder altbacken, jedenfalls töricht. Meine Damen und Herren, wäre es nicht viel sinnvoller, dafür Sorge zu tragen, daß mehr Plätze in den freiwilligen Diensten angeboten werden können? Und der Blick sollte nach vorne gerichtet sein. Perspektivisch kann ich mir nicht nur einen freiwilligen Dienst im sozialen und ökologischen Bereich, sondern auch in Entwicklungsländern vorstellen. ({2}) Die geleistete Arbeit in freiwilligen Diensten ist nicht nur gesellschaftlich nützlich, sondern auch pädagogisch wertvoll. Die Jugendlichen empfinden diese freiwilligen Jahre als persönliche Bereicherung und als Erfahrung, die sie nicht missen wollen. In Zeiten zunehmender Orientierungslosigkeit ist es besonders wichtig, Möglichkeiten zu eröffnen, wo Jugendliche positive und sinnstiftende Erfahrungen machen können. Vielleicht kann so auch einer wachsenden Verunsicherung, Zukunftsangst und den daraus entspringenden Gewalt- und Aggressionsausbrüchen Jugendlicher entgegengesteuert werden. Der Ausbau der freiwilligen Dienste ist natürlich kein Allheilmittel, aber sie bieten eine Hoffnung für jene, die in der Ellbogengesellschaft allein keine dauerhafte Lebensperspektive erblicken. Die freiwilligen Dienste bieten Ansatzpunkte für das Erlebnis und die Erfahrung sinnvollen Handelns. Wer die Chance erhält, soziale Empfindsamkeit zu entwickeln und Solidarität zu praktizieren, wer die ökologische Zerbrechlichkeit unseres Planeten zu erahnen lernt, wird auch als Erwachsener die Kraft finden, Gemeinsinn zu praktizieren. Auf diese Weise mag auch dem allseits beklagten Werteverlust entgegengewirkt werden. Die SPD-Fraktion begrüßt daher prinzipiell den Entwurf zur Förderung eines freiwilligen ökologischen Jahres; denn er schafft gesetzliche Rahmenbedingungen, in denen Jugendliche mit ihrem Umweltengagement nicht alleingelassen werden. Zu vielen Einzelregelungen und Problemkreisen hätten wir uns allerdings bessere und konsequentere Lösungen gewünscht. ({3}) In dem Antrag der SPD-Fraktion sind die Eckpunkte formuliert, an Hand deren wir Nachbesserungen des Regierungsentwurfs für das FöJ durchsetzen wollen. Diese Eckpunkte bieten eine vorzügliche Grundlage dafür, die Mängel in dem heute zur Verabschiedung anstehenden Gesetzentwurf zu beheben. In den Ausschußberatungen haben wir uns darum bemüht, die dafür erforderlichen Mehrheiten zu finden. Leider haben wir nicht die Resonanz für unsere Anregungen bei den Regierungsfraktionen gefunden, was zugunsten unserer engagierten Jugendlichen geboten gewesen wäre. Zentrale Forderungen von uns sind folgende: Erstens. Dem Begriff der Hilfstätigkeit fehlt noch immer die Konkretisierung. Hilfstätigkeit darf nicht heißen Laubträger im Park oder billige Müllsortiererin beim verkorksten Dualen System Deutschland oder Bettpfannenträgerin im Altenheim. ({4}) Die Gefahr, daß Helferinnen und Helfer im freiwilligen ökologischen Jahr genauso wie manchmal im sozialen Jahr als billige Hilfskräfte mißbraucht werden, ist im Gesetzentwurf beileibe nicht gebannt. Zweitens. Ungenügend sind auch die Ausführungen zu den pädagogischen Begleitmaßnahmen und den Seminaren. Gegenüber dem ersten Entwurf sind die positiven Ansätze über Zweck und Inhalt der Seminare ersatzlos gestrichen worden. Damit erheben Sie das Ermessen der Träger zum alleinigen Maßstab. Bei aller Anerkennung und dem Goodwill vieler Träger ist uns eine solche Beliebigkeit viel zuwenig. Drittens. Die Anerkennungsvoraussetzungen für die Träger, die die Plätze für das freiwillige ökologische Jahr bereitstellen, sind nach wie vor zu schwammig. Anzustreben ist eine plurale Trägerstruktur unter Ausschluß privatwirtschaftlicher Einrichtungen. Wo Gewinnstreben dominiert, wächst die Gefahr des Mißbrauchs freiwilligen Engagements. Selbst derjenige, der beim Ökobauern eingesetzt wird, ist vor Ausnutzung als billiger Erntehelfer nicht gefeit. Viertens. Der Dienst im freiwilligen ökologischen Jahr und im freiwilligen sozialen Jahr muß auf die Dauer der Mitversicherung in der Krankenversicherung angerechnet werden. Es ist nicht nachvollziehbar, daß Wehr- und Zivildienst angerechnet werden, die freiwilligen Dienste dagegen nicht angerechnet werden, und zwar unter Hinweis darauf, sie seien im Gegensatz zum Zivil- und Wehrdienst schließlich keine Pflicht. So darf man nicht den freiwilligen Einsatz Jugendlicher sozialrechtlich bestrafen. ({5}) Fünftens. Auch die Finanzierung muß verbessert werden. Insbesondere die neuen Länder leiden große Not. Zwar sind die Kassen leer; aber wenn für einen abenteuerlichen militärischen Somalia-Einsatz mit ungewissem Ende offenbar genügend Geld vorhanden ist, dann vermag ich nicht nachzuvollziehen, daß im Bereich der präventiven Jugendpolitik Knauserigkeit vorherrscht. ({6}) Schließlich möchte ich noch hervorheben, daß nicht nur Menschen aus EG-Mitgliedstaaten, sondern auch Osteuropäem und Ausländerinnen und Ausländern aus anderen Staaten die Möglichkeit eröffnet werden sollte, ein freiwilliges Jahr in der Bundesrepublik Deutschland zu leisten. Ist es nicht widersinnig: Au-pair-Mädchen aus aller Herren Länder haben keine aufenthaltsrechtlichen Schwierigkeiten, wohl aber jener junge Pole oder jene junge Ungarin, der bzw. die in einem Altenheim, in einer Kindertagesstätte oder bei einer ornithologischen Beobachtung helfen will und sogar schon einen Träger gefunden hat? Hier tut Nachbesserung not. Die positiven Effekte einer Beteiligung ausländischer Jugendlicher liegen auf der Hand. In den freiwilligen Diensten wird gesellschaftlich sinnvolle Arbeit geleistet. Ausländische Jugendliche sammeln Erfahrungen in der Bundesrepublik, die sie zu Hause weitergeben und verwerten können. Ich glaube, auch dies wäre ein sinnvoller Beitrag zur Völkerverständigung. Die Bundesrepublik Deutschland könnte hier ihren Anspruch auf Weltoffenheit und ihrem Wunsch nach zunehmender internationaler Verantwortung eher gerecht werden als durch militärische Abenteuer. ({7}) Trotz der von mir dargestellten Mängel sind wir bereit, dem Gesetzentwurf zum freiwilligen ökologischen Jahr zuzustimmen, erlaubt er doch, das freiwillige Jahr weiterzuführen. Unsere engagierten Jugendlichen haben es verdient. ({8})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich erteile jetzt unsere Kollegin Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink das Wort.

Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000625, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur bundeseinheitlichen Absicherung eines freiwilligen ökologischen Jahres wird jungen Leuten endlich die Möglichkeit geboten, auch im Bereich des Umweltschutzes zu arbeiten. Das freiwillige ökologische Jahr ist analog dem freiwilligen sozialen Jahr konzipiert und bietet für den Erwerb einer fundierten Umweltbildung eine hervorragende Basis. Gerade vor dem Hintergrund zunehmender Gewalt von Jugendlichen ist das FöJ auch als sinnvolle Gewaltvorbeugung zu verstehen, da junge Leute hier aktiv werden können und eingebunden sind. Auch in anderen Bereichen, in Jugendzentren, in Einrichtungen zum Schutz von Mädchen und Frauen vor Gewalt, wird soziales Engagement gefördert und positiv unterstützt. Die Lander müßten das FöJ vorbereitend bzw. integrierend für Studium und Berufsausbildung anerkennen, und zwar z. B. als ein für den Beruf vorbereitendes Jahr, als Hospitanz oder als Praxissemester für das Studium. In diesem Sinne appelliere ich noch einmal an die Bundesregierung, zusammen mit den Ländern zu prüfen, inwieweit für die am FöJ und am FsJ Teilnehmenden eine Anrechnung auf die bundesrechtlich normierten Berufsausbildungen im sozialen, erzieherischen und ökologischen Bereich möglich ist, um dies dann auch in den landesrechtlichen Berufsausbildungen festzuschreiben. Darüber hinaus bitten wir die Bundesregierung, zu prüfen, inwieweit die Absolvierung des FöJ oder auch des FsJ dazu führen kann, daß, ähnlich wie bei Wehrund Ersatzdienst, die Teilnehmenden für die Zeit dieser Dienste eine entsprechende Verlängerung der Famlienmitversicherung erhalten. Meine beiden Vorrednerinnen haben auch schon auf dieses Problem aufmerksam gemacht. Ich denke, die Sache ist es wert, daß das geprüft wird. Es ist ohnehin nur ein Bruchteil der jungen Menschen zwischen 16 und 27 Jahren, die eine solche Verlängerung in Anspruch nehmen würden. Zur Zeit sind es 6 000 im freiwilligen sozialen Jahr und 1 000 im freiwilligen ökologischen Jahr. Die Teilnehmenden wären andernfalls gegenüber ihren Altersgenossen dahin gehend benachteiligt, daß sich die Ausbildung um die Dauer des freiwilligen Jahres verschöbe. Darüber hinaus soll die Bundesregierung prüfen, ob Nicht-EG-Ausländerinnen und -Ausländern durch entsprechende gesetzliche Änderung nicht die Möglichkeit gegeben werden kann - analog der Regelung für Au-pair-Mädchen -, ein FöJ oder ein FsJ abzuleisten. Auch das haben meine Vorrednerinnen schon gesagt; wir Frauen sind uns da ja erstaunlich einig. - Dies hätte nicht nur eine multiplikatorische Wirkung, sondern es ware auch ein positives Signal an das Ausland. Zum Beispiel junge Türkinnen und Türken oder EG-Ausländer und -Ausländerinnen können ja bereits jetzt das FöJ ableisten. Ganz wichtig ist es der F.D.P., daß für überregionale Maßnahmen der pädagogischen Begleitung etwa 3 Millionen DM im Bundesjugendplan vorgesehen sind. Den Ländern obliegt es nun, ebenfalls ergänzende Finanzierungsregelungen zu treffen. Da die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am FöJ aber selbst geldwerte Leistungen erbringen, z. B. durch die Kartierung von Biotopen und durch den Einsatz bei Befragungen zum Umweltverhalten, müßte eine Finanzierung mittelfristig auch durch die Träger der Maßnahmen möglich sein. Für die F.D.P. möchte ich jetzt noch besonders deutlich folgendes betonen. Jugendliche dürfen nicht als Lückenbüßer für einen Mangel an Personal im Umweltbereich eingesetzt bzw. als billige Arbeitskräfte mißbraucht werden. Hier soll auch kein soziales Pflichtjahr durch die Hintertür, in welcher Form auch immer, eingeführt werden. Dies hat die F.D.P. bereits im Jahre 1992 abgelehnt. Soziale Dienste, zu denen auch das FöJ gehört, werden von der F.D.P. auch nicht als Alternative zum Wehrdienst definiert. Fazit: Teilnehmende am FöJ sollen konkrete ökologische Probleme kennenlernen und so zur frühen Bewußtseinsbildung und zur eigenen Verantwortlichkeit gegenüber der Natur und ihrem Schutz geführt werden. Sie sind keine billigen Arbeitskräfte, sondern sie leisten qualifiziert und sinnvoll Arbeit für uns alle. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Nächste Rednerin ist unsere Kollegin Dr. Barbara Höll.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf genügt in keiner Weise den Ansprüchen, die die PDS/Linke Liste an die zeitlich begrenzte freiwillige Arbeit Jugendlicher stellt. Ich möchte hier nur auf zwei gravierende Mängel eingehen. Wie Umfragen bestätigen, nimmt das Interesse von Kindern und Jugendlichen an ökologischen Fragen erfreulicherweise stark zu. Immer mehr junge Menschen erkennen die Bedeutung dieses Problems für ihr persönliches weiteres Leben und für das Überleben der gesamten Erde. Darum, den Jugendlichen für ihr Engagement die erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, geht es der Bundesregierung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf aber nicht einmal sekundär; denn andernfalls würde sie wenigstens einen Beitrag zur Finanzierung leisten. Vielmehr wird das Engagement der jungen Männer und Frauen bewußt als arbeitsmarktpolitisches Instrument benutzt, um die Statistik der arbeits-und lehrstellenlosen Jugendlichen optisch etwas aufzubessern. In einer Zeit, in der überall die Anzahl der Erwerbsarbeitsplätze zurückgeht, sollen Jugendliche in einem Sektor, in dem neue Arbeitsplätze geschaffen werden könnten, die erforderlichen Tätigkeiten zum Nulltarif erledigen. Statt Ausbildungsplatz und Arbeit wird durch das freiwillige ökologische Jahr eine verbrämte Warteschleife - so der Ausdruck des Bundesrates -, wodurch nebenbei noch die Tarifautonomie unterlaufen werden soll, geboten. Zudem bedeutet das freiwillige ökologische Jahr weder hinsichtlich der Arbeitslosenversicherung noch der am Durchschnitt aller Arbeitslosen orientierten Beitragsbemessungsgrenze zum Arbeitslosengeld eine größere soziale Sicherheit für Jugendliche im Anschluß an das freiwillige ökologische Jahr. Nach wie vor besteht eine geschlechtsspezifische Benachteiligung von Mädchen, die in Ausbildung und Beruf bereits seit Jahren nachhaltige Folgen zeigt. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß beim bereits bestehenden freiwilligen sozialen Jahr die Tendenz vorherrscht, daß dieses überwiegend von jungen Frauen geleistet wird, in der Hoffnung auf bessere Vermittlungschancen in einem sozialen, pflegerischen und erzieherischen Beruf - weniger ein allgemeines gesellschaftliches Engagement. Zum zweiten begrüßen wir die auf Anregung des Bundesrates aufgenommene prinzipielle Möglichkeit, das freiwillige soziale Jahr auch in einer Einrichtung zum Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt zu leisten, da damit die wachsende Bedeutung derartiger Einrichtungen anerkannt wird. Fraglich allerdings wird die Sache, wenn die Träger dieser Einrichtungen den Finanzbedarf für derartige Stellen weitestgehend selbst tragen sollen. Da die Träger von Frauen- und Mädchenhäusern anders als freie Träger in anderen Bereichen keine Refinanzierungsmöglichkeiten durch Dienstleistungen haben, bedeutet dies, daß die Frauen- und Mädchenhäuser faktisch als Einsatzgebiet für das freiwillige soziale Jahr real nicht in Betracht kommen. Zunehmend wird bei der Finanzierung solcher Einrichtungen vom Prinzip der Bereitstellung von Pauschbeträgen abgegangen und auf eine Pflegesatzfinanzierung abgestellt. Im Ergebnis dieser Politik ist bereits heute die Anzahl der Betreuerinnen für die Opfer von Gewalttaten unzureichend, und finanzielle Spielräume sind nicht mehr vorhanden. Woher also sollen die Gelder zur sozialen Absicherung der Jugendlichen für das freiwillige soziale Jahr in diesen Häusern kommen? Ich glaube, wenn man das im Zusammenhang mit Dr. Barbara Hö11 § 218 sieht, zeigt sich die Diskrepanz zwischen Worten und Taten der Bundespolitik. In diesem Sinne kann die PDS/Linke Liste dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht zustimmen. Wir werden uns deshalb enthalten. Ich danke Ihnen. Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt, zum Schluß der Debatte, der Parlamentarischen Staatssekretärin Cornelia Yzer das Wort.

Cornelia Yzer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002580

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin sicher, daß die Möglichkeit, ein freiwilliges ökologisches Jahr abzuleisten, dem Umweltschutz weiteren Auftrieb geben wird. Wir wissen, daß Fragen der Ökologie bei jungen Menschen seit Jahren ganz oben auf der Prioritätenskala stehen. Auch die breite öffentliche Diskussion über den Umweltschutz hat dazu beigetragen, daß immer mehr Jugendliche bereit sind, Verantwortung gegenüber der kommenden Generation zu übernehmen. Dabei ist Verantwortung bei Jugendlichen kein Lippenbekenntnis; schon heute leisten viele Jugendliche Umweltbeiträge, die nicht im Rahmen der Erwerbstätigkeit auftauchen. Die Möglichkeiten hierzu werden jetzt durch das Gesetz zum freiwilligen ökologischen Jahr erweitert. Die in den alten und neuen Bundesländern durchgeführten und vom Bundesministerium für Frauen und Jugend und einigen Bundesländern gemeinsam geförderten Modellprojekte eines freiwilligen ökologischen Jahres haben eindeutig bewiesen, daß die Teilnehmer ihr freiwilliges Jahr kreativ genutzt haben, daß sie für sich selbst gute Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung sahen, daß sie den Wert freiwilligen Handelns erfahren haben und - das möchte ich hier besonders betonen - daß ihnen die Möglichkeit einer vertieften Berufsorientierung gegeben wurde. Es ist unbestreitbar, daß Umweltschutz, Umwelttechnologie und Umweltschutzinvestition einen noch höheren Stellenwert erreichen werden. Schon jetzt arbeiten im Umweltbereich ca. 300 000 Menschen. Infolgedessen ist das FöJ eminent wichtig, wenn es um das Kennenlernen dieser neuen Berufsfelder für Jugendliche geht. Der vorliegende Gesetzentwurf sieht die Gleichstellung des FöJ mit dem FsJ vor. Die am freiwilligen ökologischen Jahr Teilnehmenden werden insbesondere hinsichtlich der sozialen Absicherung den Auszubildenden nahezu gleichgestellt. Gegenüber der geltenden Regelung zum freiwilligen sozialen Jahr wird die pädagogische Begleitung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ausgeweitet. Es besteht zudem die Möglichkeit, das freiwillige ökologische Jahr auch im europäischen Ausland abzuleisten. Was den Wunsch anbelangt, daß auch Ausländerinnen und Ausländer hier in der Bundesrepublik das FöJ absolvieren, so betone ich, daß die Jugendlichen aus EG-Staaten von Anfang an daran teilhaben werden. Was den Prüfauftrag des Ausschusses anbelangt: Wir werden in aller Offenheit prüfen, inwieweit wir durch Änderung der maßgeblichen Verordnung dem Wunsch nachkommen können, daß auch Nicht-EG-Ausländer daran teilhaben können. Wir sind übereinstimmend der Überzeugung, daß die an freiwilligen Diensten Teilnehmenden nicht als billige Arbeitskräfte mißbraucht werden dürfen. Deshalb ist das Tätigkeitsfeld auch gerade auf Hilfstätigkeiten beschränkt; es besteht das strikte Gebot der Arbeitsmarktneutralität. Ich unterstreiche besonders, daß ich in diesem Zusammenhang, wenn ich von den praktischen Hilfstätigkeiten spreche, die Kritik an der Regelung, daß das freiwillige ökologische Jahr als überwiegend praktische Hilfstätigkeit geleistet werden soll, zurückweise. Junge Menschen wollen im freiwilligen ökologischen Jahr zupacken. Sie wollen das Ergebnis ihrer Arbeit sehen. Sofern sie das Anliegen haben, neben dem praktischen Einsatz andere Arbeitsfelder wie Umwelt, Bildung, Beratung und Erziehung kennenzulernen, so ist das durch das Gesetz keinesfalls ausgeschlossen. Auch die Regelung der Trägerzulassung im FöJ, die durch die Landesbehörden vorzunehmen ist und die gerade bei der SPD immer wieder auf Kritik gestoßen ist, ist dringend erforderlich und entspricht gerade dem Wunsch der Länder. Vielleicht fällt Ihnen, den Kolleginnen und Kollegen der SPD, die Zustimmung zu dieser Vorschrift leichter, wenn Sie sich daran erinnern, daß es Ihre Fraktion war, die bei der Verabschiedung des Gesetzes zum freiwilligen sozialen Jahr Bedenken gegen die dort getroffene Unterscheidung zwischen geborenen und gekorenen Trägern hatte und die viel lieber eine Vorschrift haben wollte, wie wir sie jetzt für das freiwillige ökologische Jahr vorgesehen haben. Abschließend auch eine Bemerkung zur Finanzierung. Der Bund trägt sehr wohl seinem Auftrag Rechnung, das FöJ auch finanziell zu unterstützen. Er hat Mindereinnahmen in Höhe von rund 1 Million DM jährlich und übernimmt die Mehrausgaben bei Kindergeld und Kinderzuschlägen sowie Ausgleichsleistungen gegenüber Bundes- und Reichsbahn. Etwa 2 Millionen DM werden dafür jährlich zur Verfügung gestellt werden. Es sind immer wieder Detailfragen im Ausschuß aufgeworfen worden. Letztendlich muß es darum gehen, das Engagement von Jugendlichen, das vorhanden ist, zu unterstützen. Wir sollten uns deshalb nicht an Detailfragen aufhalten, sondern die Jugendlichen, die dies wollen, zum 1. September dieses Jahres in das FöJ eintreten lassen. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Förderung eines freiwilligen ökologischen Jahres - das wurde hier FöJ genannt - auf den Drucksachen 12/4716 und 12/5339. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Vizepräsident Helmuth Becker Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Bei Stimmenthaltung, die Sie, Frau Dr. Höll, angekündigt haben, ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen ist der Gesetzentwurf jetzt in dritter Beratung angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/5339 empfiehlt der Ausschuß für Frauen und Jugend, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/4470 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen ist die Beschlußempfehlung angenommen. Unter Nr. 3 bis 5 wird die Annahme von Prüfaufträgen empfohlen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Diese Beschlußempfehlungen sind mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Stimmenthaltung der Gruppe PDS/Linke Liste angenommen. Ich mache an dieser Stelle darauf aufmerksam, daß die Fragestunde nach dem jetzigen Stand etwa um 15.05 Uhr beginnen wird. Ich rufe nunmehr Punkt 8 der Tagesordnung auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes - Drucksache 12/4636 - ({0}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft ({1}) - Drucksache 12/5334 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Hermann Schwörer Dr. Fritz Gautier Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst unserem Kollegen Dr. Hermann Schwörer.

Dr. Hermann Schwörer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002136, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das heute zu beratende Gesetz über das öffentliche Auftragswesen hat eine große wirtschaftliche Bedeutung. Seit Jahren nämlich ist dieser Bereich einer der Schwerpunkte der europäischen Politik zur Realisierung des gemeinsamen Binnenmarktes. Herr Präsident, ich bitte um Entschuldigung! Man hat mir gesagt, für mich seien 12 Minuten Redezeit vorgemerkt.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

7 Minuten!

Dr. Hermann Schwörer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002136, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eine Reihe von EG-Richtlinien ist erlassen, um die Beschaffungsmärkte zu öffnen und um das Vergabeverhalten der öffentlichen Auftraggeber auf seine Rechtmäßigkeit überprüfen zu können. Darüber, wie diese Richtlinien in der Bundesrepublik in deutsches Recht umgesetzt werden sollten, ist lange - zu lange, wie ich meine - diskutiert worden. Zur Diskussion stand auf der einen Seite das sogenannte Vergabegesetz mit der Möglichkeit der Einschaltung der ordentlichen Gerichte in laufende Vergabeverfahren, auf der anderen Seite die sogenannte haushaltsrechtliche Lösung, die das bisher bewährte deutsche Vergabesystem fortführt. Der Bundestag hat mit seinem Beschluß vom 20. Mai 1992 die Bundesregierung aufgefordert, zur Umsetzung der auf dem Gebiet des öffentlichen Auftragswesens erlassenen EG-Vergabe- und -Überwachungsrichtlinien einen Gesetzentwurf auf der Grundlage der haushaltsrechtlichen Lösung vorzulegen. Vorangegangen war ein fraktionsübergreifender Antrag von CDU/CSU, F.D.P. und SPD. Die zuständigen Ausschüsse des Deutschen Bundestages hatten diesen Antrag einstimmig angenommen. Die haushaltsrechtliche Lösung wurde mit Nachdruck auch vom Bundesrat und von der deutschen Wirtschaft gefordert. Die Konzeption dieser Lösung gewährleistet - auf eine einfache Formel gebracht - zweierlei: Erstens. Den Forderungen des EG-Rechts nach Rechtsklarheit und Rechtsbeständigkeit wird durch den Erlaß eines Gesetzes Rechnung getragen. Die Vergaberegelungen wie die VOB und VOL und demnächst auch die VOF, die Verdingungsordnung für Architekten, Ingenieurleistungen und sonstige freie Berufe, werden in Zukunft die Rechtsqualität von Rechtsverordnungen haben und nicht mehr wie bislang als bloße Verwaltungsanweisungen gelten. Die Vergabeverfahren können, wie bisher, durchgeführt werden - das ist der zweite Punkt -, ohne daß eine gerichtliche Aussetzung von unkalkulierbarer Dauer befürchtet werden muß. Das Haushaltsgrundsätzegesetz wurde auch deshalb als Grundlage für die Umsetzungsregelungen genommen, weil die Vergaberegelungen rechtlich schon bislang auf dem Haushaltsrecht basierten und sich bewährt haben und weil das Haushaltsrecht kein Recht mit Außenwirkung ist, d. h. dem einzelnen keine Ansprüche gegen die öffentliche Hand gibt. Für die Kontrolle der Vergabeverfahren, die durch die EG-Überwachungsrichtlinie vorgeschrieben sind, sieht das Gesetz ein zweistufiges Verfahren vor, in erster Instanz die Vergabeprüfstellen - das sind wie bisher die herkömmlichen Rechtsaufsichtsstellen -, in zweiter Instanz die Kontrolle auf Bundes- und Landesebene durch die sogenannten Vergabeüberwachungsausschüsse, eine gerichtsähnliche unabhängige Instanz mit Revisionscharakter. Damit ist eine schnelle erstinstanzliche Überprüfung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durch fachkompetente Verwaltungsstellen und eine zweitinstanzliche rein rechtliche Kontrolle durch eine unabhängige Kammer gewährleistet, die von juristischem Sachverstand und der Fachkompetenz der Wirtschaft getragen wird. Wir wissen, daß die Regelung, wie sie hier vorliegt, bei der EG-Kommission nicht auf große Begeisterung stößt, und zwar deshalb, weil sie den Bietern nicht die subjektiven Rechte gewährt, die diese bei einer vergabegesetzlichen Lösung haben würden. Ich möchte hier aber erklären, daß es der Bundestag war, der unserer Delegation in Brüssel den Auftrag erteilt hat, zu erreichen, daß bei Vergabeverfahren nicht eine gerichtliche Überwachung erfolgt. In schwierigen Verhandlungen hat die Bundesrepublik in Brüssel beim Ministerrat das ihr aufgegebene Verhandlungsziel erreicht, nämlich die Zustimmung zu einer Überwachungsinstanz, die in ihrer Unabhängigkeit und Kompetenz einem Gericht gleichwertig ist. Wären die Richtlinien so auszulegen, wie die Kommission das heute versucht, dann würden die Brüsseler Verhandlungen im Sinne des vom Deutschen Bundestag erteilten Mandats in diesem Kernpunkt der Überwachungsrichtlinie zu einer Farce gemacht. Diese Rechtslage ist durch Wissenschaft und Verwaltung gründlich geprüft worden. Der Rechtsausschuß des Bundestags hat sich mit den Rechtsfragen befaßt. Er hat sich einstimmig für diese haushaltsrechtliche Lösung ausgesprochen. Auch die mitberatenden Ausschüsse, der Bauausschuß und der Postausschuß, haben sich dafür ausgesprochen. Wir sehen deshalb der Klärung durch den Europäischen Gerichtshof mit Ruhe entgegen, wobei natürlich jeder Prozeß - das ist uns klar - ein Prozeßrisiko enthält. Meine Damen und Herren, die haushaltsrechtliche Lösung ist unter allgemeinen wirtschaftspolitischen, haushaltspolitischen Aspekten von einer großen Bedeutung. Sie hat aber auch ein erhebliches gesellschaftspolitisches Gewicht. Es geht um die Erhaltung der mittelständischen Struktur, ({0}) die unserer Wirtschaft in der Vergangenheit die meisten Impulse gegeben hat. Das muß auch in Zukunft so bleiben. Dies gilt auch für den Bereich der Bauvergabe, die nicht durch die Generalunternehmervergabe ersetzt werden soll, sondern bei der weiterhin Einzelvergabe möglich sein soll. Wir wollen damit einen Beitrag zur Erhaltung des Mittelstands leisten, der im besonderem Maß die Innovation und die Erneuerung der Wirtschaft vorantreibt. ({1}) Es geht auch um die Erhaltung unseres bewährten Ausbildungssystems, das intakte Firmen voraussetzt. Diese wichtige Errungenschaft, nämlich unser Ausbildungssystem unserer jungen Generation zu erhalten, ist uns ein besonderes Anliegen. Darin sind wir uns, glaube ich, alle einig. ({2}) Alles das legt uns nahe, für die Erhaltung der mittelständischen Struktur einzutreten. Ein Mittel dazu, wenn auch vielleicht nur ein kleiner Baustein, ist, unser bewährtes, dem Mittelstand eine Chance gebendes Vergabesystem zu erhalten. Deshalb und auch aus den rechtlichen Gründen, die ich schon angeführt habe, stimmt unsere Fraktion dem vorgelegten Gesetzentwurf zu. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, Herr Dr. Schwörer, eines der ältesten Mitglieder des Hauses, hat vorgemacht, wie man Y Minuten in 12 Minuten verwandelt oder umgekehrt. - Herzlichen Dank. Hier soll ja die freie Rede sein, und das war ein Musterbeispiel. ({0}) Jetzt hat das Wort unser Kollege Dr. Fritz Gautier.

Dr. Fritz Gautier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000641, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Sie wollen, kann ich das Ganze auch noch beschleunigen. Ich kann die Geschwindigkeit meiner Rede beliebig variieren. Sie können auch feststellen, daß ich keine geschriebene Rede habe. Ich möchte zu dieser wichtigen Gesetzgebung im Bereich der Wirtschaftsgesetzgebung ein paar Anmerkungen aus der Sicht der SPD-Bundestagsfraktion machen. Wir haben heute mit der Umsetzung von einer Vielzahl von EG-Richtlinien zu tun. Bei der Beratung dieser EG-Richtlinie waren wir uns eigentlich über die Fraktionen hinweg in einer Reihe von Zielen einig. Wir waren uns darüber einig, daß die Frage der öffentlichen Auftragsvergabe ein wichtiger Bestandteil hinsichtlich der gesamten Wertschöpfung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft ist und daß gerade die deutsche Industrie und auch die deutsche Bauwirtschaft ein erhebliches Interesse daran haben, daß wir die Märkte gegenseitig öffnen. Ich erinnere dabei nur an die Diskussion, die wir geführt haben, insbesondere auch über die Wirkung der Strukturfonds und der Kohäsionsfonds, z. B. für den ganzen Bereich Spanien, Portugal, Italien. Dort wird im Augenblick mit erheblichen öffentlichen Geldern öffentliche Infrastruktur aufgebaut, und wir haben schon ein Interesse daran, daß die Vergabe dieser Infrastrukturmittel nach solchen Verfahren vor sich geht, bei denen auch die deutsche Industrie daran partizipieren kann, in welchen Bereichen auch immer, ob das nun der Bau von Autobahnen oder von Schienenstrecken oder was auch immer ist. Wir haben also ein sehr eigennütziges Interesse daran gehabt, eine gegenseitige Öffnung der Märkte innerhalb der Europäischen Gemeinschaft hinzubekommen - im Gegensatz zu manchen auch hier in Deutschland zauderlich diskutierenden Leuten, die in der Gemeinde X lieber ein Bakschisch-Verfahren hätten. Wir müssen als Deutscher Bundestag schon darauf achten, daß wir die Gesamtinteressen der deutschen Wirtschaft zu vertreten versuchen. Das war einer der Punkte, weshalb wir den EG-Richtlinien über die Öffnung der Märkte im Bereich des öffentlichen Vergabewesens im Prinzip zugestimmt haben. Der zweite Punkt geht sicher in eine andere Richtung. Es ist im Bereich des öffentlichen Vergabewesens insgesamt sicher vernünftig, dort mit Ausschreibeverfahren zu arbeiten; denn dies beseitigt eine Mentalität, die wir hier und dort noch vorfinden. Es gibt ja im Moment noch eine Reihe von laufenden Prozessen, in denen es darum geht, daß öffentliche Aufträge über Bestechung oder über andere Frühstückskartelle vergeben wurden, so daß sie anschließend unter Umständen teurer sind - teurer zu Lasten des Steuerzahlers oder zu Lasten desjenigen, der es bezahlen muß. Das Vergabewesen neu zu gestalten ist also eine Möglichkeit, die Ausgabenpolitik der Städte, Gemeinden, Gebietskörperschaften oder öffentlichen Unternehmen zu rationalisieren. Deshalb waren wir uns vom Grundsatz her einig, die Auffassungen zu teilen, die in den Richtlinien des Ministerrats der Europäischen Gemeinschaft und deren Überwachung zum Ausdruck kommt. Es stellt sich für uns heute nur die Frage, wie wir das Ganze umsetzen: in Form eines deutschen Vergabegesetzes oder in Form eines Haushaltsgrundsätzegesetzes. Ich will nicht sagen, daß es hier Unterschiede gibt. Herr Schwörer hat ja schon darauf hingewiesen, daß wir uns im Prinzip einig waren, zu versuchen, das mit der etwas flexibleren Möglichkeit eines Haushaltsgrundsätzegesetzes zu erreichen, obwohl es dabei erhebliche Rechtsrisiken gibt. Das große Rechtsrisiko liegt in dem subjektiven Rechtsanspruch, den die EG-Richtlinie begründet, desjenigen, der nicht zum Zuge gekommen ist, unter Umständen gegen eine fehlerhafte Vergabe im Wege der Verwaltungsgerichtsbarkeit vorgehen zu können. Darauf hat auch der Vizepräsident der EG-Kommission, der ehemalige Wirtschaftsminister und Kollege der F.D.P.-Fraktion, Herr Bangemann, in einem Schreiben vom 27. Februar 1992 an die Bundesrepublik Deutschland - sprich: an den Außenminister - hingewiesen. Er hat die Auffassung vertreten, so gehe es eigentlich nicht; man müsse den subjektiven Rechtsanspruch auch im deutschen Recht entsprechend umsetzen. Wir werden uns als Deutscher Bundestag mit der Abstimmung gleich darüber hinwegsetzen. Wir werden keine subjektiven Rechtsansprüche realisieren. Aber wir gehen damit das erhebliche Risiko ein, vom Europäischen Gerichtshof verklagt zu werden. Wir sind ja vor dem Europäischen Gerichtshof in den letzten Jahren nicht sonderlich erfolgreich gewesen. Den letzten „Bananenprozeß", Herr Staatssekretär, haben wir ja so nebenbei verloren; auch das war vorhersehbar. Das gilt auch für andere Dinge. Deshalb werden wir vielleicht auch in dieser Frage nicht so sonderlich erfolgreich sein. Deshalb möchte ich zumindest für unsere Fraktion doch zu bedenken geben, ob es nicht unter Umständen sauberer gewesen wäre - auch im Hinblick auf die Einheitlichkeit der Wirtschaftsgesetzgebung -, einen anderen Weg zu wählen. Wir haben ihn jetzt so gewählt, und wir stehen dazu. Wenn es denn zu einer Klage kommt, warten wir ab, was die Richter in Luxemburg entscheiden werden. Vor Gericht ist es eben - so sagen viele - wie auf hoher See. Nun gibt es im Haushaltsgrundsätzegesetz aber immer noch verschiedenste Optionen, die EG-Richtlinien im Bereich des öffentlichen Vergabewesens umzusetzen. Ich will mich auf die Umsetzung der Sektorenrichtlinie beschränken, d. h. auf die Unternehmen, die im Bereich der Telekommunikation, der Wasser- und Energieversorgung sowie der Abwasserentsorgung tätig sind. Wie die meisten wissen, bin ich kein Jurist. Aber man muß ja nicht Jurist sein, um Gesetzestexte lesen zu können. Man stellt dabei einfach fest, daß es im Bereich der eigentlichen Normadressaten erhebliche Unterschiede gibt. Sie müssen, je nachdem, unter welchen Bereich sie fallen, verschiedenste Verpflichtungen erfüllen. Ich persönlich halte dies nicht für in Ordnung. Das muß ich ganz deutlich sagen. Wenn Unternehmen in Deutschland gleiche Tätigkeiten ausüben, geht es nicht, daß sie unterschiedlichen Verpflichtungen unterworfen werden. Ich will das am Beispiel einiger Unternehmen deutlich machen. In § 57 a Abs. 4 des Haushaltsgrundsätzegesetzes wird Bezug genommen auf Privatunternehmen, in denen Körperschaften des öffentlichen Rechts einen beherrschenden Einfluß haben. Im Bereich der Gasversorgung träfe das - wenn ich einmal ein paar Beispiele herausnehme - auf die Bayerngas, die der Stadt München und anderen dort gehört, oder die Westfälische Ferngas, bei der die Kommunen einen beherrschenden Einfluß haben, zu. Diese Unternehmen wären den Verpflichtungen unterworfen. Andere Unternehmen, z. B. die Ruhrgas, wären diesen Verpflichtungen, nämlich der europaweiten Ausschreibung und den Verfahren, die damit verbunden sind, nicht unterworfen. Dies geht eindeutig aus dem Gesetzestext hervor; und auch der Hinweis des Ministeriums, für sie gälten dann besondere Rechte, trifft nicht zu. Denn z. B. im Gasversorgungsbereich gibt es in Deutschland keine ausschließlichen Rechte. Bei uns kann jeder Leitungen bauen, wie er das will. Wir haben das am Beispiel von Wintershall gesehen, die Leitungen gebaut haben. Das kann in Deutschland jeder machen. Von daher gibt es einen Diskriminierungstatbestand von Unternehmen, wo die öffentliche Hand auf die eine oder andere Weise eine Kapitalmehrheit hat, gegenüber den Unternehmen, die in privater Rechtsform mit privaten Eignern stehen. ({0}) - Das kann doch nicht Sinn der Übung sein. Herr Schwörer, ich kann Ihnen dazu noch etwas sagen. Leider geht meine Redezeit schon bald zu Ende. Jedenfalls kann es nicht Sinn der Übung sein, das alles zu privatisieren. Die Bayern sollten sich sowieso zurückhalten - ich weiß, Sie kommen aus Baden-Württemberg -; denn die Bayern privatisieren sowieso gar nichts. Es macht doch Sinn, die Bevölkerung in bestimmten Bereichen der Daseinsvorsorge mit öffentlichen Unternehmen zu versorgen. Das macht auch inhaltlich Sinn. Kommen Sie mir doch nicht an und sagen, Sie wollten den öffentlichen Personennahverkehr in München, in Bremen oder in Hannover privatisieren. Sie machen vielmehr eine ideologische Debatte daraus, weil Sie einige Bereiche privatisieren wollen, die Gewinn abwerfen - sprich: Privatisierung von Gewinnen -, und andere Bereiche, die auch zur Daseinsvorsorge nötig sind, öffentlich bleiben sollen - sprich: Sozialisierung von Verlusten. ({1}) Diese Ideologie tragen wir als Sozialdemokraten nicht mit. Auch die öffentliche Wirtschaft kann übrigens sehr effizient arbeiten. Herr Hinsken, Sie werden doch nicht sagen wollen, daß die Bayerngas keine Gewinne macht, obwohl der Staat Bayern dort die Mehrheit hält. ({2}) Wir werden deshalb zu der Situation gelangen, daß die Bayerngas und die RWE auf Grund der Mehrheitsbeteiligung der Kommunen oder des Staates Ausschreibungen machen müssen, während andere Unternehmen wie die Preußenelektra nicht ausschreiben werden müssen, weil sie keine ausschließlichen Rechte haben. Sie haben keine ausschließlichen Rechte; die gibt es nirgendwo. Dasselbe Problem - auch ein Strukturproblem - ergibt sich jetzt in den neuen Bundesländern. Soll z. B. die Abwasserversorgung im Wege der hoheitlichen Aufgaben geregelt werden, wie wir es im Moment machen - die Kommunen sind für die Abwasserbeseitigung und die Kläranlagen eigenständig verantwortlich -, oder wollen wir Betreibergesellschaften einschalten? Letzteres hieße, daß sich die öffentlichen Betreiber, die Städte, dem ganzen Verfahren unterwerfen müßten - siehe das Beispiel Rostock. Die Betreibergesellschaft hingegen, z. B. die französische Gesellschaft Lyonnaise des Eaux oder z. B. die Thyssengas ist privatrechtlich organisiert und müßte sich dem nicht unterwerfen, weil auch eine Kläranlage keine ausschließlichen Rechte begründet. Dies sind Widersprüche, die sich aus dem Gesetzentwurf ergeben. Gleiche Tätigkeiten werden nach dem Wirtschaftsrecht ungleich behandelt. Gleiches ungleich zu behandeln, kann nicht Rechtens sein. Genauso kann es nicht Rechtens sein, wenn ich Ungleiches gleich behandele. Da stimmen, wie die Juristen sagen, einige Grundsätze im generellen Recht nicht. Eine letzte Anmerkung, die ich machen wollte. Es ist ganz eigenartig, daß wir eine ganze Reihe von Unternehmensbereichen, z. B. Eigengesellschaften der Stadt München, die Stadtwerke und andere, bestimmten Vorschriften unterwerfen. ({3}) - Sie können gerne etwas dazwischenfragen, Herr Hinsken. Ich habe überhaupt nichts dagegen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ihre Redezeit ist an sich schon abgelaufen. Aber Sie haben das Wort, Kollege Hinsken, sobald der Gedanke zu Ende geführt ist.

Dr. Fritz Gautier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000641, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Auf der anderen Seite versucht derselbe Gesetzgeber, nämlich die Kommission der Europäischen Gemeinschaft, die das vorschlägt, alle Ausschließlichkeitsrechte aufzuheben. Auch das Bundeskartellamt hat gerade ein Verfahren zur Aufhebung der Ausschließlichkeitsrechte eingeleitet, d. h. man möchte diesen ganzen Bereich de-regulieren. Darüber läßt sich diskutieren. Aber zur gleichen Zeit sagt man: Wir deregulieren, heben Ausschließlichkeitsrechte auf und unterwerfen die Unternehmen gleichzeitig einem Verfahren, das ihnen erheblich mehr Bürokratie, die Aussetzung des Vergabewesens usw. auferlegt. Man muß sich politisch für einen Weg entscheiden. Ich habe den Eindruck, daß die CDU/CSU-Fraktion und die F.D.P. nicht so ganz klar wissen, was sie wollen. Auf der einen Seite wollen sie die Aufhebung der Ausschließlichkeit, auf der anderen Seite will sie die Vergabegesetzgebung. Wir halten die jetzige Umsetzung der EG-Richtlinie - also so, wie sie im Haushaltsgrundsätzegesetz vorliegt - zumindest in Teilbereichen für fragwürdig. Wir werden uns aber aus übergeordneten Gründen - denn wir stimmen im Prinzip zu, eine flexible Anwendung einzuführen - bei der Abstimmung in der zweiten und dritten Lesung der Stimme enthalten.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege, bitte.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dr. Gautier, da Sie ja über die Fraktionsgrenzen hinweg Anerkennung bei uns allen finden, würde mich interessieren, warum Sie bei der Einbringung dieses Gesetzentwurfs dafür gestimmt haben und warum Sie nicht auf Ihre Freunde und Kollegen im Bundesrat entsprechend Einfluß genommen haben. Deshalb kommen Ihre Bedenken, die Sie heute - zu Unrecht oder zu Recht - hier anbringen, ein bißchen spät. Warum haben Sie nicht früher gehandelt?

Dr. Fritz Gautier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000641, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hinsken, die Einbringung des Gesetzentwurfs war am 25. März 1993. Dann ging er erst an den Bundesrat. Sie wissen ja selbst, wieviel Einfluß wir auf den Bundesrat haben. Da haben Sie als „bayrische Fraktion" vielleicht ein bißchen mehr. Wir als SPD-Bundestagsfraktion - diesen Eindruck habe ich - haben nicht immer sonderlich viel Einfluß darauf. ({0}) Wir haben den Entwurf ja tatsächlich erst vor zwei oder drei Wochen im Bundestag gehabt. Damals habe ich mich - obwohl ich viele Bedenken, auch in unserer Fraktion, geäußert habe - dem Mehrheitsvotum angeschlossen, daß wir es nach dem Haushaltsgrundsätzegesetz machen. Aber es gibt auch bei der Umsetzung im Rahmen des Haushaltsgrundsätzegesetzes - darauf habe ich mich gerade bezogen - verschiedenste Optionen, wie man es machen kann. Wir sehen ja jetzt, daß die Rechtskonstruktion im Haushaltsgrundsätzegesetz uns mehr SchwierigkeiDr. Fritz Gautier ten bereitet, die gesamten Normenadressaten zu erfassen, als eine andere gesetzliche Variante. Wir sehen es sehr deutlich an dem Beispiel - Sie kommen ja aus einer bayrischen Gegend -, daß die Stadtwerke München als Eigenbetrieb anderen Regeln unterworfen werden als die Stadtwerke Bremen, die eine Aktiengesellschaft sind. Das kann doch nicht im Sinne des „Erfinders" sein. Schönen Dank, Herr Präsident, daß Sie mich die Frage noch haben beantworten lassen. Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, ich möchte noch einmal auf § 33 unserer Geschäftsordnung zurückommen, weil es bei unserem Kollegen Dr. Fritz Gautier auch so war: „Die Redner sprechen grundsätzlich in freiem Vortrag. Sie können hierbei Aufzeichnungen benutzen." Im Laufe des Tages sind schon viele Kollegen so verfahren, so daß wir uns in diesem Fall nur selber loben können. Wir tun das, was in der Geschäftsordnung steht. ({1}) Als nächster hat unser Kollege Josef Grünbeck das Wort. ({2})

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten das Zweite Gesetz zur Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes, und es lohnt sich, daß ich den Eingangstext über die Zielsetzung wörtlich verlese: Dieses Gesetz dient der Umsetzung der Richtlinie 71/305/EWG des Rates vom 26. Juli 1971 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge ({0}), der Richtlinie 77/62/EWG des Rates vom 21. Dezember 1976 zur Koordinierung der Verfahren für die Vergabe öffentlicher Lieferaufträge ({1}), der Richtlinie 88/295/EWG des Rates vom 22. März 1988 zur Änderung der Richtlinie 77/62/EWG ({2}), der Richtlinie 89/440/EWG des Rates vom 18. Juli 1989 zur Änderung der Richtlinie 71/305/EWG ({3}), der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge ({4}), der Richtlinie 90/531/EWG des Rates vom 17. September 1990 betreffend die Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor ({5}), der Richtlinie 92/13/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften betreffend die Auftragsvergabe im Bereich der Wasser-, Energie-und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor ({6}) und der Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge ({7}). Warum mache ich das?

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bevor nun die Erklärung kommt, will ich Sie fragen, Herr Abgeordneter, ob Sie bereit sind, eine Zwischenfrage zu beantworten.

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, wenn es auf die Redezeit nicht angerechnet wird.

Dr. Fritz Gautier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000641, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Grünbeck, stimmen Sie mit mir überein, daß es, wenn Sie schon Texte verlesen, auch richtig sein sollte und daß die Abkürzung ABI. nicht „Arbeitsblatt", sondern „Amtsblatt" heißt?

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin ja froh, daß wir einen EG-Bürokraten da haben, der mich eines Besseren belehrt. Ich werde mich in Zukunft daran halten. Warum habe ich es verlesen? - Mein lieber, hochgeschätzter Kollege, ich bin leidenschaftlicher Europäer, und ich frage mich: Wie weit können wir eigentlich kommen, wenn Europa mit dieser Fülle von bürokratischen Regelungen zusammenwachsen soll, wir aber die Sprache nicht mehr verstehen und gar nicht mehr wissen, wie wir wirklich ein gemeinsames Europa schaffen wollen? ({0}) Ich muß der Bundesregierung ein großes Lob aussprechen, weil sie aus diesem Schlamassel einer EG-Dienstleistungsvorschrift noch eine relativ gute Gesetzesvorlage gemacht hat. Sie schafft Rechtssicherheit; die Vergabe öffentlicher Aufträge wird nach VOB und VOL ordentlich geregelt. Die Nachprüfungsvorschriften sind verfahrenstechnisch gut geregelt. Das Verfahren ist praxisnah und mittelstandsfreundlich, weil wir die Teil-Lose-Vergabe gemacht haben. ({1}) Es ist kein komplettes Rechtsverfahren; aber ich muß sagen: Wir haben hier aus den schlechtesten EG-Richtlinien noch ein brauchbares, praxisbezogenes und mittelstandsfreundliches Recht geschaffen. Dafür der Bundesregierung vielen Dank! Die F.D.P. wird dem trotz des komplizierten Eingangstextes zustimmen. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Heinrich Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute ein Gesetz, das sämtliche EG-Richtlinien auf dem Gebiet des öffentlichen Auftragswesens in nationales Recht umsetzt. Welch schwierige Materie das ist, hat Kollege Grünbeck an Hand der Problemstellung die14488 ses Gesetzes wirklich eindrucksvoll vorgeführt. Man kann in der Tat sagen: Die Umsetzung dieser Richtlinien im Haushaltsgrundsätzegesetz ist Gesetzgebung am Hochreck. Es ist deutlich geworden - Herr Kollege Schwörer hat darauf hingewiesen -, daß wir zwei Möglichkeiten hatten, die Richtlinien umzusetzen. Zur Diskussion stand ein eigenständiges Vergabegesetz, das den Bietern die Möglichkeit eröffnet hätte, sich bei Gericht gegen Vergabeentscheidungen von Auftraggebern zu beschweren, oder aber, wie geschehen, eine Regelung im Rahmen des Haushaltsrechts, die eine Befassung von Gerichten mit Vergabeentscheidungen während laufender Vergabeverfahren vermeiden sollte und dennoch eine effiziente Kontrolle des Vergabeverhaltens schafft. Die Bundesregierung hat sich für die zweite Lösung entschieden. Sie ist mit diesem Regierungsentwurf dem Wunsch der Länder und der Wirtschaft gefolgt, aber auch der Aufforderung der Koalitionsfraktionen und der SPD, Herr Kollege Gautier. Sie hat damit einem einstimmigen Antrag des Wirtschaftsausschusses des Bundestages vom 18. März des vergangenen Jahres Folge geleistet. Auch der Bundesrat hat dieses Gesetz mit marginalen Änderungen passieren lassen. ({0}) - Nein, das war damit in keinem Falle beabsichtigt. - Auch die Bundestagsausschüsse - damit habe ich dann alle genannt - haben ein positives Votum abgegeben. Die Umsetzung sämtlicher EG-Richtlinien in diesem Bereich durch ein einziges Gesetz bedeutet, daß dieses Gesetz einerseits die Regeln beinhaltet, die EG-weit die nationalen Beschaffungsmärkte öffnen sollen, andererseits auch Instanzen zur effizienten Kontrolle der öffentlichen Auftraggeber bestimmt. Das Ihnen heute vorliegende Gesetz definiert erstens den Anwendungsbereich der EG-Vergaberegeln und regelt zweitens das Nachprüfungsverfahren in einer ersten und zweiten Verwaltungsüberwachungsinstanz. Es bildet zugleich die Rechtsgrundlage für eine Nachprüfungsverordnung und eine Vergabeverordnung, welche ihrerseits auf die Verdingungsordnungen, derzeit VOL und VOB, verweist. Meine Damen und Herren, es ist bekannt und wurde in der heutigen Debatte erwähnt, daß die EG-Kommission mit diesem Gesetz nicht ganz zufrieden ist. Am 9. Juni hat die EG-Kommission beschlossen, Klage gegen die Bundesregierung vor dem Europäischen Gerichtshof zu erheben. Ich möchte mich ausdrücklich für die Rückendeckung bedanken, Herr Kollege Schwörer, die Sie der Bundesregierung gegeben haben. Grund für die Klage der Kommission ist, daß diese davon ausgeht, daß die Richtlinien dazu verpflichten, den Bietern eigene Rechte auf Einhaltung der Vergabevorschriften einzuräumen. - Nach deutschem Recht haben solche Rechte, die den Schutz des einzelnen bezwecken, nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes zwingend die Eröffnung gerichtlichen Rechtsschutzes zur Folge. - Wir meinen aber, daß die Vergaberichtlinien nur die öffentlichen Auftraggeber verpflichten, nicht aber den Bietern subjektive Rechte verschaffen wollen. Zur Kontrolle des Vergabeverhaltens wurden unserer Meinung nach die Überwachungsrichtlinien mit ihren speziellen - auch nichtgerichtlichen - Kontrollinstrumenten geschaffen. Ich denke, wir sollten dem sich anbahnenden Rechtsstreit beim Europäischen Gerichtshof mit Gelassenheit entgegensehen. Diese Gelassenheit sollten wir auch bei der Bewertung der nicht völlig auszuschließenden Risiken des Gesetzentwurfes üben, die darin liegen könnten, daß Bewerber um öffentliche Aufträge darüber hinaus versuchen, nationale ordentliche Gerichte mit Vergabefragen zu befassen. Meine Damen und Herren, ich denke, es liegt in unser aller Interesse, wenn das Gesetz so bald wie möglich in Kraft treten kann. Ich bitte hierfür um Ihre Zustimmung. Schönen Dank. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes, Drucksachen 12/4636 und 12/5334. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD-Fraktion, der PDS/Linke Liste und des Abgeordneten Lowack in zweiter Lesung angenommen. Wir treten nun in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt für den Gesetzentwurf? - Wer will dagegen stimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in zweiter Lesung angenommen. Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 2 auf: Fragestunde - Drucksache 12/5268 Zunächst rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen auf und teile mit, daß der Abgeordnete Dr. Michael Luther bittet, seine Fragen 9 und 10 schriftlich zu beantworten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Dann komme ich zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung der Frage steht Herr Staatssekretär Vogel zur Verfügung. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Ich rufe die Frage 6 des Abgeordneten Dr. Klaus Kübler auf. - Der Fragesteller ist nicht im Saal. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen. Herr Staatssekretär Vogel, ich kann Sie dann sozusagen ohne Kündigungsschutz entlassen. Ich komme nunmehr zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Hier steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek zur Verfügung. Ich rufe die Frage 23 der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel auf: Wie bewertet die Bundesregierung die Absicht des Dualen Systems Deutschland ({0}), zunächst 40 000 t Kunststoffabfälle auf alten Schuten der Deutschen Binnenschiffsreederei für unbestimmte Zeit zwischenzulagern, und welche Gefahren können daraus entstehen?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Frau Kollegin Wetzel, nach Aussagen der DSD GmbH werden zum jetzigen Zeitpunkt nicht 40 000 t Kunststoffverpackungen, sondern 16 000 t auf entsprechenden Schuten der Binnenschiffsreederei zwischengelagert. Dies soll nicht auf unbestimmte Zeit geschehen. Innerhalb von ca. 6 Monaten sollen die zwischengelagerten Kunststoffballen vorbehandelt werden. Dies bedeutet, daß die Kunststoffballen gewaschen, getrocknet und brikettiert werden, um die rohstoffliche Verwertung zu erleichtern. Anschließend soll das konfektionierte Kunststoffmaterial bis zur endgültigen rohstofflichen Verwertung gelagert werden. Die Bundesregierung geht davon aus, daß die zuständigen Behörden vor Ort insbesondere auf Vorkehrungen zum Schutz des Menschen und der Umwelt hinsichtlich des Brandschutzes achten.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, Frau Abgeordnete? - Bitte schön.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wo erfolgt die Vorbehandlung, bzw. warum ist die Zwischenlagerung auf den Schuten für 6 Monate notwendig, um dann die Vorbehandlung vorzunehmen?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Frau Kollegin Wetzel, Sie wissen, daß der Vollzug der Verpackungsverordnung, besonders die Freistellung und die Genehmigung von Zwischenlagern, ausschließlich in Länderkompetenz steht. Ich weiß auch nicht, was DSD veranlaßt hat, diese Zwischenlagerung so, wie von mir beschrieben, vorzunehmen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine weitere Zusatzfrage, Frau Dr. Wetzel.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Soweit ich weiß, sind bei der Zwischenlagerung auf Binnenschiffen mehrere Länder betroffen, und offensichtlich hat die DSD dabei gegen die entsprechenden Regelungen der Länder, gegen Meldevorschriften für Zwischenlagerung usw., verstoßen. Sind Ihnen diese Verstöße bekannt, bzw. wer ist, wenn es sich um Vorgänge handelt, die mehrere Länder gleichzeitig betreffen, zuständig?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Frau Kollegin Wetzel, ich möchte mich nicht wiederholen. Wenn Verstöße vorliegen, müssen das die Länder nachprüfen. Ich will Ihnen aber gern eine Information weitergeben. Nach unserem Kenntnisstand gibt es bisher nur ein Zwischenlager auf Schuten, nämlich auf einem Kiessee in der Nähe von Magdeburg.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Dann rufe ich die Frage 24 der Abgeordneten Frau Dr. Wetzel auf: Ist der Bundesregierung bekannt, wie das DSD beabsichtigt, weitere zu erwartende 200 000 t Kunststoffabfälle, für die bisher keine Recyclingkapazitäten vorhanden sind, zwischenzulagern, und welche Genehmigungsvoraussetzungen sind für derartige Zwischenlager erforderlich?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Frau Kollegin Wetzel, die DSD GmbH erarbeitet zur Zeit ein Konzept, wie die über die Vorgaben der Verpackungsverordnung hinausgehenden anfallenden Kunststoffverpackungen zukünftig zwischengelagert werden sollen. In jedem Fall sollen die anfallenden Kunststoffmaterialien zunächst konfektioniert werden - ich habe das in der Antwort auf die vorige Frage schon ausgeführt -, um eine sichere und allen Anforderungen genügende Zwischenlagerung zu gewährleisten. Was die Genehmigungspflichten bzw. Bauvorschriften für solche Zwischenlager betrifft, sind hierfür die allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen einschlägig. Die im Rahmen des Dualen Systems gesammelten Kunststoffverpackungen, die stofflich verwertet werden müssen, bleiben Teil des Wirtschaftskreislaufes und sind als Wirtschaftsgüter - nach geltendem Abfallgesetz -, nicht aber als Abfall zu klassifizieren. Damit unterfallen entsprechende Zwischenlagerstätten nicht dem Abfallrecht, bedürfen allerdings einer Genehmigung nach dem Baurecht.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage? - Bitte sehr.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ist dabei geplant, dieses von Ihnen beschriebene Wirtschaftsgut nach der Vorbehandlung weiterhin auf Binnenschiffen zu lagern?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Frau Kollegin Wetzel, die Frage kann ich Ihnen nicht beantworten. Ich kann mich nur auf die Verpackungsverordnung beziehen, wonach die Verwertung entsprechend den Vorgaben, die sich aus den Sortierquoten ergeben und die über mehrere Jahre gestaffelt sind, zu erfolgen hat.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine weitere Zusatzfrage? - Bitte sehr.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Welche Genehmigungsvoraussetzungen sind für die Lagerung dieses Wirtschaftsgutes auf Binnenschiffen notwendig, wenn sich die Binnenschiffe längere Zeit auf Bundeswasserstraßen befinden? Können Sie dann auch auf die Kompetenz der Länder verweisen, oder wäre dann der Bund zuständig?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Die Kompetenz für die Genehmigung solcher Zwischenla14490 ger auch auf Bundeswasserstraßen haben ausschließlich die Länder.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Dann teile ich dem Haus mit, daß die Frage 25 des Abgeordneten Klaus Harries auf dessen Wunsch schriftlich beantwortet wird. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ebenso wird die Frage 26 der Abgeordneten Frau Marion Caspers-Merk auf deren Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Die Frage 27 des Abgeordneten Gernot Erler ist zurückgezogen. Die Frage 28 der Abgeordneten Susanne Kastner wird auf ihren Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ebenfalls schriftlich beantwortet wird die Frage 29 des Abgeordneten Norbert Gansel. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Der Abgeordnete Dr. Kübler ist nicht im Saal. Ich werde mit dem Aufruf seiner Frage 30 noch etwas warten. Wir kommen nunmehr zur Frage 31 des Abgeordneten Horst Kubatschka: Wie beurteilt die Bundesregierung die Aussage in dem vertraulichen Arbeitspapier des Ausschusses „Druckführende Komponenten" der Reaktorsicherheitskommission, daß einige Risse in den Rohrsystemen des Atomkraftwerks Brunsbüttel nicht herstellungs-, sondern betriebsbedingt sind, und welche Konsequenzen wird diese Aussage aus Sicht der Bundesregierung für den weiteren Betrieb anderer Siedewasserreaktoren bzw. für die Wiederinbetriebnahme des Kernkraftwerks Brunsbüttel haben?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Herr Kollege Kubatschka, der Bundesregierung ist eine derartige Aussage der Reaktorsicherheitskommission oder ihres Ausschusses Druckführende Komponenten nicht bekannt. Die Reaktorsicherheitskommission und ihr Ausschuß Druckführende Komponenten haben ihre Beratung zu den Rißbefunden im Kernkraftwerk Brunsbüttel noch nicht abgeschlossen. Das Land Schleswig-Holstein hat dafür erforderliche Prüfungsunterlagen bislang nicht vollständig vorgelegt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage? - Bitte sehr.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, kann man nach Abschluß der Untersuchungen die Untersuchungsergebnisse oder den Untersuchungsbericht bekommen?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Selbstverständlich, Herr Kollege Kubatschka. Sie beziehen sich in Ihrer Frage offensichtlich auf ein Non-Paper, also auf einen Vorschlag zu einem Beschluß der Reaktorsicherheitskommission. Sobald der gefaßt ist, ist er Ihnen selbstverständlich zugänglich.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Weitere Zusatzfrage? - Bitte sehr.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, beabsichtigt die Bundesregierung, nur noch - wie in Japan, den USA und in der Schweiz - austenitische Stähle mit einem Kohlenstoffgehalt von maximal 0,2 Promille zuzulassen, bei denen diese Risse, die dort aufgetreten sind, nicht auftreten können? Dr. Bertram Wieczorek Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kubatschka, ich beziehe mich, um Ihre Frage beantworten zu können, auf die immer noch gültige offizielle Aussage der Reaktorsicherheitskommission vom Februar dieses Jahres, in der eindeutig auf herstellungsbedingte Risse hingewiesen wurde. Eine abschließende Beurteilung - dazu sind auch noch Unterlagen des Landes Schleswig-Holstein notwendig - ist noch nicht möglich, um dann auch zu der Frage des Gehaltes bestimmter Substanzen in austenitischen Stählen Stellung nehmen zu können.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zu einer Zusatzfrage zur Frage 31, Frau Abgeordnete Dr. Wetzel.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, welche Garantien gibt es dafür, daß die herstellungsbedingten Risse nicht an den gleichen oder anderen Stellen wieder auftreten?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Frau Kollegin Wetzel, nach dem bisherigen Stand der Untersuchungen und der von mir angeführten Veröffentlichung steht zunächst einmal fest, daß herstellungsbedingte Risse in baugleichen Kernkraftwerken, in Siedewasserreaktoren wie in Brunsbüttel, nicht festgestellt wurden, sondern ausschließlich an diesem einen Reaktor. Man wird nach Vorlage und Bewertung aller Unterlagen zu einem endgültigen Schluß kommen, um dann auch die Ursache der herstellungsbedingten Risse genau klären und erklären zu können.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Dr. Kübler, wollen Sie eine Zusatzfrage hierzu stellen? - Bitte sehr.

Dr. Klaus Kübler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001238, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, hält die Bundesregierung jetzt das Problem mit der Reparatur oder auch mit dem Ersatz der Rohrleitungen für gelöst? Oder will sie etwas grundsätzlicher an das Problem herangehen und sagen: In Zukunft gibt es diese Art von Stählen nicht mehr?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Herr Kollege Kübler, ich führte aus, daß die technisch bedingten Risse, die etwas mit der Herstellung zu tun haben, nur im Kernkraftwerk Brunsbüttel aufgetaucht sind. Es wird, wie Ihnen vielleicht bekannt ist, im Juli die nächste Sitzung der Reaktorsicherheitskommission geben, die dann nach Vorlage aller Unterlagen auch über den Reparaturplan befinden wird. Es sind keine weiteren Konsequenzen geplant.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich rufe nunmehr die Frage 32 des Abgeordneten Horst Kubatschka auf: Wie beurteilt die Bundesregierung den Vorschlag, Produkte „regionalspezifisch" zu kennzeichnen, d. h. Produkten eine Art „Umweltengel" des Transportwesens zu verleihen, wenn ihre Bestandteile zum Beispiel zu 80 % „aus der Region" bezogen werden?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Herr Kollege Kubatschka, in ihrer umweltbezogenen Produktpolitik setzt die Bundesregierung auf eine umfassende ökologische Bewertung von Produkten unter Berücksichtigung auch anderer Aspekte wie Gebrauchstauglichkeit und Sicherheit. Einzelne Produkte und Produktionsprozesse sollen nicht isoliert im Hinblick auf einen für die Bewertung wichtigen Umweltaspekt betrachtet werden, sondern die Gesamtbelastung der Umwelt - von der Gewinnung der Rohstoffe bis hin zum entstehenden Abfall - soll soweit wie möglich in die Bewertung einfließen. Der Erfolg des deutschen Umweltzeichens, das 1978 eingeführt wurde, ist ein klarer Beweis für die Richtigkeit dieses Konzepts. Auch das EG-Umweltzeichen setzt nicht auf eine regionalspezifische Kennzeichnung, sondern ebenfalls auf eine umfassendere sogenannte „von der Wiege bis zur Bahre"-Bewertung. Aus den genannten Gründen lehnt die Bundesregierung eine „regionalspezifische" Kennzeichnung von Produkten in der in der Frage unterstellten Form ab. Eine derartige, lediglich am Kriterium „kurze Transportwege" anknüpfende „Auszeichnung" kann weder die ökologischen Eigenschaften des Produkts noch die des eingesetzten Transportmittels berücksichtigen. Im übrigen wäre die Überprüfung der einzelnen Bestandteile der Produkte bzw. der bei der Produktion eingesetzten Hilfs- und Betriebsstoffe mit einem hohen Aufwand verbunden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage? - Bitte sehr.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, die Transportkette eines in Stuttgart abgepackten 150Gramm-Erdbeer-Joghurts beträgt 7 695 km. Also, das ist ein ganz schönes Stück Weg für einen Joghurt. Wie beurteilt die Bundesregierung aus der Sicht der Verkehrsminderung diese Tatsache?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Herr Kollege Kubatschka, aus meinen sehr umfänglichen Ausführungen konnten Sie erkennen, daß selbstverständlich auch der Transportweg bei der ökologischen Betrachtung eines Produkts und all seiner Wege, also vom Einsatz der Rohstoffe bis hin zur Verwertung und Entsorgung, eine Rolle spielt. Ich kann Ihre Frage nur in der Hinsicht beantworten, daß selbstverständlich solche Aspekte - es ist ja ein bekanntes Thema - auch beachtet werden müssen. Ihre Frage zielt aber in der Ausschließlichkeit nur auf den Faktor Transport. Das ist nicht das alleinige Kriterium, um die Ökobilanz eines Joghurts, der vielleicht in München hergestellt und in Hamburg verkauft wurde, zu beurteilen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ihre zweite Zusatzfrage, bitte sehr.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, wie möchte man dann eine Verkehrsverminderung bei der Produktion von Gütern erreichen, wenn allein bei so einem kleinen Produkt die Transportkette so lang ist?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Herr Kollege Kubatschka, mit der Umlegung der Umweltkosten auch im Bereich des Verkehrs - die Bundesregierung hat gegenüber der EG einen ersten Schritt dazu durchsetzen können - werden auch diese Kosten eine zunehmende Rolle spielen, den Preis des Produktes und natürlich auch seine Bewertung beeinflussen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Abgeordneter Dr. Kübler, bitte schön.

Dr. Klaus Kübler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001238, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung wegen dieser Fragen, die in verschiedenen Gremien diskutiert werden, auch schon Kontakte mit dem dafür sicherlich ebenfalls zuständigen Wirtschaftsministerium und Verkehrsministerium aufgenommen, und ist sie bereit, hier eine Koordinierung herbeizuführen, was Überlegungen über die Umgestaltung des Transportwesens für bestimmte Produkte angeht?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Herr Kollege Kübler, bei diesem Thema, das ja nicht nur die Transportwege umfaßt, sondern auch den ganzen Bereich der Emittenten, die Verknüpfung der Verkehrssysteme, ist das Bundesumweltministerium selbstverständlich in einem ständigen Gespräch mit den anderen Häusern. Ich kann in der Kürze der Zeit - das ist auch nicht erforderlich - hier nicht alle Aspekte aufzeigen. Aber nur eines: Die zukünftige Bewertung der Verkehrsträger, auch die Verlagerung von einem auf den anderen Verkehrsträger, wird sich z. B. niederschlagen in der jetzt erfolgten Planung und in dem zum Teil auch schon beginnenden Bau von Güterverteilzentren in Deutschland, die z. B. den Umschlag Langweg/Schiene auf Kurzweg/Lkw im Verteilerverkehr ermöglichen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Abgeordnete Dr. Wetzel.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ich habe Ihre Äußerung, daß ein Einstieg bei der EG in die Anlastung der Umweltkosten auch Transportwege umfaßt, möglicherweise falsch verstanden. Halten Sie die Anlastung der Wegekosten für ausländische Lkw, die zukünftig zu einem ganz geringen Teil erfolgen soll, für diesen Einstieg? Oder was halten Sie für die Anlastung der Umweltkosten? Könnten Sie das genauer erklären?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Auch der zielgerichtete Einsatz der geplanten Lkw-Vignette hat natürlich eine ökologische Seite. Das meinte ich aber nicht. Ich meinte den Einstieg in eine emissionsbezogene Kfz-Steuer. Wir haben auf der einen Seite eine Harmonisierung, Frau Kollegin Wetzel, zwischen 100 DM Lkw-Steuer in Frankreich und 10 050 DM in Deutschland. Das ist der eine Aspekt. Der andere Aspekt ist der, daß - in Abhängigkeit von den Emissionen, und zwar nicht nur im Schadstoffbereich, sondern auch im Lärmbereich - eine Differenzierung der Lkw-Steuer ins Auge gefaßt ist, mit den Ihnen bekannten Zeiträumen, also ab 1995.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Dann rufe ich die Frage 30 des Abgeordneten Dr. Kübler auf: Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Warum findet vor dem Abriß des hochradioaktiven Reaktorkerns des Atomkraftwerkes Kahl keine Anhörung der betroffenen Bevölkerung statt, und mit welcher Begründung wird das TÜV-Gutachten über die angebliche Ungefährlichkeit des Abrisses unter Verschluß gehalten?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Herr Kollege Kübler, das für die Erteilung von Stillegungsund Abbaugenehmigungen zuständige Bayerische Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen hat in Ausübung seines Ermessens nach § 4 der Atomrechtlichen Verfahrensverordnung von einer Bekanntmachung und Auslegung der Unterlagen für die Abbaugenehmigung abgesehen, da erkennbar war, daß nachteilige Auswirkungen auf Dritte durch die zur Vorsorge gegen Schäden getroffenen und vorgesehenen Maßnahmen ausgeschlossen werden. Das in der Frage angesprochene TÜV-Gutachten ist Teil der Verwaltungsverfahrensakten. Ein begründeter Antrag auf Einsichtnahme wurde bisher nicht gestellt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage? - Bitte schön, Herr Dr. Kübler.

Dr. Klaus Kübler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001238, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, müßte, wenn die Bundesregierung die europäische Richtlinie zur Herausgabe von Umweltakten, also diese Umwelt-Informationsrichtlinie, anwenden würde, dieses TÜV-Gutachten zur Verfügung gestellt werden? Ich frage dies deshalb, weil die Bundesregierung wohl prinzipiell bereit ist, sich dieser Richtlinie anzuschließen.

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Herr Kollege Kübler, Sie wissen - ich habe Ihre Frage verstanden -, daß ein Umwelt-Informationsgesetz in Vorbereitung ist, das gute Chancen hat, demnächst eingebracht zu werden. Und dazu gehört natürlich auch der Aspekt der Einsichtnahme in Unterlagen. Einsichtnahme ist nach § 4 ff. der Atomrechtlichen Verfahrensverordnung, die Sie bestimmt kennen, möglich. Das heißt: Der Antrag auf Einsichtnahme in die Akten ist nach dieser Verordnung möglich, ohne daß eine Öffentlichkeitsbeteiligung aus den von mir dargelegten Gründen stattgefunden hat.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage.

Dr. Klaus Kübler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001238, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, Sie sprachen in Ihrer Antwort davon, daß für die Bundesregierung erkennbar sei, daß keine gesundheitlichen Gefahren entstehen könnten. Worauf gründet die Bundesregierung diese Erkennbarkeit?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Auf die im Freistaat Bayern in dem angesprochenen Ministerium, in der zuständigen Abteilung vollzogenen Genehmigungsverfahren, deren Grundlage das TÜV-Gutachten mit der Aussage ist, daß keine Gefahr für Dritte besteht. Das kommt hier eindeutig zum Ausdruck.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Weitere Zusatzfragen? - Herr Abgeordneter Kubatschka.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, beim Abriß des Niederaichbacher Kernreaktors, der nur 18 Vollasttage hinter sich hatte, wurde eine Anhörung durchgeführt. Meinen Sie nicht, daß auch bei einem Kraftwerk wie in Kahl, in dem bedeutend mehr radioaktives Material angesammelt wurde, eine Anhörung stattfinden müßte?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Herr Kollege Kubatschka, beim Kernkraftwerk in Niederaichbach ist im Jahre 1985 eine Öffentlichkeitsbeteiligung durchgeführt worden. Allerdings hatte sich dort die Genehmigungsbehörde dazu entschieden, diese durchzuführen, weil es zwei ganz wichtige Aspekte gab, die im hier beschriebenen Fall nicht bestanden: zum einen den, daß es sich um den ersten Abbau eines Kernkraftwerks in der Bundesrepublik Deutschland handelte, also auch noch der Erfahrungsschatz fehlte, und zum anderen den, daß ein hoher Anteil öffentlicher Mittel in dieses Kernkraftwerk geflossen war.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Danke schön. Herr Staatssekretär, damit sind wir am Ende Ihres Geschäftsbereiches. Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes auf. Hier steht uns zur Beantwortung Staatsminister Helmut Schäfer zur Verfügung. Ich rufe zuerst die Frage 33 des Abgeordneten Ortwin Lowack auf: Was war der Inhalt der von Gorbatschow in seinem Buch "Gipfelgespräche" erwähnten, vor dem Abflug aus Moskau nach Schelesnowosk ausgetauschten „Überlegungen zum Vertrag zwischen der UdSSR und Deutschland"? Herr Staatsminister, Sie haben das Wort.

Not found (Gast)

Bei dem Besuch von Bundeskanzler Kohl im Juli 1990 in der Sowjetunion wurden unter anderem die Konturen eines umfassenden Kooperationsvertrages diskutiert, der alle grundlegenden Aspekte der bilateralen Beziehungen erfassen und so bald wie möglich nach der Vereinigung Deutschlands abgeschlossen werden sollte. Leitmotiv sollten umfassende Zusammenarbeit, Vertrauen, die breite Begegnung beider Völker, insbesondere der jungen Generation, sein. Dieser Vertrag sollte geschlossen werden auf der festen Grundlage und im beiderseitigen klaren Verständnis, daß mit der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit wie auch mit der Verankerung Deutschlands im Westen ein unerläßlicher Beitrag zur Stabilität in der Mitte Europas und darüber hinaus geleistet wird.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter, bitte schön.

Ortwin Lowack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001379, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Staatsminister, in voller Anerkennung und Würdigung der hervorragenden Umschreibung dessen, was in diesen Überlegungen enthalten war: Ist der Wortlaut dieser Überlegungen bekannt?

Not found (Gast)

Sie meinen den Text der von Ihnen unterstellten persönlichen Überlegungen, die Herr Gorbatschow in seinem Buch andeutet? Texte solcher Überlegungen und GespräStaatsminister Helmut Schäfer che können, wie Sie wissen - das hat ja auch das Bundesarchivgesetz vom 6. Januar 1988 eindeutig zum Ausdruck gebracht -, erst nach 30 Jahren zur Verfügung gestellt werden. Danach sind Akten auf Anfrage für jedermann zugänglich.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine weitere Zusatzfrage, bitte sehr.

Ortwin Lowack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001379, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Staatsminister, es sind ja Überlegungen, die nicht vom deutschen Verhandlungspartner stammen, sondern von der anderen Seite, von jemandem, der damals noch ein Staatsgebilde vertreten hat, das heute nicht mehr besteht. Ich verstehe deswegen nicht genau, warum das unter diese Archivierungs- und vor allen Dingen Geheimhaltungspflicht fallen sollte.

Not found (Gast)

Herr Kollege, ich kann nur darauf verweisen, daß es tatsächlich so ist. Aber ich darf auch darauf hinweisen, daß der Bundeskanzler vor der Bundespressekonferenz in Bonn am 17. Juli 1990 sehr ausführlich auch zu den Gesprächen Stellung genommen hat, die Sie hier ansprechen. Das, was Herr Gorbatschow in seinem Buch veröffentlicht hat, ist ohne Unterrichtung der Bundesregierung erfolgt. Er hat das übrigens inzwischen gegenüber der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Moskau bedauert. Aber ich sehe keinen neuen Sachverhalt in dem, was Herr Gorbatschow in seinem Buch angedeutet hat.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Weitere Zusatzfragen werden zu dieser Frage nicht gestellt, so daß ich die Frage 34 des Abgeordneten Ortwin Lowack aufrufen kann: Warum werden erst Ende August 1994 die letzten GUS-Truppen Deutschland verlassen und nicht schon bis Ende 1993, und welche zusätzlichen Leistungen hat die Bundesregierung für den Fall versprochen, daß der letzte GUS-Soldat Deutschland zwei bis drei Monate vor der nächsten Bundestagswahl ver-laßt?

Not found (Gast)

Herr Kollege Lowack, ausgehend von Art. 4 Abs. 1 des „Vertrags über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland", also dem Zwei-plus-Vier-Vertrag, vom 12. September 1990, sieht Art. 4 Abs. 1 des „Vertrags über die Bedingungen des befristeten Aufenthalts und die Modalitäten des planmäßigen Abzugs der sowjetischen Streitkräfte aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland" vom 12. Oktober 1990 vor, daß der Abzug der Truppen - ich zitiere - „spätestens bis zum Ende des Jahres 1994 beendet" ist. Im Rahmen dieser völkerrechtlich verbindlichen Regelung des befristeten Aufenthaltsrechts der jetzt Rußland unterstellten Westgruppe der ehemals sowjetischen Truppen wurde Einigung über die Beendigung des Abzugs der noch verbleibenden Truppenteile bis zum 31. August 1994 erzielt. Diese Regelung ist Teil der Vereinbarungen, die in der Gemeinsamen Erklärung enthalten sind, die der Bundeskanzler und Präsident Jelzin am 16. Dezember 1992 in Moskau unterzeichnet haben und die im Bulletin Nr. 139 vom 22. Dezember 1992 veröffentlicht wurde. Andere Zusammenhänge waren für die getroffene Regelung nicht maßgebend.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lowack, bitte sehr.

Ortwin Lowack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001379, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Staatsminister, trifft es nicht zu, daß die Vorverlegung dieses ursprünglich vereinbarten Termins, nämlich 31. Dezember 1994, auf den 31. August 1994 - d. h. wirksam vor der Bundestagswahl liegend, so daß man das auch groß feiern könnte - damit verbunden ist, daß der deutsche Steuerzahler mit mehr als 500 Millionen DM zur Kasse gebeten wird? Und wenn das schon möglich war, was man ursprünglich für unmöglich gehalten hat, wäre dieser Termin dann nicht auch noch weiter vorzuverlegen gewesen als auf den 31. August 1994?

Not found (Gast)

Herr Kollege, ich kann nur sagen, daß die Festlegung des Abzugs auf den 31. August 1994 und die Zahlung von weiteren 550 Millionen DM - das ist richtig - als Beitrag zur Wiedereingliederung der zurückkehrenden Truppen unter Verzicht beider Seiten auf gegenseitige Ansprüche im Zusammenhang mit den von den Truppen genutzten Liegenschaften im Gesamtzusammenhang genannt werden müssen. Ich kann Ihnen sagen, daß Ihre Unterstellung oder Vermutung, hier gehe es um eine Art von Wahltrick, nicht zutrifft, sondern es geht um einen Gesamtzusammenhang. Ich bin gerne bereit, Sie über diesen Gesamtzusammenhang nicht hier, sondern gelegentlich aufzuklären.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage, bitte sehr, Herr Abgeordneter Lowack.

Ortwin Lowack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001379, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herzlichen Dank. Ich werde gerne davon Gebrauch machen. Herr Staatsminister, ist Ihnen auch bekannt, daß die Kommission, die die gegenseitigen Ansprüche überprüfen sollte, angesichts der durch die ehemaligen sowjetischen Truppen in Deutschland verursachten unglaublichen Umweltschäden zu dem Ergebnis gekommen ist, daß überhaupt nichts verlangt werden kann, sondern im Gegenteil eigentlich von deutscher Seite wegen dieser Verwüstungen Milliardenforderungen offenstünden, so daß daraus jedenfalls nicht der Schluß gezogen werden kann, daß wir 550 Millionen DM mehr zahlen müßten?

Not found (Gast)

Ich kann nur davor warnen, öffentliche Diskussionen darüber zu führen, welche Ansprüche unsererseits und welche Ansprüche andererseits gestellt werden. Ich bitte Sie um Verständnis, daß ich hier lediglich auf den Gesamtzusammenhang hinweisen muß und daß ich es für sehr unklug hielte, wenn wir anfangen würden, an diesen Vereinbarungen zu rütteln.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Gernot Erler.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, hat bei den Verhandlungen der Bundesregierung mit der russischen Seite auch eine Rolle gespielt, daß es im Interesse der neuen deutschen Bundesländer sein muß, den Abzug zu beschleunigen, und daß durch den früheren Abschluß auch eine frühere Nutzung von freiwerdenden Liegenschaften einen positiven Ein14494 fluß auf die ökonomische Situation in den neuen Bundesländern haben kann, und hat es auch eine Rolle gespielt, daß eine Mehrzahlung für die Wiedereingliederung der Westgruppe der russischen Truppen auf lange Dauer einen positiven Einfluß auf das deutsch-russische Verhältnis haben kann, daß wir also ein Interesse daran haben müssen, daß diese Soldaten, die hier lange Dienst getan haben, mit einem positiven Gefühl aus Deutschland zurückkehren?

Not found (Gast)

Ich bin dem Kollegen aus der sozialdemokratischen Fraktion sehr dankbar, daß er die Haltung der Bundesregierung so gewürdigt hat, wie er das mit seinen beiden Fragen getan hat. Ich kann das nur bestätigen. Natürlich hat das eine Rolle gespielt. Ich würde sogar über das hinausgehen, was Sie gesagt haben. Es ging nicht nur darum, im Hinblick auf das deutsch-russische Verhältnis einen Beitrag zu leisten, sondern auch für die Stabilität in ganz Osteuropa; denn wir wissen ja, daß die Unterbringung ehemaliger Soldaten und Offiziere der Roten Armee in Rußland enorme Schwierigkeiten bereitet hat. Es ist sicherlich besser, ihnen eine Perspektive für die Zukunft zu geben, als ihnen die Perspektive zu rauben.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ihre letzte Frage, Herr Abgeordneter Erler, gibt mir Veranlassung, darauf hinzuweisen, daß Sie eine Zusatzfrage und nicht mehrere Zusatzfragen auf einmal hatten. ({0}) Die Frage 35 des Abgeordneten Norbert Gansel wird auf dessen Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Wir kommen zur Frage 36 des Abgeordneten Erler: Welche Ergebnisse haben die Untersuchungen über die Vorfälle im Rahmen von UNOSOM II erbracht, bei denen am 13. Juni 1993 und an anderen Tagen mehrere somalische Zivilisten durch Angehörige von Einheiten der Vereinten Nationen ums Leben gekommen sind, und wie bewertet die Bundesregierung, die an UNOSOM II beteiligt ist, die Ergebnisse dieser Untersuchungen?

Not found (Gast)

Herr Kollege, die endgültigen Ergebnisse der Untersuchungen über die Vorfälle in Mogadischu zwischen dem 5. und dem 13. Juni dieses Jahres liegen der Bundesregierung noch nicht vor. Zwei UN-Beamte befinden sich zur Zeit in Mogadischu mit der Aufgabe, die Vorfälle zu untersuchen und juristisch aufzuarbeiten. Die Bundesregierung wird nicht Stellung nehmen, bevor sie von den Schlußfolgerungen der Untersuchungen Kenntnis hat.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, welchen Stellenwert hat denn das Ergebnis dieser Untersuchungen für die Bundesregierung, die an UNOSOM II beteiligt ist und demnächst mit Einheiten der Bundeswehr eine logistische Unterstützung für eine 4 000 Mann starke indische Einheit leisten wird, von der unter Umständen angenommen werden kann, daß sie sich im Falle eines solchen Konfliktes, wie er zwischen dem 5. und dem 13. Juni stattgefunden hat, nicht anders verhalten wird als die pakistanischen Blauhelm-Soldaten?

Not found (Gast)

Herr Kollege, Sie entwerfen jetzt Spekulationen, die ich nicht so ganz im Zusammenhang mit dem, was hier geschehen ist, sehen kann. Es ist natürlich richtig, daß die Vorfälle, insbesondere auch die Vorwürfe, die gegen UNO-Soldaten erhoben worden sind, die sich am 13. Juni gegen Auswüchse einer Demonstration gewehrt haben, untersucht werden müssen. Ich sehe aber keinen Zusammenhang mit den in allen unseren Beratungen in sämtlichen Ausschüssen in den letzten Tagen sehr deutlich gemachten Rechtspositionen der deutschen Soldaten, die zur Zeit relativ weit entfernt von Mogadischu in einem, wie Sie wissen, befriedeten Umfeld stationiert sind. Ich nehme auch nicht an, daß uns die Herstellung eines Zusammenhangs bei der morgen hier im Hause zu führenden Debatte sehr viel weiterhilft.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine weitere Zusatzfrage, bitte sehr.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, welche Vorkehrungen trifft denn die Bundesregierung für die Abwehr einer Situation, in der unter Umständen Angehörige der deutschen Bundeswehr mit Verhaltensweisen von UNO-Soldaten in Zusammenhang gebracht werden können, die diesen jetzt zu untersuchenden Vorfällen vergleichbar sind, wozu z. B. auch der Angriff auf ein Krankenhaus gehört?

Not found (Gast)

Herr Kollege, wir können natürlich nicht für alle spekulativen Fälle Vorkehrungen treffen. Aber ich glaube, die Verhaltensregeln, die den deutschen Soldaten gegeben worden sind, die „rules of engagement" usw., die mit der UNO abgesprochen sind, schließen aus, daß Deutsche, die in Somalia jetzt bei dem UNOSOM-Unternehmen beteiligt sind, in eine solche Situation kommen. Sie werden ihre Waffen sicher nur zur Selbstverteidigung gebrauchen; das ist ja verabredet. Aber es wird sicher alles getan, um eine solche Situation in dem Umfeld, in dem die Deutschen stationiert sind, zu vermeiden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich bedanke mich bei Ihnen sehr herzlich, Herr Staatsminister. Wir sind am Ende der Fragestunde. Ich rufe nunmehr den Zusatztagesordnungspunkt 2 auf: Aktuelle Stunde Haltung der Bundesregierung zur Forderung nach Freigabe von Heroin Diese Aktuelle Stunde hat die Fraktion der CDU/ CSU beantragt. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Ich erteile zunächst dem Abgeordneten Roland Sauer ({0}) das Wort. Herr Abgeordneter, bitte sehr.

Roland Sauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001922, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wieder einmal sprechen wir über Liberalisierungs- und Legalisierungsabsichten in der Drogenpolitik, deren Wirkungen für die tägliche Drogenarbeit vor Ort mehr als schädlich sind. Die Hamburger Bundesratsinitiative ist aus psychologischen, aus sozialen, aus medizinischen, aus betäubungsmittelrechtlichen sowie aus kriminologischen Gründen entschieden abzulehnen. ({0}) Wir lassen es nicht zu, wenn unser Staat zum Dealer verkommt. Die Befreiung von der Sucht und die Abstinenz im späteren Leben sind unsere vorrangigen Ziele. Nur mit Hilfen hin zu einem Leben ohne Drogen wird dem Suchtkranken letztlich dauerhaft geholfen, ({1}) nicht durch Experimente mit der tödlichen Droge Heroin. Gesamtgesellschaftlich würde durch die Vergabe von Heroin zur Substitution ein falsches Signal gesetzt. Die Verwendung von Heroin als Substitutionsmittel verharmlost die Bedrohlichkeit der Abhängigkeit sowie ihrer sozialen Folgen. Die Medikamentenkontrolle würde bei Vergabe von Heroin zu einer Farce. Wie können wir junge Menschen vor Drogen glaubwürdig warnen, wenn staatliche Stellen nun illegale Drogen verabreichen? Die jahrelangen Bemühungen um Aufklärung und Prävention gerade bei der jungen Generation vor den Folgen des Drogenmißbrauchs würden konterkariert werden. Die schlimme Konsequenz der Freigabe wäre das Sinken der Hemm- und Probierschwelle. Der Staat würde seinen im Grundgesetz verankerten Auftrag zur Gesundheitsfürsorge und zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Bürger aufs gröbste verletzen. Dies wird mit uns nicht geschehen. ({2}) Die Motivation zur drogenfreien Therapie würde sinken. Die Eingrenzung der für eine Heroinvergabe in Frage kommenden Personen ist ungenau. Viele Drogenabhängige würden einen hohen Konsum vortäuschen und die Therapie absichtlich abbrechen, um nachher in den Genuß des staatlich verabreichten Heroins zu gelangen. ({3}) Das schadet den wirklich Therapiewilligen. 90 % sämtlicher Drogenabhängigen wollen sich nach einer neuesten Studie von der Sucht befreien. 30 % warteten 1992 auf einen Entgiftungs- oder Therapieplatz. Hier müssen wir ansetzen und endlich zu den längst überfälligen Lösungen kommen, anstatt Gedanken an eine sogenannte kontrollierte Freigabe von Drogen zu verschwenden. ({4}) Wir werden der SPD im Interesse der jungen Drogenabhängigen und ihrer Familien, ihrer Eltern diese Feigenblattpolitik nicht durchgehen lassen. Sie nützt den jungen Menschen nicht, sie schadet ihnen. Die Erfahrungen im Ausland sprechen klar gegen eine Heroinvergabe. Die Beispiele aus Großbritannien zeigen klar: Ein großer Teil der Drogenabhängigen, die Heroin vom Staat verabreicht bekamen, hing auch nach sieben bis zehn Jahren noch immer an der Nadel. Die SPD sollte sich weiterhin ein Beispiel an ihren Genossen in Schweden nehmen. Da dort die Zahl der Konsumenten nach einer weitreichenden Drogenfreigabe in den 60er Jahren derart angestiegen war, warf man das Ruder konsequent herum. Nun befürworten alle gesellschaftlichen Gruppierungen, auch die Genossen, einen rigiden Kurs in der Drogenpolitik in Schweden. Dies sollten Sie zur Kenntnis nehmen. Die deutsche Sozialdemokratie will offensichtlich aus diesen Fehlschlägen nichts lernen. Wir jedenfalls werden die gravierenden Fehler unserer Nachbarländer nicht wiederholen. Heroin ist kein Arzneimittel, sondern eine todbringende Droge. Hier wird ständig mit Begriffen wie Substitution oder verbesserter Behandlungsmöglichkeit operiert. Damit wird suggeriert, Heroin sei ein Arzneimittel. Heroin führt schon nach einem kurzzeitigen Konsum zu schweren körperlichen und seelischen Abhängigkeiten. Es hemmt das Atemzentrum und führt zur Herzschwäche mit Todesfolge. Die Vergabe von Heroin macht eine ständige Steigerung der Dosierung notwendig. Wir werden auch durch eine kontrollierte Freigabe von Heroin vom Mischkonsum nicht herunterkommen. Lassen Sie mich zum Schluß kommen: Hören Sie nun auf mit Ihrem falschen Samaritertum! Die Befürworter einer Heroinabgabe sollten mit offenen Karten spielen. Es geht Ihnen doch gar nicht um die wirkliche Hilfe für die Süchtigen. ({5}) Vielmehr zielt Ihre Initiative darauf ab, Schwerstabhängige ruhigzustellen. ({6}) Sie wollen damit von Ihrem eigenen Versagen in der Drogenpolitik ablenken. ({7}) Die Forderung nach kontrollierter Freigabe von Heroin ist ein Eingestehen von Hilf- und Ratlosigkeit. Es ist ein Hohn, wenn ausgerechnet Hamburg, ein Land, das bundesweit zu den Schlußlichtern bei der Bereitstellung von Therapieplätzen gehört, Hauptinitiator eines solches Gesetzesvorhabens ist. ({8}) Roland Sauer ({9}) In Hamburg gibt es bei über 10 000 Drogenabhängigen lediglich 135 Therapieplätze. Dies ist ein Skandal. Herzlichen Dank. ({10})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Johannes Singer.

Johannes Singer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002181, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir hatten schon damit gerechnet, daß diese unseligen moralischen Verteufelungen, das Mobilisieren von Vorurteilen auch diese Debatte wieder beherrschen würden. Dabei frage ich mich, warum wir heute hierzu die Aktuelle Stunde abhalten müssen, wo doch der Gesetzesantrag der Freien und Hansestadt Hamburg, der mit eindeutiger Mehrheit im Bundesrat beschlossen worden ist, Herr Sauer, den Bundestag so oder so erreichen wird. Sie hätten genausogut abwarten können, bis dieser Gesetzesantrag hier ist, und dann die Debatte darüber führen können. Aber gut. ({0}) Ihnen kommt es nicht darauf an, das schwierige Drogenproblem mit Lösungsvorschlägen anzugehen, sondern hier mit Kraftausdrücken, Unterstellungen und Falschdarstellungen zu arbeiten. ({1}) - Aber natürlich hat er das getan. Herr Sauer operiert hier seit Jahren mit dem Argument, daß sich jeder, der für eine kontrollierte Heroinabgabe eintrete, nur um die Bereitstellung von Therapieplätzen drücken wolle. ({2}) Das ist glatt falsch; denn das Fehlen von Therapieplätzen gibt es in CDU-regierten Bundesländern in gleichem Umfang wie in allen anderen. ({3}) - Lesen Sie die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zur Umsetzung des nationalen Drogenbekämpfungsplanes nach. Da wird Ihre Aussage eindeutig widerlegt. Ich nenne Ihnen einmal Zahlen: Wir haben etwa 4 000 Therapieplätze in der Bundesrepublik - mal mehr, mal weniger; es kommt nicht auf die genaue Zahl an - bei 120 000 Suchtkranken. Jetzt erzählen Sie mir einmal, wie Sie für alle diejenigen, die tatsächlich Bedarf an Entzug, an einer Therapie haben, bei 150 000 DM Kosten pro Therapieplatz in den nächsten zehn Jahren diesen Bedarf auch nur annähernd decken wollen. Das ist doch Augenwischerei, was Sie hier betreiben. ({4}) Egal, ob der Oberbürgermeister Rommel heißt und von der CDU kommt oder ob er in Karlsruhe Seiler heißt und ebenfalls von der CDU kommt: Der Karlsruher Gemeinderat hat kürzlich genau den Antrag beschlossen, den Hamburg jetzt einbringt. ({5}) Ein CDU-geführter Gemeinderat ist für eine kontrollierte Heroinabgabe unter wissenschaftlicher Begleitung. ({6}) Sie würden es weit von sich weisen, ein solches Vorgehen als Freigabe oder Legalisierung von harten Drogen zu bezeichnen. Das Ganze hat mit Freigabe oder Legalisierung überhaupt nichts zu tun. Es hat damit etwas zu tun, daß wir mit den herkömmlichen Therapien, nämlich totale Abstinenz oder Substitution mit Methadon, nur 30 % aller Suchtkranken erreichen, daß ein großer Teil eben nicht erreicht wird. ({7}) Es gibt nur zwei Möglichkeiten, Herr Sauer: Sie lassen die therapieresistenten, die nicht erreichbaren Suchtkranken untergehen, sozial und gesundheitlich verelenden - eine solche Politik halte ich für eine tolle christliche Ethik -, ({8}) oder Sie bemühen sich darum, die Leute wenigstens vor dem Drogentod zu bewahren, ihnen eine Lebensperspektive und die Möglichkeit zu geben, nicht vom Staat verteilte, sondern von Ärzten ausgegebene Drogen zu erhalten, wie das in England seit Jahren erfolgreich praktiziert und in der Schweiz in acht großen Städten propagiert wird. Das ist ja eine sozialistische Regierung in der Schweiz! Das sind ja alles Chaoten und Anarchisten, die da Politik machen! In der Schweiz wird das ausprobiert. ({9}) Der Parlamentarische Staatssekretär Lintner erklärte noch vor wenigen Wochen, das sei ein interessantes Experiment, das von der Bundesregierung aufmerksam beobachtet werden sollte, urn es vielleicht zu übernehmen. ({10}) - Ich bringe Ihnen die Pressemeldung mit. Er kann dementieren, was er will. Zunächst einmal hat er das gesagt. Diese Äußerung muß er sich vorhalten lassen. Das Dementi nutzt doch nicht viel. ({11}) Was wir von Dementis der Bundesregierung zu halten haben, das wissen wir doch. Das bringt doch alles nicht viel. Ich sage es noch einmal: Die SPD hat sich immer gegen die Freigabe und die Legalisierung ausgesprochen. Dabei bleibt es. Der Gesetzesantrag der Freien und Hansestadt Hamburg, der in ähnlicher Form auch in Frankfurt und in Karlsruhe umgesetzt werden soll, der von Herrn Rommel und vom Stuttgarter Polizeipräsidenten begrüßt ({12}) und von Herrn Hüppe - er wird im „ Spiegel" zitiert -für eine gute Sache gehalten wird. Es gibt inzwischen also eine ganze Reihe von vernünftigen CDU-Leuten, die darüber nachdenken, ob uns die bisher ausschließlich repressiv orientierte Drogenpolitik wirklich weitergeführt hat, ob sie etwas genutzt hat oder sie eine Sackgasse war, aus der wir herausfinden müssen. Da ist jeder Versuch, zu neuen Ufern vorzustoßen, neue Gedanken zu entwikkeln und auf wissenschaftlicher Grundlage ein Experiment durchzuführen, zu begrüßen. ({13}) - Hier wird kein Mensch zum Versuchskaninchen gemacht. Versuchen Sie nicht, solche Eindrücke zu erwecken. Das machen weder die Schweizer noch die Engländer, noch, wie gesagt, der Karlsruher Gemeinderat. Sie werden Ihren eigenen Parteifreunden in Karlsruhe doch nicht unterstellen wollen, daß sie Menschenversuche durchführen. ({14}) Was soll denn so ein Unsinn? Lassen Sie uns doch sachlich darüber reden und nicht versuchen, hier, wie gesagt, nur mit Vorurteilen und mit den alten Positionen weiterzumachen, die gescheitert sind, die uns nicht wesentlich weitergebracht haben. Hier höre ich erst einmal auf. ({15})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Es spricht nunmehr die Abgeordnete Frau Funke-Schmitt-Rink.

Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000625, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Die F.D.P. lehnt eine generelle Freigabe von Heroin vor allem aus jugend- und gesundheitspolitischen Gründen ab. ({0}) Bisher konnten folgende Argumente noch nicht entkräftet werden: Erstens. Der Staat würde selbst den Dealer spielen und den Drogenkonsum rechtfertigen. Zweitens. Das Fixerelend würde nur verlängert, nicht beseitigt werden. Drittens. Der ständig steigende Mehrbedarf Süchtiger würde zu einer Ausweitung staatlicher Gaben führen und so die Verwendung der ausgeteilten Drogen über kurz oder lang unkontrollierbar machen. Viertens. Die Belohnung von Sucht durch milde Gaben würde Gelegenheits-User in leichtfertigen Dauerkonsum treiben. ({1}) - Einen Augenblick, warten Sie ab. Fünftens. Der Schwarzmarkt würde nicht völlig beseitigt, und die große Nachfrage nach illegalen Drogen bliebe weiter bestehen. Niemand hat heute ein Patentrezept für die Heilung von Sucht. Auf Grund der bisherigen Erkenntnisse müßte jede Therapie individuell nach der Biographie der drogenabhängigen Person ausgerichtet sein. In jedem Fall aber muß Ziel jeder Therapie die endgültige Befreiung von Sucht sein. Deshalb ist es unsere größte politische Aufgabe, kurzfristig mehr differenzierte und qualifizierte stationäre und ambulante Entgiftungs-, Entwöhnungs- und Entzugstherapieplätze sowie Nachsorgeplätze in allen Ländern zu schaffen. ({2}) Die Mitgliedsverbände der „Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren" stellen in 81 stationären Einrichtungen insgesamt 2 000 Therapieplätze für Drogenabhängige in den alten Bundesländern zur Verfügung - insgesamt sind es ca. 4 000 stationäre Langzeittherapieplätze -, aber etwa 7 000 würden sofort gebraucht. 30 bis 40 % der Opiat- bzw. Kokainabhängigen, die Therapien abgeschlossen haben, bleiben langfristig abstinent. ({3}) Weitere 25 % zeigen einen verbesserten Umgang mit ihren Suchtmitteln. Landesweite Zentralstellen für die Vermittlung von freien Therapieplätzen wie in Nordrhein-Westfalen nach dem Dortmunder Modell „Therapie sofort" müßten daher eingerichtet werden. Sinnvoll wäre auch ein Bund-Länder-Therapieplan, der jährlich an den aktuellen Bedarf anzupassen ist. ({4}) Die Wartezeit dürfte höchstens 14 Tage betragen. Aber Therapieplätze sind nicht zum Nulltarif zu haben. Aber war denn die bisherige repressive Drogenpolitik wirklich billiger? Der Entzug muß von den Krankenkassen und die Rehabilitation von den Rentenversicherungsträgern finanziert werden. Es ist sicherzustellen, im Verhältnis der verschiedenen Kostenträger von Entwöhnungs-, Therapie-, Nachsorge- und Substitutionsprogrammen unnötige bürokratische Hemmnisse abzubauen. Die Rentenversicherungsträger sollten Modellprogramme zur Nachsorge Suchtkranker entwickeln. Auch Substitutionen, z. B. durch Methadon, vom zuständigen Arzt geregelt und mit psychosozialen Betreuungsangeboten begleitet, müßten in allen Bundesländern kurzfristig zur Verfügung gestellt werden können und zum Instrumentarium eines differenzierten Gesamtkonzepts der Drogenhilfe - auch als Überbrückungshilfe für einen Therapieplatz - gehören. Aber zugunsten von preisgünstigeren Methadonprogrammen darf die Schaffung anderer Therapieangebote nicht vernachlässigt werden. Ich wiederhole: Ziel unserer Drogenpolitik muß die Befreiung von Sucht sein. Dafür brauchen wir ein zielgruppenspezifisches, differenziertes Drogenhilfeetz. Aber haben wir eigentlich schon die richtigen Instrumente? Da noch niemand von uns eine Patentlösung hat, denkt die F.D.P. darüber nach, ob nicht auch befristete Modellversuche zur Heroinabgabe - nicht Freigabe, sondern Abgabe - an total verelendete Fixer unter strenger Kontrolle durch das Bundesgesundheitsamt, wie gerade vom Bundesrat gefordert, ein Instrument der Über-Lebenshilfe sein könnten. Im übrigen würden wir dann auch endlich empirische Daten für die Suchtforschung in der Bundesrepublik bekommen. Schon der Nationale Rauschgiftbekämpfungsplan von 1990 weist auf dieses Defizit klar hin. Bei Modellversuchen zur Heroinabgabe müßte aber vorher geklärt sein, wie die Auswahl und Zusammensetzung der Zielgruppe erfolgt, wie die Programme psychosozial aufgebaut sind und wie die Behandlung nach dem Modellversuch aussehen soll. Die F.D.P. fordert darüber hinaus ein wissenschaftlich unabhängiges Gremium zur Begleitung und Überprüfung dieser Modellversuche. Fazit: Weltweit fehlen Erkenntnisse darüber, inwieweit eine Legalisierung langfristig die bestehenden Probleme lösen würde, ohne neue zu schaffen. Soviel ist klar: Sie würde Abhängigen helfen - weniger Kriminalisierungsrisiko und Beschaffungskriminalität -, aber eine zunehmende Gefährdung von Jugendlichen und Erwachsenen auf Grund der Verfügbarkeit von Drogen nach sich ziehen. Der Hebel für eine Antisuchtpolitik kann nur eine zielgruppenspezifische, kontinuierliche und flächendeckende Prävention ab dem Kindesalter sein, deren Ziel es ist, Kinder und Jugendliche anzuleiten, nein zu Suchtmitteln zu sagen. Besonders ein sogenanntes Standfestigkeitsprogramm ist erfolgreich, d. h. die Förderung eines gemäßen Problemlösekonzepts und Streßmanagements sowie die Stärkung von Kommunikationsfähigkeit und Selbstkontrolle. Das Problem ist nicht der Stoff, sondern die Sucht. Vielen Dank. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Barbara Höll.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regierungskoalition nimmt mit der heutigen Aktuellen Stunde zur Heroinfreigabe ein parlamentarisches Recht wahr, das hauptsächlich von der Opposition genutzt wird. Bedroht die Initiative des Bundesrates, im Rahmen eines Modellversuches die Möglichkeit ärztlich kontrollierter Heroinabgabe an Drogengebraucher und -gebraucherinnen vorzusehen, die Festen der Gesellschaft? Oder hat sich nach dem Parteitagsbeschluß der F.D.P., für die Freigabe weicher Drogen einzutreten, die Bundesregierung und ihre Koalition endlich entschlossen, das Prinzip „Hilfe statt Strafe" in die Realität umzusetzen? Wir haben in dieser Legislaturperiode bereits mehrmals zur Drogenpolitik debattiert. Auch heute wiederholten sich bereits die Argumente. Die Bundesregierung hält dessenungeachtet an der bisherigen Politik der Abschreckung und Kriminalisierung des Umgangs mit Drogen fest. Sollten sich die verantwortlichen Politiker die kindliche Eigenschaft bewahrt haben, sich unvermittelt von der Realität zu lösen und Dinge zu sehen, die sie sich erträumen? So schön das sein mag, so ist dies keine Basis für politische Entscheidungen. Die Politik unbedingter und alternativloser Abstinenzvorgabe ist gescheitert. Die Zahl der Drogengebraucherinnen und -gebraucher steigt, und der schwarze Markt blüht. Die PDS/ Linke Liste steht für eine akzeptierende Drogenpolitik und unterstützt nachdrücklich dazu übergehende politische Initiativen. Unsere Gesellschaft bietet eine Vielzahl legaler Drogen zum Gebrauch an. Der Staat verdient daran nicht schlecht. Alkohol und Tabak sind frei zugänglich, Werbung dafür prägt das Bild der Städte. Hohe Steuern werden gezahlt. Der Rausch - nach Max Horkheimer und Theodor Adorno „eine der ältesten gesellschaftlichen Veranstaltungen, die zwischen Selbsterhaltung und Vernichtung vermitteln", und ein Mittel, den von der Gesellschaft geschaffenen Zwängen zu entrinnen - ist deshalb nach Auffassung des Lübecker Landgerichts „durch Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes im Rahmen der freien Entfaltung der Persönlichkeit als zentraler Sektor menschlicher Selbstbestimmung geschützt". Jeder Mensch, der Rauschmittel konsumiert, schädigt vor allem sich selbst. Er darf dies in der Bundesrepublik ganz legal mit verschiedensten Rauschmitteln - bis auf Drogen -, die alle bei Mißbrauch zu Rauschgiften werden, obwohl den etwa 100 000 Gebrauchern harter Drogen etwa 800 000 von Medikamenten abhängige und etwa 1,5 Millionen von Alkohol abhängige Menschen gegenüberstehen. Das heißt, die Gesellschaft, der Staat vertraut den kulturellen und gesellschaftlichen Fähigkeiten der Menschen im bewußten Umgang mit den legalen Rauschmitteln und schützt durch verschiedene Verbote ausdrücklich nur Kinder und Jugendliche. Das Verbot, die Illegalisierung der Drogen im Betäubungsmittelstrafrecht zeugt nicht nur von Angst vor möglicher Unbeherrschbarkeit der Drogen, sondern verhindert gerade das notwendige Erlernen eines Umgangs mit Drogen. Seit 1972 wurde die Strafandrohung von ursprünglich 3 auf 15 Jahre gesteigert, doch sowohl Drogengebrauch als auch Drogenkriminalität stiegen wesentlich schneller an. Eine Schreckensschraube ohne Ende! Ich frage: Wozu? Gibt es hier nicht so etwas wie einen Deal Dr. Barbara Hö11 zwischen Verfolgern und Verfolgten, zwischen Großverdienern am Drogengebrauch und Strafverfolgern von Drogengebrauchern? Wurde und wird hier nicht tatsächlich die Heroinabhängigkeit von Menschen politisch benutzt, um „die Schreckensinstrumente des interventionsorientierten modernen Strafverfahrensrechts" - so Professor Messemer - zu installieren, wie Kronzeugenregelung, verdeckte Ermittler, polizeiliche Beobachtung, großer Lauschangriff? Erst das Verbot der Drogen verursacht Schwarzmarkt und horrende Preise. Die Gewinne sind phantastisch. Menschen werden auf Grund einer bestehenden Abhängigkeit in die Kriminalität getrieben, da die Drogen so teuer sind. Als legale Möglichkeit der Geldbeschaffung besteht fast nur die Möglichkeit der Prostitution. Das ständig drohende Verdikt der Strafe bedroht gleichermaßen Drogengebraucherinnen und -gebraucher und Sozialhelfer. Es verhindert die Qualitätskontrolle des Heroins, den Gebrauch der Droge unter hygienischen Bedingungen usw. Verbote und rechtliche Grauzonen verbieten z. B. den legalen Spritzenaustausch in Gefängnissen und führen zu einer hohen Infektionsrate mit HIV und Aids in deutschen Strafvollzugsanstalten, was auch der Bundespräsident in seiner Eröffnungsrede des 9. Welt-Aids-Kongresses in Berlin betonte. Um sich aus der sozialen und psychischen Verelendung herauszulösen und nicht mehr unter dem ständigen Druck der Geldbeschaffung zu leben, sondern zwar abhängig, doch wieder sozial normal leben zu können, infizieren sich Drogengebraucher bewußt mit HIV und Aids, um in Methadon-Programme zu kommen. Übrigens ist es nachgewiesen, daß der Gebrauch von reinem Heroin wesentlich weniger gesundheitsbeeinträchtigend ist als der Alkoholmißbrauch. ({0}) Wird hier nicht bewußt das Bild des verelendeten Fixers, das tatsächliche Elend benutzt, um abzuschrecken und gleichzeitig die Nichtzulassung bzw. den Abbau sozialer Hilfen, wie jetzt z. B. leider auch in Bremen, zu begründen? Die Menschen, die auf Grund des Gebrauchs eines bestimmten Rauschmittels kriminalisiert wurden, werden dadurch zudem noch vorgeführt und verhöhnt. Doch nicht der Drogengebrauch an sich zerstört die Menschen; vielmehr zwingt sie das Verbot der Droge in Überschuldung, soziale Verelendung, Beschaffungskriminalität und Prostitution. Ich möchte damit schließen, daß die PDS/Linke Liste nachdrücklich die Entkriminalisierung, d. h. die Freigabe weicher Drogen, die kontrollierte Abgabe harter Drogen wie Heroin, vielfältige sogenannte niedrigschwellige Angebote, gesundheitlich-medizinische Betreuung, Bereitstellung von Wohnraum und Arbeit sowie ein tatsächliches Herangehen an die Lösung von sozialen Problemen als den Ursachen des Drogenmißbrauchs, überhaupt des Rauschmittelmißbrauchs vieler Menschen unterstützen wird. Ich danke Ihnen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Christina Schenk das Wort.

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß die CDU/CSU die heutige Aktuelle Stunde zum Thema Heroin überhaupt beantragt hat, beruht unserem Eindruck nach weniger auf der Überzeugung, die seit dem Bundesratsbeschluß zu dieser Frage u. a. vom Bundesgesundheitsminister und vom Drogenbeauftragten Lintner herbeigeredete Katastrophe auch hier im Plenum noch beschwören zu müssen. Nein, daß die Union diesen Antrag Dienstag früh in die laufende Sitzung des Ältestenrats hineingereicht hat, ist offenbar nichts anderes als der Versuch, ein weit brisanteres Thema zu verdrängen, nämlich einen der schlimmsten Fälle von Regierungskriminalität, wie die „Zeit" letzte Woche schrieb. Das ganze Ausmaß dieser Affäre ist mit den gängigen Stichworten Vökking, Barschelei oder Stasi-Akten sicher noch unzureichend beschrieben. Klar ist jedenfalls, daß die Union nicht nur in den letzten Wochen unsere Unterrichtungsanträge im Innenausschuß zu diesem Thema durchweg abgelehnt hat, sondern auch die von meiner Gruppe als erste beantragte Aktuelle Stunde auf den letztmöglichen Termin, Freitag spätnachmittag, hat verschieben lassen. Bezeichnend ist, daß dies mit Zustimmung der Sozialdemokraten geschah. Ich meine, hier müssen die Karten endlich rückhaltlos auf den Tisch, ({0}) in welchem Maß sich die Regierung an dem Versuch beteiligt hat, Stasi-Informationen parteipolitisch auszuschlachten, und inwieweit sich die Sozialdemokraten zu ihrem erstaunlichen Stillschweigen haben bewegen lassen. ({1}) - Es paßt Ihnen wohl nicht, hier die Wahrheit zu hören. Ich denke, die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, zu wissen, wie hier Politik gemacht wird. Meine Damen und Herren, nun zu dem Thema selbst. Zunächst ist daran zu erinnern, daß es sich überhaupt nicht um eine Freigabe des Heroinerwerbs handelt, wie die Union immer wieder behauptet. Vielmehr geht es lediglich darum, rechtlich zu ermöglichen, daß in sehr engem Rahmen in wenigen Großstädten mit besonderen Drogenproblemen nach ärztlicher Indikation und unter staatlicher Aufsicht wissenschaftliche Untersuchungen zur Originalstoff ab-gabe durchgeführt werden können. Das ist etwas ganz anderes als das von der Union beschworene Horror-bild. Zur Notwendigkeit dieser Initiative möchte ich an dieser Stelle nur auf die bisher größte Untersuchung von Drogentodesfällen hinweisen, die vom Bundesgesundheitsministerium gefördert und vor kurzem veröffentlicht worden ist. Über 70 % der repräsentativ untersuchten Todesfälle beruhten auf unbeabsichtigten Überdosierungen, also auf mangelnder Information über den wechselnden Gehalt des auf dem Schwarzmarkt angebotenen Stoffs. Wenn also wirklich Drogensüchtige vor dem Tod bewahrt werden sollen - auch die Union bedauert ja immer wieder die vielen Todesfälle, die es in diesem Zusammenhang gibt -, dann müssen den Süchtigen Alternativen geboten werden, die über die simple Abstinenzforderung hinausgehen. Neben allen Bemühungen um Prävention und Ausweitung sämtlicher Hilfsangebote sind primär die Angebote einer Methadonvergabe zu erweitern. Bei Süchtigen, die damit nicht zu erreichen sind, sollte darüber hinaus untersucht werden können, welche Auswirkungen eine dosierte Vergabe von überprüftem reinen Stoff hat. Denn alle Anzeichen deuten, wie gesagt, darauf hin, daß damit viele Leben gerettet werden können. Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN halt die entsprechende Bundesratsinitiative für richtig, notwendig und überfällig. Wir hoffen, daß sich die Mehrheit auch im Bundestag diesem Weg einer vernünftigen und menschlichen Drogenpolitik anschließt und der ideologischen Agitation der Drogenkrieger eine Absage erteilt. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort erteile ich nunmehr dem Bundesminister für Gesundheit, Horst Seehofer.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Drogenabhängigkeit ist kein Lebensstil, son-dem eine Krankheit und oftmals eine tödliche Angelegenheit. Deshalb sollten wir einer Meinung sein, daß das oberste Ziel einer Drogenpolitik das suchtfreie Leben, das drogenfreie Leben sein muß. ({0}) Mit diesen Zielen ist eine Heroinabgabe oder -verteilung nicht vereinbar. ({1}) Mit dem prinzipiellen Ziel „drogenfreies Leben" befinden wir uns auch völlig im Einklang mit der großen Mehrheit der Bevölkerung. Nach allen Umfragen sagen beinahe 90 % der Bevölkerung, daß sie bisher nie Kontakt mit Drogen hatten, auch gar nicht wüßten, wie sie an Drogen herankommen. ({2}) Ich denke, wenn man als Politiker schon immer den Anspruch erhebt, wir müßten eine Politik für das Volk machen, dann würde ich in diesem Fall sagen: Richten wir uns nach der großen Mehrheit der Bevölkerung, nach diesen fast 90 %. Aber auch 90 % derer, die drogenabhängig sind, sagen nach allen wissenschaftlich fundierten Umfragen, daß sie aus diesem Teufelskreis heraus möchten. ({3}) Nur ganze 10 % der Kranken, der Abhängigen sagen nein zur Abstinenz. Die Bereitschaft zur Therapie ist bei den Drogenkranken sehr, sehr hoch. Das ersehen Sie allein aus der Zahl, die Kollege Sauer schon genannt hat, und daraus, daß Wartelisten für Therapieplätze in der Bundesrepublik Deutschland existieren. Bei jeder aktuellen Umfrage ergibt sich, daß etwa ein Drittel der Kranken einen Entzug, eine Entgiftung durchmachen möchten, aber keinen Platz bekommen. Ich möchte noch einmal unterstreichen, daß die Therapie in der Bundesrepublik Deutschland eine hohe Erfolgsquote hat; denn 30 bis 40 % der Therapierten sind über Jahre hinweg clean, drogenfrei. Das ist für die Suchtforschung eine außerordentlich hohe Erfolgsquote. Deshalb unterschreibe ich die These, die Drogenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland sei gescheitert, nicht. ({4}) Frau Kollegin, wir haben sicher kein Patentrezept. ({5}) - Das gibt es nicht; das werden wir auch nicht finden. Solange es Menschen geben wird, wird es das Problem der Sucht geben. ({6}) Aber wir haben eines der besten Rezepte. Ich beginne mit der Prävention. Sie hat, gerade gegenüber den jungen Menschen, gewirkt. Es gibt das Anschauungsbeispiel der neuen Lander, wo sich die große Skepsis der Experten nicht bewahrheitet hat. Die Zahl derer, die seit der deutschen Einheit in den neuen Ländern zum Drogenkonsum gekommen sind, hat sich absolut in Grenzen gehalten. Es sind 2,7 %. Die Prognosen waren weitaus höher. ({7}) Umfrageergebnisse besagen, daß der Anteil derjenigen an der Bevölkerungsgruppe im Alter zwischen 12 und 39 Jahren, die sagen, sie seien bisher nicht mit Drogen in Kontakt gekommen, so hoch wie 1990 ist, nämlich 90 %. Die Prävention wirkt also. Wenn gesagt wird, wir brauchen die Abgabe, auch durch Ärzte kontrolliert, um überhaupt an die problematische Bevölkerungsgruppe der Nichttherapierfähigen heranzukommen, dann muß ich antworten: Weitaus sinnvoller und zugkräftiger sind die sogenannten niedrigschwelligen Angebote, ({8}) die als Bundesmodellprogramm in die Tat umgesetzt wurden. Sie werden von den Problemgruppen wirklich angenommen. ({9}) - Da sind wir beim gleichen Problem wie bei den Therapieplätzen. Ich habe manchmal den Eindruck, daß manche, die sich auf Länderebene und auf der politischen Ebene sehr stark für die Substitution von Drogen einsetzen, damit verdecken wollen, daß sie als Bundesländer die Aufgabe, eine bessere Therapie, nämlich die Prävention, die Einrichtung von stationären und vor allem ambulanten Therapieplätzen und von niedrigschwelligen Angeboten, zu schaffen, nicht richtig und nicht ausreichend erfüllt haben. ({10}) Es gibt nämlich in Deutschland eine Art Forderungsföderalismus. Die Bundesländer wollen beinahe flächendeckend für alle Aufgaben die Kompetenz. Aber in dem Moment, wo es um die Ausfüllung der Kompetenz geht, insbesondere um die Setzung von Prioritäten und das Einsetzen von Geldmitteln, ist immer wieder der Bund verantwortlich. ({11}) Deshalb fordere ich die Bundesländer auch an dieser Stelle auf, daß sie endlich ihrer Verantwortung gerecht werden, ausreichend Therapieplätze zur Verfügung zu stellen, insbesondere ambulante Therapieplätze, und die niedrigschwelligen Angebote, die sich als großer Renner erwiesen haben, auszubauen. Sie heißen deshalb „niedrigschwellig", weil dem Drogenkranken keine Bedingungen und keine Voraussetzungen gesetzt werden, wenn er Kontakt mit einer solchen Einrichtung aufnimmt. Dort kann er essen, dort kann er auch einmal schlafen, dort kann er ein Gespräch führen, ohne daß er sich in eine Langzeittherapie begeben muß. Er kann einfach wieder gehen. Die niedrigschwelligen Angebote haben die Brükken gerade zu den Menschen gebaut, die wegen ihrer Drogenkrankheit in einen Teufelskreis gekommen sind. Eine hohe Zahl derer, die die niedrigschwelligen Angebote in Anspruch nehmen, sind dann auch bereit, eine Langzeittherapie mitzumachen. Deshalb wäre es das wichtigste neben der Prävention, daß wir die Therapie in der Bundesrepublik Deutschland verstärken. Dafür sind in erster Linie die Bundesländer verantwortlich. ({12}) - Frau Kollegin, es wäre ja schlimm, wenn wir hier nicht einer Meinung wären. ({13}) Nur wenn wir auf diesem Weg vorangehen, können wir auch glaubwürdig von der These sprechen, daß Therapie vor Strafe zu kommen habe. Denn mir sagen die Mitarbeiter der Justiz: Wir würden ja gem die Möglichkeiten des Strafrechts nutzen, nicht zur Bestrafung und zur Strafvollstreckung zu kommen, und die Therapie vor die Strafe stellen, wenn wir von Anfang an, von der Festnahme an, ausreichend Therapiemöglichkeiten hätten. Aber wenn es Wartelisten für Therapieplätze gibt, dann steht in vielen Fällen die These „Therapie vor Strafe" auf dem Papier. Wenn wir sie wirklich in die Praxis umsetzen wollen, brauchen wir mehr Therapieplätze, damit die Justiz die sogenannte Entpönalisierung wirklich erzielen kann. Es wird nun der feine semantische Unterschied gemacht, es handele sich nicht um eine Drogenfreigabe, sondern nur um eine Vergabe oder Abgabe. ({14}) Wissen Sie, ich bin jetzt noch nicht lange Gesundheitsminister, ({15}) aber ich kann Ihnen sagen: Diese Freigabespirale hat sich in den letzten zwölf Monaten atemberaubend bewegt. Es begann mit dem Methadon, das ja in bestimmten Fällen, bei eng begrenzten Indikationen, abgegeben wurde. Es wurde und wird aber ständig - auch heute noch - darüber diskutiert, ob die Indikationen richtig sind, in welchen Fällen man Methadon abgeben kann, welche Ärzte es tun dürfen und wie viele Fälle dieser Art es gegeben hat. Es begann also mit dem Methadon. Jetzt kommt das Heroin unter dem Deckmantel des Versuchs und der Forschung. Ich komme noch darauf, daß das nur ein Deckmantel ist. In der gleichen Debatte, in der wir über den Versuch reden - es ist ja eigenartig: Wir reden über den Versuch am Menschen -, sagt eine Kollegin: Nein, die Wirkung von Heroin kann man genau beurteilen; wir brauchen gar keinen Versuch mehr; das können wir schon generell machen. ({16}) - Vielleicht haben Sie nicht gelesen, daß es nicht nur um Heroin geht; nein, es geht urn alle Betäubungsmittel. Alle Betäubungsmittel sollen nach der Bundesratsinitiative unter bestimmten Voraussetzungen freigegeben werden, auch Designer-Drogen. Designer-Drogen haben das 4 000fache Wirkungspotential von Morphin. ({17}) Auch das soll nach dem Antrag des Bundesrates freigegeben werden. Ich sage für die Bundesregierung: Mit dieser Koalition wird es nicht zu einer Freigabe in der Bundesrepublik Deutschland entsprechend dem Bundesratsantrag unter dem Deckmantel einer Erprobung und der Forschung kommen. ({18})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Minister - Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Ich habe noch einen Satz.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Sonst überschreiten Sie die Zeit, und wir bekommen eine Debatte. Ich mache Sie nur darauf aufmerksam.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Daran ändert auch die Abgabe unter ärztlicher Verordnung und Kontrolle nichts. ({0}) Wissen Sie, was mich nachdenklich macht? Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland zehnmal so viele Medikamentenabhängige wie Drogenabhängige, nämlich 800 000. Hierbei handelt es sich weitgehend um verschreibungspflichtige Arzneimittel. Ich stelle nur die Frage: Sollen wir angesichts dieser Erfahrung auch noch zu einer generellen Freigabe und Verordnung von Opiaten in der Arztpraxis kommen? ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Werner Ringkamp.

Werner Ringkamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Art. 1 unseres Grundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar." ({0}) Ich lade Sie einmal ein, diesen Gedanken im Kopf zu behalten und mich auf die Entgiftungsstation eines Landeskrankenhauses - früher sagte man: Heilanstalt - zu begleiten. Hier werden die Menschen behandelt, die sich mit dem letzten Rest ihres vielleicht noch vorhandenen Willens entschlossen haben oder dazu überredet wurden, aus einer Sucht auszusteigen. ({1}) - Sie wurden überredet oder gar polizeilich oder amtsärztlich eingewiesen. ({2}) Die behandelnden Ärzte und Pfleger und Pflegerinnen müssen manchmal nahezu hellseherische Fähigkeiten entwickeln, um bei diesen Patienten noch so etwas wie Würde zu entdecken. Für die aufopferungsvolle Arbeit, die diese Menschen an den Patienten leisten, sollten wir Ihnen ruhig einmal ein Dankeschön sagen. ({3}) Alle Versuche, illegale Drogen in der einen oder anderen Form zu legalisieren, sind meiner Ansicht nach ein fundamentaler Angriff auf die vom Grundgesetz geschützte Würde des Menschen. ({4}) Unser Grundgesetz ist nicht ein beliebiges Regelwerk, nach dem politische Willensbildungsprozesse ablaufen. Es ist eine an bestimmten Werten festgemachte Verfassung und damit jeglicher lediglich opportunistischer Überlegung entzogen. Manchmal wird der Eindruck erweckt, auch in der Öffentlichkeit, als ob wir in Deutschland mit unserer Haltung zur Drogenpolitik einen fürchterlich einsamen, nach rückwärts gewandten Weg gingen und einen Kampf führten. Genau das Gegenteil ist der Fall. Bei der 35. Sitzung der Suchtstoffkommission der UNO im April 1992 hielt die überwältigende Mehrheit aller Regierungen an einer konsequenten Drogenpolitik auf der Grundlage des Suchtstoffübereinkommens fest. Es wird die Verwendung von Drogen auch weiterhin ausschließlich auf medizinische und wissenschaftliche Zwecke beschränkt. An dieser Sitzung waren 53 Nationen beteiligt. Kein einziger dieser Staaten setzt sich für eine Legalisierung von harten oder weichen Drogen ein. ({5}) Die Erfahrungen mit den legalen Stoffen, die suchtabhängig machen können, ermuntern auch keineswegs zu irgendwelchen Experimenten in dieser Richtung. Oder, meine Damen und Herren, wollen Sie den 40 000 Alkoholtoten eine ähnliche Zahl von Herointoten hinzufügen? ({6}) Im übrigen erinnert mich dieses Spielchen „Ausspielen der einen Sucht gegen die andere " fatal an ein ganz bestimmtes Bild. Wo steht eigentlich geschrieben, daß derjenige, der Läuse und Flöhe hat, auch noch ein Recht auf Wanzen beanspruchen kann? ({7}) Ich möchte all diesen Freigabesüchtigen noch etwas ins Stammbuch schreiben: Bei der Diskussion über die Drogenfreigabe, insbesondere über die Freigabe von Heroin, wird nur allzu häufig die innere Dynamik der Sucht vergessen. Wie schnell sich hier ein Teufelskreis aufbauen kann, zeigt die Diskussion über die Ersatzdrogenabgabe und die Anwendung dieser Ersatzdrogen. Alle Methadonprogramme in anderen Ländern haben in der Vergangenheit nicht den gewünschten Erfolg gehabt. Kopenhagen meldet für 1992 48 Methadontote. Aber mit schöner Regelmäßigkeit schließen sich an Methadonprogramme Heroinprogramme an. Man will durch kontrollierte Abgabe von Heroin an Süchtige zumindest das Schlimmste verhindern. Der nächste Schritt nach den Heroinprogrammen kann dann nur - das ist konsequent und schlüssig - die Freigabe von Drogen sein. Wer Suchtkranken die Möglichkeit einräumt, Suchtmittel mit staatlichem Segen zu beziehen, der muß sich darauf einstellen, daß er das ein Leben lang tun muß. Der Staat wird so zum Dealer. ({8}) Wir sollten uns als entscheidungsbefugte und zur Entscheidung verpflichtete Politiker diesen Weitblick für die Folgen unseres Tuns ganz weit offenhalten. Nicht ein Nachgeben vor der Drogenflut bremst die anbrandenden Wellen, sondern nur sichere Deiche und eine jederzeit einsetzbare Hilfstruppe können unsere Antwort auf diese Gefahren sein. ({9})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nun die Abgeordnete Frau Gudrun Schaich-Walch.

Gudrun Schaich-Walch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001939, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn das Nicht-nachgeben vor der Drogenflut bedeutet, daß wir 2 000 Drogentote jährlich in Kauf nehmen, ohne dem noch etwas Wesentliches entgegenzusetzen, dann, so denke ich, ist das der falsche Ansatz. ({0}) Ich bin der Überzeugung, daß wir uns hier sachlich mit dem auseinandersetzen sollten, was die Länder wirklich gewollt haben. Die Situation in unseren Großstädten stellt sich so dar, daß wir einen Teil von Drogenabhängigen und Drogengebrauchern haben, die die Angebote, sei es niedrigschwellig, sei es Langzeitangebote, in Anspruch nehmen. Es gibt aber, wie der Herr Minister gesagt hat, 10 % - andere Quellen sagen: 20 % -, die von diesem Angebot nicht erreicht werden. Diese Menschen geben Sie letztendlich dem Tod preis, wenn Sie nicht bereit sind, auch für sie ein gesundheitliches Angebot zu finden, das sie davor bewahrt. ({1}) Man muß auch sehen, daß wir 2 000 Tote haben. Der Kollege vorhin sagte demgegenüber etwas von 98 in Dänemark. Da sind mir die 98 in Dänemark näher als die 2 000, obwohl es auch noch zu viele sind. Aber was haben eigentlich die Bundesländer wirklich beantragt? Das sagt bisher hier niemand. Es wird einfach nur diffamiert, indem man sagt, es handelt sich um verantwortungsloses Verhalten von vielen Gesundheitsministern, Sozialministern und Ministerpräsidenten aus den verschiedenen A-Ländern und auch aus den verschiedenen Koalitionen. ({2}) Der wissenschaftliche Versuch zur Erforschung der Behandlung Betäubungsmittelabhängiger oder chronisch Schmerzkranker soll nur in Städten mit über 500 000 Einwohnern stattfinden können. Warum? Wir sind uns alle darüber sehr klar, daß es unterschiedliche Verhältnisse und Situationen in den ländlichen Bezirken und in den Großstadtbezirken gibt. In den Großstädten ist das Elend ganz besonders groß. Gerade dort finden sich viele Menschen, die zu jener Gruppe der 10 % bzw. 20 % gehören. Das ist die Gruppe derer, die unsere jährlichen Toten stellen. Es soll aber außerdem auch möglich sein, einen Modellversuch durchzuführen, der einen bestimmten Anteil an Personen erfaßt, die von einer Ethikkommission nach sehr strengen Kriterien ausgewählt werden sollen. Kriterien sind z. B. die Volljährigkeit, der Gesundheitszustand und verschiedene abgebrochene Therapien. Außerdem soll dieser Versuch auf maximal fünf Jahre befristet sein. Es gibt sehr strenge flankierende Bestimmungen zur Sicherung des Betäubungsmittelverkehrs, d. h. es bekommt niemand ein Betäubungsmittel mit, sondern es wird vom Arzt unter direkter Kontrolle verabreicht. Es wird auch eine Kontrolle des Beigebrauchs vorgenommen. Die Landesbehörden haben sich gegenüber dem Bundesgesundheitsamt verpflichtet, strengste Kontrolle darüber zu wahren, und das Bundesgesundheitsamt hat die Möglichkeit, den Ärzten die Erlaubnis zu entziehen, wenn nicht sachgerecht vorgegangen wird. ({3}) Wenn man das als Möglichkeit nimmt und dann sagt, daß es sich um einen verantwortungslosen Akt der Freigabe handelt, ({4}) kann das nichts anderes sein als Diffamierung von Politik, von Gesundheitspolitik für eine kleine Gruppe, die sie dringend benötigt. Sie diffamieren die Politik bei uns, Sie diffamieren damit teilweise auch die Politik im Ausland. Ich denke, das ist keine Form des verantwortungsvollen Umgangs mit einer kleinen Gruppe von Menschen, die ganz dringend der Hilfe bedarf. Wir müssen einfach einsehen, auch wenn das noch so bitter ist, daß wir sie nicht auf den Weg der Abstinenz haben bringen können; aber der Weg des Todes ist auch kein angemessener. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch das Wort.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Schenk, ich halte es für verständlich, wenn Sie sich ärgern, daß die von Ihnen zu einem ganz anderen Thema beantragte Aktuelle Stunde auf einen ungünstigen Zeitpunkt anberaumt ist. Aber ich halte es für unzulässig und für parlamentarisch unerhört, wenn Sie hier eine Fülle von Verdächtigungen in den Raum stellen, die Ihnen morgen widerlegt werden wird. Sie tun das in der Hoffnung, daß morgen keiner mehr da ist, der sich die Widerlegung dann anhören kann. ({0}) Das geht nicht. Das tut keiner von uns. Ich glaube, das ist einfach nicht in Ordnung. ({1}) Wir wollen über die Drogen sprechen. Ich finde, das ist ein Thema, das sich zur parteipolitischen Polarisierung überhaupt nicht eignet. Die Menschen sind besorgt über die Drogen, darüber, daß sie ihr Leben und das ihrer Kinder zerstören. Ich kann das als Vater schulpflichtiger Kinder auch verstehen und nachvollziehen. Wir glauben nicht, daß durch die Legalisierung oder durch die Freigabe von Heroin der Gebrauch dieser Droge zurückgehen wird, weil das an den Motiven derer, die Heroin nehmen, nichts ändert. Der Gebrauch legaler Drogen in der Bundesrepublik ist außerordentlich hoch. Wir haben 2 bis 2,5 Millionen behandlungsbedürftige Alkoholkranke mit einer Todesrate von 30 000 bis 40 000 Menschen pro Jahr. Wir haben bis zu 800 000 Medikamentenabhängige mit einer nicht schätzbaren Todesrate. Und wir haben 140 000 Nikotintote jährlich. Die Freigabe führt also voraussichtlich zu einer andauernden Erhöhung des Konsums. Die Hoffnung, man könne wenigstens den Marktpreis reduzieren, halten wir so lange für eine Illusion, wie jedes europäische Land eine eigene Drogenpolitik betreibt. Wir wollen deshalb keine Freigabe von Heroin. Aber - das sage ich nun zu den Kollegen von der CDU/CSU - man muß auch die andere Seite der Medaille sehen wollen. Sie setzen überwiegend auf Polizei und auf Strafen. ({2}) In den Vereinigten Staaten hat der Senator Biden als Vorsitzender des Rechtsausschusses des Senates im September 1992 einen Bericht darüber veröffentlicht, welchen Erfolg der von Präsident Reagan ausgerufene Krieg gegen die Drogen hatte. Es war ein glatter Fehlschlag. Nach einer Ausgabe von 32 Milliarden Dollar in drei Jahren hat sich die Rauschgiftsituation in den Vereinigten Staaten dramatisch verschlechtert. Es gibt mehr Abhängige von harten Drogen als vorher. Mehr als drei Millionen Amerikaner sind heroin- oder kokainabhängig. Es wurden mehr als 900 000 drogengeschädigte Kinder geboren. Und es hat mehr drogenbedingte Morde gegeben als je zuvor. Als Grund für diese Entwicklung wird angegeben, daß mehr als eine Million Drogenabhängige nicht behandelt wurden, daß allenfalls 50 % der Schulkinder über Drogengefahren aufgeklärt wurden und daß bei weitem zu wenig dafür getan wurde, die Rauschgiftproduktion an der Quelle zu bekämpfen. Darum müssen wir auch für die Bundesrepublik mit aller Klarheit sehen und es sagen, daß die Vorstellung irrig ist, man könne mit den traditionellen Methoden den Krieg gegen Drogen gewinnen. ({3}) Rauschgiftabhängige sind krank, und die Rauschgiftbekämpfung muß im Kopf anfangen, also damit, die Ursachen auszuräumen, warum Menschen überhaupt zu Rauschgift greifen. ({4}) Wir denken, daß der nationale Rauschgiftbekämpfungsplan richtige Ansätze enthält, daß er aber nur in Ansätzen verwirklicht wird. Wenn das am Geld liegt, muß man es offen sagen. Sie sagen: Es ist Sache der Länder, die Therapieplätze einzurichten. Es gibt viele tausend Therapieplätze zu wenig. Dann ist überhaupt nicht damit geholfen, daß man sagt: Das ist Sache der Länder. Vielmehr müssen wir dann gemeinsam überlegen, was wir tun können, um die dafür erforderlichen Geldmittel zu mobilisieren. Es geht nicht, daß man therapiebereiten Personen sagt, sie müßten warten - zum Teil Monate -, bis sie einen Therapieplatz bekommen, und daß man sie bis dann mit fröhlichen Grüßen in die Beschaffungskriminalität entläßt. Wir halten es für zulässig und für akzeptabel, daß man solchen Personen wenigstens in der Wartezeit ihre Droge oder eine Ersatzdroge gibt. Natürlich muß man sich die Frage stellen, ob und in welchen Fällen eine kontrollierte Drogenabgabe Teil einer sinnvollen Therapie, vielleicht auch Teil des Umgangs mit Menschen sein kann, die unheilbar geworden sind. Dazu gehören auch Methadon-Programme. Darüber denken wir nach, nicht über mehr, nicht über weniger. Darüber denken wir nach, ohne daß wir dabei auf der polizeilichen oder strafrechtlichen Seite Versäumnisse begehen wollen. Es ist ganz unmöglich, das in fünf Minuten auszuführen, und ich hoffe, daß wir bei der Behandlung des Gesetzentwurfs des Bundesrates die Gelegenheit haben werden, darüber in Ruhe und ohne Polemik zu sprechen, weil wir nämlich prüfen müssen, was wir gemeinsam machen können. Niemand wird es honorieren, wenn wir versuchen, uns hier gegenseitig abzustechen. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Andreas Schmidt ({0}).

Andreas Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001999, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr PMsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Gefahr, die von der Drogenmafia in unserem Lande ausgeht, gehört zu den größten innenpolitischen Herausforderungen in Deutschland. Der internationale Drogenhandel setzt jährlich weltweit zwischen 500 und 1 000 Milliarden US-Dollar um und kann sich dabei auf eine Klientel von ca. 40 Millionen Drogenabhängigen stützen. ({0}) Die ständig wachsende Kapitalkraft und der Organisationsgrad der Drogenmafia bedrohen auch unsere Volkswirtschaft und die Stabilität unserer Gesellschaft. Auf Grund seiner geographischen Lage entwickelt sich Deutschland immer mehr zu einem Transitraum des internationalen Drogenhandels. Das ist der Sachverhalt. Um dieser großen Herausforderung gerecht zu werden, brauchen wir zur Bekämpfung der Drogenmafia den Konsens aller demokratischen Kräfte in Deutschland. ({1}) Dieser Konsens ist - das muß man ehrlich sagen - gefährdet. Der immer wieder propagierte Weg, die Drogenmafia in erster Linie durch eine kontrollierte Abgabe auch harter Drogen wie Heroin an Abhängige zu bekämpfen, ist falsch. Es ist gut - und ich bin dafür Andreas Schmidt ({2}) dankbar -, daß der Bundesgesundheitsminister heute ein klares Wort darüber gesprochen hat. ({3}) Es ist ein verantwortungsloser Irrglaube, mit der kontrollierten Abgabe harter Drogen an Drogenabhängige die Drogenmafia austrocknen zu können. Drogenhändler lassen sich nicht durch eine Reduzierung der Nachfrage entmachten. Sie würden vielmehr in andere Kriminalitätsbereiche ausweichen oder aber neue Kunden suchen, die vom legalisierten Drogenkonsum ausgeschlossen wären. Der Drogenschwarzmarkt würde mit neuen, vielleicht noch gefährlicheren Drogen und einer veränderten Konsumentengruppe weiterbestehen. Bei allem Streit besteht unter Fachleuten und Wissenschaftlern kein Zweifel: Das Drogenverbot und die hohen Preise haben eine deutlich abschreckende Wirkung auf potentielle Drogenkonsumenten. Eine Legalisierung selbst weicher Drogen würde durch den damit verbundenen Wandel des Wertebewußtseins zu einem erheblichen Anstieg der Zahl der Drogenkonsumenten führen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, statt über die falsche Richtung in der Drogenprävention und Bekämpfung der Drogenmafia zu philosophieren, sollten auch Sie von der sozialdemokratischen Fraktion endlich zu der Einsicht gelangen, daß wir die Strafverfolgungsbehörden mit besseren Mitteln ausstatten müssen, um so der Drogenmafia Paroli bieten zu können. ({4}) In Anbetracht der Tatsache, daß die Drogenmafia gerade in Deutschland immer mehr an Einfluß gewinnt, ist es unverantwortlich, wenn Sie sich weiterhin der Einführung des sogenannten Lauschangriffs widersetzen. Gleiches gilt übrigens auch für die von uns immer wieder geforderte Verbesserung der gesetzlichen Grundlagen für den Einsatz verdeckter Ermittler. Wenn Sie sich, meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD-Fraktion, in diesen Fragen den politischen Standpunkten der Union nähern würden, würden Sie einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Drogenmafia leisten. ({5}) Ich will abschließend, da ich auch Entwicklungspolitiker bin, noch einen Gedanken äußern. Ich glaube, daß wir mit innenpolitischen Mitteln allein den Kampf gegen die Drogenmafia nicht erfolgreich bestehen können. Solange es die reichen Industrienationen zulassen, daß Bauern in Mittel- und Südamerika durch die Einführung von Zöllen auf Bananen ihre Absatzmöglichkeiten auf unseren Märkten verlieren, dürfen wir uns nicht wundern, wenn diese Menschen ihre einzige Zukunftschance im Drogenanbau sehen. ({6}) - Herr Kollege, Sie wissen doch selbst, daß wir geklagt haben. Sie können uns doch nicht das Urteil der Richter vorwerfen. ({7}) - Herr Kollege, mit Niederlagen vor Verfassungsgerichten kennen Sie sich doch wohl viel besser aus als wir. ({8}) - Selbstverständlich haben wir verloren. Wir bedauern das. Ich will doch nur sagen, daß wir dieses Problem erkannt haben und daß wir einen Zusammenhang mit der Entwicklung der Drogenkriminalität in unserem Land sehen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Die Abgeordnete Frau Regina Schmidt-Zadel hat das Wort.

Regina Schmidt-Zadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Beginnen möchte ich mit einem Beispiel, das Sie vielleicht nachdenklich stimmt und dazu bringt, ihre heutigen Argumente zu überdenken, ein Beispiel, daß jedenfalls mich sehr beeindruckt hat. Wir waren mit unserer Arbeitsgruppe vor einigen Wochen in Liverpool und haben uns dort eine Klinik angesehen. Denn wenn man sich so etwas ansieht, wird man ja nicht dümmer, sondern lernt dazu. Uns stellte sich eine junge Krankenschwester vor, die dort in einer Klinik arbeitet. Diese Schwester berichtete uns, daß sie drogenabhängig sei - sie stand dazu -, viele fehlgeschlagene Therapien hinter sich habe und seit einem Jahr an einem ärztlich überwachten und kontrollierten Heroinprogramm teilnimmt. Seit dieser Zeit - so hat uns diese Schwester erzählt; es sind Kollegen hier, die mit dort waren - kann sie wieder ihrer Arbeit nachgehen, und sie kann vor allem ein menschenwürdiges Leben führen. Ich denke, das ist doch das, was wir wollen und worüber wir heute diskutieren. ({0}) - Sie war Krankenschwester und arbeitet wieder als Krankenschwester. Ich würde das nicht so bringen wie Sie. ({1}) - Wenn es eine Frage ist, dann ist es gut. Nach dem, was ich bisher hier gehört habe, wird die heutige Aktuelle Stunde nicht dazu beitragen, die Fronten entscheidend zu klären. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, diese Aktuelle Stunde unter dem Titel „Freigabe von Heroin" beantragen, so wird schnell deutlich, daß eines der Grundprobleme der Drogendiskussion überhaupt der Mangel an Differenzierung ist. ({2}) Tatsache ist: Niemand hat ernsthaft vor, Heroin freizugeben. Es steht weder die Legalisierung, der freie Bezug, harter Drogen zur Debatte noch die bisweilen diskutierte Möglichkeit einer staatlich monopolisierten Abgabe an Abhängige. Worum es letztlich geht - und nichts anderes sieht auch der Beschluß des Bundesrates von vor zwei Wochen vor, auf den meine Kollegin Gudrun Schaich-Walch hingewiesen hat -, ist die wissenschaftliche Überprüfung, ob die Verwendung von Heroin anstelle von Substitutionsstoffen in der Therapie Schwerstsüchtiger eine Möglichkeit der Hilfe ist. Es geht um die ärztlich kontrollierte Abgabe unter staatlicher und medizinischer Kontrolle mit - das ist besonders wichtig - intensiver sozial-therapeutischer Betreuung. Meine Betonung liegt auch auf der sozialtherapeutischen Betreuung. Ich sage es deshalb noch einmal so deutlich, weil von manchen hier heute der Eindruck erweckt wird, als stünde der Einzug harter Drogen in die Regale der Supermärkte bevor. Gesundheitsminister Seehofer - er ist ja heute hier ({3}) hat in der vergangenen Woche zum Antidrogentag der Vereinten Nationen ausgeführt: Drogenabhängigkeit bedarf vielfältiger Strategien. ({4}) Ein Hilfssystem muß verschiedene und differenzierte Angebote umfassen. Auch die Substitution ist dabei ein Angebot. Ich denke, Herr Minister, das ist ein Schritt in die richtige Richtung. ({5}) Ich habe Sie ja schon öfter erlebt; Sie sind lernfähig, und das ist ja auch ein ganz wichtiger Punkt in dieser Debatte. ({6}) Angesichts fehlender Therapie- und Entgiftungsplätze und der akuten gesundheitlichen Gefahren durch verunreinigte Drogen und HIV-Infektion setzt sich zunehmend auch in konservativen Kreisen die Erkenntnis durch - auch das haben wir heute hier gehört -, daß für eine bestimmte Gruppe von Drogenabhängigen die Substitutionstherapie eine aus gesundheitspolitischer Sicht notwendige Ergänzung zur Abstinenztherapie ist. Abhängige, die von den herkömmlichen Drogen nicht erreicht werden, dürfen nicht deshalb von jeglicher Hilfe ausgeschlossen bleiben, ({7}) weil ihnen die Anwendung von Drogenersatzstoffen erschwert oder verwehrt wird. Wer die Anwendung von Drogenersatzstoffen moralisch kritisiert, muß sich ernsthaft fragen lassen, ob es nicht viel unmoralischer ist, diese Drogenkranken im Teufelskreis der Abhängigkeit zu belassen oder, anders ausgedrückt, unterlassene Hilfeleistung - nichts anderes ist es dann - zu praktizieren. ({8}) - Habe ich auch; ich bin da sehr gut informiert. Diese gesundheitliche Hilfe macht auch den vom Bundesrat jetzt beschrittenen Weg notwendig. Ich sehe das rote Licht blinken. Ich will kurz noch etwas zu der Diskussion heute in den Ländern und den fehlenden Therapieplätzen sagen. Meine Damen und Herren, nehmen Sie sich ein Beispiel an dem, was Nordrhein-Westfalen macht: Therapie sofort. Ich denke, das ist auch ein Schritt in die richtige Richtung und anderen Bundesländern zur Nachahmung zu empfehlen. ({9})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile der Frau Abgeordneten Monika Brudlewsky das Wort.

Monika Brudlewsky (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000275, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Schmidt-Zadel, gleich zu Ihrem Erlebnis. Die Krankenschwester aus Liverpool hat mit Sicherheit eine Sonderstellung, denn eine Heroinabgabe erfordert erheblichen finanziellen und personellen Aufwand. Ein Heroinabhängiger braucht wegen der geringen Wirkungsdauer von Heroin alle fünf bis sechs Stunden neuen Stoff. Er müßte also mehrmals am Tag zur Heroinvergabestelle kommen. Rundum müßten Betreuung, Hygiene, psychosoziale Maßnahmen gewährleistet sein. ({0}) Wie bei diesem Tagesablauf ein geregeltes Arbeitsverhältnis zustande kommen soll, bleibt zu fragen, wenn es sich nicht um eine Krankenschwester handelt. Letztens ließ mich eine Meldung aufhorchen, daß ein Rückgang der Drogentoten und Erstkonsumenten von Rauschgift zu verzeichnen ist. Sehr erfreulich! Beim näheren Hinschauen aber gibt es für mich eine plausible Erklärung: In den neuen Bundesländern ist nämlich die beim Wahlkampf vom politischen Gegner vorausgesagte dramatische Entwicklung des Rauschgiftkonsums ausgeblieben. ({1}) Dies wirkt sich so auf die Gesamtstatistik für Deutschland aus. Weiter heißt es in dem Bericht: In den neuen Bundesländern sei bisher nur ein Mensch an Rauschgift gestorben, der außerdem aus München stammte. Von 123 903 im Jahre 1992 erfaßten RauschgiftstrafMonika Brudlewsky taten seien nur 728 in den neuen Ländern verübt worden. Soweit diese Meldung. Wir wollen die Augen nicht verschließen, daß dennoch auch bei uns das Problem des Rauschgiftkonsums vorhanden ist. Aber ich warne davor, der Forderung nach Freigabe von Heroin zu folgen und die Legalisierung von harten sowie von weichen Drogen zu betreiben. Dies hätte mit Sicherheit einen Anstieg des Erstkonsums gerade in den neuen Bundesländern zur Folge. ({2}) Vorhin wurde heute das Beispiel Schweden genannt. Hier gab man versuchsweise illegale Stoffe wie auch Heroin 1965 auf ärztliche Verschreibung frei. Dieses Experiment mußte 1967 rigoros gestoppt werden, weil der Umgang mit dem Rauschgift außer Kontrolle geriet. Und genau das würde auch bei uns passieren. Experimente am Menschen und Legalisierung können bestehende Probleme nicht lösen. Im Gegenteil. Es wäre tödlicher Leichtsinn gegenüber der heranwachsenden Generation. Und die Erfahrung im Leben sagt, daß der Mensch immer Wege und Mittel findet, um mißbräuchlich die ganze Hand zu ergreifen, wenn man ihm nur den kleinen Finger reicht. Wir sollten uns um den Ausstieg aus der Sucht kümmern und nicht den Einstieg erleichtern. ({3}) Wir würden hier die Tür einen breiten Spalt öffnen. Die Macht der Drogenabhängigen und die Macht derer, die daran ihr schmutziges Geld verdienen, wird diesen Spalt ganz öffnen und zum breiten Tor erweitern. Wir werden dieser Sache wie damals in Schweden nicht Herr. Dann ist wieder, wie immer, der Gesetzgeber aufgefordert, dem Mißbrauch Einhalt zu gebieten. Es wird dann wie immer gesagt: Jetzt müssen die Politiker aber endlich was unternehmen! Wir sollten lieber alle unsere Kräfte darauf ausrichten, Mafiaringe auszuheben, die sich auf Kosten dieser bedauernswerten Menschen bereichern. ({4}) Ein Appell an die Justiz: Der große Lauschangriff darf nicht länger tabu sein. Rauschgifthandel ist bei der organisierten Kriminalität die Haupteinnahmequelle. Wir müssen an die schlimmsten Verbrecher herankommen, die vor Mord nicht zurückschrecken, um ihre Geschäfte zu machen, die dann weiterhin Menschenleben zerstören, vor allem junge Menschenleben. Diese Kriminalität kann nicht mit fragwürdigen Experimenten bekämpft werden. Statt immer mehr zu liberalisieren, sollten wir auf bewährte Mittel der Abwehr von Unheil - und der Rauschgiftkonsum ist nichts als Unheil - zurückgreifen, die da sind: ganzheitliche Aufklärung der Jugend, Schaffung weiterer Therapieplätze - auch wenn es immer wieder daran mangelt, müssen wir daran ständig arbeiten - und bessere Möglichkeiten zur Aufspürung von Straftaten, die Drogensucht zur Folge hat. Ich danke Ihnen. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile dem Abgeordneten Professor Dr. Jürgen Meyer das Wort.

Prof. Dr. Jürgen Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Brudlewsky, die Annahme, daß man mit der kontrollierten Abgabe von Heroin an schwer Drogenabhängige den Einstieg in die Sucht ermöglichen würde, kann ich rational nicht nachvollziehen. ({0}) Nach meiner Auffassung hat die heutige Debatte erneut gezeigt, daß eine vernünftigere künftige Drogenpolitik zwischen zwei Extremen konzipiert werden muß. Das eine Extrem ist die Freigabe illegaler Drogen, weil auch legale freigegeben worden seien. Die Gleichsetzung von Heroin und Alkohol, wie sie in einem Beitrag angedeutet worden ist, durch eine akzeptierende, ich würde sagen: resignierende, Drogenpolitik ist nicht unser Weg. Frau Kollegin Bläss von der PDS, auch der Hinweis auf das Landgericht Lübeck kann nicht überzeugend sein, weil das Recht auf Rausch, von dem in jenem Urteil die Rede ist, vom Bundesgerichtshof längst verworfen worden ist. Das ist erledigt. Dies entspricht nicht dem Menschenbild des Grundgesetzes. ({1}) Das ist nicht unser Weg. Aber genauso, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, sollten wir doch nicht mit dem Schlachtenlärm und den Formeln von gestern einen maßvollen und sehr präzisen Vorschlag, wie er uns jetzt von der großen Mehrheit des Bundesrats zugeleitet wird, verurteilen. Ich habe mich gefragt, ob Sie überhaupt über diesen Entwurf geredet haben, als Sie sich z. B. mit Formeln wie „Der Staat wird zum Dealer", „Heroin wird freigegeben" dagegen gewandt haben. Es geht ja um die ärztlich kontrollierte Abgabe von Heroin. Ist Ihnen eigentlich nicht bekannt, ({2}) daß dieses unter bestimmten Voraussetzungen schon geltendes Recht ist? Ist Ihnen nicht bekannt, daß die Verschreibung von Heroin für einen drogenabhängigen Aidskranken mit geringer Lebenserwartung nach geltendem Recht rechtmäßig ist? ({3}) Wissen Sie das eigentlich nicht? Und müßten Sie dann nicht mit uns gemeinsam überlegen, wo eine vernünftige Grenze zu ziehen ist, statt sich mit Formeln, die an Dr. Jürgen Meyer ({4}) der Sache vorbeigehen, gegen einen solchen Vorschlag zu wenden? ({5}) Und warum reden Sie denn eigentlich von Schweden in den 60er Jahren? Ist Ihnen die Entwicklung danach nicht bekannt? ({6}) Wenn Ihnen schon die Untersuchungen des Freiburger Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht über die internationale Entwicklung in den 80er Jahren nicht zugänglich oder zu umfangreich sein mögen, lesen Sie doch die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" ! Da finden Sie in vielen Artikeln den Hinweis, daß die repressive Drogenpolitik gescheitert ist. ({7}) Herr Minister Seehofer, Sie haben gesagt, Drogenabhängigkeit sei Krankheit. Richtig! Kranke werden nicht vom Staatsanwalt verfolgt. Dann sagen Sie doch klar und deutlich, daß Repression an allerletzter Stelle kommt. Das Wichtigste ist die Prävention, die Suchtprophylaxe. ({8}) Ich hoffe, wir stimmen darin überein. Dann ziehen Sie bitte mit uns daraus die Folgerung, daß man im Erziehungssystem ansetzen muß, in den Familien, in den Schulen. Und weil es nicht ausreicht, Schüler, die abhängig sind, nur zur Kenntnis zu nehmen, sollte man, meine ich, Sozialarbeiter in Schulen einsetzen, die sich dann auch um die Familien kümmern; da kommt man an das Problem heran. ({9}) Was den zweiten Bereich, die Therapie, angeht, so stimmen wir doch hoffentlich darin überein, daß wir mehr Therapieplätze brauchen. In der Großen Koalition in Stuttgart - und da sitzen Sie, Herr Kollege Sauer, mit drin - hat die SPD dafür gesorgt, daß in dieser Legislaturperiode neue Therapieplätze geschaffen werden. Ich bemühe mich darum, daß einige in meine Region Ulm kommen. ({10}) - Versuchen Sie es für Ihre Region! Dann wird es nicht zuletzt durch die Einwirkung der SPD in Baden-Württemberg ein bißchen besser werden. An letzter Stelle steht das Strafrecht. Sie fordern hier gebetsmühlenartig den „Großen Lauschangriff". ({11}) Ich bin ja bereit, darüber zu diskutieren; das ist bekannt. Aber legen Sie dann doch nicht - das ist eines unserer Themen morgen vormittag - einen Gesetzentwurf über Gewinnabschöpfung vor, der zahnlos ist, der die Schwerkriminellen, d. h. die internationalen Drogenhändler, beim Geschäft der Geldwäsche und ihre Helfershelfer bei den schwarzen Schafen des Kreditgewerbes begünstigt! Dies wird übrigens demnächst von der Stuttgarter Landesregierung - Sprecher: Ministerpräsident Teufel - über den Bundesrat attackiert. Sie verabschieden hier ein Gesetz, das zahnlos ist, wenn es um die Schwerkriminellen geht. ({12}) Wir wollen endlich aufhören mit der Jagd der Polizei auf Abhängige. Lassen Sie uns zusammen gegen die vorgehen, die zu Lasten unserer Kinder Geschäfte machen! Das ist eine vernünftige Politik. ({13}) Lassen Sie uns diese Politik gemeinsam konzipieren, statt mit den Formeln von vorgestern aufeinander loszugehen! Ich danke Ihnen. ({14})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile als letztem Redner in der Aktuellen Stunde dem Abgeordneten Hüppe das Wort.

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den vergangenen Monaten habe ich häufig mit Jugendlichen diskutiert und festgestellt, daß die Akzeptanz des Konsums illegaler Drogen erschreckend zugenommen hat; das bezieht sich auf wenige Monate. Allein das ständige Gerede von Legalisierung und Teillegalisierung, das ich leider auch heute wieder vernehmen mußte, hat dazu entscheidend beigetragen. ({0}) Ich kann an dieser Stelle auch Ihnen von der SPD nicht den Vorwurf ersparen, daß Sie mit Ihren Leuten dazu beigetragen haben. Dies gilt zum einen für das Urteil Ihres Parteifreundes Neskovic, der das Recht auf Rausch proklamierte, aber sicherlich auch für die Bundesratsinitiative der Hansestadt Hamburg. Daß gerade Hamburg den Antrag auf Abgabe von Heroin an Süchtige stellt, ist um so unverständlicher, als Sie kaum Hilfen zur Verfügung stellen und Ihre eigenen Erfahrungen schon selber hätten prüfen können. ({1}) Im Jahre 1986 gab es in Hamburg einen plötzlichen Preisverfall bei Heroin von 50 % bei höherem Reinheitsgehalt. In diesem Jahr lag die Zahl der Erstkonsumenten bei 208 Personen. Innerhalb von zwei Jahren stieg diese Zahl auf 828 Personen. Bundesweit wurden die Neueinsteiger - auch auf Grund unserer Politik - immer älter; nur in Hamburg gab es in dieser Zeit genau den entgegengesetzten Trend. Die Zahl der Erstkonsumenten unter 25 Jahren stieg von 40 % im Jahr 1986 auf 54 % im Jahr 1988. ({2}) Das ist ein erneuter Beweis dafür, daß durch die erhöhte Verfügbarkeit von Drogen auch die Zahl der Konsumenten steigt. Trotzdem bleibt alles beim alten. Anstatt mehr Therapieplätze zu schaffen und endlich die Nachsorge nach erfolgtem Entzug ernsthaft anzugehen, gehen Sie den billigen Weg: Man debattiert die Abgabe von Heroin und behandelt nicht die Krankheit, sondern kümmert sich lediglich um die Symptome. ({3}) - Ich komme gleich darauf. - Es müßte doch auch Ihnen klar sein, daß Sie mit der Abgabe erneut den Preis von Heroin insgesamt senken und damit erneut die Verfügbarkeit erhöhen werden. In dem Gesetzesantrag von Hamburg wird als Ziel - und jetzt zitiere ich einmal, Herr Meyer, damit Sie nicht glauben, wir läsen Ihre Dinge nicht - die Gewinnung neuer Erkenntnisse zur Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten genannt. Schon wieder soll ein Versuch an Menschen gemacht werden, ohne daß bisher eine ernst zu nehmende Auswertung der anderen Versuche wie z. B. der Methadonvergabe erfolgt ist. Liegt es vielleicht daran, daß die Ergebnisse wie z. B. die des Methadonvergabeversuchs in NRW eher ernüchternd als hoffnungsvoll sind? Jetzt sage ich etwas zu Ihrer Bemerkung, Herr Singer. Abgesehen davon, daß ich im „Spiegel" zwar nicht falsch, aber zumindest verkürzt zitiert worden bin, kann ich natürlich sagen, daß es bei uns keine Denkverbote über Methadon gibt. Auch Herr Seehofer hat deutlich gemacht, daß wir über neue Indikationen nachdenken. Das ist der Unterschied zu Ihnen. Wir sind nicht ideologisch nur auf den repressiven Bereich festgezurrt, sondern wir denken auch über neue Wege nach. ({4}) Ich sage Ihnen auch, wer anscheinend Scheuklappen hat. Wenn Herr Schnoor in Nordrhein-Westfalen behauptet, in den Justizvollzugsanstalten gebe es kein Drogenproblem ({5}) - hören Sie doch mal zu -, und sich weigert, das needle sharing anzuwenden, wozu wir ja die Möglichkeit geschaffen haben, dann muß ich fragen: Wer macht denn hier eigentlich die Augen zu? ({6}) Meine Damen und Herren, ich bitte noch einmal: Untersuchen Sie doch die Hilfen, die tatsächlich Heilung bringen, nämlich die, die den Ausstieg aus der Sucht schaffen! Hier können wir wirkliche Erfolge vorweisen. Während vor Jahren die Erfolgsrate bei drogenfreien Therapien nur bei 10 % lag, konnten wir inzwischen die Rate auf 30 bis 40 % erhöhen. Ich glaube, da müssen wir weitermachen. Wir brauchen noch mehr differenzierte Therapien. Dies gilt insbesondere für weibliche Drogenabhängige, die z. B. Prostitutionserfahrung haben. Hier müssen wir ansetzen. Es ist ungeheuerlich, wenn diese Frauen, die natürlich auch Erfahrungen mit Männergewalt gemacht haben, nur Plätze angeboten bekommen, wo sie in der Mehrzahl wieder mit Männern zusammenkommen. Dies gilt auch für Therapiewillige mit Kindern. Auch hier müssen wir neue Methoden entwickeln. Meine Damen und Herren, wenn Sie sagen, es reiche aus, was geleistet worden ist, dann will ich Ihnen sagen, daß immerhin 8 % der Drogentoten bereits auf einer Therapieliste standen. Ich sage Ihnen: Da hätten wir ansetzen müssen. Diese Menschen könnten heute noch leben, wenn sie rechtzeitig ihren Therapieplatz - insbesondere in den SPD-Ländern - bekommen hätten. ({7}) Die Redezeit ist leider zu Ende. Ich möchte bitten, daß wir nicht nur Schaukämpfe machen, sondern uns wirklich bemühen, die Hilfen durchzusetzen, und nicht nur darüber reden. Herzlichen Dank. ({8})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aktuellen Stunde. Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 9a und b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Egon Susset, Meinolf Michels, Richard Bayha, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Günther Bredehorn, Ulrich Heinrich, Johann Paintner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft über Bescheinigungen besonderer Merkmale von Agrarerzeugnissen und Lebensmitteln ({0}) - Drucksache 12/5025 - ({1}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({2}) - Drucksache 12/5321 - Berichterstattung: Abgeordneter Matthias Weisheit b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Egon Susset, Meinolf Michels, Richard Bayha, weiteren Abgeordne14510 Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg ten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Günther Bredehorn, Ulrich Heinrich, Johann Paintner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" - Drucksache 12/5137 - ({3}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({4}) - Drucksache 12/5322 Berichterstattung: Abgeordneter Horst Sielaff Zu diesem Gesetz liegen Änderungsanträge der Fraktion der SPD und der Gruppe PDS/Linke Liste vor. Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer halben Stunde vor. - Das Haus ist offensichtlich damit einverstanden. Es ist so beschlossen. Wir können mit der Debatte beginnen. Ich erteile zunächst dem Abgeordneten Peter Bleser das Wort.

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute zwei Gesetzentwürfe der Koalition, nämlich erstens den Entwurf eines Lebensmittelspezialitätengesetzes und zweitens den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes". Einen dritten, ursprünglich auf der Tagesordnung stehenden Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung pflanzenschutzrechtlicher und saatgutrechtlicher Vorschriften haben wir wieder abgesetzt. ({0}) - Die Erklärung kommt, Herr Sielaff: Wir, die CDU/ CSU-Fraktion, halten es auf Grund der Kritik, die es in einigen Verbänden noch gab, ({1}) für angebracht, die Beratung dieses Gesetzentwurfs zu verschieben und, wenn möglich, die entsprechenden Vorschläge noch zu berücksichtigen. Meine Damen und Herren, der EG-Agrarrat hat im Rahmen des Pakets der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik am 14. Juli 1992 eine Verordnung über Bescheinigungen besonderer Merkmale von Agrarerzeugnissen und Lebensmitteln beschlossen. Ziel dieser Verordnung ist die Förderung der Qualität und des Absatzes von Agrarerzeugnissen und Lebensmitteln, die aus traditionellen Zutaten bestehen oder auf traditionelle Art und Weise hergestellt sind. Ziel ist vor allem der Verbraucherschutz. Zur Durchführung der EG-Verordnung über Lebensmittelspezialitäten werden die EG-Mitgliedstaatenverpflichtet, Verfahrenswege und Überwachungsmodalitäten einzuführen. In Deutschland bedarf es zur Durchführung eines eigenen Gesetzes, das Zuständigkeiten, Verfahren und Strafvorschriften regelt, da vorhandene Gesetze keine ausreichende Ermächtigung bieten. Die Verordnung der EG eröffnet zwei Möglichkeiten: Erstens. Die Hersteller traditioneller Spezialitäten können die Eintragung der besonderen Rezeptur einer Spezialität, z. B. Pumpernickel, Kalbsleberwurst, spezielle Kuchensorten oder andere nicht alltägliche Lebensmittel, in ein von der EG-Kommission geführtes Register beantragen. Sämtliche Hersteller, die die eingetragene Rezeptur einhalten, können dann auf ihren Produkten ein noch festzulegendes EG-Logo führen. Dieses Logo dient, ähnlich wie ein nationales Gütezeichen, sowohl der Werbung als auch der Verbraucherinformation. Zweitens. In bestimmten Fällen können die Hersteller zusätzlich den Schutz der Produktbezeichnung beantragen. Dann dürfen nur noch solche Produkte mit einem bestimmten Namen bezeichnet werden, die nach der eingetragenen Rezeptur hergestellt sind. Als Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes war ursprünglich der 24. Juli dieses Jahres vorgesehen, um die nationale Umsetzung der EG-Verordnung, die an diesem Tag in Kraft treten wird, fristgemäß zu erreichen. ({2}) Ein Abschluß des Gesetzgebungsverfahrens ist bis zu diesem Termin jedoch nicht möglich, da der Bundesrat den Gesetzentwurf erst nach der Sommerpause beraten wird. Das Gesetz wird deshalb erst am Tage der Verkündung in Kraft treten. Meine Damen und Herren, ich begrüße die Initiative der Koalitionsparteien aus folgenden Gründen: Der Verbraucherschutz im EG-Binnenmarkt wird verbessert. Jeder Verbraucher weiß nach dieser Verordnung, was er unter einem bestimmten Produktnamen mit dem Logo der EG zu erwarten hat. Traditionelle Lebensmittel bleiben in ihrer ursprünglichen Rezeptur erhalten. Nicht zuletzt werden regionale Besonderheiten bei Lebensmitteln beibehalten. Durch das Gesetz bleiben in einem großen Europa - das halte ich für besonders wichtig - auch im Bereich der Eßkultur Originalität und Regionalität erhalten. Die Landwirtschaft bestimmter Regionen wird durch den Schutz typischer Lebensmittel vor der Nachahmung durch größere Lebensmittelhersteller bewahrt. Jeder Hersteller kann - aber keiner muß - seine Lebensmittelspezialität durch die Eintragung in das EG-Register schützen lassen. Fazit der Bewertung des Gesetzentwurfs: Der Verbraucher wird vor Irreführung geschützt, und innerhalb der EG werden landestypische Spezialitäten gesichert und bewahrt. Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion und die F.D.P.-Fraktion haben noch einen weiteren Gesetzentwurf eingebracht, nämlich den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des KüstenschutzesTM. Das Gesetzesvorhaben liegt auch als Regierungsentwurf vor. Meine Damen und Herren, Umweltziele müssen stärker als bisher in der Agrarstrukturpolitik verankert werden. Rechtsgrundlage dafür wird die entsprechende Änderung der Gemeinschaftsaufgabe sein. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verfolgen wir das Ziel, die markt- und standortangepaßte Landbewirtschaftung als Teil der Maßnahmen zur Verbesserung der Produktions- und Arbeitsbedingungen in der Land- und Forstwirtschaft in die Gemeinschaftsaufgabe aufzunehmen. Dabei geht es um folgende Maßnahmen: Extensivierung im Ackerbau oder bei Dauerkulturen, Extensivierung der Grünlandnutzung und ökologische Anbauverfahren. Auf der Basis des neuen Förderungsgrundsatzes sollen den Landwirten Fördermittel für extensive Acker- und Grünlandnutzung sowie für ökologische Anbauverfahren angeboten werden. Damit werden die Leistungen der Landwirtschaft zur Erhaltung von Natur und Umwelt gezielt honoriert, und es wird ein Beitrag zur gewünschten Marktentlastung innerhalb der EG geleistet. Die Finanzierung - das ist zu loben - erfolgt in den alten Bundesländern zu 50 % und in den neuen Bundesländern zu 75 % aus der EG-Kasse. Nach der Verabschiedung des Gesetzentwurfs sollen die Programme den Landwirten bereits im jetzt anlaufenden Wirtschaftsjahr 1993/94 angeboten werden können. Daher auch die zügige Verabschiedung des Gesetzentwurfs noch vor der Sommerpause. Die Landwirte sollen damit bereits im kommenden Herbst in die Lage versetzt werden, bei der Anbauplanung ihre Dispositionen zu treffen. Meine Damen und Herren, die Bundesmittel 1993 für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" betragen insgesamt 2,63 Milliarden DM. ({3}) Die derzeitige Spardiskussion läßt keine Aufstokkung, sondern eher eine Reduzierung dieser Mittel für kommende Jahre erwarten. ({4}) Durchsichtig ist die Forderung der Länder an die Bundesregierung, Herr Sielaff, zusätzliche Mittel zur Finanzierung der Extensivierungsmaßnahmen bereitzustellen. ({5}) Dies ist in Anbetracht der in jüngster Zeit von der SPD zum Agrarbereich gemachten Kürzungsvorschläge wie die Abschaffung der Gasölbeihilfe ({6}) oder die Aufgabe der Reform der agrarsozialen Sicherung unglaubwürdig. ({7}) Grundsätzlich muß gelten, daß die Mittel der Gemeinschaftsaufgabe zur Förderung landwirtschaftlicher Betriebe verwendet werden. Dies gilt insbesondere deshalb, weil nach der EG-Agrarreform nur wenige Jahre Zeit bleiben, diese landwirtschaftlichen Betriebe EG-weit wettbewerbsfähig zu machen. Wir lehnen deshalb den Antrag der SPD ab, in dem zu § 1 Abs. 1 gefordert wird, daß die Förderung einer markt- und standortangepaßten, umweltgerechten und den natürlichen Lebensraum schützenden, pflegenden und entwickelnden Landbewirtschaftung als Ziel festgeschrieben wird. ({8}) Ich sehe die Gefahr, daß damit für die Länder die Möglichkeit geschaffen wird, die Mittel der Gemeinschaftsaufgabe für allgemeine Umweltschutzaufgaben wie das Anlegen von Feuchtbiotopen oder von Naturschutzgebieten zu mißbrauchen. ({9}) - Das ist eine Länderaufgabe, Herr Sielaff. Auch den zweiten Antrag der SPD, die Maßnahmen der Dorferneuerung, soweit sie für die Land- und Forstwirtschaft bedeutsam sind, in das Gesetz aufzunehmen, lehnen wir ab. ({10}) Die Maßnahmen der Dorferneuerung werden von uns nach wie vor unterstützt und sind erwünscht. ({11}) Auf Grund der Finanzlage dürfen sie aber nur nachrangig zu dem von mir genannten Ziel der besseren Förderung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Betriebe Berücksichtigung finden. Eine Festschreibung würde uns diese Flexibilität nehmen. Meine Damen und Herren, die Gemeinschaftsaufgabe ist grundsätzlich zu überprüfen. Ich hoffe, daß bei der Diskussion zwischen dem Bund und den Ländern neben der Förderung der extensiven Landwirtschaft, die ich für notwendig halte, auch der Erhalt der selbständigen bäuerlichen Familienbetriebe mit der Möglichkeit, ein ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften, ({12}) Ziel der Gemeinschaftsaufgabe bleibt und verstärkt wird. Insbesondere die Beibehaltung von Obergrenzen in den Förderprogrammen muß neu diskutiert werden. Wir legen Ihnen heute, kurz vor der Sommerpause, zwei wichtige Gesetzesvorhaben zur Abstimmung vor. Sie sind notwendig, um die EG-Agrarreform national umzusetzen und damit auch die Interessen der Landwirte, der Verbraucher, aber auch der Umwelt zu wahren. Ich bitte um Ihre Zustimmung. ({13}) 14512 Deutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Horst Sielaff.

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da wir uns beim Lebensmittelspezialitätengesetz einig sind, möchte ich mich auf den anderen Bereich konzentrieren, nämlich auf die Änderung des Gesetzes über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes". ({0}) - Eben. Agrarpolitik ist nicht nur Politik für einen Berufsstand, sondern sie ist wesentlich mehr: Agrarpolitik muß zur Politik für den gesamten ländlichen Raum werden. Neben der Nahrungssicherung dient die Agrarpolitik im besonderen Maße der Entwicklung des ländlichen Raumes und dem Erhalt der gewachsenen Kulturlandschaft. ({1}) Insofern muß Agrarpolitik heute auch in die Strukturpolitik insgesamt eingebunden werden. ({2}) Wir brauchen, damit unsere Worte bezüglich Landwirtschaft, ländlicher Raum, Naturschutz und Landschaftspflege nicht leere Hülsen bleiben, einen weiter gefaßten Agrarstrukturbegriff als bisher. ({3}) - Das habe ich auch nicht gesagt. Darunter fällt dann auch die Förderung der Dorferneuerung, soweit sie für die Land- und Forstwirtschaft bedeutsam ist. ({4}) Auch der von Bundesminister Borchert propagandistisch breit angelegte ({5}) künftige agrarpolitische Weg braucht, wenn er wirklich ernstgemeint ist, nicht die Instrumente von gestern. Er muß, will er erfolgreich sein, räumliche und sachliche Schwerpunkte in der Förderung möglich machen, ({6}) die dieser Situation und der gewollten Entwicklung in der Landwirtschaft und in unseren Dörfern im ländlichen Raum gerecht werden können. ({7}) - Auf die Schwerpunkte komme ich noch, Herr Kollege Hornung. Ich weiß ja, daß Sie gerne Zwischenrufe machen, weil Sie hier kaum noch reden dürfen. Aber das ist Ihr Problem, nicht meins. ({8}) - Schauen Sie doch nach. Vor diesem Hintergrund, den ich eben andeutete, sind wir Sozialdemokraten der Überzeugung: Der vorgelegte Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen ist entschieden zu kurz geraten. ({9}) Ein Weiteres: Die Situation im ländlichen Raum wird immer schwieriger. Die Abwanderungszahlen, die die Zeitschrift „Focus" diese Woche veröffentlicht hat, belegen das. In den neuen Ländern führt die Abwanderung der jungen Leute aus dem ländlichen Raum mehr und mehr zu einer Entleerung der ländlichen Räume. Zugleich verstärkt der Zustrom von Menschen in die westlichen Ballungsräume auch dort die Probleme, insbesondere auf dem knappen Wohnungsmarkt. Von den Zwangzigjährigen, die derzeit im Osten leben, will jeder vierte kurz- oder mittelfristig die ländlichen Räume des Ostens verlassen. ({10}) Wenn wir also nicht wollen, daß die vermehrte Aufgabe von Bauernhöfen im Westen und die Misere in der Landwirtschaft im Osten eine solche Entwicklung noch weiter forcieren, müssen wir endlich neue Entwicklungsmöglichkeiten für den ländlichen Raum schaffen. - Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, da können eigentlich selbst Sie klatschen. ({11}) Insofern sind Dorferneuerung, infrastrukturelle Maßnahmen sowie die Schaffung von Arbeitsplätzen außerhalb der Landwirtschaft gerade für die Entwicklung der ländlichen Räume von besonderer Bedeutung. ({12}) Das hat die Bundesregierung bei ihren Kürzungsvorschlägen, die sie jetzt vorlegt, offensichtlich nicht bedacht. ({13}) Es ist der falsche Weg in die Zukunft, wenn die Bundesregierung gerade die Dorferneuerung neben anderen überbetrieblichen Maßnahmen in den alten Bundesländern aussetzen will. Das Argument, der Rahmen des heute zu beratenden Gesetzes dürfe nicht erweitert werden, zieht dabei überhaupt nicht. ({14}) - Natürlich steht die Forderung drin; auch das wissen wir. Wir wollen aber damit, daß wir ausdrücklich die Dorferneuerung als einen Punkt festschreiben, ({15}) die Bedeutung der Dorferneuerung hervorheben. ({16}) Die Dorferneuerung, soweit sie für die Land- und Forstwirtschaft bedeutsam ist, gehört jetzt schon - da haben Sie völlig recht - in den allgemeinen Teil. Wir wollen - ich sage es noch einmal - die Bedeutung der Dorferneuerung durch einen eigenen Titel innerhalb der Gemeinschaftsaufgabe hervorheben. Es ist völlig unverständlich - ich glaube, auch für die Öffentlichkeit -, daß sich die Regierungsfraktionen dem widersetzen. Wir können uns das eigentlich nur so erklären, daß diese Aufgabe im allgemeinen Streichkonzert ganz, möglichst sogar unauffällig, geopfert werden soll. ({17}) So kann auch der neue Agrarminister sein erklärtes Ziel, die Entwicklung der Dörfer zu fördern, nicht erreichen. Wenn es uns nicht gelingt, Dörfer in einem lebenswerten ländlichen Raum zu erhalten bzw. zu entwickeln, wird sich auf längere Zeit auch keine wettbewerbsfähige Landwirtschaft halten können. Wenn heute schon in manchen ländlichen Räumen der neuen Länder 0,5 Vollerwerbskräfte je 100 ha landwirtschaftliche Nutzfläche in Marktfruchtbaubetrieben keine Ausnahme sind, dann ist eben der Beitrag der Landwirtschaft zur Bevölkerungsdichte zu gering, um den Ausbau einer einigermaßen ausreichenden Infrastruktur rechtfertigen zu können. ({18}) Die Schwerpunktsetzung allein bei der Förderung von Investitionen in landwirtschaftlichen Einzelbetrieben wird nicht aufgehen, wenn nicht auch das Umfeld, das Dorf und der ländliche Raum, in die neue Politik einbezogen werden. Wir wollen mit unserem Antrag zu § 1 des Gesetzentwurfs verdeutlichen, daß die Landbewirtschaftung, um gefördert werden zu können, nicht nur markt- und standortangepaßt sein muß, sondern daß diese Landbewirtschaftung auch umweltgerecht sein und zum Schutz sowie zur Pflege und Entwicklung des natürlichen Raumes beitragen muß. ({19}) Die flankierenden Maßnahmen sollen - so war ja auch ihre ursprüngliche Bedeutung - den Einstieg in eine Ökologisierung der Agrarpolitik erleichtern und für diese Zielsetzung konsequent genutzt werden. Dies wollen wir durch die Formulierung in unserem Antrag „Förderung einer markt- und standortangepaßten, umweltgerechten und den natürlichen Lebensraum schützenden, pflegenden und entwikkelnden Landbewirtschaftung" unterstreichen. Das ist übrigens sinngemäß die Formulierung, die auch im Beschluß des Umweltausschusses der Länder festgelegt worden ist. ({20}) Meine Damen und Herren, der Koalitionsentwurf ist, was die Förderung ökologisch sinnvoller Produktionsweisen angeht, völlig unbefriedigend und unzureichend. Die Beschränkung auf markt- und standortgerechte Landbewirtschaftung ist ein sehr zahnloser Tiger; denn was markt- und standortgerecht ist, muß noch nicht umweltgerecht sein. Unser Antrag zu dem Gesetzentwurf, der eine sehr viel weitergehende Formulierung enthält und damit auch der EG-Verordnung über die flankierenden Maßnahmen besser entsprochen hätte, wurde im Ausschuß leider abgelehnt. Die EG-Verordnung sieht aber ausdrücklich vor, meine Herren von der Regierungskoalition - das wissen Sie genau -, daß die Mitgliedstaaten zur Förderung einer umweltgerechten und die natürlichen Lebensräume schützenden Landwirtschaft verpflichtet sind. Im übrigen wundem wir uns schon über die F.D.P. Sie präsentiert sich in der Öffentlichkeit als die große ökologische Kraft in der Koalition. Diese Kraft bleibt aber offensichtlich jedesmal, wenn es um faktische Beschlüsse geht, auf der Strecke. Reden und Taten stehen hier nicht miteinander im Einklang. ({21}) Meine Damen und Herren, ich würde mich freuen, wenn Sie sich neu besinnen und unseren Änderungsanträgen zustimmen würden. Wir meinen, das wäre die Realisierung eines künftigen guten Weges für die Agrarpolitik. Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. Wir haben von einer Einrede wegen Nichteinhaltung der Frist von 48 Stunden zwischen der Beratung im Ausschuß - wir haben erst gestern beraten können - und der Diskussion hier im Plenum Abstand genommen, weil wir wollen, daß den Ländern bei der Umsetzung der flankierenden Maßnahmen klare Vorgaben gemacht werden. Wir wollen, daß die Landwirte, die sich der verantwortungsvollen Aufgabe der Extensivierung der Produktion stellen wollen, endlich Sicherheit haben und wissen, woran sie sind. Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß sich vielleicht der eine oder andere besinnt und unserem vernünftigen Änderungsantrag zustimmt. ({22}) - Herr Hornung, ich weiß, daß Sie persönlich diese Kraft wahrscheinlich nicht haben.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Günther Bredehorn. ({0})

Günther Bredehorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000256, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten abschließend zwei Gesetze, die auf den ersten Blick sehr wenig miteinander zu tun haben. Bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings, daß wir heute zwei Gesetze verabschieden, in deren Bereich sich in den nächsten Jahren entscheiden wird, ob wir mit unserer Landwirtschaft den Anschluß an die über weite Strecken wettbewerbsstärkere Konkurrenz in der EG und im EG-Ausland schaffen werden. Es geht zum einen um mehr Marketing für Agrarprodukte und zum anderen um die Anpassung unserer Agrarstrukturen an moderne Standards. Das Lebensmittelspezialitätengesetz dient zunächst dem Verbraucher. Er kann sich in Zukunft auf gleichbleibende Spezialitätenrezepturen und -qualität verlassen. Dieses Gesetz eröffnet den Produzenten regionaler Spezialitäten verbesserte Marketingchancen und Zugang zu dem bei der EG-Kommission geführten Register. Bedingt durch Marktordnungen und Interventionsregelungen hat sich die Landwirtschaft in der Vergangenheit zu oft mehr auf das Produzieren konzentriert und sich weniger um das Vermarkten gekümmert. ({0}) Mit unterschiedslosen Massenprodukten sind heute auf Überschußmärkten keine Marktanteile zu erringen. Deshalb gilt es, jede Chance zur Produktdifferenzierung zu nutzen. Der Schutz von Spezialitäten, wie er durch dieses Gesetz angestrebt wird, kann auch regionalen Spezialitäten EG-weit durchaus neue Chancen eröffnen. Die Rezeptur der Spezialität kann in ein EG-Register eingetragen werden, mit einem EG-Logo versehen werden und den Schutz der Produktbezeichnung erhalten. Zusammen mit einem aktiv-pfiffigen Marketing können hier Marktanteile gehalten oder neue Marktanteile gewonnen werden. Dies läuft nicht von selbst. Mit dem Gesetz schaffen wir den rechtlichen Rahmen. Meine Damen und Herren, bei der Änderung des Gesetzes über die Gemeinschaftsaufgabe geht es um die strukturelle Anpassung. Mit der EG-Agrarreform wurden notwendige und sinnvolle sogenannte flankierende Maßnahmen beschlossen. Neben den Möglichkeiten einer Vorruhestandsregelung und der Aufforstung geht es auch um eine umweltgerechte, markt- und standortangepaßte Landbewirtschaftung. ({1}) Ziel dieser Maßnahmen ist es, angesichts der Überproduktion das Zuviel an Flächen und Arbeitskräften sinnvoll aus der landwirtschaftlichen Produktion herauszubekommen. Der Strukturwandel wird sich also fortsetzen. Aufgabe der Agrarpolitik ist es, diesen Strukturwandel sozial abzufedern. ({2}) Der vorliegende Gesetzentwurf erweitert also die Förderungsmöglichkeiten der Gemeinschaftsaufgabe für extensive Produktionsverfahren im Ackerbau, für extensive Grünlandnutzung und für ökologische Anbauverfahren. Standortangepaßte Landbewirtschaftung, die die Nachhaltigkeit der Bodennutzung erhält, ist danach noch stärker möglich. Ich bin etwas überrascht über Ihre Ausführungen, Herr Kollege Sielaff. Sie müßten unserem Gesetz wirklich zustimmen. Gerade das, was Sie hier verlangt haben und von dem Sie behaupten, daß die F.D.P. es - angeblich - nicht durchsetzen wolle, wird hier versucht. ({3}) Ich kann Ihnen nur empfehlen: Stimmen Sie dem Gesetz zu!

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Bredehorn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sielaff?

Günther Bredehorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000256, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber gern.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte, Kollege Sielaff.

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege, können Sie mir denn einmal sagen, wo in Ihrem Gesetzentwurf die umweltgerechte Landwirtschaft erwähnt ist, und zwar im Text des Gesetzes erwähnt ist? ({0}) Ich weiß auch, daß Sie den Mut haben, in der Erläuterung davon zu sprechen. Aber wo steht das in Ihrem Gesetzentwurf?

Günther Bredehorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000256, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es geht um die Möglichkeit - das habe ich ja gerade erläutert -, extensive Produktionsverfahren im Ackerbau, in der Grünlandnutzung, in ökologischen Anbauverfahren mit in die GA-Förderung hineinzunehmen, d. h. die standortangepaßte Landbewirtschaftung über die GA entsprechend zu entwickeln und zu fördern. Genau das steht in diesem Gesetzentwurf. Das würden Sie feststellen, wenn Sie es denn einmal läsen. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Sielaff?

Günther Bredehorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000256, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte, Kollege Sielaff.

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, können Sie dann nicht zumindest einem Teil unseres Änderungsantrags, nämlich dem ersten Teil, zustimmen, in dem wir genau das, was Sie eben gesagt haben, aufgeführt haben? Warum weigern Sie sich dann, wenn wir genau das sagen, was Sie fordern, dieser Aufnahme in das Gesetz zuzustimmen? ({0})

Günther Bredehorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000256, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, genau das steht im Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen. Lesen Sie das bitte nach. Von daher könnten wir uns sicherlich einigen. Über die Dorferneuerung sage ich gleich noch etwas. Meine Damen und Herren, angesichts knapper werdender Haushaltsmittel und angesichts des finanziellen Drucks auf die Gemeinschaftsaufgabe fordere ich für die F.D.P.-Bundestagsfraktion alle Verantwortlichen und Beteiligten auf, das verbleibende Geld auf die wirklich wichtigen Fördertatbestände zu konzentrieren. ({0}) Deshalb, Herr Kollege Sielaff, müssen wir auch die SDP-Forderung nach zusätzlicher Förderung der Dorferneuerung ablehnen. Bundeslandwirtschaftsminister Borchert hat richtig festgestellt, daß die deutsche Landwirtschaft, insbesondere in den alten Bundesländern, erhebliche Strukturdefizite gegenüber der Landwirtschaft bei den EG-Nachbarn und im EG-Ausland aufweist. Wenn das aber so ist, muß die Agrarpolitik hier einen Schwerpunkt setzen. Wir dürfen die einzelbetriebliche Investitionsförderung der Betriebe nicht vernachlässigen, meine ich, sondern müssen sie eher forcieren, ({1}) damit unsere Betriebe in der EG langfristig wettbewerbsfähig bleiben bzw. werden. ({2}) Aufbau und Erhaltung wettbewerbsfähiger Betriebe muß das zentrale Ziel in der Agrarstrukturpolitik sein. Hier müssen die Prioritäten gesetzt werden.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Bredehorn, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Sielaff?

Günther Bredehorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000256, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gern.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte.

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege Bredehorn, ich weiß ja, daß es manchmal schwierig ist, innerhalb kurzer Zeit alles zu sagen, was man sagen möchte, und daß vielleicht auch einmal ein Fehler unterläuft. Ich habe mir auf Grund Ihrer Ausführungen Ihren Gesetzentwurf noch einmal angeschaut. Sie haben hier eben behauptet, daß das, was wir fordern, in der Überschrift steht. Das stimmt nicht. Ich kann Ihnen das gern zur Verfügung stellen. ({0}) - Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis! Bei der Problembeschreibung -

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Fragen Sie bitte, Herr Kollege Sielaff!

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ist es richtig, daß das, was wir fordern, nämlich eine umweltgerechte Landbewirtschaftung, in Ihrem Antrag nicht enthalten ist, wenn es dort nämlich lediglich heißt, daß das Ziel verfolgt wird, die markt- und standortangepaßte Landbewirtschaftung als Teil der Maßnahmen aufzunehmen? ({0}) - Ich habe ausdrücklich gesagt - nehmen Sie das doch bitte zur Kenntnis -, daß das „umweltgerecht" da noch nicht unbedingt einbezogen ist.

Günther Bredehorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000256, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Sielaff, würden Sie dann zur Kenntnis nehmen, daß ich von der Überschrift überhaupt nicht gesprochen habe, sondern daß ich gesagt habe, von dieser standortangepaßten Landbewirtschaftung zur Erhaltung der Nachhaltigkeit der Bodennutzung sei im Gesetz die Rede? ({0}) Genau das war gemeint.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Stockhausen, Herr Kollege Bredehorn?

Günther Bredehorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000256, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gern.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte.

Karl Stockhausen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002254, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Bredehorn, würden Sie dem Kollegen Sielaff vielleicht sagen, daß die deutsche Landwirtschaft schon seit Jahrzehnten eine umweltgerechte Bewirtschaftung der Flächen durchführt? ({0})

Günther Bredehorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000256, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Kollege, ich versuche das hier, aber ich habe leider nur fünf Minuten Redezeit. Ich nehme aber an, daß Herr Sielaff das auch so verstanden hat. ({0}) Meine Damen und Herren, wir müssen in Anbetracht der finanziellen Situation sicherlich darüber nachdenken - dabei sind wir ja -, daß auch der Agrarhaushalt, daß auch die Landwirtschaft einen angemessenen Beitrag leisten muß. Ich persönlich möchte mich engagiert dafür verwenden, daß wir gerade die Gemeinschaftsaufgabe in dieser Hinsicht sehr vorsichtig behandeln. Dafür müssen wir, meine ich, die Mittel erhalten. Wir sollten einmal den Haushalt durchforsten und vielleicht insbesondere in dem Bereich zu sparen versuchen - das wäre mein Wunsch -, in dem wir die Subventionen zum Teil noch mit der Gießkanne verteilen. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird beiden Gesetzentwürfen zustimmen. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist unser Kollege Dr. Fritz Schumann.

Dr. Fritz Schumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002114, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die Notwendigkeit eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" gibt es auch in unserer Gruppe keinen Zweifel. Die nationale Umsetzung der flankierenden Maßnahmen zur EG-Agrarreform wie die zur Extensivierung und Umwidmung von Ackerflächen Dr. Fritz Schumann ({0}) erfordert die Erweiterung des rechtlichen Rahmens für den Förderkatalog der Gemeinschaftsaufgabe. Wir werden diesem Gesetzentwurf auch zustimmen. ({1}) Ich glaube aber doch, daß die Gelegenheit günstig gewesen wäre, eine Woche nach der Debatte über den Agrarbericht, nach dem Auftritt des Bundeslandwirtschaftsministers, Herrn Borchert, in Bonn-Röttgen, und nach dem Konzept zur Erhaltung des Agrarstandorts Deutschland in diese Änderung des Gesetzes noch mehr hineinzupacken, was den tatsächlichen Verhältnissen auch entspricht. Herr Bredehorn hat eben auch wieder darauf hingewiesen, worum es geht. In diesem Zusammenhang verweise ich auf den Ihnen vorliegenden Änderungsantrag meiner Gruppe. Er soll sicherstellen, daß künftig im Förderbereich der Gemeinschaftsaufgabe gemäß dem neuen agrarpolitischen Konzept des Bundeslandwirtschaftsministers die Chancengleichheit der Unternehmensformen gewährleistet wird. Ich meine, daß sich dadurch der Kreis der leistungsstarken Betriebe schneller erweitert, was in der Endkonsequenz weniger Subventionen für die Landwirtschaft bedeutet. Umgekehrt zementiert die besondere Förderung der kleinen und mittleren Betriebe bereits vorhandene Wettbewerbs-und Einkommensnachteile der deutschen Landwirtschaft in der EG. Meine Damen und Herren, wenig Verständnis habe ich für die ablehnende Haltung der Koalitionsfraktionen zum ebenfalls vorliegenden SPD-Antrag. Fakt ist doch, daß Maßnahmen der Dorferneuerung bereits aus der GA finanziert werden können und auch werden. Das wird tatsächlich gemacht. ({2}) Für mich stellt sich deshalb die Frage: Will die Koalition das Problem künftig komplexer, im Sinne der Förderung des ländlichen Raumes angehen, oder soll der Fördertopf „Dorferneuerung" stillschweigend in Richtung Null gefahren werden? Das kann ich im Moment noch nicht so ganz genau erkennen. In der Debatte am 11. Februar hier in diesem Haus hat sich Kollege Junghanns für die Korrektur der Konditionen der Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Wirtschaftsförderung" für den Zeitraum ab 1994 ausgesprochen, um den ländlichen Raum und die Dörfer - ich zitiere - „unmittelbar und mehr als bisher in die Wirtschaftsförderung direkt einzubeziehen". ({3}) - Herr Hornung, wenn die Koalition das auf den Weg bringt, ist das mehr als Dorferneuerung, ist das weitgehender als der SPD-Antrag verlangt. Das wäre eine neue Prioritätensetzung, die nicht mehr Mittel, sondern eine andere Mittelverwendung bedeutet. ({4}) - Das müßte man einmal wirklich ausdiskutieren. Ich sehe zur Zeit keinen Ansatz. Lassen Sie mich einen letzten Gedanken zum Antrag der SPD hinsichtlich der Umweltfragen äußern. Aus formaljuristischer Sicht ist es sicher richtig, daß Umweltfragen nicht unbedingt in die Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur" gehören, da sie Länderaufgabe sind. Sachlich und politisch sehe ich aber immer mehr das Erfordernis, generell die Mitverantwortung des Bundes für die Umwelt rechtlich zu fixieren. Es ist doch nicht akzeptabel, daß richtige Forderungen wegen nicht mehr zeitgemäßer Kompetenzaufteilung zu Fall gebracht werden. Ich bin der Meinung, es ist höchste Zeit, daß wir darüber diskutieren. Ich darf zum Schluß sagen, daß wir auch dem Lebensmittelspezialitätengesetz unsere Zustimmung geben werden. Danke. ({5})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Lebensmittelspezialitätengesetzes, Drucksachen 12/5025 und 12/5321. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Bei Stimmenthaltung einer Reihe von Mitgliedern der SPD-Fraktion und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Bei Stimmenthaltung des Kollegen Dr. Feige ist der Gesetzentwurf auch in dritter Beratung angenommen. Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes", Drucksache 12/5137. Dazu liegen Änderungsanträge der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/5327 und der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/5333 vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der SPD? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Bei einigen Gegenstimmen und StimmenthalVizepräsident Helmuth Becker tungen ist der Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ({0}) abgelehnt. Der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten empfiehlt auf Drucksache 12/5322, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Bei Stimmenthaltung der Fraktion der SPD und des Kollegen Dr. Feige ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Gruppe PDS/Linke Liste angenommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich rufe nunmehr Tagesordnungpunkt 10 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Errichtung eines Bundesamtes für Naturschutz und zur Änderung von Vorschriften auf dem Gebiet des Artenschutzes - Drucksache 12/4326 - ({1}) a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) - Drucksache 12/5319 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Norbert Rieder Ulrike Mehl Gerhart R. Baum b) Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 12/5320 - Berichterstattung: Abgeordnete Adolf Roth ({4}) Hans Georg Wagner Dr. Sigrid Hoth Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Dr. Rudolf Krause eine Erklärung gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung zu Protokoll gegeben. ({5}) Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und von Herrn Dr. Feige gegen die Stimmen der PDS/Linke Liste bei Enthaltung der SPD-Fraktion in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in zweiter Lesung angenommen. Meine Damen und Herren, ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige, Werner Schulz ({6}) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vermeidungsorientierte Abfallwirtschaft - Drucksache 12/4835 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Fünfminutenrunde vereinbart worden. Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN soll zehn Minuten Redezeit erhalten. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Darm ist das so beschlossen. ({8}) - Ich möchte Herrn Dr. Feige gerne das Wort geben, wenn wir hier die notwendige Ruhe hergestellt haben. - So, ich glaube, nun geht es. Das Wort hat unser Kollege Dr. Klaus-Dieter Feige.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mehrere Abgeordnete der Koalitionsfraktionen haben mich in den letzten Tagen gebeten, nicht immer so grob mit Ihnen und der Regierung herumzuschimpfen. Das täte Ihnen weh. ({0}) Ich will diesem Wunsch ausnahmsweise einmal nachkommen. Wenn ich denn heute meine, die Abfallpolitik dieser Bundesregierung ist ein einziges Fiasko, ({1}) dann können Sie sich sicherlich vorstellen, was ich angesichts des nationalen Mülldebakels eigentlich hätte sagen müssen. Gemessen an der Feststellung von Innenminister Zimmermann im Jahre 1983 - „Der beste Müll ist der, der erst gar nicht entsteht" -, ist die Bilanz der Bundesrepublik indiskutabel schlecht. In den letzten zehn Jahren sind die Müllberge um keine Tonne verkleinert worden. Der immer wieder beschworene Müllnotstand ist vielerorts bereits eingetreten. Was hat nun der Umweltminister gegen die Müllflut getan? - Er erließ eine bißlose Verpackungsverordnung und förderte die Gründung einer Monopolgesellschaft namens DSD. Die wiederum befördert den Verpackungsramsch über die deutschen Grenzen in die ganze Welt. Das Frisieren öffentlicher Statistiken wird als Erfolg einer angeblich konsequenten Verwertungswirtschaft bezeichnet. Diese Kreislaufwirtschaft à la Töpfer hat in Sachen Duales System Deutschland inzwischen allerdings zum Kreislaufkollaps geführt. Trotzdem wird dieser Unfug im Entwurf einer fünften Novelle zum Abfallgesetz konsequent fortgesetzt. Mit Worthülsen und Begriffswirrwarr, mit mehr als 25 Verordnungsermächtigungen sollen die Abfälle verringert werden. Müll bleibt Müll, auch wenn der Umweltminister lieber von „Rückständen" und „Sekundärrohstoffen" sprechen möchte. Per definitionem soll ab sofort jeder Müll als vermieden gelten, der nicht auf einer Deponie landet. Von der Verringerung von Abfällen bereits bei der Herstellung und der Verteilung von Produkten ist nichts zu hören. Man braucht nur in § 1 nachzulesen. Da steht nämlich, daß der Zweck dieses Gesetzes die Förderung einer abfallarmen Kreislaufwirtschaft und die Sicherung der Entsorgung nicht zu verwertender Abfälle sei. - Kein Wort von Abfallvermeidung! Aber nicht nur unser Urteil über diesen Entwurf ist vernichtend. Nicht einmal die Definition von Abfall, Frau Homburger, steht hinreichend in diesem Gesetz. In der Anhörung des Umweltausschusses am 10. Mai kamen praktisch alle Sachverständigen zu einer kritischen Bewertung. In ungewohnter Deutlichkeit hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen Stellung genommen. Der Vertreter des Umweltbundesamtes erklärte klipp und klar, daß das Abfallproblem mit Begriffsscholastik und Augenwischerei nicht zu lösen sei. Die Bundesratssitzung am 28. Mai wurde zum Waterloo für den Bundesumweltminister. Selten ist ein Gesetzentwurf derart heftig durchgefallen. Und die Kritik kommt beileibe nicht nur aus den Reihen der Opposition. So äußerte die Kollegin Hornburger, daß es Anlaß gebe, den Gesetzentwurf gründlich zu überprüfen. Die Kollegen Kampeter und Friedrich halten das Gesetz für extrem unübersichtlich und die Flut von Verordnungsermächtigungen für bedenklich. Und der Minister? Er fühlt sich durch die Kritik nur bestärkt. Ein gewisser Realitätsverlust macht sich da schon bemerkbar. Meine Damen und Herren, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben einen umfangreichen Antrag für eine vermeidungsorientierte Abfallwirtschaft vorgelegt. In diesem Antrag werden die Anforderungen an eine zeitgemäße Abfallwirtschaft skizziert und die Forderungen für eine Gesetzesnovelle beschrieben. Die Abfallwirtschaft muß endlich vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Statt von Abfallvermeidung zu reden und Müllverbrennung zu meinen, brauchen wir die Priorität der Abfallvermeidung mit ergänzenden Maßnahmen einer öklogisch sinnvollen Verwertung. Das Ansetzen an der Quelle statt am Ende von Produktion und Konsum verringert nicht nur die Abfallmengen, sondern auch den untragbaren Energie- und Rohstoffverbrauch unserer Volkswirtschaft. Nur so läßt sich der Übergang von der bisherigen Verschwendungswirtschaft zu einer nachhaltigen Lebensweise bewerkstelligen. Notwenig sind die Ablösung des Abfallgesetzes durch ein Abfallwirtschaftsgesetz sowie der Einsatz marktwirtschaftlicher Instrumente in Form einer Abfallabgabe. Maßnahmen zur Abfallvermeidung, etwa die intensivere und längere Nutzung von Produkten und eine abfallarme Produktionsweise, sind nachhaltig zu fördern. Die Abfallverwertung darf nicht länger als Schlupfloch für ein Umgehen des Abfallrechts mißbraucht werden. Es kann nicht angehen, daß Deutschland der größte Tummelplatz für Müllschieber in Europa bleibt. Wir wissen, daß die Vermeidung von Abfällen in vielen Bereichen möglich ist und Kosten spart. Vor allem bei kleinen und mittleren Unternehmen besteht dabei ein großer Beratungsbedarf. Deshalb wollen wir das Aufkommen aus der Abfallabgabe zweckgebunden für solche Beratungsmaßnahmen und für die Erforschung und Entwicklung von Vermeidungstechnologien einsetzen. Wir knüpfen dabei an bestehende Landesregelungen an. Bei der Abfallvermeidung handelt es sich um ein ganzes Bündel von Maßnahmen, die auf die verschiedenen Bereiche zugeschnitten sein müssen. Es geht nicht um den großen Wurf, sondern um das Drehen an ganz vielen Schräubchen. Im Gegensatz dazu - das sei mir heute am 1. Juli zu bemerken erlaubt - scheint die Generaldirektion der Deutschen Bundespost in Darmstadt eine Schraube locker zu haben. Da wird mit Datum vorn 3. Mai doch allen Ernstes intern verfügt, daß Vordrucke und Briefumschläge mit den alten Postleitzahlen weder mit den neuen Postleitzahlen überschrieben noch überstempelt werden dürfen. Die Post erteilt die Anweisung, diese zu vernichten. Abfallproduktion aus Bürokratismus! ({2}) - Das ist es im wahrsten Sinne des Wortes. Und das am 1. Juli. Nach der Abfallvermeidung hat die Abfallverwertung zweite Priorität in einer zeitgemäßen Abfallwirtschaft. Grundsätzlich - das bestätige ich - kann dadurch die Abfallmenge verringert und die Umwelt entlastet werden. Die Bundesregierung setzt aber auf eine reine Pseudo-Verwertung. Abfälle aller Art sollen unter der neuen Bezeichnung Sekundärrohstoffe unkontrolliert z. B. in Feuerungen, Zementwerken, im Straßenbau oder im Bergbau verschwinden. Dadurch werden Rohstoffe nur in geringem Umfang eingespart. Die damit verbundenen Umweltbelastungen dürften die Probleme mit Deponien und Müllverbrennungsanlagen bei weitem übersteigen. Wir halten die Verwertung von Abfällen nur dann für sinnvoll, wenn die damit verbundenen Umweltbelastungen geringer sind als bei einer sonstigen Behandlung oder Ablagerung, denn auch Verwertungsprozesse können relevante Umweltprobleme hervorrufen. Zusätzliche Stoff- und Energieaufwendungen sowie TransportDr. Klaus-Dieter Feige vorgänge können Abgase, Abwässer, Lärm und Abfall in erheblichem Umfang erzeugen. Wir stimmen mit dem Sachverständigenrat für Umweltfragen überein, der bereits im Umweltgutachten 1987 betont hat, daß Umweltpolitik nicht sektoral optimiert werden darf. Es besteht sonst die Gefahr, daß Umweltbelastungen lediglich von einem Medium zu einem anderen verschoben werden. Kreisläufe sind also nur sinnvoll, wenn die im Kreislauf laufenden Materialien keine gefährlichen Stoffe enthalten und wenn sie dazu beitragen, den Energie- und Rohstoffverbrauch zu verringern. Einschließen kann man diese gefährlichen Stoffe nicht. Das hat auch die Arbeit der Enquete-Kommission an vielen Beispielen gezeigt. Um Mißbrauch bei der Verwertung zu erschweren, brauchen wir eine weitgehend objektive Abfalldefinition, wie sie auch von der EG gefordert wird. Abfälle müssen auch im Falle der Verwertung so lange dem Abfallrecht unterliegen, bis neue Produkte entstanden sind. Meine Damen und Herren, zur Förderung einer abfallarmen Produktion dient die Verpflichtung von Unternehmen, betriebliche Abfallwirtschaftskonzepte und Abfallbilanzen zu erstellen. Unser Vorschlag ist die Weiterentwicklung der entsprechenden Vorschrift des Landesabfallgesetzes von Nordrhein-Westfalen, auch wenn es da noch erhebliche Vollzugsdefizite gibt. Wenn dies allerdings auch für die öffentliche Verwaltung des Bundes gilt, ist hier noch einiges zu tun. Ich sage das nicht gerne: Sogar die Verwaltung des Deutschen Bundestages und offensichtlich auch einige Bundesministerien haben es versäumt, ihren entsprechenden Verpflichtungen im Lande Nordrhein-Westfalen nachzukommen. Bis zum 1. Februar bzw. 31. März dieses Jahres lag weder ein Abfallwirtschaftskonzept noch eine Abfallbilanz des Deutschen Bundestages vor, und vermutlich liegt sie auch bis heute noch nicht vor. Das ist eine gesetzliche Regelung, die in diesem Bundesland gilt. Allen Fraktionen dieses Hauses müßte daran gelegen sein, daß gerade der Bund mit gutem Beispiel vorangeht und somit die notwendige Vorbildfunktion erfüllt. Meine Damen und Herren, das Abfallproblem ist kein parteipolitisches Problem, auch wenn es dazu oft gemacht wird. Es gibt - ich glaube, da stimmen wir weitgehend überein - keinen grünen Müll. Ob Schwarze, Rote oder Gelbe, alle haben den gleichen Abfall in ihren Mülltonnen. Deshalb sollten wir uns alle zusammen bemühen, eine Abfallwende einzuleiten. Aber erst eine Abfallwirtschaft, die überzeugend auf Abfallvermeidung und sinnvolle Verwertung setzt, die nicht nur davon redet, sondern sichtbar handelt, ist die Voraussetzung, um die vielzitierten Akzeptanzprobleme im Bereich von Abfallbehandlung und -ablagerung zumindest abzuschwächen. Sie können hier zehnmal auf die flächendeckende Müllverbrennung setzen, vor Ort werden Ihnen die Bürgerinnen und Bürger die Knüppel zwischen die Beine werfen, wenn Sie nicht endlich diese Wende vollziehen. Frei nach einem Mitarbeiter des Umweltbundesamtes könnte man die Abfallpolitik der Bundesrepublik bis zur Verabschiedung des Abfallbeseitigungsgesetzes als ein Zeitalter von Einfalt und Glaube bezeichnen, dem dann ein Zeitalter von Ignoranz und Hoffnung folgte. Wir vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN möchten mit unserem Antrag ein neues Zeitalter einläuten, das Zeitalter von Nachhaltigkeit und Verantwortung. Wir fordern Sie auf, in den kommenden Ausschußberatungen konstruktiv an der Ausgestaltung einer neuen Abfallkonzeption für die Bundesrepublik Deutschland mitzuwirken. Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3}) Vizepräsident Helmuth Becker. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch bemerken, daß auch die Frau Kollegin Ulrike Mehl zum Tagesordnungspunkt 9 gemäß § 31 der Geschäftsordnung eine Erklärung zur Abstimmung abgegeben hat. Wir fahren nun fort. Als nächster Redner ist nun unser Kollege Steffen Kampeter aufgerufen.

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dem Kollegen Feige fällt bei seinen Reden zur Abfallwirtschaft überhaupt nichts mehr ein. ({0}) Ich freue mich, daß er immer wieder den Kollegen Zimmermann zitiert, der sagt: Der beste Abfall ist derjenige, der überhaupt gar nicht erst entsteht. ({1}) Dafür erhält er Beifall bei allen Fraktionen in diesem Hause. Dann versucht er uns zu erklären, daß wir uns um Verwertung und um Entsorgung nicht mehr kümmern müßten. Aber der Kollege Zimmermann hat das weder so gesagt, geschweige denn so gemeint. Sie sollten dieses Zitat nicht immer wieder vortragen, um zu sagen, wir könnten in einer arbeitsteiligen Industriegesellschaft alles an Abfällen vermeiden. Ich habe die Presseerklärung von Ihnen, Herr Feige, die wahrscheinlich schon vor der Anhörung fertiggestellt war, nicht zur Hand. Aber Ihr Urteil über die Anhörung, daß sie für Sie als Oppositionsabgeordneten natürlich kein Erfolg der Bundesregierung war, ist auch nicht besonders originell. Richtig ist, daß es bei dieser Anhörung Zustimmung gegeben hat, daß wir das Abfallrecht novellieren müssen. Deswegen ist es richtig, daß wir derzeit einen Kabinettsbeschluß zum Kreislaufwirtschaftsgesetz diskutieren. Richtig ist aber auch - und das bestreite ich nicht -, daß an der einen oder anderen Stelle an diesem Gesetzentwurf Kritik geübt wird, auch von dem Kollegen Friedrich und von mir. Aber das Parlament ist ja auch nicht die Exekutive der Regierung. Wir müssen schauen, was vom Kabinettstisch kommt, und es kritisch prüfen; aber in der grundsätzlichen Zielsetzung gibt es über14520 haupt keinen Unterschied zwischen dem, was Bundesumweltminister Töpfer vorgelegt hat, und dem, was Grundauffassung unserer Fraktion ist. ({2}) Ich finde es schon ein bißchen komisch, und es überzeugt wenig, wenn Sie, Herr Kollege Feige, plötzlich die marktwirtschaftlichen Instrumente für sich entdeckt haben. Wenn ich Ihren Antrag lese, stelle ich fest: Es ist alles vollgespickt mit Dirigismus, Bevormundung und planwirtschaftlichen Elementen. Sich dann zu erdreisten, sich hier vorn hinzustellen und zu sagen, der Entwurf aus dem Hause Töpfer sei dirigistisch, und man selbst sei für Marktwirtschaft, während man gleichzeitig einen dirigistischen Antrag vorlegt, das ist schon der Versuch der Täuschung des Parlaments, den ich hier entschlossen zurückweisen muß. ({3}) Kreislaufwirtschaft, wie Kollege Feige sie neuerdings in Frage stellt, statt Abfallbeseitigung, das ist das Hauptziel der Abfallwirtschaftspolitik, wie sie die CDU/CSU-Bundestagsfraktion vertritt. Ressourcenschonung und Vermeidung von Abfällen sind die zentralen Erfordernisse. Dabei geht es uns nicht darum, um jeden Preis den Kreislauf zu schließen; wir müssen schon auf das ökologisch Gebotene und das wirtschaftlich Mögliche hinwirken. Aber am Grundgedanken, nicht möglichst viel Abfall zu produzieren, sondern möglichst viel Abfall zu vermeiden, aber ihn auch wiederzuverwerten und dann letztendlich den Restabfall zu entsorgen, ist doch wohl nicht zu rütteln. Industrie, Handel und Verbraucher müssen künftig Rückstände weitestgehend vermeiden und unvermeidbare Rückstände verwerten, d. h. als Sekundärrohstoffe in den Wirtschaftskreislauf zurückführen. Das ist doch das marktwirtschaftliche Prinzip, das wir hier in die Abfallwirtschaft einführen. Was man wirtschaftlich noch als Sekundärrohstoff vermarkten kann, darf doch sicherlich in den Wirtschaftskreislauf zurück. Das scheint mir eine vernünftig verstandene Kreislaufwirtschaft zu sein. Der Entwurf für dieses Gesetz schafft die entsprechenden Rahmendaten, die dann von den privaten Unternehmen ausgefüllt werden sollen. Um dieses Ziel der Kreislaufwirtschaft zu erreichen, benötigt man das wirtschaftliche Eigeninteresse und damit den Ideenreichtum und die Kreativität von Wirtschaft und Gesellschaft. Die Fortentwicklung von der Abfallwirtschaft zur Kreislaufwirtschaft sichert damit fortschrittlich und dauerhaft den Industrie- und Wirtschaftsstandort Bundesrepublik.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Kampeter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Feige?

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber selbstverständlich, Herr Präsident. Vizepräsident Helmuth Becker Bitte aber nur kurz, er hat nur 5 Minuten Redezeit.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident, lieber Kollege Kampeter, die Frage lautet: Wenn dieser Gesetzentwurf von Herrn Töpfer, der uns vorgelegt wurde, unter Verwertung auch die Verbrennung des Mülls enthält, dann möchte ich Sie fragen: In welchen Kreislauf wird dieses Abprodukt wieder zurückgeführt?

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Feige, in dem Gesetzentwurf steht nicht drin, daß Verbrennung der ausschließliche Verwertungsweg ist; aber wir müssen uns schon Gedanken darüber machen, ob es Sinn macht, auch jede kleinste Stoffmenge mit einem hohen Energieaufwand zu verwerten. Bei einer verläßlichen Ökobilanzierung kann eben auch herauskommen, daß man etwas verbrennt. Wir sind nicht gegen Verbrennung und machen auch kein Antiverbrennungsgesetz. Die Koalition wird im Herbst zur ersten Lesung ein Gesetz ins Parlament bringen, in dem die Hierarchie - erstens: Vermeidung, zweitens: Verwertung, drittens: Entsorgung - so ausgestaltet ist, daß es sowohl umweltpolitisch wie wirtschaftlich vernünftig gehandhabt werden kann. Es reicht eben nicht aus, Herr Kollege Feige, wenn Sie einfach das Verwertungsgebot oder das Vermeidungsgebot ins Gesetz schreiben; es muß auch praktisch umsetzbar sein. ({0}) Die praktische Umsetzbarkeit zu erreichen wird auch Aufgabe der Gesetzesberatung sein.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Feige?

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Darf ich dann fragen, ob die CO2-Emissionen, die durch die Verbrennung entstehen, dem Ziel der Bundesregierung, bis zum Jahre 2005 die CO2-Emissionen um 25 bis 30 % zu senken, zumindest theoretisch zuwiderlaufen?

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber bitte, beim Verrotten von nicht vorbehandelten Abfällen werden doch auch Gase freigesetzt. Das können Sie doch nicht damit in Vergleich setzen, daß sie auch beim Verbrennungsprozeß freigesetzt werden. Für die CO2-Bilanz ist das indifferent. ({0}) Die Frage - verzeihen Sie, Herr Kollege Feige - hat keinen besonders interessanten sachlichen Hintergrund. ({1}) - Aber es besteht überhaupt kein Zusammenhang zwischen den beiden Fragen. Ich möchte abschließend noch einiges zu unserem Fahrplan sagen, wie das Kreislaufwirtschaftsgesetz beraten werden soll. Wir haben uns als Berichterstatter der Koalition auf entsprechende Eckpunkte geeinigt, die in der nächsten Woche vorgelegt werden. Es ist in dieser Woche im Umweltausschuß beschlossen worden, daß wir unmittelbar nach der Sommerpause als Umweltausschuß eine Sachverständigenanhörung durchführen wollen. Die erste Lesung wird noch im September dieses Jahres stattfinden. Die Umweltpolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion arbeiten entschlossen an der Verabschiedung dieser Entwürfe. Wir brauchen ein Kreislaufwirtschaftsgesetz, und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt den Bundesumweltminister bei diesem Vorhaben. Haben Sie recht herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich erteile jetzt unserer Frau Kollegin Jutta Müller das Wort.

Jutta Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kampeter, wenn Sie sich darüber beschweren, daß das vielleicht schon wiederholt vorgebracht worden ist, was Kollege Feige gesagt hat, dann ist anzumerken: Das mag richtig sein. Wir haben das Thema schon wiederholt behandelt. Wir diskutieren wirklich schon lange genug darüber und versuchen, diese Regierung endlich zum Handeln zu bringen, diese zur Zeit ungenügende Gesetzgebung richtig in die Gänge zu bringen. Aber diese Regierung zum Handeln zu bringen, das ist ungefähr so, als wenn man einer Kuh ins Horn kneift; soviel Wirkung hat das. Deswegen müssen wir das hier immer wieder bringen, und deshalb ist es natürlich auch notwendig, daß wir das hier immer wieder besprechen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kampeter?

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Müller, auch wenn ich mir unsicher bin, wo wir die Bundesregierung hinkneifen sollen: Ist Ihnen denn entgangen, daß im März dieses Jahres zu dem entsprechenden Gesetzentwurf ein Kabinettsbeschluß erwirkt worden ist, daß wir im Mai eine umfassende Sachverständigenanhörung zum Kreislaufwirtschaftsgesetz hatten, daß der Bundesrat bereits einVotum zum Kreislaufwirtschaftsgesetz erarbeitet hat und daß die Bundesregierung derzeit eine Gegenäußerung ausarbeitet, daß wir im Umweltausschuß beschlossen haben, Ende September eine neuerliche Anhörung durchzuführen und in die Detailberatung hineinzugehen, daß wir beschlossen haben, in der letzten Septemberwoche die erste Lesung dieses Gesetzentwurfes durchzuführen? Angesichts dieser Tatsachen frage ich: Wo wollen Sie dann bitte wen noch kneifen? ({0})

Jutta Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Diese Frage freut mich ganz besonders. Lieber Kollege, wir haben das hier schon ein paarmal diskutiert, als damals eine Initiative des Bundesrates gestartet wurde, nämlich durch die Länder Niedersachsen und Bayern. Damals haben uns sowohl die Mehrheitsfraktionen, also die Koalitionsfraktionen, als auch Herr Umweltminister Töpfer immer wieder vertröstet und haben gesagt: Das ist nicht ausreichend. Wir wollen das sehr viel ausführlicher machen. Wir werden eine Lösung aus einem GuB bringen, nämlich ein sogenanntes Kreislaufwirtschaftsgesetz. - Nun ist im März von der Regierung diese sogenannte Lösung aus einem Guß vorgelegt worden. Das nennt sich jetzt Gesetzentwurf zur Vermeidung von Rückständen, Verwertung von Sekundärrohstoffen und Entsorgung von Abfällen". Das ist es dann aber. Das ist ein toller Name. Zur Antwort kann ich Ihnen da nur geben: Als Umweltminister hat sich Herr Töpfer da nicht profiliert; aber er versucht wohl, dem Christo als Verpackungskünstler Konkurrenz zu machen. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Müller, das war die Antwort auf sechs Fragen, die gleichzeitig gestellt waren. Jetzt geht es in der Rede weiter, bitte.

Jutta Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank! ({0}) Dieser Gesetzentwurf, der der Öffentlichkeit als sogenanntes Kreislaufwirtschaftsgesetz vorgestellt wurde -- er wurde ja ganz toll angepriesen -, trägt eigentlich einen Verpackungstitel, der mit dem Inhalt überhaupt nichts zu tun hat. Das Gesetz trägt nicht zu einem Stoffkreislauf bei, sondern beschäftigt sich lediglich mit der Behandlung und Verwertung von Abfall. Daß es weder zur Vermeidung von Abfällen führt noch zu einer Produktionsverantwortung bei Industrie und Handel, wurde in einer öffentlichen Anhörung von Sachverständigen - ich verweise auf die Aussage des Umweltbundesamtes - deutlich. Alle Aspekte des Abfallrechts inklusive der von uns immer wieder geforderten Prioritätenfolge Vermeidung, Verwertung, Entsorgung ebenso wie insbesondere die Kontrolle des Müllexports bleiben unklar, solange ein Gesetz nicht für eine präzise und verbindliche Terminologie sorgt. Da der Bundesumweltminister nicht in der Lage war, uns etwas Vernünftiges vorzulegen, müssen wir uns jetzt im Ausschuß wieder mit dem Thema beschäftigen, und in diese Richtung zielt auch der Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Aus diesem Grunde mußten wir auch gestern im Umweltausschuß beschließen, eine weitere öffentliche Anhörung durchzuführen. Wir müssen uns natürlich auch mit den zahlreichen Änderungsvorschlägen des Bundesrates auseinandersetzen, um das im Gesetzentwurf, wie er jetzt vorliegt, vorprogrammierte Vollzugschaos in den Ländern zu verhindern. Das derzeit gültige Abfallrecht ist nicht geeignet, die Probleme wachsender Umweltbelastung zu lösen. Statt die Ursachen anzugehen, setzt es erst ein, wenn Abfälle bereits entstanden sind. Dies ist auch bei dem neuen Entwurf der Bundesregierung leider nicht viel anders. Jutta Müller ({1}) Zur Lösung der Abfallproblematik muß ein neuer konzeptioneller Ansatz gewählt werden, der vom Grundsatz der Vermeidung und der tatsächlichen Schließung von Stoffkreisläufen ausgeht. Wir brauchen neue abfallarme Produktionsverfahren, bei denen der Hersteller auch für die spätere Entsorgung seines Produktes mal in die Verantwortung genommen wird. An dieser Stelle muß man dann doch mal fragen: Wo bleiben eigentlich diese ganzen angekündigten Verordnungen: Batterien, Elektronikschrott, Altautos usw.? Wir haben zur Zeit die Situation, daß der Besitzer eines Fernsehgerätes, in dessen Gehäuse sich ungefähr 4 620 verschiedene Chemikalien befinden, ganz unversehens, wenn der Apparat kaputt ist, zum Eigentümer von Sondermüll wird und dann auch noch für die Entsorgung verantwortlich ist. Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, das kann ja wohl nicht sein. Aber nicht nur aus ökologischen, sondern gerade auch aus ökonomischen Gründen muß eine ressourcenschonende, energiesparende und abfallarme Kreislaufwirtschaft endlich in Schwung kommen. Wir haben hier also noch großen Diskussionsbedarf. Wir stehen aber auch unter Zeitdruck, da zum 10. Mai 1994 der europäische Abfallbegriff unmittelbar geltendes Recht in Deutschland wird, was seltsamerweise in dem Entwurf der Bundesregierung überhaupt nicht berücksichtigt ist. Ich weiß nicht, ob das Fahrlässigkeit oder einfach Unverschämtheit ist, so etwas vorzulegen. ({2}) Das wurde Ihnen auch entsprechend von allen Länderumweltministern im Bundesrat ganz schön um die Ohren gehauen, auch von denen, die nicht unserer Couleur angehören. Der Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN enthält eine Reihe guter Lösungsansätze, die auch von uns schon seit langem vertreten werden. Wir stimmen selbstverständlich einer Überweisung an den Ausschuß zu. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Als nächste erhält unsere Kollegin Frau Birgit Homburger das Wort, die sich verletzt hat. Wir alle wünschen ihr gute Besserung und eine gute Rede. ({0})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen herzlichen Dank. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Feige, man merkt dem heute zu diskutierenden Antrag schon an, daß er kurz vor der Sachverständigenanhörung im Umweltausschuß geschrieben worden ist. Es wäre besser gewesen, man hätte vielleicht die Anhörung abgewartet, von der man vorher auch gesprochen hat. Dann hätte man die Ergebnisse einarbeiten können, und dann hätte vielleicht auch das eine oder andere nicht dringestanden. Ihr Antrag zeichnet sich im übrigen dadurch aus, daß Behauptungen aufgestellt werden, die so nicht stimmen. So wird von Ihnen z. B. behauptet, daß Abfälle dann als vermieden gelten, wenn sie nicht mehr auf einer öffentlichen Deponie abgelagert wurden, wenn sie also nicht mehr in der Abfallstatistik erscheinen. Das ist schlicht und ergreifend nicht zutreffend. § 3 Abs. 3 des Entwurfs definiert Rückstände dann als Abfälle - - Herr Kollege Feige, vielleicht könnten Sie kurz zuhören, weil Sie ja vorher danach gefragt haben. Das ist jetzt genau die Passage. § 3 Abs. 3 des Entwurfes definiert Rückstände dann als Abfälle, wenn sie nicht als Sekundärrohstoffe verwertet werden dürfen. Daß also letztlich wieder der Besitzer, wie behauptet wird, einfach entscheidet, ob etwas Abfall sei oder nicht, ist völliger Quatsch. Die Frage, ob etwas Abfall oder Sekundärrohstoff ist, bestimmt sich nach den Vorgaben des Gesetzes, und dort vor allem nach der stofflichen und energetischen Verwertbarkeit. ({0}) Von Ihnen wird auch behauptet, daß allein der subjektive Abfallbegriff gilt. Das Gegenteil ist der Fall. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung führt verschiedene Begriffe ein: Rückstand, Sekundärrohstoff, Abfall. Bei der Definition des Rückstandsbegriffs verwendet man allerdings den objektiven Abfallbegriff. Der wird zugrunde gelegt, der subjektive Abfallbegriff des derzeitigen Abfallrechts wird völlig ersetzt. Die Idee ist grundsätzlich nicht schlecht. Es hat sich auch in der Anhörung gezeigt - da gebe ich Ihnen völlig recht -, daß die Begriffe, die da genannt werden, mit dem EG-Recht zu koordinieren sind. Die Forderung des Antrages ist also völlig gerechtfertigt. Die Begriffe, die Sie aber auf der Seite 7 und 8 in Ihrem Antrag vorschlagen, halten einer Überprüfung nicht stand. Der Abfallbegriff, den Sie da aus der EG-Richtlinie zitieren, ist nämlich gänzlich anders formuliert, als in Ihrem Antrag vorgegeben wird. Das stimmt überhaupt nicht überein. Ich habe das überprüft. ({1}) Der vorliegende Antrag fordert die Abfallvermeidung mit rigorosen Methoden. Auch wir wollen Abfälle vermeiden; das haben wir hier schon mehrfach betont. Das ist ein Ziel der Novellierung des Abfallgesetzes. Wir werden allerdings am Grundsatz der Produktverantwortung festhalten. Da setzen wir vor allen Dingen auf marktwirtschaftliche Instrumente. Zentral ist dabei die Bestimmung über eine Rücknahme- und Rückgabepflicht. Wir erreichen nämlich damit, daß ein Produzent sich schon bei der Herstellung des Produkes überlegen muß, wie er dieses am Ende wiederverwerten kann. Das führt letztlich zur Vermeidung schon bei der Herstellung. Und was Sie in Ihrem Antrag fordern, ist Dirigismus par excellence. ({2}) - Doch, so ist es. Sie wollen ein umfassendes Stofftromrecht, steht darin. Das heißt, daß nach Ihren Vorstellungen zukünftig von Staats wegen durch die Verwaltung in betriebsinterne Abläufe massiv eingegriffen werden müßte. Da wird in der Konsequenz vorgeschrieben, wer was wo und wann zu verwenden hat und was von wem wo verwertet wird usw. Das ist die Konsequenz. ({3}) Nach unserer Auffassung ist es völlig unmöglich, für jede Art einer Produktion in der Verwaltung einen Fachmann anzustellen. Wir leiden ja heute schon an Überverwaltung und einem „Behördenwasserkopf". ({4}) Sie fordern - und das finde ich besonders interessant -, zukünftig verstärkt ökonomische Instrumente einzusetzen. Nur finden kann ich diese Instrumente in Ihrem Antrag jedenfalls nicht. Statt dessen finden sich Beispiele, wie Sie sich die Produktverantwortung vorstellen. Zum Beispiel soll dem Automobilhersteller - ein Beispiel aus Holland - vorgeschrieben werden, daß Umweltschutzausrüstungen für Automobile für eine Dauer von 130 000 Kilometer oder 10 Jahre garantiert werden müssen. In Verwaltungsvorschriften sollen Grenzwerte für die „maximal erlaubte Menge an Abfällen" - das ist ein Zitat -, „bezogen auf das erzeugte Produkt bzw. die geleistete Dienstleistung" , festgeschrieben werden. Das hat mit vernünftiger Lenkung, Entschuldigung, nichts mehr zu tun. ({5}) Zur Flankierung dieses Dirigismus' werden dann noch Aufzeichnungspflichten vorgeschlagen. So sollen bei Erzeugern von Abfällen, bei denen jährlich mehr als 100 kg Sonderabfall anfallen, Pflichten zur Erstellung jährlicher Abfall-, Energie- und Stoffbilanzen eingeführt werden. ({6}) Je nach Branche, Herr Kollege Feige, kommen selbst kleine Handwerksbetriebe mit drei bis fünf Mann locker über diese Grenze. Das kann ein solch kleiner Betrieb überhaupt nicht leisten. Das ist auch nicht sachdienlich, das macht diese Betriebe kaputt. ({7}) Und ich finde es nur gut, daß wir das nicht beschließen werden. ({8}) Was wir aus dem Antrag vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lernen, ist, daß sie zwar das Wort von ökonomischen Lenkungsinstrumenten im Munde führen, aber offensichtlich nicht begriffen haben, was es wirklich bedeutet. ({9}) Sie sind nach wie vor in alten dirigistischen Vorstellungen verhaftet. Diese Feststellung hier zu treffen, finde ich dringend erforderlich, weil nämlich nach draußen der Eindruck vermittelt wird, als wenn sich dieses verändert hätte. ({10}) Das Gegenteil ist der Fall. Für eine Weiterentwicklung in die richtige Richtung einer ökologischen Marktwirtschaft empfehle ich das F.D.P.-Programm zur Lektüre. Es wird im übrigen jetzt gleich noch ein bißchen überarbeitet, weil wir nämlich von seiten des F.D.P.-Bundesvorstandes genau zu diesen Fragen eine Arbeitsgruppe eingesetzt haben. ({11}) Herr Kollege Feige, das waren meine Anmerkungen zu Ihrem Antrag. Es würde mir noch sehr viel einfallen. Jedenfalls, von ökonomischen Lenkungsinstrumenten ist hier nicht viel zu finden. Im übrigen eine letzte Bemerkung zu Ihrer Frage nach der zivilrechtlichen Haftung für Abfälle. Diese Forderung ist uns völlig unverständlich, weil es nämlich schon heute eine klare Gefährdungshaftung gibt. Wenn Sie damit nicht einverstanden sind, dann kann ich daraus nur folgern, daß Sie hier eine Verdachtshaftung einführen wollen. Und das wird jedenfalls mit der F.D.P. nicht zu machen sein. ({12}) Danke. ({13})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Nächste Rednerin ist unsere Frau Kollegin Ingeborg Philipp.

Ingeborg Philipp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Abfallwirtschaft ist ein schwerwiegendes Problem der Bundesrepublik, und es existieren leider keine großtechnischen Verfahren in dem Umfang, wie sie benötigt werden. Das betrifft ganz besonders das Recycling für Kunststoffe. Deshalb bin ich froh, daß ich Ihnen heute etwas mitteilen kann, was auch bei Ihnen Hoffnungen wekken wird. Wir waren gestern vom Forschungsausschuß aus in der Leuna AG, einem Großwerk der Chemie in den neuen Bundesländern. Dort soll ein Verwertungszentrum für Kunststoffe und andere Problemstoffe aufgebaut werden. Damit dieses Verwertungszentrum auch in kurzer Zeit verwirklicht werden kann, ist die Unterstützung durch die Politik vonnöten, also von uns allen. Ich habe in Leuna zugesagt, daß wir in der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" uns einen angemessenen Wissensstand verschaffen und die erforderliche Unterstützung geben wollen. Wir werden schon in der nächsten Woche darüber sprechen. Hier im Parlament möchte ich folgendes mitteilen: Die in Leuna erarbeitete Konzeption sieht vor, daß die Altkunststoffe so aufbereitet werden, daß sie dem vorhandenen „Steam-Cracker" der Leuna-Werke zugeführt werden. Damit ist über ein vorhandenes Rohrleitungssystem die Einspeisung in die vorhandenen nachfolgenden Produktionsstufen möglich. Neu zu bauen sind neben den Entladeeinrichtungen für Altkunststoffe Lagersilos, eine neue Vakuumdestillation und eine Degradation mit Extruder. Außerdem muß die Gasphasenhydrierung ergänzt werden. Für die Altkunststoffhydrierung wurde ein Standort in der vorhandenen Raffinerie gewählt, an dem vorhandene Ausrüstungen und Infrastruktur nutzbar sind. Dieser Standort gestattet nach der geplanten Abstellung der jetzigen Raffinerie weitere Ausbaustufen für den Fall, daß im Zusammenhang mit dem Bau der neuen Raffinerie keine Neuanlage für die Hochdruckhydrierung von Altkunststoffen errichtet werden sollte, und ist damit die Alternative zu einer eventuellen späteren neuen Großanlage im Bereich der Raffinerie 2000. Die Vorbereitungsarbeiten für die erste Ausbaustufe wurden bereits begonnen, die Inbetriebnahme soll im Oktober 1994 erfolgen, also schon im nächsten Jahr. Die Verarbeitungskapazität soll 90 kt pro Jahr betragen und eine Produktionssteigerung auf 140 kt ermöglichen. Verfahrenstechnisch soll dabei das in Leuna vorhandene Know-how zur Hochdruckhydrierung eingesetzt werden, d. h. alle Erfahrungen im Anlagen- und Apparatebau sowie die Erfahrungen mit Hochdruckarmaturen, Meß- und Regeltechnik sowie Materialprüfung. Das sind wichtige Voraussetzungen. Des weiteren können die vielschichtigen Erfahrungen der Katalysatorherstellung auch für das Recycling von Problemstoffen genutzt werden. Vorgesehen in einer weiteren Aufbaustufe ist das Recycling von anorganischen Problemstoffen, wie Batterieschrott und Elektronikschrott sowie Klärschlämmen aus der Industrie bis hin zu Stäuben, außerdem Shredder-Leichtfraktionen aus der Automobilindustrie. Damit kann die Dioxinentwicklung bei Schmelzverfahren umgangen werden. Ende der 60er Jahre umfaßte das Verkaufsprogramm der Leuna-Werke rund 400 verschiedene Produkte. Etwa 250 neue Erzeugnisse waren nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt worden. Die Leuna-Werke wurden 1944 fast vollständig zerstört. Heute orientiert Leuna auf eine „sanfte Chemie", z. B. die Produktion von umweltfreundlichen Kraftstoffen und Heizölen. Das ist ein ganz anderer Ausgangspunkt als der Beginn der Werksgeschichte 1916, wo mit einer Sprengstoffherstellung die Produktion begonnen wurde. ({0}) - Nein, nein, das ist kein Prospekt, das ist anderes Material. ({1}) - Nein, das ist nicht am Thema vorbei! Wir müssen Hoffnungshorizonte erschließen, und das will ich hier tun. ({2}) - Wir sind selbstverständlich dafür, daß der Antrag weiter bearbeitet wird. Diese Problematik muß in der Diskussion bleiben. Das ist ganz notwendig. Lassen Sie mich doch abschließend dies sagen: Wir wollen keine harte Chemie und keine Rüstungs- und Abfallexporte mehr, sondern Technologien, die modernen Anforderungen genügen. Wenn wir in den neuen Bundesländern eine großtechnische industrielle Kapazität für ein Kunststoffrecycling schaffen, dann haben wir einen konkreten Schritt zur Abfallbewältigung im eigenen Land getan. Es wäre gut, wenn von Ihnen nach Ihren Möglichkeiten konkrete Unterstützung gegeben würde. ({3}) - Gut, das nächste Mal spreche ich frei, das geht auch. ({4}) Ich halte viel davon, daß das Know-how der Menschen, die wirkliches Fachwissen besitzen, zum Aufbau einer zukunftsorientierten Wirtschaft genutzt wird, die das Abfallproblem hier in der Bundesrepublik löst. Sie müssen sich bitte darüber klar sein, daß die Katastrophe bei uns in den neuen Bundesländern mit dem Ausgang des Zweiten Weltkrieges vergleichbar ist. Die Industrie ist zerstört und liegt darnieder. ({5}) - Nein, ich glaube nicht, daß Sie das wissen. Ich glaube nicht, daß Sie vertieft genug darüber nachgedacht haben. Sonst würden diese Zwischenrufe nicht kommen. Ich bin es gewöhnt, daß konstruktive Gedanken aufgenommen werden. Das sind keine Prospekte, sondern erst mal interne Informationen, die wir dort erhalten haben. Das erspare ich mir, das trage ich nicht vor, sondern ich bemühe mich - das habe ich früher schon immer getan, ich habe ein Leben lang in der Industrieforschung gearbeitet, ich habe zwei Verfahren vom Labor bis zur Produktionsreife gebracht, ich weiß, was alles dazu erforderlich ist -, mich hinter die Kollegen von Leuna zu stellen und sie zu unterstützen, so gut ich nur kann. Wenn ich dabei unter Ihnen jemanden finden würde, der mir dabei Hilfestellung geben würde, dann würde ich mich freuen. ({6})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erhält jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Vizepräsident Helmuth Becker beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, unser Kollege Dr. Bertram Wieczorek, das Wort.

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke, wir sollten an diesem wunderschönen, sehr warmen Abend die Schärfe aus der Diskussion nehmen. Frau Kollegin Philipp, ich will Ihnen hier noch einmal in aller Form bestätigen - Sie haben ja auch einige Signale aus Bonn von der Koalition bekommen -, daß an der Perspektive, an der Zukunft des Chemiedreiecks von seiten der Politik und auch von seiten der Wirtschaft mit hoher Priorität gearbeitet wird. Letztendlich muß die Frage beantwortet werden: Haben wir Investoren, die auch die Aussicht haben, an diesem Standort wirtschaftlich erfolgreich zu arbeiten? Lieber Kollege Feige, nun bin ich in der großen Schwierigkeit, Ihren Antrag für die Bundesregierung zu beurteilen. Ich weiß nicht, ob das mehr ein Leitartikel, ein Feuilleton oder ein Essay ist. Bei aller Wertschätzung Ihrer Person muß ich Ihnen sagen: Sie tun etwas, was sehr häufig hier an dieser Stelle schon getan wurde: Sie vermischen in unzulässiger Weise zwei Problemfelder, nämlich die Abfallpolitik und die Rohstoff- und Energiepolitik. Sie formulieren hier: Das Ansetzen an der Quelle verringert nicht nur die Abfallmengen, sondern auch den untragbaren Energie- und Rohstoffkonsum unserer Volkswirtschaft. Herr Kollege Feige, wir beide sind vielleicht die letzten, die ein solches Urteil gegenüber der Marktwirtschaft abgeben können. Wenn überhaupt in frevelhafter Weise mit natürlichen Ressourcen umgegangen wurde, dann war das vor allem in dem Land der Fall, aus dem wir kommen; aber Spitzenreiter sind hier immer noch die Staaten der GUS. ({0}) Ich will nicht bestreiten, daß es dort Zusammenhänge und Abhängigkeiten gibt. Das ist gar keine Frage. Meine Damen und Herren, hier wird aber die Abfallwirtschaft mit den nachfolgenden Schlußfolgerungen überfordert, indem ihr quasi mehr oder minder die Steuerung der gesamten Volkswirtschaft bzw. unserer Lebens- und Verhaltensweisen übertragen wird. Dies ist mit tiefen planwirtschaftlichen Eingriffen in die soziale Marktwirtschaft verbunden. Ich glaube, daß die Abfallwirtschaft zwar einen Beitrag zur Ressourcensicherung leistet, nicht aber eine ökologische Orientierung der Stoff- und Energiepolitik ersetzt. In diesem Sinne ist die Vermeidung kein Selbstzweck. Denn auch über die Verwertung werden Primärrohstoffe und Energieträger ersetzt. Dann, liebe Frau Kollegin Müller, müssen wir natürlich den Begriff „Sekundärrohstoff" auch einmal richtig definieren. Es war natürlich weder die Ober-noch die Untersekunda, aber das verzeihe ich Ihnen gerne. Das ist nun mal ein Ausdruck, der aus einem anderen Duden stammt. Aber ich meine, wenn wir diesen Begriff auch im Zusammenhang mit der EG-Terminologie hier richtig anwenden, dann werden wir im Herbst nach der Anhörung auch im Ausschuß zu einer konstruktiven Diskussion zu diesem Thema kommen. Es ist von Einfallslosigkeit und von mangelnder Aktivität der Bundesregierung gesprochen worden. Meine Damen und Herren, die Verabschiedung der TA Siedlungsabfall, die schon vorhandene TA Sonderabfall, die 17. BImSchV - ich will das hier einfach einmal sagen - sind ein weltweit beispielhaftes Regelungssystem. Daß dies beispielhaft ist, hat vorgestern der EG-Umweltrat in Luxemburg gezeigt, indem er, zwar nicht ganz nach den Vorstellungen der Bundesrepublik Deutschland, aber immerhin annähernd eine EG-Richtlinie über die Verbrennung gefährlicher Abfälle angenommen hat, die unseren Vorstellungen schon sehr, sehr nahekommt. Ich will die kurze Zeit, die ich hier habe, jetzt nicht nutzen, unseren Gesetzentwurf noch einmal vorzustellen. Die Kollegin Müller hat genau die Hierarchie dieses Gesetzes dargestellt, indem sie einfach die Überschrift vorgelesen hat. Das ist unsere Grundlage. Auf dieser Grundlage werden wir auch die Vermeidung von Abfällen weiter vorantreiben. Man muß auch einmal die historische Abfolge sehen: Bis 1986 gab es ein Gesetz, das eigentlich nur zur Abfallentsorgung da war. Ab 1986 hat man sich das erstemal über die Abfallvermeidung Gedanken gemacht. Deshalb zielt auch der Antrag im Bundesrat zur Veränderung des § 14 Abfallgesetz und zur Ergänzung des § 22 im Bundes-Immissionsschutzgesetz viel zu kurz. Wir wollen jetzt wirklich in den Bereich der Produktverantwortung gehen. Wir wollen Rückstände vermeiden. In diesem Sinne ist auch unsere Begrifflichkeit nach meiner Überzeugung wesentlich klarer als die der EG, wo wir gleich wieder beim Abfallbegriff sind. Wir haben hier auch einen dynamischen Prozeß im Zusammenhang mit der Entwicklung des Standes der Technik. Wir müssen und werden uns laufend darüber Gedanken machen - das kann man nicht mit einfachen Listen -: Was sind Sekundärrohstoffe? Was kann man stofflich verwerten? Was muß man z. B. thermisch verwerten? Es gibt Riesenunterschiede zwischen thermischer Behandlung und thermischer Verwertung. Zum Abschluß, Herr Feige, eine Bemerkung: Für uns ist die thermische Behandlung eine Voraussetzung für eine umweltschonende Ablagerung da, wo es unvermeidbar ist, und kein Alibi, die Wegwerfgesellschaft sozusagen wieder neu aufzulegen. Ich glaube, Sie schätzen die Entwicklung etwas falsch ein. Die ideologischen Mauern werden langsam eingerissen. Sehen Sie die letzte Tagung der Amtschefs der Umweltministerien der Lander, oder lesen Sie einmal das letzte Interview des Kollegen Jo Leinen aus dem Saarland. Ich denke, wir nähern uns langsam einer sachlichen, sehr ernsthaften Diskussion, die mehr Ergebnisse bringt, als das, was bisher hier vorgetragen wurde. In diesem Sinne freue ich mich auf die parlamentarische Auseinandersetzung über das neue Kreislaufwirtschaftsgesetz. Ich bin fest davon überzeugt, daß wir hier zu einer Verabschiedung kommen. Zum Schluß: Wenn Sie sich nach der Prosa und der Lyrik der Einleitung der Stellungnahme des Bundesrates einmal mit der Stellungnahme der Ausschüsse beschäftigen, dann sehen Sie, daß letztendlich auch der Bundesrat dieses Gesetz will. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 12/4835 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Nunmehr kommen wir zu Punkt 12 der Tagesordnung: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und F.D.P. und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention über die Rechte nationaler Minderheiten und ihrer Angehörigen - Drucksache 12/5227 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß Innenausschuß Rechtsausschuß ({0}) Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre und sehe auch hier keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem unserem Kollegen Friedrich Vogel ({1}) das Wort.

Friedrich Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich sehe in der Tagesordnung, daß Überweisung vorgesehen ist. Da wir uns über die Fraktionsgrenzen hinweg über den Inhalt des Antrages verständigt haben, bitte ich, einverstanden zu sein, daß wir hier heute gleich beschließen und nicht erst überweisen. Herr Präsident, vielleicht ist es möglich, so zu verfahren. Als ich zu Beginn dieser Legislaturperiode in die Parlamentarische Versammlung des Europarats ging, hatte ich zwei Anliegen. Das eine Anliegen war, für die Zukunft den Kontrollmechanismus der Europäischen Menschenrechtskonvention so zu reformieren, daß er auch bei Erweiterung des Europarates leistungsfähig ist und den hohen Standard des Menschenrechtsschutzes aufrechterhalten kann. Das zweite Anliegen war, eine Rechtsgrundlage für Minderheitenschutz innerhalb der Staaten des Europarates zu erreichen. Wir haben uns hier mit der Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung zur Reform des Kontrollmechanismus befaßt. Inzwischen können wir feststellen, daß das Ministerkomitee des Europarates eine schnelle und gute Arbeit geleistet hat und damit dem entspricht, was wir hier in einem Beschluß des Deutschen Bundestages gewünscht haben. Wir haben unserer Bundesregierung diesen Wunsch mit auf den Weg gegeben. Der Bundeskanzler hat dieses Anliegen ausdrücklich unterstützt. Wir haben die Mitteilung aus dem Ministerkomitee, daß auf der Grundlage des sogenannten single-courtSystemes inzwischen die Arbeiten so fortgesetzt werden, daß wir damit rechnen können, daß bei dem Gipfeltreffen in Wien am 8./9. Oktober 1993 ein festes Mandat zur Erarbeitung eines Zusatzprotokolls und auch zum Inhalt dieses Zusatzprotokolls erteilt werden kann. Das gibt uns Hoffnung auf Erfolg in diesem Bereich. Ich darf mich insbesondere bei der Bundesregierung für ihr Eintreten bedanken, gleichzeitig die Bundesregierung ermuntern, im Ministerkomitee für den vollen Erfolg dieses Anliegens einzutreten. Das zweite ist das Thema Minderheiten. Ich darf sagen, es hat kürzlich ein Treffen der europäischen Justizminister in Lugano stattgefunden. Dort ist übereinstimmend festgestellt worden, daß der Schutz nationaler Minderheiten für Frieden und Stabilität auf dem europäischen Kontinent notwendig sei. Man kann das Ministerkomitee nur ermuntern, sich die Vorarbeiten zunutze zu machen, die die Parlamentarische Versammlung des Europarates bereits geleistet hat. Wir sind in der Parlamentarischen Versammlung so weit gegangen, daß wir dieses Mal den vollen Text für ein Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention erarbeitet und dem Ministerkomitee sozusagen an die Hand gegeben haben, um dem allzuviel Arbeit zu ersparen. ({0}) Das ist eine nützliche Arbeitsgrundlage, kann ich nur sagen. Auch hier kann ich mich darauf berufen, daß der Bundeskanzler seine Unterstützung und damit die Unterstützung der Bundesregierung für die Erarbeitung eines Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention gegeben hat. Es hat ja Auseinandersetzungen über die Frage gegeben, ob hier eine völlig neue Konvention erarbeitet werden soll - ich fürchte, das würde noch sehr, sehr lange Zeit in Anspruch nehmen - oder ob wir den in der Sache tatsächlich bescheideneren Weg eines Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention gehen sollen. Dafür gibt es in der Europäischen Menschenrechtskonvention Anknüpfungspunkte, von denen wir gesprochen haben. Das ist der sogenannte Individualansatz für Minderheitenschutz. Wir sind der Auffassung, daß uns der Spatz in der Hand lieber ist als die Taube auf dem Dach. ({1}) - Das klingt nicht einmal witzig, Herr Kollege Bindig. ({2}) Friedrich Vogel ({3}) - Ja, gut war es; das bestätige ich Ihnen. Man weiß doch, worüber sich eine Opposition in der Situation, in der sie sich heute befindet, schon freuen kann. Diese Freude gönnen wir Ihnen selbstverständlich gerne. Der Antrag, der Ihnen vorliegt, ist eine Aufforderung an die Bundesregierung, dieses Anliegen zu unterstützen und die Widerstände der Staaten durch Überzeugungsarbeit zu überwinden, die heute noch Widerstand leisten. Das sind im wesentlichen die gleichen Staaten, die bei der Verbesserung der Reform des Kontrollmechanismus Widerstand geleistet haben. Herr Staatssekretär Funke, vielleicht kann man auch die überzeugen, daß dies der richtige Weg ist. Ich habe gesagt, warum Zusatzprotokoll und nicht Konvention: einmal, weil das der einfachere Weg ist, zum zweiten aber - das ist uns wichtig -: In der Europäischen Menschenrechtskonvention, vor allen Dingen, wenn die Reform gelungen sein wird, steht ein Kontrollmechanismus zur Verfügung, der sicherlich auch für ein Zusatzprotokoll nützlich ist, das die nationalen Minderheiten in den Mitgliedsländern des Europarates schützt. Also die herzliche Bitte: Helfen Sie uns auch in diesem Bereich, Erfolg zu haben! Ich jedenfalls werde zufrieden sein, wenn die beiden Anliegen erledigt sein werden, die ich zu Beginn dieser Legislaturperiode hatte, als ich in die Parlamentarische Versammlung des Europarates ging. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, wir haben die Bitte des Kollegen Vogel gehört. Er hat gesagt, interfraktionell wollen wir uns dazu entscheiden, hier gleich abzustimmen und nicht zu überweisen. Ich muß nur noch eine Frage stellen: Frau Angela Stachowa hat ihre Rede zu Protokoll gegeben. *) Ich brauche einmal die Zustimmung, daß Sie damit einverstanden sind; denn sie hat - wie auch ich im Moment - Sprachschwierigkeiten. Weiterhin muß ich wissen, ob auch die Gruppe PDS/Linke Liste einverstanden ist? - Das ist sie. Dann kann ich jetzt dem nächsten das Wort erteilen. Das ist unser Kollege Dr. Klaus Kübler. - Bitte sehr.

Dr. Klaus Kübler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001238, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will für die SPD-Fraktion ausdrücklich erklären, daß wir der direkten Abstimmung zustimmen, daß wir sie natürlich wollen. Ich möchte ergänzend zu dem, was Herr Kollege Vogel gesagt hat, nicht nur die Bitte, sondern auch die Aufforderung an die Bundesregierung richten, sich entsprechend dem voraussichtlich einstimmigen Votum des Bundestages zu verhalten. Lassen Sie mich die Minderheitenfrage etwas grundsätzlicher ansprechen. Wir haben alle erfahren, daß nach dem Wegfall des ideologischen Ost-WestGegensatzes und der damit verbundenen erzwungenen innerstaatlichen Stabilität in den Ländern Osteuropas, allerdings auch in gewisser Weise in Westeuropa, die Frage nach der staatlichen Behandlung von Minderheiten eruptiv aufgebrochen ist; ich gebrauche in diesem Zusammenhang bewußt dieses Wort. Dies gilt praktisch für die große Mehrzahl der osteuropäischen alten und neuen Staaten. Ich bin mir bewußt, daß wir heute primär über ein Zusatzprotokoll sprechen, das leider nur die zur Zeit im Europarat vertretenen Länder verpflichten wird. Dazu gehören aber auch schon einige osteuropäische Länder. ({0}) Man kann wohl davon ausgehen, daß auf die osteuropäischen Länder, die auf der Warteliste für die Aufnahme in den Europarat stehen, ein solches Zusatzprotokoll enorme Wirkungen haben wird. Wer die Situation in den osteuropäischen Ländern verfolgt, sieht, daß die Demokratisierungsprozesse in diesen Ländern ganz maßgeblich überlagert, und ich sage: beinahe unterminiert werden von den internen ethnischen Auseinandersetzungen, die diese Länder politisch und wirtschaftlich bei dem Versuch einer neuen Politik teilweise lahmlegen. Ich glaube nicht, daß man zuviel sagt, wenn man von zahlreichen weiteren schwelenden Krisen dieser Art spricht. Der Präsident der Föderativen Republik Rußland - auch dies sollte man hier sagen -, Jelzin, hat einen Verfassungsentwurf vorgelegt, in dem er den föderalistischen Bestrebungen der 20 ethnisch definierten Teilrepubliken deutlich entgegenkommt. Ich sehe eine Chance, die ergriffen worden ist. Ich unterstreiche aber auch: Wenn nicht bald von den anderen osteuropäischen Ländern - ich nehme jetzt einmal die asiatischen GUS-Staaten heraus - anerkannte und angewandte Minderheitenrechte geschaffen werden, wird das östliche Europa einschließlich der baltischen Staaten innenpolitisch nicht zur Ruhe kommen, ganz abgesehen von den außenpolitischen Spannungen mit den jeweiligen Nachbarstaaten, die damit natürlich einhergehen. Die osteuropäischen Länder würden ihre Kräfte - dies gilt auch für die Türkei; dies darf ich mir erlauben zu sagen - in zahllosen innerstaatlichen Konflikten verschleißen und tun dies ja auch schon. Die Folge wären ein weiterer sozialer und wirtschaftlicher Abstieg und massive Benachteiligungen bis hin zu Situationen, die in den Bereich der Menschenrechtsverletzungen - dies haben wir z. B. in der Türkei - gehen. In diesem Sinne ist der Minderheitenschutz letztlich auch ein Schutz von Menschenrechten. Auch die westeuropäischen Länder haben ihre Minderheitenprobleme, die schon länger bekannt sind, die schwelen und die nicht gelöst sind. Die Frage des Minderheitenschutzes in Afrika und vielen asiatischen Ländern - von Indien über Indonesien bis zu vielen anderen Ländern - spielt, auch wenn dieses Thema in diesen Ländern auf Grund der innenpolitischen Machtstrukturen bisher faktisch unterdrückt worden ist, eine zunehmende Rolle und wird auf Dauer nicht unterdrückbar sein. ) Anlage 4 Es ist deshalb in der Tat für Europa und als Vorbild für andere Länder von allergrößter Bedeutung, daß dieses Zusatzprotokoll unterzeichnet wird und in Bälde in den Ländern ratifiziert werden kann. Die übereinstimmende Haltung aller Fraktionen ist ausgesprochen positiv. Es ist vertretbar, daß die Zuwanderungspolitik, z. B. die Frage, was Türken, Italiener und Spanier in Deutschland angeht, aus dem Komplex Minderheitenrechte zunächst ausgeklammert wurde und Minderheitenfragen und Zuwanderungsfragen nicht mit einer gewissen Automatik verknüpft wurden. Deshalb halte ich es auch zum jetzigen Zeitpunkt für vertretbar, daß das Vorhandensein der jeweiligen nationalen Staatsbürgerschaft zu einem Definitionskriterium für Minderheiten gemacht wird. Den Integrationsfaktor Staatsbürgerschaft halte ich prinzipiell für notwendig. Deshalb haben die Schweiz, Österreich und Deutschland in Mittel- und Westeuropa so gut wie keine Minderheitenprobleme - trotzdem sage ich das mit einer gewissen Zurückhaltung -, weil der ausgeprägte föderative und regionale Aufbau des Staates, also Föderalismus, Regionalismus und Subsidiarität, Minderheiten ausreichend schützt, ihre Entfaltung sicherstellt und tragischen Ereignissen wie im ehemaligen Jugoslawien vorbeugen kann. Die Anerkennung von Minderheitenrechten bedeutet aber auch die politische und juristisch gefestigte Anerkennung, daß eine multikulturelle Gesellschaft besteht. Wer Minderheitenrechte juristisch anerkennt, bestätigt faktisch und auch juristisch eine multikulturelle Gesellschaft. Ich hoffe, daß wir Deutsche dies als Vorteil begreifen und nicht Angst davor haben. Es wäre wünschenswert, daß in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat endlich auch die Verankerung von Minderheitenrechten vorgesehen wird. Die SPD hatte beantragt - dies spielt hier hinein, was Zusammenarbeit auf nationaler Ebene in Zukunft angeht -, Art. 20 des Grundgesetzes zu ergänzen, und zwar mit folgendem Wortlaut: Der Staat achtet die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten. Er schützt und fördert Volksgruppen und nationale Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit. Ich füge hinzu: Die Zugehörigkeit zu einer Minderheit ist Angelegenheit der persönlichen Entscheidung eines Menschen, die für ihn allerdings keinen Nachteil haben darf. Die CDU/CSU und auch die Kolleginnen und Kollegen der F.D.P. haben vor, positiv darauf zu reagieren. Wer ein Zusatzprotokoll völkerrechtlich will, der dürfte sich eigentlich nicht allzusehr enthalten, eine entsprechende nationale Regelung in der Verfassung zu treffen. Das Minderheitenrecht ist nicht identisch mit dem Selbstbestimmungsrecht von Völkern. Wer staatliche Selbstbestimmung anstrebt, kann dies nicht oder, füge ich hinzu, nicht allein aus einem Minderheitenrecht ableiten. Die staatliche Selbstbestimmung - sprich: Souveränität -, z. B. für Kurden oder Tibeter oder vorher für Slowenien und Kroatien, bedarf dringend der weiteren völkerrechtlichen Diskussion. Einer weiteren eingehenden Diskussion bedarf auch die Frage, ob es bei Verletzungen von Minderheitenrechten in Zukunft ein Einmischungsrecht geben sollte und, falls ja - wofür ich grundsätzlich plädieren würde, weil Minderheiten nicht das Eigentum des jeweiligen Staates sein dürfen -, unter welchen Modalitäten. Wir machen mit dem Zusatzprotokoll einen wichtigen Schritt in Europa. Deutschland sollte aber zusätzlich in seiner eigenen Verfassung neue Akzente setzen und das Thema in weiteren internationalen Gremien voranbringen. Das Minderheitenthema bleibt, wenn es nicht gelöst werden kann, eine der Hauptursachen für zahlreiche künftige politische, wirtschaftliche und soziale Fehlentwicklungen mit massenhaften Menschenrechtsverletzungen. Deshalb müssen diesem Zusatzprotokoll weitere Initiativen der Bundesrepublik folgen. Ich bedanke mich. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Dr. Burkhard Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es hätte mich gewundert, wenn es dem Kollegen Kübler nicht gelungen wäre, Tibet hier zu erwähnen. Es geht um ein Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention. In dieser Beziehung scheinen sich alle Teile dieses Hauses entsprechend unserem gemeinsamen Antrag einig darüber zu sein, daß der Minderheitenschutz eine völlig neue politische Rolle einnimmt und einnehmen muß. Mit dem Zerfall der Nationalstaaten suchen die Menschen notwendig andere Einheiten. Ethnische Konflikte brechen auf. Es ist ein Element einer aktiven Friedenspolitik, dafür zu sorgen, daß Minderheiten in den Staaten geachtet werden und daß sie ihre Identität bewahren können, damit die Minderheitenkämpfe, wie wir sie in manchen unserer Nachbarstaaten schmerzlich beobachten können, aufhören, die teilweise auch auf unserem Gebiet ausgetragen werden. Das muß ein Ende haben. Dazu müssen wir aktiv beitragen, nicht nur dadurch, daß wir sagen, wir dulden das bei uns nicht, sondern dadurch, daß wir eine Politik formulieren, die auch für uns selber vorbildlich ist, nämlich Achtung und Schutz von Minderheiten. Ich glaube, darin sind wir uns einig. Wir haben das vor Jahren zum erstenmal formuliert. Ich habe einen Antrag vom Dezember 1991 gefunden, in dem wir die Bundesregierung aufgefordert haben, den Minderheitenstandard, der sich aus den KSZE-Konferenzen von Kopenhagen, Genf und Moskau ergibt, in die Charta aufzunehmen und dazu entweder eine gemeinsame Konvention oder, wie wir jetzt etwas bescheidener sagen, ein Zusatzprotokoll zu formulieren. Ich muß in der Tat dem folgen, was Herr Kübler eben angedeutet hat. Ein paar Meter weiter tagen wir gleichzeitig in der Verfassungskommission und haben dort in wenigen Viertelstunden über einen Antrag abzustimmen, den wir teilweise gemeinsam eingebracht haben, nämlich einen Minderheitenartikel zum Minderheitenschutz im Grundgesetz zu verankern. Die Formulierung, die SPD und F.D.P. gemeinsam beantragen, lautet: Der Staat achtet die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten. Ich bin konsterniert, daß die Vertreterin Ihrer Fraktion, Herr Kollege Vogel, ausgeführt hat, daß die Aufnahme dieses Satzes in die Verfassung das friedliche Zusammenleben mit Ausländern in der Bundesrepublik gefährden würde. Das geht nicht. Wir können nicht nach außen gemeinsam eine bestimmte Position vertreten, deren Einhaltung von anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft einfordern und selber sagen: Aber bei uns nicht. Das ist so wie „Grüß mich nicht Unter den Linden" in Verbindung mit einem schönen Gedanken, aber sobald es ernst wird und es zu einer offiziellen Identifizierung kommt, sagt man: Da wollen wir doch etwas Distanz halten. Das geht nicht. Ich wäre Ihnen, Herr Kollege Vogel, der Sie eben doch sehr eindrucksvoll ausgeführt haben, daß es ein Teil Ihres politischen Strebens seit Jahren ist, etwas Derartiges zu verwirklichen, persönlich sehr dankbar, wenn Sie mit dafür sorgen würden, daß wir in der Verfassungskommission bei der Abstimmung heute wenigstens mit diesem einen Satz weiterkommen. Er wird ins Plenum wiederkehren. ({0}) Es ist eine Frage, aus der wir Sie nicht werden entlassen können. Für die F.D.P. möchte ich sagen: Wir sind selbstverständlich damit einverstanden, wenn der gemeinsame Antrag nicht überwiesen, sondern über ihn heute abgestimmt wird. Wir werden ihm so zustimmen, wie er vorgelegt ist, weil wir die Minderheitenpolitik, die Anerkennung der Identität von Minderheiten als ein Element friedlichen Zusammenlebens in einem zusammenwachsenden Europa betrachten, dem wir weder ausweichen können noch wollen. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, jetzt erhält unser Kollege Gerd Poppe das Wort.

Gerd Poppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001736, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag ist in einem doppelten Sinn von hoher Dringlichkeit. Einmal drängt die Zeit, da bereits im kommenden Oktober in Wien die Konferenz der Staats- und Regierungschefs des Europarates stattfinden wird, wo es die gute Gelegenheit gäbe, den der Empfehlung 1201 der Parlamentarischen Versammlung des Europarates zugrunde liegenden Entwurf eines Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention zu verabschieden und zur Zeichnung aufzulegen. Unbestreitbar böte ein solches Zusatzprotokoll gerade auch wegen der in der Menschenrechtskonvention garantierten individuellen Beschwerde- und Klagemöglichkeiten entscheidende Vorteile auf dem Weg zu einem international verbrieften und einklagbaren Minderheitenschutz in Europa. Trotzdem sollte nicht vergessen werden, daß mit diesem Zusatzprotokoll die kleinere Lösung angeboten wird. Kollege Vogel sprach vom Spatz in der Hand. Auch ich hatte das in meinem Text, was zeigt, wie einig wir uns in dieser Frage sind. ({0}) Die große Lösung steht noch aus. Schließlich war das jahrzehntelange Bemühen im Europarat um einen effektiven Minderheitenschutz immer an dem Ziel ausgerichtet, mit der Erarbeitung und Verabschiedung einer umfassenden Konvention zum Schutz von Minderheiten parallel zur Menschenrechtskonvention zumindest innerhalb Europas ein Instrument zu schaffen, welches vor allem in der schier unüberwindlichen Hürde der Definition eines den Realitäten genügenden Minderheitenbegriffs endlich Klarheit zu bringen versprach. Offenbar war dieses Ziel zu hoch gesteckt. Längst haben die aktuellen Veränderungen in Europa und die weltweiten massenhaften Wanderungsbewegungen die Verabschiedung einer derartigen Konvention in die Nähe der Utopie gerückt. Zumindest die Problematik nationaler Minderheiten wird mit diesem Zusatzprotokoll endlich von der unverbindlicheren KSZE-Ebene auf die Ebene des internationalen Rechts gehoben, vorausgesetzt, die Bundesregierung handelt im Sinne der ihr in unserem gemeinsamen Antrag zugewiesenen Vorreiterrolle. Es gibt aber noch einen zweiten Grund, warum dieser Antrag eilbedürftig ist. Es handelt sich um die fast am Rande geforderte Ratifizierung der von der Bundesregierung bereits gezeichneten Charta über Regional- und Minderheitensprachen. Das Besondere an dieser Charta ist, daß sie zur Zeichnung und Ratifizierung nicht nur für Mitgliedstaaten des Europarates aufliegt, sondern für alle Staaten offen ist, z. B. für Rumänien oder die Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Wir wünschen uns nachdrücklich, daß die Bundesregierung diese Charta umgehend dem Bundestag zur Ratifizierung zuleitet, unabhängig davon, ob nun das Sorbische, Dänische oder Friesische bei uns bereits auf nationaler Ebene ausreichend geschützt und gefördert wird, weil die Vorbildwirkung einer Ratifizierung dieses grundlegenden Instruments zum Schutz von Minderheiten, denke ich, von uns allen hier im Hause sehr hoch eingeschätzt wird. Seit 15 Monaten müssen wir nun erleben, wie in Bosnien-Herzegowina das Modell eines multiethnischen und multikulturellen Europa zu Grabe getragen wird. Lassen Sie uns deshalb, meine Damen und Herren, gemeinsam die wenigen Möglichkeiten nut14530 zen, die einer solch unheilvollen Entwicklung in Europa noch entgegengesetzt werden können. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz, unserem Kollegen Rainer Funke, das Wort.

Rainer Funke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000624

Herr Präsident! Meine Damen und Herren, der vorliegende interfraktionelle Antrag entspricht vollständig den Bestrebungen der Bundesregierung. Die Geschichte hat gerade in der jüngsten Zeit gezeigt, daß der Minderheitenschutz eines der drängendsten Probleme in Europa - Kollege Kübler, ich kann Ihnen völlig recht geben: nicht nur in Europa - ist. Die Bundesregierung hält deswegen rechtliche Regelungen zum Schutz nationaler Minderheiten für ein vordringliches Anliegen. Solche Regelungen dienen der Verhütung von Konflikten und damit dem Frieden, der Gerechtigkeit, der Stabilität und der Förderung und Aufrechterhaltung der Demokratie. Dies wird in dem vorliegenden Antrag zu Recht hervorgehoben. Auch die informelle Konferenz der europäischen Justizminister, die in der vergangenen Woche in Lugano stattgefunden hat, hat darauf besonders hingewiesen. Die Bundesregierung setzt sich bei den Beratungen im Europarat deshalb dafür ein, Herr Kollege Vogel, ein Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention auszuarbeiten. Auf diese Weise werden die Straßburger Organe, die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, in die Lage versetzt, über die Einhaltung der Minderheitenrechte zu wachen. Dieses Kontrollsystem ist bewährt und effizient. Wir begrüßen deswegen den Entwurf der Parlamentarischen Versammlung, mit dem dieser Weg gegangen wird. Die Bundesregierung fördert mit großem Nachdruck die vorbereitenden Arbeiten in den verschiedenen Ausschüssen des Europarates und wird selbstverständlich auch im Ministerkomitee des Europarates für dieses Vorhaben eintreten. Ob sich im Europarat letztlich eine Mehrheit für ein Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention finden wird, erscheint zur Zeit fraglich. Es gibt Mitgliedstaaten, die dem Vorhaben eines solchen Protokolls insgesamt kritisch gegenüberstehen. ({0}) Unabhängig davon ist aber auch zweifelhaft, ob die zeitliche Erwartung des Antrags, Herr Kollege Vogel, realistisch ist und ob ein solcher Entwurf schon auf der Konferenz der Staats- und Regierungschefs im Oktober dieses Jahres zur Zeichnung aufgelegt werden kann. ({1}) - Aber Sie wissen doch, Herr Kollege, daß es zur Verabschiedung aller Abkommen nicht nur einer Mehrheit, sondern der Einstimmigkeit bedarf. Wir wollen dieses Konsensprinzip erreichen und durchsetzen. Die Beratungen im Europarat sind nicht einfach und brauchen eben auch Zeit. Die tatsächlichen und die rechtlichen Verhältnisse sind in den Mitgliedstaaten des Europarates sehr unterschiedlich. Das führt dazu, daß es auch über die Dringlichkeit des Minderheitenschutzes unterschiedliche Auffassungen gibt. Besondere Schwierigkeiten bereitet dabei die Definition des Minderheitenbegriffs, der aber von zentraler Bedeutung ist. Wir halten es für richtig, eine Definition auf der Grundlage des Begriffs der nationalen Minderheit vorzusehen, der insbesondere voraussetzt, daß die Angehörigen der Minderheit Staatsangehörige des Staates sind, in dem sie als Minderheit anerkannt werden wollen. Davon geht ja auch der Entwurf der Parlamentarischen Versammlung aus. Andere Mitgliedstaaten möchten weitergehen und z. B. auch Wanderarbeitnehmer und Immigranten einschließen. Das Ministerkomitee des Europarats hat als Termin für den Abschluß der vorbereitenden Arbeiten den kommenden September festgelegt. Vorher wird sich zuverlässig kaum abschätzen lassen, welche Regelungen im Rahmen des Europarates möglich sind und zu welchem Zeitpunkt sie realisiert werden können. Die in dem Antrag außerdem erwähnte Europäische Charta über Regional- und Minderheitensprachen ist nach Auffassung auch der Bundesregierung ein wichtiger Beitrag zum Minderheitenschutz. Darüber hinaus dient sie der Erhaltung gewachsener Kulturen in einem föderalen Europa. Wir wollen keinen europäischen Einheitsbrei, sondern die Stärkung über viele Jahrhunderte verfestigter Kulturen. Zur Zeit wird mit den zuständigen innerstaatlichen Stellen, insbesondere mit den Bundesländern, abgestimmt, welche Sprachen für die Charta angemeldet werden sollen. Die Bundesregierung wird sich bemühen, so bald wie möglich den Entwurf eines Vertragsgesetzes zur Vorbereitung der Ratifizierung der Charta vorzulegen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Die Fraktionen und Gruppen des Hauses sind übereingekommen, daß eine weitere Beratung nicht erforderlich ist. Wir kommen daher zur Abstimmung über den von den Frakionen der CDU/CSU, der SPD, der F.D.P. sowie der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Antrag zur Europäischen Menschenrechtskonvention über die Rechte nationaler Minderheiten und ihrer Angehörigen auf der Drucksache 12/5227. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen. Vizepräsident Helmuth Becker Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 13 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Sozialgesetzbuchs über den Schutz der Sozialdaten sowie zur Änderung anderer Vorschriften ({0}) - Drucksache 12/5187 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Innenausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dem wird nicht widersprochen. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, unserem Kollegen Rudolf Kraus, das Wort.

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Mittelpunkt des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sozialgesetzbuches steht der Schutz der Daten, die sich bei den Krankenkassen, den Arbeitsämtern, den Sozialämtern und anderen Leistungsträgern befinden. Diese Daten betreffen die Gesundheit, die Einkommensverhältnisse oder die psychische Konstitution der Betroffenen. Der Entwurf baut auf dem geltenden Recht von 1980 auf. Er berücksichtigt das für den Datenschutz grundlegende Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Volkszählungsgesetz und die vor zwei Jahren in Kraft getretene Neufassung des Bundesdatenschutzgesetzes. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz wurde intensiv beteiligt. Die unterschiedlichen Ausgangspunkte konnten weitgehend zur Übereinstimmung gebracht werden. Automatisierung, elektronischer Datenabruf und moderne Speichermöglichkeiten haben den Umgang mit den Daten verändert. Aus rechtlichen und technischen Gründen war es deshalb erforderlich, den Sozialdatenschutz neu zu gestalten. Ein Ziel bleibt aber unverändert im Mittelpunkt: Der Bürger hat die Sicherheit, daß bei den Sozialbehörden seine personenbezogenen Daten allein für die Erledigung der gesetzlichen Aufgaben verwendet werden, wobei bereits die Erhebung der Daten eingeschränkt worden ist. Ebenso wird die gesamte Datenverarbeitung, d. h. das Speichern, Verändern, Übermitteln, Sperren und Löschen der Daten, Gegenstand der neuen Bestimmungen. Die Begriffe werden, um Klarheit in der Rechtssprache zu schaffen, an die des Bundesdatenschutzgesetzes angepaßt, einmal das Prinzip, die Daten beim Betroffenen selbst zu erheben, zum anderen das Gebot des Bundesverfassungsgerichts, die Daten nur zu dem Zweck zu verwenden, zu dem sie erhoben worden sind. Innerhalb des Sozialleistungssystems haben die Leistungsträger der Verzahnung wegen häufig eng zusammenzuarbeiten, zumal Daten des Betroffenen vielfach nur bei einem Träger vorhanden sind. Die Neuregelung soll diese Zusammenarbeit deutlich erleichtern. In den vergangenen Monaten wurden verstärkt Überprüfungen bei Sozialleistungsträgern durchgeführt. Daraus wurde deutlich: In einzelnen Bereichen, so z. B. bei den Arbeitsämtern und den Sozialämtern, ist ein erheblicher Mißbrauch beim Leistungsbezug festzustellen. Im Interesse der Beitrags- und Steuerzahler müssen wir den unrechtmäßigen Bezug von Sozialleistungen stärker bekämpfen, als das bisher geschehen ist. Dazu müssen Kontrollstellen Zugang zu den erforderlichen Daten haben. Den gläsernen Bürger wird es trotzdem nicht geben. Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfs ist die Wahrung des Sozialgeheimnisses, genauso wie das in der Vergangenheit geschehen ist. Die Bundesregierung stimmt dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz zu, wenn er in seinem Tätigkeitsbericht darauf verweist, daß der vorliegende Entwurf in vielen Punkten wesentliche datenschutzrechtliche Fortschritte bringt. ({0}) Der Entwurf ist ein Beitrag, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung sachgerecht zu verwirklichen. Ich bedanke mich. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans Büttner.

Hans Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000302, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Herr Staatssekretär Kraus hat in der Tat eben aus der Zweckbindung dieses Gesetzentwurfs zitiert, in dem es heißt: Eine verstärkte Zweckbindung und Nutzung der Sozialdaten wird angestrebt sowie eine Verstärkung der Rechte der Betroffenen. Leider stimmt diese Aussage im Titelblatt mit der tatsächlichen Formulierung nicht überein. Hier wird - ich glaube, da sind wir als Politiker gefordert - auf dem Wege der Verwaltung eine erhebliche Einschränkung der Selbstbestimmungsrechte der Bürger aus dem Bundesdatenschutzgesetz vorgenommen. Wenn nämlich der Entwurf in der vorliegenden Fassung Gesetz werden sollte, so gibt es künftig für Sozialdaten weniger Schutz als für Daten in anderen Verwaltungsbereichen. Wie ist es nun gelungen, diese Regelung durchzusetzen? Ganz einfach: Man hat den Sozialleistungsbereich insgesamt aus dem Bereich der Verwaltung herausgelöst und behauptet, daß die Verwirklichung der Grundrechtsgarantien und ein den allgemeinen Datenschutzgesetzen entsprechendes Datenschutzniveau die innerhalb dieses Bereichs notwendigen Informationsflüsse unnötig erschweren würde. Mit Hans Büttner ({0}) dieser Begründung meint man, die auf dem Vorblatt selbst deklarierten Ziele und Lösungen für den Schutz des Austausches von Daten innerhalb des Sozialbereichs nicht realisieren zu müssen. Konsequenterweise werden dann die formal aufrechterhaltenen Gebote der Datenerhebung bei Betroffenen unter Einhaltung der Zweckbindung insoweit wieder außer Kraft gesetzt. Entscheidend ist aber, daß der in der weiteren Begründung des Entwurfs behauptete Gesetzgebungszweck, nämlich die Anpassung an die vom Bundesverfassungsgericht vor allem im Volkszählungsurteil aufgestellten Grundsätze für gesetzgeberische Folgerungen aus dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, in wesentlichen Punkten konterkariert wird. Das gilt insbesondere für die im Entwurf vorgesehenen Regelungen über die Erhebung - § 67 a -, die Nutzung - § 67 c - und Übermittlung von Sozialdaten für die Erfüllung sozialer Aufgaben. Denn die Zentralaussage des Bundesverfassungsgerichts in seinem Volkszählungsurteil lautet - ich zitiere -: Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffenden Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden. Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung - so das Verfassungsgericht - und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, wenn die Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Hieraus hat das Bundesverfassungsgericht u. a. den Grundsatz der Zweckbindung bei der Nutzung und Verarbeitung personenbezogener Daten sowie die Forderungen nach Transparenz für den Betroffenen und nach normenklaren gesetzlichen Beschränkungen des informationalen Selbstbestimmungsrechts abgeleitet. Diesen Grundsätzen wird der Entwurf - da muß ich Ihnen widersprechen, Herr Staatssekretär - weder in § 35 SGB I noch in §§ 67 ff. SGB X gerecht. So ist z. B. der in § 35 Abs. 2 verwendete Begriff des/der Befugten nirgendwo definiert. Die Folge ist, daß die für die Wahrung eines Sozialgeheimnisses im Bereich von Sozialleistungsträgem eminent wichtige Bestimmung nicht normenklar ist. Das fordert aber das Bundesverfassungsgericht. Es bleibt also den betroffenen Behörden und der rechtlichen Auseinandersetzung überlassen, wie dieser Begriff im einzelnen ausgelegt wird, was gegebenenfalls nach völlig unterschiedlichen Gesichtspunkten geschieht. In § 67 a Abs. 2 Satz 1 und § 67 c Abs. 1 SGB X in der Fassung des Entwurfs heißt es, daß Sozialdaten beim Betroffenen zu erheben sind; Sie haben darauf hingewiesen. Aber in den jeweils folgenden Absätzen wird diese Bindung für Datenabfragen, -nutzungen und -übermittlungen innerhalb des Sozialbereichs faktisch wieder aufgehoben. Sozialdaten können ohne Mitwirkung des Betroffenen praktisch unbegrenzt bei anderen Sozialleistungsträgern abgefragt und erhoben werden. Der Bundesrat hat dabei - und ich sage das mit aller Deutlichkeit - in Mißachtung der datenschutzrechtlichen Vorschriften auch die letzten Hemmnisse noch wegräumen wollen. Die Leistungsträger sollen nach § 67 c Abs. 2 - entgegen dem anderslautenden Grundsatz in Abs. 1 - Sozialdaten für die Erfüllung sämtlicher ihnen obliegender Aufgaben nach dem SGB nutzen können. Dem entspricht § 67 Abs. 9, der auch die großen Sozialleistungsträger, nämlich BfA und die Bundesanstalt für Arbeit, mit einigen tausend Mitarbeitern und einer Fülle völlig unterschiedlicher Aufgaben als einheitliche datenverarbeitende Stelle definiert. Ich erinnere Sie daran: Wir haben vor nicht allzu langer Zeit über den Gutachterskandal gesprochen. Durch dieses Gesetz würde der Gutachterskandal nachträglich legitimiert, und damit würde er auch die Einwände des Bundesdatenschutzbeauftragten konterkarieren. Schließlich sollen die Sozialleistungsträger alle Sozialdaten praktisch frei austauschen können. Das Ergebnis: statt Zweckbindung und Transparenz für den Betroffenen der undurchsichtige Sozialdatenpool. Diese Diskriminierung von Sozialversicherten gegenüber anderen Bürgern ist weder verfassungskonform und verfassungsrechtlich gerechtfertigt noch verwaltungsökonomisch geboten. Statt Umsetzung des Volkszählungsurteils und einschlägiger rechtskräftiger Gerichtsentscheidungen in das Sozialrecht ist dieser Schritt in der Tat ein Schritt zum gläsernen Bürger in seinem sensibelsten Bereich. Ich gehe noch etwas weiter: Wir sollten sensibel genug sein, um zu verhindern, daß über den Bereich der Sozialdaten, der Gesundheits- und Krankheitsdaten - Sie haben das aufgeführt - sozusagen ein zweiter „Sozialstaatssicherheitsdienst" eingeführt wird. Man muß sich wundern, wie dieses Vorhaben angesichts der Sensibilität, die eigentlich für den Datenbereich vorhanden sein müßte, möglich war. Ich meine, es war nur durch die geschürte Mißbrauchshysterie im Bereich der Sozialversicherung möglich, daß auch die Länder gegenüber der schleichenden Aushöhlung der Demokratie blind zu werden drohen. Dazu noch zwei weitere Punkte: Mißbrauch gehört sicherlich auf allen Ebenen bekämpft. Aber es bedarf nicht eines grenzenlosen Ausspähungsgesetzes, um dieses zu tun. Das kann man auch an Hand der jetzigen Gesetzeslage tun. Sie reicht aus, um den mißbräuchlichen Bezug von Arbeitslosengeld oder -hilfe aufzuspüren. Es bedarf nur der Kooperation der Arbeitgeber und nicht des grenzenlosen Durchgriffs auf alle Sozialdaten jedes einzelnen, zumal damit nicht die Arbeit erleichert, sondern nur erschwert wird. Mißbrauch von Versicherungs- und Sozialleistungen läßt sich nicht durch einen wie auch immer gearteten gläsernen Bürger oder „Sozialstasi" verhindern, sondern allein durch die Mitarbeit und das Vertrauen der Bürger in die Aufgaben des Staates. Hans Büttner ({1}) Ohne die soziale Zustimmung zu den Systemen läßt sich Mißbrauch nicht verhindern. ({2}) Dazu gehört auch, daß die Bürger wieder Vertrauen in den Staat und seine Systeme erhalten. Dazu gehört, daß die Regierung endlich die Eigentumsrechte der Sozialversicherung ernst nimmt, indem sie nicht alle Versicherungen, in die die Bürger Beiträge zahlen, in einen Topf mit anderen Sozialleistungen wirft. Dazu gehört auch, daß diese Regierung aufhört, die Sozialversicherung jährlich um Milliarden zu beklauen, indem sie Versicherungsbeiträge für andere Zwecke verwendet. Es muß Schluß sein mit dem Diebstahl aus der Renten- und Arbeitslosenkasse für den Aufbau Ost! Das ist so, als würde die Bundesregierung die Haftpflichtversicherung der Autofahrer für den Straßenbau in den neuen Ländern heranziehen. Mitarbeit und Vertrauen lassen sich nur erreichen, wenn der staatliche Leistungsmißbrauch endlich beendet wird - das wäre übrigens auch ein wesentlicher Beitrag zur Senkung der Lohnnebenkosten - und die Bürger wirklich selbst bestimmen können, was der Staat über ihn an Daten sammelt, sichtet und verarbeitet. Diesem verfassungsrechtlich vorgeschriebenen und demokratisch gebotenen Ziel wird der vorliegende Gesetzentwurf nicht gerecht. Er muß in der parlamentarischen Beratung erst selbst ausreichend gesichert und demokratisiert werden. Wir werden bei der Beratung in den Ausschüssen durch entsprechende Änderungsvorschläge dem Parlament Gelegenheit geben, in dritter Lesung über ein Gesetzeswerk abzustimmen, das das verfassungsrechtliche Prinzip der Datenselbstbestimmung nicht nur im Deckblatt verspricht, sondern in der Gesetzesformulierung auch hält. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Büttner, in dieser doch sehr seriös formulierten Rede fiel der Ausdruck „beklauen" ein bißchen als unparlamentarisch auf. ({0}) Ich erteile das Wort dem Kollegen Jochen Feilcke.

Jochen Feilcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke, Herr Präsident. - Es ist sehr angenehm, daß jedenfalls Sie dem Redner zugehört haben. Lieber Herr Kollege Büttner! Meine Damen und Herren! Die Datenerhebung ist im Sozialgesetzbuch bisher überhaupt nicht geregelt; es gibt keine einschlägige Norm. Die Bundesregierung hat in enger Abstimmung mit dem Datenschutzbeauftragten des Bundes in dem vorliegenden Gesetzentwurf Regelungsvorschläge für die Datenerhebung entwickelt. Das ist ein echter Fortschritt. Durch das Volkszählungsurteil von 1983 kam die Erhebungsproblematik erst ins Blickfeld. Die heutigen Bestimmungen über den Schutz des Sozialgeheimnisses im Sozialgesetzbuch stammen aus dem Jahre 1980. Damals hatte man die Weitergabe nach außen regeln wollen. Man wollte vor allem sicherstellen, daß die Sozialversicherungsträger die Daten nicht weitergeben. An die Frage der Datenbeschaffung hat man zu dem damaligen Zeitpunkt überhaupt noch nicht gedacht. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1983 ist auf die sich damals erst entwikkelnde datenschutzrechtliche Diskussion zurückzuführen. In dem uns vorliegenden Gesetzentwurf wird dem Grundsatz aus dem Volkszählungsurteil, daß die Erhebung von Daten grundsätzlich nur bei den Betroffenen zu erfolgen hat, Rechnung getragen. Die Datenerhebung bei Dritten soll nur ausnahmsweise und genau geregelt erfolgen. - Herr Kollege Büttner, hier von einem grenzenlosen Ausspähungsgesetz zu sprechen ist genauso unangemessen, wie es der Begriff ist, den der Präsident schon gerügt hat. ({0}) Was haben Sie nur für ein Mißtrauen gegenüber den Einrichtungen in unserem Staate, gegenüber den Sozialversicherungsträgern und übrigens auch gegenüber den in diesen Einrichtungen arbeitenden Personen, daß Sie hier mit solchen überzogenen Begriffen argumentieren! - Mit dieser Vorschrift wird Rücksicht auf die Schwierigkeiten in der täglichen Praxis der Sozialversicherungsträger genommen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Feilcke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Büttner?

Jochen Feilcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube, daß es der Sache dient, wenn er eine Zwischenfrage stellen kann. ({0}) - Ich habe einfach Zutrauen zu ihm.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Gestatten Sie oder gestatten Sie nicht?

Jochen Feilcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, eine konditionierte Zusage.

Hans Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000302, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es hat nichts mit Mißtrauen zu tun, aber muß es nicht auch Sie stutzig machen, wenn wir im Parlament nach Beratung im Petitionsausschuß und auch in unserem Ausschuß einstimmig feststellen mußten, wie fahrlässig geheime Gutachten über Personen, z. B. in der Bundesanstalt für Arbeit oder bei Versicherungsträgern, Stellen zugänglich gemacht wurden, die damit überhaupt nichts anzufangen hatten, und einzelne Menschen erheblichen Schaden erleiden mußten? Muß uns das nicht dazu veranlassen, sehr sensibel mit solchen Fragen umzugehen und den großen Behörden nicht alle Daten völlig frei verfügbar zu machen?

Jochen Feilcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin voll und ganz Ihrer Meinung. Nur - ich bin kein Jurist -, ich glaube, daß sich Mißbrauch von Gesetzen nicht verbieten läßt. Es gibt bestimmte Regelungsmöglichkeiten des Gesetzgebers, und wer sich nicht an diese Regelungen hält, wird bestraft. Aber damit sind doch nicht die Regeln von vornherein falsch. Das, wovon Sie berichten, ist natürlich eine kriminelle Handlung. Aber auch mit einer noch so feinsinnigen Regelung ist nicht auszuschließen, daß so etwas immer wieder erfolgt. Ich glaube, ich habe Ihre Frage damit beantwortet. Ich bin der Meinung, daß mit dieser Vorschrift auf die Schwierigkeiten in der täglichen Praxis der Sozialversicherungsträger Rücksicht genommen wird, und zwar im Interesse der Versicherten, Herr Büttner. Ich denke z. B. an den Fall, daß Tatbestände in der Rentenbiographie, die oft sehr lange zurückliegen, ermittelt und überprüft werden müssen. Zum Beispiel müssen durch Kriegseinwirkung verlorengegangene Daten wiederbeschafft oder sehr mühsam rekonstruiert werden. In diesem Fall ist die Zusammenarbeit zwischen den Rentenversicherungsträgern und Krankenkassen geradezu erforderlich und sollte vernünftigerweise auch möglich sein. Oder denken wir an den ebenfalls häufig auftretenden Fall, daß sich die Erhebungszwecke ändern: Zuerst erfolgt die Datenverarbeitung für die Rehabilitation, später werden die Daten für die Berechnung der Erwerbsunfähigkeitsrente benötigt. Hier läßt der Gesetzentwurf die eng begrenzte - Herr Büttner, das wird immer wieder zu betonen sein: die eng begrenzte - Verwendung der schon erhobenen Daten für den neuen Zweck zu. Ein Betroffener hätte ja wohl überhaupt kein Verständnis dafür, wenn für jeden neuen Zweck sämtliche Daten von ihm neu erhoben würden. Ein weiterer Fortschritt ist die Neufassung des § 68 des Sozialgesetzbuches. Er läßt die Weitergabe im Bereich der Amtshilfe nur noch für die Aufgaben der Polizei und zur Geltendmachung öffentlich-rechtlicher Ansprüche zu, z. B. der Zahlung rückständiger Steuern, die aber mindestens 1 000 DM betragen müssen. Auf Verlangen des Bundesrates kommen noch Staatsanwaltschaften und Gerichte hinzu. Als Beispiel für eine besonders strikte Anwendung des Datenschutzes möchte ich den neu gefaßten § 67 Abs. 7 anführen. Er regelt die Weitergabe von Daten innerhalb der speichernden Stelle. In einer Behörde werden Daten nur noch nach den Vorschriften des Sozialgesetzbuches von einem Kollegen an den anderen weitergegeben und nicht etwa mehr routinemäßig. Der Gesetzentwurf versucht sozusagen den Spagat zwischen dem strikten Datenschutz einerseits und dem rationalen Verwaltungshandeln andererseits, stellt den Versuch dar, diese beiden Grundsätze zu verbinden. Das gegliederte System der Sozialversicherung bedingt die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Trägern. Dieser Entwurf wurde in zweijähriger enger Zusammenarbeit mit dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz erstellt. In seinem Bericht vom April dieses Jahres hat er den Entwurf eingehend dargestellt und ihn als erheblichen Fortschritt für den Datenschutz bezeichnet. Ich meine, wir sollten seinem Petitum folgen. Ich hoffe, daß wir dem Gesetz in Bälde unsere Zustimmung auch im Ausschuß für Arbeit und Soziales geben können. Vielen Dank. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Dr. Gisela Babel, Sie haben das Wort.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute ein Gesetz, das einen sehr sensiblen Bereich regelt. Nach dem grundlegenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Volkszählungsgesetz hat sich der Datenschutz ja ständig fortentwickelt. Dieser Entwicklung tragen wir in dem vorliegenden Gesetzentwurf ebenso Rechnung wie in Vorgaben des novellierten Bundesdatenschutzgesetzes. Gesetze und Regelungen zum Bundesdatenschutz sind stets in einem besonderen Spannungsfeld angesiedelt: Auf der einen Seite steht das verfassungsgemäß gewährleistete Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Dies ist in Anbetracht der immer größeren Möglichkeiten, Daten zu erfassen, zu speichern und auch weiterzugeben, wichtig. Auch durch die Erfassung und Verwendung von personenbezogenen Daten kann man tief in die Privatsphäre eines Menschen eindringen. Gerade wir Liberalen haben immer wieder auf die Gefahren hingewiesen, die mit einer solchen Erfassung eines Menschen verbunden sind. Auch im Interesse des Vertrauens der Bürger in den Staat ist es ganz klar, daß der Gesetzgeber hier enge und festumrissene Grenzen abstecken muß. Die Erfassung und Verwendung von Sozialdaten ist hierbei ganz besonders aufmerksam zu beobachten; sie ist schwierig zu regeln. Gerade hier werden ja Daten erhoben, die einer strengen Geheimhaltungspflicht unterworfen werden müssen: die Bedürftigkeit eines Menschen, seine finanziellen Verhältnisse, die Krankheiten, unter denen er gelitten hat, vielleicht besonders Krankheiten psychischer Natur, und viele Dinge mehr, die eigentlich nur den Betroffenen etwas angehen. Aber, meine Damen und Herren, dieses angesprochene Spannungsfeld hat durchaus auch einen anderen Pol. Gerade die Sozialpolitik ist volkswirtschaftlich ein sehr wichtiger Bereich, der auf wirtschaftliche Entwicklungen unseres Landes großen Einfluß hat. Dies ist schon daran erkennbar, daß der mit Abstand größte Einzelhaushalt der des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung mit 100 Milliarden DM ist. Bereits kleine Veränderungen im Bereich der Sozialpolitik - geringfügig geänderte Beiträge in den sozialen Sicherungssystemen, geringfügig geänderte Leistungen aus den sozialen Sicherungssystemen - haben weitreichende Auswirkungen auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik. Gerade wegen dieses Zusammenhangs ist die öffentliche Verwaltung darauf angewiesen, Entwicklungen in der Sozialpolitik rechtzeitig erkennen zu können. ({0}) Sie muß verantwortlich vorausschauend handeln. Denken Sie z. B. an die Rentenversicherung. Auch Fehleinschätzungen in der Sozialpolitik rächen sich besonders stark. Daher ist die öffentliche Verwaltung auf Daten angewiesen, auf Daten, die ihr nur die Sozialversicherten liefern können. Hochrechnungen für soziale Sicherungssysteme benötigen eine solide und verläßliche Grundlage. Dies ist nun die andere Seite des Spannungsfeldes, meine Damen und Herren. Ich bringe ein ganz aktuelles Beispiel. Wir haben heute morgen die Pflegeversicherung verhandelt. Die Daten, auf die wir die gesamten Berechnungen stützen, sind hochgerechnete Daten aus den Jahren 1975/76. Es gibt keine aktuellen Daten darüber, in wie vielen Familien tatsächlich Pflegebedürftige gepflegt werden, weil wir das z. B. bei der Volkszählung nicht gefragt haben. Mir schaudert ein wenig vor dem eventuellen Erwachen, wenn wir bei dieser neuen sozialen Versicherung merken, wie viele Menschen das nun tatsächlich sind. Das ist alles nur Statistik, und Sie wissen, daß die Statistik unter Umständen großen Irrtümern unterliegen kann. Dieses Spannungsfeld, meine Damen und Herren, müssen wir auflösen. Das individuelle Recht auf informationelle Selbstbestimmung und die gesamtgesellschaftliche Notwendigkeit, Daten in vernünftigem Maße zu erfassen, zu speichern und zu verwenden, müssen in ein Verhältnis gesetzt werden: größtmögliche Sicherheit für den Bürger, Handlungsfähigkeit für den Staat. Ich denke, der vorgelegte Entwurf enthält die richtigen Ansätze. Aber über Anregungen können wir uns im Ausschuß sicher noch gern unterhalten. Ich bedanke mich. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/5187 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Dies ist ganz offensichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Hinrich Kuessner, Hans-Joachim Hacker, Dr. Ulrich Janzen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Standort einer Fachagentur „Nachwachsende Rohstoffe" - Drucksache 12/4308 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({0}) Haushaltsausschuß Zu diesem Tagesordnungspunkt haben die Kolleginnen und Kollegen ihre Reden zu Protokoll gegeben.*) Ich darf die Frage stellen, ob Einverständnis s) Anlage 5 darüber besteht, daß wir so verfahren. - Dies ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Antrag an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Darüber besteht, wie ich unterstelle, Einverständnis. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Doris Odendahl, Brigitte Adler, Dr. Ulrich Böhme ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Bildungsgipfel - Vorbereitungen parlamentarisieren und Betroffene einbeziehen - Drucksache 12/4775 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Bildung und Wissenschaft ({2}) Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile unserer Kollegin Doris Odendahl das Wort. - Wie ich sehe, ist sie im Augenblick etwas gehbehindert. Wir wünschen Ihnen gute Genesung.

Doris Odendahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001632, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke schön, Herr Präsident. - Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wenn der Bildungsgipfel parlamentarisiert wird, hätte ich mir auch heute eine breitere Parlamentarisierung vorstellen können. ({0}) Als der Bundeskanzler vor nunmehr eineinhalb Jahren den Bildungsgipfel „erfand", nicht zuletzt, um von der Konzeptionslosigkeit der CDU in der Bildungspolitik abzulenken ({1}) - ja, das war so -, da waren die Erwartungen groß, und es kam auch Freude auf. Sollte es doch schon im Herbst 1992 zu einem Gipfeltreffen des Bundeskanzlers mit den Regierungschefs der Länder kommen, um - ähnlich, wie das dem früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt gelungen war - in einem gemeinsamen Kraftakt vor allem Hochschulprobleme anzugehen. Die Länder, die Hochschulrektorenkonferenz, der Wissenschaftsrat und, soweit er das durfte, auch der Bildungsminister haben dazu Vorarbeiten geleistet. Als sich dabei abzeichnete, daß sich der Gipfeltermin - aus welchen Gründen auch immer - verzögern würde - man redet derzeit von Dezember 1993 oder gar Januar 1994, auf jeden Fall dann, wenn der Bundeshaushalt besiegelt ist und es nichts mehr auszugeben gibt - und daß schon bei den Vorbereitungen wichtige Gruppen, so vor allem die Studierenden selbst, ausgeschlossen waren, hat die SPD-Bundestagsfraktion am 21. April einen Antrag im Deutschen Bundestag eingebracht und die Parlamentarisierung und die Einbeziehung aller Betroffenen vor wichtigen Entscheidungsprozessen im Bildungsbereich gefordert. Es gefährdet den Erfolg und widerspricht allen demokratischen Gepflogenheiten, bei einem so wichtigen und notwendigen Prozeß wie dem der Studienreform, die im Mittelpunkt der Hochschulpolitik stehen muß, die Betroffenen selbst außen vor zu lassen, sie nicht einzubeziehen. ({2}) So wie der Bildungsgipfel selbst wurde auch die Beratung unseres Antrages bis heute verschleppt. Daraus ist zu schließen, daß die Koalitionsfraktionen mit der darin geforderten demokratischen Beteiligung wenig am Hut haben. ({3}) Mit einer 30minütigen Debatte darüber hinwegtäuschen zu wollen - ({4}) - Wenn Sie jetzt zuhören würden, dann könnten Sie das Defizit ein bißchen aufholen. Vielleicht läßt es sich machen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ein bißchen Unruhe, Frau Kollegin, ist angesichts dieser Stunde eigentlich nicht schlecht.

Doris Odendahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001632, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es ist erst halb acht, Herr Präsident. An sich halten wir sonst länger durch. - Mit einer 30minütigen Debatte darüber hinwegtäuschen zu wollen, wird weder dem Stellenwert der Bildungs-und Wissenschaftspolitik bei der Bewältigung der aktuellen und der Zukunftsprobleme der Bundesregierung gerecht, noch bringt eine solche Kurzdebatte angesichts der riesigen Probleme, vor denen unsere Hochschulen stehen, unseren gemeinsamen Willen zum Ausdruck, zu deren Bewältigung beizutragen, und darum geht es ja. So droht diesem Bildungsgipfel genau dasselbe Schicksal, das die Bildungsplanung und damit die Bildungspolitik seit mehr als zehn Jahren beeinträchtigt. Er wird verschleppt, ausgesessen und am Ende vollends zerredet. ({0}) Dabei liegen die Probleme auf dem Tisch. Es hilft nichts, den weiteren Ausbau der Studienkapazitäten entsprechend dem tatsächlichen Bedarf kleinzureden, wie das seit langem versucht wird. Wir sind in dieser heutigen katastrophalen Situation, weil das über viele Jahre immer wieder gemacht wurde. Wir brauchen auf Dauer 1,25 Millionen Studienplätze, davon 40 % an Fachhochschulen, um 30 bis 40 % eines Altersjahrgangs ein berufsqualifizierendes Studium zu ermöglichen. Das ist keine utopische Vorstellung einiger Bildungspolitiker und Bildungspolitikerinnen, sondern eine volkswirtschaftliche Notwendigkeit, auch wenn aus dem Bildungsministerium kommentiert wird, dies sei ein „fruchtloses Ritual"; es handele sich um „realitätsferne" Forderungen nach Hochschulbaumitteln. Notwendige inhaltliche Reformen wurden viel zu lange verschleppt, d. h., die Reform der Inhalte hat mit der qualitativen Expansion nicht Schritt gehalten. Verheerend wirkt sich heute aus, daß die Frage nach einer inhaltlichen Konzeption für die Bildungspolitik - insbesondere in den neuen, aber zunehmend auch in den alten Bundesländern - völlig von der Frage nach den finanziellen Handlungsmöglichkeiten und von der Frage, wer denn die notwendigen Ausgaben tragen soll, bestimmt wird. ({1}) - Das habe ich mir gedacht, daß Sie einen solchen Zuruf machen werden. Ich habe Ihnen hier schon sehr oft erklärt, wie das ist, wenn man nackten Männern in die Hosentasche greifen will. Das müssen Sie doch wissen! Meine Damen und Herren, ich will hier nicht mißverstanden werden. Ich halte diesen Bildungsgipfel nach wie vor für dringend erforderlich. Dazu bedarf es aber einiger Voraussetzungen. Erstens. Der Bildungsgipfel soll bald - wenn möglich, zu Beginn des Wintersemesters 1993/94 - stattfinden. Es soll nicht über die Lehrenden und Lernenden gesprochen werden, sondern mit ihnen und den sie vertretenden Organisationen. Ziel soll es sein, sowohl eine inhaltliche Auseinandersetzung fiber die Zukunft von Bildung und Wissenschaft zu führen als auch die finanzielle Sicherung dieser gesellschaftlichen Aufgaben zu beraten. Zweitens. Wer von den Hochschulen mehr Qualität bei Lehre und Studium erwartet, muß die erforderlichen Rahmenbedingungen schaffen: eine kostendekkende Ausbildungsförderung, die ein konzentriertes Studium zuläßt; eine soziale Infrastruktur an den Hochschulen, die soziales Lernen fördert und die Leistungsfähigkeit in Lehre und Studium verbessert; eine Personalausstattung, die projektorientiertes Studieren in kleineren Gruppen und eine intensive Beratung und Betreuung bei Beginn des Studiums und auch in Prüfungsphasen möglich macht. - Die dafür erforderlichen baulichen Erweiterungen müssen zügig in Angriff genommen werden. In Luftschlössern und Nebelhöhlen läßt sich's nun mal nicht studieren. Drittens. Die Androhung von Sanktionen wie Studiengebühren und Zwangsexmatrikulationen ist der falsche Weg, die notwendigen strukturellen Veränderungen an den Hochschulen, die Verbesserung der Qualität von Lehre und Studium zu fördern. Wieder würden die Studierenden für Verhältnisse verantwortlich gemacht, die wesentlich durch die finanzielle Unterausstattung der Hochschulen verursacht sind. Meine Damen und Herren, Sündenböcke ersetzen keine Reformen, auch wenn es erstmal beglückt, wenn man welche hat. Viertens. Mit Blick auf den deutschen Einigungsprozeß, die westdeutsche Integration und die Verantwortung im Nord-Süd-Verhältnis geht es darum, daß die Politik immer neuer Kürzungsmaßnahmen im Bildungsbereich beendet wird, damit der Standort Deutschland nicht gefährdet wird und das Recht auf Bildung verwirklicht werden kann. Fünftens. Die berufliche Bildung soll aufgewertet, die beruflichen Schulen in den neuen Ländern müssen entsprechend ausgestattet, der Zugang zu den Hochschulen soll offengehalten und für qualifizierte Berufstätige geöffnet, die Weiterbildungsangebote sollen ausgeweitet werden, damit Bildung und Wissenschaft ihrer Verantwortung für die ökonomische und soziale, die ökologische und kulturelle Entwicklung gerecht werden können. Meine Damen und Herren, darüber müssen wir reden, wenn dieser Antrag in den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft überwiesen ist. Lassen Sie mich zum Schluß ausführen, warum es halt nicht genügt, mit dem Zeigefinger auf die Länder zu weisen; es weisen immer drei Finger zurück. Ich zitiere dazu den bayerischen Kultusminister, Herrn Zehetmair. Dazu hatte ich hier noch nicht viel Gelegenheit. Ich freue mich ganz besonders, daß ich es heute tun kann. Er führte in der Beurteilung des Bildungsgipfels aus: Im Moment brauche ich allerdings eine Bundesregierung, die ihre Finanzzusagen für den Hochschulbau einhält und uns nicht ständig die Gelder kürzt; denn ohne den längst verabredeten Ausbau von Universitäten und Fachhochschulen wird eine Studienreform auch in Bayern - auch in Bayern! nicht allzuviel bringen. Die Bundesregierung ist also nun am Zug - deshalb war Ihr Einwurf mit den Ländern nicht sehr gerechtfertigt -, zu beweisen, daß es ihr bei dem Bildungsgipfel ausschließlich darum geht, den ihr gemäßen Teil beizutragen und dabei zu helfen. Vielen Dank. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Unser Kollege Alois Graf von Waldburg-Zeil hat das Wort.

Alois Waldburg-Zeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002413, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem Sie, verehrte Frau Kollegin Odendahl, gestern einen so schönen runden Geburtstag feiern konnten, zu dem wir Ihnen alle noch einmal herzlich gratulieren, ({0}) sind wir mit großer Besetzung aufgefahren. Der Minister ist da, der Parlamentarische Staatssekretär ist da, und sogar unser allerwichtigster Mann in dieser Frage ist da: Herr Dr. Uelhoff, der im Haushaltsausschuß für uns die Fragen der Bildung behandelt. Also, wir sind alle erschienen. Nachdem Sie gefordert haben, wir sollten den Bildungsgipfel parlamentarisieren, sind wir allerdings ein wenig darüber verwundert, daß außer Ihnen selbst aus der Arbeitsgruppe nun ihrerseits niemand erschienen ist. ({1}) Ich möchte aber dem Antrag gerne gerecht werden; denn der Antrag ist ein sehr interessantes Dokument unserer Bildungszeitgeschichte. Er enthält Punkte der Gemeinsamkeit. Kein Wunder, denn es hat in der Geschichte bildungspolitischer Diskussionen in Deutschland kaum je einen Zeitpunkt gegeben, in dem ein so hohes Maß an Übereinstimmung über zu ergreifende Maßnahmen gegeben war. Papiere der Wirtschaft, des Wissenschaftsrates, der Hochschulrektorenkonferenz und der Bund-Länder-Kommission zur Vorbereitung des Bildungsgipfels und sogar der Kultusministerkonferenz enthalten im Maßnahmenkatalog einen ganz soliden Konsenssockel. Um so deutlicher springen im SPD-Papier Positionen ins Auge, die Auffassungsunterschiede widerspiegeln, die wir politisch auch im Plenum austragen sollten, da wir uns an einem Scheideweg der Bildungspolitik befinden, den wir nicht ignorieren können. Ich möchte versuchen, das an drei Punkten deutlich zu machen. Erstens. Grenzen der Bildungsexpansion: Das Papier erwähnt die veränderte Bildungsbeteiligung, die 1991 erstmals zu einer höheren Zahl von Studierenden als Auszubildenden geführt habe. Es stellt aber dann auf Seite 5 fest: Es wäre aber falsch, hieraus auf eine Fehlsteuerung und Gefahr durch „Überqualifikation" zu schließen, wie sie seit Beginn der Bildungsexpansion immer wieder beschworen - und von der Realität nie bestätigt - wurde. Die Bildungsexpansion, so zeigen internationale Vergleiche und auch die Ergebnisse der Qualifikationsforschung, ist fortzusetzen, . . Also, weil in Frankreich 50 % eines Altersjahrgangs ins Hochschulsystem münden und es bei uns erst 30 % sind, muß die Bildungsexpansion fortgesetzt werden. Die Frage sei aber erlaubt: Wohin führt das? Bei uns wird die Debatte der angeblich geringsten Arbeitslosigkeit bei Akademikern unredlich geführt. Es wird weder erwähnt, daß 30 % der Studierenden ihr Studium abbrechen, noch, daß ein Drittel der Abschließenden gar keinen akademischen Arbeitsplatz erhält. In Frankreich ist die Abbrecherquote mittlerweile bei 50 % bereits im ersten Studienjahr. Die Jugendarbeitslosigkeit ist auf 25 % gestiegen. Man blickt dort neidvoll auf die deutsche Berufsausbildung, die ein hervorragendes Mittel darstellt, der Jugendarbeitslosigkeit entgegenzuwirken. Wir müssen also etwas tun, um eine solche Fehlentwicklung, die wir ja am Beispiel des Nachbarn absehen können, zu vermeiden. Wir müssen das Abitur bundesweit so gestalten, daß damit auch Studierfähigkeit garantiert wird. Wenn hier den Ländern eine gewisse Vereinheitlichung nicht gelingt, ist die unvermeidliche Folge die Diskussion um Hochschuleingangsprüfungen, zumindest in Fächern mit Numerus clausus. Wir müssen ferner das Hochschulwesen so gliedern, daß es den Wünschen und Lebensplänen der jungen Menschen entspricht, die studieren wollen. Das heißt Ausbau der Fachhochschulen, das heißt in der jeweiligen Studienhöchstdauer absolvierbare Studiengänge bis zum jeweiligen berufsbefähigenden Abschluß und dann die forschungsvertiefende Promotionsphase. Das heißt Studienzeitverkürzung und Verbesserung der Lehre. Zweitens. Aufwertung der beruflichen Bildung: Ein erstaunlicher Satz steht in Ihrem Papier auf Seite 5. Angesprochen sind „Elemente unseres Bildungssystems, die wie das duale System bei aller internationaler Anerkennung unübersehbare Schwächen aufweisen." Verbesserungsbedürftig ist jedes System. Aber wenn wir unser berufliches Bildungssystem international diskutieren, wird es immer als das Spitzensystem angesehen. Ich glaube, daß es umgekehrt ist, daß die Schwäche bei uns in einer Überprivilegierung des Hochschulsystems liegt. Hier sind die Reformbemühungen anzusetzen. ({2}) Drittens. Das Verhältnis Grundbildung zu Weiterbildung: Auf Seite 7 des SPD-Papiers ist im Hinblick auf die Diskussion um die Dauer der Schulzeit ausgesagt, es dürfen finanzpolitische Kurzsichtigkeit und konservative Bildungsideologie jedoch keine unheilige Allianz eingehen. Pläne, die Durchlässigkeit zwischen weiterführenden Schulen durch eine Verkürzung der Mittelstufe an den Gymnasien zur traditionellen Eliteschule für wenige zurückzuführen, sind nachdrücklich abzulehnen. Ich fürchte, wir alle sind im Parlament immer der Gefahr ausgesetzt, Popanze aufzubauen, auf die wir dann einschlagen. Hier ist das mit Sicherheit geglückt. Darum geht es ja gar nicht. Auslösendes Moment für die Diskussion 12./ 13. Schuljahr ist einerseits der Vergleich in der Europäischen Gemeinschaft, andererseits die Tatsache, daß in vier der neuen Bundesländer in 12 Jahren - übrigens mit einem höheren Stundenanteil als in den alten Ländern mit 13 - das Abitur geschafft werden kann, ({3}) vor allem aber die Erkenntnis, daß die Geschwindigkeit, mit der sich zusätzliches Wissen anhäuft, so hoch geworden ist, daß nur die Weiterbildung in der Lage ist, auf den jeweils jüngsten Stand der Kenntnisse zu gelangen, die Grundbildung aber keinesfalls versuchen sollte, hier hinterherzulaufen, sondern eine solide und gründliche Allgemeinbildung vermitteln soll. Dies ist übrigens eines der unstrittigen Ergebnisse der Enquete-Kommission „Bildung 2000" gewesen. Eine Diskussion der Frage 12/13 nur auf dem Hintergrund finanzpolitischer Erwägungen lehnen die Bildungspolitiker der Union ebenso ab wie die der SPD. Auf dem genannten Gesamthintergrund ergibt die Verkürzung aber sehr wohl einen Sinn. Lassen Sie mich abschließend noch kurz auf die Verfahrensfragen eingehen, die der Antrag zur Veranstaltung des Bildungsgipfels aufwirft. Zunächst einmal ist festzustellen und zu begrüßen, daß der Bildungsgipfel nunmehr tatsächlich in großer Runde in der zweiten Septemberhälfte stattfindet. Was die diversen Gruppenstandpunkte anlangt, sind diese hinreichend durch Presseveröffentlichungen bekannt. Es gilt nunmehr, den Konsens der Entscheidungsträger festzumachen. Dabei muß eines vermieden werden, nämlich daß im Ergebnis gute Willensbekundungen herausschauen, wie sie seit Jahrzehnten in der Studienreformdebatte exerziert werden. Es ist ernsthaft zu prüfen, inwieweit die beschlossenen Reformmaßnahmen dann auch durch Verankerung im Hochschulrahmengesetz abgesichert werden können und müssen. Man wird in Zeiten äußerst begrenzter Staatsfinanzen schließlich auch ernsthaft prüfen müssen, ob Studierende, die die Studienzeiten nicht durch Folgen der Überfüllung, nicht durch fehlende Laborplätze, nicht durch Jobben beim Abschluß, sondern einfach durch eine sehr eigenwillige Interpretation vom „lebenslangen Lernen" exzessiv überschreiten, zur Kasse gebeten werden sollen. ({4}) Man darf nie vergessen, daß der Nulltarif für Studierende von den Bürgern getragen wird, die Steuern zahlen, und das sind zum großen Teil Gleichaltrige. Beim Bildungsgipfel geht es auch um Finanzierungsfragen. Vordringlich aber geht es um inhaltliche Reformen. Wir werden die Gedanken hierzu im Ausschuß bestimmt noch vertieft austauschen können. Ich danke Ihnen. ({5})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Dirk Hansen.

Dirk Hansen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000804, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bildungsgipfel ist angesagt. Ich habe den Eindruck, die SPD versucht, einen Zipfel davon zu erhaschen, indem sie jetzt einen Antrag eingebracht hat und das großspurig „Parlamentarisiertmg" nennt. ({0}) Graf Waldburg-Zeil hat schon darauf hingewiesen, daß schon längst abgemacht ist, und zwar über die verschiedenen öffentlichen Diskussionen, die auch von seiten des Bundes geführt werden, daß jetzt im Oktober auch im Hinblick und in Vorbereitung auf den Bildungsgipfel selbst eine Anhörung mit all den interessierten Kreisen stattfinden wird. Der Bundeskanzler hat mit seinem fulminanten Artikel von vor mehr als einem Jahr die Diskussion zur Eröffnung eines Bildungsgipfels ja im Grunde angestoßen. Mit dem Eckwertepapier zwischen Bund und Ländern ist im Grunde seit Monaten nichts anderes gemacht worden, als diesen Bildungsgipfel in der Sache vorzubereiten. All die Vorwürfe, die ich lese, und zwar gerade von Ihrer Richtung her, dahin gehend, daß es auch seitens dieses Ministeriums keine sachliche Vorbereitung gebe, sind also grundfalsch und voll daneben. Sie sind nur als Polemik zu verstehen. ({1}) Trotzdem muß ich sagen: Der Bildungsgipfel ist endlich auch terminlich zu fixieren. Insofern bin ich mit Ihnen, Frau Odendahl, sehr einig. Dieses ständige Verschieben von Terminen erzeugt letztlich Frust. Das gibt zwar mehr Raum für die gesellschaftliche Diskussion, aber Graf Waldburg-Zeil hat zu Recht darauf hingewiesen, daß seit Jahren - Stichworte „Studienreform" und „Revision von Prüfungsordnungen" - im Bund, in allen Ländern, in allen Parteien, in allen gesellschaftlichen Gruppierungen umsonst, ({2}) völlig ergebnislos diskutiert wird. Alle haben vielleicht guten Willen, scheitern aber letztlich. Also muß das Spitzengespräch der Entscheidungsträger der Regierungen von Bund und Ländern zustande kommen. Das ja, aber das ist doch überhaupt nur sinnvoll, wenn man aus dieser im Grunde polemischen Konfrontation herauskommt von „mehr Geld" - das fordern die einen - und „nichts da!", wie die anderen sagen. ({3}) Diese Polemik zwischen diesen Entweder-oder-Positionen, diesen Alles-oder-nichts-Positionen, zwischen „mehr Geld" und „nichts da! " führt uns doch in der Sache überhaupt nicht weiter. ({4}) Auf dem Bildungsgipfel müssen Inhalte, Strukturen unseres Bildungssystems diskutiert werden, und zwar in den verschiedenen Stufungen. Es darf nicht nur diskutiert werden über das, was zur Zeit Wellen schlägt, nämlich grundständiges, berufsbefähigendes Studium einerseits und wissenschaftsorientiertes Aufbaustudium andererseits. Ich halte die Begriffe ohnehin für daneben. Ich spreche nicht von Grundstudium, sondern lieber von Fachstudium und weiterführendem Studium mit Promotion bis hin zur Habilitation. Wie wir wissen, ist die Semantik in der Politik ja sehr wichtig. Aber die Begriffe sind manchmal falsch, und es entwickelt sich von daher eine schiefe Diskussion. Wir müssen also hin zu einer Strukturendiskussion, zu einem qualitativen Fortschritt. Es darf nicht so sein, daß etwa nur mehr Geld gefordert wird, daß es heißt, 2 Milliarden DM für die Hochschulbauförderung reichten nicht aus. Das wird ja jetzt ständig herausposaunt, ohne zu überlegen, wofür. Man will offenbar quantitative Verhältnisse, alte Verhältnisse nur fortschreiben. Wir erreichen aber keinen qualitativen Fortschritt, wenn nur gesagt wird: Altes weitermachen wie bisher. ({5}) Nein, es muß strukturell eingegriffen werden. Die Diskussion ums Abitur - wir haben uns neulich in diesem Hause darüber unterhalten - ist ja ein Beleg dafür, daß Scharnierstellen innerhalb unseres Bildungssystems zu Recht in die Diskussion gekommen sind, daß man sich darüber unterhalten muß, welchen Stellenwert solche Scharnierstellen wie etwa das Abitur haben. Die Hochschulzugangsberechtigung wollen wir doch eigentlich alle. Auch wir wollen doch die Öffnung der Hochschulen beibehalten- Frau Odendahl, darüber gibt es gar keine Diskussion -, aber wir können die Hochschulen doch nicht offenhalten, wenn demnächst, wie beispielsweise in Frankreich, 80 % eines Jahrgangs das Abitur machen und dann alle ein Studium anstreben, obwohl in Frankreich - Graf Waldburg-Zeil hat zu Recht darauf hingewiesen - unser deutsches duales Berufsausbildungssystem als Vorbild genommen wird. ({6}) Ich habe den Eindruck, wir laufen nicht nur unseren eigenen Zeiten hinterher, sondern sehen auch nicht, was in den Nachbarländern los ist. ({7}) Raus aus der föderalen Kakophonie, raus aus der föderalen Schönfärberei, die betrieben wird. ({8}) - Natürlich, Herr Ex-Bürgermeister, das muß gesagt werden. In den Ländern wird jeweils egoistische Bildungspolitik gemacht. 16 Bundesländer sind wir jetzt Gott sei Dank geworden. Die Gefahr ist aber doch nicht zu übersehen, daß die Bildungspolitik in 16 einzelne Ströme oder, besser gesagt, Bächlein verfließt und verwässert wird. Wo bleibt denn da die Lebenseinheitlichkeit in den Bildungssystemen des Bundes insgesamt? ({9}) Das sind die Strukturen, die auf dem Bildungsgipfel diskutiert werden. Ich fordere den Bundeskanzler und gemeinsam mit ihm den Bundesminister auf, hier entscheidende Strukturen festzuschreiben. Vielen Dank. ({10})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Der Kollege Koschnick ist im Raum, wie Sie hören. Der Kollege Dr. Dietmar Keller gibt seine Rede zu Protokoll. ' ) ({0}) Der Kollege Dr. Wolfgang Ullmann ebenfalls. * ) Besteht damit Einverständnis? - Danke. Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Professor Dr. Rainer Ortleb.

Prof. Dr. Rainer Ortleb (Minister:in)

Politiker ID: 11001657

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gehe mit außerordentlich gemischten Gefühlen an dieses Pult, und zwar aus folgendem Grund: Man verlangt von mir als Amtsträger, daß ich die Bildungspolitik in Deutschland hochhalte. Ich habe hier 19 plus/minus zwei Abgeordnete gezählt. Es fällt mir schwer, unter diesen Bedingungen über den Anspruch der Bildungspolitik in Deutschland zu sprechen. Das ist aber nicht eine Schelte an diejenigen, die jetzt hier sind, im Gegenteil; ({0}) *) Anlage 6 denn Sie sind diejenigen, die mir - egal, welcher Fraktion Sie angehören - über die zweieinhalb Jahre meiner Amtszeit geholfen haben, die Schwierigkeiten der Bildungspolitik zu bewältigen. Ich will deshalb gerecht sein und nicht Schuld und Unschuld zwischen den Fraktionen verteilen. ({1}) Ich bin selbst nicht glücklich darüber, daß wir den Bildungsgipfel zu zerreden anfangen. Ich halte das für katastrophal; denn viele sind angetreten, die einfach wollten, daß Probleme in Deutschland aus 20 Jahren gelöst werden. Wir haben uns in Diskussionen über Finanzen verstricken lassen. Das ist, glaube ich, eines Bildungspolitikers unwürdig; denn wir haben nicht die Aufgaben der Finanzpolitiker zu erledigen. Wir haben die Aufgabe zu klären, welche Probleme uns die Bildungspolitik stellt und was daraus möglicherweise für die Finanzen folgt. Ich werde jeden Angriff der Finanzpolitiker abwehren in dem Sinne, daß wir nicht zu Ende gedacht hätten und daß wir deswegen nur von Geld redeten. Um so betroffener und erbitterter bin ich darüber, daß uns Länderegoismus ({2}) und möglicherweise auch Bundesegoismus in die Gefahr zu bringen drohen, den bildungspolitischen Gipfel, der uns ganz nah vor Augen war, zu zerreden. ({3}) Liebe Freunde der Bildungspolitik - ich habe gesagt: ich rede hier vor allen Fraktionen -, wir müssen dieses ungeborene Kind vor Infektionen schützen. Wir müssen dafür eintreten, daß es überhaupt zu einem Gespräch kommt. Ich habe mir vorgenommen, heute ganz emotional zu Ihnen zu reden, keine Zahlen oder irgend etwas anderes, was uns entzweien könnte, zu nennen. Es kommt darauf an zu erkennen, daß Bildung Investition ist und daß man Bildung, was manche vielleicht wollen, einfach nicht zur Konsumtion rechnen darf. ({4}) Ich habe mit ziemlicher Verblüffung zur Kenntnis genommen, daß auch Ministerpräsidenten, egal welchen Landes, mit ziemlicher Oberflächigkeit - wenn ich diese Kritik anbringen darf - über etwas reden, was Fachleute über Monate vorbereitet haben, und Unreife in der Diskussion vorschreiben. „Vorschreiben" habe ich gesagt; denn die Unreife lag nicht bei uns; ({5}) im Gegenteil: Ich habe - ich möchte das mit der Bitte um Verzeihung und als ostdeutscher Seiteneinsteiger sagen dürfen - einen störrischen Beamtenapparat - ich bitte alle Beamten um Entschuldigung, bei denen das nicht zutrifft - dazu gebracht, daß er in kürzester Zeit in Bund und Ländern hervorragende Papiere erarbeitet hat. Ich möchte gern, daß diese Papiere nicht in irgendeinem Papierkorb enden. Ich habe gesagt: Ich rede ganz emotional. Ich möchte sehr gern, daß dieser Bildungsgipfel seinen Erfolg haben wird; denn wir sind in der Welt nicht mehr allein. Der Standard der Bundesrepublik Deutschland ist ein außerordentlicher gewesen. Diesen außerordentlichen Standard können wir nur halten, wenn wir außerordentliche Bildung pflegen. Es ist jetzt gesagt worden, es würde im September eine Anhörung aller Kräfte stattfinden, die für Bildung zuständig sind. Es würde im Dezember eine administrative Runde staatfinden. Ich bin ein bißchen beleidigt darüber, daß man die Runde im Dezember als administrative Runde bezeichnet. Wir waren schon weiter. ({6}) Die Anhörung - ich glaube, da stimmen wir parteienübergreifend überein - haben wir alle durchzuführen versucht. Ich glaube, daß wir uns als Bildungspolitiker hier nicht zurücksetzen lassen sollten. Ich fasse zusammen: Erstens. Es ist dringend geboten, Strukturreformen im Hochschulbereich zu fördern und uns nicht einreden zu lassen, daß Strukturreformen Qualitätsverluste mit sich brächten. Ich bin selbst Hochschullehrer. Ich weiß, wovon ich rede. Zweitens. Die Konsolidierung von Hochschulen und außeruniversitärer Forschung in den neuen Ländern müssen wir unterstützen. Wir müssen die Unterschiede im Lande ausgleichen. Letztlich dürfen wir bei der Debatte nicht vergessen, daß es auch die berufliche Bildung gibt, deren Wert wir hoch zu schätzen haben. Ich bitte um Ihre Mithilfe. Ich danke Ihnen. ({7})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Bundesminister, ich gehöre ja selber zu denjenigen, die die Frage der Präsenz im Plenum umtreibt. Das aber aus dem Munde eines Regierungsmitglieds zu hören ist immer ein bißchen problematisch, weil das natürlich die Kollegen verlockt, sich auch mit der Präsenz auf der Regierungsbank auseinanderzusetzen. ({0}) Was die Debatte anbetrifft, Herr Kollege, können wir uns gemeinsam mit dem Satz von André Gide trösten: „Ich glaube an den Wert der kleinen Zahl." In früheren Legislaturperioden - daran erinnere ich mich noch gut; ich habe das hier nicht zu rezensieren, aber das ist mein Eindruck - war es so, daß bei Debatten über den bildungspolitischen Bericht jeder Redner nach drei Sätzen bei den Planstellen war. Insofern ist das doch jetzt ein bedeutender Fortschritt. ({1}) Ich schließe die Aussprache. Vizepräsident Hans Klein Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/4775 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietmar Schütz, Friedhelm Julius Beucher, Michael Müller ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Sofortige Ratifizierung des Umweltprotokolls zum Schutz der Antarktis - Drucksache 12/4929 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3}) Auswärtiger Ausschuß Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich ganz offensichtlich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dietmar Schütz.

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! In der Regel ist der Spruch: „Er redet über die Sache wie der Blinde über die Farbe" tödlich für einen Abgeordneten, und nicht selten trifft ja diese Weisheit auch zu. Zumindest was den Gegenstand unserer Debatte, nämlich die Antarktis angeht, sind wir alle hoffentlich Blinde und haben diesen Ort bisher weder gesehen noch betreten. Dies ist gut so und sollte auch so bleiben. Seit über zehn Jahren haben Umweltschützer in aller Welt für den Schutz der Antarktis gekämpft. Sie haben sich dafür eingesetzt, daß der weiße Kontinent möglichst nicht betreten, nicht befahren oder wenigstens in geringer Höhe nicht überflogen wird. Scott hat einmal gesagt: Je mehr Spuren wir auf dieser Erde hinterlassen, desto wichtiger ist es, das zu retten, was noch unzerstört ist. Auch wenn die meisten Menschen nie die Gelegenheit haben werden, die erstaunlichen Eisformationen, die riesigen Pinguinkolonien oder die ehrfurchtgebietende Aussicht auf die Berge und Gletscher Antarcticas mit eigenen Augen zu sehen, so ist es doch ein großer Trost zu wissen, daß irgendwo auf unserer Erde immer noch ein Kontinent mit fast unberührter Wildnis existiert. Diese von Scott beschriebene unberührte Wildnis zu erhalten und allenfalls mit äußerster Zurückhaltung zu erforschen, muß unsere Aufgabe sein. Diesem großen Ziel kam die internationale Staatengemeinschaft am 4. Oktober 1991 in Madrid einen riesigen Schritt näher, als das Protokoll zum Antarktis-Vertrag betreffend den Umweltschutz verabschiedet wurde. Sie alle wissen - wenigstens diejenigen, die sich damit befaßt haben -, daß dieses Abkommen für die nächsten 50 Jahre in der Antarktis alle Aktivitäten verbietet, die mit Öl- und Rohstoffexploitation oder -ausbeute in Verbindung stehen. Ausgenommen davon ist lediglich die Forschung zu wissenschaftlichen Zwecken. Dieses Protokoll löst die Konvention zur Regelung von Rohstoffaktivitäten in der Antarktis, die CRAMRA, ab, die unter einschränkenden Kautelen den antarktischen Bergbau und die Ölexploitation gestattet hat. Dagegen erkennt das Umweltschutzabkommen die einzigartige Qualität der Antarktis an, indem sie sie zum Naturschutzgebiet erklärt, das dem Frieden und der Wissenschaft gewidmet ist. Zusätzlich zum Verbot des Rohstoffabbaus stellt das Protokoll Prinzipien zum Umweltschutz auf und fordert die Kooperation der Antarktis-Vertragsstaaten. Es sollen ein Komitee für Umweltschutz gegründet und ein Schiedsgericht eingerichtet werden. In fünf Anhängen zu diesem Vertrag werden fünf besondere Umweltschutzmaßnahmen vereinbart. Sie betreffen die Themen: Umweltverträglichkeitsprüfung, die durchgeführt werden muß; Schutz der antarktischen Flora und Fauna; Müllbeseitigung, Meeresverschmutzung und geschützte Gebiete. Insgesamt stellt der Vertrag mit seinen umfassenden Schutzbemühungen ein Werk dar, dem wir unverzüglich unsere Zustimmung geben sollten und dessen Zustandekommen wir lobend erwähnen sollten. Die Bundesregierung hat auf unsere wiederholten Anfragen immer mitgeteilt, daß sie diese Zustimmung auch alsbald erteilen wolle. Auf eine entsprechende Frage von mir am 7. Oktober 1992 an die Bundesregierung hat Staatsminister Schäfer damals geantwortet: Es ist geplant, daß die Gesetzentwürfe - nämlich die Zustimmungs- und Ausführungsgesetze Ende 1992 bzw. Anfang 1993 dem Kabinett zur Billigung übersandt und sodann dem Bundestag vorgelegt werden. Mein Kollege Michael Müller hat am 11. Januar dieses Jahres vom Auswärtigen Amt in einer Sachstandsanfrage nach der Implementierung des Umweltschutzprotokolls die Antwort erhalten, daß das Zustimmungsgesetz erarbeitet, das Ausführungsgesetz jedoch in einigen Punkten noch strittig sei. Ein abgestimmter Entwurf werde aber in den ersten Monaten des laufenden Jahres dem Kabinett und nachfolgend dem Parlament vorgelegt werden können. Ich frage, nachdem die ersten Monate dieses Jahres abgelaufen sind, wo eigentlich diese Vorlage ist, was bisher damit passiert ist. ({0}) - Gut Ding ist aber schon lange auf dem Wege. - Offensichtlich bereitet diese Aufgabe doch mehr Schwierigkeiten, als dies offen zugegeben wird. Die Ratifizierung des Umweltschutzprotokolls darf meines Erachtens aber nicht länger hinausgezögert werden. Im Gegenteil: Sie wird deshalb immer dringlicher, weil im kommenden Südsommer, also in unserem Winter, die nächsten großen Touristenströme in die Antarktis aufbrechen und die hochempfindliche Natur dort weiter beeinträchtigt wird. Bis dahin sollten wir zumindest, wie versprochen, alle Aktivitäten, die von deutschem Staatsgebiet organisiert werden, unter den Vorbehalt der Umweltverträglichkeit und Koordiniertheit stellen. Der antarktische Tourismus ist neben der Forschung einer der Regelungsbereiche, die unser besonderes Augenmerk verdienen. Ich kann nicht so weit gehen wie meine Kollegin Monika Ganseforth, die die Einstellung des gesamten Tourismus dorthin gefordert hat. ({1}) - Sie übertreibt manchmal. - Ich habe mir, u. a. auch von Greenpeace, sagen lassen, daß das nicht realisierbar sei. Wir müssen aber angesichts der für dieses Gebiet relativ hohen Besucherzahlen Managementpläne über den Zugang zur Antarktis entwickeln. Nach den mir bekannten Zahlen sind die Touristenzahlen von 4 300 im Jahr 1990/1991 auf 6 400 im Jahr 1991/1992 gestiegen. Für dieses Jahr wurden etwa 6 600 Touristen eingeplant, wovon die Hälfte Deutsche sind. Wir haben also einen unheimlich starken Drang in die Antarktis. ({2}) - Nein, das sind andere Touristen; das läuft über „Seatours" usw. Mit Forschung hat das wenig zu tun. Wenn wir im deutschen Parlament über die Entwicklung des Antarktis-Tourismus reden, so haben wir - wie ich eben anhand dieser Zahlen gezeigt habe - einen besonderen Anlaß, das zu tun. Selbstbeschränkung gerade unserer Nation - wenn wir sie denn durchsetzen könnten - hätten eine deutlich positive Auswirkung. Der Antarktis-Tourismus stützt sich im wesentlichen auf den Schiffstourismus und dabei eben vor allem, Herr Grünbeck, auf die Kreuzfahrten. Dabei handelt es sich, soweit ich informiert bin, nicht um Forscher. Zwar gibt es zahlreiche positive Beispiele über eine umfangreiche und intensive Aufklärung der an Land gehenden Touristen. Es gibt aber auch, vor allem bei den großen Kreuzfahrtschiffen, etliche erschreckende Beispiele für umweltgefährdendes Verhalten. So befahren immer noch einige Schiffe die antarktischen Gewässer, obwohl sie nicht ausreichend oder gar nicht eisqualifiziert sind. Ich erwähne dies, weil die Umweltkatastrophe mit dem argentinischen Versorgungs- und Proviantschiff „Bahia Paraiso" 1989 uns allen noch gegenwärtig ist. Damals flossen mehr als 600 000 1 Öl ins Meer. Im antarktischen Raum hat es in den letzten 13 Jahren 17 Unfälle gegeben; in den letzten 5 Jahren sanken 6 Schiffe. ({3}) Es ist bekannt, meine Kolleginnen und Kollegen, wie empfindlich das antarktische marine Ökosystem auf derartige Unfälle reagiert. Der Abbau des Öls im Wasser dauert wegen der sehr niedrigen Temperaturen extrem lange. Durch Schiffsunfälle wird deshalb die empfindliche Nahrungskette des marinen Ökosystems und damit die Lebensgrundlage der Tiere zerstört. Je eher wir ratifizieren, desto eher können durch das Umweltprotokoll, insbesondere auf Grund der Anlage 5, wichtige Weichen in Richtung auf das erforderliche Tourismusmanagement gestellt werden. Wir schlagen vor, eine solche Koordinierung und vielleicht auch Kontrolle der Antarktisaktivitäten beim UBA zu lokalisieren, das zwar nicht zuständig ist, aber, was die Umwelt betrifft, die Sachkompetenz hat. Eine durchzuführende Umweltverträglichkeitsprüfung ergäbe die Möglichkeit, einige Punkte zu regeln: etwa für die Zugangsberechtigung von Schiffen eine Eisqualifikation zu verlangen, die Verpflichtung zu schaffen, daß die Schiffe polare Rettungsausrüstungen bereithalten und autarke Müll- und Abwasserentsorgungsanlagen haben, eine spezielle Ausbildung der Besatzungen zu fordern, und zwar Besatzungen, die auch wissen, was in der Antarktis los ist. Ferner ist die Begrenzung der Schiffsgrößen und der Passagierzahlen zu nennen. Möglicherweise ist auch das Verbot von Hotelbauten in der Antarktis durchzusetzen. Daß es nicht möglich ist, Tourismus in der Antarktis zu verbieten, habe ich schon gesagt. Aber diese Begrenzungsregelungen, diese Managementregelungen müßten wir durchsetzen, und das würden wir vor allem dann erreichen, wenn wir das Zusatzprotokoll schleunigst ratifizierten. Ich habe gehört, daß die Verzögerung des Ausführungsgesetzes auch deshalb noch andauert, weil Probleme in der Frage der Ausformung der Forschungsaktivitäten bestehen. Es muß aber klar sein, meine ich, daß auch Forschung in dem Reinluftgebiet Antarktis immanente Grenzen hat. Forscher können auch nicht überall alles machen. Der Satz „Macht Euch die Erde untertan" hat - das erfahren wir, glaube ich, heute - durchaus seine Grenzen. ({4}) Auch die Forschung muß das sehen. ({5}) Die Forschung muß auch zur Kenntnis nehmen, daß durch sie Gefährdungen der Antarktis entstehen. Wir sollten das überwinden. Ich bin gespannt darauf, welche Argumente die Bundesregierung heute vortragen wird, um die mittlerweile erhebliche Verzögerung zu rechtfertigen. Ich fürchte: Wir werden immer noch keine Klarheit über Inhalt und Termine bekommen. Wir sollten den Ratifizierungsgeleitzug anführen. Weil wir die meisten in die Antarktis schicken, sollten wir bei diesem Geleitzug vorneweg und nicht hintenan marschieren. Ich bitte die Bundesregierung, das zu tun. Ich danke Ihnen. ({6})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Klaus Harries, Sie haben das Wort.

Klaus Harries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000814, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Sache, lieber Herr Schütz, sind wir uns mit der Opposition weitgehend einig. ({0}) Auch wir sind der Auffassung, daß die Antarktis das größte und am wenigsten berührte Ökosystem unserer Erde ist. Dieses Ökosystem muß in der Tat - das ist überhaupt keine Frage - gerettet werden und bewahrt bleiben. Wir sind uns aber nicht einig darin, daß Anlaß besteht, den Vertrag, den Sie hier zitiert haben, das Umweltschutzabkommen, das in Madrid unterzeichnet wurde, nun sofort zu ratifizieren. Das sehen wir anders. Die Gründe darf ich Ihnen nennen: Wir sind der Auffassung, daß das gerade auch aus den Gründen, die Sie vorgetragen haben, Herr Schütz, ({1}) sehr sorgfältig vorbereitet werden muß - dabei sind wir, oder es ist auch schon eingeleitet -, und wir sind der Auffassung, daß das Ratifizierungsgesetz zusammen mit dem Ausführungsgesetz zu den Fragen, die Sie hier angeschnitten haben, vorgelegt, diskutiert und ratifiziert werden muß. ({2}) Meine Damen und Herren, wir gehören bekanntlich seit 1979 zu den 42 Staaten, die den Antarktisvertrag unterzeichnet haben, der ja schon ganz wesentliche Inhalte gehabt hat, nämlich die Antarktis ausschließlich friedlich zu nutzen, die Antarktis nichtnuklear zu halten und die Freiheit der Forschung sicherzustellen; die Vertragsstaaten wurden auch zu einer wissenschaftlichen Zusammenarbeit aufgerufen. Wir haben in dem Umweltschutzabkommen von 1971, unterzeichnet in Madrid, schwerpunktmäßig weitergehende Umweltschutzverpflichtungen übernommen: Einführung der Umweltverträglichkeitsprüfung, Schutz von Flora und Fauna, Abfallbehandlung und Vermeidung von Verschmutzung der Meere. In dem Zusammenhang, meine Damen und Herren, hat sich die Bundesrepublik Deutschland verstärkt darum bemüht, auch den von den Industriestaaten in der Antarktis betriebenen Bergbau zu beseitigen. ({3}) Dies ist nicht in vollem Umfang gelungen. Wir haben aber mit anderen gleichgesinnten Unterzeichnerstaaten erreicht - Herr Schütz, Sie wissen das wahrscheinlich; sonst sage ich es Ihnen noch einmal -, daß der Bergbau in der Antarktis für 50 Jahre verboten ist. Es ist ein sehr schwieriges, formell schwieriges Verfahren erforderlich, um nach 50 Jahren zu einer Änderung und Wiedereinführung des Bergbaus zu kommen. Ich sehe darin einen Erfolg. ({4}) Nun haben Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, hier einige Schlupflöcher aufgezeigt - solche Schlumpflöcher bestehen; das wird gar nicht geleugnet - und haben auf Gebiete hingewiesen, auf denen Handlungsbedarf besteht. Sie haben gesagt, es fehle eine Haftungsregelung. ({5}) Sie haben gesagt, es fehle die Kontrolle über die Antarktis, um eben das, was in den zwei genannten Verträgen steht, nun auch wirksam vor Ort und nach außen gegenüber den beteiligten Staaten zu kontrollieren. Sie haben - das habe ich eben schon ausgeführt - diesen angeblich mangelhaften Vertrag zum Rohstoffabbauverbot moniert. ({6}) Da bin ich völlig anderer Meinung. 50 Jahre sind ein Zeitraum, den man nutzen muß. - Sie fordern schließlich die Überwachung des Tourismus, des Schiffsverkehrs und der falschen Forschung. Wie sehen wir das? Diese Schlupflöcher bestehen. Dazu gibt es aber bereits eine sehr sorgfältige vorbereitende Arbeit. Ich bin mir ganz sicher, daß der Staatsminister des Auswärtigen Amtes gleich wichtige Details, konkrete Details, vortragen wird. Nach meiner Kenntnis der Dinge ist es so, daß noch in diesem Jahr auf Einladung der Bundesrepublik ein Expertengespräch stattfindet, um Haftungsregelungen zu finden und in Kraft zu setzen. Das zweite ist, daß versucht wird, eine Kontrolle auch in der Bundesrepublik und durch unser Land einzuführen, was zugegebenermaßen in einer Zeit erfolgt, die etwas schwierig ist, schwierig nämlich dadurch, daß die Finanzen knapp geworden sind und daß nun nicht mit leichter Hand Manpower usw. zur Verfügung gestellt werden kann. Aber Auswärtiges Amt und Bundesumweltminister sind nach meiner Kenntnis der Dinge zusammen mit dem UBA dabei, auch hierzu eine Lösung zu finden. Forschung wollen wir haben. Forschung muß sein. Ich nenne nur das Problem, das uns alle immer wieder beschäftigt, das Ozonloch. Die Entwicklung dieser schweren Umweltkatastrophe bedarf der Beobachtung vor Ort. Forschung darf also nicht beeinträchtigt werden; sie muß sein. Aber auch wir legen Wert darauf, daß der BMFT Forschungsvorhaben kontrolliert, von ihnen Kenntnis hat und von daher eingreifen kann. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich darüber hinaus sehr intensiv international engagiert, um zu erreichen, daß man den Tourismus vor Ort unterbindet oder einschränkt, daß er kontrolliert werden kann. Das ist zugegebenermaßen bisher nicht gelungen. Aber wir sind auch national auf diesem Gebiet tätig. Wir sind tätig, indem wir mit den deutschen Reiseunternehmen und mit den internationalen Reiseunternehmen sprechen, um hier auch eine Kontrollmöglichkeit zu schaffen. ({7}) Das alles bedarf der Vorbereitung. Das alles muß in das Ausführungsgesetz konkret aufgenommen werden, damit wir wirklich Nägel mit Köpfen machen. Sehen wir also gemeinsam das, was uns überhaupt nicht trennt, nämlich daß die Antarktis es wert ist, daß man sich immer wieder intensiv mit ihr beschäftigt. Sie gehört in der Tat zum Erbe der Menschheit. Gehen wir also den Weg, den ich aufgezeigt habe: Ratifizierung zusammen mit dem Ausführungsgesetz! Ich bedanke mich. ({8})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Josef Grünbeck, Sie haben das Wort.

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Antarktis gehört niemandem. Wie die hohe See oder der Weltraum ist sie ein staatsfreier Raum, den niemand annektieren kann und der von jedem sorgsam behandelt werden muß. Im Grunde genommen gibt es hier auch keinen Grund zum Streit, weil quer durch alle Fraktionen eigentlich die Überzeugung da ist, daß das so ist und daß wir wegen der Probleme die notwendigen gesetzlichen Schritte sorgfältig vorbereiten müssen, bevor wir die Gesetze verabschieden. Es geht um ein außenpolitisches Problem. Dazu können wir richtigerweise heute vom Herrn Staatsminister vielleicht auch noch einen Zwischenbericht erhalten. Natürlich handelt es sich auch um ein entwicklungspolitisches Problem. Von den sieben Erststaaten, die Besitzrechte anmelden, haben fast alle eine entwicklungspolitische Struktur. Wir haben es hier auch mit einem forschungspolitischen Problem zu tun. Aber am wichtigsten ist sicherlich das ökologische Problem. Die Umweltpolitik in diesem Raum muß abgestimmt sein. Mit dem Antarktis-Vertrag hat man es geschafft, diese Widersprüche zu erfassen. Innerhalb dieses Vertrages gilt es aber besonders, den Forschungsaustausch und das Bergbauverbot unter die Lupe zu nehmen. Theoretisch könnte heute schon ein Nichtmitglied dort eine Ölbohrstation errichten. Es könnte auch Müll anliefern, wovor ich dringend warne. Praktisch sind aber alle Staaten, die Interessen und die Mittel zu so etwas hätten, Mitglied dieses Vertrages. Das heißt, die Bundesrepublik Deutschland ist gut beraten - deshalb bitte ich auch die Kolleginnen und Kollegen von der SPD um Verständnis dafür, wenn wir ihrem Antrag heute nicht stattgeben, denn die Arbeit in den Ausschüssen wird dies zeigen -, wenn wir behutsam vorgehen, weil Behutsamkeit besser ist als Eile. Es ist das Gebot dieser Stunde, daß wir mit Behutsamkeit diese Dinge bei einer international so schwierigen Frage richtig regeln. ({0}) Ich glaube, daß wir auf dem richtigen Weg sind. 1991 wurde das Umweltschutzprotokoll unterzeichnet, das den Vertrag ja nur ergänzt. Dabei geht es um den umfassenden Schutz der antarktischen Umwelt. Dieses Protokoll muß nun in die deutsche Gesetzgebung überführt werden. Es wird schwierig sein, die Ausführungsbestimmungen zu gestalten. Das sage ich Ihnen heute schon. Es wird gar nicht so einfach sein, den Leuten, die dort möglicherweise ein berechtigtes Interesse haben, z. B. in der Klimaforschung ({1}) und auch in anderen Bereichen, Einschränkungen verständlich zu machen. Das gilt auch auf dem Gebiet des Bergbaus. Sagen Sie einmal allen Besitzerstaaten, daß Sie für eine dauerhafte Untersagung sind. Dabei wissen wir weder etwas über die Struktur der Bergbaureserven noch etwas über die Masse und die Qualität. Wir wissen auch nichts über die erhöhten Kosten, die dort durch besondere klimatische Bedingungen gegeben sind, wenn es darum geht, dort überhaupt Bergbau zu betreiben. Das muß man abstimmen. Deshalb bitten wir - der Kollege Harries hat das schon sehr richtig gesagt - um Behutsamkeit. Jetzt sollte erst einmal das Zustimmungsgesetz vorgelegt werden. Dies ist zwischen Ihnen und uns unstrittig. Danach sollten wir das Ausführungsgesetz machen. Meine Damen und Herren, das Ausführungsgesetz ist aber, wie das immer der Fall ist, mit dem Einsatz von Geld verbunden. Wer von uns möchte eigentlich verantworten, die Umweltverträglichkeitsprüfungen und all die Ausgaben, die dafür notwendig sind, um das zu organisieren, vorzustrecken und zu finanzieren, ohne daß wir international die entsprechenden rechtlichen Absicherungen haben? Deshalb ist es wohl richtig, so lange zu warten, bis die Bundesregierung das Ausführungsgesetz vorlegt und die Umweltverträglichkeitsprüfungen, Genehmigungen und Kontrollen und die Aufgaben des Umweltbundesamtes klar definiert, damit wir da nicht in irgendwelche internationalen Schwierigkeiten kommen. Ich freue mich wirklich, daß es in diesem Hohen Hause auch Themen gibt, die gar nicht so strittig sind und bei denen wir lediglich um Termine und möglicherweise noch um Geld streiten müssen. Wenn wir dann aber wirklich das Ausführungsgesetz und das Zustimmungsgesetz verabschieden, müssen wir uns auch darüber klar sein, welche finanziellen Mittel dafür erforderlich sind. Ich glaube, es gibt keinen Grund, in irgendeine Hektik zu verfallen. Ein solcher Raum, der ökologisch von ungeheurer Bedeutung ist, verdient es, daß wir mit der notwendigen Behutsamkeit an die Aufgabe herangehen. Ich freue mich, daß es da eigentlich gar keine Unterschiede zwischen den einzelnen Fraktionen gibt. Herzlichen Dank. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort dem Staatsminister im Auswärtigen Amt, unserem Kollegen Helmut Schäfer.

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Schutz des sehr empfindlichen antarktischen Ökosystems ist ein wichtiges Ziel unserer Antarktispolitik. Die Bundesrepublik Deutschland hat deshalb das Umweltschutzprotokoll zum Antarktisvertrag unmittelbar nach seiner Vereinbarung am 4. Oktober 1991 in Madrid gezeichnet. Alle in der Antarktis tätigen deutschen wissenschaftlichen Einrichtungen wurden von der Bundesregierung aufgefordert, sich auch schon vor Inkrafttreten des Protokolls an seine Gebote zu halten. Um dem Umweltschutzprotokoll innerstaatliche Geltung zu verschaffen, bedarf es einer gesetzlichen Regelung. Die Kollegen von der SPD haben zu Recht darauf hingewiesen und auch nach dem Stand der Verhandlungen gefragt. Dazu darf ich sagen: Fertiggestellt ist der Entwurf des Zustimmungsgesetzes, das das Umweltschutzprotokoll in die nationale Rechtsordnung einführen soll. Ich hoffe, daß es Ihnen im Bundestag bald vorgelegt wird. Die Arbeiten an dem Entwurf des Ausführungsgesetzes, das alle von Deutschland aus organisierten Tätigkeiten in der Antarktis unter den Vorbehalt der Umweltverträglichkeit stellen wird, sind zu großen Teilen ebenfalls abgeschlossen. Herr Kollege Grünbeck hat zu Recht darauf hingewiesen, daß in diesem Zusammenhang auch noch Fragen geklärt werden müssen. Ich darf zwei dieser zu klärenden Sachverhalte herausstellen: Einmal geht es um die noch offene Frage, auf welche Weise die Regelungen des Umweltschutzprotokolls mit bereits bestehenden internationalen Abkommen zum Schutz der Meeresumwelt in Einklang gebracht werden können. Ferner muß noch darüber entschieden werden, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang das Umweltbundesamt für die Wahrnehmung dieser umfangreichen Kontrollaufgaben die nach seiner Auffassung erforderlichen zusätzlichen Stellen und Mittel erhält. Das ist sicherlich eine Frage, die nicht ganz so schnell und einfach beantwortet werden kann. Das Ausführungsgesetz wird - wie im Antrag der SPD-Fraktion gefordert - ein zeitlich unbegrenztes Verbot des Bergbaus in der Antarktis enthalten. Die in Ihrem Antrag geforderte zusätzliche Benehmensregelung zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ist nicht erforderlich. Das Auswärtige Amt handelt bei allen Fragen des Umweltschutzes in der Antarktis in engem Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Diese Zusammenarbeit ist problemlos, da sich beide Ressorts über das anzustrebende Ziel eines möglichst lückenlosen Schutzes der antarktischen Umwelt völlig einig sind. ({0}) Nach Inkrafttreten des Umweltschutzprotokolls werden auch Tourismus und andere nichtoffizielle Tätigkeiten in der Antarktis den dort festgelegten Verboten und Regelungen unterliegen. Bereits jetzt wird eine Intensivierung der Kontakte mit den deutschen Antarktis-Tourismusunternehmen und der International Association of Antarctica Tour Operators, also der internationalen Assoziation, die sich mit Reisen in die Antarktis beschäftigt, angestrebt. Diese Organisation hat sogenannte Visitor-guidelines herausgegeben, die ein umweltschonendes Verhalten der Touristen bei Antarktisbesuchen gewährleisten sollen und die wohl allen in die Hand gedrückt werden, die bei ihren Fahrten in die ferne Welt dort unterwegs sind. ({1}) - Diese Informationen werden natürlich auch in Deutsch gegeben. Da brauchen Sie keine Angst zu haben. Ich meine allerdings, Leute, die so weit fahren, sind des Englischen meistens mächtig. Zu den Aufgaben des Umweltbundesamtes wird es gehören, zusammen mit dem Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung auch Vorschläge für Verwaltungspläne für besonders geschützte oder besonders verwaltete Gebiete in der Antarktis zu erarbeiten. Das Auswärtige Amt beabsichtigt, die Entwürfe für ein Zustimmungs- und Ausführungsgesetz zum Umweltschutzprotokoll dem Bundestag zusammen vorzulegen, um zu vermeiden, daß völkerrechtliche Verpflichtungen nach außen und innerstaatliche Regelungsbefugnis gegenüber deutschen Privatpersonen auseinanderfallen. Daher auch, Herr Kollege Schütz, die Verzögerung. Ich habe mir aber erlaubt, auf das mir vorliegende Papier einen Vermerk anzubringen, was vielleicht etwas zur Beschleunigung in Ihrem Sinne beiträgt. Das Auswärtige Amt hofft, die noch offenen Probleme in Zusammenarbeit mit den übrigen Ressorts bald lösen zu können. Die meisten unserer europäischen Partnerländer im antarktischen Vertragssystem befinden sich allerdings im gleichen Stadium der Implementierung wie wir. Von daher ist richtig, daß es mit der Eile nicht so dramatisch ist, wie Sie das dargestellt haben. Auch die Bundesregierung ist der Ansicht, daß das Fehlen einer Haftungsregelung für Umweltschäden eine wesentliche Lücke im System des antarktischen Umweltschutzes darstellt. Auf der XVII. Konsultativtagung der Antarktisvertragsstaaten im November 1992 in Venedig wurde auf deutschen Vorschlag hin beschlossen, eine Arbeitsgruppe von Rechtsexperten zur Erarbeitung eines Umwelthaftungsregimes für die Antarktis einzusetzen. Ein erster Entwurf für eine solche Haftungsregelung wurde kürzlich an alle Antarktisvertragsstaaten versandt. Das Auswärtige Amt wird im November dieses Jahres zu einer Sitzung von Rechtsexperten der Antarktisvertragsstaaten zur weiteren Beratung dieses Entwurfes einladen. Vom Ergebnis dieses Treffens wird es abhängen, ob schon auf der nächsten Konsul14546 tativtagung des Antarktisvertrages im April 1994 in Kyoto, in Japan, ein Text zur Beschlußfassung vorgelegt werden kann. - Soweit meine Auskünfte heute abend. Ich hoffe, Herr Kollege Müller, daß wir bei dem nächsten Brief, den Sie mir schreiben, schon einen Schritt weiter sind. ({2}) Vielen Dank. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/4929 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, 2. Juli 1993, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.