Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und Herren! Die Sitzung ist eröffnet.
Vor der Regierungsbefragung, da wir heute ja einen anderen Ablauf haben, möchte ich zunächst dem Kollegen Engelbert Nelle, der am 9. Juni seinen 60. Geburtstag feierte, in Abwesenheit nachträglich die besten Wünsche des Hauses aussprechen.
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Weiter teile ich mit, daß nach einer interfraktionellen Vereinbarung der Antrag der Fraktion der SPD „Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit entschlossen bekämpfen", Drucksache 12/5124, auf die Tagesordnung gesetzt und mit Tagesordnungspunkt 3 beraten werden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Damit komme ich zu Tagesordnungspunkt 1: Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Themen der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt:
Erstens. Errichtung eines Deutsch-Amerikanischen Akademischen Konzils.
Zweitens. Bericht über die Aktionen und Ausschreitungen anläßlich der zweiten und dritten Lesung der Asylrechtsänderungen am 26. Mai 1993 im Deutschen Bundestag und daraus zu ziehende Konsequenzen.
Das Wort für den einleitenden Bericht hat der Bundesminister für Forschung und Technologie, Dr. Paul Krüger.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Zustimmung des Bundeskabinetts zur Errichtung eines Deutsch-Amerikanischen Konzils bedeutet einen wichtigen Schritt für den Ausbau der Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika im Bereich von Wissenschaft und Forschung.
Die Gründung dieses Konzils ist Teil eines ganzen Spektrums von Maßnahmen zur Vertiefung der Zusammenarbeit der Bundesrepublik mit den USA in den letzten Jahren. Nach dem Ausscheiden der deutschen Emigranten aus dem amerikanischen Wissenschaftsbetrieb ist eine neue organisatorische Grundlage notwendig, um die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern in den Natur- und Geisteswissenschaften auf qualitativ höchster Ebene dauerhaft zu fördern und weiter zu vertiefen und um eine breitere Basis insbesondere für Kooperationsprogramme für Nachwuchswissenschaftler zu schaffen.
Die neue Einrichtung soll in beiden Ländern der Erhaltung und dem Ausbau der Zusammenarbeit in Qualität wie in Quantität dienen, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten durch viele Wurzeln und persönliche Kontakte verankert und auch gepflegt wurde.
In den USA hat sich in den letzten Jahren die Zahl der wissenschaftlichen Abhandlungen über Europa und Deutschland deutlich verringert. Europa- und deutschlandbezogene Themen in den Geistes- und Sozialwissenschaften werden in den Hintergrund gedrängt. Trotz des starken Einflusses amerikanischer Fachliteratur in Deutschland stagniert der Austausch von Konzepten, Methoden und Ergebnissen. Deutsche Forschungsergebnisse fließen immer weniger in die wissenschaftliche Diskussion in den USA ein.
Für die junge Generation brauchen wir eine eigene Basis, auf der sie die Kontakte und die Kooperationen der Emigranten- und Nachkriegsgenerationen fortsetzen kann. Hauptzweck der neuen Einrichtung soll es sein, in beiden Ländern das Interesse füreinander zu stärken. Die Einrichtung soll neue Ideen für Programme und Projekte in den verschiedenen Bereichen der Natur- und Geisteswissenschaften hervorbringen, ihr interdisziplinäres Zusammenwirken fördern und dabei konkrete Themen und Arbeitsschwerpunkte festlegen. Sie soll als geistige Brücke über den Atlantik dienen.
Die in der Art einer modernen Arbeitsakademie konzipierte neue Einrichtung, die auf eine Initiative von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl zurückgeht, soll vor allem drei Gruppen von Aktivitäten entwickeln: Zum einen soll sie Studien über gesellschaftlichpolitische Themen von gemeinsamem Interesse anregen. Zum zweiten soll sie sich mit Fördermaßnahmen für junge Geistes- und Naturwissenschaftler beider Länder durch interdisziplinäre Treffen, aber auch durch gemeinsame Forschung befassen. Zum dritten soll sie neue Impulse für eine verstärkte Zusammen13846
arbeit in den Geistes- und Sozialwissenschaften geben.
Dem Konzil der Akademie als ihrem wichtigsten Organ werden 15 deutsche und 15 amerikanische Mitglieder angehören. Das sind zum großen Teil hochkarätige Wissenschaftler aus Deutschland und den USA, die über langjährige Erfahrungen verfügen. Auf maximal sechs Jahre sollen Persönlichkeiten berufen werden, die herausragende Beiträge zu Wissenschaft, Technik oder Wissenschaftspolitik erbracht haben und von denen eine aktive Mitarbeit zu erwarten ist.
Das Konzept sichert die Mitträgerschaft - nicht formal, aber in Zielen, Inhalten und Vorgehensweisen - seitens der vier größten Wissenschaftsorganisationen der Natur- und Geisteswissenschaften in den USA. Vielleicht darf man an dieser Stelle erwähnen, daß Frank Press, der Präsident der National Academy of Sciences, gesagt hat, daß es den Deutschen, insbesondere Bundeskanzler Helmut Kohl, mit dieser Initiative erstmals gelungen ist, alle vier großen Wissenschaftsorganisationen der USA an einen Tisch zu bringen. Das sind die National Academy of Sciences, die American Academy of Arts and Sciences, der American Council of Learned Societies und der Social Science Research Council. Dabei sind im übrigen auch die Carnegie-Stiftung und die Rockefeller-Stiftung.
Auf deutscher Seite wird das Konzept von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der MaxPlanck- Gesellschaft und der Alexander-von-Humboldt-Stiftung mitgetragen. Als Rechtsträger ist eine zu errichtende deutsche Stiftung privaten Rechts vorgesehen. Sitz der Einrichtung ist Borm; sie hat eine Außenstelle in Washington.
Die Gründungssitzung des Konzils soll bereits am 29. Juni 1993 in Bonn stattfinden. Die Arbeit soll dann rasch aufgenommen werden können. Die Mittel dafür sind im Nachtragshaushalt 1993 bereits veranschlagt, zur Zeit allerdings noch gesperrt. Ich gehe davon aus, daß der Haushaltsausschuß diese Sperre in seiner nächsten Sitzung aufheben wird, nachdem inzwischen eine Reihe von Fragen, die in diesem Zusammenhang standen, beantwortet werden konnten.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Minister.
Als erster Fragesteller hat Herr Vosen das Wort.
Herr Minister! Ich möchte vorwegnehmen, daß wir diese Einrichtung sehr begrüßen. Wir halten sie für eine sehr vernünftige Sache. Deswegen möchte die SPD dieses Vorhaben auch unterstützen. Unterstützung kann natürlich nur erfolgen, wenn man mitwirken kann.
Meine Frage an Sie: Gibt es Möglichkeiten, über die zu berufenden Gremien oder die 15 Personen, die vorgesehen sind, eine Mitwirkung auch der Politik, einschließlich der Opposition, zu organisieren? Ich denke, das ist eine nationale Frage, bei der man zwischen Regierung und Opposition nicht so unterscheiden muß. Das interessiert uns alle, und wir ziehen am gleichen Strick. Meine Frage ist also:
Wie kann man an diesem Strick mit anfassen? Ist eine Möglichkeit gegeben, sich einzubringen? Der Schwerpunkt soll natürlich die Wissenschaft sein. Das ist klar.
Meine zweite Frage. Ich kenne die Summe der Mittel nicht, die gesperrt sind. Können Sie sie nennen? Reichen die Mittel aus Ihrer Sicht aus? Oder müssen wir, wenn wir in die Haushaltsberatungen für 1994 gehen, etwas dafür tun?
Vielen Dank, Herr Vosen. Ich freue mich ausdrücklich, daß Sie als Opposition das begrüßen. Es ist eine so gute Sache, daß man sich ihr nicht versperren kann, dient sie doch der internationalen Zusammenarbeit auf vielen Gebieten.
Ich darf Ihnen an dieser Stelle auch sagen: Wenn sich die Sache gut entwickelt - es soll ja nach fünf Jahren näher untersucht werden, wie sich die Entwicklung vollzogen hat -, dann wird man den Kreis der Teilnehmerstaaten auch erweitern können.
Die Möglichkeiten der Mitwirkung, die Sie angesprochen haben, sehe ich weniger in politischer Hinsicht. Sie wissen, daß der Teilnehmerkreis zumindest auf deutscher Seite in erster Linie von den großen Wissenschaftsorganisationen ausgesucht worden ist. Es ist weniger eine politische Veranstaltung. Das steht wirklich nicht im Vordergrund. Ich glaube, jeder der Beteiligten freut sich über aktives Mitwirken aller Seiten - wenn Sie schon die Politik ansprechen: sicher auch der Opposition. Das kann in Form der Mitwirkung bei Projekten und Untersuchungen geschehen. Sicher können Sie als Opposition alle Möglichkeiten der Zusammenarbeit und der Einflußnahme, die man im politischen Raum hat, mit nutzen. Sie sollten mit Anregungen, mit Rat und Tat zur Verfügung stehen. Dann werden Sie diesem Konzil erfolgreich Anstöße geben können.
Sie sprachen das Geld an; ich habe die Frage nicht so richtig verstanden. Sie fragten, ob das Geld ausreicht, das jetzt zur Verfügung gestellt wird? - Soweit ich unterrichtet bin, reicht es aus. Ich bin der Meinung, daß diese Sache natürlich nicht nur aus dem Staatshaushalt finanziert werden sollte, sondern daß sich hier eine gewisse Eigendynamik entwickeln müßte. Sie wissen, daß Stiftungen mitwirken. Möglicherweise werden auch von dieser Seite Mittel eingeworben werden; denn die Themen, die ins Auge gefaßt sind, sind durchaus so interessant, daß man in Zukunft tatsächlich Geld einwerben kann. Ich denke schon, daß das Projekt zu finanzieren sein wird. Auf jeden Fall - auch Sie haben betont, wie wichtig und gut diese Aufgabe ist - stehen Aufwand und Nutzen in einem sehr vernünftigen Verhältnis zueinander.
Herr Kubatschka.
Herr Minister, Sie werden selbstverständlich immer die Unterstützung der SPD für eine zukunftsträchtige Forschungspolitik haben. Über deren Notwendigkeit sind wir uns einig. Es geht aber um das „zukunftsträchtige": Wir haben schon in der Vergangenheit Defizite dahin gehend festgestellt, daß unsere Forschungsergebnisse eigentlich viel zu spät in Industriepolitik umgesetzt werden. Sprich: Die
Erkenntnisse, die an den Universitäten und Forschungsinstituten gewonnen werden, werden nicht in marktfähige Produkte umgesetzt.
Wo sehen Sie eine Möglichkeit, über diese Vereinigung zu einer Verbesserung zu kommen? Ich sehe, daß Sie über die Zukunft der Industriepolitik Untersuchungen anstellen wollen. Wir werden natürlich keine Zukunft der Industriepolitik haben, wenn es uns nicht glückt, die Erkenntnisse aus der Forschung umzusetzen.
Herr Minister.
Herr Kubatschka, ich freue mich geradezu über Ihre Frage; denn es liegt mir sehr am Herzen - das haben Sie vielleicht schon meinen ersten Verlautbarungen entnommen -, deutlich zu machen, daß die Umsetzung von Forschungsergebnissen eine ganz zentrale Frage ist und daß diese Umsetzung besser, als dies in den letzten Jahren gelungen ist, gefördert werden muß. Wir dürfen daraus natürlich nicht ableiten, uns zu stark oder gar ausschließlich auf die Umsetzung von Forschungsergebnissen in für die Menschen nützliche Dinge zu konzentrieren. So will ich es einmal ausdrücken. Das sind im Ergebnis nicht nur innovative Produkte, sondern können auch Erfolge im Bereich der Medizin, der Umwelt, im Verkehr und in allen Bereichen, die Menschen interessieren und die Menschen zugute kommen, sein.
Bei der Konzentration auf die Umsetzung in solche Bereiche dürfen wir natürlich nicht so weit gehen, daß wir die Grundlagenforschung vernachlässigen. Wir müssen hier eine gute Synthese finden. Ich bin in der Tat Ihrer Meinung, daß das in den letzten Jahren nicht ausreichend gelungen ist. Das ist aber nicht nur ein Problem Deutschlands, sondern scheint ein internationales Problem zu sein, das alle betrifft - wenn man Japan an dieser Stelle einmal ausnimmt. Japan hat das hervorragend verstanden. Möglicherweise kann man hier von den Japanern lernen.
Auch wenn wir im Sinne der Grundlagenforschung positiv argumentieren wollen, werden wir zunehmend gezwungen sein - auch zur Begründung der Grundlagenforschung -, ihre Ergebnisse stärker umzusetzen. Diesem Feld will sich die Bundesregierung stärker als bisher widmen, ohne - das habe ich hoffentlich zum Ausdruck gebracht - die Grundlagenforschung zu vernachlässigen. Das Deutsch-Amerikanische Konzil kann dabei sicherlich einen wichtigen Beitrag leisten, indem diese Probleme sozusagen mit der geballten Kraft der Wissenschafts-Community beider Lander untersucht werden und man eruiert, wo man erfolgreich umgesetzt hat und wo sich Lösungsmöglichkeiten anbieten.
Ob der Begriff „Industriepolitik", den Sie aufgegriffen haben, dabei günstig gewählt ist und was auch immer man darunter versteht - Sie wissen, darüber gibt es durchaus sehr unterschiedliche Auffassungen -, sollte dabei gar nicht im Vordergrund stehen. Ich habe versucht, die Intention Ihrer Frage aufzugreifen. In dieser Hinsicht sind wir, so glaube ich, völlig d'accord.
Gibt es weitere Fragen zu diesem Punkt? - Frau Dr. Otto.
Herr Minister, wie groß ist der finanzielle Rahmen dieses Konzils, und wird von Ihrer Seite aus sichergestellt, daß auch ostdeutsche Wissenschaftler entsprechend beteiligt werden? Ich habe aus eigener Erfahrung bereits feststellen können, daß in den USA ein sehr großes Interesse an den gesellschaftspolitischen Fragen der Zeit besteht, insbesondere in bezug auf die Umstellung der ostdeutschen Forschung und Wissenschaft.
Zum finanziellen Rahmen: Es ist geplant, in diesem Jahr 2,3 Millionen DM zur Verfügung zu stellen; im nächsten Jahr werden es 4,6 Millionen DM sein. Dann wird eine stärkere finanzielle Beteiligung aus den USA erfolgen. Das ist ein schrittweiser Prozeß. Ich denke, der finanzielle Rahmen - darüber hatte ich schon gesprochen - ist nicht das Entscheidende.
Sie sprachen an, in welchem Umfang in diesem Konzil auch ostdeutsche Wissenschaftler mitarbeiten. Ich habe schon zu Herrn Vosen gesagt, daß sich Mitarbeit nicht auf das Konzil selbst beschränkt. So hoffe ich natürlich, daß in diesem Rahmen ostdeutsche Wissenschaftler und Menschen aller Bereiche - es betrifft nicht nur Akademiker, die in die Zusammenarbeit einbezogen werden -, auch aus Ostdeutschland einbezogen werden. Bei meinen Gesprächen, die ich mit Vertretern der USA bisher hatte, habe ich das große Interesse gespürt, welches sie speziell den Problemen der Wiedervereinigung Deutschlands und den Problemen der neuen Bundesländer entgegenbringen. Ich denke, einer der Kernpunkte der Arbeit dieses Konzils wird sein, diese Probleme aufzugreifen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, haben sie doch in gewisser Weise Richtwirkung auch für andere Länder, zumindest für die Länder Mittel- und Osteuropas.
Leider kommt bei den bisher benannten Vertretern des Konzils auf deutscher Seite nur ein Wissenschaftler aus den neuen Bundesländern. Das ist Herr Weiss, der Rektor der Universität Leipzig, der Ihnen sicher sehr bekannt sein wird. Ich habe bereits kritisch angemerkt - es sind im Konzil noch einige Stellen offen -, daß bisher sehr wenig Vertreter aus den neuen Ländern dabei sind. Ich hoffe, es wird uns gelingen, geeignete Kandidaten zu finden, die wir hier aufnehmen können. Ich betone dabei, daß es nicht nur Wissenschaftler sein müssen; es können auch Persönlichkeiten aus dem kulturellen Bereich sein. Wir sind dabei, über die Besetzung nachzudenken. Ich hoffe, daß es uns gelingen wird, Repräsentanten auch aus den neuen Ländern zu finden.
Es gibt noch eine Frage zu dem ersten Teil. Dann kommen wir zum Bereich Asyl. Ich sage das, weil ich jetzt schon mehrfach gefragt worden bin. Jetzt liegt aber noch eine Frage von Frau Philipp zum Deutsch-Amerikanischen Konzil vor.
Es geht mir um die ethische Verantwortung der Wissenschaftler. Ich
habe selbst sehr lange in der Industrieforschung gearbeitet und zwei Verfahren von der unmittelbaren Laborforschung bis zur Produktionsreife gebracht. Dabei war der Übergang von der Forschung in die technologische Vorbereitung sehr wichtig. Er sollte damals in andere Hände gelegt werden. Ich habe gesehen, daß der Kollege einfach nicht das Wissen, das ich selbst hatte, übernehmen konnte. Ich habe dann den Werkleiter gebeten, mir die Aufgabe zu übertragen, nicht weil ich den anderen diskriminieren wollte, sondern weil ich gesehen habe, daß es besser ist, wenn mein Wissen weiterentwickelt wird. Das hat zu sehr kurzen Überleitungszeiten geführt.
Frau Philipp, kommen Sie bitte zu Ihrer Frage.
Meine Frage lautet: Wird in der Kommission beachtet, die ethische Verantwortung der Wissenschaftler in einer Weise herauszufordern, daß sie sich mit einer angepackten Aufgabe voll identifizieren und so kurze Überleitungszeiträume erreicht werden?
Herr Minister.
Ich glaube, ich hatte schon einiges dazu gesagt, Frau Philipp, wie notwendig es auch für die Grundlagenforschung ist, daß ihre Ergebnisse in die Praxis umgesetzt werden. Sie haben selbst ein gutes Beispiel aus Ihrer eigenen Erfahrung dafür gegeben, daß es wohl notwendig ist, die problematische Schnittstelle - die sich auch in den alten Bundesländern herausgestellt hat - zwischen der reinen Grundlagenforschung und der Umsetzung in Technologie oder, wenn Sie so wollen, in die eigentliche Entwicklung von Produkten oder das, was immer an positiver Wirkung für die Menschen im Ergebnis daraus entstehen soll, anzugehen, da es hier Probleme gibt. Ich glaube, es wird eine der zentralen Aufgaben des Deutsch-Amerikanischen Konzils sein, diese Schnittstelle aufzuarbeiten, und ich kann Ihren Gedankengang nur unterstützen.
Wenn Sie es als ethische Verantwortung auffassen, daß der Grundlagenforscher bei der Umsetzung seiner Ergebnisse mitwirken soll, um diese Schnittstelle von der einen Seite aufzubrechen oder eine vernünftige Schnittstelle erst zu schaffen, dann kann ich Sie nur voll unterstützen.
Andererseits - Sie hatten gesagt, daß der Kollege aus der Praxis oder der Technologe, um den es ging und den Sie nicht näher bezeichnet hatten, nicht verstanden hat, was Sie wollen - glaube ich aber, es ist ein Entgegenkommen von beiden Seiten notwendig: eine stärkere Überschneidung von Grundlagenforschung und angewandter Forschung.
Wir sind hier schon in einer Diskussion, Frau Philipp, die eigentlich, so hoffe ich, dem Konzil bei seiner praktischen Arbeit vorbehalten sein wird. Ich freue mich jetzt schon auf die Ergebnisse, die dabei herauskommen werden, werden sie doch dazu beitragen, Forschung und Technologie, wie wir es alle wollen, die an der Diskussion beteiligt sind, stärker zu fördern und damit bessere Bedingungen für die Menschen,
nicht nur in Deutschland und in den USA, zu schaffen.
Ich sehe keine Fragen zum Fragenkomplex eins mehr und komme zum Fragenkomplex zwei. Als erster hat sich Herr Abgeordneter Lüder gemeldet.
Ich frage die Bundesregierung zu dem Fragenkomplex zwei unter Hinweis darauf, daß wir heute im Innenausschuß über die Thematik gesprochen und von der Bundesregierung keinerlei Initiativen erfahren haben, die sie unternehmen will, sicherheitshalber: Hat das Bundeskabinett irgendwelche gesetzgeberischen oder verwaltungsmäßigen oder strafrechtlich-handlungsmäßigen Initiativen beschlossen, die sich aus den Vorkommnissen am Tag der Beratung des Asylverfassungsänderungsgesetzes ergeben?
Herr Staatssekretär, bitte.
Herr Kollege Lüder, das Bundeskabinett hat heute den Bericht des Bundesministers des Innern über die demonstrativen Aktionen und Ausschreitungen sowie deren Konsequenzen entgegengenommen. Dabei ist die Rechtslage erörtert worden; es ist aber auch festgestellt worden, daß das geltende Recht bei konsequenter Anwendung geeignet ist, den erforderlichen freien Zugang zum Parlament zu gewährleisten, und daß sich auch die Notwendigkeit der Bannmeilenregelung voll bestätigt hat. Also es ist kein konkreter Auftrag erteilt worden, etwa irgendwelche Gesetzesänderungen vorzubereiten.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, nachdem wir im Innenausschuß im Bericht des nordrhein-westfälischen Innenministers und des Polizeipräsidenten einiges über befürchtete Entwicklungen gewalttätiger Ausschreitungen gehört haben, wenn der Polizeieinsatz anders gelaufen wäre, frage ich: Wie weit hat das Bundeskabinett auch Berichte aus dem Land Nordrhein-Westfalen in seine Bewertung einbezogen?
In dem von mir bereits zitierten Bericht ist die Stellungnahme des nordrhein-westfälischen Innenministers bereits berücksichtigt und teilweise wörtlich eingearbeitet, aber im übrigen auch in der Anlage ohne Abstriche beigefügt.
Herr Conradi.
Ich darf vorausschicken, Herr Staatssekretär, daß der Innenausschuß zur Zeit noch in einer anderen Sache berät, so daß die Kollegen deswegen nicht hier sein können. Aus der Tatsache, daß nur ein einziger hier ist, bitte ich Sie, nicht auf Desinteresse an diesem Fragenkomplex zu schließen.
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- Ein einziger aus dem Innenausschuß, der dazu fragt. Alle anderen Kollegen sind im Ausschuß.
Erstens. Trifft es zu, Herr Staatssekretär, daß die Bundesregierung an fünf Vorbesprechungen über die Einsätze mit dem Land Nordrhein-Westfalen, dem Polizeipräsidium und anderen beteiligt war, daß in der Gefährdungsbewertung Einvernehmen erzielt war und daß die taktischen Ziele und die Grundentscheidungen des Einsatzkonzeptes vorgetragen und gebilligt wurden, daß es lediglich in der Frage der rechtlichen Bewertung des Gottesdienstes einen Meinungsunterschied gab, daß aber insgesamt die Bundesregierung an allen Vorbereitungen beteiligt war und zugestimmt hat?
Zweitens. Trifft es zu, daß in den Vorbesprechungen geklärt wurde, daß das Freihalten des Zuganges um jeden Preis zu Straßenschlachten größeren Ausmaßes geführt hätte und daß auch diese Einschätzung einvernehmlich getroffen worden ist?
Drittens. Ist Ihnen bekannt -
Herr Conradi, können wir erst die Antwort auf die zwei Fragen hören, und dann stellen Sie Ihre Zusatzfrage?
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Herr Kollege Conradi, es trifft zunächst einmal zu, daß die Bewertung der Situation einvernehmlich erfolgt ist und daß auch ein gemeinsames Einsatzkonzept erarbeitet worden ist; aber nach Meinung der Bundesregierung ist der Bonner Polizeipräsident von diesem gemeinsamen Einsatzkonzept im Laufe des Tages abgewichen und hat insbesondere beispielsweise nicht dafür gesorgt, daß, wie nach unserer Auffassung verabredet, zwei Zufahrtsstrecken, also zwei Wege auf dem Land, offengehalten worden sind.
Herr Conradi.
Ist Ihnen bekannt, daß das Innenministerium Nordrhein-Westfalens darauf hinweist, daß vor dem Einsatz Einvernehmen zwischen allen Beteiligten darüber bestand, daß eine Garantierung des Zuganges auf dem Landweg, d. h. ein Freikämpfen dieses Zuganges, zu erheblichen Straßenschlachten geführt hätte, und daß deswegen andere Wege geplant waren und daß alle Abgeordneten, die den Schutz der Polizei in Anspruch genommen haben - das sind 521 Abgeordnete -, ohne Probleme hierher gekommen sind und daß von den anderen bis jetzt kein einziger Strafanzeige erstattet hat?
Herr Kollege Conradi, ob einer Strafanzeige erstattet hat, weiß ich nicht. Das müßten Sie beim Land erfragen oder bei der Polizei in Bonn. Dort müßte ein entsprechender Strafantrag eingegangen sein.
Es ist aber in der Einsatzbesprechung am 29. März 1993 vereinbart worden, daß in jedem Falle zwei Zufahrtsstrecken zum Parlament freizuhalten seien. Davon ist nach unserer Auffassung abgewichen worden. Es kann auch nicht bestätigt werden, wie Sie in Ihren Fragen feststellen, daß die Abgeordneten - womöglich ungehindert - das Parlament rechtzeitig erreicht hätten. Es gibt eine ganze Reihe von Kollegen, die sich den Weg zum Parlament teilweise auf abenteuerliche Weise gesucht haben bzw. erst mit Verspätung hier eingetroffen sind, also nicht pünktlich um 9 Uhr hier waren.
Herr Professor Ullmann.
Herr Staatssekretär, ich frage auf der Basis, daß wir gemeinsam das Konzept der Deeskalation und das Prinzip, daß die Abgeordneten auf jeden Fall freien Zugang zum Parlament haben müssen, bejahen: Haben Sie in der Bundesregierung einmal erwogen, ob die Sperrungen, die es gegeben hat, auch damit zusammengehangen haben, daß es gerade das Bannmeilenprinzip diesen Demonstranten möglich machte, durch Blockade nur ganz weniger Stellen das Parlament völlig abzusperren?
Herr Kollege Ullmann, dieser Aspekt ist vorher und auch jetzt, beispielsweise während der Sitzung des Innenausschusses, ausführlich erörtert worden. Man ist aber schon vorher zu der Auffassung gekommen, daß die Bannmeile unverzichtbar ist, hat sie allerdings im Vergleich zu früher etwas verkleinert, weil natürlich der von Ihnen erwähnte Aspekt für die Polizei oder auch insgesamt von erheblicher Bedeutung ist.
Im übrigen gibt es bei der Polizei nicht nur den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der beachtet werden mußte, sondern natürlich auch das Legalitätsprinzip. Die Kritik auch der Bundesregierung am Verhalten der Polizei richtet sich insbesondere auch gegen den Sachverhalt, daß eine ganze Reihe von Mitarbeitern mittels Straftaten daran gehindert worden ist, ihren Arbeitsplatz rechtzeitig oder überhaupt zu erreichen.
Zunächst wollte ich fragen, Herr Kubatschka - Sie hatten sich mehrfach gemeldet -: Ist es zu diesem Komplex oder zu einem anderen?
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- Dann sind Sie dran.
Herr Kollege, halten Sie es nicht für richtig, die Gesundheit von Polizisten höherzustellen als ein Prinzip? Ich war eine ganze Zeitlang draußen und habe mich mit sehr vielen Polizisten und auch mit Demonstranten unterhalten. Ich bin da immer wieder auf die Meinung gestoßen, es sei eigentlich wichtiger, die Gesundheit der Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, als ein Prinzip aufrechtzuerhalten.
Sie werden in jedem Fall immer schwierige Güterabwägungen vorzunehmen haben, auch im Einzelfall. Aber meines Wissens ist es in einer
ganzen Reihe von Fällen um die Gesundheit und die körperliche Unversehrtheit auch beispielsweise von Mitarbeitern gegangen. Sie wissen ja aus der Presse oder aus Schilderungen aus Ihrem Umfeld, was sich da im einzelnen abgespielt hat. Die Abwägung zwischen der Gesundheit der Polizei und womöglich nur Sachschäden ist also in einer ganzen Reihe von Fällen so nicht zutreffend, sondern es ging um beides.
Herr Vosen.
Herr Staatssekretär, an diesem Tag wurde hier kein leichtes Thema verhandelt, sondern ein Thema, das die Menschen in unserem Land, besonders junge Menschen, sehr bewegt hat. Ich wollte Sie fragen, ob Sie meinen Eindruck teilen, daß die Polizisten und die Sicherungskräfte, die hier waren, sich in dieser schwierigen Situation eigentlich, unter dem Strich gesehen, sehr gut verhalten haben. Ich wollte hier zum Ausdruck bringen, daß das mein Empfinden ist.
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Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dieses Empfinden teilen könnten.
Herr Kollege, niemand hat Kritik am Verhalten des einzelnen Polizeibeamten geübt, sondern wenn Diskussionen entstanden sind, dann beziehen sie sich auf das Einsatzkonzept, das den einzelnen Polizeibeamten vorgegeben war. Auch die Bundesregierung hat den beteiligten Polizeibeamten ausdrücklich für ihren Einsatz gedankt und hat in keiner Form deren Verhalten zum Gegenstand der Kritik gemacht. Was nach unserer Auffassung in einzelnen Punkten falsch war, war das Einsatzkonzept, sozusagen die Führungsvorgabe für den einzelnen Polizeibeamten.
Eine weitere Frage.
Nachdem wir nach diesem Tag Bilanz gezogen haben und es im großen ganzen doch gut gelaufen ist, müßten Sie doch jetzt zu dem Ergebnis kommen, daß das etwas veränderte Einsatzkonzept vielleicht doch das richtige war. Wie sehen Sie das?
Ich kann Ihnen nur die Äußerungen einer Reihe von Kollegen, übrigens aus allen Fraktionen, wiedergeben, die betont haben, daß sie es für nicht richtig halten, daß sie nicht erhobenen Hauptes - wie sich manche ausgedrückt haben - das Parlament erreichen konnten, sondern gezwungen waren, zum Teil abenteuerliche Schleichwege in Anspruch zu nehmen. Es ist jetzt eine Frage der persönlichen Wertung, ob Sie als Abgeordneter trotzdem meinen, daß Ihnen das zugemutet werden kann, oder ob Sie darin bereits eine Verletzung Ihres prinzipiellen Anspruchs auf freie Betätigung im Rahmen des Mandats sehen.
Frau Weyel.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Meinung, daß trotz vieler Vorbesprechungen die Einsatzleitung der Polizei die Freiheit haben muß, dann, wenn die Abläufe anders sind, als sie in der Vorbesprechung geplant waren - die Autonomen fragen ja nicht, was dort vorbesprochen worden ist -, an Ort und Stelle so zu entscheiden, wie sie es für richtig hält?
Das ist ihr unbenommen. Aber die Einsatzleitung kann in diesem Fall die Vorbesprechung nicht in Anspruch nehmen, weil sie von dem vereinbarten Einsatzkonzept dann abgewichen ist. Ob das, was dann an Stelle dieser Verabredung entschieden worden ist, richtig oder falsch ist, ist Gegenstand der Bewertung; und da meint die Bundesregierung, daß bei der Abweichung in vielen Fällen nicht zutreffend entschieden worden ist.
Eine weitere Frage.
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die Abgeordneten, während an der Kreuzung Adenauerallee/Heussallee noch heftige Auseinandersetzungen stattfanden, durchaus die Möglichkeit hatten, erhobenen Hauptes am Rheinufer-Fußweg das Plenum zu erreichen?
Ab 7.45 Uhr angeblich nicht mehr. Da war kein Zugang über Land mehr möglich. So jedenfalls die unwidersprochene Angabe des Bonner Polizeipräsidenten heute im Innenausschuß.
Herr Lüder.
Herr Staatssekretär, ich wollte eigentlich friedlich bleiben, bis ich das Protokoll von jetzt und das Protokoll des Innenausschusses miteinander verglichen habe. Da wird man noch manches aufklären müssen. Das sage ich auch zu dem letzten, weil zum Teil bestritten wurde, was da war. Aber das ist nicht Gegenstand der heutigen Befragung.
Ich frage Sie, ob Sie bei Ihrer Äußerung von soeben bleiben wollen, daß es bei uns nicht nur den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, sondern auch das Legalitätsprinzip gibt. Ist Ihnen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bekannt, daß das Verhältnismäßigkeitsprinzip ein Verfassungsgrundsatz ist, der das Legalitätsprinzip mitbestimmt? Hätten Sie sonst nicht zum Beispiel den Bundesgrenzschutz anweisen müssen, bei jedem Verstoß gegen ein strafrechtliches Vermummungsverbot durchzugreifen, wie wir dies schon bei anderen Demonstrationen zu früheren Zeiten getan haben?
Herr Kollege Lüder, Sie wissen sicher genauso wie ich, daß nicht wir den Bundesgrenzschutz im Einsatz kommandieren sondern die jeweilige Landespolizeidienststelle. Wir können also Ihrer Anforderung auf Anweisung gar nicht nachkommen.
Zweitens habe ich darauf hingewiesen, daß beide Grundsätze gegeneinander abzuwägen sind. Das ist in der Rechtsprechung und war im übrigen auch heute im Innenausschuß nicht strittig. Daß der Polizeipräsident dann im Einzelfall womöglich zu Lasten des einen Prinzips dem anderen den Vorzug gegeben hat, war seine Entscheidung und ist jetzt Gegenstand der kritischen Diskussion.
Herr Conradi stellt die letzte Frage. Dann kommen wir zum Ende der Regierungsbefragung.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß alle 521 Abgeordneten, die - durch die Fraktionen und die Leitung des Hauses aufgefordert - die Hilfe der Polizei in Anspruch genommen haben, unbeeinträchtigt ins Parlament gekommen sind?
Da Sie auf das Legalitätsprinzip abgehoben haben, frage ich weiter: Hat die Bundesregierung bei früheren Verletzungen der Bannmeile - etwa im Zusammenhang mit dem ÖTV-Tarifkonflikt oder bei der massenhaften Verletzung der Bannmeile durch demonstrierende Landwirte im letzten Herbst - ebenfalls nach dem Legalitätsprinzip den Polizeipräsidenten zum Einschreiten aufgefordert?
Herr Kollege Conradi, die Sachverhalte sind nicht vergleichbar. Es geht hier nicht allein um die Verletzung der Bannmeile, sondern um das Geschehen, das sich teilweise vor der Bannmeile, beispielsweise in bezug auf Mitarbeiter und auch auf einzelne Abgeordnete, abgespielt hat. Es geht im Zusammenhang mit der jetzt aufgekommenen kritischen Diskussion nicht um eine Verletzung bloß des Prinzips der Bannmeile.
Im übrigen muß ich Ihnen sagen: Es gibt eine Reihe von Abgeordneten, die jedenfalls von sich behaupten, daß sie beim Zugang zum Parlament auf dem normalen Landweg die Polizei gebeten haben, ihnen zu helfen, und daß ihnen diese Hilfe dann jedenfalls nicht in der Form gegeben worden ist, daß ihnen der Zugang freigemacht wurde. Sie sind dann auf anderen Wegen, beispielsweise per Hubschrauber oder mit dem Schiff, zum Parlament transportiert worden.
Ich kann also nicht bestätigen, daß alle den Weg wählen konnten, den sie eigentlich in Anspruch nehmen wollten.
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Ich schließe die Befragung der Bundesregierung und danke der Bundesregierung.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Fragestunde
- Drucksache 12/5104 Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr.
Die Frage 1 des Abgeordneten Wolfgang Börnsen wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir gehen über zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Forschung und Technologie.
Die Frage 2 des Abgeordneten Jürgen Augustinowitz wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Die Frage 3 des Abgeordneten Rudolf Bindig wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Post und Telekommunikation. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Paul Laufs zur Verfügung.
Die Fragen 38 und 39 des Abgeordneten Dr. Jürgen Schmieder sind zurückgezogen worden.
Die Frage 40 des Abgeordneten Rolf Schwanitz wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 41 des Abgeordneten Gernot Erler auf:
Welche Poststellen sollen im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald und in der Stadt Freiburg in Zukunft geschlossen werden, nachdem die bereits bekanntgewordene Schließung der Poststelle in Obermünstertal offenbar als Auftakt einer Ausdünnung von Poststellen im ländlichen Raum dieser Region angesehen werden muß?
Bitte, Herr Staatssekretär Laufs.
Herr Kollege Erler, über die Aufhebung oder Beibehaltung einer Poststelle oder eines Postamtes wird die Deutsche Bundespost Postdienst auch zukünftig an Hand der bestehenden organisatorischen Rahmenvorgaben entscheiden. Danach ist zur Erhaltung einer Poststelle erforderlich, daß deren Nachfrageumfang eine Grundarbeitszeit von mindestens 5,5 Stunden pro Woche rechtfertigt bzw. daß sich die Einzugsbereiche benachbarter Vertriebsfilialen nicht überschneiden. Jeder Aufhebung geht dabei eine sorgfältige Einzelfallprüfung durch das örtlich zuständige Postamt mit Verwaltung voraus.
Nach Auskunft der Generaldirektion Postdienst liegt bisher folgendes Ergebnis zur Filialnetzüberprüfung vor: Für die Stadt Freiburg sind konkrete Schließungen von Poststellen noch nicht absehbar. Für den Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald waren nach den oben angeführten Rahmenvorgaben bereits folgende Poststellen zu schließen: zum 1. Juni 1993 die Poststellen II in Bad Bellingen 3, Kandern 2, Kandern 5 und Staufen 3, zum 14. Juni 1993 die Poststelle I in Münstertal 2. Darüber hinaus wird derzeit bei folgenden Vertriebsfilialen eine Überprüfung ihres Fortbestandes bzw. ihrer Organisationsform durchgeführt: bei den Poststellen I in Bad Bellingen 2, Badenweiler 2, Eschbach 2 ({0}), Gundelfingen 2, Kandern 3, Malsburg-Marzell 2, Malsburg-Marzell 3 und Schliengen 2 sowie bei den Poststellen II in Schliengen 5, Badenweiler 4, Kandern 4 und Bad Bellingen 4.
Zusatzfragen?
Herr Staatssekretär, Sie haben für die Stadt Freiburg gesagt, daß es noch nicht absehbar ist, mit welchem Ergebnis diese Prüfung über das Weiterbestehen enden wird. Können Sie sagen, bis wann denn auch bei den Beschäftigten Sicherheit darüber eingetreten sein wird, ob eine Weiterführung der entsprechenden Poststellen stattfindet?
Im Zusammenhang mit diesen Untersuchungen vor Ort in städtischen Bereichen, von denen ich sprach, wird geprüft, wo hohe Überschneidungen der Einzugsbereiche von Postvertriebsstellen vorliegen und deshalb Standorte konzentriert werden können. Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen. Erst danach können Gespräche darüber aufgenommen werden, ob und in welchem Umfang Netzstrukturanpassungen tatsächlich durchgeführt werden können. Dies wird voraussichtlich in den kommenden Monaten der Fall sein.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben für den Landkreis Freiburg eine ganze Liste von Poststellen aufgestellt, die jetzt darauf geprüft werden müssen, ob sie weiter offen bleiben können. Können Sie sagen, bis wann hier die Öffentlichkeit Klarheit darüber haben wird, ob eine Fortführung gewährleistet sein wird?
Die Überprüfung des Postfilialnetzes ist eine Aufgabe, die nicht einmalig stattfindet, sondern über einen längeren Zeitraum zu ständigen Anpassungen führt. Die Kriterien für die Postversorgung im Rahmen des staatlichen Infrastrukturauftrags sind u. a. im Beschluß des Deutschen Bundestages vom 2. Dezember 1981 festgelegt. Es wird die Eröffnung neuer Vertriebswege geben; darüber können wir nachher noch diskutieren. Es ist eine Aufgabe, die nicht in absehbarer Zeit abgeschlossen sein wird.
Eine Zusatzfrage von Frau Weyel.
Herr Staatssekretär, Sie haben soeben den Beschluß in der 9. Wahlperiode zur Postversorgung auf dem Lande erwähnt. Wie weit fühlt sich die Bundesregierung tatsächlich noch daran gebunden, auch im Hinblick darauf, daß dieser Beschluß ja bei der Postreform 1989 nachdrücklich bekräftigt wurde? Haben Sie nicht den Eindruck, daß nicht nur der derzeitige Abbau von Poststellen I und II, sondern auch die Einschränkung von kleinen Postämtern diesem Beschluß eklatant widersprechen?
Frau Kollegin Weyel, die in dem genannten Beschluß und auch im Konzept für die Postversorgung auf dem Lande in der Unterrichtung der Bundesregierung vorgegebenen Organisationsvorschriften für die Aufhebung von Amtsstellen werden selbstverständlich in jedem einzelnen Fall eingehalten.
Wir kommen zur Frage 42 des Kollegen Gernot Erler:
Wie sieht das als Ersatz vorgesehene Konzept der „Postagenturen" im einzelnen aus, und wie kann es insbesondere weiterhin das sinnvolle Angebot eines Schalterverbundes von POSTDIENST, POSTBANK und TELEKOM aufrechterhalten, das Postgeheimnis garantieren und die Versprechungen einhalten, die bislang den Kunden der POSTBANK über die Verbreitung eines engen POSTBANK-Netzes gemacht wurden?
Herr Kollege Erler, die Deutsche Bundespost Postdienst wird im Rahmen eines bundesweiten Betriebsversuchs bis 1994 zusätzlich zur bestehenden Vertriebsstruktur ca. 500 Postagenturen einrichten. Geplant ist für diese Agenturen das Angebot standardisierter Postdienst-, Postbank- und Telekomprodukte. Unter dem Dach privat betriebener Verkaufsstellen, z. B. im Lebensmitteleinzelhandel, in Schreibwarengeschäften oder an Tankstellen, werden in etwa die gleichen Dienstleistungen wie in den Poststellen, allerdings mit wesentlich längeren Öffnungszeiten, angeboten werden können.
Das verfassungsrechtlich geschützte Postgeheimnis bleibt dabei gewährleistet, da gemäß § 5 Postgesetz alle „mit postdienstlichen Verrichtungen betrauten Personen", also auch Beschäftigte der Postagenturen, auf die Einhaltung des Postgeheimnisses verpflichtet sind.
Die Deutsche Bundespost Postbank beabsichtigt die Aufrechterhaltung des Flächenvertriebs im Verbund mit der Deutschen Bundespost Postdienst. Darüber hinaus sollen an Kernstandorten in größeren Postämtern sogenannte „Blaue Schalter" für beratungsintensive Postbankdienstleistungen eingerichtet werden.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Erler.
Herr Staatssekretär, Sie haben von 500 Plätzen gesprochen, an denen diese Postagenturen in einem bundesweiten Betriebsversuch eingerichtet werden sollen. Können Sie mir sagen, ob solche Stellen auch in dem in der Frage 41 genannten Postgebiet eingerichtet werden sollen, also in dem Bereich Freiburg und Breisgau-Hochschwarzwald?
Ich bitte um Verständnis, daß ich diese Information nicht zur Hand habe. Ich werde sie Ihnen gern schriftlich mitteilen.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Erler.
Herr Staatssekretär, die Bundespost hat in der Vergangenheit bei den Kunden der Postbank intensiv damit geworben, daß man als Kunde der Postbank ja über ein sehr umfangreiches Netz von Bankschaltern verfüge. Mit dem, von dem Sie uns berichtet haben, ist eine erhebliche Reduzierung dieses Netzes verbunden. Wie wird die Postbank dies ihren Klienten erklären?
Herr Kollege Erler, zunächst darf ich wiederholen, was ich Ihnen gerade gesagt habe. Das Dienstleistungsangebot von Postagenturen, die im Augenblick erprobt werden und in Zukunft möglicherweise einen neuen Vertriebsweg darstellen werden, umfaßt im wesentlichen alle Postleistungen und ist mit dem von Poststellen II
vergleichbar. Ich muß allerdings einräumen, daß über Einzelheiten des Angebots von Postbankleistungen zur Zeit noch zwischen den Unternehmen Postdienst und Postbank verhandelt wird. Aber es ist die Absicht der Postbank, die Vertriebswege von Postdienst wie bisher zu nutzen. Ich darf noch einmal darauf hinweisen, daß die Deutsche Bundespost Postdienst im Bundesgebiet ca. 22 000 Poststellen und Postämter unterhält. Das ist mit Abstand das dichteste Filialnetz, das es im Bundesgebiet überhaupt gibt.
Eine Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Weyel.
Herr Staatssekretär, ist sich die Bundesregierung bewußt, daß gerade an den Orten mit Poststellen I und II häufig andere Einrichtungen gar nicht mehr existieren, die zur Einrichtung von Postagenturen geeignet sind, weil nämlich die berühmten Tante-Emma-Läden und ähnliches längst geschlossen sind, so daß sich die Möglichkeit gar nicht ergibt? Ist Ihnen ferner deutlich geworden, daß bei dem Angebot für die Postagenturen, wie es vorgelegt worden ist, nach der Anzahl der relevanten Vorgänge Postagenturen sogar an Stelle von Postämtern in Städten über 10 000 Einwohnern eingerichtet werden könnten? Wie stehen Sie dazu?
Frau Kollegin Weyel, diese Fragen, die Sie hier aufwerfen, werden augenblicklich im Rahmen dieser Modellversuche geprüft.
Es versteht sich von selbst, daß man Postagenturen dort nicht einführen kann, wo es kein Angebot gibt, wo kein Dritter da ist, der die Aufgabe übernehmen könnte, die Postdienstleistungen anzubieten. In diesem Zusammenhang möchte ich, da ich einen gewissen Unterton des Vorwurfs aus Ihrer Frage hörte, doch folgendes dazu sagen:
({0})
In den vergangenen Jahren hat es eine Kostenexplosion pro Einzeltransaktion, die über Postschalter abgewickelt wird, mit beträchtlichen Kostenunterdeckungen in weiten Bereichen gegeben.
Nach der Postreform I von 1989 sind die Postunternehmen zur kostendeckenden Wirtschaftsführung gesetzlich verpflichtet. Daraus müßten nun die drastische Reduzierung von Standorten und weitere Reduzierungen von Tagesöffnungszeiten folgen, die unzumutbar wären, ergäben sich nicht Auswege aus diesem Problem dadurch, daß neue Vertriebsformen eingeführt werden. Genau das ist die Absicht der jetzt im Feld laufenden Untersuchungen.
Herr Abgeordneter Kubatschka, bitte.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung bewußt, daß der Umstand, Dienstleistungen von Postbank und Postdienst nicht mehr am selben Ort anbieten zu können, im Grunde genommen das Ende des Netzes der Poststellen I und II auf dem flachen Land bedeutet?
Herr Kollege Kubatschka, es ist nicht beabsichtigt, Vertriebswege von Postdienst und Postbank im ländlichen Raum so zu trennen oder überhaupt zu trennen, wie Sie das darstellen.
Die Fragen 43 und 44 des Abgeordneten Wilfried Böhm ({0}) werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Die Beantwortung der Fragen erfolgt durch den Parlamentarischen Staatssekretär Eduard Lintner.
Die Frage 10 der Abgeordneten Dr. Elke Leonhard-Schmid wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe Frage 11 des Abgeordneten Dr. Jürgen Meyer ({1}) auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, in § 37 Waffengesetz auch Waffen wie Butterfly-Messer und Springmesser, die derzeit vor allem unter Kindern und Jugendlichen begehrt sind und die in Schulen, die mit erhöhter Gewaltbereitschaft von Schülern konfrontiert sind, zum Einsatz kommen, aufzunehmen?
Herr Staatssekretär Lintner, bitte.
Herr Kollege Dr. Meyer, die Antwort lautet wie folgt:
Bereits nach geltendem Recht unterliegen Messer, deren Klingen auf Knopf- oder Hebeldruck hervorschnellen und hierdurch festgestellt werden können, sogenannte Springmesser, ferner Messer, deren Klingen beim Lösen einer Sperrvorrichtung durch ihre Schwerkraft oder durch eine schleuderbewegung aus dem Griff hervorschnellen und selbstätig festgestellt werden - die Bezeichnung ist Fallmesser - dem generellen Verbot des Erwerbs und des Besitzes nach § 37 Abs. 1 Nr. 5 des Waffengesetzes. Erfaßt werden dabei diejenigen Spring- und Fallmesser, deren aus dem Griff herausragender Teil länger als 8,5 cm ist, in der Mitte schmaler ist als 14 % seiner Länge, zweiseitig geschliffen ist oder keinen durchgehenden Rücken hat, der sich zur Schneide hin verjüngt - § 37 Abs. 1 Satz 2 des Waffengesetzes -.
Das Verbot wird schon dann wirksam, wenn nur eines der aufgeführten Merkmale erfüllt ist.
Nach § 33 Abs. 1 des Waffengesetzes sind darüber hinaus der Erwerb und der Besitz von Hieb- und Stoßwaffen durch Kinder und Jugendliche ausgeschlossen. Erfaßt werden hiervon gemäß § 1 Abs. 7 des Waffengesetzes allerdings nur solche Gegenstände, die ihrer Natur nach dazu bestimmt sind, unter unmittelbarer Ausnutzung der Muskelkraft durch Hieb, Stoß oder Stich Verletzungen beizubringen. Gegenstände, z. B. Gebrauchsmesser, die lediglich geeignet sind, Verletzungen herbeizuführen, sind keine Hieb- und Stoßwaffen.
Nur solche Gegenstände, die von vornherein, d. h. nach der Art ihrer Anfertigung, Waffen im technischen Sinne sind, sind Hieb- und Stoßwaffen nach § 1 Abs. 7 des Waffengesetzes. Sie weisen zumeist beidseitig geschliffene Klingen auf, wie z. B. Dolche, Stilette, Degen, Florette.
Das von Ihnen erwähnte Butterfly- oder Schmetterlingsmesser ist als Gebrauchsmesser zwar geeignet, Verletzungen herbeizuführen, jedoch seiner Natur nach nicht dazu bestimmt.
Restriktionen beim Zugang zu den genannten Messern sind Gegenstand der Bundesratsentschließung 891/92, deren Umsetzung gegenwärtig in der BundLänder-Arbeitsgruppe zur Novellierung des Waffenrechts geprüft wird. Insbesondere wird die Frage der Einführung einer Mindestaltersgrenze von 18 Jahren für den Erwerb und den Besitz derartiger Messer diskutiert, einschließlich der damit zwangsläufig verbundenen Probleme wie z. B. der Umgehung.
Herr Dr. Meyer, Sie möchten dazu nichts fragen. Auch sonst wird keine Zusatzfrage gestellt.
Ich rufe die Frage Nr. 12 des Abgeordneten Dr. Meyer ({0}) auf:
Welche anderen Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, um dem Einsatz dieser Waffen durch Kinder und Jugendliche zu begegnen?
Die Antwort hierauf ist etwas kürzer.
Die Bundesregierung beobachtet natürlich mit Besorgnis, daß Messer in der Hand von Kindern und Jugendlichen den Bemühungen, diese zur Gewaltlosigkeit und zum partnerschaftlichen Miteinander zu erziehen, zuwiderlaufen.
Allerdings erscheint es wenig erfolgversprechend, den Verkauf von reinen Gebrauchsmessern, gleich welcher Konstruktion, an Kinder und Jugendliche zu verbieten. Mit Sicherheit würde ein derartiges Verbot vielfach umgangen. Alle Anstrengungen sollten daher in erster Linie darauf konzentriert werden, durch erzieherische Maßnahmen beispielsweise in der Familie, im Kindergarten und in der Schule eine Reduzierung der Nachfrage nach solchen Messern bei Kindern zu erreichen.
Herr Abgeordneter Dr. Meyer.
Herr Staatssekretär, trifft die Information des Wissenschaftlichen Dienstes zu, daß es bisher keine Dokumentation oder zuverlässige Informationen über Gewalt in Schulen und insbesondere das Mitsichführen und Gebrauchen der von Ihnen erwähnten Waffen - Messer verschiedenster Art - durch Schüler in Schulen gibt? Was gedenken Sie gegebenenfalls daran zu ändern?
Herr Dr. Meyer, ich nehme an, daß der Wissenschaftliche Dienst gründlich recherchiert hat und seine Antwort deshalb zutrifft. Bei uns liegen Erkenntnisse, die mich jetzt in die Lage versetzen würden, ja oder nein dazu zu sagen, nicht vor. Es ist auch bei uns aktuell nichts vorgesehen, irgendwelche Statistiken zu erstellen oder Erhebungen durchzuführen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Wenn es nicht vorgesehen ist, Erhebungen durchzuführen, dann wüßte ich gern, ob es vorgesehen ist, die Einhaltung der von Ihnen erwähnten waffenrechtlichen Bestimmungen im Bereich von Schulen deshalb besser zu überwachen, weil Gewalt in Schulen sicherlich auch aus Ihrer Sicht ein Problem ist, das uns alle angeht.
Herr Kollege Dr. Meyer, das ist natürlich eine Anforderung, die sie an die Länder richten müßten, denn der Bundesregierung stehen keine Mittel zur Verfügung, Vollzugsmaßnahmen in Schulen beispielsweise anzuordnen oder zu überprüfen.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Da wir die nächste Frage nicht mehr in der vorgesehenen Zeit beantworten können, unterbreche ich hier die Fragestunde und teile mit, daß sie nach der Debatte zur Regierungserklärung gegen 16.45 Uhr fortgesetzt wird.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 3
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Aktuelle Lage der deutsch-türkischen Beziehungen, Bekämpfung von Gewalt und Extremismus sowie Maßnahmen für eine verbesserte Integration der Ausländer in Deutschland
und den zu Beginn der Sitzung aufgesetzten Zusatzpunkt 1
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Martin Bury, Siegfried Vergin, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Rechtsextremismus und Ausländfeindlichkeit entschlossen bekämpfen
- Drucksache 12/5124 Zur Regierungserklärung liegen je ein Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der mörderische Brandanschlag von Solingen erfüllt uns alle, Deutsche wie Türken, auch heute noch mit Trauer und Entsetzen. Unser tiefes Mitgefühl gilt den Hinterbliebenen der Opfer.
In diesem Verbrechen, aber auch in den zahlreichen Brandanschlägen der Folgezeit auf Wohnungen und Geschäftslokale türkischer Mitbürger, kommt ein unfaßbares Maß an sittlicher Verrohung zum Vorschein.
Niemand von uns kann mit Sicherheit sagen, was in den Köpfen der zumeist jugendlichen Täter vorgeht. Es ist jedoch unsere Aufgabe, ja unsere Pflicht, den Ursachen solcher Gewalt mit großer Ehrlichkeit und Offenheit nachzugehen.
Zugleich müssen wir uns mit dem Gedanken vertraut machen, daß keine noch so gründliche soziologische oder psychologische Analyse die Realität des Bösen wirklich erfassen kann. Unserer aufgeklärten oder sich für aufgeklärt haltenden Zeit mag diese Feststellung ein Ärgernis sein. Gutes Zureden, Sozialarbeit und Gesprächstherapie sind notwendig, aber sie sind auch nicht alles. Es gibt auch Situationen, in denen an unnachsichtiger Bestrafung und entschlossener Abschreckung kein Weg vorbeiführt.
Ich stimme Richard Schröder, dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion in der letzten Volkskammer, zu, wenn er in diesen Tagen auf dem Evangelischen Kirchentag erklärte, den Brandstiftern sei auch durch leichtfertig geäußerte Staatsverachtung Vorschub geleistet worden.
({0})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die grausame Mordtat von Solingen und was danach geschah darf nicht dazu führen, daß die deutschtürkischen Beziehungen nachhaltigen Schaden erleiden. In diesem Sinne hat sich auch Staatspräsident Demirel geäußert. Wir sind ihm für dieses besonnene Wort ganz besonders dankbar.
({1})
Ich selbst habe gerade vor vier Wochen anläßlich meines Besuches in der Türkei erlebt, wie sehr die gute Tradition der deutsch-türkischen Beziehungen lebendig ist. Ich will noch einmal auch hier vor dem Hohen Hause mit Nachdruck hervorheben, daß die in vielen Jahrzehnten bewährte Freundschaft unserer Völker ein kostbares Gut ist, das wir erhalten wollen.
({2})
Unsere Beziehungen haben eine lange Tradition - in der Politik, in der Wissenschaft, in der Kultur, nicht zuletzt in der Begegnung zwischen den Menschen. Wir wollen und wir müssen diese bewährte Partnerschaft heute ganz besonders im Bereich der Wirtschaft und der Wissenschaft entschieden ausbauen. Deswegen begrüße ich Vorhaben wie die Gründung einer deutsch-türkischen Handelskammer oder einer türkisch-deutschen Universität in Istanbul.
Vor allem aber, meine Damen und Herren, müssen die Beziehungen zwischen den Menschen, zwischen Türken und Deutschen, von Freundschaft, von Anstand und von Würde gekennzeichnet sein. Natürlich wissen wir alle, Freundlichkeit und Freundschaft lassen sich nicht verordnen. Leider - dies sage ich auch - tut sich mancher Deutscher mit Freundlichkeit, die aus dem Herzen kommt, gelegentlich schwer. Anstand und Würde sind für manche in unserem Lande zu Fremdworten geworden.
Vielleicht sind diese Werte einer falschverstandenen Form von Selbstverwirklichung zum Opfer gefallen, die in Wahrheit nichts anderes ist als ein kalter Egoistenkult.
({3})
Im übrigen - die Anmerkung will ich gerne machen - hat Fritz Neumark, einer von denen, die wie Ernst Reuter und viele andere in der Türkei während der Nazizeit Zuflucht fanden, in seinem sehr lesenswerten Buch „Zuflucht am Bosporus" die überwältigende türkische Gastfreundschaft für vom Nationalsozialismus verfolgte deutsche Gelehrte, Wissenschaftler, Politiker und Künstler beschrieben. Wir sollten uns auch in dieser Stunde dankbar daran erinnern.
({4})
Aber zur Ehrlichkeit gehört auch, daß nicht wenige von denen, die jetzt besonders lautstark vom Schaden für die deutsch-türkischen Beziehungen sprechen, sich vor kurzem gar nicht genug daran tun konnten, die Türkei und ihre Regierung herabzusetzen.
({5})
- Ich würde diesen Zwischenruf nicht machen. Ich spreche hier von dem türkischen Staatspräsidenten Demirel, der vorher, meine Damen und Herren, Ministerpräsident war und gegen die Diktatur gekämpft hat. Und ich spreche von dem bisherigen türkischen Ministerpräsidenten Inönü, der Mitglied des Vorstandes der Sozialistischen Internationale ist und der unseren ganzen Respekt verdient hat. Das möchte ich hier deutlich hervorgehoben haben.
({6})
Es ist viel Heuchelei und Selbstgerechtigkeit am Werk gewesen. Gerade wir Deutschen sind vor dem Hintergrund der Geschichte dieses Jahrhunderts nicht gerade dazu berufen, mit erhobenem Zeigefinger die Welt zu belehren. Niemandem, am wenigsten den Opfern von Menschenrechtsverletzungen ist geholfen, wenn wir im vereinten Deutschland nach wilhelminischer Manier als moralische Großmacht auftrumpfen.
({7})
Wir brauchen Freunde, und wir brauchen sie mehr als andere. Wir erweisen den Interessen unseres Landes einen schlechten Dienst, wenn wir ausgerechnet uns ere zuverlässigsten Partner herabsetzen.
Wenn ich dies sage, gilt auch das andere: daß wir alle, die Bundesregierung und dieses Hohe Haus in all seinen Fraktionen, einer konsequenten Achtung der Menschen- und Minderheitenrechte auch in der Türkei größte Bedeutung beimessen.
({8})
Dies habe ich auch in meinen Gesprächen mit dem Staatspräsidenten und der Regierung der Türkei deutlich zum Ausdruck gebracht. Ich habe in Ankara allerdings auch erklärt, daß die Bundesregierung das legitime Recht der Türkei anerkennt, sich mit rechts13856
staatlichen Mitteln gegen terroristische Aktivitäten zu verteidigen.
({9})
Ich habe es begrüßt, daß die türkische Regierung in den letzten Jahren eine Reihe von wichtigen Initiativen ergriffen hat, die auf eine Verbesserung der Menschenrechtslage und vor allem auch des Schutzes der Minderheiten abzielen. Ich hoffe sehr, daß die Regierung in diesen Fragen gemäß ihrem Programm - und ich nehme an, die neue Regierung wird dieses noch einmal erneuern - bald mit weiteren Fortschritten aufwarten kann. Ich habe Vertrauen - ich will es aussprechen - zu Staatspräsident Demirel und den von ihm ernannten Persönlichkeiten, daß sie auf diesem Weg bleiben. Wir bleiben im Gespräch auch über die aktuellen Fragen des deutsch-türkischen Verhältnisses.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, im Jahre 1992 haben die Strafverfolgungsbehörden über 12 000 Ermittlungsverfahren wegen rechtsextremer und fremdenfeindlicher Straftaten eingeleitet. Dabei ging es in knapp 60 % der Fälle um sogenannte Propagandadelikte wie z. B. Volksverhetzung. Es gab über 11 000 Beschuldigte. Rund 700 Haftbefehle wurden erlassen. Viele der Täter konnten rasch gefaßt werden. Im gleichen Zeitraum wurden über 10 000 teilweise schon früher eingeleitete Verfahren abgeschlossen. Die Gerichte haben rund 1 500 Straftäter wegen extremistischer oder fremdenfeindlicher Straftaten verurteilt, davon ein Drittel zu Jugend- oder Freiheitsstrafen.
Die Staatsanwaltschaften bemühen sich, solche Straftaten so rasch wie möglich zur Anklage zu bringen. Manches Mal - dies ist nachprüfbar - liegen zwischen Tat und Anklageerhebung nur wenige Wochen. Zur Beschleunigung hat zweifelsohne beigetragen, daß bei den meisten Staatsanwaltschaften die Verfolgung extremistischer oder fremdenfeindlicher Straftaten in speziellen Dezernaten konzentriert worden ist.
Die Bundesregierung hat am 2. Dezember des vergangenen Jahres Bundesminister Bohl beauftragt, zusammen mit den Staatssekretären der zuständigen Ressorts, alle Maßnahmen und Planungen der Bundesregierung zur Gewaltverhütung und Gewaltbekämpfung zusammenzufassen. Es geht uns um eine wirksame Offensive gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit.
Dabei wurden vier Arbeitsgruppen mit folgenden Schwerpunkten eingerichtet: Erstens: Gewaltprobleme junger Menschen - hier geht es um Aufklärungskampagnen gegen Extremismus, um Jugendarbeit und um Bildung -; zweitens: Integration von Ausländern; drittens: Polizei und Verfassungsschutz - hier geht es vor allem um die Prüfung von Verboten und Verwirkungsanträgen sowie um die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern - und viertens: Prüfung von Gesetzesänderungen im Strafrecht und im Strafprozeßrecht.
Am 3. Februar dieses Jahres ist im Kabinett ein erster Zwischenbericht vorgelegt worden. Dieser Bericht wurde den Ländern zugeleitet. Er wurde hier
veröffentlicht und auch über unsere Auslandsvertretungen öffentlich gemacht. Dieser erste Bericht hat eine sehr zustimmende Resonanz gefunden. Die Diskussion darüber muß mit großer Intensität fortgesetzt werden.
Obwohl dies eine nationale Herausforderung ist, ist hier gemäß unserer Verfassungsordnung an erster Stelle natürlich die Verantwortung der Lander gefragt. Entscheidende Handlungsbereiche, wie Justiz, Polizei, der Erziehungsbereich, Jugend- und Kulturarbeit, liegen weitgehend in der Zuständigkeit der Länder und der Gemeinden. Ich glaube, wir alle spüren in einer besonderen Weise, daß es wenig Sinn hat, Verantwortung hin und her zu schieben. Es geht um eine gemeinsame Aufgabe. Aber dabei steht auch unsere föderale Ordnung auf dem Prüfstand. Wer zuständig ist, hat eine besondere Pflicht zum Handeln. Ich will hier für die Bundesregierung noch einmal versichern, daß wir unsererseits alles tun wollen, um die Lander dabei zu unterstützen.
Meine Damen und Herren, im Bereich der inneren Sicherheit sind Maßnahmen der Vorbeugung und der Bekämpfung verstärkt worden. Hierzu gehören insbesondere das Sammeln, das Auswerten und das gezielte Weitergeben von Informationen über potentielle Gewalttäter aus der rechtsradikalen Szene. Zu diesem Zweck wurden die entsprechenden Arbeitseinheiten beim Bundeskriminalamt verstärkt und die Einsatzbereitschaft beim Bundesgrenzschutz erhöht. Einer besseren Beobachtung des Extremismus dient nicht zuletzt die Einrichtung einer Bund-LänderInformationsgruppe. Auch beim Verfassungsschutz sind die Arbeitseinheiten für die Beobachtung des Rechtsextremismus und terroristischer Tendenzen ausgebaut worden. Der Umfang dieser personellen Maßnahmen stellt außer Zweifel, daß wir den Rechtsextremismus mindestens genauso ernst nehmen wie den Linksextremismus.
Bundesminister Seiters hat gegen die „Nationalistische Front", die „Deutsche Alternative" sowie die „Nationale Offensive" Vereinsverbote ausgesprochen. Gegen zwei Neonazis hat die Bundesregierung Anträge auf Verwirkung von Grundrechten gestellt. In allen Bundesländern wird die Partei „Die Republikaner" inzwischen vom Verfassungsschutz beobachtet.
Im Straf- und Strafprozeßrecht stehen wir vor wichtigen Gesetzesänderungen. Ich nenne die Erweiterung der Verbote von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, die Erweiterung des Strafrahmens für schwere Körperverletzung, die Erweiterung der Zuständigkeit des Generalbundesanwalts und die Erleichterung der Haftvoraussetzungen. Weitere Maßnahmen müssen nach meiner Überzeugung hinzukommen. Dazu gehört auch eine gesetzliche Regelung für ein länderübergreifendes staatsanwaltschaftliches Informationssystem.
Meine Damen und Herren, besonders gefordert sind - dies wissen wir alle - in diesen Tagen die Polizeibeamten. Zu Recht erwarten diejenigen, die sich bedroht sehen, von ihnen Schutz. Dies gilt für deutsche wie für ausländische Bürger. Gewaltbereite Täter müssen im Vorfeld ermittelt, angesprochen und,
wenn möglich, von ihren kriminellen Vorhaben abgebracht werden.
Rassistische, extremistische, ausländerfeindliche Strömungen können vielfach durch den Verfassungsschutz schon in einem frühen Stadium aufgespürt werden. Bei dieser Beobachtung darf es nicht bleiben, wenn auf die zumeist jugendlichen Personen, die sich spontan zu feigen Mord- oder Brandanschlägen entschließen, positiv eingewirkt werden soll.
Meine Damen und Herren, solange keine Straftat geschehen ist, sind der Polizei die Hände gebunden, mit dem oft absurden Ergebnis: Sie muß warten, bis es brennt. Die Dinge haben jetzt eine Entwicklung genommen, die ein solches Abwarten nicht mehr erlaubt. Wir sollten fähig sein, in aller Ruhe, aber in offenen Gesprächen ohne gegenseitige Vorwürfe über die notwendigen Wege zur Verbesserung dieses unbefriedigenden Zustands nachzudenken. Ich denke dabei etwa an das Thema der Zuständigkeitsabgrenzungen. Sie dürfen keine Barriere für das Zusammenwirken im Kampf gegen die Gewalt sein. Wenn es sich als notwendig erweist, dürfen auch Datenschutzregelungen, die einen Informationsaustausch zwischen den Behörden verhindern, kein Tabu sein.
({10})
Ich will morgen mit den Ministerpräsidenten der Länder ein Gespräch auch über diese Fragen führen.
Meine Damen und Herren, den Polizeibeamten, die tagtäglich in ihrem Einsatz Anfeindungen und Gewalt ausgesetzt sind, gelten unser besonderer Dank und unsere Anerkennung.
({11})
Aber es muß mehr als bloß verbale Unterstützung sein. Wir alle wissen - ich sage dies mit Bedacht trotz der angespannten Finanzlage in Bund und Ländern -, die Polizei kann ihre schwierige Aufgabe nur bewältigen, wenn sie personell, rechtlich, logistisch und nicht zuletzt im Blick auf ihre Ausbildung hinreichend gerüstet ist.
({12})
Das heißt - das ist nicht automatisch ein Präzedenzfall für andere Bereiche; das muß gleich hinzugefügt werden -, die Attraktivität des Polizeiberufs muß verbessert werden. Das ist eine Frage der Bezahlung und der personellen und sächlichen Ausstattung.
Meine Damen und Herren, besonders wichtig - das gehört in diesen Bericht - ist aber auch, daß den Beamten selber nicht die Motivation für ihre Arbeit genommen wird. Wer beispielsweise von ihnen unter dem Schlagwort der „Deeskalation" verlangt, daß sie tatenlos zusehen, wie vor ihren Augen Straftaten begangen werden, der deeskaliert nicht; er demotiviert die Beamten und ermutigt zu immer dreisteren Taten.
({13})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, viele Bürger unseres Landes sind auch beunruhigt über die Gewalttätigkeit auf deutschem Boden zwischen rivalisierenden Extremisten aus der Türkei. Wir müssen auch diese Sorge ernst nehmen.
Zugleich will ich jedoch betonen, daß natürlich die allermeisten türkischen Bürger in Deutschland diese Form von Gewalt entschieden ablehnen, ja daß sie mehr noch als andere darunter leiden.
({14})
Ich begrüße es, daß Deutsche und Ausländer gemeinsam ihren Willen zu einem friedlichen Zusammenleben in der Öffentlichkeit demonstrieren. Leider nutzen kleine Gruppen türkischer Fanatiker diese Demonstrationen dazu, sich untereinander und den Sicherheitskräften Straßenschlachten zu liefern. Sie werden dabei, wie wir es erlebt haben, zum Teil von deutschen Chaoten unterstützt. Sie hinterlassen eine Spur von Verwüstungen und Schäden in Millionenhöhe.
Wir können davon ausgehen, daß sich von den gut 1,8 Millionen Türken in Deutschland nur annähernd 30 000 - man muß das Zahlenverhältnis wirklich einmal zur Kenntnis nehmen - in extremistischen Vereinigungen organisiert haben. Diese Gruppen sind untereinander zutiefst verfeindet und vor allem drei ideologischen Blöcken zuzuordnen. Man kann davon ausgehen, daß knapp 4 000 Anhänger revolutionär-marxistischer Gruppen, knapp 18 000 extremistische Fundamentalisten und gut 7 000 extreme türkische und kurdische Nationalisten zu verzeichnen sind. Wenn Sie diese Zahlen hören und in Vergleich zu 1,8 Millionen setzen, erhält man die wirkliche Relation. Aber man gewinnt auch, wenn dieser Staat es will, die Möglichkeit, dagegen entsprechend vorzugehen. Allen diesen extremistischen Gruppen ist eines gemeinsam: daß sie in einem erbitterten Gegensatz zu ihrer eigenen Regierung und zur Verfassung ihres Heimatlands stehen und ihre Ziele dort wie hier mit Gewalt durchsetzen wollen. Die ihnen in der Heimat deswegen oft drohende Strafverfolgung hat in vielen Fällen zu einem Bleiberecht in Deutschland geführt. Dies darf jedoch in gar keinem Fall, meine Damen und Herren, Freibrief dafür sein, Auseinandersetzungen untereinander hier bei uns gewalttätig auszutragen.
({15})
Dieser Mißachtung unseres Gastrechts muß mit aller Entschiedenheit begegnet werden. Wer bei uns Straftaten begeht, gleich aus welcher politischen oder ideologischen Motivation, muß dafür zur Verantwortung gezogen werden. Wir erwarten von jedem Ausländer, daß er sich an die demokratischen Spielregeln friedlichen menschlichen Zusammenlebens hält. Wer dies nicht tut, muß sich darauf einstellen, aus Deutschland abgeschoben zu werden.
({16})
Der Verfassungsauftrag und das Ergebnis der Erfahrungen unserer Geschichte lauten: Wir bieten
politisch, rassisch oder religiös Verfolgten Schutz und Aufnahme, aber wir dulden keine Bürgerkriegsschauplätze. Ich darf an die Innenminister der Länder appellieren - ich habe einen entsprechenden Auftrag auch an den Bundesinnenminister gegeben -, gemeinsam alles zu versuchen, um dem verfassungs- und gesetzwidrigem Treiben solcher Extremisten nicht nur besondere Aufmerksamkeit zu widmen, sondern konsequent dagegen vorzugehen. Deutschland ist kein Aufmarschraum für Terroristen und darf es auf keinen Fall werden. Das wollen wir auch für die Zukunft so halten.
({17})
Wer mit Schußwaffen, mit Messern, mit Baseballschlägern und Steinen Demonstrationen der Anteilnahme und Trauer in Schlachtfelder verwandelt, ist ein krimineller Gewalttäter und muß mit den entsprechenden Konsequenzen rechnen.
({18})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Offenheit Deutschlands, unserer Republik, gegenüber der Welt und den hier lebenden Ausländern hat uns nicht zuletzt und vor allem menschlich und kulturell im besten Sinne des Wortes bereichert. Sie hat uns auch großen wirtschaftlichen Nutzen gebracht. Ich will nur darauf hinweisen, welche Vorteile unsere exportorientierte Wirtschaft hieraus gezogen hat und in welch einem Umfang unser Bruttosozialprodukt hiervon positiv beeinflußt wurde. Es sind rund 200 Milliarden DM! Die meisten Ausländer, die hier leben und arbeiten, verrichten angelernte und ungelernte Tätigkeiten mit oft schweren körperlichen Anforderungen. Ob in Gaststätten oder Gießereien, im Bergbau oder in der Textilverarbeitung, sie sind aus unserem Arbeitsleben überhaupt nicht hinwegzudenken.
({19})
Sie gehören zu uns, und sie verdienen auch unsere Anerkennung für diese Leistung und diese Arbeit.
Ausländer in Deutschland schaffen auch Arbeitsplätze. 88 000 ausländische Selbständige, darunter viele kleine mittelständische Betriebe, beschäftigen Mitarbeiter. Ein ganz erheblicher Teil davon sind Deutsche. Die Steuern und Sozialversicherungsbeiträge der Ausländer werden für das Jahr 1992 auf etwa 90 Milliarden DM geschätzt. Sie sind entschieden höher als die Aufwendungen unseres Staates, die der ausländischen Bevölkerung zugute kommen. Es ist also wahr, daß die bei uns lebenden Ausländer ganz erheblich zum Wohlstand der Deutschen beitragen. Es ist deshalb ein törichtes Gerede, sie fielen uns zur Last.
({20})
Natürlich sehe ich in den Ausländern bei uns nicht in erster Linie einen Wirtschaftsfaktor, sondern MitMenschen, deren Würde unantastbar ist.
({21})
Wir fördern - alle Bundesregierungen haben dies getan - seit Jahren die Integration ausländischer Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen. 1993 waren es über 90 Millionen DM für die berufliche und soziale Integration und die Sozialberatung. Die Schwerpunkte liegen bei der Sprachvermittlung und bei beruflicher Qualifikation. So konnte der „Sprachverband Deutsch" 1992 für über 80 000 ausländische Arbeitnehmer Sprachkurse anbieten. Seit Gründung dieses Sprachverbands haben fast 1 Million Teilnehmer in von Hunderten von Trägern bundesweit durchgeführten Sprachkursen die Möglichkeit der Erlernung unserer Sprache gehabt. Es gibt spezielle Kurse für Jugendliche und solche für Frauen mit Kinderbetreuung und mit vielen anderen Möglichkeiten, um dem einzelnen zu helfen. Zusätzlich fördert der Bund den Übergang von der Schule in den Beruf sowie biantionale Ausbildungsprojekte für junge Ausländer. Immer mehr Ausländer werden auch ihren Lebensabend bei uns verbringen, so daß ich auch den Hinweis auf die Gruppe der Älteren bei Maßnahmen der Integration für wichtig halte.
({22})
Im Bereich der beruflichen Bildung steht ausländischen Arbeitnehmern das Instrumentarium aus dem Arbeitsförderungsgesetz zu. Ausländer, die sich längere Zeit berechtigt in der Bundesrepublik aufhalten und Opfer einer Gewalttat werden, dürfen nicht schlechter gestellt werden als Deutsche. Die Bundesregierung hat eine entsprechende Änderung des Opferentschädigungsgesetzes vorgeschlagen.
({23})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, es ist ein Vorurteil, Deutschland sei kein ausländerfreundliches Land, und es entziehe sich seinen humanitären Verpflichtungen. Ich will diese Gelegenheit vor der Öffentlichkeit unseres Landes, aber auch des Auslands gern einmal nutzen, um die nüchternen Zahlen vorzutragen. Zur Zeit leben 6,5 Millionen Ausländer in Deutschland, davon 1,3 Millionen Kinder sowie Jugendliche bis 16 Jahre. Die größte Gruppe der Ausländer stellen die Türken mit einem Anteil von 28 %. Fast 70 % der hier lebenden Türken sind schon seit mehr als 10 Jahren in Deutschland, fast 20 % sogar länger als 20 Jahre. 63 % der hier lebenden Türken sind jünger als 30 Jahre. Mehr als eine halbe Million Türken verfügen über eine Aufenthaltsberechtigung, 370 000 haben eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.
Am 31. Dezember 1992 befanden sich 1,5 Millionen Flüchtlinge in Deutschland, davon mehr als 300 000 Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Die Zahl der Flüchtlinge weltweit wird derzeit auf rund 18 Millionen geschätzt. Das heißt, 8 % davon fanden in Deutschland Aufnahme.
({24})
- Ich weiß nicht, ob Sie nicht verstehen, daß sich hinter diesen Statistiken menschliche Schicksale verbergen. Sie wollen doch gar nicht zuhören.
({25})
Ich finde es traurig, daß Sie nicht begreifen, daß es wichtig ist, auch der Weltöffentlichkeit diese Zahlen einmal zur Kenntnis zu geben.
({26})
Es waren 100 000 Asylberechtigte, 130 000 Familienangehörige von Asylberechtigten, 38 000 sogenannte Kontingentflüchtlinge, d. h. Flüchtlinge, die im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommen wurden. 640 000 Kriegs- oder Bürgerkriegsflüchtlinge sowie sogenannte de-facto-Flüchtlinge, d. h. Personen, die keinen Asylantrag gestellt haben oder deren Asylantrag abgelehnt wurde, die aber gleichwohl aus humanitären und politischen Gründen nicht abgeschoben werden, fanden Aufnahme. Hinzu kommen 610 000 Asylbewerber.
1992 kamen 440 000 neue Asylbewerber nach Deutschland. Allein von Januar bis Mai 1993 kamen weitere 193 000 hinzu. Der Anteil Deutschlands am Asylbewerberzugang innerhalb der EG betrug 1990 und 1991 noch rd. 58 %. 1992 lag er bei 79 %. Der Anteil Deutschlands am Asylbewerberzugang in Westeuropa insgesamt lag 1990 und 1991 bei 47 %, und 1992 betrug er bereits 65 %.
Zu diesen Zahlen gehört auch, daß Bund, Lander und Gemeinden nach der Einschätzung, die wir gemeinsam vorgenommen haben, 1992 Aufwendungen für ausländische Flüchtlinge in Deutschland in Höhe von 9 Milliarden DM hatten. Ich sage dies - der Zuruf macht dies besonders deutlich -, weil wir nicht den geringsten Grund haben, uns im internationalen Vergleich zu verstecken. Wir leisten das in der Lage unseres Landes Angemessene.
({27})
Zu diesen Zahlen gehört auch - diese beiden will ich noch nennen - die deutsche Hilfe für Flüchtlinge und Vertriebene in Somalia, die 1992/93 über 120 Millionen DM betrug und die nur noch von der Hilfe der Vereinigten Staaten von Amerika übertroffen wird. Und: Wir geben für Flüchtlinge und Vertriebene im ehemaligen Jugoslawien rund 350 Millionen DM aus, einschließlich des deutschen EG-Anteils. Diese Zahl ist unübertroffen. Wer also über Fremdenfeindlichkeit in Deutschland redet oder im Ausland mit unübersehbarer Häme darüber schreibt, soll einmal zur Kenntnis nehmen, was hier wirklich getan wird und was die Menschen hier wirklich denken und tun, und er soll Vergleiche mit seinem eigenen Land ohne Selbstgerechtigkeit anstellen.
({28})
Wir alle wollen und hoffen, daß Bund, Lander und Gemeinden durch das neue Asylverfahren künftig spürbar entlastet werden. Die dann zur Verfügung stehenden Kapazitäten an Unterkünften, Verwaltungs- und Unterstützungspersonal sollen gezielt für die Aufnahme und Betreuung wirklich Hilfsbedürftiger, z. B. von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen, genutzt werden.
Ich sage das folgende in die aktuelle Diskussion in der Bundesrepublik hinein: Es ist für mich völlig unerträglich und völlig unhaltbar, wenn jetzt einige eine Verbindungslinie zwischen den neuen Asylgesetzen, der Verfassungsänderung und den Brandanschlägen in Solingen oder anderswo ziehen.
({29})
Meine Damen und Herren, unser Staatsangehörigkeitsrecht ist jetzt 80 Jahre alt. Ich denke, wir sind gemeinsam der Auffassung, daß es jetzt notwendig ist, daß wir die Regelungen des geltenden Rechts überprüfen. Eine beachtliche Zahl von Regelungen ist ja bereits geändert, novelliert worden.
({30})
Ich hoffe darauf, daß wir dieses Gespräch miteinander in einer sachgerechten Diskussion, ohne jeden ideologischen Vorbehalt führen können. Wir wollen weitere Regelungen schnell treffen.
({31})
Das heißt, wir wollen sie noch in dieser Legislaturperiode verabschieden. Das setzt ein Zusammenwirken zwischen Bundestag und Bundesrat voraus. Ich möchte alle Verantwortlichen im Bund, in den Ländern, in den Parteien und allen gesellschaftlichen Organisationen einladen, sich an dieser Diskussion zu beteiligen.
Bereits 1990 wurden im Zuge der Neuregelung des Ausländerrechts Vorschriften zur erleichterten Einbürgerung im Ausländergesetz geschaffen. Nunmehr treten zum 1. Juli 1993 weitere Erleichterungen in Kraft: Das Erfordernis der einheitlichen Staatsangehörigkeit der Familie entfällt. Ausländer, die seit 15 Jahren rechtmäßig ihren Aufenthalt im Bundesgebiet haben, haben einen Anspruch auf Einbürgerung; jetzt wird auf die Voraussetzung der Unbescholtenheit grundsätzlich verzichtet. Ausländer der zweiten und dritten Generation zwischen dem 17. und dem 23. Lebensjahr haben einen Anspruch auf Einbürgerung, wenn sie sich seit acht Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und dort sechs Jahre lang eine Schule besucht haben; auch bei diesem Personenkreis wird jetzt der Grundsatz der Unbescholtenheit als Voraussetzung der Einbürgerung aufgegeben. Nunmehr können auch nichteheliche Kinder deutscher Väter, bereits durch Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit erlangen. Und - das ist sehr wichtig -: Die Gebühren für die sogenannte Ermessenseinbürgerung nach dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz werden drastisch gesenkt, in besonderen Fällen bis hin zur vollständigen Gebührenbefreiung.
Wir alle wissen, von den bisherigen Erleichterungen bei der Einbürgerung ist nur wenig Gebrauch gemacht worden. Das hat sicher viele Gründe. Einer ist gewiß - das ist ein besonders schwieriger Grund und mit vielen Problemen behaftet -, daß in aller Regel die Aufgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft
verlangt wird. Ich halte es persönlich weiterhin für richtig, Mehrstaatigkeit grundsätzlich zu vermeiden.
({32})
Allerdings müssen wir unser Staatsangehörigkeitsrecht so ändern, daß die bestehenden Einbürgerungsmöglichkeiten wesentlich besser genutzt werden als bisher.
Ich denke dabei vor allem und in erster Linie - auch nach meinen persönlichen Beobachtungen in meiner eigenen Heimatstadt, wo fast 7 000 türkische Bürger leben - an die in Deutschland geborenen jungen Türken, die Deutschland als ihre Heimat empfinden, die bereit sind, staatsbürgerliche Pflichten zu übernehmen, und die in ihrem Alltag erleben, daß sie zwischen zwei Hochkulturen geraten: im Verhältnis zu ihren Großeltern, im Verhältnis zu ihren Eltern, im Verhältnis zu ihren Freunden, im Verhältnis zu ihren Schulkameraden.
Ich habe angekündigt, daß Bundesminister Seiters bald einen Gesetzesvorschlag für eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vorlegen wird. In diesen Vorschlag wird auch das Ergebnis einer BundLänder-Kommission einfließen, die bereits seit mehr als einem Jahr berät. Wir wollen alle Gesichtspunkte, die zu einem vernünftigen Ziel führen, hier mit einbringen. Ich sage noch einmal: Es ist für mich wichtig - das ist mein Rat an uns -, dabei schnell zu arbeiten. Ich glaube nicht, daß das Wahljahr 1994 besonders geeignet ist, eine so schwierige Materie parlamentarisch abzuhandeln.
({33})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Fahndungserfolge nach dem mörderischen Brandanschlag von Solingen sind ein Signal der Ermutigung. Dieses Beispiel zeigt, daß extremistische Gewalttäter keine Chance haben, wenn dieser Staat und seine Bürger zusammenstehen. Aber wir alle wissen auch, daß die Androhung von Gewalt allein ganz gewiß nicht genügt, um Menschen, vor allem jüngere Leute, zu rechtmäßigem Handeln zu bewegen. Wichtiger noch als das Strafrecht - so wichtig dieses auch ist - ist z. B. die Stärkung jener Institutionen, die gerade Jugendlichen Halt und Orientierung geben können und die an ihrer Erziehung zur eigenverantwortlichen Persönlichkeit mitwirken. Hier tragen die Familie und die Schule - und zwar in dieser Reihenfolge - eine ganz besondere Verantwortung. Aber auch Kirchen und Gewerkschaften, Träger der Jugendarbeit und die Medien sind gefordert.
Wir haben verabredet, daß wir schon sehr bald mit wichtigen Gruppen der Gesellschaft zu einem Gespräch zusammenkommen - das Ganze ist nicht nur eine Sache des Staates und seiner Organe - und über die Möglichkeiten zur Bekämpfung der Gewalt, insbesondere der Gewaltbereitschaft junger Menschen, diskutieren, um auf der Grundlage klarer Ergebnisse möglichst schnell weiter voranzukommen.
Die Analyse der vielfältigen Gründe für Radikalisierung und Ausschreitungen junger Leute führt zu dem
Ergebnis, daß es bei Jugendlichen wesentlich auf vorbeugendes Handeln ankommt. Wir wollen daher als Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern und den Gemeinden vor allem Information und Aufklärung, Kinder- und Jugendhilfe, Jugendförderung und die Bereiche Schule und Sport weiter fördern. Bereits in den vergangenen beiden Jahren wurde ein wesentlicher Teil der Infrastruktur der Kinder- und Jugendhilfe in den neuen Bundesländern mit Bundesmitteln aufgebaut.
Eine offene Gesellschaft und eine freiheitliche Demokratie ruhen auf Fundamenten, die der Staat nur in begrenztem Umfang garantieren kann. Wir waren immer stolz auf ein Staatsverständnis, das diesen Freiheitsraum garantiert. Politisches Handeln kann den ethischen Grundkonsens eines Volkes niemals ersetzen. Zu diesem Grundkonsens gehören auch Tugenden wie Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft, Dankbarkeit und Höflichkeit, Anstand und Würde. Sie sind bei uns allzulange als altmodisch verschrien und von anderen als minderwertige Sekundärtugenden verspottet worden.
({34})
Wenn wir in diesem Zusammenhang nicht umdenken, ist auf die Dauer der innere Zusammenhalt unserer Gesellschaft bedroht.
Wir alle hören und lesen fast täglich bestürzende Berichte über Gewalt an unseren Schulen. Das heißt, daß wir uns - ohne jeden Vorwurf an irgendeine Seite - selbstkritisch die Frage stellen müssen, ob nicht manche der sogenannten Reformversuche im Bildungswesen den Boden für solche Entwicklungen bereitet haben.
({35})
- Ich verstehe Ihre Aufregung wirklich nicht. Es ist doch heute unter den meisten Pädagogen unstrittig, daß eine Konfliktpädagogik solche Ergebnisse zeitigt.
({36})
Wer zur Mündigkeit erziehen will, darf eben sittliche Ansprüche nicht herunterschrauben.
Ich bringe ein Beispiel, das wir oft genug gehört haben: „Gewalt gegen Sachen mag ja erlaubt sein, nur Gewalt gegen Personen ist es nicht."
({37})
- Ich weiß nicht, warum Sie sich jetzt aufregen. Warum ziehen Sie sich eigentlich diesen Schuh an?
({38})
Sie werden doch wohl nicht die Behauptung aufstellen wollen, daß das Ihre These ist. - Also, wenn das nicht Ihre These ist, verstehe ich nicht, warum Sie nicht mit Ruhe anhören können, was hier festgestellt wird, was die riesige Mehrheit aller derer, die sich mit dem Thema beschäftigen, längst festgestellt hat.
({39})
Die freiheitliche Demokratie ist bei all ihren Schwächen die höchste Form politischer Zivilisation, die wir kennen. Sie ist deshalb gerade nichts für Gleichgültige, für Laue oder für Bequeme.
Ich hoffe, Sie werden folgendes Zitat ertragen: In der Demokratie
- so hat es Joseph Rovan formuliert muß die Tugend aus Einsicht entspringen und freiwillig geleistet werden. Dies aber setzt zumindest eine Erziehung von Kindern und Jugendlichen zur Tugend voraus, die dann ebenfalls aus der Einsicht und Freiwilligkeit der Eltern und zusätzlich von anderen Erziehern kommen muß.
Das sind die Worte eines Mannes, der in Deutschland geboren ist, der Dachau überlebt hat und der mehr als viele andere für die deutsch-französische Freundschaft getan hat. Wir sollten das nicht vergessen.
({40})
Wenn wir uns nachdenklich mit den Ursachen der Gewalt auseinandersetzen, muß doch die Frage gestellt werden: Ist unser Leitbild nach Jahrzehnten des Wohlstandes heute nicht mehr so sehr der Citoyen, sondern vielmehr der Bourgeois?
Ist es nicht ein Zeichen falsch verstandener Liberalität, wenn wir einfach klaglos zulassen, daß von vielen Kindern Rambo und vergleichbare Symbolfiguren zum Vorbild genommen werden?
({41})
- Ich weiß wirklich nicht, warum Sie sich da auf regen, meine Damen und Herren. Sie waren genauso wie alle anderen Erwachsenen in dieser Republik an dieser Entwicklung beteiligt. Ich nehme mich ja nicht aus.
Wenn ich heute bedenke, was ich in den Jahren als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz in der Bildungspolitik zugelassen oder unterstützt habe, muß ich feststellen, daß ich inzwischen dazugelernt habe. Es wird Zeit, daß auch Sie dazulernen - um das klar und deutlich zu sagen.
({42})
Wenn wir über dieses Thema sprechen, müssen wir nicht nur über das reden, was Politik und Staat zu erbringen haben, sondern auch darüber, was alle anderen Bereiche der Gesellschaft zu erbringen haben.
Das gilt auch für die Medien. Ich finde es falsch, in dieser Frage alles auf die Medien abzuschieben, aber sie haben ihren Anteil. Die Freiheit von Presse und Rundfunk ist ein hohes Gut. Aber ich glaube, es ist doch unstreitig: Das höchste Gut ist die Würde des Menschen, die die Väter und Mütter des Grundgesetzes bewußt an den Beginn unserer Verfassung gestellt haben, ohne zwischen Deutschen und Ausländern zu unterscheiden.
({43})
Wir sollten vor allem bei den jungen Menschen das Bewußtsein dafür schärfen, daß zivile Tugenden
etwas mit Mut zu tun haben. Blindwütige Gewalt ist in Wahrheit ein Rückfall in die Barbarei. Anschläge auf wehrlose Menschen sind in Wahrheit ein Zeugnis von innerer Schwäche und Feigheit. Wir sollten viel stärker als bisher dem ganz unspektakulären Pflichtbewußtsein Anerkennung zollen, mit dem so viele auch in Deutschland ihren Dienst am Nächsten leisten.
Ich denke dabei an die Wehrpflichtigen ebenso wie an die Zivildienstleistenenden, z. B. in der Altenpflege. Ich denke an die vielen, über die nicht gesprochen wird, an die ehrenamtlich Tätigen in Sportvereinen und bei der Freiwilligen Feuerwehr.
Ich denke nicht zuletzt - das sage ich bei dieser Gelegenheit gerne, weil es in Deutschland inzwischen üblich geworden ist, alles auf die Parteien abzuschieben - auch an die Mitglieder politischer Parteien, die Tag für Tag, und zwar unentgeltlich und ehrenamtlich, ihre Arbeit tun, die oft viel Hohn von jenen ernten, die vornehm abseits stehen und sich bei gehobenem Konsum „selbstverwirklichen" .
({44})
Gerade weil dieser Begriff von manchen mißbraucht wird, gehört in diesem Zusammenhang auch ein Wort zum Thema Patriotismus. Wir dürfen es nicht zulassen, daß dieser Begriff den Rechtsradikalen und Rechtsextremisten überlassen wird.
({45})
Wer Haß gegen Ausländer schürt, kann nicht für sich in Anspruch nehmen, ein deutscher Patriot zu sein.
({46})
Axel Springer hat einmal gesagt, daß der „Respekt vor den Völkern dieser Erde ... die Frucht des richtig verstandenen Selbstrespekts ist". Patriotismus, richtig verstanden, bedeutet immer auch Achtung vor der Vaterlandsliebe des Nachbarn und damit die strikte Ablehnung jeder Form nationaler Überheblichkeit.
({47})
Wir alle wissen aus unserer eigenen Lebenserfahrung, daß gerade für Jugendliche die Identifikation mit einer Gruppe ein wichtiger Teil ihres Reifungsprozesses ist. Wir dürfen nicht zulassen, daß dieses ganz natürliche Bedürfnis von jenen mißbraucht wird, die die Nation zum Götzen erheben.
Wir alle wissen, daß in diesem geschichtlichen Abschnitt und sicherlich auch in Zukunft Nation und Nationalstaat zwar nicht der einzige, aber doch der wichtigste Rahmen bleiben, in dem Bürgerrechte wirksam garantiert und wahrgenommen werden, in dem auch außenpolitische Interessen definiert werden können.
Gerade in diesem Rahmen - das ist die Frucht von Erfahrungen dieses Jahrhunderts nach all dem, was es uns an Schrecklichem, aber auch an Gutem gebracht hat - müssen die Deutschen den Willen zu guter Nachbarschaft beweisen, wie sie es getan haben seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland: mit allen Mehrheiten im Bundestag, mit allen Bundesregierungen und auch mit allen meiner Amtsvorgänger. Wir haben diesen Willen besonders im Zusammenhang
mit der deutschen Einheit bewiesen, die in Frieden und in Freiheit sowie mit der Zustimmung all unserer Nachbarn möglich war, weil uns die Nachbarn und die Welt vertrauen. Deswegen ist es angesichts mancher Fragen an die Deutschen wichtig, dieses Vertrauen gemeinsam zu rechtfertigen.
({48})
Als nächster spricht der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Dr. Johannes Rau.
Ministerpräsident Dr. h. c. Johannes Rau ({0}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Regierungserklärung, die der Herr Bundeskanzler soeben abgegeben hat, ist wichtig für uns hier in Deutschland, für die Menschen im Ausland, und sie wird - wie wir heute morgen von dem Sprecher der türkischen Regierung gehört haben - in der Türkei als das wichtigste Ereignis dieses Tages gewertet.
Ich denke, wir haben das mit Respekt zur Kenntnis zu nehmen, auch da, Herr Bundeskanzler, wo in einigen Teilen Ihrer Regierungserklärung die Gemeinsamkeit, von der ich glaube, daß wir sie jetzt brauchten, nicht mehr so deutlich geworden ist. In einem Teil Ihrer Rede haben Sie - erlauben Sie mir, das so zu sagen - manchen alten Hirschen zum frischen Wasser geführt.
({1})
Bei dem Stichwort „Sekundärtugenden” frage ich mich, wie lange das Klischee wohl noch hält.
({2})
Die Frage danach, was die Konfliktpädagogik denn alles zustande gebracht oder in Unordnung gebracht hätte,
({3})
will ich in der Tat nicht verniedlichen. Ich bin kein Anhänger einer falschen Harmonielehre, aber auch kein Anhänger der Konfliktpädagogik. Dennoch meine ich, wir sollten nicht zuviel auf die Schule schieben.
({4})
Wir sollten nicht zuviel auf die Lehrer packen.
({5})
- Ich weiß gar nicht, warum Sie sich über so milde Sätze aufregen.
({6})
Ich wollte von den Gemeinsamkeiten sprechen. Und wenn man von Gemeinsamkeiten spricht, darf man auch Unterschiede deutlich machen.
Ich sehe einen Unterschied, Herr Bundeskanzler, in der Frage der Mehrstaatigkeit. Ich wüßte gern, ob das, was Sie dazu gesagt haben, was viele Sprecher Ihrer Partei und Ihrer Koalition dazu gesagt haben, identisch ist mit dem, was die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung in einem Gesetzentwurf vorgelegt hat.
({7})
Ich wüßte gern, ob es politisch wirklich klug ist, wenn man das kommunale Wahlrecht nach Maastricht den EG-Bürgern gibt, es aber gleichzeitig der größten Gruppe der ausländischen Arbeitnehmer, die Sie angesprochen und die Sie für ihren großen Beitrag zur deutschen Volkswirtschaft gelobt haben, verweigert - nämlich den Türken.
({8})
Ich wüßte gern, wie das mit den Worten übereinstimmt, die Sie über die Türkei gesagt haben, denen ich zustimme, die Sie über Demirel, über Inönü gesagt haben.
Herr Bundeskanzler, es gibt viel Gemeinsames; deshalb haben wir uns auf Ihre Anregung am 1. Juni nach den schrecklichen Ereignissen in Solingen an die Bürger gewandt und sie nicht um Ruhe gebeten, sondern um besonnenes Denken und Handeln.
Und so glaube ich: Wenn wir ein Stückchen weitergehen, wenn wir ein Stückchen tiefer über das, was geschehen ist, nachdenken, dann werden sich nicht die Unterschiede verwischen, dann wird es nicht auf einmal einen Einheitsbrei politischer Meinungen geben; aber es kann und muß noch mehr Gemeinsamkeit geben, als wir sie bisher ausgesprochen haben. Denn - das sage ich aus meiner persönlichen Erfahrung - vielen Menschen hier im Westen schienen Hoyerswerda und Rostock schrecklich weit weg. Aber Hünxe und Solingen sind ganz nah - Solingen ist meine Nachbarstadt.
Viele haben das Gefühl, seit der Nacht von Pfingstsamstag habe sich unser Land verändert. Wer wie ich am Tatort dieser mörderischen Brandstifter gewesen ist, der hat erfahren: Das am tiefsten sitzende Gefühl der meisten Menschen ist eine Mischung aus Angst und aus großer Sorge, aus Ohnmacht und aus Trauer.
Ich denke, wir Politiker - alle - tim gut daran, offen zu sagen, daß wir in vielem ratlos sind. Das darf keine Ausrede für Nichtstun sein, aber es ist eine Warnung vor zu schnellen Rezepten.
({9})
Für das, was in Solingen und in anderen Städten geschehen ist - vorher und nachher -, gibt es eine Fülle von Deutungsversuchen, von Erklärungsansätzen, von Interpretationsversuchen. Ich gestehe Ihnen aber ganz offen: Ich kann nicht begreifen, was junge Menschen dazu treibt, die Häuser ihrer Nachbarn in Brand zu stecken - und das in dem Bewußtsein, daß sie diese ihre Nachbarn verbrennen.
Es ist erschreckend, daß viele Reaktionen auf diese menschenverachtende Gewalt ebenfalls Gewalt sind,
Ministerpräsident Dr.h.c. Johannes Rau ({10})
z. B. bei den Straßenkrawallen, die wir erlebt haben. Ich teile die Sorge vieler - auch Ihre Sorge, Herr Bundeskanzler -, daß eine gestiegene Gewaltbereitschaft und eine sinkende Hemmschwelle zur Anwendung von Gewalt zu beobachten und zu beklagen sind.
Jetzt suchen wir nach den Ursachen. Die einen suchen sie in den Familien, die anderen in der Schule, die nächsten bei den Medien, wieder andere im Streit um das Asylrecht. Viele sagen und bekräftigen - es ist richtig -, wir Deutsche seien ein ausländerfreundliches Volk. Aber andere malen das Gespenst eines neuen Faschismus an die Wand.
({11})
Sosehr ich verstehen kann, daß verzweifelt nach schnellen und befriedigenden Antworten gesucht wird, die auch beruhigen sollen, so falsch wäre es, wenn wir es uns zu leicht machten. Die jungen Menschen, die den Großteil der ausländerfeindlichen Gewalttäter ausmachen, fallen nicht vom Himmel: Sie sind Kinder unserer Gesellschaft. Sie handeln nicht im luftleeren Raum. Ihre Taten sind - so scheint es mir jedenfalls - ein extremer Ausdruck einer tiefgehenden Orientierungskrise in unserem Land.
({12})
Ungewißheit und Sorgen sind allgegenwärtig. Maßstäbe scheinen verlorengegangen, Tabus werden gebrochen, dem republikanischen Grundkonsens droht Gefahr, und es fehlt an Orientierung.
Muß man da nicht fragen, ob sich im dritten Jahr der staatlichen Einheit die soziale Statik in unserem Land so verändert hat, daß wir das Zusammenleben neu einüben müssen? Zusammenleben ist nicht leicht; Zusammenleben ist Freude und Bereicherung, kann aber auch Zumutung sein. Zusammenleben mit Fremden verlangt Toleranz auf beiden Seiten, verlangt Offenheit und die Bereitschaft, Neues anzunehmen.
Zusammenleben, meine Damen und Herren, kann auch nur gelingen, wenn wir die Menschen nicht abschreiben oder gar verurteilen, denen Fremdes Angst macht. Es ist ein großer und ein gefährlicher Irrtum, Fremdenangst und Fremdenfeindlichkeit gleichzusetzen.
Wir müssen dafür sorgen, daß aus Angst vor Fremden nicht Haß wird, der sich in Gewalt entlädt. Darum sage ich: Lassen Sie uns barmherzig mit der Fremdenangst umgehen, damit wir die Fremdenfeindlichkeit entschlossener bekämpfen können.
({13})
Nun zitiere ich doch jemanden aus der „Frankfurter Schule". Adorno hat gesagt, es gehe um eine Gesellschaft, in der die Menschen ohne Angst verschieden sein können. Ich glaube, das ist die große Herausforderung.
({14})
Sie gilt für alle Menschen. Also müssen wir auch die
Ängste mancher deutscher Mitbürgerinnen und Mitburger ernst nehmen, die verunsichert sind, die oft nicht wissen, wie sie sich Fremden gegenüber verhalten sollen, die Unbehagen empfinden, wenn ihre gewohnte Umgebung ihnen fremd wird und unsicher erscheint.
Die Frage ist, welchen Auftrag die Politik dazu leisten kann, daß friedliches Zusammenleben in unserem Land möglich ist. Da sage ich: Dieser Beitrag ist viel bescheidener in seinen Möglichkeiten, als manche glauben. Aber er ist unersetzlich. Da gibt es keinen Maßnahmenkatalog zum Abhaken. Da gibt es keine Versicherungspolice gegen Fremdenhaß und Ausländerfeindlichkeit.
Aber wir alle sollten nach Möglichkeiten suchen, wie wir Zusammenleben fördern, statt es zu behindern. Das sind wir den Opfern der Brandanschläge schuldig. Das sind wir den Menschen schuldig, die zum Teil schon vor einer Generation aus der Türkei und aus Italien, aus Spanien, aus Portugal und aus vielen anderen Ländern zu uns gekommen sind. Das sind wir aber auch der überwältigenden Mehrheit der Deutschen schuldig, die Zeichen setzen für Solidarität und die sich trotzdem ohnmächtig fühlen in diesen Tagen.
Ich will an einigen Beispielen deutlich zu machen versuchen, in welche Richtung wir nach meiner Überzeugung gemeinsam gehen sollten. Wir alle wissen ja, daß Politik auch von der Überzeugungskraft des Wortes lebt. Wir wissen aber auch: Bestimmte Worte und bestimmte Wörter haben bestimmte Wirkungen. Darum frage ich: Müssen wir nicht genauer denken und dann sorgfältiger sprechen?
({15}) _
Ich will Ihnen die Beispiele nicht zumuten. Aber wieviele Worte sind in den letzten zehn Jahren geprägt und benutzt worden, die unterschwellig das transportieren, wogegen wir jetzt gemeinsam hoffentlich kämpfen wollen?
({16})
Wie bringen wir das also zustande? Ich sage das als jemand, der mit dem Satz „Versöhnen statt spalten" oft mißverstanden worden ist.
({17})
Wie bringen wir es zustande, daß unsere Sprache ein Beitrag zum inneren Frieden wird und kein Beitrag zur geistigen Aufrüstung? Ich will die Frage hier stellen.
({18})
Die Gewalt, die wir in den letzten Monaten erlebt haben, die latente Gewaltbereitschaft in unserer
Ministerpräsident Dr.h.c. Johannes Rau ({19}) Gesellschaft, die fängt im Schulbus an. Für die gibt es keine Rechtfertigung. Aber es gibt Ursachen.
({20})
Man kann einige dieser Ursachen durch politisches Handeln beeinflussen. Es ist doch keine neue Erfahrung, daß Benachteiligungen, soziale Ungerechtigkeit, Angst vor sozialem Abstieg und Sorge um Arbeitsplatz und Wohnung die Suche nach Sündenböcken begünstigen und daß sie ein Nährboden für Aggressivität und Gewalt sind.
({21})
Wir sind einig, Herr Bundeskanzler: Der Schutz der bedrohten Menschen und die Verfolgung der Straftäter sind unverzichtbar wichtig. Aber noch wichtiger ist, daß wir dazu beitragen, die sozialen Ursachen für die Resonanz rechtsextremer Parolen zu beseitigen
({22})
und daß wir die Bereitschaft wecken, daß wir gemeinsam daran gehen, diese Ursachen zu verringern oder gar zu beseitigen.
Wir brauchen also eine Politik der sozialen Gerechtigkeit, eine Politik, die nicht zuläßt, daß eine wachsende Minderheit auf der Strecke bleibt oder das Gefühl hat, auf der Strecke zu bleiben. Das ist der wirkungsvollste Beitrag gegen Rechtsextremismus und Gewalt.
({23})
Marie von Ebner-Eschenbach hat einmal gesagt: Das Recht des Stärkeren ist immer das stärkste Unrecht. Wenn wir über Werteverlust sprechen, auch im Zusammenhang mit jugendlichen Gewalttätern, dann sage ich: Dieser Werteverlust, der gewiß auch zusammenhängt mit sozialen Ursachen, die wir alle nicht früh genug erkannt und nicht rechtzeitig verändert haben, liegt natürlich in der Gesamtgesellschaft. Damit liegt er auch in den Familien und auch in der Schule, aber nicht bloß und nach meiner Überzeugung auch nicht zuerst in der Konfliktpädagogik, sondern darin, daß unsere Gesellschaft ein Leben propagiert, in dem individuelle Durchsetzungsfähigkeit und Konkurrenz um fast jeden Preis als ein Wert an sich erscheinen. Das scheint mir ein Grund zu sein.
({24})
Ich frage also: Ist nicht das Absolutsetzen von Wettbewerb und von Konkurrenz auch einer der Gründe für einen solchen Werteverlust? Wir alle wissen, der Markt ist ein leistungsfähiges Instrument. Auf das kann keine moderne Wirtschaftsordnung
verzichten. Der Markt kann vieles, aber er kann keine Wertorientierung vermitteln, weil er wertblind ist.
({25})
Wird das immer deutlich in unserer politischen Auseinandersetzung? Ich wundere mich oft über eine Arbeitsteilung in der politischen Diskussion, in der wertbezogene Fragen in die Sonntagskapitel gehören und ferngehalten werden von den Alltagsfragen.
({26})
Sie haben die Bildungspolitik angesprochen, Herr Bundeskanzler. Ich stimme Ihnen zu: Wir brauchen Diskussionen über Inhalte. Das heißt aber gleichzeitig, daß wir Bildungspolitik nicht bloß noch als Anhängsel, als Wurmfortsatz der Diskussion über den Wirtschaftsstandort Deutschland betrachten dürfen.
({27})
Sie haben die Medien angesprochen. Wer von uns allen erinnert sich? Lassen Sie uns doch einmal freimütig darüber reden. Ich kann mich an den medienpolitischen Kongreß von 1985 erinnern: Mehr Programme, mehr Vielfalt und mehr Auswahlmöglichkeiten für den mündigen Bürger.
(
Das sagen Sie!)
- Das sage ich.
({0})
Herr Bundeskanzler, ich bin nur deshalb hierhergekommen, weil ich der Meinung bin: Wenn wir nicht miteinander offen über das reden, was uns gemeinsam bewegt, dann brauchen wir uns das Ritual von Sitzungen nicht zu leisten. Das ist meine Meinung.
({1})
Wenn ich, Herr Bundeskanzler, am Anfang gesagt habe, daß ich gegenüber dieser Gewalttat oft ratlos bin, dann war das keine Sprechblase, mit der ich anschließend sage, wo alle meine Ratschläge sind, sondern dann ist das der Versuch, einmal offen auszusprechen, wo mich und wo andere der Schuh drückt. Ich weiß, das Bild vom Schuhdrücken ist unpassend angesichts der Dimension dessen, was wir hier miteinander bereden. Aber dann möchte ich doch wirklich darüber reden, auch als jemand, der Medienpolitik als Standortpolitik macht, ob das eigentlich noch zumutbar ist. Ich bin nicht für eine Aktion „Saubere Leinwand". Ich bin nicht für verschärfte Gesetze. Ich glaube, nicht die Verschärfung von Gesetzen, sondern die Veränderung von Gesinnungen ist unser Thema.
({2})
Und da frage ich mich: Wollen wir uns die Argumente von damals noch einmal ansehen? Wer damals Bedenken gegen immer mehr Programme angemeldet hat, dem ist Wirtschafts- und Technikfeindlichkeit vorgeMinisterpräsident Dr.h. c. Johannes Rau ({3})
halten worden - ich kann mich gut erinnern -, der wurde karikiert als der selbsternannte Vormund des mündigen Bürgers. Wer davor gewarnt hat, daß der Fernseher in noch mehr Familien gleichzeitig die Funktion von Vater und Mutter übernehme, dem wurde mit medienpädagogischen Angeboten geantwortet.
Jetzt haben wir neue Vorschläge: Politische Ethikkommission, Verbot von Sendungen. Ich halte davon nichts; aber ich halte viel von einem Meinungsklima, das Programme kommerziell untragbar macht, die nur an den inneren Schweinehund appellieren.
({4})
Da meine ich, sosehr ich mich an der wirtschaftlichen Prosperität freue, die wir gehabt haben und die ich mir zurückwünsche: Bei vielen jungen Menschen, die in dieser Zeit ihre prägenden Erfahrungen gemacht haben, ist der Eindruck entstanden, nur materieller Erfolg zählt, Geld ist der Maßstab aller Dinge. Wir müssen aufpassen, daß wir nicht auf den Weg zu einer Gesellschaft von Zynikern geraten, die von allem den Preis kennt und von nichts den Wert.
({5})
Darum müssen wir wieder stärker ins Gedächtnis rufen: Es gibt Dinge jenseits von Angebot und Nachfrage, so wichtig eine leistungsfähige Wirtschaft ist. Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und soziale Gerechtigkeit darf man nicht gegeneinander ausspielen. Die Leistungsfähigkeit unseres Sozialsystems hängt ab von der Stärke unserer Wirtschaft. Aber es gilt doch genauso: Die Leistungsfähigkeit unserer Unternehmen gründet auf der Stärke unseres Sozialsystems.
({6})
Ich danke mit Ihnen, Herr Bundeskanzler, der Polizei. Der Unterscheid ist: Ich danke ihr auch für die Strategie der Deeskalation, die ich für richtig halte.
({7})
Ich bin mit Ihnen der Meinung, Herr Bundeskanzler, daß es Verbote geben mußte. Sie haben die Verbote, die der Bundesinnenminister ausgesprochen hat, zitiert. Ich lobe das. Ich frage: War das früh genug?
({8})
Hat es nicht vorher Drängen gegeben -jedenfalls aus einzelnen Ländern -, solche Verbote auszusprechen, und sind wir nicht damals auf taube Ohren gestoßen?
Ich stimme Ihnen zu, Herr Bundeskanzler, wir dürfen den Begriff des Patriotismus nicht den Rechten überlassen. Ich habe in der Zeit, in der ich die undankbare Aufgabe hatte, Kanzlerkandidat gegen Sie zu sein
({9})
- Sie wissen, mit welchem Erfolg - (Erneute Heiterkeit -
Darin sind wir uns einig!)
- Man lernt hinzu. - Herr Bundeskanzler, ich habe damals gesagt, ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt, und ein Nationalist ist einer, der die Vaterländer der anderen verachtet. Ich bin ein deutscher Patriot. - Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Aber zum Patrioten gehört, daß er den Auftrag wahrnimmt, den Willy Brandt in der Regierungserklärung 1969 an den Schluß gestellt hat: ein Volk guter Nachbarn sein nach innen und nach außen.
({0})
Das ist damals, glaube ich, zu Recht verstanden worden, zuerst als eine außenpolitische Aussage im Blick auf die östlichen Nachbarn, im Blick auf das entstehende Europa. Heute ist es eine konkretere Aufgabe: guter Nachbar sein zu Hause in dem, was man Wohngegend nennt, in der Nachbarschaft.
({1})
- Ja, Herr Schäuble, ich bin ja nicht dabei, ein Gegenreferat zu halten, sondern zu ergänzen, zu unterstützen, auch zu widersprechen.
({2})
Ich glaube, dies ist nicht die Stunde der Polemik gegeneinander. Wir stehen vor einer Situation, die mir oft angst macht, und da suche ich jedenfalls danach, ob wir auch im Aussprechen unterschiedlicher Positionen Wege finden, aber eben so, daß daraus Wettbewerb um den richtigen Ansatz, um die bessere Idee entsteht und nicht persönliche Feindschaft.
({3})
- Richtig, völlig einig.
Also sage ich, wir brauchen die Zusammenarbeit aller Gutwilligen. Wir brauchen sie bei der Bekämpfung von Gewalt und Rechtsextremismus. Wir brauchen Bürgersinn und Zivilcourage. Im Schatten von Gleichgültigkeit und dem Gefühl „Das geht mich nichts an", das es auch gibt, müssen wir sagen, niemand darf weghören, wenn am Arbeitsplatz oder in der Kneipe Vorurteile gegen Ausländer geschürt werden.
({4})
Niemand darf wegschauen, wenn ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger diskriminiert werden. Niemand darf mitlachen, wenn Rassismus - als Witz getarnt - verbreitet wird.
({5})
Ministerpräsident Dr.h.c. Johannes Rau ({6}) Es ist schlimm genug, was nicht nur an manchen Stammtischen geredet wird, aber wir dürfen den Stammtisch nicht salonfähig machen.
({7})
Das heißt auch, Ressentiments gegen Minderheiten dürfen nicht zum Schlagstock im politischen Meinungsstreit gemacht und mißbraucht werden.
({8})
Wir brauchen eine neue Grundlage für das Zusammenleben in unserem Land. Es gibt noch unterschiedliche Vorstellungen darüber, welche Instrumente nötig und sinnvoll sind. Ich meine, wer auf Dauer hier wohnt, woher er auch immer gekommen sein mag, wer hier geboren ist, der ist nicht Gast bei uns, sondern der ist ein Bürger und eine Bürgerin; die haben gleiche Rechte und gleiche Pflichten wie alle Bürgerinnen und Bürger.
({9})
Wir müssen Schluß machen mit der Lebenslüge, wir hätten es nicht mit Einwanderung zu tun.
({10})
Wer persönlichen Unmut und sozialen Unfrieden, wer Agitation bis zu offener Gewalt verhindern will, der muß die in Bayern und in Schleswig-Holstein, in Hessen und in Nordrhein-Westfalen und überall sonst in der Bundesrepublik Deutschland geborenen Töchter und Söhne von Müttern und Vätern aus Italien oder der Türkei als Gleiche unter Gleichen behandeln.
({11})
Ich habe hier nur westliche Bundesländer genannt, weil wir in den westlichen Ländern diese zweite Generation haben und sie noch nicht in den östlichen Ländern haben und haben können. Das ist etwas ganz Neues in der deutschen Geschichte, womit wir es zu tun haben. Das ist doch nicht vergleichbar mit der Einwanderung ins Ruhrgebiet Ende des vorigen Jahrhunderts und Anfang dieses Jahrhunderts, weil es auch um unterschiedliche Kulturkreise geht, weil die Fremdheit in vielem größer ist und die Nähe in vielem enger, auch auf Grund des Zusammenlebens in der betrieblichen Alltagswelt.
Ich erinnere an das Wort von Heinz Oskar Vetter. Vor 30 Jahren hat er gesagt: „Wir haben Arbeitskräfte gerufen, und Menschen sind gekommen. " Wir haben mit dieser Wirklichkeit nach meiner Überzeugung noch nicht genug realisiert, was jetzt zu tun ist, daß man nicht da daheim ist, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird, wie das Christian Morgenstern einmal gesagt hat.
Ich meine, wir sollten zu einer Zusammenarbeit aller Menschen guten Willens kommen, jenseits der Parteigrenzen, aber ohne Parteigrenzen zu verwischen.
Lassen Sie mich das am Schluß sagen: Wir hatten bei unserem letzten Bundesparteitag einen Gast, der in der Frage des Asylrechts anderer Meinung war als wir, und er war in einer anderen Partei als in der, die ihn eingeladen hat, und er gehört einer anderen Glaubensgemeinschaft an als der, der ich angehöre. Ich meine Ignatz Bubis, den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland. Da ich ihn auf der Tribüne gesehen habe, habe ich gedacht, daß ich ihm einmal herzlich danken möchte
({12})
für den Beitrag, den er gerade in seiner Zeit als Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland zum Verstehen und zur Verständigung geleistet hat.
({13})
Meine Damen und Herren, ein Volk guter Nachbarn - das ist eine richtige Maxime. Willy Brandt hat sie damals ausgesprochen. Ich glaube, daß der gegenwärtige Bundeskanzler diese Maxime genauso realisieren will. Aber ein Volk guter Nachbarn zu Hause und nicht nur in der Welt, sondern da wo wir leben, zu sein,
({14})
das ist jetzt der Auftrag, dem wir uns zu stellen haben. Der ist in diesen Tagen und Wochen nach den Bildern von Solingen und nach dem Geschehen in den Tagen danach unendlich schwer geworden. Aber wenn wir die Erfüllung dieses Auftrags verfehlen, dann verspielen wir die Zukunft unserer Kinder und unserer Enkel. Lassen Sie uns das bedenken, wenn wir hoffentlich genauer denken, sorgfältiger sprechen und entschlossener handeln.
({15})
Herr Kollege Peter Hintze, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeder von uns hat in dieser Stunde das Bild der ausgebrannten Hausruine von Solingen vor Augen. Es hat sich tief in unser Gedächtnis eingebrannt. Uns alle haben die schrecklichen Morde an fünf Frauen und Kindern entsetzt und erschüttert. Wir verurteilen diese grausame Tat zutiefst.
Unser Mitgefühl gilt den Familien, den Angehörigen und den Freunden der Opfer. Wir trauern mit ihnen. Ihr Leid nimmt uns alle in Pflicht.
Die Welle der Gewalttaten, der Brand- und Mordanschläge reißt nicht ab. Erst gestern gab es wieder zwei Anschläge auf Wohnhäuser ausländischer Mitbürger bei Mönchengladbach und im Südbadischen. Nur durch Glück entkamen die Bewohner. Und was geschieht morgen?
Von der heutigen Debatte muß die klare Botschaft ausgehen: Die demokratischen Parteien stehen gemeinsam zusammen gegen Haß und Gewalt.
({0})
Die Kette immer neuer Mordanschläge muß zerrissen werden. Unser Kampf gilt den Mordbrennern ebenso wie den dumpfen radikalen Kreisen im Hintergrund, die versuchen, in unserem Land ein Klima der Fremdenfeindlichkeit zu schüren.
Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung deutlich gemacht, daß die Bundesregierung mit entschlossenen Maßnahmen gegen Fremdenfeindlichkeit und Gewalt vorgeht. Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt nachdrücklich den Kurs der Regierung. Ausländerfeindliche Hetzer und Gewalttäter dürfen sich in unserem Land zu keiner Minute sicher fühlen.
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Die überwältigende Mehrheit der Deutschen verabscheut Gewalt und Fremdenhaß. Seit vielen Jahren leben Deutsche und Ausländer in guter Nachbarschaft zusammen, arbeiten zusammen, sprechen zusammen und feiern zusammen. Wir Deutsche wissen, was wir unseren ausländischen Mitbürgern verdanken. Wir wollen dieses gute Verhältnis vertiefen und unsere Integrationsbemühungen verstärken. Wir sind für jede Stimme der Besonnenheit und des Verständnisses sowie des Aufrufs zum Miteinander dankbar, die wir in diesen Tagen gerade von unseren ausländischen Mitbürgern hören.
Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt die Ankündigung des Bundeskanzlers, die Einbürgerung von Ausländern weiter zu erleichtern. Wer hier geboren ist, wer hier lebt und arbeitet und wer hier bleiben möchte, soll Deutscher mit allen Rechten und Pflichten werden können. Das ist für uns unstrittig.
Die jetzt erhobene Forderung nach Einführung einer generellen doppelten Staatsbürgerschaft halten wir aber für keine geeignete Lösung.
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Von durchaus richtigen Ausnahmen abgesehe, ist dies kein Beitrag zur Integration. Ja, ich habe sogar die Sorge, daß die Diskussion darüber von den eigentlichen Problemen ablenkt.
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In dieser Debatte suchen wir Antworten auf die Frage, was die Politik leisten kann und wo die Bürger aufgerufen sind. In einer freiheitlichen Gesellschaft ist die Zivilcourage, die Bereitschaft, sich einzumischen, wenn ein ausländischer Mitbürger verbal oder tätlich attackiert wird, ist die Hilfsbereitschaft jedes einzelnen Bürgers Grundvoraussetzung für ein erfolgreiches Eindämmen radikaler Strömungen. Wir brauchen wieder mehr bürgerschaftliche Verantwortung und weniger anonyme Gleichgültigkeit. Wir brauchen wieder mehr Gemeinsinn, den wir gemeinsam einfordern müssen.
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Mit den Brandanschlägen, den Morden und den Angriffen gegen Ausländer hat die Gewaltbereitschaft in Deutschland eine schlimme neue Qualität erreicht. Diese Eskalation von Gewalt gegen Ausländer hat eine Vorgeschichte. Ich spreche von der Gewalt, die mitten unter uns in den Wohnungen, auf
den Schulhöfen, auf Straßen und in Sportstadien ausbricht. Es ist etwas in unserem Land in Unordnung geraten, wenn selbst die letzte Schwelle, nämlich die Achtung vor dem Leben des Menschen, überschritten wird. Monokausale Interpretationen, vorschnelle Antworten verbieten sich - da möchte ich Herrn Ministerpräsident Rau recht geben -, aber es gibt doch beachtenswerte Aspekte. Hängt die Gewaltbereitschaft nicht auch damit zusammen, daß jungen Menschen oft genug vermittelt wurde, es sei alles möglich, alles erlaubt und letztlich alles egal? Viele haben sich daran beteiligt, Grenzen, Werte und Tugenden in Frage zu stellen. Wir wissen heute: Sie haben den Menschen damit keinen Gefallen getan. Sie haben sie in die Kälte der Orientierungslosigkeit entlassen.
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Die Geringachtung von Werten und Tugenden, das Nichteinfordern von Bürgerpflichten zeigen jetzt ebenso ihre Wirkung wie eine Philosophie der Selbstentfaltung, die nur noch die eigene Person, aber keinen Nächsten mehr kennt. Werte und Rechtsbewußtsein sind das geistige Wurzelwerk einer demokratischen Gesellschaft. Wenn es austrocknet, verdorrt die Demokratie.
Das Recht hat eine unverzichtbare Funktion im Zusammenleben der Menschen. Es gibt Sicherheit und schützt die Schwachen. Aber das Rechtsbewußtsein in unserem Land ist zuweilen an Stellen in Frage gestellt worden, wo es nicht nötig gewesen wäre. Wie soll das Bewußtsein für die elementare Bedeutung des Rechts wachsen, wenn etwa über Jahre hinweg in der Hafenstraße in Hamburg rechtsfreie Räume geduldet wurden?
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Und läßt das, was Herr Ministerpräsident Rau „Deeskalation" nennt, nicht auch das Rechtsbewußtsein erschüttern bei dem, der mitbekommt, daß eben die Polizei aus Deeskalationsgründen ihm in seinem Recht auf ungehinderten Zugang als Mitarbeiter des Bundestages nicht weiterhilft?
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Wir müssen demgegenüber die schützende Autorität des Staates stärken. Dazu gehört auch, daß wir die Polizei nicht allein lassen. Unsere Polizei verdient unsere Anerkennung und unsere Unterstützung für ihren Dienst.
Die Schutzpflicht des Staates besteht gegenüber allen Bürgern, auch dort, wo Menschen Angst vor Ausschreitungen kleiner radikaler Ausländergruppen haben, die sich gegen Deutsche und Ausländer richten. Not und Leid dürfen nicht zur Selbstjustiz einladen, dürfen nicht Vorwand für gewalttätige Demonstrationen sein. Wer meint, gewalttätige Konflikte auf deutschem Boden austragen zu müssen, verwirkt das Recht, bei uns zu bleiben.
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Mit Polizei und Justiz allein läßt sich der Gewalt als einem gesellschaftlichen Phänomen nicht beikommen. Wir müssen auch fragen, welchen Anteil Bildung und Erziehung an der derzeitigen Entwicklung haben. Wir wollen nicht alles der Schule aufladen. Wir
wollen nicht den Lehrern alles aufladen. Aber wenn wir seinerzeit von einem führenden Sozialdemokraten belehrt worden sind, die Schule der Nation sei die Schule, so wollen wir dies wenigstens ein Stück weit einfordern und darüber nachdenken, was hier schiefgelaufen ist.
Ist Werteerziehung nicht lange als reaktionär und verzichtbar verspottet worden? Heute merken wir, daß es unverzichtbar ist, jungen Menschen klare Orientierungen zu geben. Wurde nicht der Geschichtsunterricht für überflüssig erklärt? Heute wissen wir, wie schnell fehlendes Wissen um die eigene Geschichte zur geistigen Entwurzelung führen kann.
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Wir treten dafür ein, das Wertebewußtsein zu schärfen, insbesondere den unauflöslichen Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung zu betonen. Es gilt, die Tugenden eines freiheitlichen Bürgersinns neu zu beleben: Anstand, Rücksicht, Toleranz, ja, auch Höflichkeit, in allem aber die Achtung vor der Würde des Menschen. Das muß unsere Gesellschaft prägen.
Die Politik kann dies nicht allein leisten; auch das muß in dieser Stunde gesagt werden. Hier sind alle gesellschaftlichen Gruppen zu einer großen, gemeinsamen Kraftanstrengung gefordert. Sie sind alle aufgerufen, in ihrem Wirkungsbereich für einen breiten gesellschaftlichen Grundkonsens gegen Gewalt einzutreten und diesen auch durchzusetzen.
Es muß uns alarmieren, daß die Gewalttäter immer jünger werden. Die Täter von Solingen sind Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 16 und 23 Jahren. Was ist mit jungen Leuten los, die ein Haus anzünden, in dem Menschen schlafen? Sicher muß eine gründliche Analyse vorgenommen und weiter vertieft werden. Aber es gibt auch Fehlentwicklungen in der Vergangenheit, die wir korrigieren müssen. In manchen Bereichen muß eine bittere Bilanz gezogen werden. Heute erkennt mancher, der damals anders geredet hat, wie falsch es war, jede Autorität in Frage zu stellen, das Wertesystem anzugreifen, die Familie am liebsten aufzulösen.
„Statt der mündigen, sozial engagierten, politisch hochmotivierten Jugend hat unsere Erziehung eine Spezies hervorgebracht, die zum überwiegenden Teil egoistisch, konsumorientiert und im schlimmsten Falle gewalttätig und fremdenfeindlich ist" - so Beate Scheffler, GRÜNEN-MdL in Nordrhein-Westfalen. Dieser Erkenntnis können wir nur zustimmen; aber wir müssen sie auch bei der Ausbildung der Lehrer, bei der Erstellung von Lehrplänen und bei der Festlegung von Unterrichtsinhalten in den Ländern umsetzen.
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Dabei bin ich mir darüber im klaren, daß Kurskorrekturen in der Bildungspolitik nur mittelfristig oder langfristig Wirkung zeigen. Um so dringender ist es, diese Reformen möglichst rasch anzugehen.
Achtung vor dem anderen, Toleranz und Verantwortung für den Nächsten sind später nicht einfach abrufbar, wenn sie in Elternhaus und Schule nicht vermittelt wurden. Eine Reform der Bildungspolitik - so haben wir es immer verstanden - ist nicht nur ein wichtiger Schlüssel für die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes. Die Erziehung zu Verantwortung und Gemeinsinn legt zugleich die geistigen Grundlagen für die Zukunft unserer Gesellschaft und das Zusammenleben in ihr.
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Neben dem Staat, neben Lehrern und Pädagogen sind auch die Eltern gefordert, Rechte und Pflichten in ein Gleichgewicht zu bringen, Toleranz und Rücksichtnahme zu fördern, Egoismus zurückzudrängen, Grenzen wieder zu setzen. Diese Werte der Gemeinschaft können nirgendwo besser vermittelt werden als in der Familie. Sie ist der erste und wichtigste Platz, um zu lernen, was Liebe und Zuneigung bedeuten, die von keiner Bedingung abhängig sind; wie man Vertrauen schenkt und erwidert; wie man Rücksicht auf andere nimmt und was Respekt vor der Meinung anderer bedeutet. Auch in Zeiten angespannter Haushaltslage muß eine Politik far die Familien künftig auf der politischen Tagesordnung ganz oben stehen.
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Neben Elternhaus und Schule bestimmt - das wurde soeben angesprochen - auch das Fernsehen sehr stark die Persönlichkeitsbildung junger Menschen. Sein Einfluß auf die Realitätswahrnehmung ist immens. Viele Kinder und Jugendliche verbringen heute vor dem Bildschirm mehr Zeit als in der Schule. Unmerklich haben die Medien unser Zusammenleben verändert. Per Zugriff auf die Fernbedienung läßt sich nahezu jede gewünschte Wirklichkeit abrufen. Keine erscheint gültiger als die andere. Der Prozeß der Individualisierung, der Pluralisierung von Lebenslagen und der individuellen Festsetzung der Normen, die der Einzelne für sich gelten läßt, wird so nicht selten überzogen. Nur, wenn Medienpädagogik schon im frühen Alter einsetzt, nur, wenn wir hier unsere Bemühungen verstärken, kann ein verantwortlicher Umgang mit der Medienvielfalt, mit der Bilderflut erreicht werden.
Ein scharfer Einspruch ist da fällig, wo das Fernsehen letzte Tabugrenzen überschreitet. Die Würde des Menschen selbst steht auf dem Spiel, wenn etwa der qualvolle Suizid eines Menschen benutzt wird, um die Einschaltquoten in die Höhe zu treiben. Hier müssen wir eine neue Ethik der Medien einfordern.
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Der böse Geist des Radikalismus, von Fremdenfeindlichkeit und Gewalt wird dort entscheidend geschlagen, wo sich jeder Bürger für das Klima in unserem Land verantwortlich fühlt, wenn nicht alle sagen: Die oder andere sollen es regeln, die Politiker oder die Verantwortlichen; wo jeder sich selbst als verantwortlich erkennt, wo jeder Bürger seinen Nachbarn in Schutz nimmt und einen Beitrag dazu leistet, daß die Werte, die uns alle schützen, wieder stärker zur Geltung kommen.
Der Kampf gegen Haß und Gewalt geht jeden an. Bewahren wir, was unsere Gesellschaft stets ausgezeichnet hat: Toleranz, gegenseitigen Respekt und die unbedingte Achtung vor der Würde des Menschen!
Ich danke Ihnen.
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Ich erteile das Wort dem Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein dunkler Schatten ist auf das Bild Deutschlands in der Welt gefallen. Nach Hoyerswerda und Mölln mußte ich als deutscher Außenminister manch schweren Gang gehen und manch schwieriges Gespräch führen. So sehr mir das als Außenminister zu schaffen machte und macht - bei diesem Thema geht es in allererster Linie um unsere Selbstachtung als Deutsche und Demokraten.
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Was geschehen ist, ist schrecklich. Kein Verdrängen nach drinnen und draußen darf sein. Die Reaktion der Welt war überwiegend fair. Aber ich traf allgemein auf tiefe Besorgnis, auf prüfende Blicke. Um Antwort und um Erklärung ist gebeten worden. Aber es gingen nicht nur die Bilder der Anschläge um die Welt. Um die Welt gingen auch die Bilder der Demonstrationen, der Lichterketten, der Schmerz und die Scham der Deutschen. Das hat mich auch zu der Bemerkung berechtigt: Seid gerecht, ihr Ausländer, diesem Land gegenüber, dieser Bundesrepublik gegenüber! Wir haben aus unserer Vergangenheit gelernt. Wir haben mit das liberalste Ausländerrecht dieser Welt. Ich habe erklärt - und dazu stehe ich -: Von diesem Land dürfen nie wieder Ausländerfeindlichkeit und Haß ausgehen!
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Dann kam Solingen. Solingen ist mehr als ein Rückfall. Beklommen fragen wir alle, was möglicherweise noch alles geschieht. Entsetzt beobachten wir, wie die Kette der Anschläge nicht abreißen will. Man muß sich einmal vorstellen, was das für unsere ausländischen Mitbürger, für die Familien, ihr Lebensgefühl bei uns bedeutet. Die überwiegende Mehrheit ist besonnen geblieben. Dafür sind wir dankbar.
Bei den Trauerfeierlichkeiten in Köln und bei der Beerdigung in der Türkei habe ich Beeindruckendes erlebt. Abgesehen von ganz wenigen mehr als verständlichen Reaktionen der Trauer und der Verzweiflung haben die Türken die Anteilnahme, das Mitgefühl und das Mitleiden der Deutschen angenommen. Sie haben deutlich gemacht, daß es nicht gelingen wird, uns zu trennen. An den Särgen der Ermordeten in dem Bergdorf in der Türkei haben mir die Angehörigen erklärt, sie wollen in die Bundesrepublik zurückkommen. Sie wollen wieder und weiter in Solingen leben. Staatspräsident Demirel, Ministerpräsident Inönü und mein Kollege Cetin haben in ihren Reaktionen großes Vertrauen gezeigt. Wir müssen es
jetzt rechtfertigen, in unseren traditionell freundschaftlichen Beziehungen.
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Die enge deutschtürkische Zusammenarbeit der letzten vierzig Jahre darf nicht verlorengehen. Wir müssen die Bindungen zwischen unseren beiden Völkern wahren und unter veränderten internationalen Rahmenbedingungen für die Zukunft beständig machen. Unser außenpolitisches Ziel muß bleiben, mit dem NATO-Partner Türkei trotz fundamentaler Veränderungen im internationalen Umfeld eine tragfähige Verständigung zu erhalten, ohne sachlich notwendige Kritik zu unterdrücken und ohne unangenehme Themen auszusparen. Wir sind insoweit in letzter Zeit ein gutes Stück vorangekommen. Ja, die Türkei ist durch die Weltveränderung noch wichtiger geworden: als Brücke zur islamischen Welt, als Brücke zur asiatischen Welt, als Brücke zum Nahen und Mittleren Osten. Beide Seiten, wir und die Türken, dürfen die Freundschaft nicht gefährden. Uns eint der Wille, uns von denen, die nur den Haß kennen, unsere guten Beziehungen nicht kaputtmachen zu lassen.
Der türkische Botschafter in Bonn hat in diesen schwierigen Monaten eine besonnene, ausgleichende Haltung und, so füge ich hinzu, ein bewundernswertes Engagement bewiesen. Er hat sich mehrfach in bewegenden und beruhigenden Worten an seine Landsleute gewandt. Er sitzt oben auf der Tribüne. Wir haben ihm zu danken.
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Nochmals: Deutschland ist kein ausländerfeindliches Land. Wir sagen das nicht nur so. Unsere Partner in der Welt wissen, daß die ausländerfeindlichen Ausschreitungen, die wir zutiefst bedauern, nur ein Teil der Realität sind. Der millionenfach gelebte Alltag dieses Landes sieht anders auch. Er besteht aus dem freundschaftlichen und friedlichen Zusammenleben mit mehr als 6 Millionen Ausländern, aus der menschlichen Aufnahme einer hohen Zahl von Asylbewerbern, die auch nach den neuen Gesetzen noch weit über dem liegen wird, was andere Länder leisten, dem humanitären Engagement für in Not geratene Menschen und der spontanen Aufnahme von 300 000 Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Wir haben mehr als doppelt so viele wie alle anderen europäischen Lander zusammen aufgenommen.
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Durch Demokratie, Rechtstaatlichkeit, menschlichen Gebrauch der Freiheit, durch Anstand, Toleranz und Weltoffenheit hat sich Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg in der Welt die Achtung wieder erworben, die es verloren hatte. Ohne diese Achtung und ohne dieses Vertrauen wäre die Überwindung der Teilung nicht möglich gewesen. Das ist alles noch nicht bedroht - noch nicht! Aber auch uns wohlgesonnene Partner beginnen, an Deutschland zu zweifein. Wer wollte es verargen, daß sie nicht verstehen, was hier geschieht.
Von uns wird jetzt mehr als Worte erwartet, mehr als nur die selbstverständliche Reaktion des Bedauerns. Das ist nicht nur ein Gebot der Humanität. Jeder Anschlag auf Ausländer in unserem Land bringt uns der Gefahr näher, daß auch anderes, was uns wichtig ist und wichtig sein muß, in der Welt in Mißkredit geraten könnte. Einen solchen Makel können wir uns nicht leisten. Es geht um viel, und guter Wille reicht nicht mehr. Nochmals: Wir werden an unseren Taten und an den Erfolgen dieser Taten gemessen werden.
Ja, es geht vor allem um Gesinnung, die hinter solchen Taten steht. Sie und die sozialen Ursachen zu bekämpfen ist ganz besonders wichtig. Es wurde schon betont: Die Bereitschaft zur Gewalt ist in unserer Gesellschaft leider gewachsen, gerade bei jungen Menschen. Sie sind „Kinder von uns", wie Herr Ministerpräsident Rau sagte; sie sind Kinder unserer Gesellschaft.
Die Gewaltbereitschaft hat viele Ursachen, vor allem Perspektivlosigkeit, Angst vor sozialem Abstieg, fehlendes Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Politik, Verlust allgemein akzeptierter Wertvorstellungen und, damit verbunden, nachlassende Erziehungsfähigkeit in Familie und Schule - das wurde erwähnt. Natürlich sind auch die Darstellung von Gewalt in den Medien und die Duldung und der gedankenlose Gebrauch von gewalttätiger Sprache und gewalttätigem Handeln Ursachen. Ich wiederhole, was hier schon gesagt wurde: Auch die Medien dürfen keine Gräben aufreißen oder vertiefen.
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Es gibt keine Rechtfertigung, zur Lösung eines Problems Gewalt anzuwenden. „Was kann geschehen?", muß die Frage lauten. Wir sollten nicht immer zunächst an Gesetzesänderungen denken.
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Ja, man kann sicher die Polizei noch besser ausrüsten. Sie muß vor allem der Unterstützug der Politik sicher sein.
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Aber den Schutz jedes einzelnen kann die Polizei eben nicht sicherstellen. Alle Bürger müssen das mit Aufmerksamkeit, Wachsamkeit und Courage erreichen. Es wurde auch schon gesagt: Wenn Vorurteile geschürt werden, darf es kein Weghören geben, und wenn Gewalt ausgeübt wird, kein Wegschauen. Zivilcourage ist jetzt erste Bürgerpflicht.
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Wir müssen versuchen, überall, wo es notwendig und möglich ist, Brücken des Vertrauens zu unseren ausländischen Mitbürgern zu bauen.
Freiheit bedeutet eben nicht Bindungslosigkeit, sondern muß Bereitschaft zur Verantwortung beinhalten. Zur Freiheit gehört die Verpflichtung, jeden Menschen in seiner Würde zu achten und auf den anderen Rücksicht zu nehmen. Friedliche Konfliktlösung und aktive Toleranz müssen erlernt werden. Unser Wohl ist das Wohl unserer Mitmenschen, und unsere Freiheit ist die Freiheit der anderen. In einer
Zeit enthemmter Gewalt scheinen einige das noch lernen zu müssen.
Natürlich geht es auch um die Integration derjenigen, die wir zum Teil hierhergerufen haben und denen gegenüber wir eine besondere Fürsorgepflicht haben. Sie arbeiten, leben bei uns, tragen zu unserem Wohlstand bei. Sie haben ein Recht auf ihre eigene kulturelle Identität; sie haben ein Recht darauf, anders zu sein als wir.
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Wir müssen die Kraft aufbringen, andere Menschen anders sein zu lassen, als wir selbst sind. Das beginnt am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft, im Freundes- und Bekanntenkreis und endet in der Fähigkeit zu einem natürlichen Umgang mit Menschen anderer Hautfarbe, Religion und Kultur.
Bei der Integration muß über erleichterte Einbürgerung, doppelte Staatsbürgerschaft und auch über das kommunale Wahlrecht nachgedacht werden.
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Hierzu zählt auch die Änderung des Opferentschädigungsgesetzes, so wie die Bundesregierung es vorgeschlagen hat. Das muß jetzt beschlossen werden. Ausländische Gewaltopfer dürfen nicht schlechter dastehen als deutsche. Integration setzt aber auf der anderen Seite natürlich auch voraus, daß der Wille zur Integration besteht.
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Aber auch guter Wille geht ins Leere, wenn die Fundamente nicht gelegt sind. Immer wieder werden in Hetzschriften, in billigen Redensarten Ausländer zu Sündenböcken für Arbeitslosigkeit, für Wohnungsnot und Mißbrauch des Sozialsystems gemacht. Die Angst mancher Deutschen vor Ausländern bewirkt wiederum die Angst der Ausländer vor uns. Der Kreis der gegenseitigen Angst und Radikalisierung muß durchbrochen werden. Wir müssen die Gesinnung des Hasses und der geballten Faust bekämpfen und ihr eine Gesinnung der Toleranz und der ausgestreckten Hand gegenüberstellen.
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Nun sage ich etwas, was für meine Begriffe fast das Wichtigste ist - es kommt sehr oft zu kurz -: Ausländische Mitbürger müssen in der Bahn, am Kiosk, am Schalter, in den Vereinen, in den Behörden wirklich gleichbehandelt werden. Das ist leider nicht so.
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Meine Damen und Herren, die deutsche Außenpolitik wird ihren Beitrag leisten. Wir dürfen uns den Virus von Ausgrenzung, Nationalismus und Chauvinismus von niemandem aufzwingen lassen. Ich habe gestern vor der Weltmenschenrechtskonferenz in Wien gesprochen - im Hinblick übrigens auf das, was
in unserem Lande abläuft, auch nicht so ganz einfach; denn Ausländerhall ist Menschenrechtsverletzung.
Im Solinger Krankenhaus - ich sage das, was ich am Grabmal in dem Bergdorf in der Türkei gesagt habe - saß die 16jährige Fatime Genc, Schwester einer der Ermordeten, mit ihrer besten Freundin, einer Deutschen, zusammen, zitternd, bebend und Halt suchend in ihrer Not. Beide trösteten sich in deutscher Sprache gegenseitig in ihrem Leid. Ich finde, daß die gemeinsame Trauer auch den Weg in die Zukunft zeigt: Wir müssen Freunde bleiben, und wir brauchen alle Freunde!
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ganz sicherlich gibt es vielfach in der Bundesrepublik Deutschland Bedrükkung über die Vorgänge, die wir inzwischen täglich erleben müssen, die man als einen flächendeckenden Brand in der Bundesrepublik bezeichnen kann,
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einen Brand, der durch rechtsextremistischen Terror verursacht wird.
Ich frage zunächst: Warum war es nicht möglich, daß wenigstens ein Drittel der Mitglieder dieses Hauses unmittelbar nach Solingen durchsetzte, daß eine Sondersitzung des Deutschen Bundestages stattfand, um der Verantwortung der Politik gerecht zu werden?
Ich frage: Warum ist es bei diesen Themen in diesem Bundestag nie möglich, daß wir etwas richtig beim Namen benennen? Immer wieder sorgt die CDU/ CSU-Fraktion dafür, daß die Überschrift über dieses Thema verwässert klingt. Noch nie hatten wir den Begriff „rechtsextremistischer Terror" in ein Thema fassen können, das sich genau damit beschäftigt hat. Da ist allgemein von Gewalt oder Extremismus die Rede. Es wird Links- und Rechtsextremismus gleichgesetzt - wobei beides sicherlich deutlich zu kritisieren ist. Nur, das gegenwärtige Problem in der Bundesrepublik Deutschland ist nun einmal der Rechtsextremismus, und dann muß man es auch entsprechend benennen. Auch heute haben wir wieder ein Thema, das so allgemein gefaßt ist und das so viele Themen miteinander vermischt, daß letztlich eine Verwässerung dabei herauskommen muß. Ich glaube, damit fängt es schon an: Wer ein Thema nicht beim wirklichen Namen nennt, wird auch nicht in der Lage sein, die Ursachen zu ergründen und die notwendigen Wege zur Beseitigung dieser Ursachen zu finden.
Es ist doch wohl in den letzten Jahren auf diesem Gebiet eine Menge vernachlässigt worden, und ich frage mich: Wo bleibt denn nun eigentlich einmal der mutige Schritt nach vorn? Heute sollte es unter anderem um die Frage der Integration von Ausländerinnen und Ausländern in dieser Bundesrepublik Deutschland gehen. Wo kommt denn nun einmal der kühne Schritt, daß wir sagen: „Ja, die Einbürgerung wird
wirklich umfassend und wesentlich erleichtert" oder: „Die doppelte Staatsbürgerschaft wird wesentlich erleichtert" oder: „Wir führen das aktive und passive Wahlrecht für ausländische Bürgerinnen und Bürger ein, die hier fünf Jahre oder länger leben und arbeiten, und das rechtmäßig, und die wir an politischer Verantwortung beteiligen wollen"? Das ist übrigens auch deshalb notwendig, damit sich das gesellschaftliche Bewußtsein verändert.
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Wahlrecht, wie ich finde, nicht nur auf der kommunalen Ebene, sondern auf allen Ebenen. Das verändert nämlich die Haltung dieser ausländischen Bürgerinnen und Bürger zu uns, weil sie eine andere Verantwortung übertragen bekommen, und wenigstens langfristig verändert es auch die Einstellung der Deutschen zu ihnen, weil sie irgendwie mitbekommen, daß sie jetzt voll gleichberechtigt sind, daß sie dann eben nicht mehr Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse sind, die von wichtigen politischen Rechten ausgeschlossen sind. Nichts dergleichen habe ich als wirklich mutigen Schritt nach vorn hier und heute gehört.
Ich bedauere es ebenso, daß nicht deutlich gesagt wird, welchen Anteil die Politikerinnen und Politiker - und sicherlich auch die Vertreterinnen und Vertreter der Medien - daran haben, daß es zu solchen rassistischen Stimmungen kommen konnte. Das Vokabular, das bei der Asyldebatte in den letzten Jahren benutzt worden ist, war eine Katastrophe, und es wird Zeit, daß man sich wenigstens dafür entschuldigt, dieses Vokabular ein für allemal zurückstellt und nicht mehr benutzt in der politischen Sprache dieser Bundesrepublik Deutschland. Ich will hier die Begriffe nicht aufzählen; ich habe das häufig genug getan.
Ich erinnere daran, daß wir unmittelbar nach Hoyerswerda beantragt haben, eine Aufklärungskampagne gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus unter Einbeziehung der positiven Seiten einer multikulturellen Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland zu starten, von der Größe, dem Umfang, den Kosten her der Anti-AIDS-Kampagne ähnlich. Wie oft haben wir diesen Antrag behandelt? Selbst Mittel sind zur Verfügung gestellt worden. Letztlich ist nichts passiert. Wir haben diese Kampagne bis heute nicht. Es gibt keine wirkliche Aufklärung in einem antirassistischen Sinne, wie wir sie dringend benötigen würden. Das ist, wie ich meine, auch eine wichtige Aufgabe von Bildung und Kultur.
Hier ist heute von Konfliktpädagogik gesprochen worden, und es ist auch davon gesprochen worden, daß Sekundärtugenden wichtig sind. Ich will mich in die alten Auseinandersetzungen der Bundesrepublik hier nicht einmischen; aber ich frage mich wirklich, weshalb das alles ohne jeden Anflug von Selbstkritik gesagt werden kann. Wer spricht denn immer davon, daß sich Leistung wieder lohnen muß, und macht damit gleichzeitig deutlich, daß diejenigen, die zur Leistung nicht fähig sind, eigentlich an den Rand dieser Gesellschaft gehören? Wer will denn immer wieder Sozialkürzungen gerade für jene, die sozial sowieso schon am schwächsten sind? Wer nimmt es denn hin, und zum Teil auch noch mit Spott, wenn Zehntausende durch Arbeitslosigkeit ins Unglück
gestürzt werden, schiebt es auf Fehler des Managements und meint, das Ganze sei normal? Ich finde eben nicht, daß es normal ist.
Ich sage Ihnen: Was wir hier in den letzten Jahren erlebt haben - das meine ich jetzt für alle, damit greife ich gar nicht Sie persönlich an -, wie mit Politikerinnen und Politikern umgegangen worden ist, wie sie aus ihren Ämtern verdrängt werden - nicht daß sie ihre Ämter aufgeben, wenn sie sich falsch verhalten haben, aber wie das Ganze geschieht -, das hat wohl keinen Beitrag dazu geleistet, daß man sagen kann: Politikerinnen und Politiker achten wenigstens selbst die Würde des anderen, auch des politischen Gegners. Oder mußten wir nicht erst heute zur Kenntnis nehmen, daß aus der Bundesregierung Dossiers über einen zumindest ehemaligen Oppositionsführer verteilt worden sind, um ihn restlos, auch rufmäßig, zu ruinieren? Nicht offene politische Auseinandersetzung ist das, nein, heimlich wird da denunziert. Das ist die übliche Methode der Auseinandersetzung zwischen Menschen in der Politik geworden. Sie können mir viel nachsagen: daß ich in der Sache oft hart und auch scharf bin. Aber einen solchen Umgang mit Menschen können Sie mir in keinem einzigen Fall nachsagen, und den wird es auch nicht geben. Ich habe ihn in dieser Extremität erst hier in der Politik kennengelernt, nicht in der alten Volkskammer, sondern im Bundestag.
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- Ich spreche nicht von der DDR davor. Ich sage: hier in der Politik. Davor war ich ja nicht drin. Ich muß sagen: Es hat mich erschüttert, was ich diesbezüglich hier erlebt habe: wie klein die Unterschiede oft in der Sache sind, aber wie ganz ernst es wird, wenn es darum geht, jemanden aus seiner Position zu verdrängen, damit andere diese Position einnehmen können, ob es nun Minister oder Parteivorsitzende sind oder was auch immer.
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Das finde ich unerträglich, und das ist für die Jugend ein geradezu furchtbares Beispiel.
Wenn wir Jugend einbeziehen wollen: Warum lassen Sie uns nicht auch dort einen mutigen Schritt gehen und z. B. Jugendliche ab 16 Jahre das aktive Wahlrecht in Anspruch nehmen, damit auch sie entsprechend ihrer Reife politische Verantwortung übernehmen können? Gehen wir doch einmal kühne Schritte und nicht immer zaghafte, wie sie bisher hier vorgeschlagen werden: kleinste Korrekturen.
Es gab andere Zeiten, wo sehr schnell Maßnahmen ergriffen worden sind. Ich erinnere Sie an die Zeit der RAF-Anschläge. Damals wurde z. B. sofort der Straftatbestand der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung abgefaßt, weil man sagte: Man kann so schlecht die einzelne Tat nachweisen. Nun frage ich Sie: Warum wird dieser Straftatbestand heute eigentlich nie angewandt? Warum ist die Zugehörigkeit zu einer rechtsextremistischen Organisation, die sich
Gewaltakte und anderes vornimmt, nicht eine Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung?
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Warum gibt es nicht eine einzige diesbezügliche Anklage? Da entsteht immer wieder derselbe Eindruck: Wenn es um einen deutschen Bankdirektor geht, dann wird die Politik aktiv, dann werden auch Teile der Justiz und der Polizei sehr aktiv. Wenn es um eine türkische Mutter und um türkische Kinder geht, dann wird damit viel lascher umgegangen. Nach unserer Rechtsordnung ist jeder Mensch vor dem Gesetz gleich. Aber in der Politik ist das noch lange nicht durchgesetzt. Das wäre ein wichtiges humanistisches Anliegen.
Ich sage Ihnen: Diese Dinge entwickeln sich weiter. Heute hat der Präsident des Bundeskriminalamtes darauf hingewiesen, daß es gar nicht in erster Linie Skins sind, die das Ganze veranlassen, sondern daß die Täter oft aus der gesellschaftlichen Mitte kommen. Das macht mich noch bedrückter.
Wir erleben nicht nur Ausländerfeindlichkeit. Wir erleben jetzt auch schon Feindseligkeit gegen sozial ausgegrenzte Gruppen. Ich nenne die Angriffe auf Obdachlose, ich nenne die Angriffe auf Menschen mit Behinderungen. Und vergessen Sie nicht, daß auch der Antisemitismus ganz bedenklich zunimmt.
Hier sehe ich nicht einmal im Ansatz ein Gesamtkonzept der Bundesregierung, wie gegen all diese Erscheinungen im Komplex vorgegangen werden soll.
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Es gäbe aber durchaus Möglichkeiten - sie sind schon vielfach vorgeschlagen worden -, so daß ich nicht akzeptieren kann, daß man völlig ratlos ist.
Natürlich gibt es viele Fragen, die man nicht beantworten kann. Ich weiß auch, daß die Ursachen für Rechtsextremismus sehr vielfältiger Natur sind. Es gibt ökonomische Ursachen, die mit der Angst zu tun haben, daß der Binnenmarkt ungenügend geschützt wird. Es gibt soziale Ursachen, die mit Massenarbeitslosigkeit und Wohnungsnot zu tun haben. Es gibt leider einen Abbau von Kultur und Bildung und einen Abbau von Freizeiteinrichtungen gerade für Jugendliche und gerade in den neuen Bundesländern.
Es gibt psychologische Ursachen. Wenigstens auf eine möchte ich eingehen. Diese hat damit zu tun, daß insbesondere Ostdeutschen, aber nicht nur Ostdeutschen, sondern auch immer mehr Menschen in den alten Bundesländern, die am Rande der Gesellschaft stehen, ihr Selbstbewußtsein systematisch zerstört wird. Die rechtsextremistischen Anführer bieten solchen Menschen, insbesondere jungen Menschen, Selbstbewußtsein zum Nulltarif an, nämlich über ihre Nationalität.
Es gibt politische Ursachen. Diese hängen mit der Art und Weise zusammen - worauf ich bereits einging -, wie wir miteinander umgehen und wie wir Politik betreiben.
Lassen Sie mich noch eines sagen. Viele haben hier nach der Asyldebatte behauptet: Wenn das Asylrecht
faktisch abgeschafft ist, dann ist den Rechtsextremisten die Grundlage entzogen worden. Aber das Gegenteil ist der Fall. Der Rechtsextremismus hat danach einen weiteren Auftrieb erhalten. Täglich werden mehr Häuser angesteckt, täglich wird das Leben von mehr Menschen angegriffen und zum Teil auch ausgelöscht. Ich sage Ihnen, so hart es klingt: Solingen war auch eine Art Antwort auf unsere Asyldebatte und die faktische Abschaffung des Asylrechts. Das empfinde ich als die eigentliche Katastrophe und schäme mich auch dafür.
Herr Kollege Gysi, Sie haben jetzt schon ein gutes Stück überzogen. Bitte noch einen Schlußsatz.
Entschuldigung. Ja, ein Schlußsatz. - Gegen all die Ursachen, die ich hier aus Zeitgründen nur kurz benennen konnte, könnte eine Menge getan werden.
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- Nein, nein, das stimmt nicht. Ich glaube, daß es sehr ernsthaft war, was ich gesagt habe, Herr Duve. - Ich befürchte, daß die Mehrheit dieses Hauses nicht bereit sein wird, wirklich ernsthaft etwas gegen den Rechtsextremismus zu tun. Ich verstehe das deshalb nicht - das will ich deutlich sagen -, weil der Rechtsextremismus . . .
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist wirklich weit überschritten.
... letztlich auch ihre Existenz gefährdet.
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Das Wort hat der Kollege Konrad Weiß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Scham, Betroffenheit, Trauer, Zorn, Entsetzen - das alles wurde in den letzten Wochen tausendfach beschworen. Am Ende blieb und bleibt nichts anderes - ich gebe da dem Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen recht - als Ratlosigkeit angesichts der rohen Gewalt. Zu dieser Ratlosigkeit gehört auch, daß weder der Bundeskanzler noch der Ministerpräsident, der hier gesprochen hat, noch die Mehrheit des Hauses bereit sind, mehr als zwei Stunden über dieses Thema zu diskutieren.
Entschuldigung, Herr Kollege Weiß. Der Bundeskanzler ist die ganze Zeit im Saal gewesen.
Den Herrn Bundeskanzler sehe ich eben als Abgeordneten. Das freut mich.
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Nein, Herr Bundeskanzler, es war kein Zufall, daß der schreckliche, hinterhältige Mord von Solingen drei Tage nach der Änderung des Asylrechts begangen wurde. Es gibt natürlich einen inneren Zusammenhang. Wir, Befürworter wie Gegner einer Grundgesetzänderung, haben uns gemeinsam der Verantwortung zu stellen, daß unsere hilflose Debatte, unser hilfloses Handeln den blinden Ausländerhaß nicht gelöscht und feige Täter ermutigt haben. Es waren unsere Kinder und unsere Nachbarn, die verbrannt sind. Es waren nicht „Ausländer" oder „Türken" oder „Fremde", es waren Menschen.
Die Ausgrenzung, die auch in Begriffen wie „ausländische Mitbürger" liegt - den ich hier in der alten Bundesrepublik kennengelernt habe; „Mitbürger" klingt wie „Untermieter" -, ist eine der Ursachen für Isolierung, Feindlichkeit und Haß. Diese archaische Ausgrenzung - hier Deutsche, dort Ausländer - sortiert Menschen nach zufälligen Kriterien der Herkunft oder Abstammung. Nur durch die völlige Gleichstellung und Gleichbehandlung ausländischer Bürgerinnen und Bürger kann die Voraussetzung für ein besseres Zusammenleben geschaffen werden. Es darf nicht länger Menschen zweiter Klasse geben. Die Neubestimmung des Staatsbürgerbegriffes, die Abschaffung des überheblichen Blutrechtes und die Erleichterung der Einbürgerung dürfen nicht länger verweigert werden. Jede Verzögerung kann tödlich sein.
Herr Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Duve?
Ja, bitte.
Herr Kollege Weiß, gehen wir nicht in eine ganz problematische Richtung, wenn wir immer schon in der Sprache den Sünder suchen? Ist nicht das Wort „Mitmensch" so unantastbar, daß wir uns sehr ernst die Frage stellen müssen, ob wirklich das Wort „Mitbürger" als denunziatorisch angesehen werden darf? Ich beobachte in letzter Zeit, daß wir immer stärker jeden erwischen wollen, der in seiner sprachlichen Bezeichnung irgendwie unsicher ist. Wir müssen auch eine Sicherheit bekommen, und dazu dient unsere Sprache. Ich bin inhaltlich mit Ihnen durchaus einer Meinung. Aber es geht nach meiner Meinung zu weit, gleich zu sagen: Der ist bei dem Wort „Mitbürger" an seiner Wortwahl erkennbar.
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Ich möchte Sie fragen, ob Sie diese Ansicht nicht teilen, weil ich Sie ja als sprachkundigen Menschen kenne.
Herr Duve, ich habe gesagt, daß in diesem Begriff auch Ausgrenzung liegt. Ich denke, der Ministerprä13874
Konrad Weiß ({0})
sident von Nordrhein-Westfalen hat uns hier sehr zu Recht darauf hingewiesen, daß wir mit der Sprache sorgfältig umzugehen haben. Ich will das einfach einmal anfragen. Ich habe das angefragt; ich denunziere damit niemanden.
Das Signal der Zögerlichkeit der Bundesregierung, das der Bundeskanzler hier heute in bezug auf die doppelte Staatsbürgerschaft und auf ein neues Staatsbürgerrecht gegeben hat und mit dem er weit hinter frühere Äußerungen zurückgegangen ist, ist enttäuschend. Die doppelte Staatsbürgerschaft ist gewiß kein Allheilmittel; aber hilfreich für ein besseres Zusammenleben und für eine bessere Integration wäre eine solche Regelung allemal.
Nicht die Abwehr der Ausländer, sondern das Bemühen um Verständnis ihrer Mentalität und Kultur und der Respekt vor ihrem Anderssein müssen unser Handeln bestimmen. Wir Parlamentarier müssen endlich die Voraussetzungen dafür schaffen, daß im nächsten Bundestag, in den Landes- und Kommunalparlamenten Bürgerinnen und Bürger ausländischer Herkunft ihre Interessen selbst vertreten können. Ich habe nicht die Illusion, daß Gesetze allein das Klima in Deutschland verändern; aber sie können Trennendes beseitigen und Voraussetzungen für ein besseres Miteinander schaffen. Das politische Signal muß endlich eindeutig lauten: Wir sind ein Einwanderungsland. Ausländer sind uns willkommen. Bürgerinnen und Bürger ausländischer Herkunft sind in Deutschland weder privilegiert noch benachteiligt; sie haben gleiche Rechte und gleiche Pflichten.
Wir müssen endlich die unheilvolle und untaugliche Fiktion vom Nationalstaat, von einer deutschen Blutsgemeinschaft aufgeben. Wir waren immer ein Land mit unterschiedlichen Landsmannschaften und sind es heute vielfältiger und anders als zuvor. Zu den Bayern, Sachsen und Preußen sind vor zwei Jahrhunderten die Hugenotten und vor neun Jahrzehnten die Polen gekommen, vor zwei Generationen die Türken, Italiener und Griechen und seit ein paar Jahren Menschen aus Rußland und Vietnam, aus Mosambik und Kurdistan. In Deutschland werden niemals mehr nur Deutsche wohnen.
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Der Schlachtruf „Deutschland den Deutschen" war und ist nicht nur töricht und mörderisch; er ist auch selbstmörderisch.
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Wichtiger noch als die Schaffung vernünftiger Gesetze ist das entschiedene Eintreten gegen den alltäglichen Rassismus. Hier haben wir alle, Ostdeutsche und Westdeutsche gleichermaßen, in der Vergangenheit vieles versäumt. Wir alle tragen Mitverantwortung für das Klima der Gewalt und des Fremdenhasses in Deutschland. Auch die Mörder von Solingen und Eberswalde, die Brandstifter von Rostock und Mölln sind unsere Kinder, so schmerzhaft und beschämend das für uns auch sein mag. Wir müssen endlich den Mut zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme der Sünden und Versäumnisse dieser Gesellschaft finden und einsehen, daß wir uns nicht
entschieden genug mit der deutschen Vergangenheit auseinandergesetzt haben, daß wir es zulassen, daß unsere Gesellschaft ebenso verschmutzt und verseucht wird wie unsere Umwelt, daß es uns nicht gelungen ist, jungen Menschen Orientierung zu geben, daß wir die Verhältisse im Land nicht so geordnet haben, daß jede und jeder gleiche Chancen für Ausbildung und Arbeit hat, daß wir die bestehenden Probleme und Konflikte nicht nüchtern wahrnehmen, sondern ideologisch oder parteitaktisch verbrämen und daß wir nicht den Mut haben, der Gewalt als Mittel der privaten wie der sozialen Konfliktlösung konsequent abzusagen.
Die Verschmutzung unserer Gesellschaft durch die vielfachen Formen der Gewalt scheint mir das Hauptproblem zu sein. Anwendung und Androhung von Gewalt gehören zur alltäglichen Erfahrung von Kindheit an. In den Medien wird Gewalt immer rücksichtsloser dargestellt und massenhaft konsumiert, auch von Kindern. Die bestehenden Kontrollmechanismen werden nicht konsequent genutzt. Ich bin nicht der Meinung, daß es neuer Mechanismen bedarf. Fernsehgewalt, Computergewalt und Musikgewalt, tagtäglich konsumiert, senken die Hemmschwelle zu akitver Gewalttätigkeit. Die Gewalttaten werden immer grausamer, die Gewalttäter immer jünger. Die Gewalt in Schulen und unter Schillern ist besorgniserregend. Die Schwachen suchen Schwächere, an denen sie sich vergehen können. Ausländer, Behinderte, Obdachlose und Homosexuelle sind die Opfer. Vielfach wird diese Gewalt in der Öffentlichkeit überhaupt nicht mehr wahr- oder ernstgenommen.
1990 wurden 35 vollzogene oder versuchte Tötungsdelikte an Homosexuellen vom Bundeskriminalamt registriert; 1991 waren es 27 Fälle, davon 20 geklärt; 1992 25 Fälle, davon 14 geklärt; in diesem Jahr sind es bereits 7 Fälle. Die Angaben umfassen ausschließlich solche Fälle, die strafrechtlich als Tötungsdelikte einzustufen waren. Die Dunkelziffer bei homesexuellen Gewaltopfern dürfte erheblich höher sein.
Nur gelegentlich werden Gewalttaten gegen Behinderte öffentlich. Erschreckend ist die kalte Unmenschlichkeit, mit der vor allem junge Täter gegen körperlich oder geistig Behinderte vorgehen, mit Worten ebenso wie mit Taten. Zur alltäglich verübten Gewalt gehören insbesondere auch die Gewalt gegen Kinder und die Gewalt gegen alte und sieche Menschen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben einen großen Teil Ihrer Rede extremistischen Gruppierungen von Ausländern, besonders aus der Türkei, gewidmet. Sie haben ausgeführt, das Bleiberecht dürfe kein Freibrief dafür sein, Auseinandersetzungen bei uns gewalttätig auszutragen, und Gewalttäter seien uns als neue Staatsbürger nicht willkommen. Ich halte Ihre Argumentation für gefährlich. Mit dem überzogenen Gewicht, daß Sie ihr beigemessen haben, bietet sie in sich bereits wieder Elemente der Fremdenfeindlichkeit.
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Konrad Weiß ({4})
Nicht neue Staatsbürger waren die Täter von Solingen. Ich habe Ihr klares und entschiedenes Wort, Herr Bundeskanzler, vermißt, mit dem Sie sich von jenen feigen, verbrecherischen Deutschen distanzieren, die in Wahrheit den Frieden und die Demokratie in Deutschland gefährden.
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Das sind die Mörder von Solingen ebenso wie die Worttäter, die unsere Jugend verführen. Ihnen sollten wir die staatsbürgerlichen Rechte entziehen.
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Im Kampf gegen die Gewalt ist das Handeln des einzelnen ebenso gefragt wie das der Politik. Nach den Morden von Solingen wurden die Bürgerinnen und Bürger aufgerufen, achtsam zu sein und jeder Bedrohung eines ausländischen Nachbarn durch rechtsradikale Verbrecher entgegenzutreten. Das ist sicher richtig, wird aber durch die Praxis von Polizei und Gerichten ad absurdum geführt. Denn wer wird schon einen potentiellen Gewalttäter oder rechtsradikalen Gewaltredner der Polizei melden, wenn er die Erfahrung machen muß, daß entweder überhaupt nicht reagiert wird oder daß selbst überführte Täter nach Stunden wieder freigelassen werden und sich unter Umständen an denen rächen, die sie angezeigt haben? Wer wird überhaupt eine Anzeige erstatten, wenn er vermuten muß, daß er im Polizeirevier auf rechtsradikale Beamte trifft? Auch das ist entgegen den verharmlosenden Auskünften der Bundesregierung heute in Deutschland wieder möglich. Nachrichten über rechtsradikale Äußerungen und Aktivitäten von Polizisten und Bundeswehrsoldaten sind keine Seltenheit mehr.
In den Vereinigten Staaten wurde im vergangenen Jahr das Bundesgesetz über die statistische Registrierung von Verbrechen aus Haß verabschiedet, daß die Bundesbehörden verpflichtet, Daten über Verbrechen auf Grund von Rasse, Religion, der sexuellen Orientierung oder der ethnischen Herkunft zu sammeln. Damit wird der amerikanische Gesetzgeber bald über eine gesicherte Grundlage verfügen, um solche Verbrechen wirksamer bekämpfen zu können. Ich denke, auch für uns wäre ein solcher Hate Crime Statistics Act hilfreich. Daneben sollte der Bundestag endlich ein Antidiskriminierungsgesetz schaffen, das im Bereich des Minderheitenschutzes präventiv wirksam werden könnte. Andere europäische Länder, z. B. die Schweiz, sind da weiter als wir.
Herr Kollege Weiß, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme zum Ende, Herr Präsident.
Vor allem müssen wir alles, aber auch alles tun, um besonders jungen Menschen in Deutschland Zukunft und Orientierung zu geben. Wir müssen endlich begreifen - und unser Begreifen in die Tat umsetzen -, daß Kindergärten und Jugendclubs wichtiger sind als neue Autobahnen oder prächtige Regierungsbauten. Kinder brauchen Liebe und Zuwendung, nicht nur nettes Spielzeug.
Herr Kollege Weiß, nach dem Hinweis, daß Ihre Redezeit abgelaufen ist, dürfen Sie noch einen Satz, aber nicht eine Reihe von Sätzen sagen. Ich bitte, jetzt, mit einem Satz zu schließen.
Einen Satz noch. Ich hätte noch viel zu sagen, Herr Präsident. - Ausbildungsplätze und Arbeitsplätze für junge Frauen und Männer sind kein überflüssiger Luxus, auch nicht in Ostdeutschland.
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Herr Kollege Eduard Oswald, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Mordanschläge gegen ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger haben unser Land erschüttert. Entsetzen und Mitgefühl mischen sich mit der zunehmenden Angst unserer Bevölkerung vor einer Eskalation der Gewalt. Unser Mitgefühl gilt den Hinterbliebenen der Opfer. Wir verurteilen die feigen, hinterhältigen Gewalttaten. Unser demokratischer Rechtsstaat ist herausgefordert, mit ganzer Härte dieser Menschenverachtung Einhalt zu gebieten. Die Spirale der Gewalt muß durchbrochen werden.
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Die Gewalttäter stehen in unserem Land genauso im Abseits wie die kleine Minderheit ihrer ideologischen Helfershelfer. Die Deutschen lehnen Gewalt und Ausländerfeindlichkeit ab. Deutschland ist ein weltoffenes und ausländerfreundliches Land. Wir wollen die traditionell guten deutsch-türkischen Beziehungen weiter ausbauen. Die Freundschaft unserer beiden Völker ist ein kostbares Gut. Unser Bundeskanzler und unser Bundesaußenminister haben auch heute das Richtige dazu gesagt.
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Die schrecklichen Ereignisse dieser Tage zwingen uns, die Hintergründe zunehmender Aggression in unserer Gesellschaft offen anzusprechen. Die besorgniserregende Brutalisierung ist Ergebnis eines schleichenden Werteverfalls und der daraus folgenden Orientierungslosigkeit. Gesellschaftliche Bindungskräfte verlieren an Wirkung. Allzuoft ist die Familie geschwächt, und ihre Erziehungskraft ist ausgezehrt. So kann sie weder Halt und Geborgenheit geben noch Grenzen setzen. Staatliche Maßnahmen können nicht ausgleichen, was an familiärer Werteprägung und am Zusammenhalt kleiner Gemeinschaften verlorengegangen ist.
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Die pausenlosen Gewaltdarstellungen in den Medien verstärken Gewaltbereitschaft. Gewalt als Mittel, Ziele durchzusetzen, wird hoffähig gemacht; Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leid wird gefördert, meine Damen und Herren.
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Wer immer in den zurückliegenden Jahrzehnten verkündet hat, Gewalt sei ein legitimes Mittel des Protests, hat damit zum Verfall der politischen Kultur beigetragen.
({4})
Das gibt es auch heute noch. Wer heute noch unter dem Deckmantel angeblicher antiautoritärer Erziehung Familie und Schule als Repressionsanstalten abwertet, wer auch heute noch unter dem Deckmantel angeblicher emanzipatorischer Pädagogik egoistisches Anspruchsdenken und überzogene Selbstverwirklichungsansprüche fördert, der darf sich nicht wundern
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- die Unruhe verstehe ich nicht -({6})
wenn Kinder und Jugendliche an mangelnden Vorbildern und fehlendem Unrechtsbewußtsein leiden.
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Da sollten Sie von der SPD mitklatschen, wenigstens an dieser Stelle!
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Mit ihrer ausländerfeindlichen und menschenverachtenden Propaganda
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versuchen rechtsextremistische Parteien, Haß und Gewaltbereitschaft bei manchen jungen Menschen zu wecken. Unverhohlener Rassismus prägt ihre Propaganda. Sie zerbrechen bewußt moralische Tabus. Sie instrumentalisieren das in einem Teil der jungen Generation vorhandende Gewaltpotential für ihre Ziele.
Meine Damen und Herren, wir unterstützen die verhängten und durchgesetzten Organisationsverbote sowie die Anträge auf Grundrechtsverwirkung. Bundesinnenminister Rudolf Seiters und die Bayerische Staatsregierung haben das Richtige entschlossen getan.
({10})
Meine Damen und Herren, die Bedrohung durch politische Extremisten und radikale Gewalttäter erfordert die uneingeschränkte Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols. Das Gewaltmonopol des Staates steht nicht zur Disposition.
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Das muß auch für den Bürger stärker in Erscheinung treten. Selbstjustiz ist im demokratischen Rechtsstaat unakzeptabel. Niemand, meine Damen und Herren, darf in Deutschland Angst haben müssen. Wir lassen es nicht zu, daß gewalttätige Gruppen - einmal die mit glattgeschorenen Köpfen, dann wieder die Vermummten - dieses Land und seine Menschen terrorisieren und seine freiheitliche Ordnung zerstören.
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Unser Rechtsstaat tritt der Gewalt konsequent entgegen, von wem auch immer sie verübt wird, gegen wen auch immer sie sich richtet. Dabei braucht er die Unterstützung aller deutschen und ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger.
Der Polizei und den Ermittlungsbehörden gebührt für ihre Arbeit große Anerkennung. Den Beamtinnen und Beamten, die einen schweren Dienst für unseren Staat, für unsere gemeinsame Sache tun, möchte ich auch an dieser Stelle Dank sagen. Wir haben Vertrauen in ihre Arbeit.
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Unsere wehrhafte Demokratie braucht wirksame Instrumente. Die politisch Verantwortlichen in Bund und Ländern müssen dafür sorgen, daß der radikalen Herausforderung mit zeitgemäßen Mitteln begegnet werden kann. Meine Fraktion hat gestern ein Sofortprogramm verabschiedet und auf den Weg gebracht. Es zeigt die richtigen Instrumentarien, ohne daß ich heute näher darauf eingehen muß.
Meine Damen und Herren, wir müssen aber eines sehen: Natürlich ist es nicht nur das Strafrecht. Unsere Aufmerksamkeit muß gleichermaßen vorbeugenden Konzepten wie beispielsweise in der Jugendsozialarbeit gelten.
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Wenn wir heute über Gewalt und Terror sprechen, dann darf das nicht darüber hinwegtäuschen, daß es in unserem Land - auch dies müssen wir sagen -hunderttausendmal mehr Menschlichkeit und Mitgefühl im Zusammenleben von Deutschen und Ausländern als Haß und Gewalt gibt. Auch das müssen wir feststellen.
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Gerade jenen Menschen, die sich in der Nachbarschaft, in den Vereinen, beim Sport, am Arbeitsplatz, in allen Lebensbereichen um das Zusammenleben, um das menschliche Miteinander erfolgreich bemühen, gilt unser Dank, Deutschen wie Ausländern; denn das ist der Regelfall in unserem Lande.
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Ohne die mehr als zwei Millionen Arbeitnehmer aus vielen Ländern wären wir in Deutschland ärmer, menschlich und wirtschaftlich. Als Arbeitskollegen in unseren Betrieben, als Schulkameraden unserer Kinder, als Nachbarn gehören ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger ganz selbstverständlich zu uns.
({17})
Die internationalen Wirtschaftsbeziehungen, von denen Deutschland als rohstoffarmes und exportorientiertes Industrieland ganz existentiell abhängig ist, setzen Weltoffenheit und Achtung vor der Würde fremder Kulturen voraus.
Meine Damen und Herren, wir wollen die Integration der Ausländer in Deutschland fördern. Eine generelle doppelte Staatsbürgerschaft trägt dazu nicht bei. Staatsbürgerschaft ist mit Rechten und
Pflichten verbunden. Mit der Beibehaltung der Staatsbürgerschaft seines Herkunftslandes wird beim Eingebürgerten der für die Integration unerwünschte Gedanke an eine Rückkehr in seine Heimat wachgehalten.
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Wir müssen wissen: Doppelte Staatsbürgerschaft bringt Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Rechte und Pflichten gegenüber zwei Staaten mit sich; Loyalitätskonflikte drohen.
Meine Damen und Herren, den kriminellen Gewalttätern und ihren geistigen Vätern in der radikalen Szene ist nicht beizukommen, indem Ausländer zu Deutschen erklärt werden. Ebensowenig wird das Problem randalierender ausländischer Extremisten gelöst.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, die große Mehrheit dieses Hauses hat in dem Kompromiß zu Asyl und Einwanderung ein Maßnahmepaket zur Erleichterung der Einbürgerung von Ausländern vereinbart. Alle diese Maßnahmen werden ihre Wirkung zeigen. Ich bin davon überzeugt. Ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger, die dauerhaft in unserem Land ihre Heimat gefunden haben, sollen ohne Schwierigkeiten eingebürgert werden können, wenn sie das wollen. Das ist der richtige Weg.
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Meine Damen und Herren, die gestiegene Gewaltbereitschaft kann nicht wie mit einem Knopfdruck abgestellt werden. Staatliche Maßnahmen reichen zu ihrer Bekämpfung nicht aus. Alle Bürgerinnen und Bürger sind gefordert. Die Gesellschaft als Ganzes, jeder Einzelne muß sich den Herausforderungen der Erziehung stellen, wenn wir der Gewalt in ihren Wurzeln begegnen wollen. Auch wenn der Einfluß von Gleichaltrigen zunimmt, so hat dennoch die Familie nach wie vor prägenden Einfluß auf das Verhalten der Heranwachsenden. Kinder und Jugendliche übernehmen, was ihnen ihre Eltern vorleben. Die Eltern müssen deshalb ihren Erziehungsauftrag in allen Bereichen und gesellschaftlichen Schichten verantwortungsbewußt annehmen.
Auch die Schule darf sich aus der Erziehung nicht verabschieden. Schule ist mehr als Wissensvermittlung, und Lehrer-Sein ist mehr, als nur einen Job zu haben.
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Lieber weniger Stoffvermittlung und dafür mehr Vermittlung von Werten, meine sehr verehrten Damen und Herren!
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Ich darf jetzt ganz persönlich abschließend sagen: Man darf sich auch nicht wundern - ich sage dies auch für viele meiner Freunde -, daß manche jungen Menschen sämtliche Hemmungen verloren haben, wenn sie in der Schule und im Elternhaus nichts mehr
von Gott und den zehn Geboten und den sittlichen Werten unserer Gesellschaft hören.
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Meine Damen und Herren, auch das werden wir nach wie vor sagen. Wenn wir heute nicht in Erziehung, Schule und Familie investieren, beschert uns das morgen drückende Lasten der Kriminalität.
Herr Kollege Oswald, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Der letzte Satz, meine sehr verehrten Damen und Herren: Wir sind aufgerufen, einer verderblichen Entwicklung Einhalt zu gebieten, die die innere Sicherheit bedroht, das friedliche Zusammenleben gefährdet und dem Ansehen Deutschlands in der Welt schadet.
Vielen herzlichen Dank.
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Herr Kollege Reuschenbach, wir haben Ihren Zwischenruf hier oben leider nicht richtig gehört. Aber ich unterstelle, daß Sie trotz Ihrer Freude an Ordnungsrufen soeben nur etwas Positives über die CSU hier gesagt haben.
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Herr Kollege Reuschenbach, ich habe nur eine geschäftsleitende Bemerkung gemacht. Ich wollte nicht in einen politischen Dialog mit Ihnen eintreten. Aber Sie haben die Chance im Blick auf das Protokoll genutzt.
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Ich erteile dem Kollegen Hans-Ulrich Klose das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es genügt nicht, Betroffenheit zu bekunden. Und es hilft auch nichts, sich durch Schuldzuweisung an andere persönlich und politisch zu enthaften. Dies müßte eine Stunde der Besinnung sein, denn wir sind alle Teil der Gesellschaft, auf die eine oder andere Weise mit verantwortlich, und wir reden von einem gesellschaftlichen Problem.
Wenn junge Menschen, wie es scheint, hemmungslos andere Menschen angreifen und töten, dann ist das ein Problem der Gesellschaft, denn diese jungen Menschen leben doch nicht allein. Sie haben Eltern, Lehrer, Freunde, Kollegen, Nachbarn. Sie gehen zur Schule, zur Arbeit, treffen sich auf der Straße, in Fußballstadien, in Kneipen, lesen Zeitungen, sehen
fern. Es sind die Kinder dieser Gesellschaft. Es sind unsere Kinder.
Was, meine Damen und Herren, haben wir falsch gemacht? Und was müssen wir ändern, damit die Anschläge aufhören und die Gewaltbereitschaft nachläßt? Ich will zunächst eine Antwort auf die zweite Frage versuchen, denn dies ist vordringlich: Die Anschläge müssen aufhören!
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Dazu gehört, daß die Täter ermittelt und bestraft werden mit der vollen Härte des Gesetzes, wie es heißt. Auch nach dem Anschlag von Solingen waren solche Politikerworte zu hören. Es ist aber glücklicherweise so, daß über die Anwendung der Gesetze nicht Politiker, sondern Staatsanwälte und Gerichte entscheiden. Und die haben - woran auch in dieser Zeit zu erinnern ist - die individuelle Schuld zu messen und Strafen zu verhängen, die vergelten, abschrecken und erzieherisch wirken sollen. Letzteres gilt vor allem bei Jugendlichen - auch bei denen, über die wir hier reden.
Gut wäre es jedenfalls, wenn die Bestrafung zügig erfolgen würde. Dafür können und müssen Politiker durch Bereitstellung der erforderlichen Mittel sorgen. Ich wünschte mir, wir hätten mehr Polizeibeamte. Rund 250 000 sind es, in der ganzen Bundesrepublik. Die schaffen es aber nicht, vor allem wenn ständig von ihnen mehr gefordert wird. Und wir fordern ständig mehr von ihnen. Wir brauchen mehr Polizisten.
Da höre ich, die seien nicht zu bezahlen. Meine Antwort lautet: Da diese Gesellschaft sich inzwischen mehr als 280 000 private Sicherheitsbedienstete leistet, müßte sie in der Lage sein, auch mehr Polizisten zu bezahlen.
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Sicherheit als käufliches Gut für die Reichen, das kann es doch nicht sein!
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Unsere Forderungen, meine Damen und Herren, richten sich an die Bundesregierung und an die Landesregierungen. Es muß in der konkreten Lage mehr getan werden. Natürlich wissen auch wir, daß nicht vor jedem Haus, in dem ausländische Familien wohnen, ein Polizeibeamter stehen kann. Aber die Treffpunkte potentieller Gewalttäter sind zumeist bekannt. Warum werden die nicht häufiger kontrolliert? Warum werden grölende und randalierende Jugendliche nicht häufiger aufgegriffen und zur Personenkontrolle auf die Wachen gebracht?
Herr Kollege Klose, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Glos?
Ja, natürlich; gerne.
Herr Kollege Klose, da ich mit großem Interesse Ihre Ausführungen zur Polizei angehört habe,
({0})
zur Polizeidichte und zum Einsatz von Polizei, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie uns wegen der Tatsache, daß die Länder dafür zuständig sind, auch etwas über die Haltung der einzelnen Landesregierungen sagen würden
({1})
und vielleicht auch den Unterschied zwischen Bayern und Nordrhein-Westfalen auf dem Gebiet darstellen würden.
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Erstens, sehr verehrter Herr Kollege, freut es mich natürlich, daß Sie meinen Reden mit Interesse lauschen. Das ist schon mal gut.
Der zweite Punkt. Es wird Ihnen aufgefallen sein, daß sich meine Forderungen ausdrücklich an die Bundesregierung und an die Landesregierungen gerichtet haben. Wenn es um die Frage der Polizeidichte geht, gestatten Sie mir vielleicht, daß ich Ihr Land vergleiche mit dem Land, aus dem ich komme, Hamburg. Ich rate Ihnen, diesen Vergleich zu ziehen. Dann haben Sie noch eine ganze Menge, was Sie tun müssen.
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Ich sagte, Herr Präsident, meine Damen und Herren, daß die Personenkontrolle häufiger stattfinden müßte. Ich füge hinzu: Es müßte vor allem die nächtliche Präsenz der Polizei deutlich verstärkt werden.
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Dabei können regionale Schwerpunkte gebildet und andere Aufgaben zumindest auf Zeit zurückgenommen werden.
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Sie sagen, daß dies alles schon veranlaßt sei. Natürlich sind die Innenminister nicht einfach untätig; das unterstelle ich nicht.
Der Herr Bundeskanzler hat im übrigen vorgetragen, was die Bundesregierung schon alles beschlossen hat. Aber ich sage es: Ich habe doch den Eindruck, daß die Reaktionen der Politik in Bund und Ländern auf die Gewalttaten und Terrorakte der RAF seinerzeit zielstrebiger und deutlicher waren als das, war wir derzeit erleben.
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Damals wurde auf Bundesebene geführt, wurden Krisenstäbe gebildet, Zusammenarbeit organisiert, Sonderkommandos eingerichtet, in ganz kurzer Zeit Gesetze geändert, die Bevölkerung zur Mitarbeit aufgerufen. Es gab so etwas wie eine organisierte Aufmerksamkeit, ohne die es doch nicht geht. Die Bevölkerung muß mithelfen. Dafür muß geworben und gearbeitet werden.
Meine Damen und Herren. Die Medien müßten eingeschaltet werden. Sie haben allen Anlaß, mitzuwirken, damit Gewalt geächtet wird, statt tagtäglich Gewaltdarstellungen zum Zwecke des allgemeinen Amüsements feilzubieten. Schon in den Kindergärten trifft man heutzutage auf das aus den Schulen wohlbekannte Montagssyndrom: Der übermäßige Fernsehkonsum am Wochenende wirkt nach, und zwar negativ.
Kurzfristige, deutliche, entschlossene Reaktionen des Staates sind erforderlich. Und sie sind möglich. Die Bundesregierung und die Landesregierungen, Herr Kollege Glos, sind aufgefordert, die erforderlichen und möglichen Maßnahmen unverzüglich zu ergreifen.
({4})
Der Gewaltszene muß das Bild eines entschlossenen politischen Handelns zur Gewaltverhinderung entgegengestellt werden. Und ich sage: Einschüchterung gehört auch dazu.
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Das schließt eine intensive Beobachtung der rechtsextremistischen Szene ein. Wozu haben wir denn den Verfassungsschutz? Wo liegt denn heute die wesentliche Gefahr für unsere demokratische Ordnung? Es ist der politische Extremismus, der unsere Ordnung gefährdet. Und der rechte Extremismus ist heute gefährlicher als der linke.
Welche Schlußfolgerungen, so frage ich weiter, werden denn aus Erkenntnissen, die der Verfassungsschutz gewinnt, gezogen? Daß Videoaufnahmen von rechtsextremistischen Treffen und Veranstaltungen angefertigt werden, ist in Ordnung. Daß solche Aufnahmen über den Bildschirm flimmern, ohne daß erkennbar wäre und gesagt würde, wie denn der Staat und seine Ordnung vielfach auf solche Veranstaltungen reagieren, das ist nicht in Ordnung.
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Wenn alles geduldet wird oder doch der Anschein erweckt wird, daß alles ohne Sanktionen bleibt, wenn es dazu noch über die Medien verbreitet wird, dann darf man sich doch nicht wundern, daß sich die rechte Szene eher bestätigt als bedrängt sieht.
Ich spreche von den heute anzupackenden Aufgaben, weil wir nicht zuwarten dürfen. Es muß sofort etwas geschehen.
Das schließt nicht, überhaupt nicht, aus, daß wir uns ab sofort über die tiefer liegenden Ursachen der gesellschaftlichen Fehlentwicklung kümmern.
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- Gut, z. B. auch um die Familien.
Aber wir müssen sagen: Die Familien waren nie heil, auch nicht in der „guten alten Zeit". Nur, die Heuchelei war früher noch größer als heute.
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Gleichwohl zeigte diese größere Heuchelei, daß die
Norm anerkannt und repressiv durchgesetzt wurde.
Es gab eine Art repressiver Verbindlichkeit. Und heute?
Lassen sie mich Claus Leggewie zitieren; er sagt:
Es gibt so etwas wie einen indifferenten, kalten Erziehungsstil. Es gibt einfach mangelndes Interesse von vielen Erziehern und Eltern für die jungen Leute, speziell in dem problematischen Alter zwischen 10 und 14 Jahren. Es gibt ein hohes Maß an Ausstattung mit allen möglichen Freizeitangeboten, aber doch so etwas wie einen Generationsbruch, ein intergeneratives Schweigen zwischen den Älteren und den Jüngeren.
Meine Damen und Herren, mir ist klar, daß die Politik bessere Familien und eine bessere Erziehung in den Familien nicht verordnen kann. Erziehung in der Familie findet statt oder nicht. Aber dem demokratischen Staat kann das nicht gleichgültig sein. Er muß zumindest kompensatorische Angebote z. B. in Kindergärten und Schulen bereithalten. Das ist, wie ich weiß, umstritten.
Herr Kollege Oswald, der bayerische Kultusminister, Herr Zehetmair, hat jüngst seine Meinung wiederholt, es sei nicht die Aufgabe der Schule, erziehend auf junge Menschen einzuwirken. Es gibt, wie ich weiß, ernstzunehmende Gründe, so zu denken.
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Die Tatsachen sollten aber doch zur Kenntnis genommen und nicht einfach geleugnet werden. Die Erziehungsfunktion der Familie ist vielfach gestört. Daraus die notwendigen Schlußfolgerungen zu ziehen, kann nur verweigern, wer den demokratischen Staat mit einem autoritären Regime auf die gleiche Stufe stellt. Meines Erachtens ist Erziehung zur Freiheit in der Gemeinschaft mit freien Menschen sehr wohl auch eine staatliche Aufgabe.
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Was sonst kann Politik tun? Sie kann und muß jede Anstrengung unternehmen, um die materiellen Probleme der Gesellschaft und vor allem die der jungen Menschen zu lösen. Wer als Jugendlicher weder einen Ausbildungsplatz noch einen Arbeitsplatz findet, wer zudem keine sinnvollen Angebote zur Freizeitnutzung vorfindet - da wird ja gegenwärtig überall gestrichen -, wer also tatsächlich ausgegrenzt ist, der reagiert, und zwar aggressiv.
Das gilt im übrigen nicht nur bei materieller Ausgrenzung. Viele der ermittelten Gewalttäter hatten keine materiellen Probleme. Bei ihnen war es eher eine seelische Ausgrenzung oder Überforderung - Leggewie spricht von „Wohlstandsverwahrlosung" -, für die es ebenfalls eine Reihe von individuellen und gesellschaftlichen Ursachen gibt, über die geredet werden muß.
Meine Damen und Herren, es ist mehrfach gesagt worden: Wir leben in einer ausgeprägten Leistungsgesellschaft. In einer solchen Leistungsgesellschaft dominieren die Ich-Tugenden Selbstverwirklichung, Durchsetzungsvermögen und Leistungsstärke. Die Wir-Tugenden Rücksichtnahme, Toleranz und Soli13880
darität werden in den Hintergrund gedrückt. In einer solchen Gesellschaft, in der Anerkennung durchweg erfolgsabhängig ist, besteht immer die Gefahr, daß sie sich in eine Ellenbogen- oder Wolfsgesellschaft verwandelt, in der mitleidslos ausgegrenzt wird, wer nicht mithalten kann.
({11})
Angst vor möglichem Versagen und das Gefühl, nichts dagegen tun zu können, eigentlich überhaupt nichts Sinnvolles und Vernünftiges tun zu können, das ist der Punkt. Es gibt in unserer Gesellschaft Desintegrationstendenzen, die weit über das Materielle hinausreichen. Es gibt sie, wie wir wissen, in allen hochentwickelten Industriegesellschaften, weil es uns offenbar nicht gelingt, das rechte Maß zu finden.
Sie selbst, Herr Bundeskanzler, haben bei einer anderen Gelegenheit, nicht heute, über dieses Problem gesprochen und das Wort „Maße" benutzt. Es lohnt sich, weiter darüber nachzudenken, wenn möglich, mit dem Ziel, praktisch verwertbare Erkenntnisse aus diesem Nachdenken zu gewinnen. Welches ist das rechte Maß an Wohlstand und an Konsum? Welches Maß an Wachstum können wir uns noch erlauben, ohne uns selber zugrundezurichten? Unser politisches Handeln ist doch bestenfalls verbal stimmig. Praktisch verhalten wir uns unentwegt widersprüchlich. Und das kann auf Dauer nicht gutgehen.
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Herr Bundeskanzler, Sie haben über die Bedeutung der Türkei und die Rolle und die Bedeutung der vielen ausländischen Mitbürger in unserem Land gesprochen. Ich kann Ihnen in beiden Punkten zustimmen. Wir leben seit vielen Jahren mit vielen Menschen aus vielen Ländern und Kontinenten zusammen - überwiegend gut und freundlich. Ich wiederhole, was ich vor Wochen hier gesagt habe: Die Deutschen sind nicht ausländerfeindlich.
Aber - das füge ich hinzu, damit wir uns nichts vormachen - die Integration der Ausländer, vor allem jener aus der Türkei, ist noch nicht gelungen. Wir leben eher nebeneinander her als miteinander. Die Türken sehen sich vielfach immer noch als Bürger zweiter Klasse, und das sind sie ja rechtlich auch, solange sie an dem demokratischen Prozeß in unserem Lande nicht teilhaben. Ich war, weil ich das für fatal halte, immer für die Teilnahme der lange hier lebenden Ausländer zumindest an Kommunalwahlen. Ich bin nach anfänglichem Zögern, wie ich zugebe, auch für die Akzeptanz von Doppelstaatsangehörigkeiten eingetreten, was insbesondere für die Türken ein praktisches Problem lösen würde. Ich weise aber darauf hin, daß wir es uns alle zu leicht machten, wenn wir die Integrationsaufgabe auf solche Rechtsakte reduzierten.
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Die Integrationsaufgabe ist nur praktisch zu bewältigen: im Miethaus von Nachbar zu Nachbar, im Kindergarten, in der Schule, in Vereinen und auf Marktplätzen. Die Menschen müssen sie bewältigen, die Politik würde aber einen wichtigen Beitrag leisten,
wenn sie die Menschen, auch die Deutschen, mit dieser Aufgabe nicht so allein ließe.
Ich weiß, wovon ich rede, denn ich lebe in Hamburg in einem Stadtteil mit einem Ausländeranteil von ca. 30 %, ganz überwiegend Türken. Es gibt dort, wofür der Stadt zu danken ist, eine ganze Reihe von Hilfsangeboten für Ausländer, vor allem für Türken, Treffpunkte der verschiedensten Art.
Wer aber hilft den Deutschen, mit der für sie neuen und oft schwierigen Situation fertigzuwerden? Wer hilft ihnen, zu verstehen, was der Islam ist? Wer nimmt ihnen die Ängste, die unbestreitbar vorhanden sind? Die Kirchen versuchen zu helfen. Manche Schule leistet gute Arbeit. Wenn ganze Schulklassen von sich aus beschließen, gemeinsam in den Ferien in die Türkei zu fahren, um sich wechselseitig besser kennenzulernen, dann ist das gut und richtig und verdient jede Unterstützung.
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Dies, meine Damen und Herren, sollten wir institutionalisieren, ganz konkret. Denn konkret muß es sein; Schönreden auch hier im Parlament bewirkt nichts.
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Die türkischen Mitbürger selbst könnten auch einen wichtigen Beitrag zur Integration leisten, vor allem die ältere Generation. Sie machen es, was ich ja durchaus verstehe, den nachwachsenden Generationen, den Jungen und vor allem den Mädchen, oft sehr schwer, sich in der deutschen Gesellschaft zurechtzufinden. Am Morgen sind sie in der Schule und tagsüber in deutscher Gesellschaft und am Abend wieder in der Türkei. Wer ständig zwischen den verschiedenen Gesellschaften hin und herpendelt, der ist am Ende nirgendwo zu Hause.
Ich kenne viele türkische Jugendliche. Ich habe mich sehr darum bemüht, sie kennenzulernen. Früher hatte ich dazu, wie ich zugeben muß, mehr Gelegenheit als heute. Mir haben diese jungen Menschen in ihrer Gespaltenheit leid getan und in ihrem Bestreben imponiert, sich Anerkennung zu verschaffen, und zwar durch Leistung. Es wäre ein großer Jammer und darf nicht passieren, daß diese jungen Menschen durch die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Monate und Wochen ins Abseits gedrängt werden, daß sie sich absondern und ihr Heil ihrerseits in der Gewalt suchen.
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Gestatten Sie mir ein abschließendes Wort. Es richtet sich an die Angehörigen und engen Freunde der Opfer. Ich habe einige kennengelernt. Daß sie, gerade sie, bei allem Schmerz und bei aller Trauer dennoch ganz überwiegend auf Freundschaft und gute Nachbarschaft setzen, daß sie nicht Haß, sondern Versöhnung predigen, ja darum ihrerseits bitten, daß nötigt mir hohen Respekt ab und sollte alle beschämen, die die Toten für die eigenen politischen Zwecke mißbrauchen wollen.
Diesen Menschen, den Angehörigen, haben wir zu danken. Ihnen sollten wir uns zuwenden, ihnen sollten
wir helfen. Sie machen uns Mut und geben uns Hoffnung.
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Ich erteile dem Bundesminister des Innern, Rudolf Seiters, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Klose, ich nehme für die Bundesregierung schon in Anspruch, daß sie seit langem immer wieder nachdrücklich warnend und appellierend auf die Notwendigkeit hingewiesen hat, die innere Sicherheit in unserem Lande zu wahren, und auf Gefahren, die aus dem extremistischen Spektrum kommen.
Ich habe meine Rede, die ich als Bundesinnenminister im November 1991 gehalten habe, noch einmal nachgelesen. Ich habe damals darauf hingewiesen, daß wir lange vor Rostock bei der Vorlage des Verfassungsschutzberichts auf eine besorgniserregende Entwicklung im extremistischen, gerade im rechtsextremistischen, Bereich aufmerksam gemacht und gemeinsame Anstrengungen der Länder mit dem Bund angemahnt haben, weil nichts und niemand in der Bundesrepublik Deutschland das Recht zu ausländerfeindlicher Hetze oder zu Gewalt gibt und weil wir Deutschen aus dem leidvollen Teil der Geschichte wissen, daß Haß und Gewalt immer ins Unglück geführt haben.
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In der Regierungserklärung ist auf eine ganze Fülle von Maßnahmen hingewiesen worden, die ich jetzt nicht wiederholen möchte, angefangen vom Bundesamt für Verfassungsschutz, über das Bundeskriminalamt, den Sondermeldedienst „Fremdenfeindliche Straftaten", die Bund-Länder-Informationsgruppe zur Beobachtung und Bekämpfung rechtsextremistischer Bestrebungen und Gewalttaten, Sonderermittlungsgruppen.
Verbände des Bundesgrenzschutzes wurden seit Hoyerswerda über vierzigmal zur Unterstützung der neuen Länder gegen Extremisten eingesetzt. Noch niemals in der Geschichte der Strafrechtspflege der Bundesrepublik Deutschland sind so viele Urteile so kurz nach Tatbegehung verkündet worden wie derzeit bei rechtsextremistischen Straftaten. Bund und Länder haben Maßnahmen gegen einen besonders widerwärtigen Bereich extremistischer Umtriebe abgestimmt, nämlich das Auftreten rechtsextremistischer Skinhead-Bands und die Verbreitung entsprechenden Schrifttums. Die von mir verbotenen Organisationen haben ihre Aktivitäten nicht fortsetzen können. Das Vereinsvermögen dieser Organisationen wurde beschlagnahmt.
Ich prüfe auch weiterhin, ob das Mittel des Vereinsverbots zur Bekämpfung rechtsextremistischer Aktivitäten genutzt werden kann. Ich denke aber, wir stimmen darin überein, daß dies nur bei hinreichender Beweislage in Betracht kommt. Es muß sichergestellt sein, daß derartige Vereinsverbote einer gerichtlichen Nachprüfung standhalten, weil eine Aufhebung von Verboten nur Wasser auf die Mühlen der Extremisten
leiten würde; und das kann keiner von uns wollen und verantworten.
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Wir dürfen in unseren Anstrengungen nicht nachlassen. Auch ich danke den Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten herzlich für ihre schwere und verantwortungsvolle Arbeit. Starke Präsenz der Polizei ist das Gebot der Stunde, besonders an den Brennpunkten der Gewaltanwendung. Wir müssen in der polizeilichen Praxis die Präsenz der Polizei vor Ort verstärken, die Beamten von reiner Verwaltungstätigkeit soweit wie möglich entlasten und den Polizeieinsatz konzentrieren. Wir brauchen auch das enge Zusammenwirken von staatlichen Stellen und unseren Bürgern. Wir brauchen Wachsamkeit und Aufmerksamkeit. Wir alle müssen mithelfen, um verbrecherischen Angriffen gegen wehrlose und friedliche Menschen vorzubeugen und sie zu verhindern.
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Meine Damen und Herren. Ich appelliere an die Länder, den Verfassungsschutz zu stärken. Ich appelliere an uns alle, die weiterhin notwendigen Maßnahmen im Bereich des Strafrechts und des Strafprozeßrechts zu treffen. Das gilt für die Höhe des Strafrahmens bei Gewalttaten, das gilt für die Ausgestaltung des Straftatbestandes des Landfriedensbruchs, und das gilt für die derzeit absolut unbefriedigenden rechtlichen Möglichkeiten, dringend Verdächtige bei Wiederholungsgefahr in Untersuchungshaft zu nehmen.
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Es kann nicht angehen, daß die Polizei unter Einsatz von Leib und Leben Gewalttäter festnimmt und diese dann vom Haftrichter freigelassen werden müssen, weil weder Flucht- noch Verdunkelungsgefahr besteht.
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Es ist eine Situation - darüber ist mehrfach gesprochen worden - mit verheerenden Folgen für die Motivation der Polizeibeamten, wenn von ihnen festgenommene Täter ihnen kurze Zeit später bei der nächsten Gewaltdemonstration wieder begegnen. Das müssen wir zwingend und dringend ändern.
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Auch ich möchte unterstreichen, daß Vereinsverbote und Maßnahmen im Bereich von Verfassungsschutz, Polizei und Strafrecht nicht das Allheilmittel gegen die widerwärtigen Erscheinungen sein können, mit denen wir es hier zu tun haben. Die Arbeit zur Bewältigung der Probleme, die uns der Extremismus von links und von rechts stellt, muß tiefer ansetzen, bei den allgemeinen Ursachen der in unserem gesellschaftlichen Leben zu beobachtenden Neigung zur Gewalt.
Der Bundeskanzler hat die Offensive gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit und die in diesem Zusammenhang ergriffenen Maßnahmen erwähnt. Der Bun13882
desinnenminister hat gemeinsam mit den Innenministern der Länder eine umfassende Aufklärungskampagne in Millionenauflage in die Schulen, die Sportverbände, die gesellschaftliche Gruppierung hinein mit dem Titel gestartet: „Fairständnis - Menschenwürde achten - gegen Fremdenhaß". Ich habe mich gemeinsam mit dem Präsidenten der kommunalen Spitzenverbände an unsere Bürgermeister und an alle gewandt, die kommunale Verantwortung tragen, damit wir überall dort, wo Menschen zusammenleben, Zeichen gegen Intoleranz, Menschenverachtung, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt setzen.
Ich habe Chefredakteure und Programmdirektoren der Medien vor einigen Wochen zu einem Gespräch bei uns gehabt und für eine Konvention der Verantwortlichkeit aller gestaltenden Kräfte im Medienbereich mit dem Ziel einer freiwilligen drastischen Einschränkung von Gewaltdarstellungen insbesondere im Fernsehen geworben.
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- Wie haben sie reagiert? fragt Kollege Klose. Ich antworte: Jedenfalls nicht so, daß wir in unseren gemeinsamen Anstrengungen nachlassen sollten, auf die Medien einzuwirken. Es gab, wie ich gerne einräume, unterschiedliche differenzierende Betrachtungsweisen. Solch ein Gesprächsergebnis läßt sich nicht in einem Satz zusammenfassen.
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Ich wäre sehr dankbar, wenn wir uns gerade auf diesem Feld verständigten und gemeinsam operierten; denn dort, wo gerade gegenüber jungen Menschen Gewalt als eine Art der Problemlösung vermittelt wird, wird die natürliche Hemmschwelle gegen Gewalt und die Kontrolle von Aggressionen mehr und mehr abgebaut. Das heißt, nicht nur der Staat, sondern alle verantwortlichen Träger unserer Gesellschaft einschließlich der Familien, Schulen, Kirchen und Medien müssen sich mit den Wurzeln von Kriminalität und Gewalt auseinandersetzen, damit die Werte und Grundregeln des sozialen Miteinanders endlich wieder stärker akzeptiert und beachtet werden.
Ich werbe auch bei meinen Innenministerkollegen dafür, bei der Gewährleistung der inneren Sicherheit Ansprechpartner für ausländische Mitbürger einzubeziehen. Ich halte es gerade in der jetzigen Situation für notwendig, daß es zumindest in Bezirken mit hohem Ausländeranteil in den Polizeidienststellen Vertrauensbeamte gibt, die mit Problemen und vor allem der Sprache der Ausländer vertraut sind.
Ich werbe darüber hinaus für den Gedanken - ich bleibe dabei -, auch Ausländer in die Polizei aufzunehmen. Ich sehe dies als ein Mittel, die Arbeit der Polizei zu verstärken und Kriminalität zu bekämpfen. Ich sehe dies aber auch als ein politisches Signal der Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Ausländern auch auf dem wichtigen Feld der inneren Sicherheit.
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Damit, meine Damen und Herren, bin ich bei dem Ziel der Bundesregierung, das wir mit Nachdruck vertreten, nämlich die Integration der bei uns lebenden Ausländer umfassend zu fördern und in diesem Zusammenhang auch die Einbürgerung von Ausländern zu erleichtern, die Deutsche mit allen Rechten und mit allen Pflichten werden wollen.
Diesem Ziel dienen die Erleichterung der Einbürgerung durch die Neufassung des Ausländergesetzes von 1991 und die weitgehenden zusätzlichen Verbesserungen durch die zum 1. Juli 1993 in Kraft tretenden neuen Bestimmungen des Asyl- und Ausländerrechts. Dies gilt für die Einbürgerung junger Ausländer und für die Einbürgerung von Ausländern mit langem Aufenthalt, die ab nächstem Monat einen zwingenden Anspruch auf Einbürgerung erhalten. Dies gilt weiter für den Geburtserwerb für nichteheliche Kinder deutscher Väter und für die drastische Senkung der Einbürgerungsgebühren.
Darüber hinaus habe ich seit langem angekündigt, im Rahmen der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, zu der wir noch in dieser Legislaturperiode einen Gesetzentwurf vorlegen werden, die bereits jetzt bestehenden Ausnahmetatbestände für die Hinnahme von Doppelstaatsangehörigkeiten zu erweitern.
Ich will aber auch deutlich sagen, daß ich eine generelle Hinnahme der Mehrstaatlichkeit gerade unter dem Gesichtspunkt der angestrebten Integration der bei uns lebenden Ausländer nicht für richtig und nicht für sinnvoll halte.
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Der Fortbestand der bisherigen Staatsangehörigkeit fördert nach meiner Überzeugung eben nicht eine möglichst weitgehene Integration bei uns, sondern ist eher geeignet, sie zu hemmen, weil sie eine jederzeitige Rückkehr in die ursprüngliche Heimat sichert und den Gedanken daran wachhält.
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Ich will daran erinnern, daß die Staatsangehörigkeit auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die engste und verpflichtendste Beziehung zwischen Staat und Bürger darstellt. Wir müssen von daher Loyalitätskonflikte und Rechtsunsicherheiten vermeiden. Deswegen ist nach meiner Überzeugung die generelle Hinnahme der Mehrstaatlichkeit nicht der richtige Weg, wohl aber das partnerschaftliche Miteinander von deutschen und ausländischen Bürgern, die umfassende Förderung der Integration und die Einbürgerung von Ausländern, die Deutsche werden wollen. Denn daran, daß Ausländer, die sich seit langem in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten und auf Dauer hier bleiben wollen, die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben, damit sie nicht über Generationen hinweg von staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten ausgeschlossen bleiben, hat die Bundesrepublik Deutschland durchaus ein vitales Interesse.
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Meine Damen und Herren, natürlich liegt es auch an den hier lebenden Ausländern selbst, ob ihre Integration gelingt. Sie dürfen sich nicht isolieren und unter sich bleiben, sondern sie müssen ihrerseits auf die Deutschen zugehen und sich aktiv in unser staatliches und gesellschaftliches Leben einfügen. Es gilt auch, daß sich kein Ausländer von den abscheulichen Verbrechen einzelner in unserem Lande zu Gegengewalt verführen lassen darf. Nichts rechtfertigt Gewalt. Deswegen werden wir nicht zögern, auch die Mittel des Ausländerrechts gegen die Ausländer einzusetzen, die das Gastrecht in Deutschland mißbrauchen.
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Der innere Friede in unserem Lande kann nur gewahrt werden, wenn alle, Deutsche und Ausländer, daran mitwirken. Wir alle müssen weiter daran arbeiten, daß uns dies gelingt.
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Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Cornelia Schmalz-Jacobsen das Wort.
Herr Präsident! Meine Kollegen! Meine Kolleginnen! Von Fremdenfeindlichkeit, Ausländerhaß und Gewalt in Deutschland ist derzeit allenthalben die Rede, und Anlässe dazu gibt es in bedrückender Fülle. Die Ereignisse konfrontieren uns mit der nicht mehr wegzuleugnenden Tatsache, daß sich in den alten wie in den neuen Bundesländern ein Potential an Gewaltbereitschaft und an rechtsextremistischer Gesinnung verbirgt, an das lange niemand im Ernst geglaubt hat.
Es drängt sich der Eindruck auf, daß eine Fassade weggebrochen ist und daß etwas, das wir wohl als so etwas wie den festen Besitzstand unserer politischen Kultur angesehen haben, der Grundkonsens von Toleranz und Menschenwürde, nicht ganz so stabil ist, wie wir geglaubt haben. Dabei findet seit nahezu 40 Jahren Zuwanderung in die Bundesrepublik statt, also eigentlich in einem genügend langen Zeitraum, um Fremdheit und Vorbehalte zu überwinden.
Ich bin aber trotz allem ganz sicher, daß für die meisten Deutschen eine Bundesrepublik ohne die ausländischen Mitbürger, wie wir sie nennen, gar nicht mehr denkbar wäre,
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ebenso wie von vielen der Ausländer ein Leben außerhalb Deutschlands nicht mehr erwogen wird.
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Doch während die Integration am Arbeitsplatz meist gut funktioniert, während die gesellschaftliche Annäherung vor allen Dingen bei den jungen Ausländern weitgehend gelungen ist, bleibt die politische und auch die rechtliche Verankerung aus. Unser bisheriges Ausländerrecht verfestigt vielmehr in weiten Teilen - nicht überall, aber in weiten Teilen - dauerhaft den Zustand der Distanz zwischen Deutschen
und Ausländern. Es ist hohe Zeit, daran grundlegend etwas zu ändern.
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Ich will Ihnen gestehen, daß ich die Art und Weise der augenblicklichen Debatte zur doppelten Staatsbürgerschaft mit sehr gemischten Gefühlen verfolge. Wer sie nämlich als Schlüssel zur Beendigung der nächtlichen Brandschatzungen hochstilisiert, begibt sich mit seiner Argumentation auf die schiefe Ebene.
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Erleichterte Einbürgerung - urn diese geht es ja im Kern - und die Hinnahme von Doppelstaatsbürgerschaft sind keine Antworten auf Mölln, Solingen, Hattingen oder wohin die Blutspur noch geführt hat. Sie sind schlicht und einfach die längst überfällige Konsequenz aus der fast 40jährigen Migrationsgeschichte der Bundesrepublik.
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Ähnlich verhält es sich mit dem kommunalen Ausländerwahlrecht. Da wir es mit der Umsetzung des Vertrages von Maastricht innerhalb der Europäischen Gemeinschaft bekommen werden - nicht zu meiner großen Freude; das will ich überhaupt nicht unterschlagen -, müssen wir auch hier der Wirklichkeit ins Auge sehen. Wir können es um des inneren Friedens und um der Gerechtigkeit willen, meine Herren, meine Damen, nicht hinnehmen, daß u. a. die größte Gruppe der ausländischen Wohnbevölkerung, nämlich die Türken, dieses Recht nicht erhalten, wie lange auch immer sie bei uns sein mögen.
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Eine andere Bemerkung aus gegebenem Anlaß. Es werden zur Zeit hier und dort Überlegungen angestellt, wie man die Gruppe der Türken, denen die letzten Mordanschläge gegolten haben, herausheben und besondere Regelungen für sie finden kann. Das geht nicht gut, meine ich, so gut das auch gemeint ist. Die kurzfristige Bereitschaft, etwas für die Türken in Deutschland zu tun, darf nicht zur Schlechterstellung anderer Gruppen führen, die ebenso lange im Lande sind. Integration, liebe Kolleginnen und Kollegen, meint nämlich alle.
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Ich sehe ein Problem darin, daß in diesen Wochen alle nach Lösungen rufen, daß das Finden dieser Lösungen aber möglichst anderen überlassen bleiben soll und daß sie möglichst niemandem weh tun sollen. Wenn wir so verfahren, dann kratzen wir nur an der Oberfläche des Gewaltproblems.
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Es hilft nichts: Die Ereignisse der letzten beiden Jahre und der letzten Wochen zwingen uns zu einer kritischen Bestandsaufnahme. Wir haben einen großen Nachholbedarf, uns über den Standort Deutschlands in der neuen Offenheit in Europa klarzuwerden, und zwar nicht nur außenpolitisch. Der Veränderung
gerecht zu werden bedeutet auch, Spielregeln nach innen für die neue Lage zu finden. Wir brauchen eine Besinnung auf gemeinsame Ziele, auf einen Konsens und auch auf gemeinsame Tugenden. Ich habe allerdings Probleme mit dem Wort „Rückbesinnung". Denn wohin zurück sollen wir uns eigentlich besinnen?
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Ich kann das nur antippen. - Wir müssen ja der Lebenswirklichkeit gerecht werden.
Bei der Anhörung im Innenausschuß zum politischen Extremismus war immer wieder von der Vereinzelung in einer immer unübersichtlicheren Welt die Rede. Ich denke, das trifft für viele Menschen zu; aber dann brauchen wir Wege, die zu mehr Geborgenheit und emotionaler Stabilität führen. Ein Leben „in eigener Regie" zu führen ist eine Überforderung für einen jungen Menschen, der nie gelernt hat, was Verantwortung, was Mitgefühl und was Teilen bedeutet.
Lassen Sie mich noch zwei Bemerkungen zur Jugend machen. Die gewalttätige Jugend kommt nicht aus dem Nichts. Das sind keine Menschen von einem anderen Stern. Aber Gewalt pauschal als ein Problem der Jugend anzusehen und zu sagen, daß die Jugend insgesamt für Gewalt anfällig wäre, das wäre verhängnisvoll und falsch.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sind gerade Jugendliche, es sind gerade junge Leute, die uns, und zwar uns als Eltern und als Politiker, am allerverzweifelsten fragen: Was tut ihr eigentlich? Das ist doch nicht das Land, in dem wir leben wollen. - Jugendliche Straftäter, die in Cliquen auftreten und in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft ihre Opfer suchen, sind auch Zeichen für sittliche Verwahrlosung und Verrohung.
Wenn wir uns mit polizeilichen und strafrechtlichen Maßnahmen begnügen, dann werden wir an die Ursachen der Gewalt gegen Schwächere und gegen Ausländer nicht herankommen, und sie wird zum Dauerproblem werden. Eine freie Gesellschaft - das ist mein letzter Satz, Herr Präsident - lebt aus dem Respekt vor der Würde eines jeden in ihr. Wenn dieser Respekt verlorengeht, dann leiden alle darunter; dann leidet auch die Freiheit, in der wir leben wollen.
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Meine Damen und Herren, ich erteile nunmehr der Bundesministerin für Frauen und Jugend, Frau Dr. Angela Merkel, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte hat es heute gezeigt: Wir sind betroffen, wir müssen nach Wegen suchen. Wir haben auch gesagt: Jede Form von Aktionismus wird uns nicht weiterhelfen. Wir wissen, wir müssen etwas tun. Wir haben auch gesagt: Schuldzuweisungen sind nicht das Richtige. Trotzdem möchte ich erklären, damit die Debatte nicht zu sehr im Unverbindlichen bleibt: Es müssen konkrete Taten folgen.
Das erste für mich ist, daß der Staat mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die Gewalt bekämpfen muß.
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Es ist wichtig, daß der Staat dies mit aller Klarheit tut und sein Gewaltmonopol einsetzt, um jeder Form von Extremismus, rechts und links, gleichermaßen das Handwerk zu legen.
Es ist heute wieder davon gesprochen worden - ich bitte wirklich, daß wir uns das sehr genau überlegen -, dieser Staat täte gegen den Rechtsextremismus weniger als gegen den Linksextremismus. Ich finde, das ist eine ungeheure Unterstellung.
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- Ja, das muß ich gerade sagen.
Ich war in der letzten Woche auf dem Kirchentag in München. Dort gab es einen Stand für die politisch Verfolgten, hinter dem sich ein RAF-Stand verbarg. Daß so etwas außer dem RCDS fast niemandem aufgefallen ist, halte ich für einen Skandal.
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Ich habe mich mit den Beamten des Bundesverfassungsschutzes unterhalten und habe sie gefragt: Warum informieren Sie die Jugendämter nicht? Warum gibt es keine Kommunikation? Mir wurde daraufhin die lange Geschichte von Kontakten zwischen dem Bundesverfassungsschutz, Jugendämtern und Schulen erzählt, wo sozusagen gegen Beamte Disziplinarverfahren angestrebt wurden, weil sie sich angeblich in Bereiche eingemischt haben, wo der Staat in dieser Form nichts zu suchen hat. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Auch dies sollten wir alle gemeinsam diskutieren. Wir sollten uns keine Schuld zuweisen, aber wir sollten neue Wege beschreiten,
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weil wir heute wissen, daß wir den Bundesverfassungsschutz brauchen.
Ich halte es auch für richtig, daß durch Urteile klare Signale gesetzt werden. Bei den Tätern handelt es sich vor allem um junge Menschen.
Ich bitte auch, daß wir nun nicht mit einem großen Federstrich das Jugendstrafrecht und alle Erkenntnisse über den Haufen werfen.
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Denn ich denke, den Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht sollten wir weiter verfolgen.
Wir müssen uns einmal überlegen - das sage ich als Jugendministerin -: Was passiert denn mit den 16jährigen, wenn sie nach drei, vier, fünf, sechs Jahren Haft aus dem Gefängnis kommen? Dann sind sie vielleicht 22 Jahre alt. Wenn wir es nicht mit dem Erziehungsgedanken versuchen, diese jungen Menschen auf einen neuen Lebensweg zu führen, dann
werden wir keinen Erfolg haben. Dann haben wir Häftlinge auf Dauer. Das darf nicht unser Ziel sein.
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Deshalb müssen wir alles, was wir können, tun, um solche Jugendlichen, die gewaltorientiert sind, in unsere Gesellschaft zu integrieren, zurückzuführen.
Wer will eigentlich mit den rechtsorientierten Jugendlichen arbeiten? Viele haben dazu keine große Lust. Wir haben ein Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt. Ich habe viele Gespräche mit Kirchen geführt. Die Bereitschaft wächst, aber sie war nicht von vornherein da, weil man in dieser Jugendarbeit immer gefährliche Wege gehen muß. Auch das will ich sagen.
Ich will an dieser Stelle allen, die diese gefährlichen Wege gehen, danken, weil sie oft mit einem hohen Risiko leben, wenn sie mit rechtsorientierten Jugendlichen arbeiten. Ich kann das auf Grund meiner Besuche von vielen Projekten sagen.
Es gibt Jugendliche, die nicht straffällig sind, die aber eine Form von Gedankengut im Kopfe haben, wo mir die Haare zu Berge stehen. Trotzdem sage ich: Wir müssen versuchen, sie mit allem, was wir an Kraft zur Verfügung haben, zu integrieren.
Wenn wir diese Gewalt von Jugendlichen bekämpfen wollen, brauchen wir Prävention - das ist wichtig -, weiter brauchen wir dazu Strukturen der Jugendarbeit. Wir haben dafür ein neues Kinder- und Jugendhilfegesetz.
Heute ist von Herrn Klose ein bißchen lakonisch gesagt worden, da würde überall gestrichen. Nun muß ich erst einmal klarstellen: Auf Bundesebene wurde in den letzten Jahren nicht gestrichen. Ich kenne viele andere Orte, an denen ebenfalls nicht gestrichen wurde. Spätestens die Ereignisse, die wir jetzt erlebt haben, sollten uns zeigen: Prävention ist in jedem Falle besser, als daß wir in Aktionismus versuchen müssen, Schäden zu beheben.
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Es stellt sich die Frage: Wer sind denn die Täter? Wir vom Jugendministerium werden in Kürze in einer Studie vorstellen, daß die Täter nicht so einfach in ein asoziales Milieu einzuordnen sind.
Seien wir ehrlich, wir kennen alle die Biographien der wahrscheinlichen Täter von Solingen. Es sind zwei dabei, die aus unserer Mitte kommen. Der eine ist ein Handwerkersohn, der andere ist ein Arztsohn. Alle, die sie kennen, sagen: unauffällige, normale Familien.
Deshalb, denke ich, müssen wir viel von jungen Menschen sprechen. Aber wir müssen vor allen Dingen - das ist heute angeklungen - auch von Erwachsenen sprechen. Es sind unsere Kinder. Es sind Kinder aus Schichten, die wir nicht einfach in eine asoziale Ecke drängen können.
Deshalb müssen wir uns - alle Erwachsenen in diesem Lande, die Politiker ganz besonders - fragen: Wie gehen wir mit unseren Kindern um?
Da stehe ich schon vor erheblichen Phänomenen. An vielen Stellen wird erklärt: Es sind die sozial Benachteiligten. Ich muß Ihnen sagen: Wenn es soziale Schwierigkeiten gibt, müssen wir sie natürlich politisch beheben. Wir können aber nicht anfangen, Gewalt zu legitimieren, weil es angeblich soziale Probleme gibt.
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Wir in der Bundesrepublik Deutschland haben ein Wohlstandsniveau, das seinesgleichen auf dieser Welt sucht. Wenn wir unsere Gewaltprobleme auf diese Art und Weise zu erklären beginnen, dann greifen wir zu kurz. Ich möchte natürlich nicht dagegen sprechen, daß wir soziale Spannungen beheben müssen.
In einer Gesellschaft, in der wir immer mehr Freizeit haben, verbringen wir offensichtlich immer weniger Zeit mit unseren Kindern. Welche Kommunikation gibt es denn zwischen den verschiedenen Generationen?
Versuchen wir nicht, Jugendpolitik und Arbeit mit Jugendlichen so, wie wir die Älteren bereits in eine Ecke gedrängt haben, in eine andere Ecke zu drängen? Wir sollten nicht sagen: Hier habt ihr ein paar Sozialarbeiter. Nun laßt uns zufrieden! Und bitte keine laute Musik im Wohngebiet und schon gar nicht am Samstagabend.
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Ich glaube, daß die Kinder mehr, als wir denken, auf uns Erwachsene schauen, daß sie von uns Orientierungen verlangen. Sie wollen aber keine autoritäre Erziehung mehr, sondern sie wollen gelebte Autorität. Ob wir das in jedem Falle leisten können, das ist sehr kritisch zu hinterfragen.
Nun ist heute davon gesprochen worden, daß natürlich der Staat kompensatorisch dort eingreifen muß, wo die Familien ihren Aufgaben nicht entsprechen können. Das ist richtig.
Trotzdem, denke ich, ist es ganz wichtig, daß wir die Frage stellen: Wer ist denn zuvörderst für die Erziehung der Kinder verantwortlich? Die Erziehung geschieht in der Familie, ob durch einen alleinerziehenden Elternteil oder in der Familie mit zwei Elternteilen oder bei der Großmutter. Wir täten schlecht daran, zu sagen: Das wird jetzt irgendwie verändert. Familien sind zuvörderst für die Erziehung der Kinder verantwortlich.
Über die Schulen ist vieles gesagt worden, über die Aufgabe der Jugendpolitik natürlich auch. Wir versuchen, hier mit vielfältigen Angeboten wirklich voranzukommen.
Ich möchte noch ein Wort zu den freiwilligen Angeboten im Kinder- und Jugendhilfegesetz - wie es immer so schön heißt - sagen. Die angemessene Ausstattung mit bestimmten Angeboten im Rahmen der Jugendpolitik ist keine freiwillige Aufgabe. Vielmehr läßt diese Formulierung der Selbstverwaltung der Kommunen zwar einen bestimmten Spielraum, sie entläßt sie aber in keiner Weise aus der Verantwortung.
Ich möchte noch ein Wort zu der Integration unserer ausländischen Jugendlichen sagen. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz macht keinen Unterschied zwischen ausländischen und deutschen Jugendlichen. Wir versuchen, das in unserer Jugendarbeit zu verwirklichen. Aber es gelingt uns schlecht. Warum gelingt es uns an vielen Stellen schlecht?
Schauen wir uns einmal an, in welcher Zahl die türkischen oder ausländischen Jugendlichen in unseren Schulen vorkommen: Nur jeder 16. der bei uns lebenden türkischen Schüler geht auf ein Gymnasium. Nur jeder 21. ist ein Student. Weite Angebote unserer Jugendarbeit richten sich an die Interessierten, an die Engagierten. Das sind oft die Gymnasialschüler, die sehr viel leichter die Angebote finden.
Deshalb ist meine Aufforderung: Wenn wir die Integration leisten wollen, müssen wir sowohl in den Hauptschulen als auch in den Grundschulen eine bessere Ausstattung mit Lehrern haben. Dann haben eben die Gymnasialklassen vielleicht drei Schiller mehr und dafür die Hauptschulklassen drei Schüler weniger. Ich halte das für richtig.
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In derselben Weise muß es uns gelingen, die Angebote der Jugendarbeit von Bund, Ländern und Kommunen für alle Jugendlichen verfügbar zu machen, auch für diejenigen, die nicht zur oberen Hälfte des Bildungsniveaus gehören.
Lassen Sie mich zum Schluß sagen - meine Zeit ist abgelaufen -: Wir müssen als Politiker beispielhaft für alle Erwachsenen in diesem Lande den Kontakt zu ausländischen Menschen suchen. Wir müssen zeigen, daß wir die Integration wirklich wollen. Dann werden wir reicher werden, und unser Land wird vielleicht wieder fremdenfreundlicher, als es heute erscheint.
Herzlichen Dank.
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Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch das Wort.
Frau Minister Merkel, nach dem, was Sie gesagt haben, ist keineswegs Ihre Zeit abgelaufen, sondern allenfalls Ihre Redezeit.
Wir wollen ein ausländerfreundliches Land sein. Das haben wir auch heute immer wieder beschworen. Sind wir es wirklich? Gegen Morde, Brandstiftungen, gegen das Zusammenschlagen von Ausländern und Obdachlosen sind hohe Strafen angedroht. Da ist die eine oder andere Verbesserung denkbar. Sie ist aber nicht eine Frage der Gesetzgebung, sondern der Alltagswirklichkeit unserer Polizei. Darüber werden wir hier in absehbarer Zeit Klartext reden müssen. Mit der Polizei und der Justiz kann man Symptome bekämpfen - das ist wichtig -, aber die Ursachen der Gewalt können sie nicht beseitigen.
Die ganz überwiegende Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert die bei uns lebenden Ausländer, jedenfalls solange sie sich unseren Verhaltensweisen anpassen
und solange sie nicht als Wettbewerber empfunden werden. Der ausländische Spitzensportler, der Opernsänger oder der Bankkaufmann haben weniger Probleme als die türkische Frau mit dem Kopftuch, die ein Recht auf ihre kulturelle Identität hat. Auch eine deutsche Frau würde es sich energisch verbitten, wenn man ihr vorschreiben wollte, was sie auf dem Kopf zu tragen habe. Das ist nicht viel anders als auch in anderen europäischen Ländern.
Rechtsradikalismus und ausländerfeindliche Gewalttaten haben einen gemeinsamen politischen Hintergrund, auch wenn sie nicht gemeinsam organisiert sind; das muß man aussprechen. Immer wieder sind in Hetzschriften, in billigen Redensarten und in Witzen Ausländer zu Sündenböcken für Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und für die Ausbeutung unserer Sozialsysteme gestempelt worden. Es gibt wieder Schreibtischtäter, die solche Schriften verfassen und verbreiten, die Angst schüren wollen und es tun. Auch die Bürger sind nicht viel besser, die diese Verbreitung hinnehmen oder sonst fest ihre Augen und Ohren verschließen, weil es bequem ist.
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Wettbewerb erzeugt Angst bei denen, die fürchten zu unterliegen. Das verleitet dazu, Gewalt zu üben oder bei den Tätern den Eindruck zu erwecken, sie würden insgeheim unterstützt. Die Angst dieser Deutschen vor Ausländern bewirkt die Angst der Ausländer vor uns. Dieser Kreis muß durchbrochen werden. Das mag in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten besonders schwer sein, aber es ist notwendig; dazu reichen Beschwörungen und gute Worte nicht aus.
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Dazu gehört eine Ausländerpolitik, die darauf Rücksicht nimmt, daß die Integrationslasten in unserer Gesellschaft unterschiedlich verteilt sind. Der Wettbewerb um Bildung, Wohnung und Arbeit ist an den Universitäten, in den Direktionsetagen und in den teuren Wohnvierteln geringer als anderswo.
Die Überwindung von Angst setzt bessere Kenntnis voraus. Darum brauchen wir eine bessere Information einer breiten Öffentlichkeit über die kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Beiträge der bei uns lebenden Ausländer. Da wird viel getan, aber nichts Überzeugendes.
Perspektivlosigkeit, Angst vor sozialem Abstieg, fehlende Erziehung oder mangelnde Ausbildung sind Nährboden für Gewalt. Insbesondere der jungen Generation müssen durch wirksame Bildungsangebote und durch intensive Jugendarbeit bessere Entwicklungsmöglichkeiten geboten werden. Die bisher dazu erbrachten Leistungen reichen nicht aus. Ich habe mit großem Interesse gehört, was Frau Ministerin Merkel heute dazu gesagt hat. Das gibt Hoffnung.
Die bei uns lebenden Ausländer müssen als Bürger dieses Landes ernst genommen werden. Dazu gehört die drastische Erleichterung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit, insbesondere dann, wenn der Ausländer hier geboren worden ist, und dann, wenn er seine bisherige Staatsangehörigkeit nicht
aufgeben will. Wie können wir von ihm verlangen, daß er die Brücken hinter sich abbricht, wenn wir nicht sicher sein können - und vor allen Dingen er nicht sicher sein kann -, daß er von uns auch wirklich akzeptiert wird?
({2})
Ich erkenne hier den guten Willen, das Staatsangehörigkeitsrecht zu reformieren, eine Einigkeit habe ich aber nicht festgestellt.
Zur Integration gehört auch die Mitwirkung an der politischen Willensbildung. Wir sollten bedenken, daß Ausländer schon von Anfang an das aktive und passive Wahlrecht zu den Betriebsräten und den Personalvertretungen haben. Wer ihnen kein Wahlrecht geben will, hat jedenfalls keinen Grund, nicht wenigstens die Mitwirkungsmöglichkeiten der kommunalen Ausländerbeiräte drastisch zu verstärken.
Schließlich brauchen wir ein entschlossenes Vorgehen gegen diejenigen, die mit Worten und Handlungen Gewalt ausüben. Das kann weder von Deutschen noch von Ausländern hingenommen werden.
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Wir haben manche Gefährdung unseres Staates abgewehrt. Wir müssen auch diesmal begreifen, daß die Bedrohung nicht nur einzelnen Fremden oder einzelnen Außenseitern unserer Gesellschaft gilt. Die Täter - das ist mehrfach gesagt worden - sind die Kinder unserer Gesellschaft, und die Bedrohten sind wir selbst.
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Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Krause ({0}).
Dr. Rudolf Karl Krause ({1}) ({2}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, daß Fremdenfeindlichkeit Teil einer allgemeinen Menschenverachtung und Menschenfeindlichkeit ist. Wer seinem Ehepartner gegenüber treusorgend bleibt bis ans Ende, wie er es einst versprochen hat, wer sich um seine Kinder kümmert, wessen Kinder mit 15 und mit 20 Jahren an jedem Wochenende mit ihren Freunden nach Hause kommen, wer Achtung vor der eigenen Nation hat, hat auch Achtung vor dem Fremden, hat auch Achtung vor anderen Völkern. Fremdenfeindlichkeit beginnt da, wo die eigenen Bindungen in der Familie und im eigenen Volk vernachlässigt werden.
Ich habe mich über weite Strecken sehr darüber gefreut und kann mich mit dem identifizieren, was der Innenminister und was Frau Minister Merkel gesagt haben; ich habe mit verständnisvollem Interesse auch einigem von dem zugehört, was Herr Klose gesagt hat.
Ich möchte hier betonen: Es gibt eine Presseerklärung vom 31. Mai 1993, die besagt, daß die Republikaner die Mordtat von Solingen auf das schärfste veurteilen. Wer wider besseres Wissen behauptet, es bestünden dort Zusammenhänge, vielleicht gar noch mit den Familien, die genannt worden sind, sagt bewußt die Unwahrheit. Gerade die Zeitungsäußerungen von Herrn Minister Blüm und vom Grafen Lambsdorff haben das ganze Gegenteil bewirkt. Mein Telefon steht nicht still. Leute wollen wissen: Was wollt ihr eigentlich, was schreibt ihr, wieso macht man euch solche Vorwürfe? - Es gehört zur Menschenwürde, daß man auch deutsche Gruppen nicht pauschal verunglimpft. Es ist nicht notwendigerweise kriminalitätsfördernd, wenn man patriotisch ist.
Viele in der CDU, viele in der CSU, in der alten SPD lieben ihr deutsches Vaterland noch heute. Viele, die ich kennengelernt habe, lieben es genauso.
Zur Frage der Pflichten. Wir alle haben gleiche Rechte und Pflichten. Ich möchte aber darum bitten, daß ein Europa, das wirtschaftlich alles harmonisiert, auch eine Rechtsharmonisierung bringen muß. Ich vermisse die Verantwortungsgemeinschaft Europa. Es kann nicht sein, daß die Presse schweigt, wenn andere Länder ihre Grenzen dichtmachen, aber uns, die wir mit Recht stolz auf unsere Ausländerfreundlichkeit sind - wir haben die Zahlen gehört - und nach meßbarem Ergebnis das ausländerfreundlichste Land sind, dafür verunglimpft.
Staatsbürger haben nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Auch der Staat hat Pflichten gegenüber seinen Staatsbürgern. Ich habe mich in Vorbereitung auf diese Etappe mit Griechen, mit Türken und mit anderen Muslimen unterhalten. Was würde es bedeuten, wenn nicht nur die männlichen Türken, sondern auch die türkischen Frauen und Mädchen unsere deutschen Staatsbürgerrechte hätten? Der Staat müßte ihnen dieselben Rechte garantieren, die auch die deutschen Mädchen haben. Er müßte dafür sorgen, daß sie vorehelich wen auch immer lieben dürften, ohne von ihrer Familie, von ihren Vätern und Brüdern entsprechend ausgegrenzt - das ist noch ein bescheidenes Wort - zu werden. Der Staat müßte z. B. garantieren, daß bei einer Ehescheidung, - bei der die türkische Frau mit deutschem Paß das Sorgerecht erhält, die Kinder der türkischen Familie notfalls mit Gewalt nach Deutschland kommen. Wer spricht darüber, was an Pflichten auf uns zukommt?
Wer Bürger der USA wird, leistet quasi einen Fahneneid. Er hat in der Vergangenheit im Kriegsfalle auch gegen sein Mutterland kämpfen müssen. Wir müssen uns überlegen, was wir für Rechte und was wir auch für Pflichten abfordern müssen, nicht nur von den bisherigen ausländischen Bürgern - falls sie deutsche Staatsbürger werden -, sondern auch vom deutschen Staat, was er dann an einklagbaren Rechten als Bringepflicht des Staates gegenüber diesen Menschen leisten muß.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Ortwin Lowack.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland ist eigentlich ein sehr gastfreundliches Land. Die Mordtaten von Solingen und Mölln sowie die übrigen Anschläge sind eigentlich überhaupt nicht typisch für die Deutschen. Bis zum Ersten Weltkrieg waren sie überhaupt nicht bekannt. Gerade das Verhältnis zur
Türkei war ja immer von einer großen Freundschaft geprägt. Kein Land hat so viel Einfluß auf die moderne Türkei und ihre Entwicklung gehabt wie Deutschland. Auch die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg waren von dieser Fremdenfreundlichkeit geprägt.
So müssen wir uns doch einmal fragen: Was ist eigentlich passiert, daß nicht nur jugendliche Wirrköpfe und Kriminelle, sondern auch viele Bürger, die eigentlich ein sehr positives Verhältnis zum Staat haben und die nicht extrem sind, Probleme mit bestimmten Ausländern haben? Hier beginnt ja bereits der Zwang zur Unterscheidung, wenn wir Ausländer mit Ausländern gleichsetzen. Wir müssen differenzieren. Hier geschehen die größten Dummheiten.
Wenn die Politik nur repressiv reagiert und nur die eigene Bevölkerung beschimpft, bleibt sie oberflächlich und wird mit Sicherheit keinen Erfolg haben. Viele Menschen bei uns haben Angst. Sie haben Angst vor einer Überfremdung - auch wenn die Politik dieses Wort nicht anerkennen will oder bessere Vorschläge sogar unterläßt. Man kann das nicht einfach zur Seite schieben; denn verbunden ist das gleichzeitig mit einem Identitätsverlust dessen, was die Deutschen von sich selber zu halten haben, woran sie sich orientieren.
Jetzt möchte ich Sie, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, fragen: Wo bietet eigentlich die Politik den Deutschen an, sich zu identifizieren, daß jemand in Deutschland mit einem bestimmten notwendigen Bewußtsein lebt, auch mit einer bestimmten positiven Emotion, die wir dringend brauchen, um mit den anstehenden Problemen fertigzuwerden? Warum tut die Politik nichts gegen eine unglaublich hochschnellende Ausländerkriminalität? Wer heute im Auswärtigen Ausschuß war, der hat die Zahlen noch einmal gehört: 75 % der Taschendiebstähle und 55 % des Kokainhandels gehen auf das Konto von Ausländern. Über 40 % der heranwachsenden Straftäter sind Ausländer. Warum soll die Mordtat von Solingen dazu berechtigen, daß Tausende von Türken oder Chaoten auf die Straße gehen und Tausende von Fensterscheiben zerschlagen und sich am Eigentum anderer vergreifen?
Vor dem Hintergrund der überbordenden Staatsverschuldung und Zukunftsbelastung muß ich einfach feststellen: Die zunehmende Radikalisierung ist eben doch eine Reaktion auf die Hilflosigkeit der Regierung, auf Scheinlösungen, auf ein Aufschieben von Problemen, auf chronische Krankheiten, die die Politik zum Großteil selber verursacht hat.
Statt zu heilen, werden dem Patienten Beruhigungsmittel, Beschwichtigung, Rechtfertigung, Rhetorik, Zynismus, Verdrängen, Abstempeln, Beleidigungen und Dauerpalaver angeboten. Der Bundeskanzler verlangt neue Wege. Er mahnt sie an. - Ja, wie stellt er sich das denn vor? Soll da eine Art Gehirnwäsche stattfinden? Oder was möchte er eigentlich mit der Bevölkerung machen? Wenn es ihm gelänge, anzupacken, daß 6,3 Millionen registrierte Vergehen und Verbrechen mit steil aufstrebender Tendenz bekämpft würden, daß die Arbeitslosigkeit bekämpft würde - 33 % der Jugendlichen in den
neuen Bundesländern sind arbeitslos -, daß wir die Rezession in den Griff bekommen, daß wir die Staatsverschuldung in den Griff bekommen und daß die Unsicherheit, was die Zukunftserwartung betrifft, bekämpft wird, dann würde er Lösungen anbieten, die es uns erlauben, wirklich die Probleme bei der Wurzel zu packen.
Wir werden sonst erleben - ich hatte es hier bereits gesagt -, daß es „deutsche Verhältnisse" sind, wenn der Staat nicht mehr in der Lage ist, diese Probelme zu lösen. Man spricht heute bereits von Machtversessenheit, der Bundespräsident von Machtbesessenheit. Viele sprechen bereits von Machtverkommenheit. Ich möchte es ganz einfach sagen: Ich halte es für Perspektivlosigkeit einer in Kernfragen der deutschen Politik abgewirtschafteten, inhaltsleeren, geistig erschöpften Regierungsspitze. Die heutige Regierungserklärung hinterläßt erneut Ratlosigkeit statt Perspektive, Hoffnungslosigkeit statt Zukunftserwartung und Leere statt Konzeption. Ich möchte Sie fragen: Wie lange noch wollen wir uns das so bieten lassen?
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Der Abgeordnete Freimut Duve hat mich gebeten, Ihre Zustimmung einzuholen, daß er seine Rede zu Protokoll geben kann.*) Ist das Haus damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Das ist offensichtlich der Fall. Dann darf ich das als beschlossen feststellen.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Jürgen Rüttgers zur Geschäftsordnung das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben verschiedene Anträge - u. a. einen Antrag der SPD-Fraktion - vorliegen. Wir haben uns diesen Antrag sehr gut angesehen und beantragen, ihn in den zuständigen Ausschuß zu überweisen.
Ich will kurz sagen, warum: Wir wollten diesen Antrag hier heute - auch gerade nach dieser Debatte - nicht einfach ablehnen, weil wir glauben, daß man darauf aufbauen kann. Es gibt viele Punkte, bei denen es Konsens im Hause gibt. Wir sind zwar als Koalition der Auffassung, daß man den Formulierungen, die hierin enthalten sind, generell zustimmen kann, z. B. daß es notwendig ist, rechtsextremistische Gruppen und Organisationen zu bekämpfen; daß es notwendig ist, geeignete präventive Maßnahmen zu finden; daß es notwendig ist, die Polizeipräsenz zu erhöhen. Nur glauben wir, daß es in dieser Situation richtig ist, daß der Deutsche Bundestag nicht nur sagt, was er will, sondern auch, wie er es machen will.
Daran, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir arbeiten. Deshalb sollten wir uns diesen Antrag im Ausschuß gemeinsam vornehmen
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und dann konkret sagen, welche Konsequenzen wir ziehen wollen. Ich glaube, das ist der richtige Weg. Deshalb stellen wir den Antrag auf Überweisung.
Vielen Dank, Herr Präsident.
*) Anlage 5
Ich erteile dem Abgeordneten Verheugen ebenfalls zur Geschäftsordnung das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident!
Herr Kollege Rüttgers, ich habe gerne gehört, was Sie gerade gesagt haben, nämlich daß Sie in unserem Antrag viel Zustimmenswertes finden. Trotzdem bitten wir das Haus, über unseren Antrag jetzt zu entscheiden, weil wir es für dringend erforderlich halten, daß der Deutsche Bundestag gerade nach dieser Debatte ein Zeichen seiner Entschlossenheit setzt, gegen Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit vorzugehen, nicht aber erst in Ausschüssen noch lange zu beraten, was vielleicht geschehen könnte.
Jetzt und hier ist die Stunde, wo der Bundestag seine Meinung sagen muß.
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Dem Wunsch der Abgeordneten Rüttgers und Verheugen komme ich insoweit nach, als ich über den Antrag der SPD auf Drucksache 12/5124 abstimmen lasse. Aber es gehört zur ständigen Übung des Hauses, daß zunächst über den Überweisungsantrag abgestimmt wird.
Wer mit der Überweisung, sowie sie von dem Abgeordneten Rüttgers vorgeschlagen wurde, einverstanden ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Überweisung beschlossen, und eine weitere Abstimmung erübrigt sich.
Meine Damen und Herren, es ist beantragt, den Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/5125 zur federführenden Beratung an den Innenausschuß und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß, an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft sowie an den Rechtsausschuß zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Das ist offensichtlich der Fall. Dann kann ich auch das als beschlossen feststellen.
Wir kommen nunmehr zum Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/5135. Hier ist eine Überweisung an den Innenausschuß beantragt. Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? - Das ist nicht der Fall. Ist das Haus mit der Überweisung einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann stelle ich die Überweisung als beschlossen fest.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunktes.
Wir kommen zur
Fragestunde ({0})
- Drucksache 12/5104 Ich möchte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die nicht an der Fragestunde teilnehmen wollen,
bitten, den Saal schnell zu verlassen, damit die notwendige Ruhe hergestellt wird; denn wir sind schon in erheblichem Zeitverzug.
Meine Damen und Herren, ich höre gerade, daß aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern noch die Frage 13 des Abgeordneten Benno Zierer übriggeblieben ist. Er hat uns aber gerade mitgeteilt, daß er um schriftliche Beantwortung gebeten hat. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ebenfalls um schriftliche Beantwortung haben die Abgeordneten Dr. Rainer Jork und Jürgen Augustinowitz gebeten. Es handelt sich dabei um die Fragen 14, 15 und 16. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit ist dieser Geschäftsbereich beendet.
Ich komme zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Hier steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 17 des Abgeordneten Martin Göttsching auf:
Kann die Bundesregierung darüber Auskunft geben, weshalb die für 1990 zugesicherte Steuerbefreiung für reprivatisierte Betriebe nur Alteigentümern gewährt wird, und die Rechtsnachfolger nur dann Anspruch auf Steuerbefreiung haben, wenn der Alteigentümer bereits verstorben ist?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Schönen Dank, Herr Präsident.
Herr Kollege Göttsching, § 3 Abs. 1 der 1. Durchführungsverordnung zum Gesetz über die Gründung und Tätigkeit privater Unternehmen und über Unternehmensbeteiligungen vom 8. März 1990 hat die Gewinne der in den §§ 17 bis 19 des gleichnamigen Gesetzes vom 7. März 1990 genannten Unternehmen bzw. die Einkommen ihrer Gesellschafter für die ersten zwei Jahre ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit steuerfrei gestellt. Diese Steuerbefreiung beschränkt sich auf das Jahr 1990, da die §§ 17 bis 19 dieses Gesetzes sowie die dazu ergangenen Anweisungen durch den Einigungsvertrag aufgehoben und die übrigen Bestimmungen nicht in den Katalog fortgeltenden Rechts der DDR aufgenommen worden sind.
Nach der Auslegung dieser Vorschriften im BMF-Schreiben vom 26. November 1991 erhalten die Steuerbefreiung zum einen alle Unternehmen, die auf Grund des Beschlusses des Präsidiums des Ministerrates der ehemaligen DDR vom 9. Februar 1972 in Volkseigentum überführt worden sind, und zum anderen alle Unternehmen, die ihren ehemaligen Eigentümern oder deren Erben auf der Grundlage der §§ 17 bis 19 des genannten Gesetzes zurückgegeben worden sind. Zu diesem Personenkreis gehören nach der zwischen Bund und Ländern abgestimmten Verwaltungsauffassung nicht andere Gesellschafter, die in zeitlichem Zusammenhang mit der Reprivatisierung oder später in die Gesellschaft eingetreten sind oder eintreten, und zwar auch dann nicht, wenn es Angehörige der ehemaligen Eigentümer, aber nicht deren Erben sind.
Eine mögliche Änderung der Verwaltungsregelung bedarf einer Erörterung mit den obersten Finanzbehörden der Länder. Ich bin sehr gerne bereit, die Frage an die Länder heranzutragen, und bin ebenso gerne bereit, Sie über das Ergebnis dieser Beratungen zu unterrichten.
Zusatzfrage? - Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, würden Sie einen Sohn als berechtigten Erben ansehen?
Die Stellung als Erbe richtet sich nach den bürgerlichrechtlichen Vorschriften. Vom Grundsatz her ist ein Verwandter erster Ordnung Erbe.
Weitere Zusatzfragen wollen Sie nicht stellen? - Danke schön.
Herr Staatssekretär, ich habe ein Problem. Der Abgeordnete Dr. Klejdzinski ist nicht im Saal. Das mag sich daraus erklären, daß sich die Situation zeitlich ein wenig verschoben hat. Ich denke, wir können unterstellen, daß der Kollege Dr. Klejdzinski mit einer schriftlichen Beantwortung seiner Fragen 18 und 19 einverstanden ist. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich darf dann folgendes bekanntgeben: Die Frage 20 der Abgeordneten Frau Dr. Elke Leonhard-Schmid und die Frage 21 des Abgeordneten Dietrich Austermann sollen auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ebenso sollen die Frage 22 des Abgeordneten Rolf Schwanitz und die Fragen 23 und 24 des Abgeordneten Hans-Eberhard Urbaniak - es handelt sich dabei um Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft - auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe jetzt den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung auf. Zur Beantwortung steht der Staatssekretär Rudolf Kraus zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 28 des Abgeordneten Horst Kubatschka auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung Bestrebungen in den USA, die Grenze für Produkte, die von Kindern hergestellt werden, mit der Begründung zu schließen, der Einsatz von Kindern verstoße gegen die Mindestalter-Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation von 1973, und ist sie bereit, auf EG-Ebene entsprechend aktiv zu werden?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung unterstützt mit Nachdruck alle Bestrebungen, die geeignet sind, die Kinderarbeit in zahlreichen Ländern systematisch und wirksam zu bekämpfen. Wir können Kinderarbeit am Ende des 20. Jahrhunderts nicht mehr dulden. Die Bundesregierung hat deshalb 1990 der Internationalen Arbeitsorganisation Sondermittel in Höhe von jährlich bis zu 10 Millionen DM - begrenzt zunächst auf fünf Jahre - als ihren Beitrag zugesagt. Die IAO verwendet diese Mittel zur Durchführung eines internationalen Programms zur Beseitigung der Kinderarbeit, auf das ich in meiner Antwort auf Ihre zweite Frage noch näher eingehen werde.
Allerdings sieht die Bundesregierung in einem Boykott von Produkten, die von Kindern hergestellt wurden, kein geeignetes Mittel, um die Einhaltung des IAO-Übereinkommens Nr. 138 über das Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung aus dem Jahre 1973 durchzusetzen. Unter den 42 Staaten, die dieses Übereinkommen bisher ratifiziert haben - und nur von solchen Staaten kann seine Einhaltung international eingefordert werden -, sind weniger als die Hälfte Staaten der Dritten Welt: jeweils neun aus Afrika und Mittel- und Südamerika und zwei aus dem Nahen Osten, aber keiner aus Asien und dem pazifischen Raum. Unter allen Vertragsstaaten gehört nur einer, nämlich Kenia, zu denen, in denen die Kinderarbeit eine wesentliche Rolle spielt, was nicht heißt, daß sie in anderen Vertragsstaaten nicht auch vorkommt. In diesem Land sind zudem Kinder nicht in nennenswertem Umfang mit der Herstellung von für den Export bestimmten Produkten beschäftigt.
Aus den vorgenannten Gründen erscheint auch eine Aktivität im EG-Rahmen nicht sinnvoll, zumal drei EG-Mitgliedstaaten - wie übrigens auch die USA - das Übereinkommen Nr. 138 ebenfalls nicht ratifiziert haben.
Zur Ihrer zweiten Frage: Die Bundesregierung hat, wie in meiner Antwort auf Ihre erste Frage bereits kurz erwähnt -
Entschuldigung, Herr Staatssekretär. Wollen Sie jetzt zur Frage 29 des Abgeordneten Horst Kubatschka kommen?
Wenn das gewünscht wird, ja.
Dann müssen wir jedenfalls die Form wahren und die Frage 29 des Abgeordneten Kubatschka aufrufen:
Wird sich die Bundesregierung dafür einsetzen, auf internationaler Ebene Kinderarbeit verstärkt zu ächten und in den Ursprungsländern die sozialen Gründe für Kinderarbeit zu beseitigen?
Herr Abgeordneter Kubatschka, Sie haben dann das Recht zu vier Zusatzfragen. Sind Sie damit einverstanden? - Sie sind einverstanden.
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Die Bundesregierung hat, wie in meiner Antwort auf ihre erste Frage bereits kurz erwähnt, durch die Zurverfügungstellung von Sondermitteln an die IAO diese Organisation in die Lage versetzt, mit dem Programm zur Beseitigung der Kinderarbeit das umfangreichste Vorhaben, das dort je mit Mitteln eines einzigen Gebers durchgeführt wurde, in Angriff zu nehmen. Ziel des Programms ist es, Kinder, die in Fabriken, in der Landwirtschaft und im Dienstleistungsbereich
arbeiten, aus oft gefährlichen und gesundheitsschädlichen Arbeiten herauszulösen, sie an eine Schulausbildung und an regelmäßigen Schulbesuch heranzuführen und auf eine spätere Berufstätigkeit vorzubereiten. Flankierend hierzu werden in den Empfängerländern bewußtseinsbildende Maßnahmen in maßgeblichen politischen und gesellschaftlichen Kreisen und Ausbildungsaktivitäten für Arbeitsinspektoren durchgeführt.
Die Bundesregierung ist sich darüber im klaren, daß Kinderarbeit nur dann nachhaltig bekämpft werden kann, wenn auch energische Schritte zur Bekämpfung ihrer sozialen Ursachen - Verarmung und Arbeitslosigkeit der Eltern der zur Arbeit gezwungenen Kinder-unternommen werden. Die Entwicklungspolitik der Bundesregierung ist darauf ausgerichtet, daß die aufgewandten Mittel die betroffene Bevölkerung in den Empfängerländern auch tatsächlich erreichen können.
Herr Abgeordneter Kubatschka, Sie haben jetzt vier Zusatzfragen.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär, stimmen Sie nicht mit mir überein, daß die wirksamste Methode zur Beseitigung der Kinderarbeit ein Importverbot von durch Kinderarbeit hergestellten Waren wäre, wie es in den USA geplant ist?
Ich stimme damit nicht überein, weil wir nicht sehen können, wie wir das Ziel, diesen Ländern Exportchancen zu geben, damit erreichen können, daß wir Produkte boykottieren. Bei einem großen Teil dieser Produkte wird eben nicht ohne weiteres kenntlich gemacht werden können, daß sie aus Kinderarbeit stammen. Man müßte den Boykott dann schon sehr umfassend durchführen, was aber zur Folge hätte, daß gerade das nicht eintritt, was diese Länder nötig hätten, nämlich Geld zu bekommen.
Zusatzfrage? - Bitte schön.
Wäre nach Ihren Ausführungen die Bundesregierung denn bereit, in den betreffenden Entwicklungsländern beim Aufbau eines verläßlichen Kontrollsystems mitzuwirken, um die Kinderarbeit zu kontrollieren?
Ich halte es natürlich generell für denkbar, daß eine solche Kontrolle durchgeführt wird. Ich halte auch eine Kennzeichnung für möglich. Ich sehe aber nicht, wie ein solches Kontrollsystem in absehbarer Zeit aufgebaut werden kann, da dafür die Mithilfe der betreffenden Länder zwingend erforderlich ist. Ich sehe insbesondere nicht, wie eine Umgehung des Kontroll- und Kennzeichnungssystems vermieden werden kann, wie verhindert werden kann, daß Produkte aus Kinderarbeit dennoch in den Handel gebracht werden.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, in Indien z. B. laufen Aktionen, die Kinderarbeit durch Erwachsenenarbeit zu ersetzen. Die Produkte sind deswegen nicht zu teuer und es werden Arbeitsplätze für Erwachsene geschaffen mit der Folge, daß Kinder von unwürdiger Arbeit befreit werden. Wäre es nicht vernünftig, gerade da aktiv zu werden?
Alles, was der Bekämpfung der Kinderarbeit dient, also auch die Umstellung von Kinderarbeitsplätzen auf Arbeitsplätze für Erwachsene, wird von uns, soweit das möglich ist, sicherlich in vollem Maße unterstützt.
Sie haben das Wort zu einer weiteren Zusatzfrage, Herr Kubatschka.
Welche Möglichkeiten sehen Sie in der Entwicklungshilfe, darauf einzuwirken, daß Kinderarbeit eingedämmt wird?
In der Entwicklungshilfe werden wir die Förderung von Projekten regelmäßig an Bedingungen knüpfen, die ausschließen, daß Kinderarbeit in irgendeiner Weise gefördert oder auch nur in Kauf genommen wird.
({0})
Weitere Zusatzfragen werden nicht gestellt.
Herr Staatssekretär, die Abgeordnete Erika Reinhardt hat gebeten, ihre Fragen 30 und 31 schriftlich zu beantworten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich darf mich abschließend bei Ihnen bedanken.
Ich rufe jetzt den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf. Herr Staatssekretär Dr. Wieczorek steht zur Verfügung.
Ich habe folgendes Problem: Wenn ich es richtig sehe, befindet sich keiner der Fragesteller im Saal. Das ist darauf zurückzuführen, daß wir eine völlig zeitverschobene Debatte haben.
Wenn das Haus einverstanden ist, Herr Staatssekretär, unterstellen wir ausnahmsweise, daß schriftliche Beantwortung gewünscht ist. Die Antworten werden dann als Anlagen abgedruckt.
Jetzt müßte ich eigentlich die Aktuelle Stunde aufrufen. Aber ich wäre dankbar, wenn ich die Sitzung kurz unterbrechen könnte. Denn würde ich die Aktuelle Stunde jetzt aufrufen, wäre die Besetzung nicht gewährleistet.
({0})
- Natürlich. Aber so hat das ja auch keinen Zweck. Ich bitte die Geschäftsführer der Fraktionen kurz zu mir. - Meine Damen und Herren, ich habe mich mit den Geschäftsführern der Fraktionen und Gruppen dahin gehend verständigt, daß ich die Sitzung bis zur Aktuellen Stunde um 18.00 Uhr unterbreche. Bitte seien Sie so nett und sorgen Sie dafür, daß die
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Interessierten und die Rednerinnen und Redner zur Verfügung stehen.
Die Sitzung ist unterbrochen.
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Meine Damen und Herren! Ich möchte die unterbrochene Sitzung fortsetzen und rufe auf:
Aktuelle Stunde
Zu den Konsequenzen der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts zum § 218
Die PDS/Linke Liste hat diese Aktuelle Stunde verlangt. Ich erteile zunächst der Abgeordneten Frau Petra Bläss das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesen Tagen finden vor allem in den neuen Bundesländern vielerorts Protestaktionen gegen das vom Bundesverfassungsgericht gesprochene Urteil zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs und gegen den frauenfeindlichen § 218 statt.
Mit der heutigen Außerkraftsetzung der DDR-Fristenregelung und dem Inkrafttreten des neuen, bundeseinheitlichen Abtreibungsrechts gemäß Anordnung des Bundesverfassungsgerichts verlieren Ostfrauen ein für sie sicher gewesenes Menschenrecht: das der Selbstbestimmung über ihren Körper und über ihre Lebensgestaltung. Das Karlsruher Urteil ist ein Schlag ins Gesicht aller Frauen: staatlich verordneter Gebärzwang, Kriminalisierung derer, die ihr Selbstbestimmungsrecht wahrnehmen, Knebelung von Beratungsstellen, Ärztinnen und Ärzten.
Durch die Hervorhebung der grundsätzlichen Rechtspflicht zur Austragung einer Schwangerschaft und die Wertung des Schwangerschaftsabbruchs als eine Unrechtshandlung sichert sich der Staat seinen Zugriff auf die Gebärfähigkeit der Frau und schränkt damit ihre Grundrechte entscheidend ein. Die Diskriminierung von Frauen, die einen Abbruch vornehmen lassen, wird nun auch im Osten Deutschlands rechtlich festgeschrieben und praktisch umgesetzt.
Das durch den Wegfall der Krankenkassenfinanzierung entstandene Zweiklassenrecht beim Schwangerschaftsabbruch trägt zur weiteren Spaltung der Gesellschaft in arm und reich bei, denn die Entscheidungsfreiheit der Frau wird nun zur Preisfrage. Die einzige Alternative für sie ist ein demütigender Instanzenweg. Obendrein erweisen sich die vielgepriesenen sozialen Hilfen für Eltern mit Kindern mehr und mehr als Manövriermasse Waigelscher Sparpolitik.
Meine Damen und Herren, mit den Maßgaben für die Ausgestaltung der gesetzlich vorgeschriebenen zielorientierten Zwangsberatung werden Frauen vollends für unmündig erklärt. Auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Beratungsstellen sind diese Kriterien eine Zumutung. In einer gestern veröffentlichten Erklärung bekunden alle, ich betone, alle Träger der Schwangerenkonfliktberatung in Berlin, daß sie einer solchen Zwangsbelehrung von Frauen keine Zustimmung geben, da eine Beratung nur zu einer Entscheidungsfindung beitragen kann, wenn sie offen ist.
Das Urteil von Karlsruhe ist auch und vor allem ein Symptom für die reaktionäre Wende in diesem Land, die durch Abschaffung des Grundrechts auf Asyl, durch Militarisierung der Außenpolitik und forcierten Sozialabbau gekennzeichnet ist. Die Entscheidung ist zudem eine zutiefst undemokratische: Sieben Männer und eine Frau haben sich mit ihrem Urteil über eine klare Bevölkerungsmehrheitsmeinung und einen Parlamentsbeschluß, der für Frauen ohnehin schon eine Zumutung war, hinweggesetzt. Diese Entscheidung ist nicht zuletzt auch Ergebnis dessen, daß Frauen in Entscheidungsgremien in der Bundesrepublik nach wie vor sträflich unterrepräsentiert sind. Hier möchte ich erneut die Forderung stellen, daß auch das Bundesverfassungsgericht mit mindestens 50 % Frauen zu besetzen ist.
Das Urteil gleicht in seiner historischen Dimension dem Edikt der katholischen Kirche gegen die naturwissenschaftliche Erkenntnis, daß die Erde sich um die Sonne dreht. Ich denke, treffender als von der Berliner Ärztekammer kann die Weltfremdheit des Karlsruher Richterspruchs nicht kommentiert werden. Ein biologischer Reduktionismus der Frau als Embryoträger entspricht einem völlig antiquierten naturwissenschaftlichen Verständnis. Internationale Erfahrungen, daß liberale und sozialverträgliche Regelungen zu niedrigeren Abbruchraten führen, werden hierzulande nach wie vor ignoriert.
Meine Damen und Herren, abschließend ein paar Worte zur Interpretation des Urteils. Ich halte es für äußerst fatal, die Karlsruher Bestätigung der Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten drei Monaten nach Absolvierung einer zielorientierten Zwangsberatung als einen Erfolg für Frauen - wenn auch einen kleinen - zu feiern. Fremdbestimmtheit vollzieht sich heute vor allem durch die von vielen leider viel zu schnell geschluckte Kröte Zwangsberatung. Sehr problematisch finde ich auch, daß nach Urteilsverkündigung ein Großteil der Energie in die Debatte um die Zulassung der Abtreibungspille RU 486 gesteckt wird. Eine solche Reduzierung auf einen Ersatzschauplatz geht genauso am Kern der Sache vorbei wie die Tatsache, daß nach den Mordanschlägen von Solingen fast nur noch über das Thema der doppelten Staatsbürgerschaft geredet wird.
Der Schwerpunkt des Sich-nicht-Auffressen-Lassens von diesem frauenverachtenden Urteil muß der politische Kampf um die grundsätzliche Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, also um die ersatzlose Streichung des Schandparagraphen 218, sein; denn alle Erfahrungen haben gezeigt, daß Kompromisse nichts bringen. Solange dieser Paragraph existiert und es kein in der Verfassung verankertes Grundrecht auf selbstbestimmte Schwangerschaft gibt, ist ein solch weltfremdes Urteil aus Karlsruhe möglich.
Frau Bläss, ich bin gezwungen, in der Aktuellen Stunde etwas mehr auf die Zeit zu achten.
- Nur noch der letzte Satz:
Ich bin mir sicher, daß die bundesweiten Aktionstage gegen den § 218 in dieser Woche von Tausenden
Frauen und Männern genutzt werden, um deutlich zu machen, daß wir dieses Urteil nicht hinnehmen werden und keinen § 218 wollen.
Ich danke.
({0})
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Irmgard Karwatzki.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich gestatte mir eine Vorbemerkung. Frau Bläss, wir haben vorhin in einem anderen Zusammenhang nachdenkliche Reden gehört; ich erinnere besonders an die des Herrn Ministerpräsidenten Rau aus Nordrhein-Westfalen. Er bekam viel Beifall, als er sagte: Sprache verletzt, und Sprache ist verräterisch.
Sie tragen mit dem, was Sie eben gesagt haben, nicht dazu bei, daß wir uns hier im Interesse aller Frauen verständigen können. Ich habe sehr bedauert, daß Sie es so gesagt haben.
({0}) Nun zu meinem eigentlichen Beitrag.
Meine Damen und Herren, das Rechtsstaatsprinzip unserer Verfassung räumt uns die Möglichkeit ein, ein Gesetz auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz durch das höchste Gericht überprüfen zu lassen, wenn Zweifel an dieser Vereinbarkeit bestehen. Wir sind nach Karlsruhe gegangen, weil wir diese Zweifel hatten. Bei den gravierenden verfassungsrechtlichen Bedenken in dieser existentiellen Frage, nämlich, daß Leben unverfügbar ist, waren wir zur Verfassungsklage verpflichtet.
Unsere Klage hatte nicht zum Ziel, die Frau bei einem Abbruch zu bestrafen, wie uns leider von seiten oppositioneller Kräfte unterstellt wurde, und auch nicht, die Frau in finanzieller Hinsicht schlechterzustellen als bisher. Daß nun Frauen die Finanzierung von Abtreibungen durch die Krankenkassen in Fällen sozialer Notlagenindikation versagt wird, ist eine notwendige Schlußfolgerung aus der Wortwahl der „Rechtswidrigkeit" im Gruppenantrag. Es wird unsere Aufgabe sein, jetzt die entsprechenden Voraussetzungen im Bundessozialhilfegesetz nach § 37 a, Hilfen in besonderen Lebenslagen, zu schaffen.
Der Urteilsspruch von Karlsruhe hat uns gezeigt, daß unsere Bedenken sehr wohl begründet waren. Diese Entscheidung, Frau Bläss, müssen wir alle akzeptieren, auch jene, die ihr persönliches Rechtsempfinden über das des hohen Gerichtes stellen wollen.
({1})
Die Art und Weise und die Wortwahl einiger Ministerinnen, die der SPD angehören - Gott sei Dank haben Sie ja keine -,
({2})
ist vor diesem Hintergrund nicht hinnehmbar und auch unverständlich.
Lassen Sie uns nun gemeinsam anfangen, die Entscheidung aus Karlsruhe zugunsten des ungeborenen Lebens zügig umzusetzen.
({3}) - Da bin ich mit Ihnen einig, Frau Würfel.
Politische Panikmache und pauschale emotionale Urteile bringen uns nicht weiter. Wir müssen das Urteil in Ruhe gemeinsam auswerten, um die neuen gesetzlichen Erfordernisse zu erarbeiten.
Ich möchte anmerken: Von einem Rückfall ins Mittelalter kann keine Rede sein. Im Gegenteil, wir leben heute in einer Zeit, in der erhöhte Sensibilität für Natur, Umwelt und alles, was mit Leben im weitesten Sinne zu tun hat, festzustellen ist. Wir sind gefordert, eine für die Frau und für das ungeborene Kind zukunftsorientierte gesetzliche Regelung zu schaffen. Jetzt Haß zu schüren schadet nicht nur der Glaubwürdigkeit von uns allen, sondern hilft auch den Frauen nicht, die auf Hilfen angewiesen sind.
Ich finde es vor allem gut und richtig, daß das Urteil uns auffordert,
({4})
- Sie können noch soviel schreien -, den Vater und überhaupt das soziale Umfeld der Frau stärker in die Mitverantwortung einzubinden.
({5})
Es gibt nach diesem Urteil keine Sieger und Verlierer. Gewinner ist das ungeborene Kind.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Edith Niehuis das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute ist die erste Gelegenheit, daß wir unsere Eindrücke über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai austauschen können.
Ich will an erster Stelle eine Einschätzung geben, die weniger mit dem Bundesverfassungsgericht zu tun hat, als mit uns als Bundestagsabgeordneten, weil auch Sie, Frau Karwatzki, davon angefangen haben. Wir alle wissen, wie intensiv wir auf Grund des Einigungsvertrages um die Reform des § 218 gerungen haben. Wir wissen auch, daß wir Entscheidungen in diesem Bundestag suchen müssen und wenige finden werden, die so sehr von der Gewissensentscheidung des oder der einzelnen Abgeordneten geprägt sind wie diese. Obwohl wir das alle voneinander wissen, sind 249 Abgeordnete der CDU/CSU vor das Bundesverfassungsgericht gezogen. Ich erwähne das noch einmal, weil ich damals, vor einem Jahr, das Gefühl gehabt habe, daß dies für diesen intensiven parlamentarischen Prozeß nicht angemessen war, und ich habe es auch ein wenig als respektlos vor dieser Gewissensentscheidung der Kollegen und
Kolleginnen empfunden, und, ich empfinde es nach wie vor so,
({0})
zumal doch alle im Parlament wissen, daß mit dem Schwangeren- und Familienhilfegesetz genau das verabschiedet wurde, was die Mehrheit der Bevölkerung will. Ich sage Ihnen: So kann man auch zur Resignation im Volke beitragen.
({1})
Nun zum Urteil und seinen Konsequenzen: Es ist kein Urteil, das Frauen zufriedenstellen kann. Vom Selbstbestimmungsrecht der Frau sind wir noch weit entfernt. Aber es ist auch kein Urteil, wie Sie zu Recht gesagt haben, das der Minderheit im Parlament recht gegeben hat. Das Bundesverfassungsgericht hat viel eher den Weg der Mehrheit des Deutschen Bundestages akzeptiert und für richtig befunden, weil - ich zitiere das Gericht - „die schwangere Frau ihren Konflikt als höchstpersönlich erlebt und sich gegen seine Beurteilung und Bewertung durch Dritte wehrt". Das Bundesverfassungsgericht erteilt der alten Indikationslösung, die von der klagenden Minderheit in unterschiedlichen Variationen angestrebt wurde, eine eindeutige Absage. Der Weg zur Indikationslösung ist endgültig versperrt. Vielmehr hat sich das Gericht der Mehrheit dieses Bundestages angeschlossen, nämlich einem Weg zur familien-, kinder-und frauenfreundlichen Gesellschaft.
({2})
Das heißt, der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz darf nicht mehr in Frage gestellt werden.
({3})
Das heißt aber auch, daß das, was der Bundesfinanzminister an sozialen Kürzungen in der Schublade hat, hier keine Mehrheit mehr finden dürfte.
({4})
Wenn sich das Bundesverfassungsgericht in der Logik hinter das Schwangeren- und Familienhilfegesetz gestellt hat, so ist es dennoch voller juristischer und sachlicher Widersprüche. Eine Strafrechtsprofessorin sagte dazu in der „TAZ" vom 5. Juni 1993, das Verfassungsgericht habe sich „irgendwie im ungeordneten oder geordneten Rückzug aus der Affäre zu ziehen" versucht. Auf Grund der Unordnung im Urteil gibt es heute, wo die Übergangsregelung in Kraft tritt, eine große Verunsicherung, was ich sehr bedaure und was hoffentlich nicht zu Lasten der Frauen geht.
Es wird an uns als Gesetzgeber liegen, hier wieder für Ordnung zu sorgen. Das Verfassungsgericht hat ausdrücklich den Weg des Gesetzgebers gebilligt, ein Weg, der die Frauen entkriminalisiert und der auf Hilfe und Beratung setzt. Wir werden uns in unserer Klarstellung darum bemühen müssen, daß wir von diesem Weg nicht abweichen. Jeder Versuch, die Frau indirekt zu entwürdigen oder gar zu kriminalisieren, wird von uns nicht mitgetragen und entspricht auch nicht dem Verfassungsgerichtsurteil.
({5})
Das schließt eine auf die Erzeugung von Schuldgefühlen zielende Beratung, eine die Frau bevormundende Beratung aus. Es schließt auch aus, daß unsachgemäßer Druck auf die Beratungsstellen oder Ärzte ausgeübt wird.
({6})
Vielen macht die ab heute geltende unsichere Finanzierung des Schwangerschaftsabbruchs, der nicht aus medizinischen oder kriminologischen Gründen erfolgt, zu Recht Sorgen. Hier gibt es einen Regelungsbedarf, insbesondere für einkommensschwache Frauen. Ziel muß es sein, von vornherein zu verhindern - ich zitiere das Urteil -, „daß Frauen den Weg in die Illegalität suchen und damit nicht nur sich selbst gesundheitlichen Schaden zufügen" . Die materielle Bedürftigkeit ist der Ausgangspunkt der notwendigen Regelungen. Es kann nicht sein, daß wir arme Frauen wegen der Finanzierung von einer psychosozialen Indikation Dritter abhängig machen und sie so vielleicht wieder in die Illegalität oder ins Ausland treiben, reiche Frauen aber nicht. Hierüber werden wir sehr intensiv reden müssen.
Frauen in Schwangerschaftskonflikten haben genug Probleme. Der Gesetzgeber muß ihnen helfen, gerade auch im Sinne des werdenden Lebens. Darum werden wir jeder einseitigen Auslegung des Verfassungsgerichtsurteils widerstehen, die versucht, aus der Hilfe wieder eine indirekte Strafe zu machen.
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Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Uta Würfel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war diejenige, die bis zum Schluß auf Fragen von Journalisten und anderen gesagt hat: Ich gehe davon aus, daß das Bundesverfassungsgericht die modifizierte Fristenregelung durchgehen lassen wird, allerdings mit Korrekturen. Ich bin wegen meines Optimismus ausgelacht worden, aber ich freue mich heute, Ihnen hier an dieser Stelle sagen zu können, daß das Gericht anerkannt hat, daß sich die Indikationenregelung nicht bewährt hat und daß ein Schutz für das Ungeborene nicht gegen die Mutter, sondern nur mit der Mutter möglich ist. Das Gericht betont ausdrücklich, daß es den Letztentscheid der ungewollt schwanger gewordenen Frau respektiert und daß auch eine Entscheidung gegen die Fortsetzung der Schwangerschaft eine achtenswerte Gewissensentscheidung der Frau ist, wie wenn sie sich entschieden hätte, das Kind auszutragen.
Das Gericht betont die Straffreiheit sowohl der Frau als auch des Arztes bei der nun ab heute zugelassenen Beratungsregelung. Das Wichtigste dabei ist, daß die Straflosigkeit sowohl der Frau als auch des Arztes nicht mehr abhängig gemacht wird von der Feststellung einer Notlage durch einen Dritten, wobei diese Feststellung auch noch durch ein Gericht hat überprüft werden können - siehe die Vorgänge in Memmingen.
Ich erinnere an die Vorstellungen von Kolleginnen und Kollegen, die hier im Plenum gesagt haben: Es muß ein und dieselbe Person sein, die berät und auch
dann den Schwangerschaftsabbruch vornimmt und die dokumentiert, wie der Entscheidungsweg war, damit das ein Gericht überprüfen kann.
Das Gericht hat nun völlig andere Vorstellungen aufgegriffen, Vorstellungen, wie sie hier die Mehrheit in diesem Plenum im Gruppenantrag erarbeitet hatte. Obwohl die Abbrüche nach der Beratungsregelung keine gerechtfertigten Schwangerschaftsabbrüche sind - rechtmäßige, somit gerechtfertigte Abbrüche sind nur die, die unter der Indikationenregelung gemacht werden können -, hat dieses keinen Einfluß auf die Wirksamkeit des Vertrages zwischen Frau und Arzt. Es hat keinen Einfluß auf die Möglichkeit, in staatlichen Kliniken Schwangerschaftsabbrüche vornehmen zu lassen. Alle Falschmeldungen in diese Richtung können Sie vergessen. Es hat keine Einfluß auf den Anspruch der Frau auf Lohnfortzahlung in diesen Fällen eines Abbruchs, und es hat auch keinen Einfluß auf den Anspruch der Frau auf Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung mit Ausnahme der Abbruchshandlung selbst.
Ich muß schon sagen, Frau Bläss, ich habe Sie auch im Zusammenhang mit der Beratung des Gruppenantrags als einen Menschen kennengelernt, der sich behutsam äußert und erst nachdenkt, bevor er redet. Ich unterstelle Ihnen, daß Sie das Urteil nicht so gelesen haben, wie es das beanspruchen kann. Es ist überhaupt keine Rede davon, daß Ihre DDR-Fristenregelung außer Kraft gesetzt worden ist. Im Gegenteil.
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Im Osten wird die Fristenregelung fortgeführt als Beratungsregelung. Es ist keine Rede davon, daß die Beratungsstellen und die Ärzte geknebelt werden. Das ist wirklich Unsinn pur.
Es geht darum, daß das Gericht an verschiedenen Stellen immer wieder betont hat, daß - als weiterer Programmpunkt - während der Beratung der Hinweis in verständlicher Form gegenüber der Frau erbracht werden muß, daß es sich bei dem ungeborenen Leben um ein hohes schützenswertes Gut nach unserer Rechtsordnung handelt, und es heißt, daß die Beratungsaufgabe dann ihr Ziel erfüllt, wenn der Frau durch das Zurverfügungstellen tatsächlich vorhandener Hilfen eine Zukunftsperspektive eröffnet werden kann, so daß sie zum Austragen ermutigt werden kann. Es versteht sich von selbst, daß keine Beraterin und kein Berater auf die Idee kommt, wenn nicht sinnvoll zum Austragen ermutigt werden kann, weil der Frau keine Zukunftsperspektiven eröffnet werden können, weil tatsächliche Hilfen nicht bereitgestellt werden können, sie zum Austragen zu ermutigen.
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Es gibt keine Spaltung der Gesellschaft in arm und reich. Das ist ebenso blanker Unsinn. Sie haben es gehört, und Sie können es nachlesen, daß die ungewollt schwangere Frau die Kosten des Schwangerschaftsabbruches bis auf die Abbruchshandlung selbst von der Krankenkasse übernommen bekommt,
wenn sie die Beratungsregelung wählt. Der technische Eingriff, das Ansetzen der Kürette bei der Kürettage, das Ansetzen des Saugröhrchens beim Absaugen ist die technische Handlung - das Gericht spricht von der Tötungshandlung -, und dies kann nicht von der Solidargemeinschaft der gesetzlich Krankenversicherten übernommen werden. Es geht also jetzt noch um 150 DM, weil sowohl die Vorsorgeuntersuchung vor dem Eingriff als auch das Gespräch mit dem Arzt wie auch durch Komplikationen bedingte Nachsorgeuntersuchungen oder, wenn Komplikationen zu erwarten sind, diese Nachsorgeuntersuchungen von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden müssen. Diese 150 bis 200 DM, die durch den technischen Abbruch als solchen anfallen, werden all diejenigen bedürftigen Frauen, die nicht finanzstark, nicht leistungsfähig sind, über die Sozialhilfe abrechnen können. Dann davon zu reden, daß es eine Spaltung der Gesellschaft in arm und reich gibt, ist einfach nicht korrekt.
Frau Abgeordnete Würfel, ich möchte mich nicht des Verdachts aussetzen, Sie besser zu behandeln als andere, und deswegen möchte ich Sie bitten, zum Schluß zu kommen.
Wenn es sich jetzt also darum handelt, nach den Vorgaben des Urteils zu verfahren - und ich bin nach wie vor der Meinung, daß dieses Urteil für die Frauen im Westen revolutionär ist, weil es uns endlich die Fristenregelung als Beratungsregelung ermöglicht und weil es die Fortschreibung der Fristenregelung im Osten unter einigen anderen Vorgaben ist -, so muß es jetzt darum gehen, daß sich dieses Parlament erneut zusammenfindet, um einen Gesetzentwurf vorzulegen, der hier die Mehrheit findet. Dazu gehört es dann auch, darüber nachzudenken, was Frau Karwatzki gesagt hat: „Es ist nicht in Ordnung, das eigene Rechtsempfinden über die Meinung des Gerichtes zu stellen." Das Gericht hat genaue Vorgaben gemacht. Danach müßte es möglich sein, auch mit den Kollegen von der CDU/CSU in Kürze zu einem gemeinsamen Gesetzentwurf zu kommen.
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Das Wort erteile ich nunmehr der Abgeordneten Christina Schenk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt hier nichts zu beschönigen - das ist sowohl an die Adresse der SPD als auch an die Adresse der F.D.P. gerichtet: Das Urteil aus Karlsruhe zu den §§ 218 und 219 des Kompromißentwurfes ist ein Skandal,
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insbesondere für ostdeutsche Frauen, und zwar in mehrfacher Hinsicht.
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- Hören Sie einmal zu; offensichtlich wissen Sie überhaupt nicht, wovon Sie reden.
Erstens. Frauen, die sich zu einem Schwangerschaftsabbruch entschlossen haben, müssen sich, so der Urteilsspruch, einem repressiven und zielorientierten Gespräch in einer Beratungsstelle aussetzen. Diese sogenannte Beratung soll der schwangeren Frau „eine verantwortungsbewußte Entscheidung ermöglichen". Das ist eine Infamie sondergleichen und als solche ungeheuerlich.
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Im Umkehrschluß bedeutet das nämlich, daß Frauen in der DDR verantwortungslos gehandelt hätten, weil es dort diese Zwangsberatung nicht gegeben hat.
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- Dann haben Sie Probleme mit der Logik; das ist aber nicht mein Problem.
Zweitens. Die Regelung bleibt im Strafgesetzbuch. Das heißt, es wird postuliert, daß das selbstverständliche Recht von Frauen, selbst zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft austragen oder nicht, eine rechtswidrige Angelegenheit sei;
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denn, so der Text, es bestünde eine grundsätzliche Rechtspflicht von Frauen zur Austragung einer Schwangerschaft. Die Frau macht sich strafbar, wenn sie sich nicht der Pflichtberatung unterzieht, bei der ihr klargemacht werden soll, daß einem Teil ihres Körpers - ich wiederhole: einem Teil ihres Körpers - eine Rechtsposition zukomme, die höher zu bewerten sei als das Recht auf selbstbestimmtes Leben. Die Beratung ist laut Text der Urteilsbegründung darauf angelegt, Frauen gegen ihren Willen zum Gebären zu überreden oder, wenn das nicht gelingt, ihnen wenigstens ein schlechtes Gewissen zu machen. Darüber hinaus gefährden die überaus rigiden Vorgaben des Urteilsspruchs die ohnehin schon unzureichende Pluralität des Angebots an Beratungsstellen.
Drittens. Im Regelfall entfällt jetzt die Kassenfinanzierung. Der Hinweis, daß bedürftige Frauen vom Sozialamt das Geld für einen Schwangerschaftsabbruch bekommen könnten, ist nicht viel anders zu bezeichnen als zynisch, nämlich angesichts der Tatsache, daß gegenwärtig schon ca. ein Drittel der Anspruchsberechtigten aus Scham oder Unwissenheit ihnen zustehende Sozialleistungen nicht in Anspruch nehmen. Es muß also damit gerechnet werden - und dafür tragen auch Sie die Verantwortung -, daß es Frauen geben wird, die sich nicht anders zu helfen wissen, als zu Seifenlauge und Stricknadel zu greif en.
Dieses Urteil, meine Damen und Herren, ist der vorläufige Höhepunkt in der Reihe fortgesetzter Demütigungen von Frauen in Ostdeutschland seit dem Beitritt. Angesichts der massenhaften Ausgrenzung von Frauen aus dem Arbeitsmarkt, der Schließung von Kindertagesstätten und nun der Abschaffung der DDR-Fristenregelung muß konstatiert werden, daß das westdeutsche Patriarchat die Wiederherstellung eines großen Deutschland geschickt genutzt hat - genutzt als Hebel zum Abbau von Frauenrechten, zur Vornahme eines Rückschritts nach dem anderen.
Dies, meine Damen und Herren, steht durchaus in einem inneren Zusammenhang mit der begonnenen Demontage des Sozialstaates, mit der von der etablierten Politik provozierten Zunahme rechtsradikaler Gewalt und nicht zuletzt mit einem neuen Verständnis von deutscher Außenpolitik, in der militärische, also mörderische Optionen wieder ihren Platz haben.
Die Rechtsdrift in diesem Land wird immer deutlicher. Die schwarze Woche, in der das Asylrecht de facto abgeschafft wurde, das unsolidarische sogenannte Konsolidierungsprogramm verabschiedet wurde und schließlich das Frauen verachtende Verdikt aus Karlsruhe kam, hat das wie in einem Brennglas deutlich gemacht.
Der Kampf gegen die §§ 218 und 219 muß also fortgesetzt werden, und er wird - das kann ich Ihnen hier versichern - nicht zu Ende sein, bis der Umgang mit ungewollten Schwangerschaften allein in den Händen derjenigen liegt, die es vorrangig betrifft, bis das ureigenste Menschenrecht von Frauen, über ihr Leben und ihren Körper selbst und ohne jeden Versuch der Indoktrination zu bestimmen, auch in diesem in Frauenfragen so überaus unterentwickelten Deutschland endlich akzeptiert wird.
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Meine Damen und Herren, nach der Erfahrung, daß am Widerstand der ostdeutschen Frauenbewegung und auch westdeutscher Politikerinnen die sofortige und umstandslose Übertragung des westdeutschen Rechts auf Ostdeutschland gescheitert ist, lehrt das Karlsruher Urteil von 1993 sehr deutlich vor allem eines: Im außerparlamentarischen Raum muß politischer Widerstand stattfinden. Dazu ist es dringend erforderlich, daß sich die Frauenbewegung in Ost und West neu organisiert. Sie muß Strukturen bilden, die es ihr ermöglichen, so laut und so deutlich zu werden, daß denen, die es wagen, derartig frauenfeindliche Elaborate in die Welt zu setzen, Hören und Sehen vergeht. Die Frauenbewegung muß wieder zu einem politischen Faktor in diesem Land werden, an dem niemand vorbeikommt. Erste Schritte in dieser Richtung sind derzeit gemacht worden.
Gleichzeitig wird von vielen Initiativen überall in diesem Land ein bundesweiter Frauenstreik organisiert, der am 8. März 1994 stattfinden wird. Daran werden Frauen aus autonomen Zusammenhängen, aus Parteien, aus Institutionen und auch aus verschiedenen Gewerkschaftsverbänden teilnehmen. Es wird darum gehen, daß Frauen mit spürbaren Aktionen deutlich machen, daß sie so nicht länger mit sich umgehen lassen und daß sie die reaktionäre Entwicklung in diesem Land nicht hinnehmen.
Noch eines sei ganz klar gesagt: Frauen müssen endlich auch mit ihrer Wahlentscheidung klarmachen, daß konservative Politik in diesem Feld nicht gefragt ist. § 218 muß zum Wahlprüfstein gemacht werden. Keine Frauenstimme für Parteien oder Kandidaten bzw. Kandidatinnen, die nicht bereit sind, sich
für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in Deutschland einzusetzen!
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Frau Abgeordnete Schenk, ich möchte Ihnen nicht vorenthalten, daß ich es für unerträglich halte, wenn Sie das Urteil das Bundesverfassungsgerichts hier im Hause als einen Skandal bezeichnen.
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Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie sich des notwendigen Respektes vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts und vor dem Verfassungsorgan befleißigen würden.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Ursula Männle das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heutige Tag markiert den Beginn eines einheitlichen gesamtdeutschen Abtreibungsrechtes. Der heutige Tag markiert - und das zeigt diese Debatte - aber keineswegs das Ende einer langen, kontroversen, sehr emotionalisierten und die Nation spaltenden Diskussion. Einige Kommentare zum Urteil lassen vielmehr genau das Gegenteil vermuten. Es besteht bei vielen keine Bereitschaft, die verfassungsrechtlichen Grundsätze zu registrieren, geschweige denn zu akzeptieren. Es wird weiter polemisiert, diffamiert und polarisiert. In diese Tonlage paßt die Aussage von Frau Schenk. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, unterstellen Sie der Regierung mörderische Optionen. Eine infame Behauptung!
Unseres Erachtens ist das Urteil abwägend, differenziert, aber auch kompliziert und, ich meine, dem Problem „Schwangerschaftsabbruch" angemessen. Das Gericht hat den verfassungsrechtlichen Grundkonsens einer freiheitlichen Gesellschaft nochmals dargelegt und präzisiert. Es hat die Mehrheit des Parlaments an eigentlich Selbstverständliches erinnert beziehungsweise erinnern müssen: Das ungeborene Leben genießt die gleichen Menschenrechte wie das geborene.
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Frau Bläss, daran möchte ich Sie wirklich erinnern. Das Lebensrecht des Ungeborenen ist ein selbständiges Rechtsgut. Daher ist der Staat verpflichtet, das Lebensrecht des Ungeborenen zu schützen und zu fördern.
Ab heute gilt in ganz Deutschland: Schwangerschaftsabbruch ist grundsätzlich als Unrecht zu bewerten und rechtlich zu verbieten. Abgelehnt wird damit eine absolute Sicht der Handlungsfreiheit der Frau. Selbstbestimmung der Frau ist kein Recht, über andere verfügen zu dürfen. Freiheit ist verantwortliche Freiheit, nicht unbegrenztes Disponieren-Dürfen. Es wird eine klare Rangordnung, und zwar eine Rangordnung der Werte - Lebensrecht vor Selbstbestimmungsrecht - festgestellt.
In seiner Skizze des Beratungsmodells versucht aber das Bundesverfassungsgericht die Schwere des Schwangerschaftskonfliktes zu berücksichtigen, das Entscheidungsrecht und die Letztverantwortung der Frau zu respektieren und einen größtmöglichen Schutz für das Ungeborene zu erzielen. Dies ist sicherlich kein einfacher Weg. Das Beratungsmodell in der vom Verfassungsgericht vorgetragenen Version ist ein Schutzmodell. Es ist kein klassisches Fristenmodell. Es bedeutet keine Abkehr von der Wertrangfolge, sondern die Suche nach einer neuen, vertretbaren Regelung angesichts des partiellen Scheiterns bisheriger Gesetze. Versuche, nachträglich das Votum vom Juni 1992 zu rechtfertigen, müssen daher scheitern.
Letztverantwortung der Frau und staatliche Verpflichtung zum Schutz des Ungeborenen sind nur unter der Voraussetzung vereinbar, daß der Staat Möglichkeiten schafft, damit die Lebensinteressen des Kindes wirksam vertreten und verteidigt werden können. Hierzu gehört eine eingehende, obligatorische Beratung. Aber - Frau Dr. Niehuis, ich sage dies sehr, sehr deutlich - natürlich gehören dazu auch die entsprechenden Hilfen für die Frauen, eine kinderfreundliche Gesellschaft. Dazu gehört, daß wir in unserer Gesellschaft ein Klima schaffen, damit Kinder als positiver Wert begriffen werden. Und dafür wollen wir weiter kämpfen.
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Ab heute gilt die Übergangsbestimmung des Verfassungsgerichts. Dies entbindet den Gesetzgeber nicht von der Notwendigkeit zur politischen Gestaltung. Das Verfassungsgericht wollte und sollte den Streit im Grundsätzlichen beenden und befrieden, nicht alte Grundsatzkonflikte neu entfachen und verschärfen. Wir haben heute leider schon das Gegenteil festgestellt. Wenn die Behauptungen der vergangenen Monate, es ginge allen um Lebensschutz, ernstgemeint waren, dann müßte eigentlich die Zustimmung zum Urteil einhellig und einstimmig sein. Ich habe bei Frau Würfel hier Zustimmung gefunden.
Mit Verbalattacken gegen das Gericht, wie wir sie gerade von Frau Schenk gehört haben, wird aber versucht, die Legitimität des Urteils selbst in Frage zu stellen. Dies ist meines Erachtens entlarvend.
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Die unsachliche Kritik verhindert nicht nur die notwendige gemeinsame Suche nach einer gemeinsamen Regelung, sondern schadet auch der politischen Kultur und der freiheitlichen Demokratie. Nicht Karlsruhe ist schuld an der Nachbesserung. Versagt hat im Juni die Mehrheit der Politiker und Politikerinnen,
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die den Versuch unternommen hat, sich von Teilen der Verfassung zu verabschieden.
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- Liebe Frau Würfel, wir haben eine neue Chance, der Verfassung Rechnung zu tragen.
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Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Christel Hanewinkkel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Namen des Volkes hat am 28. Mai 1993 der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts sein Urteil gefällt, und das Volk murrt und will es für sich nicht annehmen. Zwiespältig und uneindeutig die 183 Seiten des Urteils, zwiespältig und uneindeutig die Reaktionen und Interpretationen.
Zu Beginn ein Zitat von Martin Koschorke, Ausbilder und Pfarrer am Evangelischen Zentralinstitut für Ehe-, Familien- und Lebensberatung. Er schreibt:
Der richterliche Versuch, die Quadratur des Kreises herzustellen, hat einen hohen Preis. Urteil und Begründung wirken stellenweise so verwirrend, realitätsfern und widersinnig, daß sie Nichtjuristen kaum noch zu vermitteln sind oder bloßes Kopfschütteln hervorrufen. Der Abbruch ist rechtswidrig, also verboten, zugleich nicht strafbar, also erlaubt. Etwas, was gleichzeitig verboten und erlaubt ist, soll geschärftes Rechtsbewußtsein schaffen für ein Verbot, das von fast beispielloser Wirkungslosigkeit war und deshalb mehrere Gesetzesreformen erforderlich gemacht hat.
Und weiter:
Eine Person, die tut, was nicht strafbar ist, wird dann doch dadurch bestraft, daß sie selber zahlen muß, zu Sozialhilfe verurteilt oder gar in die Illegalität abgedrängt wird.
Besonders widersprüchlich und zweischneidig sind die Festlegungen zur Beratung. Sie hat sich von dem Bemühen zur Fortsetzung der Schwangerschaft leiten zu lassen und zugleich ergebnisoffen zu sein. Sie soll beeinflussen, aber ohne einseitige Beeinflussung. Das Vertrauensverhältnis der Beratung soll benutzt werden, detaillierte Personendaten zu erheben,
- die Stasi läßt grüßen! ({0})
allerdings in einer Weise, die keine Rückschlüsse
auf die Identitäten der Beratenen erlaubt.
Ein Zwiespalt auch für Frauen, Beraterinnen und Ärztinnen in Ost und West, ein Zwiespalt, der auf unterschiedlichen Erfahrungen und Rechtssprechungen der vergangenen 20 Jahre beruht. Für die Frauen in den neuen Bundesländern hat das eine einschneidende Wirkung. Vieles, was sie bisher gewohnt waren, müssen sie hinter sich lassen, vor allem, daß sie sich beraten lassen müssen - mit und gegen ihren Willen -, daß sie den Abbruch selbst bezahlen müssen oder aber mit einer penetranten Darlegung deutlich machen müssen, daß sie sich in einer Notlage befinden. Für Frauen in den neuen Bundesländern ist dies Urteil fast nicht zu akzeptieren, es sei denn, sie machen sich, wie das für Frauen hin und wieder nötig ist, daran, Schleichwege zu suchen.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts legt auch nahe, daß die Frauen in der DDR 20 Jahre leichtfertig abgetrieben haben. Dieses Urteil legt nahe: Sie haben 20 Jahre verantwortungs- und gewissenlos gehandelt.
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Unausgesprochen wird damit über alle Frauen gesagt, daß sie im Schwangerschaftskonflikt nicht in der Lage sind, verantwortungsbewußt und nach gewissenhaftem Abwägen eigenständig zu entscheiden.
Ich möchte zum Schluß noch ein Zitat einer Frau bringen, die evangelische Ehe- und Familienberaterin in Ost-Berlin ist. Sie sagt:
Die Karlsruher Entscheidung ist ein Kampf an falscher Front. An der ungewollt schwanger gewordenen Frau macht sich das Schuldgefühl für die langst zur Norm gewordene Gewalt und mörderische Destruktivität dieser Gesellschaft fest. Jeder nicht abgetriebene Fötus ist ein Stück unbewußter Wiedergutmachung, jede Schwangere eine Hoffnung auf Entlastung. Die Karlsruher Entscheidung kann ich nur jemandem zugestehen, der bis in jede Pore seines Wesens hinein Pazifist ist, und wenn nicht, so ist sie Heuchelei, Doppelmoral und Instrument zum Mißbrauch von Frauen als Entlastungsobjekt. Wenn sie der Gesellschaft nicht als Heilige dienen will, so soll die Hure den Abbruch gefälligst selbst bezahlen. Hat es jemals bei Waffenhandel, Umweltverbrechen und den zahllosen verkehrstoten Kindern eine so leidenschaftliche Debatte, eine so konsequente Verfügung gegeben? Was wird da alles an Abtreibung von Leben akzeptiert!
Im Namen des Volkes ist dieses Urteil gesprochen worden, über das wir heute debattieren. Aber das Volk murrt und nimmt dieses Urteil so nicht an.
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Wir haben für das Volk hoffentlich sinnvolle Regelungen hier noch zu treffen.
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Das Wort hat die Abgeordnete Dr. Eva Pohl.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der Aktuellen Stunde widmen wir uns der vom Bundesverfassungsgericht am 28. Mai 1993 verkündeten Entscheidung über die Neuregelung zum Schwangeren- und Familiengesetz. Mit dem heutigen Tag tritt die vom Bundesverfassungsgericht erlassene Übergangsregelung in Kraft. Sie ersetzt das bisher unterschiedliche Abtreibungsrecht in Ost und West. Im zeitlichen Abstand zum Karlsruher Urteil gilt es jetzt,
durch sach- und fachgerechte Informationen allen Betroffenen den Umgang mit der Neuregelung zu ermöglichen und vorhandene Unsicherheiten zu beseitigen. Es gibt keinen Grund, von Gewinnern und Verlierern zu sprechen.
Das Verfassungsgericht hat Teile des neuen Abtreibungsrechts für verfassungswidrig erklärt, den wesentlichen Teil einer Fristenregelung mit obligatorischer Beratung für besseren Lebensschutz und „Hilfe statt Strafe" für die betroffenen Frauen bestätigt. Dies war wesentliche Grundlage der Mehrheitsentscheidung des Deutschen Bundestages. Frauen in Konfliktsituationen stehen nun zwischen dem bisher gültigen straffreien, rechtskonformen Indikationsmodell und der straffreien, aber rechtswidrigen Fristenlösung mit Beratung. Als thüringische Bundestagsabgeordnete sehe ich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts als einen Versuch, die widerstrebenden Rechtsmeinungen in der Bundesrepublik Deutschland zu dieser Thematik - vor dem Hintergrund der Verfassung - zusammenzuführen. Gleichwohl hätte ich mir eine andere Interpretation der Verfassung gewünscht; sie war auch einer Minderheit von Richtern möglich. Das Urteil kann in seiner ganzen Komplexität in der mir zur Verfügung stehenden Zeit nur ansatzweise diskutiert werden. Ich möchte mich daher auf einige Punkte konzentrieren, die mich persönlich bewegen.
Bei der Mehrzahl der Frauen, vor allem in den neuen Bundesländern, hat das Urteil verständlicherweise große Enttäuschung hervorgerufen. Zum einen sind die Frauen von der Veränderung der Rechtslage und der Finanzierungspflicht erheblich betroffen; zum anderen fühlen sie sich auf Grund der bisher anderen Rechtslage in besonderer Weise gedemütigt und bevormundet, weil ihnen eine Rolle zugeschrieben wird, die nicht mit ihrem Verantwortungsbewußtsein und ihrem gewachsenen Selbstverständnis in Einklang steht. Frauen in den neuen Bundesländern entscheiden schon seit 21 Jahren eigenverantwortlich. In dieser Zeit wurden sie durch qualifizierte fürsorgerische und medizinische Beratung sowie durch viele soziale Maßnahmen unterstützt.
Vom Verfassungsgericht ist die Beratungsregelung besonders ausgestaltet worden. Weitere Festlegungen im Urteil können insbesondere von Frauen nur schwer ertragen werden. Einer Frau, die innerhalb der 12-Wochen-Frist nach Empfängnis und nach einer Beratung einen Abbruch vornehmen läßt, wird die Gewißheit verweigert, daß ihre Entscheidung von der Rechtsordnung gebilligt wird. Der Konflikt, in den ungewollt schwangere Frauen geraten, wird dabei wirklich nicht erkannt und anerkannt.
Die Wertung der Verfassungsrichter, daß ein Schwangerschaftsabbruch für die ganze Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht anzusehen ist, zieht Rechtsnachteile nach sich, die nicht bestehen bleiben dürfen. Die Entscheidung, daß der Schwangerschaftsabbruch in den allermeisten Fällen nicht mehr von den Kassen bezahlt wird, hat Verunsicherung hervorgerufen. Nicht wenige Frauen haben ein geringes Einkommen, sind arbeitslos oder beziehen Sozialhilfe - gravierend ist gegenwärtig der Anteil dieser Gruppe in den neuen Bundesländern. Ich halte es für außerordentlich bedenklich, daß
Frauen durch die Karlsruher Entscheidung zu riskanter „Selbsthilfe" greifen oder sich gar für eine Sterilisation entscheiden könnten. Dadurch würden ihre Gesundheit und ihr Leben irreversibel beeinträchtigt. Ich sehe auch die Gefahr, daß Ärzte Abbrüche in Zukunft verweigern werden, weil sie als „rechtswidrig" gelten.
Der Bundestag und alle gesellschaftlich relevanten Gruppen werden alles unternehmen müssen, daß Frauen in verantwortlicher Weise einen Abbruch vollziehen können. Das Persönlichkeitsrecht der Frau muß dabei respektiert werden. Wir sollten möglichst schnell mit einem neuen Gesetz Rechtssicherheit und Klarheit für Frauen, Ärzte und für in Beratungsstellen Tätige schaffen. Dies sollte den Mitgliedern des Deutschen Bundestages noch in dieser Legislaturperiode möglich sein.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Monika Brudlewsky das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Richter des höchsten Gerichts in unserem Land haben nach monatelanger Kleinarbeit und gewissenhafter Prüfung aller Fakten ihr Urteil gefällt. Aber man sprach vom „Skandal", von „Greisen" und vom „Schneewittchensenat". Man sprach den Richtern das Recht ab, Recht zu sprechen. Es war auch schon merkwürdig, wenn sogar Personen, die dieses Richteramt anstreben, an der Würde und Ernsthaftigkeit einer Entscheidung dieses Senats rüttelten.
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Was wäre, wenn die Richter gesagt hätten: Das Recht auf Leben ist nicht mehr absolut; ab heute kann man töten, wer anderen zur Last fällt, natürlich auf Staatskosten? Hätte man ihnen dann wirklich Beifall geklatscht, oder hätte man nicht doch betroffen innegehalten? Hätte man es wirklich noch bemerkt, was wir Menschen mit unseren Forderungen auf dem Altar der Selbstbestimmung opfern wollen?
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Nun ist aber in Karlsruhe wieder klar gesagt worden, daß menschliches Leben nicht verfügbar ist. Ein Schwangerschaftsabbruch wird klar als rechtswidrig bezeichnet, weil er Tötung menschlichen Lebens ist. Dies hat man uns zu Zeiten der DDR seit 1972 allerdings vergessen gemacht, leider mit viel Erfolg, wie ich an den Reaktionen vieler Landsleute erfahren muß.
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Es wird noch einige Zeit in unseren Landen dauern, bis bei uns wieder ein Bewußtsein für den Wert des Lebens Fuß faßt.
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Viele pochen bei uns noch auf das Recht auf Tötung des unerwünschten Kindes per Krankenschein, well sie es seit 20 Jahren so gewohnt waren. Das wird gerade bei uns noch viel Aufklärung und Geduld erfordern. Eine Konsequenz dieses Urteils muß sein, daß Streikaufrufe und Panikmache nicht fortgesetzt werden, sondern daß sachlich über Tatsachen gesprochen wird.
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Ich bitte vor allem die Medien im Namen aller besonnenen Menschen, sich doch ebenfalls dem Urteil zu beugen, welches von allen gesellschaftlichen Bereichen fordert, die Würde des menschlichen Lebens und auch des ungeborenen Kindes wieder mehr zu beachten und zum Schutz des Lebens in allen Phasen mit Aufklärung beizutragen.
Wer von Seifenlauge und Nadel spricht und das Wort vom Kurpfuscher und Engelmacher benutzt, wie das in Karlsruhe geschehen ist, der oder die muß zur Verantwortung gezogen werden.
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Denn durch dieses Gerede kann es tatsächlich bei sehr unerfahrenen Frauen geschehen,
Frau Abgeordnete Kolbe, Sie haben das Wort nicht.
- daß sie aus Irritation wirklich diesen Weg gehen, weil ihnen von diesen Leuten nicht der gangbare Weg beschrieben wurde.
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Fakt ist, daß wir mehr und gute Beratungsstellen brauchen, die den Wert des Lebens wieder akzeptieren, in diesem Bewußtsein die Frauen beraten und Wege zeigen, wie man sich durchaus für das Kind entscheiden kann und Hilfe lange Zeit erfahren darf.
Wenn die Frau dennoch eine andere Entscheidung trifft - wozu sie ja die Freiheit behält - und die Rechtfertigungsgründe nicht vorliegen, wird sie den Abbruch in Zukunft bezahlen müssen. Aber nun gibt es die Unterschiede, daß die vermögende Frau durchaus in der Lage sein wird, diese Kosten selbst zu tragen. Eine sozial schwache Frau kann sich an das Sozialamt wenden und wird dort Hilfe erfahren. Der Weg zum Sozialamt fällt sicherlich vielen Frauen schwer, gerade bei uns in den neuen Bundesländern. Aber ist es wirklich entwürdigend - wie es so oft gesagt wird -, wenn man andererseits in Rechnung stellt, daß es sich um Tötung menschlichen Lebens handelt, für die die Gemeinschaft in diesen Fällen der Bedürftigkeit letztlich doch zahlen soll?
Unsere Aufgabe ist es, bald die Vorgaben des Verfassungsgerichts umzusetzen.
Einige Länder wollen die Grenzen für die Gewährung der Sozialhilfebeträge zur Abtreibung weiter oben ansiedeln. Das halte ich für bedenklich. Dann sollten die Gelder des Landes, die für diesen Zweck plötzlich vorhanden sind, lieber für das Landeserziehungsgeld, welches eine echte Hilfe und Motivation ist, die Schwangerschaft aufrechtzuerhalten, zur Verfügung gestellt werden.
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Noch ein Gedanke zum Schluß: Wir beklagen Brutalität und Egoismus der heutigen Menschheit - gerade heute wieder. Suchen wir die Ursachen nicht immer beim anderen, sondern bei uns selbst! Machen wir doch bitte nicht nur Staat und Politik für alles verantwortlich! Der Mensch wächst in der Familie auf, hier erlebt er die ersten Vorbilder, und hier beginnt es auch.
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Die Werteordnung des Lebens verrutscht weiterhin, wenn unsere Jugend weiter erlebt, daß unerwünschte Menschen getötet werden können.
({3})
Da kann man von Verantwortung und Nöten reden, aber das Kind, der Jugendliche erlebt dies unmittelbar als Tatsache und differenziert nicht.
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Bei den unerfahrenen heranwachsenden Menschen verwischen schnell die Grenzen im Umgang mit dem Leben.
Eine Bemerkung von Herrn Ministerpräsidenten Rau vorhin paßte auch in diesem Zusammenhang sehr gut. Er sagte: „Die Veränderung von Gesinnungen ist unser Thema. "
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Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Hans de With das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei aller verständlichen Emotion scheint es mir doch am Platze, nüchtern abzuwägen und zu prüfen, welche Schlußfolgerungen wir ziehen können, damit wir wieder einen Schritt weiterkommen. Hier sage ich: Das Urteil hat drei Vorteile gebracht.
Erstens. Seit heute gilt zum ersten Mal in unserer Strafrechtsgeschichte für alle Teile Deutschlands eine Beratungsregelung auf der Basis der Zwölfwochenfrist mit der Folge, daß die Frau in den ersten drei Monaten unter den vom Gericht genannten Voraussetzungen straflos bleibt. Das System der Indikationsregelungen mit der damit verbundenen Entscheidung durch einen Dritten, nämlich den Arzt, ist endlich überwunden. Und die für die Frau so unwürdigen
Vorgänge von Memmingen dürften sich nicht mehr wiederholen.
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Zweitens. Damit hat das Gericht die Letztverantwortung der Frau in den ersten zwölf Wochen anerkannt. In ihrem abweichendem Votum bezeichnen dies Mahrenholz und Sommer mit Recht als „Konsequenz aus einem gewandelten Verständnis von der Personalität und Würde der Frau".
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Drittens. Auch ohne das Erfordernis einer Indikationsfeststellung wird Lohnfortzahlung gewährt und für Bedürftige die Bezahlung des Eingriffs durch die Sozialhilfe überwunden.
Wenn damit das Gericht auch akzeptiert, daß der Schwangerschaftsabbruch wegen der „Zweiheit in Einheit" eine einmalige Konstellation darstellt, bei der die Frau immer auch sich selbst verletzt, belegen die sechs Richter die Frau gleichwohl mit einem Makel, indem sie deren Handeln auch bei strikter Ausrichtung nach dem Gesetz das „nicht rechtswidrig" versagen und damit als rechtswidrig ansehen. Ja, die sechs Richter führen in aller Härte aus - ich zitiere -:
Die Beratungsregelung mutet es daher Frauen zu, auf die persönliche Entlastung zu verzichten, die in einer Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des von ihnen beabsichtigten Abbruchs liegen kann, auch wenn bei ihnen im Einzelfall eine allgemeine Notlage ohne weiteres nachvollziehbar erscheinen mag.
Das stellt in zweierlei Hinsicht eine nicht plausible und - wie ich meine - auch in höchstem Maße ungerechtfertigte Schlußfolgerung dar.
Erstens. Auch wenn für die Schwangere individuell eine rechtfertigende Notlage vorläge - es fehlt nur die formale Feststellung -, wird ihr nunmehr das Prädikat „nicht rechtswidrig" vorenthalten, und das, obwohl es sich dabei um die Mehrheit der Frauen handeln wird, die sich gesetzestreu und rechtmäßig dem Eingriff unterziehen. Sind es nämlich bisher im Schnitt 80 % aller Abbrüche gewesen, bei denen eine rechtfertigende Notlage festgestellt wurde, wird es in Zukunft bei dem Reformmodell nicht viel anders sein.
Zweitens. Die zunächst anerkannte Letztverantwortung der Frau wird damit rückwirkend wieder in Zweifel gezogen.
Die Folge dieses Rückfalls in eine, wie ich meine, überholte Dogmatik ist es, daß sich das Gericht bei den Positiva selbst in Schwierigkeiten gebracht hat. Nur mit juristischen Kunstgriffen gelingt es den sechs Richtern, den Arztvertrag dennoch als nicht rechtswidrig zu bezeichnen und die Lohnfortzahlung als mit dem Gesetz vereinbar hinzustellen. Dasselbe gilt für die Sozialhilfe.
Hier bleibt zu prüfen - das sind unsere Schlußfolgerungen -, wie weit die Sozialhilfe reichen darf, was der Ausschluß der Kassenleistung in der Praxis bedeutet und ob sie wirklich in jedem Fall ausgeschlossen ist.
Als schwer nachvollziehbar erscheinen die Auflagen des Gerichts bei der Beratungsregelung - bis zu dreimal darf oder soll die Frau notfalls vorgeladen werden -, bei dem Arztgespräch und der Einbeziehung derer in die Strafbarkeit, die auf die Frau in negativer Weise eingewirkt haben. Hier wird der Gesetzgeber sehr sorgfältig zu prüfen haben, wie weit er einerseits gehen muß, um dem Verfassungsgericht noch Genüge zu tun, und wie pragmatisch er andererseits den Weg der Frau ausgestalten kann, um diese nicht zu einem weltfremden und abstoßenden Beratungshürdenlauf zu zwingen.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Urteil gibt dem Gesetzgeber auf, sich seit Beginn der 70er Jahre zum dritten Mal mit der heiklen Materie des Schwangerschaftsabbruches zu befassen, und niemand kann ausschließen, daß sich auch das Bundesverfassungsgericht irgendwann noch einmal mit dem zu ändernden Gesetz wird beschäftigen müssen.
Das Urteil hat freigesprochen und gerichtet zugleich. Es ist im Namen des Volkes ergangen. Ein Großteil des Volkes hat diesen Richterspruch nicht verstanden. Das sollte zu denken geben.
({3})
Ich erteile nun dem Abgeordneten Udo Haschke das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer jahrelang, eigentlich sein Leben lang darauf angewiesen war, nur die Möglichkeit gegenüber staatlicher Willkür hatte, Eingaben, also Bittbriefe an den nächsthöheren Allmächtigen zu schreiben,
({0})
der sollte eigentlich dankbar sein, daß es das Bundesverfassungsgericht gibt,
({1})
der sollte dankbar sein und wissen, welch ein Glücksgriff den Vätern des Grundgesetzes gelungen ist,
({2})
als sie die Dreiteilung in Legislative, Exekutive und Judikative trafen. Ich halte das für sehr wichtig, und ermessen kann es möglicherweise nur der, der bisher anderes erlebt hat.
({3})
- Sie haben nicht bei uns gelebt, Sie haben keinen
Bittbrief schreiben müssen; ich darf das wohl anmerken. Vielleicht kommen Sie irgendwann einmal zu
uns. Sehen Sie sich das, was da alles geschehen ist, wirklich in Ruhe an! Aber dies am Rande.
({4})
- Vor 14 Tagen gab es diesen gleichen Anwurf schon einmal, und wir haben darauf reagiert. Lassen Sie das jetzt bitte weg!
Ich denke jedenfalls, Frau Minister Hildebrandt, die auch nicht erst am 3. Oktober 1990 geboren worden ist, sondern auch ihren Doktortitel in der DDR erworben hat, hat dieser Demokratie einen Bärendiest erwiesen, als sie anzweifelte,
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daß dieses Verfassungsgericht für solche Belange zuständig sei. Sie hat auch den betroffenen Frauen einen Bärendienst erwiesen. Frau Brudlewsky hat darauf hingewiesen. Versuchen Sie es doch mal zu begreifen!
Die Pflicht zur Beratung diskriminiert nicht eine einzige in die Notlage einer ungewollten Schwangerschaft geratene Frau.
({6})
Sie bietet Hilfe an, und das sollten wir auch so sehen.
({7})
Meine Damen, das Engagement schützt Sie nicht davor, mit einer gewissen Ruhe auch dieser Debatte zu folgen, sie notfalls zu ertragen.
Worum geht es denn eigentlich bei dieser Beratungspflicht? Es geht darum, daß diese Beratung zum Schutz des ungeborenen Lebens führen soll, und zwar zielgerichtet, und - jetzt sage ich es deutlich - nicht gegen eine Frau, sondern gegen die Egoismen von Mann und Frau, wie ein Kommentator in der FAZ bemerkte.
({0})
Gegen die Egoismen von Mann und Frau: Es gehören immer zwei dazu. Das weiß ich nun; ich bin auch betroffen. Ich habe ein paar Kinder.
({1})
Natürlich merke ich: Sie möchten nicht, daß ein Mann darüber mitredet. Doch! Ich wünschte, es wäre ein Allgemeinzustand, daß Frauen und Männer wieder miteinander reden, auch in solchen heiklen Fragen.
({2})
Für mich gilt seit langer Zeit ein altchinesisches Sprichwort: Die Hälfte des Mannes ist die Frau. Für mich heißt das übersetzt: Mann und Frau brauchen
einander. Wir brauchen einander gerade in extremen Zeiten und natürlich in dieser Frage im besonderen und in allen Konsequenzen, die daraus erwachsen.
({3})
- Frau Schenk, Sie sind noch nicht ganz so alt wie ich. Vielleicht achten Sie, daß man auch als älterer Mann etwas sagen darf.
Wir müssen auch auf etwas achten - das ist die logische Konsequenz aus diesem Urteil -,
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nämlich auf die Bedingungen, in denen unsere Kinder aufwachsen, die in den meisten Fällen irgendwann Väter und Mütter werden.
Ich erlaube mir wie meine Vorrednerin einen Rückgriff auf die Diskussion von heute nachmittag. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie wir einander annehmen, wie wir einander zuzuhören wissen oder auch nicht, zeichnen wir praktisch täglich Wertbilder. Auch Sie zeichnen Wertbilder. Es liegt an uns, an unserer Erwachsenengesellschaft, daß Toleranz, Partnerschaft, Liebe, Liebe zum Kind als unverzichtbare Werte unserer Gesellschaft, unseres Miteinanders von Mann und Frau erkennbar bleiben. Darum bitte ich.
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Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Hanna Wolf.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich muß schon sagen, manche Reden sind schon ein bißchen schwer erträglich, und die, die gerade gehalten wurde, gehört dazu.
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Liebe Frau Würfel - sie ist gerade nicht da -, die Revolution ist in Karlsruhe nun weiß Gott nicht ausgebrochen, es sei denn, wir interpretieren Revolution unterschiedlich.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist ein Schritt vor und zwei zurück. Der Schritt nach vorne ist die Anerkennung der Fristenregelung; das wurde heute schon mehrfach betont. Aber er ist mit zwei Rückschritten verbunden. Die zwei Rückschritte sind ein harter Schlag für die betroffenen Frauen und ganz besonders für die Frauen in der ehemaligen DDR.
Rückschritt Nr. 1: Eine Frau, die einen Abbruch nach Beratung fristgemäß vornehmen läßt, macht sich zwar in keinerlei Hinsicht strafbar, ihr wird aber der Vorwurf gemacht, sie habe gegen Verfassungswerte verstoßen. Die moralische Akzeptanz einer persönlichen, verantwortlichen Entscheidung wird der Frau verweigert. Die betroffenen Frauen werden mit einem moralischen Unwerturteil belastet. Auch die Ärzte und Ärztinnen, die einen Schwangerschaftsabbruch fristgemäß vornehmen, werden mit diesem Makel behaftet.
Trotz der eindeutigen Straffreiheit wird dadurch eine erhebliche Unsicherheit verbreitet. Der Gipfel der juristischen Urteilskonstruktion ist der Entzug des Kostenersatzes für die meisten Schwangerschaftsabbrüche durch die Krankenkassen. Er soll den moralischen Unwert des Abbruchs unterstreichen.
Rückschritt Nr. 2: die detaillierten und belastenden Anforderungen an die Beratung. Jetzt kommt eine ganz besondere, neue Regelung in Bayern; denn Bayern hat prompt reagiert. Bayern hat bereits Formulartexte für die Beratungsbestätigung an die Beratungsstellen verteilt. Minutiös werden alle Elemente einer Lebensschutzberatung aufgelistet: Auf die Rechte des Embryos muß hingewiesen worden sein, aber kein Wort zu der uneingeschränkten Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs innerhalb der Frist. Darüber hinaus schikanieren die bayerischen Behörden die Beraterinnen und Berater mit besonderen Erklärungen zur verfassungsgemäßen Beratung. Das wird in keinem anderen Bundesland gefordert. Wir können sicher sein, daß das in Bayern nur der Anfang ist.
Unsere Aufgabe ist es jetzt - hier appelliere ich ganz besonders an die Kolleginnen und Kollegen, die dem Gruppenantrag zugestimmt haben -, den Rückschritt soweit wie möglich in Grenzen zu halten. Die Entscheidung enthält Elemente, die uns hier helfen können. Vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich vorgesehen ist der Kostenersatz des Schwangerschaftsabbruchs für Frauen mit Einkommen unterhalb der Einkommensgrenze für sogenannte Hilfen in besonderen Lebenslagen. Durch eine Erhöhung der heute geltenden Einkommensgrenzen können wir den größten Teil der betroffenen Frauen einbeziehen.
Auch die Ausgestaltung des Verfahrens beim Kostenersatz müssen wir in einer Weise regeln, die Frauen möglichst wenig belastet. Die Sicherung der Anonymität der Frauen ist zu gewährleisten. Die Beratung muß zeitlich begrenzt werden. Wir werden dafür sorgen, daß die Beratung nicht hingezögert wird. Das ist auch im Hinblick auf eine künftige Anwendung der RU 486 unbedingt erforderlich. Sie muß in einem frühen Stadium der Schwangerschaft eingenommen werden.
Jetzt wollte ich Frau Würfel fragen, ob die Tickermeldungen, die heute gekommen sind, nicht mehr gelten. Denn darin spricht sie noch davon, daß es kein Zweiklassenrecht gibt. Ihr Vorschlag, um das auszuschließen, wäre die psychopersonale Notlagenindikation für Frauen in besonders arger Bedrängnis. Ich würde doch sehr davor warnen, daß wir hier durch die Hintertür wieder eine Indikationsregelung einführen.
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Denn sie bedeutet für Frauen in ganz besonderer Not, daß sie unter einen Darlegungszwang geraten, den Frauen, die keine finanzielle Notlage haben, nicht haben. Das wäre ein Zweiklassenrecht. Karlsruhe hat die Fristenregelung bestätigt. Wir wollen nicht, daß die Indikationsregelung in irgendeiner Weise wiederkommt.
Vielen Dank.
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Die Abgeordnete Frau Ortrun Schätzle hat nunmehr das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat - ich bin froh, daß ich das noch einmal betonen kann - zwei ganz existentielle Entscheidungen getroffen. Die eine: Menschliches Leben steht nicht zur Disposition. Die andere: Menschliches Leben kann in allen Phasen seiner Existenz den Schutz des Staates beanspruchen.
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Konsequenterweise soll nach diesem neuen Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Beratung von Frauen in Konfliktsituationen eine Schutzfunktion übernehmen: eine Schutzfunktion für das ungeborene Kind. Für diesen Prozeß der oft schwierigen Entscheidungsfindung gibt das Urteil ein ganz klares Konzept vor. Die Beratung wird zur Pflicht gemacht. Man kann aber nicht von Schikane sprechen. Die Beratung hat zum Ziel, Frauen zum Austragen ihres Kindes zu ermutigen. Sie wissen alle: 80 % der Frauen wollen ihr Kind behalten. Nur, diese Frauen artikulieren sich nicht in der Öffentlichkeit. Ich glaube, wir sprechen für sie, wenn die Beratung für das Leben durch diese neue Ordnung gewährleistet wird und wenn die Beratung eben nicht zum Ziel hat, gegen das Leben zu votieren. Die Beratung muß einen höchstmöglichen Schutz für das Kind erreichen.
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Deshalb werden auch sehr hohe Qualifikationsansprüche an die Beraterinnen und Berater gestellt. Von der hohen Bedeutung der Qualität der Beratung haben wir in der Anhörung erfahren. Der Verlauf der Beratung darf sich also nicht auf Informationen reduzieren, sondern muß unbedingt ein Gespräch beinhalten, das sich der Konfliktaufbereitung und der Konfliktverarbeitung widmet.
Zum Beratungsgespräch gehört, daß die Frau ihren Konflikt artikuliert und versucht, ihre Motive zu benennen. Das ist bei jeder ärztlichen Beratung der Fall. Das Beratungskonzept soll Frauen veranlassen, sich um eine gewissenhafte Beurteilung des anstehenden Konflikts zu bemühen. Ich glaube, wir dürfen nicht aus dem Auge verlieren, daß es sich hier um eine Entscheidung um Leben oder Tod handelt. Daß das Gespräch natürlich in einer Atmosphäre verlaufen muß, die Vertrauen und Verständnis zeigt, ist ungemein wichtig für die Frauen. Daher bleibt es den Frauen überlassen, Dritte, z. B. den Vater des Kindes oder Mitglieder der Familie, in diese Beratungsgespräche einzubeziehen.
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Das Urteil hat festgelegt, daß die Beratung berücksichtigen muß, den Schwangerschaftsabbruch als Unrecht bewußt zu machen. Es wird der Zielrichtung gerecht, daß menschliches Leben nicht zur Verfügung
stehen darf. Die weiteren Beratungsinhalte, die Sie gerade genannt haben, seien es die medizinischjuristischen und sozialen Informationen oder die Darlegung der Rechtsansprüche von Mutter und Kind, praktische Hilfen oder Unterstützung bei der Wohnungssuche, waren Beratungsinhalte, die zwischen den Parteien weitgehend auf Einigkeit stießen. Neu gefordert wird aber das, was vorhin schon angeprangert wurde, nämlich das Beratungsprotokoll, das von der Beratungsstelle mit sehr dezidierten statistischen Angaben gemäß den Geboten des Datenschutzes erstellt werden muß. Außerdem hat der Gesetzgeber - ich glaube, er wird damit dem Problem des Schwangerschaftsabbruchs gerecht - die Möglichkeit, für die Auswirkungen seines Schutzkonzeptes Verantwortung zu zeigen, indem er seiner Beobachtungspflicht gegenüber der Beratungsstelle nachkommt.
Für uns Politiker stellt sich die Aufgabe, ein verbindliches Qualifikationsprofil für die Beraterinnen und für die Berater festzulegen. Für uns Politiker stellt sich auch die Forderung nach einer bundesgesetzlichen Regelung der Beratung.
Ich glaube - damit möchte ich schließen -, in einer Zeit, in der sich Meldungen in den Medien über
Menschenmorde und Menschenrechtsverletzungen überschlagen, muß ein solches Urteil bewußtseinsbildend wirken und den Gedanken der Verfügbarkeit des Lebens aus unseren Köpfen verdrängen.
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Meine Damen und Herren, das Protokoll hat mir mitgeteilt, daß die Abgeordnete Frau Christina Schenk in ihrem Redebeitrag behauptet hat, in der deutschen Außenpolitik hätten mörderische Optionen Platz. Frau Abgeordnete Christina Schenk, ich erteile Ihnen für diese Entgleisung einen Ordnungsruf.
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Meine Damen und Herren, wir sind am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 17. Juni, um 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.