Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/14/1993

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet. Interfraktionell ist vereinbart worden, daß am Mittwoch, dem 26. Mai, und am Donnerstag, dem 27. Mai 1993, keine Fragestunde, keine Aktuelle Stunde und keine Befragung der Bundesregierung stattfinden. Sind Sie mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden? - Das ist der Fall. Dann haben wir es so beschlossen. Das gestern überwiesene Entschädigungs- und Ausgleichsgesetz soll nachträglich dem Haushaltsausschuß auch gemäß § 96 der Geschäftsordnung überwiesen werden. Sind Sie auch damit einverstanden? - Das ist der Fall. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Freimut Duve, Peter Conradi, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Zentrale Gedenkstätte des Bundes - Drucksache 12/4536 -Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({0}) Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Auch dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat der Abgeordnete Peter Conradi das Wort.

Peter Conradi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000335, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 1986 haben wir im Bundestag über ein Mahnmal in Bonn diskutiert. Die Bundesregierung hatte einen Vorschlag des Volksbunds für Kriegsgräberfürsorge und anderer Verbände aufgegriffen. In der Debatte ging es nicht nur um die Vorschläge des Volksbundes: eine unterirdische Weihehalle mit einer riesigen hängenden Dornenkrone und einem 200 mal 200 m großen Aufmarschplatz - alles sehr geschmackvoll! -; es ging vielmehr um die Frage: Brauchen wir ein zentrales Mahnmal, und welche geistige Haltung legen wir diesem Mahnmal zugrunde? Die SPD wollte den Teil der großen Rede des Bundespräsidenten vom 8. Mai 1985, in dem er die Opfer des Naziregimes in aller Welt beim Namen nennt, der Arbeit am Mahnmal zugrunde legen. Die CDU/CSU-Fraktion hat das abgelehnt. Damit war das Bonner Mahnmal erledigt. Es wäre ja auch nicht vorstellbar gewesen, daß der Bundespräsident ein im Bundestag strittiges Mahnmal einweiht. Als der Bundeskanzler die Fraktionen und Gruppen im Februar letzten Jahres zu einem Gespräch über die Zukunft der Neuen Wache einlud, hatte ich die Hoffnung, die Bundesregierung hätte aus dem Scheitern des Bonner Mahnmalprojekts gelernt. Wir waren uns im Kanzleramt einig, daß die Neue Wache zentrale Gedenkstätte Deutschlands werden soll. Über das Wie wollten wir weiter miteinander reden. Im Dezember letzten Jahres hat uns der Bundeskanzler am Rande einer Plenarsitzung informiert, er werde vorschlagen, die Neue Wache in der ursprünglichen baulichen Gestalt wiederherzustellen und darin eine Vergrößerung der 1937 von Käthe Kollwitz geschaffenen „Pietà" aufzustellen. Wir haben diesen Vorschlag positiv aufgenommen. Ich habe öffentlich Respekt für diesen Vorschlag erklärt. Wir haben empfohlen, mit den Verbänden der Opfer und der Hinterbliebenen darüber zu sprechen, insbesondere über die Frage, ob das Thema „Pietà" für ein solches Mahnmal angemessen sei. Dann geschah nichts, bis das Projekt im März 1993 im Haushaltsausschuß auftaucht, so, als handele es sich um ein normales Bauprojekt der Regierung wie das Finanzamt in Ludwigshafen. Bei allem Respekt vor dem Haushaltsausschuß, Frau Kollegin Albowitz, und dessen leidenschaftlichen Interesse an Fragen der Kultur. Das ist doch keine angemessene parlamentarische Behandlung eines solchen Vorhabens. Wenn die Neue Wache ein Mahnmal des ganzen Volkes sein soll, muß es doch darüber eine öffentliche Debatte geben, nicht zuletzt hier in der Volksvertretung. ({0}) Das ist doch kein Regierungsmahnmal, das im Stil Seiner Majestät per Kabinettsorder gnädiglich dem deutschen Volke gewährt wird. Ich sage es noch einmal: Die Beratung im Haushaltsausschuß ist keine öffentliche Debatte. Das gehört ins Plenum! Ich hätte erwartet, daß das Mahnmal im Plenum mit einem Antrag der Koalitionsfraktionen oder einem Vorschlag der Regierung zur Debatte gestellt wird. Ich hätte erwartet, daß die Verbände der Opfer und der Hinterbliebenen an der Diskussion beteiligt werden. Der überhastete Baubeginn an der Neuen Wache ist kein Ausdruck von Respekt gegenüber dem Parlament. Warum ist das Projekt so eilig? Es kommt doch überhaupt nicht darauf an, ob der Bundespräsident die Neue Wache am Volkstrauertag 1993 oder 1994 einweiht. Er würde das Mahnmal gewiß nicht einweihen, wenn es dagegen heftige Proteste aus dem Kreis der Opfer und der Hinterbliebenen gäbe. Er wird es auch nicht einweihen, wenn es hier im Hause strittig ist. Was also ist so eilig? Wir bitten Sie, Herr Bundeskanzler, das Projekt nicht mehr als Kabinettssache zu behandeln. Das ist eine parlamentarische Demokratie, und wir wollen mit Ihnen, mit allen Interessierten und Betroffenen gemeinsam über den geistigen Inhalt und die Form dieses Mahnmals diskutieren. Fünf Punkte erscheinen uns diskussionswürdig: Erstens. Brauchen wir ein zentrales Mahnmal? Damit werde die Grenze zwischen Tätern und Opfern verwischt, wird uns entgegengehalten, auch die Grenze zwischen Opfern unterschiedlicher Art und Herkunft. Doch niemand hat sich bisher daran gestoßen, daß der Bundespräsident am Volkstrauertag in einer Rede aller Opfer gedenkt. „Im Tod hört die Feindschaft auf", sagte Manfred Rommel in Stuttgart, als die Beerdigung der Terroristen aus Stammheim auf dem Waldfriedhof ein Streitthema war. „Im Tod hört die Feindschaft auf ", und deshalb brauchen wir ein zentrales Mahnmal. Es tut den anderen Mahnmalen für einzelne Opfergruppen keinen Abbruch. Zweitens. Soll die Neue Wache in Berlin das Mahnmal sein? Dazu sagen wir ja. Nach der Geschichte dieses Baus, nach seiner Form ist er dafür gut geeignet. Es war eine sozialdemokratische Regierung Preußens, die 1929 den Umbau der Neuen Wache zu einem Mahnmal vorgeschlagen und mit der Reichsregierung ausgeführt hat. Drittens. Soll die bauliche Form der Neuen Wache erhalten bleiben? Wir meinen, ja. Das ist ein edler Bau von Schinkel. Tessenow hat daraus einen eindrucksvollen Raum der Stille geschaffen. Der Raum war so schlicht, daß die Reichswehrführung nicht an der Einweihung teilnehmen wollte; ihr war das nicht großartig genug. Diesen Raum sollten wir erhalten. Viertens. Das Schwierigste: Was soll im Innern der Neuen Wache geschehen? Tessenow hatte dort einen fast 2 m hohen schwarzen Granitblock, wie ein Altar. Das war eine feierliche Überhöhung der Opfer. Ich glaube, das ist keine Form, die heute zum Nachdenken auffordert. Die DDR hat die Neue Wache verändert. Sie hat dort eine Urne für den unbekannten Soldaten und eine Urne für den unbekannten Widerstandskämpfer eingebracht, zusammen mit der Erde von Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges und mit der Erde aus Konzentrationslagern. Ich meine, das sollten wir nicht verändern, das sollte so bleiben. Nun schlägt der Bundeskanzler eine Vergrößerung der „Pietà" von Käthe Kollwitz vor. Käthe Kollwitz ist außer Streit. Herr Bundeskanzler, das ist eine gute Wahl. Sie ist eine große deutsche Künstlerin, die in Ost- und Westdeutschland und im Ausland geachtet und anerkannt ist. Ihre Mutter mit dem toten Sohn ist eine starke Arbeit. Kollwitz schreibt dazu: Meine Mutter bleibt im Sinnen darüber, daß der Sohn nicht angenommen wurde von den Menschen. Sie ist eine alte, einsame und dunkel nachsinnende Frau. Diese „Pietà" versteht jeder. Es wird eine Spannung zwischen dem kühlen, vornehmen, distanzierten Raum von Tessenow und der nachdenklichen, stillen Mutter von Kollwitz entstehen. Und nebenbei: Vor dieser Mutter mit dem toten Sohn verbietet sich jedes militärische Zeremoniell. Problematisch ist die Vergrößerung der Plastik; denn wenn eine solche Plastik - sie ist ja nur 38 cm groß - auf Überlebensgröße vergrößert wird, kann sie dabei an Struktur, an Oberflächengestalt, an Ausdruck verlieren. Wir sollten uns das am Modell anschauen, bevor wir endgültig entscheiden. Ich nehme die Frage von Künstlern ernst, warum wir nicht Künstler unserer Zeit daran beteiligen. Darüber soll man reden. Aber ich finde die Plastik von Käthe Kollwitz stark; es müßte schon eine sehr starke Arbeit sein, die sich an dieser Arbeit messen ließe. Die fünfte und letzte Frage: Welche Inschrift soll dort stehen? Wir haben uns daran gewöhnt, formelhaft zu sagen: „die Opfer der Kriege und der Gewaltherrschaft" . Darüber kann und muß man aber nachdenken; denn zuerst kam doch die Gewaltherrschaft, dann kam der Krieg. Und die Opfer sind nicht dieselben. Wäre es nicht vernünftig, historisch richtig und sprachlich sauber zu sagen: „Den Opfern der Gewaltherrschaft und den Opfern der Kriege"? Der beste Text zu diesem schweren Thema ist und bleibt die Rede des Bundespräsidenten am 8. Mai 1985. Dort wird nichts beschönigt, nichts verkleistert, nichts verfälscht. Herr von Weizsäcker erinnert in Wahrhaftigkeit an die Opfer, indem er sie bei ihrem Namen nennt: Wir gedenken heute in Trauer aller Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft. So heißt es in dieser Rede. Wir gedenken insbesondere der sechs Millionen Juden, die in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden. Wir gedenken aller Völker, die im Krieg gelitten haben, vor allem der unsäglich vielen Bürger der Sowjetunion und der Polen, die ihr Leben verloren haben. Als Deutsche gedenken wir in Trauer der eigenen Landsleute, die als Soldaten, bei den Fliegerangriffen in der Heimat, in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind. Wir gedenken der ermordeten Sinti und Roma, der getöteten Homosexuellen, der umgebrachten Geisteskranken, der Menschen, die um ihrer religiösen oder politischen Überzeugung willen sterben mußten. Wir gedenken - so sagt der Bundespräsident der erschossenen Geiseln. Wir denken an die Opfer des Widerstandes in allen von uns besetzten Staaten. Wir gedenken derer, die nicht aktiv Widerstand leisteten, aber eher den Tod hinnahmen, als ihr Gewissen zu beugen. Gibt es einen besseren Text? Wir Sozialdemokraten wollen diese Worte der gemeinsamen Arbeit für das Mahnmal in der Neuen Wache zugrunde legen, und dafür bitten wir um Ihre Zustimmung. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Es spricht jetzt der Bundeskanzler.

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst will ich sagen: Ich begrüße es ausdrücklich, daß wir heute früh diese Debatte führen. Herr Abgeordneter Conradi, Sie haben das nicht erwähnt, aber der Antrag wird an die Ausschüsse überwiesen, und ich denke, daß unser Gespräch in den Ausschüssen fortgesetzt werden wird. Dieses Gespräch werde ich seitens der Bundesregierung auch persönlich führen, nicht etwa, um - wie Sie zu sagen beliebten - die Sache per Kabinettsorder auf den Weg zu bringen, sondern um mein sehr persönliches Engagement in dieser Frage deutlich zu machen. Ich will jetzt auch nicht nachkarten, weil mir die Sache zu wichtig ist, als daß hier eine Kontroverse eröffnet werden sollte. Die Darstellung der Gespräche war schon sehr verkürzt, verehrter Herr Kollege. Ich habe mit den Fraktionsvorsitzenden gesprochen, und die Fraktionsvorsitzenden haben ja etwas mit dem Hohen Hause zu tun. Die Fraktionsvorsitzenden haben mir dann ihrerseits Beauftragte der Fraktionen genannt, ({0}) der SPD-Fraktionsvorsitzende den geschätzten Kollegen Conradi, und mit denen haben wir ausführlich gesprochen, haben wir mehrere Gespräche geführt. Es gab auch Gespräche mit Betroffenen - das werden Sie in meinen Ausführungen gleich hören -, es gab Gespräche mit dem Bundespräsidenten und mit der Frau Bundestagspräsidentin. Ich habe mich wirklich sehr bemüht, möglichst viele Gespräche zu führen. Da wir ja ein parlamentarisches System haben, Herr Kollege Conradi, ist es die natürlichste Sache von der Welt, daß die demokratisch legitimierte, aus den Parlamentswahlen hervorgegangene Bundesregierung auch in dieser Frage handlungsfähig ist. ({1}) Aber ich beziehe mich jetzt gar nicht auf das Verfassungsrecht, sondern das ist eine Frage, die eine ganz andere Dimension hat. ({2}) Deswegen bin ich ganz und gar damit einverstanden, daß wir miteinander sprechen. Ich bin nicht damit einverstanden - um das deutlich zu sagen -, daß diese Sache zeitlich wieder sehr verschoben wird, und zwar aus dem einfachen Grunde - Sie haben das ja in der ersten These, die Sie vorgetragen haben, auch bejaht -, daß es einfach überfällig ist - ich sage bewußt: überfällig ist -, daß die Bundesrepublik Deutschland ein würdiges zentrales Mahnmal zur Erinnerung an die Toten von Krieg und Gewaltherrschaft besitzt, indem wir auch das wahrnehmen können, was internationales Protokoll ist - und sogar ein Stück mehr -, wenn Gäste aus dem Ausland zu uns kommen. In den über zehn Jahren meiner Amtsführung hier in Bonn war ich immer tief betroffen über die Art und Weise, wie wir dieses „Protokoll" wahrgenommen haben. Es gibt keine Hauptstadt auf dieser Erde - keine Hauptstadt auf dieser Erde! -, in der mit Blick auf diese Frage die Repräsentanz eines Landes so wahrgenommen wird wie hier bei uns. Es hat etwas mit der Würde unseres Landes zu tun, wie wir mit dem Gedenken an die Toten umgehen. Ich glaube, an dem Punkt sind wir gar nicht auseinander. Deswegen ist die Frage für mich ganz klar - wie von Ihnen auch - mit Ja zu beantworten: Wir brauchen eine solche Gedenkstätte. Das, was auf dem Bonner Nordfriedhof jeweils protokollarisch abläuft, ist für mich auf die Dauer nicht akzeptabel. Deswegen habe ich ja schon in meiner allerersten Regierungserklärung 1982 diese Anregung gegeben. Es sind politische, und es sind moralische Erwägungen, die es notwendig machen, daß wir die Erinnerung und das Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft gerade auch im wiedervereinigten Deutschland wachhalten. Nun haben wir in Berlin eine ganze Reihe von Entscheidungen zu treffen, und ich kann mich nicht damit einverstanden erklären - so war es ja wohl auch nicht gemeint -, daß wir jetzt womöglich die Entscheidung über die Neue Wache in der Schwebe lassen. Vielmehr bin ich dafür, daß wir uns möglichst rasch im Gespräch einigen und dann keinen Zeitverzug eintreten lassen. Im übrigen glaube ich, es ist auch als ein Signal für Berlin in einem ganz anderen Zusammenhang wichtig - da mögen wir unterschiedlicher Meinung sein, Herr Conradi -, ({3}) daß dort nämlich klar und deutlich erkannt wird: Es bleibt bei einem wichtigen Beschluß des Deutschen Bundestages. ({4}) Es geht hier um eine Frage, die neben künstlerischen Aspekten auch den Aspekt umfaßt, daß fast jeder von uns seine sehr persönliche Beziehung zu diesem Thema hat. Ich habe mit dem damaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger und mit vielen aus den Fraktionen viel über die ursprünglichen Pläne diskutiert und dabei gelernt, daß das Schicksal meiner eigenen Familie - mein Bruder ist am Ende des Krieges gefallen - ja ein ganz „normales" Schicksal einer deutschen Familie ist. Zwei Brüder von Philipp Jenninger sind gefallen, und wenn ich hier in die Reihen schaue, unter Freunden und Kollegen, steht mir so manches ähnliche Beispiel vor Augen. Herr Kollege Conradi, bei all dem, was man jetzt sagt: Ich war in diesem Zusammenhang immer zutiefst berührt von dem Gedanken, daß in einem solchen Mahnmal nicht nur - wie früher; ich rüge das nicht, das waren andere Zeiten - der tote Soldat im Mittelpunkt steht, sondern vor allem auch die Mutter, die Witwe, die Hinterbliebenen. Gerade in diesen Tagen, da wir wieder Schreckensbilder sehen, die vor allem auch Frauenschicksale betreffen, habe ich die Empfindung, daß die große Mehrheit unseres Volkes ähnlich denkt. ({5}) Ich stimme ausdrücklich dem Text Ihres Antrages zu, Herr Kollege Conradi, daß diese Gedenkstätte „beispielhaft für das politische Selbstverständnis und die politische Selbstverständigung unseres Volkes in Erinnerung, Trauer und Ermahnung" steht. In dieser gemeinsamen Verantwortung sind wir uns über Parteigrenzen hinweg einig. Nun hat die Bundesregierung - bitte beschäftigten Sie sich dabei direkt mit mir; ich schiebe das nicht auf andere Ressorts ab - nach den Gesprächen, die ich geschildert habe, auf meinen Vorschlag hin am 27. Januar beschlossen, die nach Entwürfen von Karl Friedrich Schinkel 1816/18 erbaute Neue Wache im Herzen der Hauptstadt Berlin den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft zu widmen. Wir haben ebenfalls beschlossen, dort die Skulptur „Mutter mit totem Sohn" von Käthe Kollwitz aufzustellen. Nach unserer und meiner Überzeugung soll ein Ort des Gedenkens, der Mahnung, des Nachdenkens, der Besinnung entstehen. Aus den Diskussionen, die wir ja hier in den 80er Jahren um die Errichtung einer zentralen Malm- und Gedenkstätte führten, wissen wir, daß es dabei nicht um irgendein beliebiges Projekt geht, sondern daß sorgfältiges Überlegen und Abwägen notwendig sind. Aber ich weiß aus den Erfahrungen nach 1982 auch, daß eine solche Überlegung nicht mehr in endlosen Debatten zerfließen darf, sondern daß dann zu entscheiden ist, wenn man weiß, was man will. Ich denke, wir können uns auch hier einigen. Uns verpflichten die Verantwortung vor der Geschichte, die Erinnerung an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft und auch die - eben schon erwähnte - international zwingende Notwendigkeit eines würdigen staatlichen Symbols. Meine Damen und Herren, ich füge jetzt ein für mich sehr wichtiges, vielleicht persöhnliches Argument hinzu: Ich finde, es ist wichtig, daß diese Entscheidung zum jetzigen Zeitpunkt getroffen wird, in einem Augenblick, da noch wenigstens ein Viertel der heute lebenden Deutschen eine sehr persönliche Erinnerung an den Krieg und die Nazizeit hat. Wenn Sie in das Handbuch des Deutschen Bundestags schauen, sehen Sie, daß die Zahl derer, die Kriegsteilnehmer waren oder, wie ich Jugendliche und Heranwachsende bei Kriegsende, schon recht klein ist, und sie wird im nächsten Bundestag mit Sicherheit noch kleiner werden. Das ist kein Vorwurf an die Jüngeren - wie käme ich dazu -, aber, meine Damen und Herren, ich glaube, es ist schon wichtig, daß das unmittelbare Erlebnis einer Generation bei einer solchen Entscheidung mit aufgenommen wird. ({6}) Es ist ein Unterschied, ob man ein persönliches Erlebnis, ob man noch die Bilder der Gefallenen aus dem Leben vor sich sieht, Bilder von Bombennächten und von Flüchtlingstrecks, oder ob man das nur aus dem Schulunterricht, aus Büchern und Dokumenten erfährt. Ich bin überzeugt, daß sich das Gebäude der Neuen Wache von seinen historischen Traditionen wie von der Lage her wie kein zweiter Ort als zentrale Gedenkstätte eignet. Sein geschichtlicher und sein künstlerischer Rang ist unstrittig. Die Neue Wache - Sie haben das gesagt - war 1930/31 von der damaligen preußischen Regierung unter Ministerpräsident Otto Braun, unter Carl Severing - Sie müßten die Kollegen von der Zentrumspartei, wenn Sie schon Wert auf historische Genauigkeit legen, mit einbeziehen, auch die von der Demokratischen Partei; ich will das nur hinzufügen, damit es nicht ganz untergeht ({7}) - Verehrter Kollege, es hätte keine Preußenkoalition ohne das Zentrum gegeben. Das Zentrum hatte damals eine Funktion wie heute die F.D.P.; wenn Sie das bitte als Nachholunterricht betrachten. ({8}) Die Neue Wache wurde damals unter der Regierung von Otto Braun als Gedächtnisstätte für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs umgestaltet. Die Raumarchitektur- es gab einen Wettbewerb, den Heinrich Tessenow gegen berühmte Zeitgenossen gewann - mit ihrem konzentrierten Oberlicht ließ eine Atmosphäre der Stille und der Sammlung entstehen. Ich bin der Meinung - ich glaube, hier sind wir uns einig -, daß diese strenge, aber zur Besinnung einladende Raumgestaltung unbedingt erhalten bleiben muß. Sie sagten es: In der Weimarer Zeit stand in dem Raum ein schwarzer sarkophagartiger Granitkubus, auf dem ein silberner Eichenkranz lag. Dieses Symbol eines Heldendenkmals trifft sicherlich nicht mehr unser Empfinden, das Empfinden einer ganzen Generation, und deshalb sollte es nicht wiederhergestellt werden. Schmerz und Trauer sind heute Ausgangspunkte für die Nachdenklichkeit, mit der wir in Deutschland der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft gedenken. Es ist nicht leicht, meine Damen und Herren, dafür einen angemessenen Ausdruck zu finden. Zu schrecklich war das Unrecht, zu schrecklich das Leid, das Menschen in diesem Jahrhundert gerade auch im deutschen Namen in grausamster Weise zugefügt wurde. Ich glaube - und das ist eine der großen positiven Erfahrungen der Nachkriegszeit -, daß wir Deutschen zu Nachdenklichkeit und Nachsinnen in der Trauer ein neues Verhältnis gewonnen haben. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß die Skulptur „Mutter mit totem Sohn" von Käthe Kollwitz dies genau ausdrückt. Sie ist 1937 entstanden. Originalgips sowie mehrere Bronzeabgüsse, die noch zu Lebzeiten der Künstlerin entstanden, sind überliefert. Wir haben es uns nicht leicht gemacht, ich auch nicht. Ich selbst habe eingehende Gespräche mit den Erben von Käthe Kollwitz geführt, und wir haben die Zustimmung zur Gestaltung einer etwa lebensgroßen Fassung der Skulptur erhalten. Ich habe mir noch in den letzten Wochen den ersten Entwurf selber anschauen können. Ich kann Sie nur einladen, das gleiche zu tun, Herr Kollege Conradi. Eine etwa lebensgroße Fassung entspricht den Vorstellungen für die Proportionen eines Mahnmals, wie sie Käthe Kollwitz für ihr plastisches Hauptwerk, die „Trauernden Eltern", gewählt hat. Die Skulptur „Mutter mit totem Sohn" ist von einer großen Ausdruckskraft. Sie gibt mit großer Eindringlichkeit Nachricht von einer menschlichen Grundsituation, und sie wirkt - ich glaube das jedenfalls - dabei nicht sentimental. Käthe Kollwitz selbst hat das Werk in ihrem Tagebuch so beschrieben: Die Mutter sitzt und hat den toten Sohn zwischen ihren Knien liegen. Es ist nicht mehr Schmerz, sondern Nachsinnen. Später ergänzte sie die Beschreibung der Skulptur als „eine Art Pietà" . Aber, so hebt sie hervor, diese Mutterfigur ist nicht religiös.... Sie ist eine alte einsame und dunkel nachsinnende Frau. Käthe Kollwitz näherte sich der Tragödie dieses Jahrhunderts auf dem Weg, der jedem von uns verständlich ist: vom einzelnen Menschen und seinem Schicksal her. Weil ihr die Menschen am Herzen liegen, will sie, wie sie im Tagebuch notierte, mit ihrer Kunst „wirken in dieser Zeit". Sie wünschte sich „solche Arbeiten, die Wirkung in sich schließen". Ich finde, daß diese Skulptur auch einer Erfahrung Ausdruck gibt, die in den meisten Gedenkstätten fehlt - ich wiederhole mich -, nämlich dem Wissen um die Frauen als Opfer von Krieg und Gewalt, um die Frauen, die als Mütter oder Witwen von den Schrecken dieses Jahrhunderts in besonderer Weise betroffen waren und sind. Wir wissen, daß Käthe Kollwitz in den letzten Kriegstagen bei Dresden starb, und wir wissen auch, daß in den Jahrzehnten der deutschen Teilung ihre Werke diesseits und jenseits der Mauer so lebendig, aussagekräftig und überzeugend geblieben sind wie zu ihrer Entstehungszeit. Ich glaube, die Trauer der Mutter drückt mehr als Schmerz aus. Sie erinnert uns, daß wir gerade im Angesicht der Unmenschlichkeit und der systematischen Menschenvernichtung des 20. Jahrhunderts die Pflicht haben, uns die personale Würde des Einzelnen zu vergegenwärtigen. Der Glaube an das Unzerstörbare des Individuums ist der Kern aller religiösen und philosophischen Traditionen, auf die sich unsere abendländische Kultur beruft. Und so vergewissern wir uns auch eines Erbes, das Menschlichkeit stiftet. Ich weiß - und will das gleich hinzufügen -, daß Heinrich Tessenow bei seinen Gestaltungsplänen für die Neue Wache, nachdem er den Wettbewerb gewonnen hatte, kurzzeitig auch erwogen hat, anstelle dessen, was dort aufgestellt worden ist, ein - ich zitiere - „abgrundtiefes Loch, eine dunkle Grube mit Bronzebalken bedeckt" als Symbol für den unendlichen Schrecken des Krieges zu verwenden. Ich halte es, auch wenn er so dachte, für völlig ausgeschlossen, daß ein solches Zeichen der Hoffnungslosigkeit eine Botschaft an die Menschen heute sein kann. Wir setzen unsere Hoffnung auf die unzerstörbare Humanität. Ich habe eingangs bemerkt, daß die Errichtung einer zentralen Gedenkstätte genaues Abwägen, aber auch Handeln erfordert. Die Bundesregierung, auch ich, will beidem nachkommen. Wir haben uns bemüht, eine breite Diskussion im Vorfeld zu führen und Einvernehmen herzustellen. Wenn Sie im Hohen Haus den Eindruck haben, daß hier noch weiterer Gesprächsbedarf besteht, will ich dem gerne nachkommen. In dieses Gespräch gehört auch der Text der Widmung. Dazu muß ich schon sagen, Herr Kollege Conradi: Die Vorstellung, daß man dafür einen längeren Redetext verwendet, halte ich für wenig weiterführend. Seit Gründung der Bundesrepublik haben alle Bundespräsidenten eine Formulierung gewählt, die von der großen Mehrheit unseres Volkes akzeptiert und richtig verstanden wurde. Nun kann man sich natürlich fragen, ob eine solche, mehr pauschale Formulierung nicht manches mit erfaßt, was wir nicht mit erfaßt sehen möchten. Deshalb könnte man erwägen, mit der Formulierung mehr ins Detail zu gehen. Damit geriete man aber in die ganzen Irrgärten der modernen deutschen Geschichte. Je mehr Sie formulieren, um so weniger Gerechtigkeit werden Sie herbeiführen. ({9}) Bei den Versuchen nach 1982 - und ich habe viele Gespräche geführt - haben wir da unsere Erfahrungen gemacht. Ich will noch hinzufügen, daß selbstverständlich auch die Urnen an ihrem Platz bleiben sollen, die zu Zeiten der DDR in Erde von Schlachtfeldern und Konzentrationslagern eingebettet wurden. Ich finde, es ist normal, Herr Kollege Conradi, daß sich der Haushaltsausschuß und der Innenausschuß des Deutschen Bundestags mit der Gedenkstätte befassen. Ich kann nicht entdecken - bei Ihnen findet das vielleicht kein Verständnis -, daß die Kollegen, die nun einmal Mitglied des Haushaltsausschusses sind und die sich mit den Finanzen beschäftigen, weniger sensibel sein sollten als diejenigen, die vielleicht in den höheren Sphären wie beispielsweise beim Neubau eines Bundestages verweilen. ({10}) Deswegen bin ich dafür, das Gespräch fortzusetzen. Ich sage dies noch einmal, und ich hoffe auf Ihre Zustimmung. Aber da Sie nach den Betroffenen gefragt haben, möchte ich auch diesem Wunsch entgegenkommen und mit zwei Briefen, die ich erhalten habe, abschließen. Der eine Brief kommt vom Bund der Kriegsblinden Deutschlands. Er lautet: Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, am 14. September 1988 fand auf Einladung des Bundestagspräsidenten Dr. Philipp Jenninger eine Besprechung statt, zu der die Vorsitzenden der deutschen Kriegsopfer-Verbände sowie Vertreter des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge eingeladen worden waren. Dieses Treffen bekam seine besondere Bedeutung dadurch, daß Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, den Vertretern der vorgenannten Verbände Ihren Vorschlag zur Errichtung einer Mahn- und Gedenkstätte für die Opfer der Kriege und der Gewaltherrschaft unterbreiteten. Auf Grund Ihrer damaligen Ausführungen beschloß der BDK bei seinem 14. Bundesdelegiertentag vom 25.-27. September 1989 in Dortmund, die 3 000 Kriegsblinden und 220 Witwen von Kriegsblinden zu Spenden für den genannten Zweck aufzurufen. Das hierdurch erzielte Spendenaufkommen betrug 123 000 DM. Der Bundesvorstand hielt - nachdem nun feststeht, daß die Neue Wache in Berlin zur Mahn- und Gedenkstätte ausgestaltet werden soll - den Zeitpunkt für gekommen, den vorgenannten Spendenbeitrag dem gedachten Zweck zuzuführen. Im Auftrag des Bundesvorstandes darf ich Ihnen, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, einen Verrechnungsscheck über den Betrag von 123 000 DM beifügen, über den ab 1. Juni 1993 verfügt werden kann. In dem Brief heißt es dann weiter: Bemerken darf ich noch, daß es für die deutschen Kriegsblinden eine Genugtuung und Freude wäre, wenn nicht irgendein abstraktes Symbol gewählt würde, um Leid, Schmerz und Opfer der Kriegsgeneration darzustellen, sondern eine Plastik für die Ausgestaltung der Mahn- und Gedenkstätte Verwendung fände. Hierfür halten wir die vorgesehene Plastik von Käthe Kollwitz für besonders geeignet. Dr. Franz Sonntag Bundesvorsitzender des Bundes der Kriegsblinden Deutschlands e. V. ({11}) Ich finde auch den zweiten Brief sehr bemerkenswert, den ich Ihnen ebenfalls gerne zur Kenntnis bringe. Er kommt vom Präsidenten Walter Hirrlinger vom VdK Deutschlands. Er schreibt mir: Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, mit Interesse und großer Freude habe ich davon Kenntnis genommen, daß die Bundesregierung die Umgestaltung der Neuen Wache in Berlin zur Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland beabsichtigt und davon ausgeht, daß dies noch im Laufe dieses Jahres zur Tat werden kann. Ich kann Sie und die Bundesregierung dazu nur beglückwünschen. Durch eine solche Art von Zentraler Gedenkstätte würde endlich den Wünschen der Betroffenen Genüge getan. Sie wissen, wie sehr der Streit in der Vergangenheit die Gemüter bewegt hat und wie insbesondere die Kriegerwitwen zutiefst beleidigt waren ob der Art der Auseinandersetzung. Deshalb halte ich es für bedeutungsvoll, wenn die Bundesregierung es für ein politisch-moralisches Erfordernis hält, die Erinnerung und das Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft auf gesamtstaatlicher Ebene durch die Errichtung einer Zentralen Gedenkstätte wachzuhalten. Der VdK Deutschland steht voll hinter einem solchen Vorhaben. Ich begrüße auch ausdrücklich die Art der Gestaltung, nämlich einen Ort des stillen Innehaltens zu erleben. Dabei erinnere ich mich an meinen Besuch bei Ihnen, bei dem Sie mir den Entwurf der Skulptur von Käthe Kollwitz gezeigt haben, der jetzt in leicht übergroße Gestalt gebracht werden soll. Es ist meinerseits nur zu unterstreichen, daß Opfer von Krieg und Gewalt in besonderem Maße auch Frauen sind, was leider in den Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien wieder deutlich wird. Ich hoffe sehr, daß die Vorstellungen der Bundesregierung so umgesetzt werden, und darf Ihnen nochmals versichern, daß der VdK Deutschland voll hinter einer solchen Konzeption steht und sie begrüßt. Mit freundlichen Grüßen Ihr Walter Hirrlinger ({12}) Ich denke, das ist eine richtige Wegweisung. Ich biete die Gespräche an und hoffe auf eine baldige gemeinsame Entscheidung. ({13})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Abgeordnete Wolfgang Lüder.

Wolfgang Lüder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001390, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Entscheidung für eine zentrale Gedenkstätte unserer Bundesrepublik Deutschland ist im weiten Konsens der Fraktionen und Gruppen gefallen. Das ist heute schon in den ersten beiden Reden deutlich geworden. In der Bundeshauptstadt Berlin einen Ort des Gedenkens zu errichten ist richtig und notwendig, und dies im Konsens entschieden zu haben steht unserer Demokratie gut an. Daß Sie, Herr Bundeskanzler, diese Entscheidung vorangetrieben haben, sollte der Bundestag mit Dank zur Kenntnis nehmen. Auf den Tag genau vor 15 Monaten, am 14. Februar 1992, saßen wir bei Ihnen, Herr Minister Bohl; die Frau Präsidentin sowie Vertreter aller Fraktionen und auch der PDS waren dabei; ich weiß nicht, ob die GRÜNEN auch dabei waren. ({0}) Wir haben damals, in dieser ersten Runde, den Grundkonsens aus allen Richtungen deutlich gemacht, daß wir eine zentrale Gedenkstätte, und zwar jene in der Neuen Wache, wollen. 15 Monate sind seitdem vergangen. In diesen 15 Monaten - das müssen wir wohl auch selbstkritisch sehen - hat der Bundestag nicht darüber diskutiert und diesen Punkt nicht weiter aufgenommen, 15 Monate, in denen sich lediglich der Haushaltsausschuß einmal in diesem Jahr damit befaßt hat. ({1}) Ich sage das, weil ich ungerne andere kritisiere, solange ich selbst hätte handeln können. Das müssen wir, glaube ich, aus parlamentarischem Verständnis so sehen. ({2}) Das Wichtigste an der Entscheidung für eine zentrale Gedenkstätte ist dabei für mich die Aussage, daß die Gestaltung der Neuen Wache - ich darf aus der Regierungsvorlage an den Haushaltsausschuß zitieren - zu einem „Ort des stillen Innehaltens" werden soll. Ein Ort des stillen Innehaltens als zentraler Ort des Gedenkens steht, so meine ich, unserer Republik gut an. Ein Ort des stillen Innehaltens wird ein Zeichen dafür setzen, daß sich die Bundesrepublik Deutschland ihrer Verantwortung vor der Geschichte bewußt ist. In dieser Verantwortung vor der Geschichte liegt auch die Rechtfertigung für die Auswahl der Neuen Wache als zentralen Ort des Gedenkens. Wir können und dürfen nicht wegtauchen vor den Schattenseiten der deutschen Geschichte, für die die Neue Wache auch steht. Aber wir sollen und wollen uns gleichermaßen zu jenen guten Traditionen bekennen, auf die sich die Bundesrepublik stützen kann. Dazu gehört unzweifelhaft die Entscheidung zur Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg. So, wie sich der Deutsche Bundestag nach der Wiedervereinigung für den Reichstag als seinen Sitz nicht zuletzt deshalb entschieden hat, weil Philipp Scheidemann von ihm aus die erste deutsche Republik ausgerufen hat, so wird die Bundesrepublik mit ihrer Entscheidung für die Neue Wache dem folgen, was die Demokraten der Weimarer Republik realisiert haben, als sie sich für diese Neue Wache als Gedenkstätte - damals für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs - entschieden haben. Es ist gut - soweit ich sehen kann, ist auch dies Konsens -, daß wir jetzt kein Kriegerdenkmal wollen, sondern eine Gedenkstätte für alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Deswegen - Herr Conradi, da gibt es einen Unterschied zwischen uns; ich komme nachher noch auf einen Punkt, wo wir näher beieinander sind - halte ich den Text der Widmung in seiner Schlichtheit und damit auch in seiner Eindringlichkeit für gut und für richtig; denn er ist aussagekräftig und kennzeichnet den Ort stillen Innehaltens auch richtig und zutreffend. Ich finde, daß die Entscheidung bisher einen Mangel hatte, den wir heute teilweise beheben, Herr Bundeskanzler. Zum Wesen der Demokratie gehört ja, daß wir nicht nur in der Stille des Kabinetts oder in der Abgeschlossenheit des Haushaltsausschusses tagen und beraten. ({3}) Die Seelenverwandtschaft des Haushälters mit dem Regierungsvertreter kann ich durchaus aus eigener Anschauung verstehen. Aber als Demokraten sollten wir sehen, daß eine solche Entscheidung mehr Transparenz braucht. ({4}) Mir - ich habe das kürzlich im Innenausschuß ausdrücklich gesagt - wäre es lieber gewesen, wenn wir hier eine offene, öffentliche und offenkundige Debatte darüber gehabt hätten, warum wir Tessenow nicht mehr wollen. Das ging mir zu schnell mit dem einen Satz in der Vorlage, warum wir ihn nicht mehr wollen und warum die Entscheidung für Käthe Kollwitz und die Pietà zu fällen ist. Ich bin aber nicht der Meinung - auch das will ich deutlich sagen -, daß darüber die Verbände und die Betroffenen zu entscheiden hätten. Die betroffenen Verbände haben darüber mit zu beraten und sind von uns als Abgeordnete doch gehört worden. Wir haben doch die Gespräche gehabt, wir haben die Briefwechsel ebenso gehabt wie die Regierung, daß eine solche Gedenkstätte kommen soll und daß sie an diesem Ort und mit dieser Inschrift kommt. Aber hinsichtlich der künstlerischen Gestaltung hätte ich mir gewünscht, daß wir auch einmal sachkundige Künstler anhören, was sie meinen, wie sie dazu stehen, einfach um die Akzeptanz zu vergrößern. Ich bin der Meinung, daß es weder der Pietà noch Käthe Kollwitz würdig ist, daß hier nur unter Haushaltsgesichtspunkten entschieden wurde. ({5}) Der Haushaltsausschuß - das sage ich ganz freimütig - hat formal korrekt entschieden bis zu den 8 000 DM für das Bauschild. ({6}) Aber die offene, die offenkundige und öffentliche Diskussion darüber, was dort hingehört, können wir jetzt nachholen. Wir haben durch Ihre Rede, Herr Bundeskanzler, die Chance, das heute hier und dann auch in den Ausschüssen nachzuholen und damit auch in dieser Frage zu einem Grundkonsens zu kommen. ({7}) - Ich kann mit gut vorstellen, Herr Rüttgers, daß wir uns für Kollwitz entscheiden. Es spricht sehr viel dafür. Auch wer gelesen hat, was an Pro und Contra in der „FAZ" oder in anderen Zeitungen gekommen ist, wird sehen, daß dies eine Entscheidung ist, die durchaus akzeptabel, auch konsensfähig akzeptabel ist. ({8}) Diesen Weg der Offenheit und der Offenkundigkeit können wir durchaus ansteuern. Ich sage nur noch eines. Es ist in allen Vorlagen eines offengeblieben, was wir nämlich mit der Bewachung der Neuen Wache tun. ({9}) - Bisher steht es nicht drin. - Ich weiß, daß wir das militärische Zeremoniell nicht nur aus protokollarischen Gründen brauchen. Es geht bei manchen Anlässen nicht ohne das. Aber ich weiß genauso, daß vielen von uns noch der Stechschritt der NVA ebenso im Ohr ist wie der Stechschritt der Zeiten davor in Erinnerung. Von da aus meine ich, daß die Neue Wache in Zeiten, wo sie nicht protokollarischen Zwecken dient, keine militärische, polizeiliche oder sonstwie uniformierte Bewachung braucht. ({10}) Auch dies gehört für mich zu einer Stätte stillen Innehaltens, die wir alle wollen. Ich danke. ({11})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 41 Jahre ehemalige BRD reichten nicht aus, sich auf einen zentralen Ort antifaschistischen Gedenkens zu einigen. Die nunmehr wieder große Bundesrepublik Deutschland kam bisher zweieinhalb Jahre lang ohne aus. Nunmehr sollten praktisch über Nacht und ohne öffentliche Debatte vollendete Tatsache geschaffen werden à la KohL Mit der Umgestaltung der Neuen Wache im Zentrum Berlins zu einer zentralen Gedenkstätte des Bundes werden aber Grundfragen des geschichtlichen Verständnisses und Selbstverständnisses des nunmehr wieder großen deutschen Staates aufgeworfen, deren politische und ästhetische Beantwortung national wie international von großer Bedeutung ist. Ein Volk, auch ein Staat können sich ihr Erbe nicht aussuchen. Sie können es auch nicht ausschlagen. Aber wir können, nein, wir müssen sagen, in welcher Tradition wir uns sehen. Wir können und müssen auch sagen, mit welchen Teilen unserer Geschichte wir bewußt brechen, wo dieser Staat Kontinuität sucht, wo Diskontinuität. Gerade die historische Verantwortung Deutschlands für zwei verheerende Weltkriege, die unermeßliches Leid für viele Völker in der Welt brachten, verlangt einen sorgsamen Umgang mit der jüngeren deutschen Geschichte. Hier sind weder Beliebigkeit noch bewußte Vergeßlichkeit am Platze. Es geht nicht einfach um die Ehrung aller Toten, sondern um eine politische Aussage, um eine Standortbestimmung. Die Haltung der politischen Klasse in der Bundesrepublik Deutschland zur Geschichte ist ein Seismograph von hoher Empfindlichkeit. Eine politisch eindeutige Haltung zu Tätern und Opfern deutscher Großmachtpolitik zwischen 1933 und 1945 ist um so mehr vonnöten, als sich neofaschistische Tendenzen in Deutschland wie in anderen Teilen Europas verstärken. Und nun soll ausgerechnet das von der DDR im bewußten Aufgreifen der Tradition jenes Ortes eingerichtete Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus zu einer Gedenkstätte für Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft umgestaltet werden. In dieser unverbindlichen Formel, Herr Bundeskanzler, würde ein Teilnehmer an der Wannsee-Konferenz, der später zufällig von einer Fliegerbombe zerfetzt wurde, mit den sechs Millionen systematisch vernichteten Juden gleichgesetzt. Die im KZ Buchenwald ermordeten Ernst Thälmann und Rudolf Breitscheid, Kommunisten und Sozialdemokraten stünden auf einer Stufe mit Goebbels und Göring, die Opfer ihrer eigenen Gewaltherrschaft wurden. ({0}) Es ist so, als sollte in Yad Vashem auch der Toten aus den SS-Divisionen gedacht werden - ein absurder Gedanke. Diese nivellierende Sichtweise des Herrn Bundeskanzlers unterscheidet sich sehr von den klaren Worten, die der Bundespräsident vor diesem Hohen Hause am 8. Mai 1985 formulierte. Ich würde ihn gerne zitieren, aber Herr Conradi hat das schon getan. Da meine Redezeit bemessen ist, verzichte ich und verweise ausdrücklich darauf. Ich kann dem, was Herr Conradi sagte, nur zustimmen. Deshalb frage ich die Bundesregierung im Namen der PDS/Linke Liste, ob sie weiterhin an den Positionen der genannten Rede des Herrn Bundespräsidenten von 1985, die ein groDr. Ilja Seifert Bes, positives internationales Echo erfahren hat, festzuhalten gewillt ist oder nicht. Wir führen hier keinen ästhetischen Streit um die Skulptur von Käthe Kollwitz, einer Künstlerin, der ich jede Ehrerbietung entgegenbringe. Es geht um eine politische Entscheidung. Das Vorhaben der Bundesregierung, in Zukunft diese mit verschwommener, fragwürdiger Sinngebung bekränzte Gedenkstätte für offizielle protokollarische Zeremonien, insbesondere auch mit Repräsentanten anderer Staaten, zu nutzen, muß als Provokation empfunden werden. Deshalb fordern wir, daß die Bundesregierung erstens die bereits eingeleiteten Baumaßnahmen an der Neuen Wache stoppt und zweitens dem Parlament und dem ganzen Volk eine Konzeption für die zentrale Gedenkstätte vorlegt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Fischer?

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Gern.

Evelin Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000550, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Seifert, stimmen Sie mit mir überein, daß es genauso verlogen war, zu DDR-Zeiten der ermordeten Kommunisten zu gedenken, wobei die, die dieser ermordeten Kommunisten gedachten, mit dazu beitrugen, daß sie ermordet wurden?

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich kann den Sinn Ihrer Frage jetzt nicht ganz und gar erfassen. Ich will nur sagen: Ich halte es für einen großen Fehler, daß zu DDR-Zeiten vorwiegend der kommunistischen Widerstandskämpfer gedacht wurde und nicht aller anderen. ({0}) - Ich rede aber von Widerstandskämpfern und nicht allgemein von Opfern.

Evelin Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000550, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte präzisieren, daß Kommunisten, die offensichtlich auch Mörder waren, der Kommunisten, die gefallen waren, offiziell an der Neuen Wache gedachten. Wilhelm Pieck, der mit dazu beitrug, daß Kommunisten ermordet wurden, stellte sich hin - das war für mich einfach verlogen - und gedachte dieser Kommunisten, obwohl er dazu beitrug, daß sie ermordet wurden. Ich finde das verlogen, und ich frage Sie, ob Sie das nicht auch für verlogen halten, wenn Sie schon das Vorhergehende angeklagt haben. ({0})

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich will Ihnen gern noch einmal sagen: Ich halte es nicht für verlogen, aber für einseitig, daß zu DDR-Zeiten fast ausschließlich des kommunistischen, antifaschistischen Widerstands gedacht wurde, nicht des Widerstands von allen anderen Seiten. Was die Streitigkeiten oder die Schwierigkeiten von Kommunisten untereinander betrifft, so ist das ein anderes Thema. Darüber würde ich gern mit Ihnen diskutieren, aber das ist jetzt hier wahrscheinlich nicht der richtige Ort. Ich möchte zum Schluß kommen. ({0}) - Sie wissen, Frau Albowitz, daß wir ganz gut sachlich miteinander diskutieren können. ({1}) Ich wiederhole, daß wir die Bundesregierung auffordern, die eingeleiteten Umbaumaßnahmen zu stoppen und dem Parlament eine Konzeption vorzulegen, über die vor ihrer Verabschiedung öffentlich diskutiert wird, damit die demokratischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Bringen Sie doch bitte die Größe auf, Herr Bundeskanzler und die Regierung, sich eindeutig zum Antifaschismus zu bekennen und nicht unverbindlich allen Toten angeblich die gleiche Ehre zu erweisen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({2}) - Antifaschismus ist etwas anderes als nur zu sagen, alle Toten sind gleich. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Abgeordnete Konrad Weiß.

Konrad Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002461, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundeshauptstadt soll mit der Neuen Wache Unter den Linden eine nationale Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft erhalten. Der Deutsche Bundestag und die deutsche Öffentlichkeit wurden damit erst zu einem Zeitpunkt befaßt, als die Entscheidung auch über die Gestaltung bereits getroffen war. (

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Stimmt ja gar nicht!) Ich bin der Meinung, daß eine breite öffentliche Diskussion wünschenswert gewesen wäre, um die durchaus unterschiedlichen und widersprüchlichen Auffassungen über den Umgang mit unserer Geschichte im demokratischen Dialog zu erörtern und abzuwägen; denn es gibt durchaus ernst zu nehmende Bedenken gegen eine solche Gedenkstätte generell wie auch gegen die beabsichtigte Gestaltung und Widmung im einzelnen. Ich könnte, Herr Bundeskanzler, auch andere Briefe vorlesen. Ich halte es für richtig und angemessen, der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft in einer nationalen Gedenkstätte zu gedenken und die stumme Mahnung der Toten lebendig zu halten. Jedes Volk muß mit seinen Toten leben. Würden sich die Deutschen nicht zu ihrer schwierigen und leidvollen Geschichte bekennen, hätte ich Angst um die Zukunft unseres Landes. Natürlich kann eine Gedenkstätte nicht die schwere und stete Arbeit der Auseinandersetzung, der Reflexion, auch der Trauer ersetzen, aber sie kann eine immerwährende Mahnung sein, dies zu tun. Ich kann mir dafür keinen besseren Ort als Schinkels Neue Wache im Herzen von Berlin vorstellen, diesen Bau von ausgewogener Form, klassischer Pro13454 Konrad Weiß ({0}) portion und elementarer Kraft. Hier hinein die Pietà von Käthe Kollwitz zu stellen ist eine kühne Idee, die Widerspruch hervorgerufen hat und weiterhin hervorrufen wird. Man mag darum streiten, ob die Vergrößerung der kleinen Bronze ästhetisch zulässig ist. Das kann letztlich niemand im voraus beurteilen; das wird man sehen müssen. Unvereinbar mit der Schaffensweise von Käthe Kollwitz ist es jedenfalls nicht. Doch wir haben hier politisch zu urteilen, nicht ästhetisch. Da ist unbestreitbar, daß kaum ein anderer deutscher Künstler oder eine Künstlerin geeigneter wäre, würdiger wäre als Käthe Kollwitz, die Deutschen zur Trauer und zum Frieden zu mahnen; vielleicht Ernst Barlach noch, der das leidgeprägte Gesicht der Kollwitz im Güstrower Engel gestaltet hat, oder Friedrich Press, dessen Pietà für die Opfer von Dresden dort in der Hofkirche steht. Käthe Kollwitz hat in der Mutter mit dem toten Sohn ihrer eigenen Trauer, ihrem Schmerz über den Soldatentod ihres Sohnes Gestalt gegeben und zugleich dem Schmerz und der Trauer aller. Ich zitiere: Die Mutter sitzt und hat den toten Sohn zwischen ihren Knien liegen. Es ist nicht mehr Schmerz, sondern Nachsinnen. So schreibt sie am 22. Oktober 1937 über ihre Arbeit. Dieses Nachsinnen, dieses Nachdenken über deutsche Schuld und Verantwortung im Mittelpunkt einer nationalen Gedenkstätte zu wissen ist gut. Ich zitiere: Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden. - Dieses Wort Goethes hat Käthe Kollwitz immer wieder beschäftigt, auch bei dieser Arbeit. Diese Forderung ist wie „Nie wieder Krieg" kein sehnsüchtiger Wunsch, sondern Gebot, Forderung. Das schreibt sie im Dezember 1941. Käthe Kollwitz war radikale Pazifistin und wußte, daß Pazifismus eben kein gelassenes Zusehen, sondern Arbeit, harte Arbeit ist. Für mich ist es deshalb unvorstellbar, wenn vor einer Neuen Wache, die die Pietà der Kollwitz beherbergt, wie zu Zeiten der DDR Soldaten aufmarschieren oder postiert sein sollten. Auch wenn das Zeremoniell der Bundeswehr weniger martialisch sein mag als das preußische der Volksarmee, Soldaten vor der Mutter mit dem toten Sohn wären ein Frevel. Ich kann mir durchaus vorstellen, daß auch zu offiziellen Anlässen, an Gedenktagen oder bei Besuchen von Staatsgästen, junge Frauen und Manner, die keine Uniform tragen und kein militärisches Zeremoniell vollziehen, die Kränze niederlegen. Dies machte die nationale Gedenkstätte der Deutschen zu einem wirklichen guten Ort. Käthe Kollwitz selbst hatte sich im Frühjahr 1926 eingehend mit dem Gedanken beschäftigt, Figuren für ein nationales Mahnmal zu schaffen. Sie notierte damals in ihrem Tagebuch - ich zitiere -: Es würde mich ja beglücken, wenn es dazu käme und ich in meiner Arbeit zum ganzen Volk und gewissermaßen im Auftrage des ganzes Volkes für das ganze Volk sprechen könnte. Aber das ist solche Zukunftsmusik, daß ich am besten zu niemandem davon spräche. Es ist nun an uns, meine Damen und Herren, Käthe Kollwitz, die Mutter eines getöteten Sohnes, die Leiderfahrene, die Pazifistin, selbst Opfer von Krieg und Gewalt, endlich im Auftrag des ganzen Volkes für das ganze Volk sprechen zu lassen: Nie wieder Krieg und Gewaltherrschaft! Ich bedanke mich. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Freimut Duve.

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundeskanzler, Sie hatten eben einen Brief des VdK zitiert, in dem die öffentliche Diskussion, Bezug nehmend auf die Diskussion in den 80er Jahren, kritisiert worden ist. Ich möchte für uns alle noch einmal feststellen, daß die öffentliche Diskussion der 80er Jahre, die, wie ich fand, ihren Höhepunkt in einer großen Anhörung hatte, die meine Fraktion mit vielen Historikern, auch mit Vertretern des VdK, mit vielen Organisationen von Betroffenen organisiert hat, eigentlich eine sehr gute Sache war. Ich glaube, daß die Stimmung dieses Morgens heute, die Rede meines Kollegen Conradi, die Aussicht auf einen Konsens nicht möglich wären, wenn wir diese Diskussion in dieser Weise in den 80er Jahren - seinerzeit auch mit Herrn Jenninger - nicht geführt hätten, in der wir eben auch viele Stimmen zu Wort kommen ließen, nicht nur die des VdK, der jedesmal, wenn wir darüber debattiert haben, eingeladen war. Das wollte ich gerne sagen. Es geht nicht ohne eine öffentliche Diskussion, wenn wir über einen solchen Gegenstand sprechen. Es hat auch jetzt kritische Stimmen zu der Berliner Planung gegeben. Die Angehörigen der „Weißen Rose" etwa haben sich dazu geäußert. Ich denke, wir sollten in jedem Fall als Parlament auch noch einmal ein Kulturgespräch, eine anhörungsähnliche Form finden, in der wir darüber reden. Ich glaube, das geht jetzt sehr viel besser als vor sieben, acht Jahren, gerade, weil es diese Diskussion gegeben hat. Ich werde das dem VdK auch noch einmal selber sagen. Zum Zeremoniell: Im 20. Jahrhundert ist der eigentliche Kriegsgegner immer mehr die Zivilbevölkerung gewesen. Deshalb muß die Form, die wir dort finden, so sein - das ist j a auch schon zum Ausdruck gebracht worden -, daß auch im Zeremoniell klar wird: Opfer der Kriege des 20. Jahrhunderts waren am meisten die Zivilisten: Kinder, Frauen und Männer. Danke. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Abgeordnete Siegfried Vergin.

Siegfried Vergin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002367, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Nachdem mein Kollege Peter Conradi unseren Antrag zur zentralen Gedenkstätte des Bundes begründet hat, durch den diese Debatte möglich wurde, will ich zur Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland für Gedenkstätten von gesamtstaatlicher Bedeutung, denen die Neue Wache zugerechnet wird, noch einmal Stellung nehmen. Mit einigem Stolz möchte ich darauf hinweisen, daß die SPD-Bundestagsfraktion mit ihrem Antrag „Leitlinien zu den Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland" im In- und Ausland Anerkennung gefunden hat. Unser Ziel bleibt, daß sich der Deutsche Bundestag als Vertretung des deutschen Volkes zu einem verantwortungsbewußten Umgang mit der jüngsten deutschen Geschichte bekennt. Dies erscheint uns angesichts verstärkter Bemühungen - nicht in diesem Hause -, einen Schlußstrich unter das düsterste Kapitel unserer Geschichte zu ziehen, heute wichtiger denn je. Wir wollen, daß sich der Bund zu 50 % an den Kosten gesamtstaatlich bedeutsamer Gedenkstätten in Ost- und Westdeutschland beteiligt und daß er die dort anfallende Forschungs-, Bildungs- und Dokumentationsarbeit zur Hälfte mitträgt. Wir wollen auch heute noch, daß unser Antrag in möglichst großer Übereinstimmung aller Fraktionen und Gruppen verabschiedet wird. Die interfraktionellen Abstimmungsgespräche vor und nach Einbringung des Antrags sowie die Quintessenz der Gedenkstättendebatte am 12. November 1992 hier im Hohen Hause gaben Anlaß zur Hoffnung. Nachdem der Ausschuß für Bildung und Wissenschaft am 13. Januar der Vorlage unter besonderer Betonung einer notwendigen Mitfinanzierung des Bundes bei der politischen Bildungsarbeit zugestimmt hatte, überraschte deshalb am 10. März im Haushaltsausschuß die Ablehnung unseres Leitlinienantrags durch die Regierungskoalition. Die Koalition akzeptierte dagegen eine vom Bundesfinanzminister vorgelegte neue Gesamtkonzeption, die im Gegensatz zur Fassung vom 10. Oktober nur die Förderung von Gedenkstätten mit gesamtstaatlicher Bedeutung in Ostdeutschland befürwortet, keine Projektmittel und Zuschüsse für Dokumentations-, Bildungs- und Forschungsarbeit aufweist und eine Begrenzung auf zehn Jahre vorsieht. Unter diesen Voraussetzungen wurden die bisher für Gedenkstätten gesperrten Mittel mit Blick auf die Umgestaltung der Neuen Wache als zentrale Gedenkstätte des Bundes freigegeben. Der Beschluß des Haushaltsausschusses kann nur vorläufig sein. Ich appelliere an die federführenden Kulturpolitiker, in den weiteren parlamentarischen Beratungen ihrer bisherigen Haltung treu zu bleiben. Ich verkenne nicht die Realität der Haushaltslage; dennoch erscheint es mir politisch unklug und wenig vorausschauend, so zu verfahren wie offenbar beabsichtigt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Vergin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Ina Albowitz?

Siegfried Vergin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002367, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Ina Albowitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000022, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, sind Sie bereit, erstens zur Kenntnis zu nehmen, daß wir jetzt über die Neue Wache diskutieren, nicht aber über das Gedenkstättenkonzept; zweitens, daß wir nicht am 12. März über das Gedenkstättenkonzept im Haushaltsausschuß entschieden haben, sondern am 24. März, und daß auf meinen Antrag am 12. März mit der Bitte um einen Konsens in diesem Hause und aller Fraktionen der Punkt noch einmal abgesetzt wurde; drittens, daß die Grundsätze nicht vom Finanzminister vorgelegt wurden, sondern von der Regierungskoalition, und wir Sie herzlich eingeladen hatten, sich an der Erarbeitung dieser Grundsätze zu beteiligen?

Siegfried Vergin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002367, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, ich nehme das jetzt einmal zur Kenntnis. Meine Unterlagen sehen anders aus. Ich kenne die Vorlage, die vom Bundesfinanzminister gekommen ist; nur diese liegt mir vor. Ich bitte, trotz dieser Einlassungen, die Sie soeben gemacht haben, darum, daß wir uns in den Fachausschüssen - insbesondere im Unterausschuß Kunst- und Kulturpolitik - zunächst über diesen Antrag noch einmal verständigen und dann die weiteren Beratungen mit der Regierung führen, deren Ergebnisse sodann in die Haushaltsbeschlüsse einfließen sollten. Der bisher beschrittene Weg scheint mir der umgekehrte Weg gewesen zu sein. Das haben wir nicht für richtig gehalten.

Ina Albowitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000022, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir schon bei der Beratung des Bundeshaushalts 1993, also im Herbst 1992, versucht haben, mit der Opposition in bezug auf das Gedenkstättenkonzept Konsens zu erzielen, daß das aber nicht möglich war und wir deswegen noch einmal um Bedenkzeit gebeten haben? Ich bitte Sie, noch einmal mit Ihren Kollegen aus dem Haushaltsausschuß Kontakt aufzunehmen, damit wir diesen Sachverhalt aufklären können.

Siegfried Vergin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002367, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Diesen Kontakt haben wir, Frau Kollegin. Ich darf Ihnen nur sagen: Wir sind in der ersten Runde beim Bundesinnenminister mit der Vereinbarung auseinandergegangen, daß wir uns bei weiteren Veränderungen der Konzeption noch einmal interfraktionell treffen. Dieses Gespräch hat nicht mehr stattgefunden. Ich kann nicht beurteilen, aus welchen Gründen das so war. ({0}) Meine Damen und Herren, wir bitten die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen, eine politische Verantwortung für die herausragenden Gedenkstätten in der gesamten Bundesrepublik anzuerkennen. Wir wehren uns nicht nur gegen die Ausgrenzung der Gedenkstätten von exemplarischer Bedeutung in der alten Bundesrepublik, sondern auch gegen die beabsichtigte Streichung der Gelder für die notwendige Bildungsarbeit. Ich habe in den letzten Wochen erneut einige Gedenkstätten in Ostdeutschland besucht. Bei allen regionalen Unterschieden und Besonderheiten habe ich eines überall gefunden: die Bereitschaft, an die Arbeit zu gehen und jetzt die historische Chance des Neuanfangs zu nutzen. Die Leiterinnen und Leiter der Gedenkstätten sowie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind hoch motiviert. Doch ihnen sind die Hände gebunden, solange sich der Bund nicht äußert, mit welchen Mitteln zu rechnen ist. ({1}) - Das ist aber nicht bekannt. Eine vorläufige Liste, die das Bundesinnenministerium im September 1992 vorgelegt hat, sieht 13 für eine Bundesförderung in Frage kommende Gedenkstätten vor. Was steht dem nun im Haushalt gegenüber, wenn man die im Haushalt bereits verankerten Gedenkstätten Buchenwald, Hadamar und Haus der WannseeKonferenz außen vor läßt? Es sind 7 Millionen DM vorgesehen. Die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten erhält darüber hinaus 2,2 Millionen DM aus dem Substanzerhaltungsprogramm nach Art. 35 des Einigungsvertrags. ({2}) Dies reicht bei weitem nicht. Herr Bundeskanzler, wir nehmen heute nicht nur zur Kenntnis, daß die Bundesregierung gewillt ist, der Gedenkstättenarbeit im vereinten Deutschland größere Bedeutung einzuräumen, sondern wir begrüßen auch ausdrücklich, daß Sie selber heute an dieser Debatte teilgenommen haben. Die Schaffung einer zentralen Gedenkstätte des Bundes findet unsere Zustimmung. Sie muß beispielhaft für das politische Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland stehen. Die Frage nach einer angemessenen Umgestaltung der Neuen Wache kann deshalb nicht der einsame Kabinettsbeschluß bleiben - deswegen haben wir diese Debatte durch unseren Antrag erzwungen -, sondern muß in dieser Beratung weiter behandelt werden. Ungeachtet der letztlich zu findenden äußeren Form der Neuen Wache muß uns aber bewußt sein, daß eine Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft keineswegs ausreicht, um den notwendigen Willen zur historischen Verantwortung zu bekunden. Unser föderales System verlangt nach einer finanziellen Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten von exemplarischem Charakter. Die neue vom Haushaltsausschuß genehmigte Gesamtkonzeption des Bundes schafft dafür nach unserer Auffassung keine geeigneten Voraussetzungen. Meine Damen und Herren, die Zeit drängt und zwar nicht nur für die Neue Wache, sondern auch für die exemplarischen Gedenkstätten in unserer Republik. Der 8. Mai 1995 ist der fünfzigste Jahrestag der Befreiung der Überlebenden in den Konzentrationslagern. Es jährt sich zum fünfzigsten Mal das Ende des Zweiten Weltkriegs, der unermeßliches Leid über die Menschen gebracht hat. Das Ausland wird seine Blicke an diesem Tag auf das vereinigte Deutschland richten. Wir sind es nicht nur den Überlebenden und den Nachkommen der Opfer, sondern auch uns selbst und der eigenen Glaubwürdigkeit schuldig, mit Taten zu beweisen, daß wir bereit sind, uns der Verantwortung aus der Geschichte zu stellen und dies durch die Gedenkstätten in der Republik zu dokumentieren. Vielen Dank. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als letzte zu diesem Tagesordnungspunkt spricht die Kollegin Frau Professor Dr. Wisniewski.

Prof. Dr. Roswitha Wisniewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Herr Bundeskanzler! Meine Damen und Herren! Mit der Errichtung einer zentralen Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft in der Hauptstadt des geeinten Deutschland setzt die Bundesrepublik ein Zeichen. Die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts ist in verhängnisvoller Weise mit zwei Weltkriegen und mit zwei Diktaturen verbunden. Es ist daher richtig, wenn zu den ersten neuen bzw. umgebauten Hauptstadtbauten in Berlin eine Gedenkstätte gehört, die sagt, daß die Deutschen der Erinnerung an diese Geschehnisse nicht ausweichen. Die von Karl Friedrich Schinkel 1817/18 in Berlin erbaute Neue Wache gehört zum weiteren Umkreis jenes Ensembles politischer Bauten, die die Kernbereiche ausmachen, aus denen heraus Menschen in einem Land und einem Staat leben. In Berlin symbolisiert bzw. symbolisierte das Ensemble von Schloß, Dom, Museum, Zeughaus - auch die Armee gehört dazu, lieber Herr Weiß - diese Einheit des Lebens einer Nation. Im weiteren Umkreis schlossen sich bzw. schließen sich die Universität, Staatsbibliothek, Oper, Schauspielhaus und schließlich auch die Neue Wache an, die, wie schon gesagt, in der Weimarer Zeit zu einer Gedenkstätte für die Toten des Ersten Weltkriegs umgeformt wurde. Es erscheint sinnvoll, eine solche Aussage durch Kulturbauten gerade auch für unsere Zeit sichtbar werden zu lassen, in der das Verständnis für das, was eine Nation den zu ihr gehörenden Menschen gibt, so sehr geschwunden ist. Es trifft sicherlich zu, wenn gesagt wird, daß das Grauen des Massensterbens, der Vertreibungen, der Massenmorde eigentlich jeden Versuch einer Darstellung im Keim erstickt. Dennoch herrscht Einigkeit darüber, daß wir, das deutsche Volk, einen Ort des Gedächtnisses brauchen; denn nur wer sich erinnert, ist fähig, die Zukunft verantwortungsvoll zu gestalten. ({0}) Einigkeit herrscht auch darin, daß die Gestaltung, die der Architekt Tessenow dieser zentralen Gedenkstätte in der Neuen Wache gab, weitgehend wiederhergestellt werden soll. Streit erhob sich wegen des Vorhabens, eine Skulptur der Käthe Kollwitz zu vergrößern und zum MittelDr. Roswitha Wisniewski punkt der Gedenkstätte zu machen. Käthe Kollwitz, in Königsberg geboren, gestorben in Moritzburg bei Dresden kurz vor Kriegsende, Mutter eines im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohnes, als Künstlerin von den Nationalsozialisten verfemt, erinnert allein schon durch ihre Lebensdaten an Schicksale vieler Menschen unseres Volkes. Der Rang ihres künstlerischen Werkes ist unbestritten. Natürlich kann man immer sagen, daß eine andere Gestaltung sinnvoller wäre. Ich persönlich bin der Meinung, es wäre unklug, jetzt in einem großartigen Wettbewerb zu versuchen, die vielen widerstrebenden Anschauungen noch einmal zu einer Einheit zu bringen. Notwendig ist für uns Erinnerung, notwendig ist geistige Wiedergutmachung, die gerade durch diese alle ansprechende Figur immer erneut herausgefordert wird. Käthe Kollwitz hat ihre Skulptur nicht religiös verstanden. Christen werden sich aber dennoch an die bekannten Pietà-Darstellungen erinnert fühlen, Juden vielleicht an die Makkabäerin denken, die ihre im Martyrium vor ihr gestorbenen Söhne beklagt. Ein Wort zu dem Problem, daß der Deutsche Bundestag bei der Planung vielleicht stärker hätte beteiligt werden müssen. Vor wenigen Wochen hat Wolf Jobst Siedler in einem beeindruckenden Artikel auf die Gefahr hingewiesen, daß Beliebigkeit und modernistische Gestaltungsfreude bei der Planung der deutschen Hauptstadt die Oberhand gewinnen könnten. Er mahnt geistige Vorgaben für die städtebaulichen Strukturen und die politischen Aussagen der Gebäude an und verweist auf die dafür bestehende Verantwortung der Politiker und der einzelnen Bauherren. Gerade diese Forderungen sind meines Erachtens im Fall der Neuen Wache voll durch den Bauherrn Bundeskanzler erfüllt worden. Ihre Einbeziehung in ein Gesamtkonzept scheint mir dagegen bei dieser zentralen Gedenkstätte noch nicht thematisiert bzw. noch nicht genügend diskutiert zu sein. ({1}) - Darüber können wir ja gerne im Ausschuß noch einmal sprechen. (

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Baudamen! - Zuruf von der F.D.P.: Baumensch!) Über diese Fragen und dabei auch über das grundsätzliche Problem einer angemesseneren Beteiligung des Bundes an Kulturfragen von gesamtstaatlicher Bedeutung wird in den Ausschüssen zu sprechen sein. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Meine Damen und Herren, damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/4536 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist dieser Tagesordnungspunkt beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Liesel Hartenstein, Dietmar Schütz, Harald B. Schäfer ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Minderung der Ozon-Belastung - Maßnahmen zur Bekämpfung des Sommer-Smogs - Drucksachen 12/772, 12/1677 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Klaus W. Lippold ({2}) Dr. Jürgen Starnick Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Als erste spricht die Abgeordnete Dr. Liesel Hartenstein.

Dr. Liesel Hartenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000815, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Alarmsignale über steigende Ozonbelastungen kommen immer häufiger und immer früher im Jahr. Das gibt zu denken. Schon im März und erst recht während der Schönwetterperiode Ende April sind vor allem in Süddeutschland erschreckend hohe Ozonwerte gemessen worden, so z. B. in der Oberpfalz bis zu 200 µg/m3 Luft und darüber, im Schwarzwald-BaarKreis 190 pg, in Ulm und in Schwäbisch Hall um 160 pg. Demgegenüber empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation einen maximalen Grenzwert von 120 µg, der nicht überschritten werden sollte. An diesen Richtwert hält sich mittlerweile auch die Schweiz. Aber in der Bundesrepublik will man davon nichts wissen. Erst bei einem sehr viel höheren Grenzwert, nämlich erst bei 180 µg, werden überhaupt Warnungen an die Bevölkerung gegeben. Das ist unverantwortlich. Kein Mediziner bestreitet heute mehr die gesundheitsschädlichen Auswirkungen des Ozonsmogs. Es beginnt mit Kopfschmerzen und Augenreizungen schon bei einer Konzentration von 100 pg. Bei noch höherer Belastung kommen Atembeschwerden hinzu, Hustenanfälle und Beeinträchtigungen der Lungenfunktion. Ozon dringt in die tiefsten Winkel unserer Lunge ein und verursacht dort Schäden, die nicht mehr zu beheben sind. Dies stellt der Kieler Toxikologe Professor Wassermann fest. Besonders hart betroffen sind dabei Kinder, kranke und alte Menschen und Schwangere. Meine Damen und Herren, der Ozonsmog ist keineswegs ein Naturereignis, dem wir machtlos gegenüberstünden. Er ist hausgemacht, er ist selbstverschuldet und damit änderbar. Unser Antrag „Minderung der Ozon-Belastung" stammt vom Juni 1991. Es ist unfaßbar und ein Armutszeugnis für die Politik, daß wir heute hier stehen und feststellen müssen, daß sich die Bundesregierung seit zwei Jahren keinen Millimeter weiterbewegt hat. ({0}) Dabei sind die Hauptschadstoffquellen längst bekannt. Es ist in erster Linie der motorisierte Straßenverkehr, aus dem 70 % der Stickoxide und fast die Hälfte der Kohlenwasserstoffe stammen, alles Vorläufersubstanzen, aus denen sich unter Einwirkung des Sonnenlichts die gefährliche Ozonmixtur bildet. Das bedeutet, wer den Sommersmog bekämpfen will, muß an dieser Quelle ansetzen. ({1}) Das heißt Eindämmung der Verkehrslawine, und zwar zum einen durch Sofortmaßnahmen und zum anderen durch strukturelle Maßnahmen, also durch wirksame Konzepte zur Verkehrsvermeidung und durch gezielte Förderung der umweltfreundlicheren Verkehrsträger Schiene und ÖPNV. ({2}) In beiden Bereichen verweigert sich die Bundesregierung leider. Sie tut genau das Gegenteil. ({3}) Mit dem Bundesverkehrswegeplan und dem Bundesfernstraßengesetz werden folgenschwere Fehlentscheidungen getroffen, die den Vorrang der Straße und damit den Zuwachs an Schadstoffemissionen buchstäblich zementieren. ({4}) Vergegenwärtigen Sie sich das einmal. Wir haben in unserem Antrag sowohl für die kurzfristige als auch für die längerfristige Perspektive Vorschläge gemacht, realisierbare Vorschläge. Die Koalitionsmehrheit im Ausschuß hat sich taub gestellt und alle vernünftigen Ansätze in Bausch und Bogen abgelehnt. Wir fordern heute die Durchführung der notwendigen Maßnahmen mit Nachdruck ein. ({5}) Nach jüngsten Umfragen befürworten 72 % der Bevölkerung nicht nur Verkehrsbeschränkungen für Fahrzeuge ohne Kat - das müßte doch wohl durchsetzbar sein -, sondern auch ein allgemeines Fahrverbot, wenn bestimmte Ozonwerte überschritten werden. Ich frage die Bundesregierung: Wo bleibt denn die lange versprochene Verordnung nach § 40 Bundes-Immissionsschutzgesetz, die den Gemeinden endlich verbesserte Instrumente an die Hand geben würde, um weiträumige Verkehrsbeschränkungen zu erlassen? Am 18. September 1991- Herr Minister, ich freue mich, daß Sie anwesend sind - haben Sie im Ausschuß wörtlich erklärt, die auf § 40 basierende Verordnung sei in Ihrem Hause fertiggestellt. ({6}) - Wo ist sie denn? Das Inkrafttreten wurde von Ihnen, Herr Töpfer, zuerst für den Sommer 1992, dann für den Sommer 1993 fest angekündigt. ({7}) Bis heute gibt es noch nicht einmal eine Kabinettsvorlage - wahrlich ein atemberaubendes Tempo. So kann es nicht weitergehen. ({8}) Ich frage Sie weiter: Warum hat die Bundesregierung noch immer nicht den Mut, Obergrenzen für den Kraftstoffverbrauch festzulegen, obwohl die Autoindustrie längst erklärt hat, daß sie technisch sehr wohl in der Lage sei, beispielsweise ein Fünf-Liter-Konzept für Pkws bis zum Jahre 2000 zu realisieren? Die Reduzierung der Kraftstoffverbräuche wäre auch eine wirksame Maßnahme für den Klimaschutz, weil dadurch die CO2-Emissionen aus dem Kfz-Verkehr drastisch abgesenkt werden könnten. Warum ringt man sich nicht endlich zur Festlegung eines Tempolimits durch? ({9}) Warum ringt man sich nicht endlich zu so vernünftigen Maßnahmen wie der Umlage der Kfz-Steuer auf die Mineralölsteuer, zur fortlaufenden Anpassung der Abgasgrenzwerte bei Pkws und auch bei Lkws an den Stand der Technik nach dem Vorbild der USA sowie zur Einführung eines Geschwindigkeitsreglers für Lastkraftwagen durch? Das wäre wahrlich eine sinnvolle und längst überfällige Maßnahme. Sie haben bisher noch nicht einmal den Minischritt einer emissionsabhängigen Kraftfahrzeugsteuer vollzogen, den Sie selbst vor mehr als zwei Jahren in Ihre Koalitionsvereinbarungen hineingeschrieben haben. Das nennt man bei dieser Bundesregierung „Handlungsfähigkeit". ({10}) - Lieber Herr Kollege Kampeter, es ist wirklich die Grundsatzfrage zu entscheiden, was uns mehr wert ist: die Gesundheit unserer Kinder oder „freie Fahrt für freie Bürger". ({11}) Für uns ist die Entscheidung klar, nämlich pro lebenswerte Städte, pro gesundes Wohnumfeld, in dem Kinder ohne Schaden aufwachsen können, pro Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen. Schließen Sie sich diesem Credo an! Ich fordere Sie dazu auf. ({12}) Es muß doch endlich Schluß sein mit den absurden Warnungen, bei sonnigem Wetter sportliche Anstrengungen im Freien, wie z. B. das Joggen zu vermeiden. Einmal wurde sogar gesagt, man müsse tunlichst intensives Atmen in Situationen mit erhöhter Ozonbelastung unterlassen, man solle vor allen Dingen Kinder und alte Leute im Haus zurückhalten. Ich sage Ihnen: Wir leben in einer verkehrten Welt, wenn Kinder ins Haus gesperrt werden müssen, damit Autos ungehindert auf der Straße brausen dürfen. ({13}) Es ist zu befürchten, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß auch heute wieder erklärt wird, man wisse noch nicht genau genug, von welchem Ozonwert ab wirklich Schäden eintreten, deswegen könne man solch tiefe Eingriffe wie Fahrverbote nicht ausreichend begründen. Meine Antwort ist: Man weiß genug. Die Politik ist verpflichtet, Vorsorge zu treffen, und das tut sie bisher nicht. Ohnehin ist der Maßstab von 120 p g im Grunde nur für gesunde Erwachsene gedacht; schon damit werden nämlich die Schwächeren benachteiligt. Das ist inhuman, denn der Gesundheitsschutz sollte sich an den Bedürfnissen der Schwächsten und nicht an denen der Stärksten orientieren. Nicht nur die menschliche Gesundheit wird geschädigt, sondern auch die Natur. Die Wissenschaft weist uns in letzter Zeit immer deutlicher darauf hin, daß Ozonschäden auch an Kulturpflanzen auftreten, so z. B. an Reben, an Bohnen und an Raps. In den USA wird bereits mit Ertragseinbußen in Milliardenhöhe gerechnet. Daß das Waldsterben dramatisch fortschreitet und das aggressive Reizgas Ozon daran einen gewichtigen Anteil hat, ist in der Öffentlichkeit zwar in Vergessenheit geraten, darum aber nicht weniger wahr. Auch hier brennt uns die Entwicklung unter den Nägeln. Es gibt wahrhaftig keinen Vorwand mehr für Nichtstun. Die Ozonsaison 1993 hat bereits begonnen, sie wird eine neue Umdrehung der Zerstörungsspirale bringen. Sie wird neue Hypotheken auftürmen, die eines Tages abgelöst werden müssen. Wer den Menschen weismachen will, daß dies eben der Preis für den Fortschritt sei, der handelt wider besseres Wissen. ({14}) Wirklicher Fortschritt rechnet sich, aber blindes Festhalten an überholten Vorstellungen ist in Wahrheit kein Fortschritt, sondern Rückschritt. Dies wird teuer werden. Ich bitte Sie eindringlich, die Beschlußempfehlung abzulehnen. Danke. ({15})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Abgeordnete Steffen Kampeter.

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Uns allen ist die schleimhautreizende Wirkung des Ozons bekannt, die die Atemwege, das Lungengewebe und die allgemeine körperliche Befindlichkeit stark beeinträchtigt. Die gesundheitsschädigenden Wirkungen der Ozonbelastung bedürfen wohl keiner weiteren Erläuterung. ({0}) Viel weniger wissen wir allerdings über die Entstehung des bodennahen Ozons und die dafür verantwortlichen Faktoren. Sehr geehrte Frau Kollegin Hartenstein, hier bestehen noch Wissensdefizite. ({1}) Klar ist: Hauptursachen sind Stickoxide, flüchtige organische Komponenten und der Sonnenschein. Für die VOCs gibt es zwei Hauptquellen: den Verkehr und die Lösungsmittel. Ozon ist damit ein Endprodukt einer umfassenden chemischen Wirkungskette. Es ist schwierig, ja geradezu unmöglich, Ozon direkt zu bekämpfen. Daher ist es erklärtes Ziel der Politik der Bundesregierung, die Emissionen einzelner Stoffe, die an dieser Kettenreaktion beteiligt sind, zu begrenzen. Bei den komplexen und noch lange nicht ausreichend erforschten Wirkungsmechanismen, die zur Bildung des erdnahen Ozons führen, dürfte aber eines deutlich sein: Die Festsetzung eines Ozongrenzwertes, also für ein Reaktionsprodukt primärer Schadstoffeinträge plus Sonneneinstrahlung, ist nach derzeitigem Kenntnisstand ein ungeeignetes Instrument der Luftreinhaltepolitik. Dies ist der entscheidende Schwachpunkt des Antrages der Sozialdemokraten, über den wir hier und heute abschließend zu beraten haben. Es geht nicht darum, die Wirkungen des bodennahen Ozons, sondern die Ursachen der Ozonentwicklung zu bekämpfen. ({2}) In diesem Punkt - und nur in diesem Punkt -, sehr geehrte Frau Kollegin Hartenstein, kann ich Ihnen uneingeschränkt zustimmen. Ich stelle fest: Die gegenwärtigen Kenntnisse über die Bildung und den Verbleib photochemischer Oxidanten erlauben noch keine verbindliche Festlegung von Grenzwerten. Eine Empfehlung der deutschen Umweltministerkonferenz von 1990 aufgreifend hat die EG-Richtlinie „Ozon" vom 21. September 1992 verschiedene Schwellenwerte festgelegt, beispielsweise den „Schwellenwert für die Unterrichtung der Bevölkerung" , den „Schwellenwert für die Auslösung des Warnsystems" oder den „Schwellenwert für den Gesundheitsschutz". Diese EG-Richtlinie wird bis 1994 in deutsches Recht umzusetzen sein. Die Richtlinie sieht ferner vor, daß spätestens vier Jahre nach ihrem Inkrafttreten, d. h. bis zum Jahre 1998, die EG-Kommission einen Bericht über die Maßnahmen zur Verringerung der Vorläufersubstanzen auf der Grundlage der erhobenen Meßdaten vorzulegen hat. Daß die deutsche Umweltpolitik ihre Hausaufgaben ({3}) diesbezüglich vorbildlich erledigt hat, ({4}) erhellt im übrigen dadurch, daß sich Bundesumweltminister Töpfer bereits jetzt an seine Kollegen Umweltminister in der EG gewandt hat, diese Frist weiter vorzuziehen, weil für die Bundesrepublik Deutschland schon umfangreiche und belastbare Daten vorliegen. Wir dürfen die Lage von dieser Stelle aus allerdings auch nicht dramatisieren. Extrem hohe Ozonkonzentrationen von mehr als 300 Mikrogramm pro Kubikmeter während zwei Stunden wurden in den letzten Jahren in dem ausgesprochen dichten und leistungsfähigen Netz von 270 Meßstellen in Deutschland nur selten gemessen. In den Jahren 1990 bis 1992 wurde der Informationswert von 180 µg/m3 in Süddeutschland an 20 Tagen, im Norden an bis zu 6 Tagen im Jahr überschritten. Der Warnwert von 360 µg/m3 wurde in diesen Jahren nur zweimal erreicht, einmal im RheinRuhr-Gebiet und einmal in Frankfurt. Liebe Frau Kollegin Hartenstein, Sie haben an dieser Stelle auf die Schweizer Erfahrungen mit ihrem Ozon-Immissionsgrenzwert von 120µg/m3 hingewiesen. Es ist festzustellen, daß ein Überschreiten des Grenzwertes, das in der Schweiz vor allem in ländlichen Bereichen vorkommt - ich habe mit den zuständigen Schweizer Behörden hierüber gesprochen -, keine Sofortmaßnahmen auslöst - anders, als in Ihrem Beitrag dargestellt. Man kann also nicht sagen: Guckt bitte auf die Schweiz; die handeln sofort. - Nein, richtig ist, daß eine Überschreitung des Schweizer Immissionsgrenzwertes überhaupt keine Sofortmaßnahmen induziert. Meinen Informationen zufolge müssen von den Kantonen in enger Zusammenarbeit mit der Bundesregierung in Bern langfristige Maßnahmenbündel mit fünfjähriger Wirkungsperspektive als Folge des Überschreitens dieses Grenzwertes verabschiedet werden. Wenn man sich diese Tatsachen einmal anschaut, dann glaube ich feststellen zu können: Die deutsche Bundesregierung, die deutsche Umweltpolitik ist hier schon einen wesentlichen Schritt weiter, wie überhaupt an Hand einiger Stichworte festzustellen ist, daß beachtliche Erfolge in der Luftreinhaltepolitik zu verzeichnen sind. Fast für jedes Auto, das in der Bundesrepublik zugelassen wird, und für mehr als 40 % des Bestandes an PKW gibt es den Dreiwegekatalysator. Auch heute wirkt noch die richtungsweisende Technische Anleitung Luft, die der Bundesumweltminister im Jahre 1986 novelliert hat und mit der auch wichtige Vorläufersubstanzen für die Bildung des bodennahen Ozons beschränkt werden. Ich denke hier insbesondere an die Lösemittelemissionen bei der Verwendung von Lacken in der Autolackierung. Für Lkw und Busse sind deutlich verschärfte Abgasnormen durchgesetzt worden. Sie gelten ab 1993 bzw. 1996; sie treten zweistufig in Kraft. Wenn wir von der Entstickung der Kraftwerkskapazitäten in den neuen Bundesländern reden, dann reden wir auch davon, daß wir damit eine Schutzfunktion für die Vorläufer des bodennahen Ozons schaffen. Die zwei Rechtsvorschriften zur Gaspendelung, die jetzt in Kraft getreten sind, werden die Benzol-Emissionen beim Umschlag von Benzin weiter beschränken. Ich kann nur feststellen, daß das bisher Erreichte uns sicherlich noch nicht zufriedenstellt, und es ist das gute Recht der Opposition, hier Kritik zu üben. Ich glaube aber, wir sollten trotzdem festhalten, daß wir im Bereich der Luftreinhaltepolitik in den letzten Jahren wesentliche Erfolge zu verzeichnen haben. Es gibt allerdings auch noch einiges zu tun. Frau Hartenstein, Sie haben sehr zutreffend die Forderung nach dem Erlaß einer Verordnung nach § 40 Abs. 2 Bundes-Immissionsschutzgesetz aufgestellt. Die Länder haben diese Verordnung im Bundesrat zu verabschieden. Ich bin gespannt, wann sie es tun werden. Nun ersparen Sie es mir, hier ausführlich auf Ihren Dauerbrenner Geschwindigkeitsbegrenzung einzugehen. In jeder Debatte, die irgend etwas mit der Umwelt zu tun hat, stellt sich ein Redner der Opposition hier hin und sagt: Geschwindigkeitsbegrenzung, Geschwindigkeitsbegrenzung! ({5}) Sie ist aber, wenn man sie mit anderen Maßnahmen vergleicht, beileibe nicht zielführend. Ich stelle also fest, meine sehr verehrten Damen und Herren: Die Bundesregierung hat zur Bekämpfung des Sommer-Smogs bereits in der Vergangenheit eine international vorbildliche Politik betrieben, und sie wird auch weiterhin für ihre Partner in der internationalen Umweltschutzpolitik richtungsweisend sein. Wichtige Schritte werden, wie ich ausgeführt habe, folgen. Die im Antrag der Sozialdemokraten vorgeschlagenen Maßnahmen, das Problem über einen Grenzwert zu lösen, habe ich hier hinreichend als untauglich dargelegt. Daher werden wir den Antrag ablehnen, indem die CDU/CSU-Fraktion der Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Abgeordnete Professor Starnick.

Prof. Dr. Jürgen Starnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002219, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch die Fraktion der F.D.P. kann dem von der SPD-Fraktion eingebrachten Antrag nicht zustimmen. Wir verweigern unsere Zustimmung nicht aus Ignoranz gegenüber einem Problem. Zweifellos nahmen die Belastungen durch Sommer-Smog in den letzten Jahren - zwar uneinheitlich, jedoch im langen Mittel gesehen kontinuierlich - zu, so daß auch wir die Notwendigkeit sehen, Maßnahmen zur Verhinderung übermäßiger Belastung zu ergreifen. ({0}) - Ich sage Ihnen das schon noch. - Wir meinen jedoch, daß die SPD mit diesem Antrag einen falschen Weg beschreitet, vor allen Dingen, weil der Antrag suggeriert, die Festsetzung eines OzonimmissionsDr. Jürgen Starnick grenzwertes von 120 µg/m3 könne das Problem lösen. ({1}) Wer die Festsetzung eines solchen Grenzwertes fordert, dessen Überschreitung schließlich Maßnahmen auslösen soll, beispielsweise Verkehrsverbote in Innenstädten analog der Wintersmogverordnung, verkennt den Ursache-Wirkung-Zusammenhang der Ozonbildung. Wenn man dem Problem des Sommersmogs ernsthaft begegnen will, darf man zwei Phänomene nicht außer acht lassen. Erstens. Ozon wird unter der Einwirkung intensiver Sonnenstrahlung auch ohne die sogenannten Vorläufersubstanzen, nämlich Stickoxide und Kohlenwasserstoffe, gebildet. Deshalb messen wir in einem Reinluftgebiet wie der Zugspitze ziemlich stetig recht hohe Ozonkonzentrationen. Die Vorläufersubstanzen wirken als Beschleuniger im Ozonbildungsprozeß, sowie sie auch den Abbau des Ozons während der Nacht beschleunigen. Sie sind also sekundäre Verursacher; die primäre Ursache ist die UV-Intensität der Sonnenstrahlung. Zweitens. Gebildetes Ozon wird großräumig verfrachtet, und in größeren Höhen gebildetes Ozon gelangt bei entsprechenden meteorologischen Verhältnissen auch in Bodennähe. ({2}) - Das können Sie ja so sagen; dann machen Sie bitte ein paar Wolken. - Das heißt - und das müssen Sie erkennen -, daß lokale Maßnahmen bezüglich des Ozons deshalb nur beschränkt wirksam sind. Um den Sommer-Smog zu bekämpfen, darf man die Aufmerksamkeit nicht allein auf das Ozon lenken, sondern muß ihn begreifen als eine gesundheitliche Beeinträchtigung durch ein Bündel verschiedener Schadstoffe, die sich bei Schönwetterlagen im Sommer in der Luft anreichern. Hierzu zähle ich auch die Stickoxide selbst, obwohl ihnen eine gesundheitliche Wirkung erst bei wesentlich höheren Konzentrationen zuerkannt wird, als sie in Sommersmogperioden vorliegen. Zu den bei Sommer-Smog die Gesundheit besonders beeinträchtigenden Stoffen zähle ich darüber hinaus Benzol und Ruß. In einem Punkte sind unsere Forderungen in Übereinstimmung mit Ihrem Antrag: Auch wir erwarten von der Bundesregierung den Erlaß einer Verordnung auf der Grundlage des § 40 Abs. 2 Bundes-Immissionsschutzgesetz, in der Immissionsgrenzwerte für die genannten Schadstoffe festgelegt werden. Die Verordnung sollte für Stickstoffdioxid zwei Konzentrationswerte vorschreiben: einen 98 %-Perzentilwert für die Halbstundenmittelwerte eines Jahres in Höhe von 160 µg/m3 und einen Kurzzeitwert, der die Belastungsspitzen begrenzt bei einer Höhe von 320 µg/m3 während zweier aufeinanderfolgender Halbstunden. Ruß wäre in gleicher Art auf 8 µg/m3 und Benzol auf 10 µg/m3 zu begrenzen. Heute stammen ca. 80 % aller Ruß- und 90 % aller Benzolemissionen aus dem Verkehrsbereich, so daß wir über die Verordnung hinausgehende gesonderte Maßnahmen ebenfalls für notwendig halten. Zum einen ist nicht länger einzusehen, warum Otto-Kraftstoff bei uns doppelt soviel Benzol enthält wie in den Vereinigten Staaten, und zum anderen wird der Mangel an Entscheidungsfreude innerhalb der EG zur Einführung von Dieselrußfiltern langsam unerträglich, wenn man sieht, wie sich diese Maßnahme in Kalifornien durchgesetzt und günstig ausgewirkt hat. Sorgen bereiten uns natürlich auch die zunehmenden Stickoxidemissionen im Verkehrsbereich. Hier sind wir allerdings der Auffassung, daß eine Geschwindigkeitsbegrenzung keinen wesentlichen Minderungseffekt bringt, sondern daß es eher darauf ankäme, mit Abgassonderuntersuchungen auf den Erhalt der vollen Wirksamkeit von Dreiwegekatalysatoren bei älter werdenden Automobilen zu achten und eine frühere Wirksamkeit derselben nach dem Start zu erwirken. Am wichtigsten ist jedoch, daß durch die angesprochene Verordnung unverzüglich Vorgaben gemacht werden, an denen sich Industrie und Kommunen orientieren. Dabei kommt es nicht darauf an, daß gleich morgen die von mir für notwendig erachteten Grenzwerte in Kraft treten, die dann wiederum keiner einhalten, ja nicht einmal im notwendigen Umfang messen kann, sondern daß solche Vorgaben in den nächsten vier Jahren das richtige Handeln bewirken. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Es spricht jetzt der Bundesminister für Umwelt, Dr. Klaus Töpfer.

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt überhaupt keinen vernünftigen Aspekt, daran zu zweifeln, daß die Ozonbelastung in der bodennahen Schicht eine gesundheitliche Gefährdung mit sich bringen kann und daß deshalb zu handeln ist. ({0}) Es gibt zwei Aufgaben, die wir zu bewältigen haben: Erstens haben wir darüber zu diskutieren, welche Werte wir festlegen, zweitens darüber, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um diese zu erreichen. Zum ersten: Wer sich die EG-Richtlinie ansieht, findet darin vier Werte. Diese werden von uns natürlich nicht nur mitgetragen; sie sind von uns mitgestaltet worden. Der erste Wert beträgt 110 µg/m3, der zweite 180 µg/m3; dann kommt ein Wert in Höhe von 360 µg/m3. Dies ist nicht ein Wert der Bundesregierung, die unverantwortlich gesundheitliche Überlegungen zurückstellt, sondern ist eine Festlegung, die in der gesamten Europäischen Gemeinschaft von uns mitgetragen wird. Wie bedeutsam das ist, Frau Kollegin Hartenstein, sollte Ihnen doch klar sein. Sie zitieren hier einen Grenzwertbereich der WHO, eine Spanne von 100 bis 120 µg/m3. Sie müssen dann aber dazusagen, daß es sich dabei um einen Acht-Stunden-Mittelwert handelt. Als Ein-Stunden-Mittelwert hat die WHO eine Spanne von180 bis 200 g.g/m3. Ein Grenzwertbereich von 100 bis 120 µg/m3 bei acht Stunden ist anders zu bewerten als einer von 180 µg/m3 bei einer Stunde; beide Werte haben wir in der EG beschlossen. Gerade weil Menschen davon so emotional und faktisch betroffen werden, ist es doch ganz dringlich, daß wir sauber zitieren und das erwähnen, was wirklich beschlossen ist, nicht das, was man plakativ herausstellen kann. Ich bitte ganz herzlich darum, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir uns auch mit unseren Kollegen in der Schweiz regelmäßig über Grenzwerte und gemeinsame Maßnahmenprogramme unterhalten. Ich setze mich pro Jahr einmal mit den Kollegen in den deutschsprachigen Ländern zusammen, damit wir bis in den Bereich der Warnwerte hinein harmonisiert vorgehen. Das ist erreicht worden. Das ist auch notwendig, damit die Menschen in grenznahen Räumen dieselben Informationen über Ozonkonzentrationen bekommen. Wir sind uns in den Werten, die wir festgelegt haben, einig. Wir sind uns auch darüber einig, daß dies keine Grenzwerte, sondern Informations- und Warnwerte sind. Ich könnte zu dem ersten Kapitel, Frau Hartenstein, abschließend hinzufügen, daß der Wert in Los Angeles - Sie haben so intensiv auf die USA hingewiesen - bei 400 µg/m3 liegt. Ich will hier gar nichts bagatellisieren, sondern nur festhalten: Das, was in der Europäischen Gemeinschaft und darüber hinaus in Europa beschlossen worden ist, ist eine sinnvolle, eine vernünftige Datenbasis. Zum zweiten: Was ist zu tun? Keiner kann direkt etwas gegen Ozon tun. Wir können und müssen vielmehr etwas gegen die Vorläufersubstanzen tun. ({1}) Die Vorläufersubstanzen - das ist jedem klar - sind Stickoxide und die flüchtigen organischen Komponenten, die VOCs. Bezüglich beider Stoffe haben wir nicht geredet, sondern gehandelt. Entgegen der hier wieder verbreiteten Meinung sind die gesamten Stickoxidemissionen in der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen fünf Jahren zurückgegangen. ({2}) - Auch verkehrsbedingt. Herr Kollege Müller, weil Sie das immer wieder sagen: Ich habe Ihnen die Grafik des Umweltbundesamtes mitgebracht, in der festgestellt wird, daß wir unsere Stickoxidwerte vermindert haben. Ich mache es mir doch nicht so einfach, hierher zu kommen und zu sagen: Hätte jemand bereits vorher über den Drei-Wege-Katalysator entschieden, dann wären wir heute weiter. Jetzt sind wir bei 100 % Neuwagenzulassungen mit Drei-Wege-Katalysator. Das ist gut, richtig und beispielhaft in der gesamten Europäischen Gemeinschaft. ({3}) Daß wir hier weitermachen, ist doch unstrittig. Wir als Bundesrepublik Deutschland haben bei der Europäischen Gemeinschaft Regelungen zum Flottenverbrauch eingebracht. Ich hoffe nur, Frau Kollegin Hartenstein, daß Sie in Stuttgart, in ganz BadenWürttemberg allen Metallarbeitern klarmachen, daß die dort produzierten Autos einen Durchschnittsverbrauch von 5 Litern nicht übersteigen dürfen. Ich hoffe, daß Sie dies vor Ort so machen. ({4}) - Wir können das allein nicht machen. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß wir das in der Europäischen Gemeinschaft eingebracht haben. Wir haben es etwas intelligenter angestellt, als nur zu sagen: „5 Liter im Durchschnitt", sondern haben gesagt in der gesamten Flotte der Europäischen Gemeinschaft. Dies ist notwendig, damit wir unsere Ziele realisieren können und damit die Entwicklung bei CO2 und bei Stickoxiden in den Griff bekommen. Ich kann Sie noch einmal darauf aufmerksam machen - ich habe das vorgestern im Europaauschuß des Deutschen Bundestages vorgetragen -, daß wir einen Zeitplan für die Minderung der Emissionen bei Autos haben. Das, was Sie fordern, ist Realität. Wir haben die schrittweise Verminderung der Emissionen. Zu den flüchtigen organischen Bestandteilen angesichts der knappen Zeit nur ein Satz: Meine Damen und Herren, interessant ist, daß das, was gemacht worden ist, überhaupt nicht mehr erwähnt wird. Welche kritischen Stimmen haben wir uns bezüglich der Abgasrückführung anhören müssen. Die Abgasrückführung ist neben der Schweiz nur in Deutschland gesetzlich verankert. Das und den sogenannten kleinen Kohlekanister im Auto, damit die flüchtigen organischen Bestandteile absinken, haben wir durchgesetzt. Zusammengefaßt, Frau Präsidentin, meine Damen und Herren: Ich gehe nicht davon aus, daß wir schon alles gemacht haben. Die Verordnung nach § 40 Abs. 2 BImSchG muß jetzt kommen. Es ist aber unstrittig, daß wir unserer geographischen Lage im Herzen Europas entsprechend auf dem Gebiet des Kampfes gegen den Sommer-Smog, wie er genannt wird, also gegen die bodennahe Ozonbelastung, einen wesentlichen Schritt vorangekommen sind und daß wir Vorreiter in Europa sind. Ich danke Ihnen sehr herzlich. ({5})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur 'Abstimmung. Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 12/1677, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/772 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der SPD und der PDS/Linke Liste angenommen: Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 a und b auf: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten ({0}) - Drucksache 12/4902 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Innenausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Verkehr b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten ({2}) - Drucksache 12/4907 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({3}) Innenausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Verkehr Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dagegen sehe ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht der Abgeordnete Karl-Josef Laumann.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als Arbeitnehmer, insbesondere während meiner Zeit als Betriebsrat in einer mittelständischen Landmaschinenfirma, wäre ich froh gewesen, wenn es für Arbeiter solche Kündigungsschutzfristen gegeben hätte, wie sie der Gesetzentwurf der CDU/CSU- und der F.D.P.-Bundestagsfraktion vorsieht. ({0}) Die Unterschiede, die in unserer Gesellschaft zwischen Arbeitern und Angestellten gemacht wurden und teilweise noch bis heute bestehen, haben mich immer geärgert. Traditionell gab es diese Unterschiede in den beiden großen Beschäftigungsgruppen, begründet durch die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit. Ich denke aber, daß wir uns hier im Hause alle darüber einig sind, daß die Unterschiede zwischen diesen beiden großen Arbeitnehmergruppen in einer modernen Industriegesellschaft nicht mehr zeitgemäß sind. Es gibt zur Zeit noch zwei Bereiche, in denen wir diese großen Unterschiede haben: bei der Organisation der Krankenkassen und beim Kündigungsschutz. Der Deutsche Bundestag hat durch die Verabschiedung des Gesundheits-Strukturgesetzes im Bereich der Organisation der Krankenkasse dafür gesorgt, daß diese Unterschiede, die jetzt noch bestehen, in einigen Jahren überwunden sein werden. Ich freue mich darüber, daß wir heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf behandeln, der jetzt auch im letzten Bereich, in dem es noch Ungleichheiten gibt, nämlich bei den Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte, diese Unterschiede überwinden will. Bei den anstehenden Beratungen im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung müssen wir einen vernünftigen, für alle akzeptablen und fairen Mittelweg zwischen den berechtigten Schutzinteressen der Arbeitnehmer und den Forderungen nach Flexibilität der Arbeitgeber finden. Dabei muß klar sein, daß wir als Politiker hier nicht als verlängerte Arme der Interessenvertretung etwa der Arbeitgeberverbände oder des Deutschen Gewerkschaftsbundes sitzen. ({1}) Daher halte ich - ich sage das ganz klar - die Übertragung der bisher längeren Kündigungsfristen für Angestellte auf die Arbeiter, wie es der SPD-Vorschlag vorsieht, für einen untauglichen Versuch, einen solchen akzeptablen Mittelweg zu finden. Dagegen glaube ich, daß unser Gesetzentwurf eine Möglichkeit aufzeigt, diesen Mittelweg zu erreichen. Es macht doch Sinn, die Kündigungsfristen an die Länge der Beschäftigung beim gleichen Arbeitgeber zu koppeln.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Laumann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Büttner?

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich.

Hans Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000302, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Laumann, während der Verhandlungen über die Kündigungsfristen vor dem Bundesverfassungsgericht im Jahre 1990 hat der Bundesarbeitsminister argumentiert, daß eine Verkürzung von Kündigungsfristen für Angestellte angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und der sozialen Rahmenbedingungen sozialpolitisch nicht verantwortbar sei. Meinen Sie nicht, daß angesichts der jetzt noch höheren Arbeitslosigkeit und der unsichereren sozialpolitischen Rechtslage dieses Argument heute erst recht gilt?

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Büttner, man kann natürlich in unserem Land alles so unflexibel gestalten, daß nachher keiner mehr irgend jemanden einstellt. ({0}) Ich würde sagen, daß der Weg, den wir vorschlagen, daß wir den Kündigungsschutz daran orientieren wollen, wie lange die Menschen bei dem gleichen Arbeitgeber beschäftigt sind, eigentlich der Weg ist, der von der Logik her Sinn macht. Ich muß Ihnen auch ganz ehrlich sagen: Ich bin eigentlich ein bißchen traurig darüber, daß sich das Parlament vom Bundesverfassungsgericht hat darauf hinweisen lassen müssen, daß wir die Ungleichheiten zwischen Arbeitern und Angestellten beseitigen müssen. Ich hätte mir das schon viel eher gewünscht. ({1}) Meine Damen und Herren, wie ich soeben schon bei der Beantwortung der Frage gesagt habe, sehe ich das berechtigte Schutzinteresse der Arbeitnehmer in unserem Gesetzentwurf vor allen Dingen dadurch berücksichtigt, daß wir für die seit vielen Jahren in einem Betrieb Beschäftigten zu entsprechend langen Kündigungsfristen kommen. Eine Flexibilität erreichen wir dadurch, daß diejenigen, die noch keine so lange Betriebszugehörigkeit haben, keinen so langen Kündigungsschutz haben. Außerdem möchte ich darauf hinweisen, daß der Gesetzentwurf vorsieht, daß der Kündigungsschutz tarifdiskutabel ist. Das heißt also, daß etwas, was heute tariflich vereinbart ist, durch das Gesetz überhaupt nicht berührt wird und daß die Tarifvertragsparteien an dem Gesetz vorbei einen aus Sicht der Branche vernünftigen Kündigungsschutz vereinbaren können. Daß die Tarifvertragsparteien das Gesetz nicht strikt einhalten müssen, sondern etwas frei vereinbaren können, ist doch eine vernünftige Sache und entspricht sicher auch dem Grundsatz der Verantwortung der Tarifvertragsparteien. Bei aller Kritik, die es aus Sicht der SPD und des Deutschen Gewerkschaftsbundes an unserem Gesetzentwurf geben mag, möchte ich darauf hinweisen, daß unser Gesetzentwurf für 18 Millionen Menschen in unserem Land einen besseren Kündigungsschutz vorsieht, als sie ihn heute haben, ({2}) nämlich für 14,5 Millionen gewerbliche Arbeiter und für 3,5 Millionen Angestellte in den neuen Bundesländern, die ja zur Zeit den gleichen Kündigungsschutz haben wie im Westen die Arbeiter. Angesichts der Verbesserungen, die wir hier für einen erheblichen Teil der arbeitenden Menschen in unserem Land erreichen, verstehe ich den großen Widerstand der Gewerkschaften gegen den Entwurf der Koalitionsfraktionen nicht. Denn was geschieht hier? Hier gibt die Gruppe der Angestellten eine längere Kündigungsfrist ab, damit wir endlich auch für den Bereich der Arbeiter zu besseren Kündigungsfristen kommen. Das müssen die Damen und Herren Angestellten nun einmal ertragen. ({3}) Nach der vereinbarten Anhörung der Experten im Ausschuß hoffe ich darauf, daß wir eine sachbezogene Debatte über das anstehende Kündigungsfristengesetz bekommen. Es sollte uns gelingen, diesen akzeptablen Mittelweg, den ich hier aufgezeigt habe, zu gehen. Ich bin sicher, daß wir damit ein Gesetz erreichen werden, das sich sowohl bei den Beschäftigten als auch bei den Arbeitgebern anschließend einer großen Akzeptanz erfreuen wird. Ich denke, daß wir die sachlichen Beratungen im Ausschuß vernünftig zu Ende führen und zu einem guten Gesetz kommen. Schönen Dank. ({4})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht Herr Abgeordneter Günther Heyenn.

Günther Heyenn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000897, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Laumann, gestatten Sie mir zu Ihnen nur eine Bemerkung. Wenn Sie bedauern, daß das Parlament erst durch das Bundesverfassungsgericht zur Angleichung der Kündigungsfristen aufgefordert werden mußte, dann muß ich Ihnen entgegenhalten: Sie haben sich wenig mit der Materie befaßt. Das Parlament hatte in den vergangenen zehn Jahren zweimal die Gelegenheit, entsprechenden Gesetzesanträgen der SPD hier zuzustimmen, und Sie haben das abgelehnt. ({0}) Der Bundesarbeitsminister hat in einer schriftlichen Stellungnahme der Bundesregierung an das Bundesverfassungsgericht im Vorfeld der Entscheidung, die Grundlage der heutigen Beratung ist, ausgeführt - der Kollege Büttner hat schon darauf hingewiesen -, die Angestellten könnten darauf verweisen, die für sie bisher bestehenden Kündigungsfristen seien zu einem erheblichen Teil bereits im vorigen Jahrhundert eingeführt worden. An diese richtige Aussage schließt er an, eine Verkürzung sei vor allem in der heutigen Zeit mit ihrer hohen Arbeitslosigkeit ein unzumutbarer sozialer Rückschritt. - Dem ist nichts hinzuzufügen. ({1}) Und das, meine Damen und Herren, können Sie im Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch wörtlich nachlesen. Doch - weil auf Deregulierung eingeschworen - wird die vermeintliche Gunst der Stunde genutzt. Die gegenwärtige Rezession soll instrumentalisiert werden, um bei Angestellten weitere Rechte abzubauen. Das können Sie nicht leugnen. ({2}) Vom arbeitnehmerfreundlichen Reden, aber arbeitgeberfreundlichen Handeln, meine Damen und Herren von der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft, haben wir endgültig genug. Es ist ja legitim, die Interessen der Arbeitgeber zu vertreten, Herr Kollege Laumann; nur sollte man sich dann auch offen dazu bekennen. ({3}) Mit dem Koalitionsentwurf sollen die Grundkündigungsfristen für Angestellte von sechs Wochen zum Quartalsende auf vier Wochen, und zwar auf vier Kalenderwochen, reduziert werden. Das, Herr Hörsken, können auch Sie nicht schönreden. Nach der Aussage des Bundesverfassungsgerichts, mit dem Gleichheitsgebot sei es unvereinbar, Kündigungsfristen für Arbeiter kürzer als die für Angestellte zu gestalten, wird das Heuern für die Angestellten erschwert und das Feuern für die Arbeitgeber erleichtert. ({4}) Dabei hätte es sich angeboten, dem Sozialstaatsgebot unseres Grundgesetzes zu folgen und schlicht die Fristen der Arbeiter denen der Angestellten anzugleichen. Aber das, was diese Koalition jetzt vorhat, schließt sich nahtlos an wichtige Schritte ihrer Politik an: an die zusätzlichen Erschwernisse des Streikrechts durch die Änderung des § 116 AFG, an die Umwandlung des spätestens seit dem 1. Januar 1900 geltenden Grundsatzes unbefristeter Arbeitsverhältnisse durch die wesentliche Erleichterung des Abschlusses befristeter Arbeitsverhältnisse mit dem sogenannten Beschäftigungsförderungsgesetz, und es paßt zu den zahlreichen Einschränkungen bei Arbeitsförderung, ABM, Fortbildung und Umschulung. Es geht hier nur um die Interessen der Arbeitgeberseite. Was schert es da Regierung und Koalition, daß die hier zum Abbau anstehenden Angestelltenrechte schon über 100 Jahre alt sind! Immer dann, wenn sich die Koalition des Arbeitsrechtes annimmt, geht das zu Lasten der Arbeitnehmer. Das erleben wir und die Arbeitnehmer nun bedauerlicherweise schon mehr als zehn Jahre. ({5}) Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft, die auf Ausgleich angewiesen ist. Zu dieser Politik, über die wir heute reden, wird in den Büchern eines Tages bilanziert werden: Gemessen und zu klein befunden. Doch wie immer bei der SPD: Unsere Kritik bleibt nicht allein, wir legen Alternativen vor: Die Arbeiter werden den Angestellten gleichgestellt. Eine Verschlechterung bei den Angestellten unterbleibt. Auf den sachlich unbegründeten Ausschluß junger Arbeitnehmer von verlängerten Kündigungsfristen wird verzichtet. Das sagt unser Entwurf. Das ist sachgerecht, das ist sozialverträglich, und das ist nach vorn gewandt. Unser Entwurf folgt den Erfordernissen in einer Zeit der Massenarbeitslosigkeit. Er trägt der umfassend gewachsenen Qualifikation der Arbeiter Rechnung. ({6}) Der Koalitionsentwurf trifft Millionen von Angestellten, nämlich in den Bereichen ohne tarifliche Absicherung und dort, wo in Tarifverträgen auf die gesetzlichen Fristen Bezug genommen wird. Sie fördern den beruflichen Abstieg von Angestellten, meine Damen und Herren. Nach einer Kündigung verbleibt in Zukunft weniger Zeit, um einen gleichwertigen oder gar besseren Arbeitsplatz zu finden. ({7}) ({8}) Ich fordere Sie, meine Damen und Herren, im übrigen auf - ({9}) - Zwischenrufe verbessern Ihre Position nicht, Herr Fuchtel.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Kollege Heyenn, es besteht der Wunsch nach einer Zwischenfrage vom Kollegen Schemken.

Günther Heyenn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000897, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber gerne, Herr Kollege Schemken.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich nehme an, daß Sie das machen werden.

Günther Heyenn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000897, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ich nehme an, Sie schalten die Uhr aus.

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Heyenn, kann es sein, daß die Angestellten, die jetzt Verträge haben und auch unter tariflichen Verträgen abgesichert sind, nicht betroffen sind? Können Sie mir bestätigen, daß wir zum gleichen Zeitpunkt 18 Millionen Arbeitern den gleichen Vorteil bieten und daß den Angestellten, die in Zukunft unter gleichen Bedingungen beginnen, eben nichts genommen wird und insofern das hundertjährige Recht sehr fraglich ist? ({0})

Günther Heyenn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000897, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege Schemken, Sie mußten mit Ihrer Koalition erst zweimal vom Bundesverfassungsgericht - nämlich 1982 und 1990 - aufgefordert werden, die Arbeiter den Angestellten gleichzustellen. Da können Sie es doch nicht als Erfolg verbuchen, wenn Ihnen das Verfassungsgericht dies ins Stammbuch schreibt und sagt „Hier haben Sie etwas versäumt" , und Sie dabei gleichzeitig für Millionen von Angestellten hundert Jahre lang geltende erkämpfte Arbeitnehmerrechte einfach schmälern, die Chancen der Angestellten einfach verringern. Ich kann Ihrem Schönreden, Herr Kollege Schemken, nicht folgen. ({0}) Dann fordere ich Sie auf, sich einmal klarzumachen, welche Bedeutung die Kündigungsfristen eigentlich haben. Das Bundesverfassungsgericht - hier wird seine Intention deutlich, der Sie mit Ihrem Entwurf nämlich nicht entsprechen - hat dies erkannt. Die Richter haben mit ihrer Entscheidung die existentielle Bedeutung eines Arbeitsplatzes für den Arbeitnehmer und seine Familie zum Ausdruck gebracht. Die arbeitgeberseitige Kündigung - nur um die kann es hier gehen, so kann man in der Begründung lesen - kann den Arbeitnehmer empfindlich treffen. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zwingt ihn, einen neuen Arbeitsplatz zu suchen und sich auf neue Arbeitsbedingungen einzustellen, möglicherweise sogar den Wohnort zu wechseln. Ob er einen neuen Arbeitsplatz mit gleichem Verdienst und gleichwertigen Bedingungen findet, hängt wesentlich auch davon ab, wieviel Zeit ihm für die Arbeitsplatzsuche zur Verfügung steht. Dem sollen die Kündigungsfristen Rechnung tragen, so das Verfassungsgericht. Ihr Entwurf trägt dem keine Rechnung, meine Damen und Herren. ({1}) Dann noch etwas anderes: Diese Argumentation gelte grundsätzlich, sagt das Verfassungsgericht. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit kommt dieser Argumentation doch noch erhöhte Bedeutung zu. Das hat auch der Bundesarbeitsminister erkannt - allerdings nur in seinen Sprüchen gegenüber dem Verfassungsgericht. Er setzt es aber nicht in politisches Handeln um. Weniger Zeit, sich einen neuen Arbeitsplatz zu suchen, und die Angst davor, arbeitslos zu werden, verstärkt den Druck, weniger qualifizierte Arbeitsplätze anzunehmen und schlechtere Konditionen zu akzeptieren. Wir Sozialdemokraten wollen dies nicht. ({2}) Wir wollen auch im Arbeitsleben aufrecht gehende Menschen. ({3}) Deshalb lehnen wir Ihren nach hinten und in die Vergangenheit gerichteten Entwurf ab und empfehlen die Annahme unseres Antrags. Wir freuen uns schon auf die Beratungen im Ausschuß. Vielen Dank. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Eva Pohl das Wort.

Dr. Eva Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001727, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der heutigen Debatte widmen wir uns der letzten wichtigen gesetzlichen Unterscheidung, die bei der arbeitsrechtlichen Behandlung der Arbeitnehmer in den alten und neuen Bundesländern noch gilt. Die Kündigungsfristen für Arbeiter waren gemäß § 622 Abs. 2 BGB deutlich kürzer als die entsprechenden Fristen für Angestellte. Durch Beschluß vom 30. Mai 1990 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, daß diese Vorschrift mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Grundgesetz unvereinbar ist. Die Verfassungsrichter beauftragten den Gesetzgeber, bis zum 30. Juni 1993 eine verfassungskonforme Gesetzeslage zu schaffen. Dieser Auftrag ist mit dem vorliegenden - fast salomonischen - Gesetzentwurf des Kündigungsfristengesetzes der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion erfüllt. ({0}) Unterschiedliche gesetzliche Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte in den alten und neuen Bundesländern werden vereinheitlicht. Vor dem § 622 des Bürgerlichen Gesetzbuches werden fortan alle gleich sein. Verbessert wird zunächst die Rechtsposition von 15 Millionen Arbeitern in Deutschland. ({1}) Deren Kündigungsfristen werden deutlich verlängert. ({2}) In den ersten Jahren der Betriebszugehörigkeit wird die Kündigungsfrist von zwei Wochen auf vier Wochen angehoben. Danach verlängert sich die neue gesetzliche Kündigungsfrist schrittweise auf bis zu sieben Monate. Die bisher längste Kündigungsfrist für Arbeiter beträgt drei Monate zum Quartalsende - jeweils nach 20 Jahren Betriebszugehörigkeit. Bereits 1990 hatte die Bundesregierung mit der Herabsetzung der für die Berechnung der Betriebszugehörigkeit entscheidenden Altersgrenze vom 35. Lebensjahr - als Voraussetzung für verlängerte Kündigungsfristen - auf das 25. Lebensjahr eine Verbesserung zugunsten der Arbeiter beschlossen. Im vorliegenden Gesetzentwurf der SPD-Fraktion zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten wurde dies offensichtlich nicht berücksichtigt. ({3}) Auch für die rund 3,1 Millionen Angestellten in den neuen Bundesländern bedeutet das neue Recht eine Verbesserung. Für sie gilt nach dem Einigungsvertrag noch § 55 des Arbeitsgesetzbuches der DDR, also vergleichbare Kündigungsfristen wie bisher bei den westdeutschen Arbeitern - übrigens ohne erwähnenswerte Entrüstungsstürme bestimmter Interessengruppen in den alten Bundesländern. Als thüringische Bundestagsabgeordnete kann ich die gesetzlichen Verbesserungen für die Beschäftigten - Arbeiter wie Angestellte - in den neuen Bundesländern nur ausdrücklich begrüßen. Mit starken Worten wird besonders die Eingliederung der Kündigungsfrist von rund 12 Millionen westdeutschen Angestellten in dem vorliegenden Gesetzentwurf kritisiert. Nach bisherigem Recht sind die Kündigungsfristen der westdeutschen Angestellten bekanntlich länger. Allerdings nur auf den ersten Blick kann man hier von einer sich verschlechternden Position sprechen, denn tarifvertragliche Vereinbarungen bleiben von den vorgesehenen Gesetzesänderungen unberührt. ({4}) Nach verschiedenen Berechnungen - u. a. auch des DGB - weist die Mehrzahl der Tarifverträge längere Fristen aus.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Abgeordnete, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Büttner ({0}) zu beantworten?

Dr. Eva Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001727, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich möchte das hier gern zu Ende bringen. Im vorliegenden Koalitionsentwurf geht es tatsächlich nur um eine gesetzliche Grundregelung; die Tarifparteien bleiben in der Gestaltung der Kündigungsfristen auch weiterhin unabhängig. ({0}) Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang der jüngste Manteltarifvertrag für die Beschäftigten der chemischen Industrie. In diesem - von der IG Chemie und der DAG - unterschriebenen Vertrag werden zum Teil erheblich kürzere Fristen vorgesehen als im vorliegenden Entwurf. ({1}) Die weitgehende Umstellung von Quartalskündigungsterminen auf Monatstermine als wichtigstem Eckpunkt der Neuregelung wird im Prinzip auch vom DGB unterstützt. Quartalskündigungstermine für alle Arbeitnehmer - wie im vorliegenden Entwurf der SPD verlangt - führen zu einer schubweisen Belastung des Arbeitsmarktes, der Arbeitsämter und der Arbeitsgerichte an vier Terminen im Jahr. Sie würden der notwendigen Flexibilität der Beschäftigung und einem möglichst nahtlosen Übergang in neue Arbeitsverhältnisse geradezu entgegenwirken. ({2}) Besonders in den neuen Bundesländern würden klein- und mittelständische Betriebe in ihrer Existenz bedroht, wenn z. B. Handwerksmeister Arbeitern nur noch mit sechswöchiger Frist zum Quartalsende kündigen könnten. Schlichte Polemik ist es, wenn bestimmte Interessengruppen in ihrer Kritik am vorliegenden Gesetzentwurf der CDU/CSU und F.D.P. von „Heuern und Feuern" und von amerikanischen Verhältnissen sprechen. Der vorliegende Koalitionsentwurf hat damit rein gar nichts zu tun. ({3}) Wer wann entlassen werden darf, bestimmt das Kündigungsschutzgesetz, und dieses wird vom vorliegenden Entwurf nicht berührt. ({4}) Es wird sicherlich nicht in Frage gestellt, daß dieser materielle Kündigungsschutz für den sozialen Besitzstand der Arbeitnehmer entscheidend ist. Ich denke, am Ende der Debatte wird deutlich geworden sein, daß der vorliegende Gesetzentwurf der CDU/CSU und F.D.P. einen vernünftigen, vertretbaren Kompromiß darstellt. Daher sehe ich die Unterstützung aller übrigen Mitglieder des Parlaments für unseren Gesetzentwurf als ein Gebot der Vernunft an. Ich danke Ihnen. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Bernd Henn.

Bernd Henn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000868, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste lehnt den von den Regierungsfraktionen vorgelegten Entwurf für ein Kündigungsfristengesetz ab. Wir werden dem Gesetzentwurf der SPD zustimmen. Es ist überfällig, die Schutzfristen für die Kündigung von Arbeitern auf ein Niveau zu bringen, das für Angestellte seit 1926 in der aktuellen Form existiert. Angesichts der seit 1974/75 im Westen und seit 1990 in Gesamtdeutschland herrschenden Massenarbeitslosigkeit wäre eine weitere Ausdehnung der Schutzfristen eher geboten als eine Reduzierung. Das ist natürlich eine Frage des Interessenstandpunkts. Es ist leider normal und letztlich auch legitim - der Kollege Heyenn hat das so formuliert -, daß die Mehrheitsfraktionen im Deutschen Bundestag wieder einmal Arbeitgeberpositionen in Gesetzesform bringen. Nur sollte man wirklich unterlassen, zu behaupten, daß es sich hierbei auch um eine angemessene Berücksichtigung von Arbeitnehmerinteressen handele, wie es in der Drucksache 12/4902 auf Seite 2 formuliert wird. Die Regierungsfraktionen stellen sich mit ihrem Gesetzentwurf eindeutig gegen die Interessen der Angestellten, d. h., sie machen eine angestelltenfeindliche Politik. Sie verbessern hier zwar die Schutzfristen für die Arbeiter; aber sie enthalten den Arbeitern ein Schutzniveau vor, wie es für die Angestellten seit 100 Jahren gegolten hat. Dafür gibt es keine ökonomisch zwingenden Gründe. Das betriebliche Management in größeren, aber auch in kleineren Betrieben muß bei Investitionen in Sachanlagen häufig viel längere Planungszeiträume als drei, vier oder sechs Monate einschätzen können. Produktionsumstellungen oder Produktionsverlagerungen haben in aller Regel einen viel längeren Planungsvorlauf als die bisher längsten Kündigungsfristen für Angestellte. Selbst für unvorhergesehene Absatzeinbrüche gibt es schließlich das Instrument der vorübergehenden Verkürzung der Arbeitszeit, sprich: Kurzarbeit. Kürzere Kündigungsfristen sind daher für Arbeitgeber sachlich nicht notwendig. Es ist den Arbeitgebern zumutbar, die Personalplanung so sorgfältig durchzuführen, daß kurzfristige Schwankungen im Arbeitsanfall durch betriebsorganisatorische Maßnahmen ausgeglichen werden können. Für Arbeitnehmer sind kürzere Kündigungsfristen allerdings eine permanente Bedrohung. Kurze Kündigungsfristen sind deshalb ein hervorragendes Disziplinierungsinstrument gegenüber Arbeitnehmern, und sie sind damit betriebliches Herrschaftsinstrument der Arbeitgeber. Dies real einschätzen zu können setzt wohl voraus, daß man die Vorstellungskraft aufbringt, was eine Kündigung an existentieller Bedrohung für den einzelnen Arbeitnehmer und seine Familie darstellen kann, was es für die Lebensplanung einer Familie bedeuten kann, wenn ein Familienangehöriger den Arbeitsplatz verliert. Ich vermute, daß nur wenige von denjenigen, die an diesem Gesetzentwurf mitgewirkt haben, sich jemals selbst in solch einer Situation befunden haben, damit auch keine Ahnung von der emotionalen Seite dieses Problems haben können und damit auch nicht ermessen können, was es bedeutet, daß künftig im Rahmen der Grundkündigungsfrist jeder Arbeitstag der Woche zum Kündigungstag werden kann. Aber anstatt diesen Zustand für die Arbeiter aus der Welt zu schaffen, beziehen Sie die Angestellten jetzt noch mit in diesen Zustand ein. Deshalb wiederhole ich: Das ist angestelltenfeindliche Politik. Es wird in den Angestelltenbereichen Wirkung zeigen, daß die CDU/CSU über die Interessen der Angestellten so hinweggeht. ({0}) Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, wären in Ihrem eigenen Interesse gut beraten, diesen Entwurf zurückzuziehen und dem Gesetzentwurf der SPD zuzustimmen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Parlamentarischen Staatssekretär Horst Günther das Wort. Horst Günther, Pari. Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der heute von den Koalitionsfraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachte Entwurf eines Kündigungsfristengesetzes entspricht dem Entwurf, den das Bundeskabinett in der vorigen Woche beschlossen hat. ({0}) - Nein, das war sicher kein Zufall, Herr Kollege Warrikoff. ({1}) Das Bundesverfassungsgericht hat bekanntlich eine Frist gesetzt, die am 30. Juni 1993 endet, bis zu der eine Harmonisierung der Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte herbeigeführt werden muß, hat allerdings offengelassen, wie die Unterschiede in den Kündigungsfristen vom Gesetzgeber zu beseitigen sind. Jede von Verantwortung für unser Sozialsystem getragene Neuregelung muß sowohl die Interessen der Arbeitnehmer, also der Arbeiter und Angestellten in den alten und neuen Bundesländern - da haben wir ja noch Unterschiede -, als auch die Interessen der Arbeitgeber ausgewogen berücksichtigen. Wir meinen, der vorgelegte Entwurf stellt einen für alle akzeptablen und fairen Mittelweg dar: Kürzere Kündigungsfristen zu Beginn der Beschäftigung werden mit bei der Arbeitgeberkündigung einzuhaltenden steigenden Fristen für langjährig beschäftigte Arbeitnehmer verbunden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Staatssekretär, der Abgeordnete Büttner möchte gerne eine Frage stellen.

Horst Günther (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000749

Ja, bitte schön, Kollege Büttner.

Hans Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000302, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, halten Sie es für sozialpolitisch verantwortlich, eine so wichtige Frage, für die die Bundesregierung drei Jahre Zeit hat, auf dem letzten Drücker durch das Parlament jagen zu wollen?

Horst Günther (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000749

Kollege Büttner, entscheidend ist, daß wir die Frist einhalten. ({0}) Sie wissen genau, daß wir uns jahrelang bemüht haben, mit den Sozialpartnern eine einvernehmliche Lösung zu finden, die sicher besser gewesen wäre. Das ist am Ende nicht ganz gelungen; aber die Bemühungen sollten Sie honorieren und uns nicht kritisieren, daß wir die Frist bis zum Schluß ausreizen. ({1}) Im übrigen, Kollege Büttner, lehnen Sie unseren Entwurf ab. Da konnte er Ihnen doch eigentlich nicht spät genug kommen. ({2}) Meine Kolleginnen und Kollegen, damit wird bei verlängerten Kündigungsfristen langjährige Betriebszugehörigkeit bei steigendem Alter honoriert. Im übrigen gelten alle vereinbarten Kündigungsfristen in den Tarifverträgen weiter. Das ist schon gesagt worden; aber ich glaube, man kann das nicht oft genug sagen, weil das meist verschwiegen wird. Auch neue Vereinbarungen können die Tarifpartner jederzeit treffen. Das lassen das Verfassungsgericht und auch dieser Gesetzentwurf zu. ({3}) - Bitte schön, Kollege Büttner, wenn der Herr Präsident damit einverstanden ist.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte sehr, ich bin damit einverstanden.

Hans Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000302, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gelten die in den Tarifverträgen vereinbarten Kündigungsfristen auch dann weiter, wenn darin ausdrücklich Bezug auf die gesetzlichen Fristen genommen wird?

Horst Günther (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000749

Es gibt unterschiedliche Regelungen in den Tarifverträgen, Kollege Büttner. Manchmal sind die Fristen dort noch einmal genannt. Dann gelten sie selbstverständlich weiter. Wenn aber auf gesetzliche Regelungen Bezug genommen wird, dann gilt die jeweils gesetzliche Regelung. Das habe ich auch nie anders behauptet. ({0}) Lassen Sie mich im einzelnen noch einige Punkte herausstellen. Erstens. Für 18 Millionen Arbeiter in Ost und West bringt die vorgesehene Regelung erhebliche Verbesserungen, nämlich die Verdoppelung der Grundkündigungsfrist von zwei auf vier Wochen, wesentlich früheres Erreichen der verlängerten Kündigungsfristen, z. B. von zwei Monaten nach fünfjähriger statt nach zehnjähriger Betriebszugehörigkeit, und die Neueinführung verlängerter Kündigungsfristen von vier bis sieben Monate. Ich wiederhole: für 18 Millionen Arbeiter in Deutschland. Zweitens. Diese Verbesserungen treten auch für die rund 3,5 Millionen Angestellten in den neuen Bundesländern ein, für die jetzt noch die kurzen Arbeiterfristen gelten. Drittens. Eine weitere wichtige Neuregelung, die bisher leider völlig unbeachtet blieb, ist die Neueinführung verlängerter Kündigungsfristen auch in Betrieben mit nicht mehr als zwei Angestellten. Das ist eine erhebliche Verbesserung für eine große Gruppe älterer Angestellter, vor allem für Frauen, die in diesen Betrieben überwiegend beschäftigt sind. In diesen Betrieben gibt es meistens leider keine Tarifverträge, so daß das Gesetz eine ganz erhebliche Verbesserung für diese Menschen mit sich bringt. ({1}) Viertens. Für die Angestellten mit längerer Betriebszugehörigkeit ist über das geltende Recht hinaus eine neue Stufe von sieben Monaten nach zwanzigjähriger Betriebszugehörigkeit vorgesehen. Geradezu unsinnig, meine Damen und Herren, ist der in den letzten Tagen neu aufgetauchte Vorwurf, der Entwurf sei frauenfeindlich, weil er entsprechend dem seit jeher geltenden Recht längere Kündigungsfristen an die Dauer der Betriebszugehörigkeit knüpfe und damit Frauen nach dem Erziehungsurlaub wieder auf die Grundkündigungsfrist zurückgestuft würden. Abgesehen davon, daß die eben dargestellten Verbesserungen auch allen Arbeitnehmerinnen zugute kommen, berührt die neue Regelung in keiner Weise die jetzige Rechtslage, nach der das Arbeitsverhältnis während der Mutterschutzfristen und des Erziehungsurlaubs bestehen bleibt und diese Zeiten auf die Betriebszugehörigkeit auch hinsichtlich der verlängerten Kündigungsfristen angerechnet werden, wie das bisher immer schon war. ({2}) Ich halte es auch für eigenartig, wenn Gewerkschaften und auch die Opposition die vorgeschlagene Neuregelung als sozialreaktionär bezeichnen. Und dies, obwohl bekannt ist, daß die mit der IG-Chemie und der DAG abgeschlossenen Manteltarifverträge für Arbeiter und Angestellte einheitlich erheblich kürzere Grundkündigungsfristen vorsehen als der vorliegende Gesetzentwurf. Das ist schon sehr eigenartig. Ich kritisiere diese tarifvertraglichen Regelungen als solche überhaupt nicht. Die Bundesregierung hat aber auch nie einen Hehl daraus gemacht, daß sie sich bei der Vorbereitung dieses Gesetzentwurfs auch von Elementen dieser Tarifverträge hat leiten lassen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Staatssekretär, der Abgeordnete Günter Heyenn hat das Bedürfnis, Sie zu fragen.

Horst Günther (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000749

Aber selbstverständlich. Wir setzen die Fragestunde fort.

Günther Heyenn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000897, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, würden Sie zugestehen, daß der von Ihnen angesprochene Tarifvertrag im Bereich der IG Chemie auch erheblich längere Kündigungsfristen für die längerbeschäftigten Arbeitnehmer als das Gesetz vorsieht? Würden Sie zugestehen, daß dieser Tarifvertrag und die kürzeren Kündigungsfristen für Arbeitnehmer im Chemiebereich deswegen geschaffen wurden, weil hiermit erstmalig der Einstieg in die Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten im Lohn- und Gehaltzahlungsbereich erreicht wurde?

Horst Günther (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000749

Kollege Heyenn, das ist alles richtig. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß die Tarifvertragsparteien, wie ich meine, ohne Not einen Tarifvertrag abgeschlossen haben, der erheblich kürzere Grundkündigungsfristen - wenn ich richtig informiert bin, in der Probezeit nur drei Tage - vorsieht, als es eigentlich nach dem Gesetz vorgesehen war. Ich erkenne nicht die Not, einen solchen Tarifvertrag abzuschließen. Ich wehre mich auch entschieden dagegen, daß das, was nach gewerkschaftlicher Auffassung als tarifvertragliche Regelung akzeptabler Ausgleich ist, als Gesetz sozialreaktionär sein soll. Dieser Tarifvertrag, Kollege Heyenn - ich will das noch anfügen -, ist im Rahmen der Tarifautonomie auf völlig freiwilliger Basis zustande gekommen. Keinesfalls steht und fällt der Kündigungsschutz mit der Länge der Kündigungsfristen. Vor 100 Jahren mag das noch so gewesen sein. Aber seit dem Kündigungsschutzgesetz wird der Kündigungsschutz vor allem dadurch gewährleistet, daß Kündigungen überhaupt nur ausgesprochen werden dürfen, wenn sie sachlich begründet sind. Das scheinen diejenigen zu vergessen, die den Gesetzentwurf als Freibrief für „hire and fire" bezeichnen. Auch hierzu in aller Deutlichkeit: Am bestehenden gesetzlichen Kündigungsschutz ändert der Entwurf überhaupt nichts. Abschließend zu Ihrem Entwurf, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion: Mit seiner Maximalposition, alle Fristen auf das herkömmliche Angestelltenniveau zu heben und noch einiges weitere daraufzusatteln, wurde er vor fünf Jahren in diesem Hause schon einmal zu Recht abgelehnt. Er ist heute angesichts schwierigerer wirtschaftlicher Bedingungen erst recht unannehmbar. Ihr Vorschlag würde nämlich insbesondere für weniger qualifizierte Arbeitnehmer Einstellungshindernisse ersten Ranges schaffen und bestenfalls zu einem Anstieg befristeter Arbeitsverhältnisse führen. Nicht einmal von Quartalkündigungsterminen, die zu sachlich nicht begründeten Unterschieden bei den tatsächlichen Kündigungsfristen bis zu drei Monaten führen und mit ihrer Unflexibilität die Arbeitsmarktchancen der Arbeitnehmer noch weiter erschweren, konnten Sie sich trennen. Dabei sah bereits der DGB-Entwurf eines Arbeitsgesetzbuches im Jahre 1977 Monatskündigungstermine vor. Angesichts dieser Tatsachen ist der realitätsferne Entwurf der SPD-Fraktion abzulehnen. Herr Präsident, ich habe die Zeit eingehalten, wie ich sehe. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich bedanke mich ausdrücklich bei Ihnen. Meine Damen und Herren, bevor Sie dem Überweisungsbeschluß zustimmen dürfen, hat noch der Abgeordnete Dr. Briefs die Möglichkeit zu sprechen.

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Arbeitsmarkt schlägt unter dieser Bundesregierung einen Minusrekord nach dem anderen. 7 Millionen fehlende Arbeitsplätze: 3,5 Millionen offene, 3,5 Millionen verdeckte Arbeitslose. Rückgang der Erwerbstätigen von 1990 bis 1993 von 37 Millionen auf 35,3 Millionen, wenn man Ost- und Westdeutschland zusammennimmt. In dieser Situation kommt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die kündigungsrechtliche Diskriminierung der Arbeiter gegenüber den Angestellten beseitigen soll. Und was macht diese Bundesregierung in dieser Zeit der größten Arbeitslosigkeit in diesem Jahrhundert? Sie verbessert die Kündigungsfristen für Arbeiter. Sie verbessert zwar die Kündigungsfristen für Arbeiter von bislang skandalös kurzen zwei Wochen auf vier Wochen, verkürzt aber zugleich die Kündigungsfrist für Angestellte von sechs Wochen auf vier Wochen. Inzwischen kommen aber auf zwei Arbeiter drei Angestellte. Per saldo ergibt sich also eine deutliche Verschlechterung der Kündigungsfristen insgesamt. Das Ganze geschieht auch noch mit der Begründung, die Flexibilität des Einstellungsverhaltens der Unternehmen erhöhen zu wollen. Die Praxis hat aber längst gezeigt, daß Flexibilisierung in allen möglichen Formen keine Arbeitsplätze bringt, vielmehr führt sie dazu, daß auf immer mehr der viel zu wenigen Arbeitsplätze Schutzvorkehrungen abgebaut werden und der Druck erhöht wird. Das Gesetz ist ein weiterer Stein im zunehmend unsozialen Mosaik der Politik dieser Bundesregierung. Die Kündigungsfristen sind da, um sich anpassen zu können, um sich mit dem Verlust des Arbeitsplatzes vertraut machen zu können, um einen neuen Arbeitsplatz suchen zu können. Daß dafür vier Wochen ungünstiger sind als sechs Wochen, liegt auf der Hand. Ich vermute, die Bundesverfassungsrichter hatten auch eher im Auge, die Kündigungsfristen für Arbeiter auf die gleiche Dauer wie für die Angestellten anzuheben. Diese Bundesregierung bleibt sich jedoch treu: Steuergeschenke an die Reichen und Unternehmer, keine Arbeitsmarktabgabe für Selbständige, Beamte und Abgeordnete, dafür aber Sozialabbau, jetzt auch im Zusammenhang mit der überfälligen Ausdehnung der Kündigungsfristen der Arbeiter, mit der Arbeitsmarktlage und der Situation von Gekündigten. Angebrachter wäre es, auf die Forderungen des DGB und seiner Gewerkschaften und Industriegewerkschaften einzugehen, die Kündigungsfristen einheitlich für alle auf zwei Monate zu erhöhen. Nicht zu vergessen, die betroffenen Arbeiter und Angestellten arbeiten bis zum letzten Tag. Dem Unternehmen geht also nichts verloren, ob die Kündigungsfrist vier, sechs oder acht Wochen ist. Bei vielen Stellenbesetzungen, gerade in qualifizierten Angestelltentätigkeiten, dürfte zudem eine Neubesetzung der Stellen in vier Wochen schwierig sein. Wenn die Stelle aber weiter besetzt sein muß, schadet also die verkürzte Kündigungsfrist unter Umständen dem Unternehmen. Im anderen Fall bleibt sie eine gewisse Zeit unbesetzt, was auch nicht gerade den Arbeitsmarkt entlastet. Der Bundesarbeitsminister hält sich viel zugute auf seinen Einsatz und auf seinen Pragmatismus. Dabei läßt er in diesem Falle, wie auch sonst allzuoft, nur eine unausgegorene marktradikale Ideologie über alle sozialen und praktischen Gesichtspunkte zu Lasten der abhängig Beschäftigten siegen. Das ist das besonders Traurige an dieser Geschichte, die heute hier in der ersten Lesung behandelt werden soll. Herr Präsident, ich danke Ihnen. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, es wird interfraktionell vorgeschlagen, die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/4902 und 12/4907 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Marliese Dobberthien, Hanna Wolf, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung für Hausangestellte im Rahmen des Mutterschutzgesetzes - Drucksache 12/3625 Überweisung svorschlag: Ausschuß für Frauen und Jugend ({0}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Gesundheit Interfraktionell wird eine Debattenzeit von einer halben Stunde vorgeschlagen. Ich gehe davon aus, daß das Haus damit einverstanden ist. Dann kann ich das als beschlossen feststellen. Nun hat die Abgeordnete Frau Dr. Marliese Dobberthien das Wort.

Dr. Marliese Dobberthien (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000394, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jährlich verlieren 2 500 bis 3 000 schwangere Frauen trotz des Kündigungsschutzes im Mutterschutzgesetz ihren Arbeitsplatz. Diese Frauen verlieren ihren Schutz nicht wegen gesetzwidrig handelnder Arbeitgeber. Nein, ich meine die legalen Kündigungen. Arbeitgeber dürfen gemäß § 9 Abs. 1 Satz 2 Mutterschutzgesetz in vollem Einklang mit dem Gesetz schwangeren Hausangestellten kündigen. Das hat schwerwiegende wirtschaftliche und soziale Folgen für die Betroffenen, vor allem für alleinerziehende Mütter. Sie können damit in existenDr. Marliese Dobberthien tielle Krisen geraten, weit über den Arbeitsplatzverlust hinaus. Bewohnen Schwangere z. B. eine Dienstwohnung, können sie mit der Kündigung auch ihre Bleibe verlieren und das zu einem Zeitpunkt, zu dem sie besonders schutzbedürftig sind und Fürsorge und Geborgenheit benötigen. Am Ende kann nicht nur die Arbeitslosigkeit, sondern auch Obdachlosigkeit und gesellschaftliche Isolation stehen. Ein unhaltbarer Zustand. ({0}) Es ist nur ein schwacher Trost, wenn die betroffenen Schwangeren ein Unterhaltsgeld erhalten. Im Vergleich zu Festanstellung und Obdach ist das ein Linsengericht. Der Bund bezahlt das bisherige durchschnittliche Nettoarbeitsentgelt, aber hiervon müssen die gekündigten Schwangeren den vollen Krankenkassenbeitrag, der vorher zur Hälfte vom Arbeitgeber getragen wurde, allein zahlen. ({1}) - Nicht in Ordnung. - Nach Ablauf der Mutterschutzfristen, wenn das Baby noch klein ist und das Erziehungsgeld vielleicht keine ausreichende Einkommensquelle darstellt, sind die auf einen neuen Arbeitsplatz angewiesen. Angesichts der Arbeitsmarktlage ist das kein einfaches Unterfangen, besonders für Mütter mit Babys. Es gibt eine weitere Benachteiligung schwangerer Hausangestellter. Als Teilzeitbeschäftigte haben sie gemäß § 11 Abs. 3 des Mutterschutzgesetzes nicht einmal einen Anspruch auf den vorgezogenen Mutterschutzlohn, wenn sie bereits vor den üblichen Mutterschutzfristen einem Beschäftigungsverbot unterliegen. Statt dessen bekommen sie nur während der normalen Mutterschutzfristen, also 6 Wochen vor und 8 Wochen nach der Entbindung, das übliche Mutterschaftsgeld von der Krankenkasse sowie den Arbeitgeberzuschuß. Dagegen sind schwangere Teilzeitbeschäftigte außerhalb des Haushalts viel besser beschützt. Im Gefahrenfall, z. B. bei schwerer körperlicher Arbeit oder beim Umgang mit Gefahrstoffen, braucht in diesem Fall die Schwangere nicht weiterzuarbeiten. Sie erhält ihre volle Lohnfortzahlung - eine weise Entscheidung für Mutter und Kind. Keine Lohnfortzahlung erhalten dagegen teilzeitbeschäftigte schwangere Hausangestellte im Gefahrenfall, aber nur, wenn sie hauswirtschaftliche Arbeiten erledigen. Sind sie erzieherisch oder pflegerisch tätig, erhalten sie hingegen eine Lohnfortzahlung. Eine gesetzliche Begründung für diese unterschiedliche und verwirrende Behandlung gibt es nicht. Eine solche Ungleichbehandlung ist daher nicht nur sozialpolitisch verfehlt, sondern überdies auch diskriminierend. ({2}) Mich ärgert auch, daß das geltende Recht parteiisch ist. Im Mittelpunkt der jetzigen Regelung stehen immer die Interessen der Arbeitgeber und des Privathaushalts und nicht die der schwangeren Hausangestellten oder ihres Kindes. Dies zeigt sich besonders beim sogenannten Dienstmädchenprivileg. Höchsteinkommensbezieher werden steuerlich privilegiert, aber nicht die schutzbedürftige schwangere Hausangestellte. Das ist aus meiner Sicht zutiefst unsozial. Wieso gibt es derartige Diskriminierungen von Arbeitnehmerinnen in Privathaushalten? Die Sünden reichen über 40 Jahre zurück und sind sozialpolitisch nie korrigiert worden. 1952 begründete der Gesetzgeber die Diskriminierung schwangerer Hausangestellter damit, daß die Verhältnisse in einer Familie nicht mit denen im betrieblichen Arbeitsleben vergleichbar seien. Finanzielle Belastung durch Kündigungsverbot und Lohnfortzahlungspflicht für eine schwangere Hausangestellte seien - so hieß es - für den Privathaushalt unzumutbar. Doch seit damals sind mehr als 40 Jahre verstrichen. Die finanziellen Belastungen im Falle eines Kündigungsverbots sind längst durch eine kluge Fondsregelung auffangbar. Zirka 80 % der Kosten können heute durch das seit 1986 geltende Umlageverfahren U 2 für Kleinbetriebe gemäß § 10 des Lohnfortzahlungsgesetzes übernommen werden. Doch statt die längst überfällige Korrektur des Mutterschutzgesetzes in Angriff zu nehmen, hat die Bundesregierung das Problem wieder einmal ausgesessen. Dabei ist für sie das Thema beileibe nicht neu. Bereits vor einem Jahr haben wir in einer Kleinen Anfrage auf diese unsinnigen Bestimmungen hingewiesen und die Bundesregierung gebeten zu handeln. Doch gesetzgeberisch ist nichts passiert. Statt dessen habe ich schöne Absichtserklärungen gehört. Peter Hintze, seinerzeit Parlamentarischer Staatssekretär im BMFJ, konstatierte im Februar 1992, daß sehr wohl ein Handlungsbedarf besteht. In ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage aus dem Sommer letzten Jahres räumt die Bundesregierung auch ein, daß eine Überprüfung der einschlägigen Paragraphen erforderlich ist, da es keine plausible Begründung für die beiden von uns kritisierten Ausnahmeregelungen gibt. Nicht nur die SPD, auch der Berufsverband katholischer Arbeitnehmerinnen in der Hauswirtschaft in Deutschland beklagt die geltenden gesetzlichen Ausnahmebestimmungen für Hausangestellte. Der Verband hält sie - wie wir - für unhaltbar und diskriminierend. Ebenso befürwortet die Gewerkschaft Nahrung, Genuß, Gaststätten eine Abschaffung der angesprochenen Ausnahmeregelung. Die bisher geltenden Bestimmungen muten an wie ein Relikt aus längst vergangenen Tagen, als Hausangestellte noch als Dienstmädchen bezeichnet wurden, der Arbeitgeber die „Herrschaft" ausübte und dem „Dienstmädchen" noch keine Rechte zustanden, vor allem kein Recht auf ein eigenes Privatleben. Damals mußte manche Frau ihre Dienststelle verlassen, wenn sie schwanger wurde. Sollte das Kind damals gar unehelich gewesen sein, war der Absturz in Not und gesellschaftliche Ächtung unausweichlich. Heute hingegen sollten wir versuchen, die Rahmenbedingungen für Mutterschaft zu verbessern. Wer den Schwangerschaftsabbruch vermeiden helfen will, muß Diskriminierung bei der Mutterschaft abbauen. Ich will, daß Frauen die Chance bekommen, ihren Kinderwunsch frei von existentiellen Sorgen realisieren zu können. Man darf nicht auf der einen Seite die Mutterschaft verherrlichen und auf der anderen Seite, wenn die Finanzierungsfrage angesprochen wird, die Augen verschließen. ({3}) Wer das tut, läßt zu, daß die sorgenfreie Mutterschaft zu einem Privileg der Reichen verkommt. Die Empfehlung Bayerns, eine Nachbesserung abzulehnen, ist weder christlich noch sozial. ({4}) - Wohl wahr. - Gerade die Konservativen, die im Zusammenhang mit der Neuregelung des § 218 so gerne für sich den Schutz des ungeborenen Lebens reklamieren, hätten hier eine Chance, die Ernsthaftigkeit ihrer Argumentation zu beweisen. In der Güterabwägung zwischen den finanziellen Interessen des Privathaushaltes und dem Schutzanspruch der Schwangeren entscheiden sich Mutterfreundlichkeit, Kinderfreundlichkeit und Familienfreundlichkeit nicht an Sonntagsreden, sondern nur an praktischer Politik zugunsten eines schutzbedürftigen Personenkreises. Da die Bundesregierung trotz unserer Bitten bisher nicht initiativ geworden ist, haben wir den vorliegenden Antrag gestellt, damit die Diskriminierung schwangerer Hausangestellter beendet wird. Schwangere Beschäftigte in Privathaushalten dürfen nicht länger schlechter gestellt werden als andere Gruppen von Arbeitnehmerinnen in dieser Gesellschaft. ({5}) Auch verfassungsrechtlich ist es geboten, allen - ich betone: allen - Schwangeren und Müttern Schutz zu gewähren und Benachteiligungen zu verhindern. Für einen gestaffelten, geringeren Schutz im Privathaushalt dürfte die Verfassung keinen Anknüpfungspunkt bieten. Im Interesse der betroffenen Frauen bitte ich die Bundesregierung, unserem Antrag zu folgen und die notwendigen gesetzgeberischen Schritte einzuleiten. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Maria Böhmer.

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema Kündigungsschutz für Hausangestellte greifen wir heute nicht zum erstenmal auf. Bereits in der vergangenen Legislaturperiode hat sich die Gruppe der Frauen in der CDU/CSU-Fraktion für eine Überprüfung der bestehenden Mutterschutzregelungen für Hausangestellte eingesetzt. Im vergangenen Jahr hat sich der Sonderausschuß „Schutz des ungeborenen Lebens" mit Blick auf notwendige Änderungen im Mutterschutzgesetz mit diesen Problematik befaßt. Stets war es Ziel, nachteilige Regelungen für Hausangestellte aufzuheben. Das ist, wie ich das sehe, auch die Absicht des hier vorliegenden Antrags der SPD. Aus vorangegangenen Diskussionen weiß ich aber sehr wohl um die unterschiedlichen Sichtweisen und Bewertungen, um Vor- und Nachteile der einen oder anderen Regelung und um die Schwierigkeiten, zu einer Lösung zu kommen. Wo liegen nun die hier zu behandelnden Probleme? Frau Dobberthien hat die rechtliche Situation dargestellt. Deshalb kann ich es an dieser Stelle etwas kürzer machen. Die bestehenden Regelungen hinterlassen, glaube ich, bei jedem, der sich mit dieser Seite des Gesetzes befaßt, einen eher verwirrenden Eindruck. Die Vollzeitbeschäftigte hat nach dem fünften Monat keinen Kündigungsschutz, aber erhält Sonderunterstützung. Die Teilzeitbeschäftigten haben Kündigungsschutz, aber bei Beschäftigungsverbot trifft es die Kräfte, die teilzeitbeschäftigt sind und hauswirtschaftliche Aufgaben zu erledigen haben, schlechter als diejenigen, die pflegerische und erzieherische Aufgaben zu erledigen haben. Es will mir nicht in den Kopf, worin die Begründungen hierfür liegen. Trotzdem müssen wir uns mit den Gründen intensiv auseinandersetzen, um dann zu den richtigen Lösungen zu kommen. Die Regelungen stammen aus den 50er Jahren. Damals wurde vom Gesetzgeber gesagt - ich entnehme das dem Protokoll des Ausschusses für Sozialpolitik vom 28. Februar 1951 -, daß die Art des Zusammenarbeitens und Zusammenlebens im privaten Haushalt eine Mutterschaftsfürsorge nicht im gleichen Ausmaß wie bei betrieblichen Arbeitsstätten notwendig macht. Es wurde auch festgehalten, daß dem Arbeitgeber nach seinen sozialen, familiären und räumlichen Verhältnissen nicht zugemutet werden kann, schwangere Hausangestellte zu behalten. Die Belange der Familien müßten berücksichtigt werden, da ein Großteil der hauswirtschaftlich tätigen Arbeitnehmerinnen in häuslicher Gemeinschaft lebte und den Privathaushalten nicht im gleichen Maß wie Unternehmern oder Verwaltungen soziale Beschränkungen und Lasten des gesetzlichen Mutterschutzes auferlegt werden könnten. Wie sieht es heute, nach mehr als 42 Jahren, mit der Gültigkeit dieser Argumente aus? Welche neuen Gesichtspunkte müssen Berücksichtigung finden? Wie bewerten vor allen Dingen die Betroffenen, also die Hausangestellten, aber auch die Privathaushalte die Situation? Festzuhalten ist, daß sich die Arbeits- und Beschäftigungssituation im Privathaushalt deutlich verändert hat. Das Dienstmädchen und das Kindermädchen alter Prägung gehören wahrlich der Vergangenheit an. Zugehfrau, Fensterputzer, Tagesmütter, Au-pair-Mädchen, Hauswirtschafterin und Haushälterin, das sind die Helferinnen und Helfer unserer Zeit. Wir müssen auch bedenken, daß die zeitlichen Bindungen sehr unterschiedlich sind. Sie können von etwa einmal wöchentlich drei Stunden bis zum Fulltime-Job reichen. Auch hier haben wir die Veränderungen zur Kenntnis zu nehmen. Genauso gilt auch, daß sich die Arbeitsplatzanforderungen geändert haben. Wo heute Staubsauger, Wasch- und Spülmaschine, Tiefkühlschrank, MikroDr. Maria Böhmer welle und pflegeleichte Wohnungen die Arbeitssituation bestimmen, waren früher, in den 50er Jahren, für die Hausangestellten Schrubber und Bohner, Waschbrett und Handmangel, kohlebeheizte Kochherde und Eisschränke gang und gäbe und haben in der Tat für manche Schwangere eine ganz andere Belastung dargestellt, als es heute für die Hausangestellte gegeben ist. Parallel dazu hat sich die Zahl der Hausangestellten verringert. Noch 1961 gab es 342 000 Erwerbspersonen in privaten Haushalten. Ende der 80er Jahre ermittelte das Statistische Bundesamt nur noch 65 000 Erwerbstätige bei Familien oder Einzelpersonen. Wir müssen auch sehen, daß sich eine deutliche Professionalisierung im Bereich derjenigen, die im Haushalt tätig sind, vollzogen hat. Wir haben heute gut qualifizierte hauswirtschaftlich, erzieherisch oder pflegerisch tätige Frauen. Für diese mit einem qualifizierten beruflichen Abschluß ausgestatteten Frauen wird der Arbeitsplatz im Privathaushalt immer weniger attraktiv. Sie ziehen den Arbeitsplatz in einem Hotel, einem Heim oder einer Klinik vor. Mag da nicht die Frage der Arbeitsplatzsicherheit, des Kündigungsschutzes gerade für jüngere Frauen eine Rolle spielen? Müßten wir nicht hier ansetzen, wenn es darum geht, denjenigen Haushalten eine Hilfe zu sichern, die solche Hilfe brauchen? Wir sollten allerdings auch im Blick haben, daß sich nur noch eine ganz kleine Zahl von Haushalten eine Vollzeitbeschäftigte im Haushalt leisten können. Nach einer Studie des Ifo-Instituts sind das nur noch 6 % der untersuchten Haushalte, die ein relativ hohes Haushaltseinkommen von über 5 000 DM im Monat haben. Die überwiegende Zahl der Haushalte beschäftigt Teilzeitkräfte. Wir haben also eine deutlich veränderte Ausgangssituation, die auch die Gründe, die in den 50er Jahren genannt worden sind, relativieren sollte. Aus den Reihen derjenigen, die Hauptbetroffene sind, lassen sich deshalb auch deutliche Veränderungswünsche registrieren. Vor einiger Zeit hat die Arbeitsgemeinschaft der Landfrauenverbände Rheinland-Pfalz, die in doppelter Weise betroffen ist, nämlich als Arbeitgeberseite und als Arbeitnehmerseite, erklärt: Als Frauenverband können wir es nicht tolerieren, daß der Gesetzgeber beim Kündigungsschutz Unterschiede zwischen Arbeitnehmerinnen im Familienhaushalt mit hauswirtschaftlichen, erzieherischen oder pflegerischen Arbeiten und den übrigen Arbeitnehmerinnen macht. Frau Dobberthien hat den Berufsverband katholischer Arbeitnehmerinnen in der Hauswirtschaft zitiert. Dort wird in der Tat die anhaltende Diskriminierung von Frauen in Privathaushalten beklagt. Ich verstehe durchaus, wenn gerade aus diesem Kreis die bedrängte Situation alleinerziehender Mütter in den Vordergrund gerückt wird; denn oft bedeutet die Kündigung des Arbeitsplatzes auch die Kündigung der Wohnung. Hier muß es heißen: Mutterschutz bedeutet auch Lebensschutz. Was mag in jungen Frauen vorgehen, die durch die Schwangerschaft um Arbeitsplatz und Wohnung kommen und dann auf einen möglichen neuen Arbeitsplatz vertröstet werden? Die Folgen könnten sehr deutlich auf der Hand liegen. Ich will aber auch nicht die Gegenposition ignorieren; denn damit werden wir uns intensiv auseinandersetzen, um zu solchen Lösungen zu kommen, die allen Beteiligten dienen. Einerseits wird für die Beibehaltung der momentanen gesetzlichen Regelung ins Feld geführt, daß die Sonderunterstützung dann entfalle und der Frau nur das geringere Arbeitslosengeld bliebe, wenn sie auf Grund einer Ausnahmeregelung dann doch die Kündigung erhält. Wir müssen aber den Ausgleich sehen, der darin bestünde: Wenn wir Kündigungsschutz haben, behält die Frau den Arbeitsplatz; sie bleibt in diesem Arbeitsverhältnis und muß sich nicht gerade in der Endphase der Schwangerschaft mit Arbeits- und Wohnungsproblemen beschäftigen. Damit wird die Konflikt- und Streßsituation gemindert. Wir haben geringere Belastungen für die werdende Mutter und das ungeborene Leben. Beim Kündigungsverbot bestünde zusätzlich die Pflicht, bis zur sechsten Woche vor der Geburt weiterzuarbeiten, wird außerdem argumentiert und eingewandt. Ich sehe, ehrlich gesagt, keinen Grund, warum Hausangestellte anders als Arbeitnehmerinnen in anderen Bereichen zu behandeln sind, für die das selbstverständlich ist. Dem Einwurf, Familienhaushalte könnten in bezug auf Lohnfortzahlung und Mutterschutzgesetz nicht mit Betrieben und Verwaltungen gleichgestellt werden, da andere wirtschaftliche und soziale Strukturen vorliegen, messe ich schon eine hohe Bedeutung zu; ich sage aber gleichwohl: Wenn wir dem Handwerksbetrieb mit einer Bürokraft oder dem Blumengeschäft mit vielleicht nur zwei Floristinnen die Verpflichtung des Kündigungsschutzes auferlegen, dann können wir heute keine Ausnahmeregelung dieser Art mehr für Privathaushalte vertreten.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Dr. Böhmer, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hitschler zu beantworten?

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Dr. Walter Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, wie beurteilen Sie denn Ihre Aussagen im Blick auf den Kündigungsschutz für Hausangestellte für die Fälle, in denen Hausangestellte in Familien eingestellt wurden, um die Mutter eines neugeborenen Kindes in den ersten Erziehungsjahren zu entlasten, und diese Hausangestellte nun schwanger wird und die Familie im Prinzip die ganzen Lasten tragen muß? Wie ist ein solcher Fall in Ihren Augen zu sehen? Wie wäre da zu verfahren? Sehen Sie diese Problematik auch?

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich sehe diese Problematik sehr wohl. Ich kenne sie aus dem eigenen Freundeskreis und habe dort beobachten können, daß man in solchen Fällen sehr wohl zu einer Ersatzkraft kam. Die Begründung, es gebe keine, greift nicht. Ich habe auch erlebt, daß gerade junge Mütter, die ein Kind bekommen haben und daher eine Hilfe brauchten, großes Verständnis für andere Frauen haben, die schwanger sind. Ich denke, das sollte auch weiter tragen. ({0}) Ich will noch ein Argument aufgreifen, das auch als Grund gegen eine angestrebte Änderung angeführt wird: daß die Einstellungschancen für junge Hausangestellte geringer würden. Frau Dobberthien hat für den Kreis der Betroffenen Zahlen von 2 000 bis 3 000 Personen genannt. Ich bin gegenüber diesen Zahlen eher skeptisch. Nach den Beträgen, die als Ausgleich, als Sonderleistung gezahlt werden, schätze ich, daß es sich um einen Personenkreis handelt, der deutlich darunter liegt, nämlich bei 50 bis 100 Personen. Wir sollten dieser Frage im Ausschuß aber noch einmal nachgehen. ({1}) - Ja, wenn man aber die Zahlungen zugrunde legt, sieht es etwas anders aus. Daher denke ich, daß wir mit Problemen der Chancenminderung gerade für junge Frauen als Hausangestellte nicht zu kämpfen haben, noch dazu, da ja die Nachfrage wesentlich größer als das Angebot an qualifizierten Kräften sein dürfte. ({2}) - Das ist sicherlich auch noch ein Punkt, aber anders gelagert als der, um den wir uns heute kümmern. Der Vorwurf, den Sie der Bundesregierung gemacht haben, liebe Frau Dobberthien, greift in meinen Augen allerdings nicht; denn gerade an den Beispielen ist ja erkennbar, wie diffus die Lage ist. Wenn Sie hier sagen, daß die Bundesregierung das Problem aussitzen würde, dann entgegne ich: Ich halte es für außerordentlich begrüßenswert, daß die Bundesregierung mit einer Umfrage versucht, hier etwas Licht in das Dunkel zu bringen. Denn wer eine Regelung anstrebt, müßte das auf einigermaßen gesicherter Basis tun wollen. Es ist nicht so sehr die Bundesregierung, die hier das Zeitproblem hat, sondern es sind offensichtlich die Verbände. Verbände, die daran interessiert sind, hier zu einer Veränderung zu kommen, sollten nicht über ein halbes Jahr mit ihrer Antwort zögern, sondern sie sollten der Bundesregierung die Antwort schnell geben, so daß wir diese Ergebnisse zügig in die Beratung einbeziehen können. Unter diesem Gesichtspunkt hoffe ich, daß wir davon ausgehen können, bald die entsprechenden Daten und Fakten zu haben, so daß wir uns gemeinsam um eine Regelung bemühen können, die in der Tat die Ungleichbehandlung von Arbeitnehmerinnen in Privathaushalten und anderen Haushalten aufhebt. Danke. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nun die Abgeordnete Frau Dr. Sigrid Semper.

Dr. Sigrid Semper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002161, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kündigungsschutz für schwangere Frauen gilt - bis auf wenige Ausnahmen - für alle erwerbstätigen Frauen. Um diejenigen, die davon ausgenommen sind, geht es uns in der heutigen Debatte. Hausangestellten, die ganztägig bei einem Arbeitgeber beschäftigt sind, kann nach Ablauf des fünften Schwangerschaftsmonats gekündigt werden. Die Lohnfortzahlung bis zum Beginn des Mutterschaftsgeldes ist auch nach einer Kündigung durch das Mutterschutzgesetz gewährleistet. Teilzeitbeschäftigte Hausangestellte haben im Falle einer Schwangerschaft nach geltendem Recht keinen Anspruch auf Lohnfortzahlung, wie es meine Vorrednerinnen schon deutlich sagten. Allerdings ist das Bundesministerium für Frauen und Jugend derzeit mit der Vorbereitung befaßt, diese Regelung zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern. So werden die betroffenen Verbände bis Ende Mai 1993 befragt werden. Im Juni 1993 sollen ergänzende statistische Unterlagen vorliegen, die die Anzahl der im Haushalt Beschäftigten und ihre Situation verläßlich darstellen. Dabei wird auch der Gesichtspunkt berücksichtigt werden müssen, daß schwangere Frauen, die in einem Haushalt beschäftigt sind, ebenso wie Arbeiterinnen und Angestellte bestimmten Einschränkungen bei der beruflichen Betätigung nach dem fünften Schwangerschaftsmonat unterworfen sind. Es wird zu prüfen sein, inwieweit eine weitere Ausübung der Tätigkeit im Haushalt mit den im Mutterschutzgesetz aufgeführten Beschäftigungsverboten vereinbar ist, z. B. dem Heben von schweren Gegenständen, ständigem Stehen, übermäßiger körperlicher Anstrengung. Eine bloße Ausdehnung des Kündigungsschutzes sowie der Lohnfortzahlung auf Hausangestellte im Rahmen des Mutterschutzgesetzes halte ich deshalb für problematisch. Ich halte es aber auch für problematisch, wenn hier wieder einmal die Bedürfnisse von Frauen gegeneinander ausgespielt werden. Lag früher die Aufgabe der Hausangestellten darin, die Hausfrau bei ihren häuslichen Verpflichtungen zu unterstützen, hat sie heute ihre Aufgabe verlagert; denn mit zunehmender Berufstätigkeit von Frauen sind Hausangestellte heute ein notwendiges Bindeglied für viele Familien geworden, um Kindererziehung mit einer weiteren, von der Ehefrau und Mutter gewünschten eigenen Erwerbstätigkeit verbinden zu können. Die geringe Anzahl an Teilzeitarbeitsplätzen erschwert darüber hinaus die Möglichkeit erheblich, die Betreuung des eigenen Kindes mit einer Berufstätigkeit zu verbinden. Solange das Angebot an staatlicher und kirchlicher Kinderbetreuung meist am frühen Nachmittag endet, Kinderhorte, in denen Mütter ihre Kinder über den ganzen Tag umsorgt wissen können, fehlen, so lange sind Familien auf private Lösungswege zurückverwiesen. Wenige Familien sind in der Lage, die Kosten für eine Hausangestellte zu tragen, solange die Bedürfnisse dieser Familien mit der jetzigen steuerlichen Situation kollidieren. Welche Familie kann es sich leisten, für Lohn- und Lohnnebenkosten einer Hausangestellten, die auf Grund einer Schwangerschaft dem Beschäftigungsverbot unterliegt oder sich in Mutterschaftsurlaub befindet, aufzukommen und gleichzeitig die Kosten einer zweiten Hausangestellten zu tragen? Heute sind die meisten Familien gezwungen, auf andere, weniger kostenträchtige Lösungen zurückzugreifen. Ob dies im Sinne des Kindeswohls ist, bleibt dahingestellt. Die Situation der Hausangestellten muß deshalb im Rahmen einer umfassenden Regelung zugunsten von Familien gelöst werden; denn nur über diesen Weg können Hausangestellte besser abgesichert werden. Eine Schwangerschaft sollte für die erwerbstätige Frau nicht dadurch fraglich werden, daß sie ihren Arbeitsplatz verlieren könnte. Unter den aktuellen steuerpolitischen Bedingungen für Familien wird eine Angleichung für Hausangestellte eher negative Auswirkungen haben: denn zuviel Schutz kann die Möglichkeit schmälern, einen Arbeitsplatz zu finden. In den 40 Jahren seines Bestehens hat sich das Mutterschutzgesetz bewährt. Im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung ist es mehrmals geändert worden. Ich halte eine sorgfältige Prüfung der angekündigten Änderung des Mutterschutzgesetzes für notwendig. Deshalb plädiere ich dafür, daß sie mit einer umfassenden kinderzentrierten Politik einhergeht. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Barbara Höll das Wort.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste unterstützt den Antrag der SPD auf Erweiterung des Kündigungsschutzes entsprechend der bisherigen Darlegungen. Für uns ist es unverständlich, warum Schwangerschaften in Abhängigkeit vom konkreten Arbeitsverhältnis unterschiedlich schützenswert sind: im Privathaushalt anders als in einem Kleinbetrieb oder in einem Industriebetrieb. Für mich ist allerdings aufschlußreich, daß sich bereits die Behandlung dieses Antrages vom November 1992 bis zum Mai 1993 verzögert hat, und dies, obwohl die Gruppe der beschäftigten Frauen in Privathaushalten - es sind vor allem Frauen - sehr wohl im Blickfeld der Bundesregierung und der Regierungskoalition ist, allerdings nicht unter dem Aspekt ihres Schutzes, sondern nur unter Arbeitgebergesichtspunkten. So kommen wir zu der doch etwas paradoxen Situation, daß die SPD als eine Partei, die genauso wie die PDS/Linke Liste das Dienstmädchenprivileg konsequent ablehnt, hier im Plenum dafür eintreten muß, daß, wenn es ein solches schon gibt, eine wenigstens konsequente Behandlung aller Seiten dieses Verhältnisses angestrebt wird. Mit der Steuerreform 1990 wurde es möglich, daß gut verdienende Haushalte das Dienstmädchenprivileg nutzen, d. h. die steuerliche Absetzbarkeit von hauswirtschaftlichen Beschäftigungsverhältnissen bis zu 12 000 DM jährlich. Das führte allein auf diesem Gebiet zu Steuermindereinnahmen von jährlich 500 Millionen DM. Es ist sehr interessant, was Frau Dr. Semper in ihrer Rede sagte: ob es nicht sinnvoll wäre, z. B. diese 500 Millionen DM einzusetzen, um tatsächlich die gemeinschaftliche Kinderbetreuung auszubauen. Bei der Höhe des absetzbaren Betrags von jährlich 12 000 DM ist es besonders wichtig, daß das nur auf eine ganz geringe Anzahl von Haushalten in der Bundesrepublik zutrifft - wie die Rednerin von der CDU sagte, auf höchstens noch 6 % der Haushalte - und daß die Bundesregierung für diese Absetzbarkeit sehr wohl Subventionen zahlt, aber andererseits einen großen Unterschied bei der Schutzwürdigkeit der Schwangerschaft und der Mutterschaft als solcher macht. Aus diesen Gründen unterstützt die PDS/Linke Liste den Antrag der SPD. Wir werden uns in den Ausschußberatungen nachdrücklich dafür einsetzen, daß es möglichst schnell verwirklicht wird und Gesetzeskraft erhält. Ich danke Ihnen. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren! Mir bleibt nur übrig, Ihnen mitzuteilen, daß interfraktionell empfohlen wird, die Drucksache 12/3625 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Das Haus ist offensichtlich damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Otto Schily, Ingrid Becker-Inglau, Michael Müller ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kindergesundheit und Umweltbelastungen - Drucksachen 12/2580, 12/4626 - b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Vera Wollenberger, Werner Schulz ({1}), Konrad Weiß ({2}) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Notwendigkeit von ökologischen Kinderrechten; Gefährdung von Kindern durch Umweltgifte - Drucksachen 12/2607, 12/4817 Dazu liegen Ihnen Entschließungsanträge der Fraktion der SPD und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor. Interfraktionell wird für die gemeinsame Aussprache über diese beiden Vorlagen eine Debattenzeit von anderthalb Stunden vorgeschlagen. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das beschlossen, und wir können mit der Debatte beginnen. Ich erteile zunächst dem Abgeordneten Otto Schily das Wort.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist sehr zu begrüßen, daß der Deutsche Bundestag mit den beiden Anfragen „Kindergesundheit und Umweltbelastungen" und „Die Notwendigkeit von ökologischen Kinderrechten; Gefährdung von Kindern durch Umweltgifte", die die SPD-Fraktion und die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebracht haben, eine Debatte aufnimmt, die bisher eher zögerlich und oberflächlich geführt wurde, die Debatte nämlich um die Frage, in welchem Ausmaß die übermotorisierte, die überchemisierte, die übertechnisierte Umwelt das Leben unserer Kinder einschränkt und gefährdet. Beide Große Anfragen wählen mit Recht einen umfassenden Ansatz. Sie gehen von der Erkenntnis aus, daß die Lebensphase der Kindheit unter besonderen psychophysischen Gesetzmäßigkeiten verläuft, auf die sich die Umweltbelastungen in Form von Giftstoffen in Nahrung und Kleidung, in der Atemluft und im Trinkwasser, in Form von Lärm oder durch Verlust von Lebensraum weitaus nachteiliger auswirken als auf das Dasein von Erwachsenen. Die Beamten des Bundesministeriums für Gesundheit - das ist mit Dank anzuerkennen - haben sich großer Mühe unterzogen, die vorgelegten Detailfragen präzise zu beantworten und die verfügbaren Fakten zusammenzustellen. Sie haben uns damit eine Fülle von Material geliefert, das es verdient, gründlich ausgewertet und diskutiert zu werden. Dabei wird es aber vor allem darum gehen, welche Konsequenzen wir aus den Erkenntnissen ziehen, die uns mit den beiden Großen Anfragen und den Antworten der Bundesregierung zugänglich werden. Ungeachtet aller anerkennenswerten Bemühungen um Detailgenauigkeit beweisen nach meiner Auffassung die Antworten der Bundesregierung auf die beiden Großen Anfragen zugleich, daß erhebliche Wissenslücken und Forschungsdefizite beim Thema „Kindergesundheit und Umweltbelastungen" bestehen. ({0}) Die häufig wiederkehrende Formel in den Antworten lautet, es lägen der Bundesregierung zu bestimmten Fragen keine gesicherten Erkenntnisse vor. Die Bundesregierung muß sich daher vorwerfen lassen, daß sie trotz einer nunmehr fast zwölf Jahre andauernden Debatte dem Zusammenhang zwischen Umwelt und Gesundheit noch immer kaum Aufmerksamkeit widmet. ({1}) Es hat auch den Anschein, daß die Bundesregierung eher dazu neigt, die Gefahren zu verharmlosen, denen Kinder durch zunehmende Umweltbelastungen ausgesetzt sind. An Beteuerungen und guten Vorsätzen, daß sich die Bundesregierung dem Wohl der Kinder in jeder Hinsicht verpflichtet fühle, fehlt es nicht. Die Frage bleibt aber, inwieweit diese guten Vorsätze für das praktische Handeln verbindlich werden. Die Bundesregierung versucht uns mit folgenden Sätzen zu beruhigen. So heißt es in der Antwort auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion: Staat und Gesellschaft zielen mit ihren Maßnahmen darauf ab, günstige Voraussetzungen für eine möglichst allseitig gute Entwicklung zu schaffen, Gefahren frühzeitig zu erkennen, Belastungsmöglichkeiten zu verringern und ein insgesamt kinderfreundliches Umfeld zu gestalten. Dann attestiert sich die Bundesregierung: Trotz noch bestehender Defizite in einzelnen Teilbereichen wurden in der Bundesrepublik Deutschland gute Bedingungen für die Entwicklung und Gesundheit der Kinder geschaffen. Meine Damen und Herren, diese schläfrige Behäbigkeit, die meint, es sei nur hie und da etwas auszubessern, und im übrigen sei alles zum Besten bestellt, kann von uns nicht akzeptiert werden. ({2}) Symptomatisch für die Vernachlässigung von Kinderinteressen ist die Tatsache, wie wenig Spielraum - den Begriff in einem sehr weiten Sinne genommen - den Kindern belassen wird. Das träumende und spielende Kind ist in Bundesverkehrswegeplänen, Flächennutzungsplänen, Bebauungsplänen Stadtentwicklungsplänen und was es sonst an Plänen gibt, nicht vorgesehen. Nirgends ist ein ernsthafter Versuch zu erkennen, Zeit und Raum für Kinder zurückzugewinnen. Im Konfliktfall haben die Kinder meist das Nachsehen. Die flächendeckende Einführung von Tempo30-Zonen lehnt die Bundesregierung, nachzulesen in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion unter Ziffer 14.5, wegen, so heißt es dort, „vielfach fehlender Akzeptanz durch die Kraftfahrer" ab. In der Vergangenheit gab es einmal das Wahnbild der autogerechten Stadt. Davon sind wir in der Theorie abgekommen, in der Praxis bei weitem noch nicht. ({3}) - Ja, es war in der Tat ein SPD-Senator in Berlin, der dieses Wahnbild aufgebracht hat, aber leider von vielen CDU-Stadtplanern dann auch befolgt. Wie wäre es, wenn wir uns daransetzen, das Modell einer kindergerechten Stadt zu verwirklichen? ({4}) Das wäre, glaube ich, ein Strukturwandel, den wir begrüßen könnten. Was den Fragenkreis angeht, welche Erkrankungen bei Kindern durch Freisetzung toxischer Substanzen verursacht werden, sollten wir nicht bei Reihenuntersuchungen und Festlegung von Grenzwerten stehenbleiben. So wichtig der Ausbau der epidemiologischen Forschung über den Zusammenhang von Umwelt und Gesundheit, die Einbeziehung der Umweltmedizin in die Ärzteausbildung und die Einrichtung von umweltmedizinischen Instituten sein mögen, wichtiger sind der vorsorgende Umweltschutz, eine umweit- und gesundheitsverträgliche Stoffwirtschaft, die von Anfang an problematische Stoffe ausschließt und ökologische Innovationen förOtto Schily dert, und eine ökologische Landwirtschaft, die die Kinder von Giftstoffen in ihrer Umwelt befreien. ({5}) Das ist für mich das herausragendste ökologische Kinderrecht in materieller Ausformung, daß wir unsere Verantwortung zur ökologischen Reform der Industriegesellschaft wirklich ernst nehmen. Ob die formale Aufnahme eines ökologischen Kinderrechts in die Verfassung dafür hilfreich ist, weiß ich nicht. Wenn durch die Aufnahme von ökologischen Kinderrechten in die Verfassung erreicht wird, daß der Fürsorge für Kinder eine größere Verbindlichkeit verliehen wird, soll es mir recht sein. Keinesfalls sollten wir aber den Kindern unsere Verhaltensweisen als Erwachsene aufdrängen und sie vorzeitig in Strukturen aufnehmen, mit denen sie überhaupt nichts anzufangen wissen. Vielfach wird heute beklagt, es fehle der Gesellschaft, der Politik an Visionen, an Perspektiven, an Sinnstiftung. Gäbe es wieder mehr Unterscheidungsvermögen, welche Fragen wichtig und welche weniger wichtig sind, müßte sich die politische Rhetorik nicht sofort zu einer Vision aufbauschen, sondern könnte sich ganz schlicht einer konkreten Aufgabe zuwenden, einer ebenso einfachen wie schwierigen, der ökologischen Reform der Industriegesellschaft, in der Kinder frei und glücklich leben können. Das Wort „Aufgabe" hat - wie häufig in der deutschen Sprache - einen tiefgründigen Doppelsinn. Es bedeutet zugleich Arbeit an der Zukunft, aber auch das Abstreifen einer falschen Vergangenheit, die Aufgabe falscher Prioritäten. ({6}) Über einen Verein „Mehr Zeit für Kinder", der unterstützt wird von einem Fachverband Außenwerbung, wurden mir vor wenigen Tagen einige Aussagen von Kindern übermittelt, die ich an den Schluß meiner Ausführungen stellen möchte. Dort hieß die Fragestellung: Was sollen die Erwachsenen tun, damit die Kinder glücklicher leben können? Die Kinder haben folgendes aufgeschrieben: Die Eltern sollen nicht mehr soviel Auto fahren, sie sollen nicht mehr immer an sich selber denken, sie sollen mehr auf die Kinder achten, die Väter sollen sich mehr frei nehmen, und die Familie soll mehr zusammen unternehmen. - Das ist eine gute Aufgabe und vielleicht auch eine Vision. Ich danke Ihnen. ({7})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Vera Wollenberger.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir leben in einer Zeit, in der nichts mehr ist, wie es noch zu sein scheint. Der Frühling kam in diesem Jahr wie jedes Jahr zuvor; aber er war nicht mehr der Frühling, wie wir ihn aus unserer Kindheit kennen. Die Kirsch- und Apfelblüte, sonst um Wochen voneinander getrennt, fielen zusammen und waren in wenigen Tagen vorbei - wegen der hochsommerlichen Hitze. „Das ist der Treibhauseffekt," weiß die Verkäuferin im Supermarkt, und der Taxifahrer ist froh, daß er schon Mitte 40 ist und keine Kinder hat. Denn wenn es in wenigen Jahren, wie viele erwarten, ganz schlimm kommt, dann hat man Gott sei Dank den besten Teil seines Lebens hinter sich und muß sich um keine Nachkommen sorgen. Es vergeht kein Tag mehr ohne Schreckensmeldungen: Unfälle in Kernreaktoren, in Chemiewerken - letztere schon in Serie -, Umweltskandale, Giftmüllkriminalität, verstrahlte Nahrungsmittel, vergiftetes Fleisch, militärische Altlasten ungeahnten Ausmaßes, gleichzeitig neue Massenvernichtungsmittel in Erprobung, neue Atomkraftwerke, jährlich 300 000 neue chemische Verbindungen, deren Toxizitätsgrad, deren Zusammenwirken und deren Kumulation im menschlichen Organismus keiner mehr berechnen kann und die niemand mehr beherrscht. Altlasten, Neulasten, Restrisiken und Totalrisiken werden zu immer neuen Zeitbomben. Meist hört der Mensch davon im Autoradio, wenn er im Stau steht, und wenn Autos fahren, werden sie ihrerseits zum Risiko. Im Jahre 1989 verunglückten 43 000 Kinder im Straßenverkehr, 350 davon tödlich. Die Zahl der Verkehrsopfer stieg nach der Vereinigung besonders im Osten Deutschlands dramatisch an. Spielen auf der Straße ist längst unvorstellbar geworden. Neuerdings wird davon abgeraten, Kinder überhaupt an die frische Luft zu lassen, wenn die Sommersmogwerte wieder einmal ihre gesetzlichen Unbedenklichkeitsgrenzen überschritten haben. ({0}) Auch die Sonne ist gefährlich geworden für die Kinderhaut, seit in der Stratosphäre verschwindet, was wir am Boden zuviel haben: das Ozon. Kein Kind kann mehr risikolos Sandkuchen backen. Der Sand auf dem Spielplatz könnte dioxinverseucht sein. Hinzu kommen die zahlreichen Chemikalien im Spielzeug, in der Kleidung, in der Nahrung, in der Atemluft, im Trinkwasser. In Anbetracht dessen ist die Antwort der Bundesregierung auf die beiden Großen Anfragen ein Dokument der Ignoranz und Ahnungslosigkeit. ({1}) Minister Seehofer spricht in seiner Vorbemerkung davon - ich zitiere wörtlich -: Trotz noch bestehender Defizite in einzelnen Teilbereichen wurden in der Bundesrepublik Deutschland gute Bedingungen für die Entwicklung und Gesundheit der Kinder geschaffen... . Diesen Weg wird die Bundesregierung konsequent weiter verfolgen. Ich wäre gern dabei, wenn Herr Minister Seehofer das den tausenden neurodermitiskranken Kindern und ihren Eltern, den hunderttausenden abgasgequälten Kindern und ihren Eltern und den leukämieerkrankten Kindern ins Gesicht sagt. ({2}) Man hat den Eindruck, daß das Leid, das diese Kinder erdulden müssen und das zum traurigen Alltag in unserer Gesellschaft gehört, nicht ernstgenommen wird. Bestehende Forschungsergebnisse werden ignoriert, und bekannte Sachverhalte werden geleugnet. Das geht auch aus einer Antwort des Hauses Seehofer hervor, und zwar zu dem Thema „Ozon" . Da heißt es in Ihrer Antwort: Trotzdem wäre es nicht gerechtfertigt, Kinder bei höheren Ozonwerten nicht ins Freie zu lassen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich lese Ihnen eine Meldung vom Dienstag vor. Da sagt der Leiter des Instituts für Toxikologie der Universität Kiel, Prof. Otmar Wassermann: Bei solchen Meßergebnissen, wie sie in den letzten Tagen erhoben wurden, würde ich kleine Kinder nicht mehr ins Freie schicken. Und die bundesweit gültigen Ozongrenzwerte nennt Prof. Wassermann „fast schon Beihilfe zur vorsätzlichen Körperverletzung" . - Dessen macht sich ein Minister mit seiner verharmlosenden Antwort mitschuldig. Ebensolche Widersprüche zu seriösen Studien finden sich z. B. zur erhöhten Blutkrebsrate in der Nähe von Kernkraftwerken oder zu den PCB-Schädigungen. Ich muß sagen, daß die Antwort von Minister Seehofer besonders deshalb verwunderlich ist, weil er selber Vater von drei Kindern ist und eben als Vater dreier Kinder dieses Problem eigentlich ernst nehmen sollte. Während es in den industrialisierten Ländern des Westens weitgehend gelungen ist, die klassischen Kinderkrankheiten wie Masern, Röteln und Mangelerscheinungen so weit in den Griff zu bekommen, daß sie keine tödlichen Gefahren mehr darstellen, hat unsere zivilisierte Gesellschaft neue Krankheiten und Krankheitsbilder produziert, wie Allergien der Haut, Atemwegserkrankungen, psychosomatische Erkrankungen, bösartige Krebstumore, Hirnleistungsstörungen, Neurodermitis, Hyperaktivität usw., denen wir hilflos gegenüberstehen und bei deren Eindämmung wir bislang völlig versagen. Der Zusammenhang mit der wachsenden Vielzahl von Schadstoffen ist offenbar. Die Wissenschaft gibt sich aber im Wettlauf mit den Giften geschlagen, und „die Medizin kuriert ahnungslos an Symptomen, ohne die Kausalbeziehungen erfassen zu können". Die Umweltvergiftung hat inzwischen ein Ausmaß angenommen, daß man von einer neuen Form weltweiter Menschenrechtsverletzung sprechen kann. Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, sind zu Beginn dieser Legislaturperiode in einem offenen Brief an alle Politikerinnen und Politiker auf dieses Problem aufmerksam gemacht worden. Trotzdem hat es fast drei Jahre gedauert, bis wir heute endlich dieses Thema debattieren. ({3}) Fragt man nach ökologischen Kinderrechten, so eröffnet sich auch rasch ein Problemhorizont, hinter dem sich Fragen nach den Prämissen der Industriegesellschaft, nach der Gerechtigkeit unseres Gesellschaftssystems und den Grundlagen der politischen Ethik schlechthin verbergen. Hielt Kant es noch für anstößig, daß die früheren Generationen ihre Last um der späteren willen tragen sollten und die letzteren das Glück hätten, in dem fertigen Haus zu wohnen, so ist dieses Verhältnis heute weitgehend umgekehrt. Kinder werden heute in ein „Gefährdungsschicksal" hineingeboren und haben Lasten vorhergehender Generationen zu tragen, denen gegenüber keine individuelle Entscheidungsmöglichkeit besteht. ({4}) Gegenwärtig umweltgeschädigte Kinder sind somit auch Opfer eines mutwilligen oder säumenden Tuns und Unterlassens ihrer Vorfahren. Aus dieser Beobachtung ergibt sich neben der Notwendigkeit einer Eindämmung aktueller Schädigungsursachen die Forderung nach einem konsequenten Nachweltschutz in der Gegenwart, um die Rechte künftiger Kinder bereits heute in ihren Grundbedingungen und konstituierenden Momenten wie Gesundheit, Ernährung, Einkommen und ein stabiles Ökosystem zu sichern. Die Risiken der Industriegesellschaft enthalten Globalisierungstendenzen, die nicht nur nationalstaatliche, sondern auf Grund ihrer Langzeitwirkungen und potentiellen Irreversibilität auch zeitliche Grenzen unterlaufen. Eine Ethik, gemäß der politische Programme in dieser Hinsicht zu beurteilen wären, kann nicht mehr nur traditionell an den „unmittelbar mitmenschlichen Bereich der Gleichzeitigen gebunden bleiben", wie es der Philosoph Jonas formuliert, sondern muß, da sie es mit Handlungen beispielloser kausaler Fernwirkungen und häufig deren Unumkehrbarkeit zu tun hat, sich nicht weniger als die Verantwortung für die Zukunft der Kinder und des Menschen schlechthin zum Ziel setzen. Unser Gesellschaftssystem, die Konkurrenzwirtschaft mit ihren passenden Rahmeninstitutionen, Politik und Justiz, ist hingegen noch weitgehend einer traditionellen Ethik verpflichtet, die sowohl gegenwärtiges Leid der Kinder ignoriert wie auch die Ansprüche der Nachfahren unberücksichtigt läßt. Die Frage der ökologischen Kinderrechte bewegt sich somit in einem politischen Vakuum. Der wachsende Handlungs- und Politikbedarf steht in krassem Mißverhältnis zum Problembewußtsein und zu den bisherigen Lösungsversuchen. Unsere Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat deshalb einen Entschließungsantrag eingebracht, in dem die dringend notwendigen, die wichtigsten Schritte skizziert werden, die der Bundestag unternehmen könnte, um dem Problem Abhilfe zu schaffen oder zumindest erst einmal eine Basis für die Lösung dieses Problems zu geben. Ich möchte Sie deshalb bitten, Ihre Stimme unserem Entschließungsantrag zu geben. Vielen Dank. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr der Parlamentarischen Staatssekretärin Dr. Bergmann-Pohl das Wort. ({0})

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000155

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kinder sind unsere Zukunft. Ihnen gebührt unser besonderer Schutz und unsere besondere Aufmerksamkeit. Jeder einzelne von uns hier steht in der Verantwortung, Kinder vor Gefahren zu schützen und für gesunde Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten zu sorgen, in der Verantwortung, die Zukunft der kommenden Generation zu sichern. Der Staat setzt hierfür Rahmenbedingungen. Frau Wollenberger, es kann nicht unser Ziel sein, die Bevölkerung in Panik zu versetzen, ({0}) sondern wir sind an einer sachlichen Information auf dem Boden der wissenschaftlichen Erkenntnisse interessiert. Diesbezüglich haben wir uns auch in der Beantwortung Ihrer Großen Anfrage bemüht. ({1}) Diese Aufgabe hat die Bundesregierung von Beginn an sehr ernst genommen. Sie hat zahlreiche Initiativen im sozialen, im gesundheitspolitischen Bereich und im Umweltbereich gestartet, um die Rahmenbedingungen für die Kinder und Familien deutlich zu verbessern. Ich erinnere an die Verbesserung wichtiger Leistungen für Familien und Kinder wie z. B. die Verlängerung des Erziehungsgeldes und des Erziehungsurlaubs sowie die Erhöhung des Kindergeldes. ({2}) Ich erinnere an den Ausbau der Präventionsangebote für Kinder im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung, so z. B. der Früherkennungsuntersuchungen und der präventiven Maßnahmen im Bereich der Zahngesundheit. Und ich erinnere daran, daß die gesundheits- und umwelterzieherischen Maßnahmen intensiviert worden sind und daß mit zahlreichen Gesetzen und Initiativen der zunehmenden Belastung der Umwelt mit schädlichen Substanzen Einhalt geboten worden ist. Meine Damen und Herren, erst vor wenigen Tagen haben wir im Bundesgesundheitsministerium zwei weitere Initiativen auf den Weg gebracht, die für eine Verbesserung der Kindergesundheit auch wichtig sind. Zum einen ist es uns nach intensiven Gesprächen mit dem Verband der Zigarettenindustrie gelungen, daß die Mitglieder dieses Verbandes ihre Selbstbeschränkungsvereinbarung zur Werbung ausbauen. ({3}) - Sie wissen genau, daß der Bundestag und der Bundesrat in Auftrag gegeben haben, das Werbeverbot in Brüssel abzulehnen. Konkret soll es künftig in der Nähe von Schulen und Jugendzentren keine Plakatwerbung für Zigaretten mehr geben. Es sollen keine Gratispackungen mehr öffentlich verteilt werden, und im Kino wird künftig nach jedem Zigarettenwerbefilm ein Warnhinweis gezeigt. ({4}) Zum anderen haben wir ein Modellprojekt ausgeschrieben, mit dem die Gesundheitsfürsorge für asthmakranke Kinder verbessert werden soll. Ziel ist es, im Krankenhaus erprobte Beratungs- und Schulungskonzepte der besonderen Situation von Kindern und Jugendlichen in ambulanter Behandlung anzupassen. Damit soll ein wohnortnahes und familiengerechtes Angebot für asthmakranke Kinder ermöglicht werden. Meine Damen und Herren, das sind nur zwei Beispiele aus der jüngsten Zeit im Rahmen zahlreicher Initiativen. Information, Aufklärung und Gesundheitserziehung sind ebenso wichtig wie der Ausbau präventiver Maßnahmen in der gesetzlichen Krankenversicherung, die Forschungsförderung sowie die Förderung konkreter Modellmaßnahmen vor Ort, die helfen sollen, neue Präventionsansätze in die Praxis umzusetzen und die Versorgung kranker Kinder und Jugendlicher weiter zu verbessern. Unsere Initiativen haben auch Erfolg. So ist z. B. die Säuglingssterblichkeit in Deutschland in den letzten 20 Jahren deutlich zurückgegangen. Deutschland gehört zu der Gruppe der Länder mit den weltweit niedrigsten Sterberaten im ersten Lebensjahr. Dank gesundheitlicher Aufklärung werden die Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen weitgehend wahrgenommen. Ich appelliere hier ausdrücklich an alle Schwangeren, insbesondere auch an die Schwangeren in den neuen Ländern, zum Wohle ihrer Kinder das Untersuchungsangebot wahrzunehmen. Ich appelliere ebenso an alle Eltern: Gehen Sie mit Ihren Kindern zu den Früherkennungsuntersuchungen, denn je eher Krankheiten entdeckt werden, um so eher kann eine wirkungsvolle medizinische Hilfe eingeleitet werden. Spätschäden können dadurch häufig vermieden werden. Einen weiteren Schwerpunkt sieht die Bundesregierung in der Forschungsförderung. Gesundheitsvorsorge erfordert Wissen über Krankheitsursachen, Gesundheitsgefährdungen und über zielgerichtetes gesundheitsförderndes Verhalten. Wie wichtig es ist, Forschung zu fördern, um gezielte Präventionsstrategien und wirksame Thera13480 pien entwickeln zu können, zeigt beispielhaft die sogenannte neue Volkskrankheit Allergie. Die Ursachen allergischer Krankheiten sind vielfach unbekannt. Wir wissen bisher nur, daß viele Faktoren in die Krankheitsentwicklung eingreifen. Epidemiologische Studien, z. B. in Japan, belegen, daß die Häufigkeit des allergischen Schnupfens mit der Luftverschmutzung durch Autoabgase im Zusammenhang steht. Untersuchungen in Deutschland deuten auf die Möglichkeit hin, daß sich Schadstoffe aus der Umwelt an Pollen anlagern und dadurch die allergene Wirkung der Pollen verändern können. Herr Schily, nur an Hand dieser beiden Beispiele sehen Sie, daß die Zusammenhänge zwischen der Gesundheit und der Umwelt so vielschichtig und auch so schwierig zu erkennen sind, daß man es nicht einfach so darstellen kann: Die Bundesregierung tut hier nichts. Es sind vielfältige Forschungsvorhaben geplant und auch schon im Gange. Sie wissen, daß auch viele Wissenschaftler sich bereits darum kümmern. Außerdem wissen Sie auch, daß wir ab dem Jahr 1994 eine Gesundheitsberichterstattung durchführen wollen. Wir erhoffen uns auch von der Gesundheitsberichterstattung doch wesentliche Erkenntnisse bezüglich des Auftretens von Krankheiten in Deutschland. Diese Beispiele zeigen, wie wichtig die Forschung im Bereich der allergischen Erkrankungen ist, die seit 1987 von der Bundesregierung gefördert wird. Ein weiteres wichtiges Element der Ursachenforschung ist die epidemiologische Entwicklung von Erkrankungen. Viele Fachwissenschaftler gehen davon aus, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland derzeit von einer Zunahme der Fälle der Erkrankung an Asthma, allergischem Schnupfen und auch an Neurodermitis im Kindesalter ausgehen müssen. Um gesicherte Aussagen treffen zu können, hat die Bundesregierung ein besonderes Augenmerk auf die Epidemiologie allergischer Krankheiten gelegt. Die Förderung ist auch in den nächsten Jahren erforderlich und auch vorgesehen. Meine Damen und Herren, ein anderes Beispiel für gezielte epidemiologische Forschung ist das Kinderkrebsregister in Mainz, das in einer Aufbauphase aus Forschungsmitteln bestritten wurde und nun vom Bundesminister für Gesundheit zusammen mit dem Land Rheinland-Pfalz finanziert wird. In diesem Kinderkrebsregister werden fast vollständig alle Erkrankungsfälle in Deutschland erfaßt und ausgewertet. Damit sind wir in der Lage, mögliche Einflüsse z. B. des Reaktorunfalls von Tschernobyl auf die Krebserkrankungsrate bei deutschen Kindern zu beurteilen. Um die Ursachenforschung bei Krebserkrankungen insgesamt voranzubringen, brauchen wir in Deutschland ein umfassendes Krebsregister. Die Bundesregierung hat einen entsprechenden Entwurf vorgelegt. Die Anhörungen hierzu sind für die nächste Woche geplant. Meine Damen und Herren, wir brauchen nicht nur Forschung, wir brauchen auch eine wirksame Umsetzung der Forschungsergebnisse. Der aktuelle Kenntnisstand muß in praktische Präventionsstrategien umgesetzt werden. Neben der Förderung verschiedener Modellmaßnahmen setzt das Bundesgesundheitsministerium hier vor allem auf eine intensive Aufklärung und Gesundheitserziehung insbesondere der Erwachsenen. Denn sie sind es, die Einfluß auf ihre Kinder nehmen, denn sie sind es, die ihren Kindern das richtige Verhalten weitergeben. Und sie sind es auch, die für die nötigen Schutzmaßnahmen zur Gesunderhaltung ihrer Kinder sorgen können. Um so bedauerlicher ist es, daß z. B. die Impfbeteiligung in Deutschland zu wünschen übrig läßt. Wir werden seitens des Bundesgesundheitsministeriums deshalb unsere Aufklärungsarbeit weiterhin offensiv fortsetzen. ({5}) Meine Damen und Herren, Voraussetzung für präventives Verhalten sind Aufklärung und Information, sind Erziehung und Ausbildung hin zu einem gesundheits- und umweltbewußten Handeln. Aber alle Informationen laufen ins Leere, wenn sie nicht entsprechend in eigenes Handeln umgesetzt werden. Gesundheits- und Umweltvorsorge verlangen die Mitwirkung jedes einzelnen. Dies gilt es immer wieder deutlich zu machen. Der Staat setzt nur die Rahmenbedingungen. Diese Rahmenbedingungen müssen aber mit Leben erfüllt werden. Hier sind alle gefordert: die Länder, die Kommunen, die Schulen, die Kindergärten und die Eltern. Die Gesundheitserziehung muß auf breiter Front vorangetrieben werden. Ich nenne nur das kleine Beispiel rauchen. Raucher sind nicht nur in ihrer eigenen Gesundheit gefährdet, sondern sie gefährden auch diejenigen, die passiv mitrauchen. Kinder in Haushalten, in denen geraucht wird, sind besonders gefährdet. Nicht selten wird bei uns mit zweierlei Maß gemessen, und zwar gilt für viele: Risiko ist das, was von außen kommt. Das selbstproduzierte Risiko wird oftmals nicht wahrgenommen. ({6}) Hier muß sich etwas ändern. Die private Entscheidungskompetenz in Fragen der Gesundheit muß wachsen. Wir müssen wieder lernen, das Verantwortungsgefühl für die eigene Gesundheit und die Gesundheit der anderen Menschen zu entwickeln. So werden wir auch unserer Verantwortung gerecht werden und Kinder vor Gesundheitsgefahren schützen. Danke. ({7}): Thema verfehlt, fünf!)

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Marita Sehn das Wort.

Marita Sehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002146, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befassen uns heute zum Marita Sehn einen mit der Beratung der Großen Anfrage der SPD-Fraktion zum Thema „Kindergesundheit und Umweltbelastungen" und zum anderen mit der Großen Anfrage der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN über „Die Notwendigkeit von ökologischen Kinderrechten; Gefährdung von Kindern durch Umweltgifte". Dies ist zweifelsohne ein sehr ehrenwertes Thema. Dem Kind ist in der Umweltpolitik eine besondere Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Niemand wird bezweifeln wollen, daß der Körper des Kindes auf Umweltbelastungen anders - und das heißt: in der Regel empfindlicher - reagiert als der Körper eines Erwachsenen. Niemand wird auch bezweifeln wollen, daß man diesem Tatbestand in vielen Maßnahmen, z. B. bei der Festlegung von Grenzwerten, Rechnung tragen muß. Wir alle sind daher aufgefordert, die schwächsten Mitglieder in unserer Gesellschaft umfassend gegen Gesundheitsbeeinträchtigungen zu schützen. Kinder können den Umweltbelastungen weniger noch als Erwachsene ausweichen oder diese durch eigenes Handeln vermindern. Uns Erwachsenen als Träger von Vorbildfunktionen kommt daher eine ganz besondere Verantwortung zu. Wir haben die Verpflichtung, Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Kindern eine gesunde Entwicklung ermöglichen. Diese Rahmenbedingungen sind in vielen Teilbereichen unseres gesellschaftlichen Lebens schon vorhanden. An dieser Stelle möchte ich in aller Deutlichkeit darauf hinweisen, daß es nicht nur die Regierung mit ihren gesetzlichen Maßnahmen sein kann, die dafür die Vorausetzungen schafft. ({0}) Sie wurde bereits mit zahlreichen Gesetzen und Initiativen aktiv, wodurch viele Schadstoffe in der Umwelt vermindert wurden. Natürlich setzt die Regierungskoalition diesen Weg konsequent fort. ({1}) Um langfristig eine lebenswerte Umwelt für die nachkommenden Generationen zu erhalten, ist selbstverständlich auch jeder einzelne von uns gefragt. Dabei dürfen wir nicht außer acht lassen, daß eine Zusammenarbeit über die Grenzen Deutschlands hinaus unerläßlich ist. Meine Damen und Herren, Umweltverschmutzungen machen nun eben an keiner Grenze halt. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist eine ausreichende Information der Bürger und Bürgerinnen, die dadurch für Umweltprobleme sensibilisiert werden. Wichtig ist aber auch eine dementsprechende Erziehung der Gesellschaft, d. h. gerade auch ein geändertes Verhalten der einzelnen Produzenten und Konsumenten. ({2}) Meine Damen und Herren, die Große Anfrage der SPD-Fraktion besteht aus nicht weniger als 84 einzelnen Fragen, ({3}) mit deren Inhalten sich gleich mehrere Institute und Universitäten jahrelang beschäftigen könnten. ({4}) Ich frage mich dabei nur, inwieweit diese speziellen Fragen, z. B. die Frage, welche Gefährdungen von der sich immer weiter ausbreitenden Zubereitung gerade auch von Kindernahrung durch Mikrowellengeräte ausgehen, für eine Beratung im Bundestag geeignet sind. Ihre detaillierte Fragestellung in Ehren, aber was hilft das den Kindern und dem Erhalt der Umwelt? Hier besteht doch ein ganz anderer Handlungsbedarf, und der setzt bei jedem an, der Verantwortung für Erziehung, Bildung und Aufklärung trägt. Wir alle sind also gefordert und müssen unseren Beitrag für die Zukunft der Kinder leisten. Deutschland verfügt über einen hohen Stand des allgemeinen Umweltbewußtseins, und dennoch klaffen in unserem Land Bewußtsein und tatsächliches Handeln weit auseinander. ({5}) In diesem Zusammenhang spielen Lebensgewohnheiten wie z. B. die Ernährung oder auch das Passivrauchen, dem etwa die Hälfte aller Kinder zu Hause ausgesetzt sind, eine wesentliche Rolle. Wie aus der Antwort der Bundesregierung deutlich hervorgeht, wird von vielen Wissenschaftlern das Passivrauchen als ein Allergien begünstigender Faktor bezeichnet. Weiter wird in der Antwort festgestellt, daß akute Atemwegserkrankungen während der ersten beiden Lebensjahre bei Kindern von Rauchern doppelt so häufig vorkommen wie bei Kindern von Nichtrauchem. Außerdem wird darauf hingewiesen, daß von rauchenden Eltern häufiger zahlreiche andere Krankheitsbilder wie z. B. Darmkrankheiten und Mittelohrentzündung bei Kindern beschrieben werden. Ich denke, daß gerade solche Ursachen für gesundheitliche Belastungen von Kindern durch jeden selbst ausgeschaltet werden können. ({6}) Dafür brauchen wir meiner Meinung nach keine gesetzlichen Maßnahmen, sondern nur einen gesunden Menschenverstand. Es ist sicherlich ein überlegenswerter Gedanke, daß Rauchen in öffentlichen Einrichtungen wie z. B. Krankenhäusern, Schulen und Behörden als Einrichtungen mit besonderem Vorbildcharakter zu unterbinden. Dies wurde durch eine im September 1992 verabschiedete Konzeption der Bundesregierung zur Verbesserung der Luftqualität in Innenräumen bereits in Angriff genommen. Sie schließt eine Kampagne „Rauchen in Innenräumen gefährdet die Gesundheit Ihrer Mitmenschen" ein, denn die Luftqualität in den Innenräumen wird im wesentlichen durch Tabakrauch beeinflußt. Wenn Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, dies nicht ausreicht, dann erwarte ich einen Manila Sehn Antrag Ihrer Fraktion, das Rauchen grundsätzlich zu verbieten. ({7}) Da ich davon ausgehe, daß Sie für einen solchen Antrag in Ihrer eigenen Fraktion keine Mehrheit finden, werden wir wohl weiterhin nur mit Ihren Forderungen leben müssen. ({8}) Doch nicht nur Rauchen schädigt Kinder. Fachärzte machen zunehmend Umweltschäden für eine gestiegene Zahl von Allergien und Verhaltensstörungen bei Kindern verantwortlich, ohne dies allerdings konkret beweisen zu können. Dazu zählen z. B. die Neurodermitis, Bronchienerkrankungen, Unruhe und Schlafprobleme. Natürlich geht die Bundesregierung bereits mit gesetzlichen Schutzvorschriften gegen die Schadstoffbelastungen in unserer Umwelt vor. Dazu gehören z. B. die Technische Anleitung Luft und die Großfeuerungsanlagen-Verordnung z. B. für Feuerungsanlagen, Zementwerke und Glasfabriken. Im Bereich der Haushalts- und Kleinfeuerungsanlagen wird eine Verbesserung durch die beabsichtigte Novelle der Kleinfeuerungsanlagen-Verordnung, die eine Verschärfung der Anforderungen an Öl- und Gasfeuerungsanlagen beinhaltet, angesteuert. Im Verkehrsbereich wurden und werden weitere Anstrengungen unter Beachtung von Umwelt- und Gesundheitsaspekten unternommen. Zu erwähnen ist das Verbot von Scavengern in Benzin, die für das Entstehen von Dioxinen verantwortlich sind, die Gasrückführung an Tankstellen durch die sogenannten Saugrüssel, das Gaspendelverfahren bei Tankwagen und -lagern und die Begrenzung des Schwefelgehaltes im Dieselkraftstoff von heute 0,2 % auf 0,05 % EG-weit ab 1996. Wir befürworten ausdrücklich die Initiative der Bundesregierung, sich bei der EG um die Reduzierung des krebserregenden Benzolgehaltes im Benzin von heute 2 bis 3 % auf den Höchstgehalt von 1 % einzusetzen. Mit den jetzt EG-weit festgesetzten Abgasgrenzwerten für Pkw und Lkw wird sich die Schadstoffbelastung bei Kohlenmonoxid um 56 %, Kohlenwasserstoffen um 69 %, Stickoxiden um 38 % und Rußpartikeln um 48 % verringern. Hinzukommen muß eine verstärkte Nutzung umweltschonender Verkehrsmittel bzw. eine Vermeidung von Verkehr. ({9}) Die Verordnung nach § 40 Abs. 2 des BundesImmissionsschutzgesetzes mit Konzentrationswerten für verkehrslenkende und -beschränkende Maßnahmen bei hoher Schadstoffbelastung ist dafür ein wichtiges Instrument. Die Bundesregierung sollte nun endlich den lang angekündigten Entwurf vorlegen. Natürlich müssen wir uns überlegen, ob wir weitere Maßnahmen ergreifen können. Natürlich werden weitere Anstrengungen unternommen, um die vorhandenen Schadstoffe im Wasser, im Boden und in der Luft zu reduzieren. Um Kinder vor weiteren Belastungen zu schützen, halte ich jedoch kindergerechte Grenzwerte, wie sie von der Opposition gefordert werden, für den falschen Ansatz. Die Grenzwerte werden doch nach dem Vorsorgeprinzip festgesetzt ({10}) und liegen damit sowieso in einem Bereich, wo keine gesundheitlichen Schäden auftreten können, auch nicht bei Kindern. ({11}) Grundsätzlich sollte über Ausnahmeregelungen dann nachgedacht werden, wenn der Schutz von Kindern in besonderem Maße erforderlich scheint, beispielsweise im Fall von Bodenbelastungen von Kinderspielplätzen. In diesem Zusammenhang gewinnt das geplante Bodenschutzgesetz an Bedeutung. Wir brauchen einheitliche Vorgaben für Schutzkonzepte der Gemeinden und Sanierungsziele. Die Bundesregierung sollte mit der Vorlage des Gesetzentwurfes nicht mehr zögern. Gestatten Sie mir an dieser Stelle, aus der Anfrage der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen Satz zu zitieren: Der Verkehrstod von Tausenden von Kindern wird jährlich hingenommen. Dies steht in Ihrer Anfrage. Davon ausgehend - wenn man den Text vorher liest -, daß Sie diese Aussage auf die Bundesrepublik Deutschland beziehen, frage ich Sie, ob Sie die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD tatsächlich zur Kenntnis genommen haben. ({12}) Auf die Frage „Was sind die wichtigsten Unfallursachen und -folgen bei Kindern?" lautet die Antwort der Bundesregierung: In Deutschland verunglückten im Jahre 1991 bei Unfällen im Straßenverkehr 51 263 Kinder unter 15 Jahren, davon 16 583 - das sind 32 % - als Mitfahrer in Pkw, 17 298 - das sind 34 % - als Radfahrer, 15 760 - das sind 31 % - als Fußgänger und 1 631 gleich 3 % als andere Verkehrsteilnehmer. 512 Kinder kamen 1991 ums Leben. Davon starben 196 gleich 38 % als Mitfahrer in Pkw, 186 gleich 36 % als Fußgänger, 108 gleich 21 % als Radfahrer und 22, also 4 %, als andere Verkehrsteilnehmer. Natürlich ist jedes Opfer im Straßenverkehr eines zuviel. Aber diese Aussage der Bundesregierung, die auf Fakten beruht, zeigt, wie sehr die Politik dazu neigt, in vielen Bereichen zu übertreiben. ({13}) Marita Sehn Vor diesem Hintergrund halte ich persönlich übrigens die 12. Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrsordnung für die Beförderung von Kindern, die seit dem 1. April 1993 in Kraft ist, nicht für angemessen. Ich halte diese Verordnung für absolut familienfeindlich, und sie stellt in meinen Augen eine Überreglementierung dar. Ich fordere den neuen Verkehrsminister dazu auf, diese Verordnung noch einmal zu überdenken. ({14}) Lassen Sie mich nun noch auf einen weiteren Punkt eingehen, der mir zunehmend Sorge macht. Herr Schily, vielleicht haben wir hier doch etwas gemeinsam. Untersuchungen weisen darauf hin, daß bereits bei Kindern Umweltängste vorhanden sind. Diese Ängste können wir nicht durch gesetzliche Reglementierungen beseitigen. Gesetze können nur flankierende Maßnahmen sein, die zur Verbesserung unserer Umweltbedingungen beitragen. Herr Schily, wir sollten uns vielleicht grundsätzlich einmal fragen, ob die Ängste der Kinder nicht durch das Fehlen anderer Werte forciert werden. ({15}) Brauchen Kinder für eine gesunde körperliche und geistige Entwicklung nicht viel mehr Zuwendung, Geduld und Fürsorge, als wir ihnen heute zu geben bereit sind? ({16}) Ich bin der Auffassung, wenn alle Verantwortlichen in unserer Gesellschaft ihre Aufgaben konsequent wahrnehmen und wenn vor allem jeder einzelne in seinem Bereich sein Möglichstes dazu beiträgt, dann können wir unseren Kindern langfristig eine gesunde Entwicklung und damit auch eine gesunde Zukunft sichern. Lassen Sie mich zum Schluß noch eine Anmerkung machen. Ich finde es nicht in Ordnung, daß mir gestern abend ein erster Entschließungsantrag auf den Tisch kam und heute im Plenum der zweite. Ich bitte die Kollegen, wenn sie wirklich etwas erreichen wollen, wenn sie unsere Zustimmung wollen, schon, sich vielleicht vorher auch einmal mit den Leuten, die zu diesen Themen reden, auseinanderzusetzen, so daß man auch die Möglichkeit hat, sich über das, was sie wollen, zu verständigen. Solche Unterhaltungen sollten stattfinden. Ich finde die derzeitige Vorgehensweise nicht in Ordnung. Ich bitte Sie herzlich, das in Zukunft anders zu machen. Es ist nicht das erste Mal, daß mir das passiert. Vielen Dank. ({17})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile dem Abgeordneten Wilhelm Schmidt das Wort.

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist mir zunächst ein Bedürfnis, Ihnen aus der Sicht der Kinderkommission des Bundestages dafür zu danken, daß wir überhaupt die Gelegenheit haben, fachübergreifend und damit interdisziplinär im Interesse von Kindern hier im Bundestag zu sprechen und zu verhandeln. Ich finde das sehr richtig. Es kommt leider viel zu selten vor. Meistens geschieht es dann auch noch zu Zeiten, in denen wir eine so geringe Beteiligung haben, wie wir sie jetzt hier im Hause bedauerlicherweise feststellen müssen. ({0}) Ich denke, wir sollten uns auch über Arbeitsformen unterhalten, also darüber, wie wir wichtige oder vermeintlich wichtige Debatten in diesem Hause anders gestalten. ({1}) Es ist mir deswegen ein Bedürfnis gewesen, diesen neutralen Ansatz als Sprecher der Kinderkommission vorwegzuschicken, weil ich schon finde, daß in unserem Land mit den Interessen von Kindern viel zu oberflächlich umgegangen wird und daß wir viel zu selten Gelegenheit haben, sie in den Mittelpunkt politischer Auseinandersetzungen zu rücken. Dies ist auch der Ansatz dafür gewesen, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß zu diesem Thema des Umweltschutzes und der Gefahren für Kinder durch Umweltbelastungen die Anfragen der SPD und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in die parlamentarische Arbeit eingebracht worden sind. Ich finde dies außerordentlich wichtig, und ich kann überhaupt nicht verstehen, daß die Vertreter der Regierungskoalition dies nur deswegen, weil es ihnen nicht selber eingefallen ist, nun auf einmal auch noch mit einigem Makel versehen. Das ist der Sache nicht angemessen. ({2}) Wer in dieser Zeit Kinder nach ihren speziellen und besonderen Interessen und Bedürfnissen fragt, wird - vielleicht manchmal erstaunt, wenn er es nicht häufig genug tut - feststellen, daß sie selber es sind, die den Umweltschutz und die Umweltgefahren für sich sehr stark in den Vordergrund rücken. Es gibt darüber eine ganze Reihe von Untersuchungen. Wenn sie beispielsweise einmal in dem Buch von Sochatzky nachlesen, in dem er unter dem Titel „Wie ich zu bestimmen hätte" Kinder befragt, dann werden Sie feststellen, daß dies die umfangreichste Darstellung von Kindermeinungen ist, die es zu diesem Thema gibt. Alle anderen Themen stehen dahinter weit zurück. Das gleiche spielt sich auch in dem Buch von Regina Rusch „So soll unsere Welt nicht werden" ab, in dem Umweltängste von Kindern - nach meiner Einschätzung sehr wichtige - zusammengefaßt worden sind. Wilhelm Schmidt ({3}) Auch fort haben sie sich auf Grund entsprechender Beteiligung geäußert. Wenn Sie Aussagen von Kindern wie „Ich wünsche mir, daß es keinen sauren Regen mehr gibt und keine Umweltverschmutzer" - in diesem Fall eines 10jährigen Kindes - oder „Es dürften keine Sachen mehr hergestellt werden, die der Umwelt schaden" oder „Ich würde etwas gegen die Umweltverschmutzung tun, denn dadurch geht die Welt kaputt" oder „Menschen, die jetzt zu guter Letzt auf dem besten Wege sind, sich selbst zu vernichten" hören, dann, so denke ich, sollte uns dies alles wachrütteln und klarmachen, daß Kinder in diesem Umfang sehr sensibel sind und sich selbst über ihre Umwelt durchaus ein klares Bild machen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Schmidt, sind Sie bereit eine Frage des Abgeordneten Hitschler zu beantworten?

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte schön, Herr Dr. Hitschler.

Dr. Walter Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schmidt, wenn Sie draußen auf der Straße am Bauzaun des Schürmann-Baus vorbeigehen, dann sehen Sie die Kindermalereien einer Klasse, die den Bauzaun bemalt hat. Oben drüber steht der Spruch: Wir Kinder bezahlen den Umzug nach Berlin. Meinen Sie, daß diese Aussage, die dort steht, die wirkliche Meinung der Kinder, von diesen frei gebildet, gewesen ist? ({0}) Oder ist das die Meinung der Erzieher gewesen, die die Kinder angeleitet haben, ({1}) das dorthin zu schreiben, so daß das nicht identisch ist mit den Erfahrungen, die man hier bei Befragungen von Kindern über solche Zusammenhänge macht? ({2})

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Unabhängig davon, daß ich das, was ich soeben zitiert habe, auf der Basis von wissenschaftlichen Untersuchungen und wissenschaftlichen Initiativen zitiert habe, ist es natürlich tatsächlich auch immer Zufall, was denn im einzelnen herauskommt. Aber eines kann ich Ihnen und allen anderen, die in dieser Weise kritisch hinterfragen, nur raten: Nehmen Sie die Meinungen von Kindern ernster, als Sie es bisher tun. ({0}) Dann werden Sie auch erleben, daß die Kinder selbständig eine ganze Menge mehr denken können, als Sie ihnen offensichtlich zutrauen. ({1}) Noch eine Zusatzfrage? ({2}) Ich denke, daß ist auch klargeworden. Ich sollte bei dieser Gelegenheit auch noch einmal deutlich machen, daß wir als Politikerinnen und Politiker - und als Erwachsene insgesamt - tatsächlich mit den Interessen von Kindern viel ernsthafter umzugehen haben, als dies im Moment der Fall ist. Meine Damen und Herren, bei der Frage der Umweltbelastungen und ihrer Einwirkungen auf die Kinder muß man doch wohl ganz nüchtern auch die Fakten zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, die durch die Beantwortung der beiden Anfragen nur unzureichend mitgeteilt worden sind, die aber doch zum Teil schon seit vielen Jahren viel bekannter sind und viel eher hätten umgesetzt werden können, als es durch diese Regierung gemacht worden ist. Wir wissen inzwischen, daß fast jedes dritte Kind allergiekrank ist. Wo kommt denn dies her? Jeder weiß, daß auch hier Umweltgefahren und Umweltbelastungen den wichtigsten Teil der Ursachen ausmachen. Wir wissen, daß das gleiche auch bei vielen anderen Erkrankungen so ist. Gerade jüngst erst gab es die Mitteilung darüber, daß wissenschaftliche Erhebungen existieren, die besagen, daß es im Umfeld von Kernkraftwerken 14 % mehr Leukämieerkrankungen bei Kindern gibt als an anderen Stellen im Land. Das muß uns doch aufrütteln! Das unterstreicht doch immer wieder das Mißtrauen gegen solche Einrichtungen, die mit diesen Umweltbelastungen offensichtlich unsere Natur, vor allem aber auch unsere Kinder gefährden. ({3}) Die Einschätzung der Umweltsituation durch die Kinder selbst ist - ich habe es gesagt - erstaunlich realistisch. Deswegen sollten wir alle auch diese Dinge ernst nehmen. Wir machen das offensichtlich auch nicht in dem Maße, wie es notwendig ist, wenn es darum geht, gesetzliche Grundlagen für diese Dinge zu schaffen. Da will ich an zwei ganz wichtige Initiativen erin-nem, die in dieser Zeit diskutiert werden oder in der Ausführung stehen. Das eine ist die UNO-Konvention über die Rechte des Kindes. Wer daran vorbeisieht, daß wir diese Konvention ratifiziert haben und daß sie nun seit über einem Jahr, nämlich seit dem 5. April 1992, geltendes Recht in Deutschland ist, der versündigt sich auch an unserer eigenen Arbeit im Parlament, nicht nur an den Folgen. ({4}) Das zweite ist, daß wir dann, wenn wir diese Konvention ernst nehmen, auch zur Kenntnis nehmen müssen, daß Art. 6 beispielsweise das Recht der Kinder auf eine gesunde Entwicklung enthält. Dies ist es, was nach meiner Überzeugung zu Recht - Frau Wollenberger hat es angesprochen - viele Initiativen draußen aufgegriffen haben und nun auch in die bundesdeutsche Verfassungsdiskussion einspeisen. Wilhelm Schmidt ({5}) Wir tun gut daran, meine Damen und Herren, die Neuregelung des Art. 6 des Grundgesetzes auch um die Aufnahme von eigenständigen Kinderrechten zu ergänzen, wie sie in den vergangenen Monaten - beispielsweise auch durch eine Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission im Dezember - sehr wohlwollend von allen Seiten des Hauses zunächst aufgenommen worden ist, dann aber leider von der Regierungskoalition nicht weiter verfolgt worden ist, was ich zutiefst bedauere. Ich will auch den Vorschlag der SPD-Fraktion in diesem Zusammenhang nur als weiteren Schritt in diese Richtung bezeichnen, weil ich denke, wir müssen in dieser Hinsicht im Gespräch bleiben. Die Kinderkommission hat in ähnlicher Weise fraktionsübergreifend Empfehlungen ausgesprochen. Auch die Jugendministerkonferenz von Bund und Ländern hat sich schon im vorigen Jahr in genau dieser gleichen Weise geäußert. Wir brauchen die eigenständigen Kinderrechte, damit wir die Kinder auch in die Lage versetzen, sich gegenüber anderen Interessenten in dieser Gesellschaft durchzusetzen. Dabei spielt insbesondere auch das ökologische Kinderrecht als Auslegung der Formulierung, wie wir sie vorgeschlagen haben, eine ganz bedeutende Rolle; denn das Recht auf Entwicklung und Entfaltung, wie es von der Jugendministerkonferenz und von der Kinderkommission gleichermaßen vorgeschlagen wird, enthält eben auch das Recht, frei zu bleiben und keinen Schaden durch Umweltbelastungen zu nehmen. Dies wollen wir ausdrücklich in die Interpretation hineinnehmen; denn nur so macht auch das eigenständige Kinderrecht in der deutschen Verfassung - auch als Auswirkung der UNO-Kinderkonvention - Recht und Sinn. Ich will auf einige wenige Bemerkungen eingehen, die Frau Bergmann-Pohl hier gemacht hat. Ich finde nämlich, Frau Bergmann-Pohl, dies kennzeichnet die Oberflächlichkeit, mit der die Regierung die Anfragen beantwortet hat. Ich bedauere das außerordentlich. Die 87 Fragen, die wir gestellt haben, und die vielen zusätzlichen Fragen, welche die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gestellt hat, hätten doch eigentlich Anlaß bieten können für Sie in den Ministerien, die dort beteiligt sind, nun auch einmal eine vernünftige Bestandsaufnahme zu machen. ({6}) - Herr Rüttgers, wir sind darüber sehr unmutig, weil dies durch diese Anfragen ja nicht zum erstenmal in diesem Parlament erörtert wird. ({7}) Ich will auch nicht einmal behaupten, daß das, was ich 1987/88 mit Herrn Müller und einigen anderen in der SPD-Fraktion z. B. in Richtung einer Anhörung zu diesem Thema und einer anschließenden Großen Anfrage zu diesem Thema in Gang gebracht habe, das erste war. Davor gab es weitere Initiativen in den 80er Jahren. Wie lange müssen wir denn hier noch Anfragen starten? Wie lange müssen wir denn noch weitere Anträge stellen, ehe diese Regierung in Gang kommt, ({8}) um auch die Umweltgefahren für Kinder ernst zu nehmen und daran konsequente politische Handlungen zu knüpfen? Das macht mich ganz besonders sorgenvoll, weil wir damit auch wieder dokumentieren, daß die Politik diese Dinge gewissermaßen nur in Sonntagsreden oder in Parlamentsreden zum Ausdruck bringt; dann aber, wenn es zum Schwure kommt, fehlen die konsequenten Handlungen. Welchen Umfang hat denn nun das, was Sie als angeblich wichtige Grundlage Ihrer Politik in den Vordergrund rücken, nämlich die epidemiologische Forschung? Welchen Umfang hat denn das alles bei der Finanzierung Ihrer Aufgaben? Es ist doch einfach viel zu gering. Sonst würden Sie doch nicht fast jede zweite Frage, die wir gestellt haben, mit der Antwort versehen: Es fehlen noch weitere Erkenntnisse; und wir sind immer noch nicht sicher, auf welchem Wege wir uns denn da befinden. Es gibt eine Fülle von Einwirkungen, nicht nur die der Umweltgefahren. Das wissen wir alle. Aber wenn wir die Gefahren wirklich ernst nehmen, würden wir auch dafür sorgen, daß konsequente politische Regelungen getroffen werden, die das ganze Übel an der Wurzel packen. Daran mangelt es doch bei Ihnen. Sie sind doch überhaupt nicht von dem überzeugt, was Sie selbst hier zum Ausdruck bringen. ({9}) Darüber hinaus will ich dann auch klar sagen, daß wir beispielsweise Ihre Hinweise auf die Selbstbeschränkungsregeln der Zigarettenindustrie mittlerweile überhaupt nicht mehr ernst nehmen können. Ich will das auch als Beispiel herausgreifen, weil es von Ihnen, Frau Sehn, und von Ihnen, Frau Bergmann-Pohl, hier in den Vordergrund gerückt worden ist. ({10}) Es ist doch nun wirklich hanebüchen, was von Ihnen da in die Welt gesetzt wird. Sie nehmen es hin, daß in einer Kinderklinik und einer Lungenklinik in Schleswig-Holstein Versuche mit Kindern unternommen werden, die angeblich den Sinn haben, die ganze Sache noch einmal daraufhin zu prüfen, welche Einwirkungen, welche Belastungen Kinder ertragen müssen, wenn sie als Passivraucher in Familien oder draußen in der Gesellschaft auftreten. Das ist längst untersucht. ({11}) Es ist auch überhaupt keine Frage mehr, daß Kinder in dieser Weise enorm belastet sind. Da brauchen Sie solche von der Zigarettenindustrie finanzierten Versuche nicht auch noch gutzuheißen, wie es in der Vergangenheit geschehen ist. ({12}) Wilhelm Schmidt ({13}) Das ist doch das, was so konträr ist und was Ihnen eigentlich immer wieder um die Ohren gehauen werden müßte. Sie haben eine große Chance, das in der nächsten Zeit wiedergutzumachen. Wir haben Anträge eingebracht, die in den Ausschüssen diskutiert werden und vielleicht auch mit Ihrer Unterstützung dann gemeinsam umgesetzt werden können. Wir haben darüber hinaus beispielsweise für den Weltkindertag am 20. September Vorbereitungen dahin getroffen, daß Kinder selbst im Reichstagsgebäude

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Schmidt, Sie sprechen dankenswerterweise frei. Um so leichter kann es Ihnen fallen, die Redezeit einzuhalten. Ich wäre dankbar, wenn Sie das tun würden.

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der letzte Satz, Herr Präsident: Wir werden also am 20. September beim Weltkindertag möglicherweise auch durch ein Kinderparlament Ihnen allen die Gelegenheit geben, sich Kindermeinungen direkt anzuhören. Ich hoffe, daß das Motto des diesjährigen Weltkindertages „Keine Zukunft ohne uns" auch im politischen Raum sehr ernst genommen wird. Vielen Dank. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Editha Limbach.

Editha Limbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war gerade etwas überrascht, daß ein Mitglied der Kinderkommission offenbar - ich weiß jetzt nicht, was ich sagen soll - entweder Kinder nicht für Menschen hält ({0}) oder die Grundrechte nicht kennt. Lieber Herr Kollege, ich kann jetzt Art. 2 des Grundgesetzes nicht auswendig zitieren, kann ihn aber vorlesen. Ich habe das Grundgesetz zwar nicht immer unter dem Arm, aber immer in der Tasche. ({1}) Es heißt dort: ({2}) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. ({3}) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden. Also sind doch die Kinderrechte in bezug auf die Unverletzlichkeit ihrer Persönlichkeit - dazu gehört doch auch, daß wir dafür sorgen, daß auch gesundheitliche Gefährdungen, soweit sie vermeidbar sind, vermieden werden ({4}) bereits in der Verfassung geschützt. Ich weiß gar nicht, warum wir immer alles, was schon in der Verfassung steht, noch zusätzlich beschließen sollen. Ich halte sehr viel davon, wenn man die Rechte, die da sind - einschließlich der Pflichten, die da sind -, ernst nimmt und sich dann auch entsprechend verhält. ({5}) Ich denke auch, daß in den Fragen teilweise eine Auffassung zum Tragen kommt, die ich nicht teile und auch nicht teilen kann, ({6}) weil zumindest der Eindruck entsteht, als seien für alles und jedes der Staat und die Politik verantwortlich. ({7}) - Gut, wenn dieser Eindruck falsch ist, ist es ja gut. ({8}) Aber diesen Eindruck habe ich, und den habe ich nicht alleine gewonnen. Ich habe ihn durch folgendes gewonnen: In manchen Fällen führt allenfalls Zusammenwirken zu dem erwünschten Ergebnis, nämlich Umweltvorsorge, Umweltschutz auch als Gesundheitsvorsorge und Gesundheitsschutz vor allem für die Kinder, die ja vieles noch nicht selbst in die Wege leiten können, die vielfach auch von dem abhängig sind, was wir für sie tun oder nicht tun. Jedenfalls wird die Trennung zwischen den Aufgaben, die der Staat wahrnehmen kann und muß, und denen, wo auch jeder einzelne verantwortlich ist, bei Ihnen nicht vorgenommen. Natürlich kann nicht jeder einzelne allein dazu beitragen, daß Schadstoffe in Boden, Luft, Wasser und Lebensmitteln nicht auftreten bzw. zurückgedrängt werden. Ich sehe aber z. B., mit welchen Unmengen von Gift mein Nachbar seinen Garten besprüht. Neulich habe ich ihn gefragt, ob er vielleicht den Ausdruck „Umweltschutz" wenigstens schon einmal gehört habe. Ich kann nur sagen, daran kann ich nichts mehr machen, wenn das mit dem Wind auf meine Johannisbeeren herüberweht. - Ich habe das nur als ein Beispiel angeführt. Ich will ein sehr viel gravierenderes nennen. Wir wissen - die Kollegin Sehn hat es noch einmal in Details ausgeführt -, wie schädlich Rauchen und Passivrauchen für diejenigen ist, die das ertragen müssen, insbesondere für Kinder. Ich wiederhole es: Es gibt zwar vieles, was zum Umwelt- und Gesundheitsschutz noch nicht endgültig gesagt werden kann, weil wir noch mehr Untersuchungen und Forschungen brauchen. Sicher ist aber - Frau Sehn hat es schon gesagt -, daß Atemwegserkrankungen bei Kindern aus Raucherfamilien doppelt so oft auftreten wie bei Kindern aus Nichtraucherfamilien. Dann ist für mich eine Person oder eine Personengruppe, die verantwortlich ist, natürlich Vater und Mutter, die dafür sorgen müssen, daß sie selber bitte dann nicht rauchen und möglichst auch darauf einwirken, daß ihre Freunde, Besucher, Kolleginnen und Kollegen das jedenfalls nach Möglichkeit einschränken. Ich kann aber doch nicht von Staats wegen den Menschen bis ins Detail vorschreiben, was sie machen müssen. Ich kann sie ermuntern. Dazu gehören Aufklärung und Information zu dem, was wir in puncto Umwelt- und Gesundheitsschutz betreiben müssen. Aber, wie gesagt, ich kann nicht die Verantwortung des einzelnen ausschließen. Ich komme auch noch einmal auf die Gefährdung der Kinder durch Straßenverkehr zu sprechen, und zwar nicht nur durch Unfälle, sondern auch durch Einatmen von Abgasen und dergleichen. ({9}) Wenn derselbe Vater, dieselbe Mutter, derselbe Onkel und dieselbe Tante - wen immer Sie nehmen wollen - sagen: „Autofahren ist für Kinder wegen der Abgase aber ganz schrecklich schädlich", zugleich aber selber nicht bereit sind, 500 m zum Zigarettenautomaten zu Fuß zu gehen, dann muß ich an deren Verantwortung appellieren und sagen: Dann macht es bitte. ({10}) - Ich habe bewußt das Beispiel mit dem Zigarettenautomaten genommen, weil sowohl das Abgas wie das Rauchen da eine Rolle spielt. ({11}) - Ich hätte ja auch sagen können, er könnte ein Viertelpfündchen Salz kaufen. So, jetzt kommt aber der Punkt: Wenn ich das in Ihrer Denkrichtung bis zum Ende durchdenke, dann muß ich in jedes Wohnzimmer einer jeden Familie einen Aufpasser setzen wie seinerzeit die Kaffeeschnüffler und aufpassen, ob die nicht vielleicht doch rauchen. ({12}) - Nein, nein, nein! Ich teile allerdings die Auffassung des Bundesgesundheitsministers, daß wir darüber nachdenken müssen - ich habe das auch schon früher gesagt -, ob wir dadurch, daß wir Rauchen unattraktiver machen, z. B. durch eine Abgabe, die dann dem Gesundheitswesen zugute kommt, den Menschen stärker bewußt machen, daß sie darüber nachdenken sollten. Mein parlamentarischer Geschäftsführer wird mir auf diesem Wege nicht gerne folgen. Das weiß ich, Herr Rüttgers. ({13}) Ich muß noch ein ernstes Wort sagen. Frau Kollegin Wollenberger, ich war schrecklich traurig, als Sie gesprochen haben, weil ich gedacht habe: Wie muß es sein, wenn man sein Leben nur mit solch negativen Erwartungen befrachtet? Wenn Sie in Ihrer Anfrage sagen „Die Mehrzahl der Kinder leidet unter Zukunftsängsten, die sich auf das Überleben in einer zerstörten Umwelt beziehen" und dann einen 9jährigen Jungen aus einer Veröffentlichung zitieren, der sagt, wir lesen und hören und sehen im Fernsehen täglich Katastrophen - Untergänge von Öltankern, Flugzeugabstürze, Waldbrände und was es sonst noch alles gibt -, dann habe ich im Grunde großes Mitleid mit diesem armen Jungen Thomas, der das schreibt - falls er es selbst geschrieben hat -, aber ich empfinde noch viel mehr Arger über die Erwachsenen, die diesem Kind nicht geholfen haben, die Eindrücke, die auf es einstürmen, zu verarbeiten. Ich frage mich auch: Muß ein 9jähriges Kind in der Tat alle diese Katastrophen ständig im Fernsehen sehen? Das muß er nicht. ({14}) - Nein, das ist ein Appell an die Eltern. Auch bezüglich des Rauchens habe ich einen Appell ausgesprochen. Aber Sie wollen ja alles Mögliche verbieten. Ich möchte noch folgenden Appell aussprechen - Frau Sehn hat das auch schon gesagt; ich will es gern noch einmal unterstreichen -: Wir müssen für die Gesundheit der Kinder alles tun, um Schadstoffe zu verringern und Umweltvorsorge zu betreiben. All das gehört dazu. Dazu gehört aber auch, daß Väter und Mütter und andere, die mit Kindern umgehen, den Kindern helfen, die Welt zu erkennen, wie sie ist, daß sie ihnen helfen zu erkennen, daß man sie ändern kann, daß sie ihnen aber auch helfen zu erkennen, daß man das Paradies auf Erden nicht schaffen kann. Ich glaube, es ist ganz, ganz wichtig für die seelische Gesundheit der Kinder, daß sie zunächst einmal Urvertrauen gewinnen und daß sie sich später entsprechend entwickeln können. ({15}) - Ich will Ihnen etwas zu den Allergiekrankheiten sagen. Frau Bergmann-Pohl hat doch auf die Komplexität des Themas hingewiesen. Allergiekrankheiten hat es auch früher gegeben, und zwar in Bereichen, die wir nicht beeinflussen können. Daß die Birke vor meinem Haus meiner Enkeltochter Schnupfen verursacht, könnte ich nur verhindern, wenn ich diese Birke fällen würde. Dann bekäme ich gleichzeitig Krach mit der Baumkommission der Stadt Bonn, weil diese Birke auf Grund ihrer Ausmaße nicht gefällt werden darf. Ich finde das eigentlich auch gut. Als ich Kind war - ich bin ja alt genug, um das noch zu wissen -, wurden die Kinder zur Sommerfrische auf den Bauernhof geschickt. Der Bauer hatte im Zweifel acht oder zehn Kühe im Stall; wenn es ein Großbauer war, hatte er auch mehr Kühe im Stall, aber bei solchen Großbauern war ich nie. Wir haben uns dort hingedrängt. Wir haben Kühe gehütet, wir sind dort hingelaufen, und wir waren am liebsten im Stall. Dort haben wir natürlich jede Menge Methangas eingeatmet. Nach heutigen Erkenntnissen müßte man sagen: Eigentlich ist es für ein Kind ganz ungesund, auf einem Bauernhof zu leben, wo viel Vieh im Stall ist. - Herr Schily, Sie sind verärgert darüber; ich sehe das. ({16}) - Nein, wir leben in der heutigen Welt. Wir müssen sie so gestalten, wie sie ist. ({17}) Ich habe dieses Beispiel genannt, liebe Kolleginnen und Kollegen, damit Sie erkennen, daß Sie diesem wichtigen Thema schaden, indem Sie überziehen. ({18}) Es ist doch notwendig zu überlegen, was wir durch Aufklärung, durch Information und durch aktives Handeln tun können, um unsere Gesellschaft so zu gestalten, daß unsere Kinder gesund und fröhlich aufwachsen können. ({19})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Nächste Rednerin ist unsere Frau Kollegin Dr. Barbara Höll.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Ratifizierung der UNO-Kinderkonvention hat sich die Bundesrepublik Deutschland wie alle anderen Unterzeichnerstaaten verpflichtet - ich zitiere aus Art. 3 -: Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist. Dies wird durch das in Art. 6 gewährleistete Recht auf eine gesunde Entwicklung ergänzt. Das Wohl der Kinder als Maßstab, als Mindeststandard für alle in der Gesellschaft gegebenen Gesetze, Normen und Verhältnisse wird hinsichtlich seiner Notwendigkeit durch die Ratifizierung dieser Konvention unterstrichen und hat Gesetzeskraft. Die beiden uns vorliegenden Großen Anfragen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zielen auf eine Sachstandserfassung des Zusammenhangs zwischen zunehmender Umweltbelastung und Krankheitsentwicklung bei Kindern. Betrachtet man nur die chemische Belastung der Kinder, so muß man leider konstatieren, daß täglich neue Chemikalien in Verkehr gebracht werden, die früher oder später auch die Umwelt belasten können. In jedem Fall nimmt die Zahl der potentiellen Schadstoffe weiter zu. Viele reichern sich im menschlichen Organismus an, weil sie nicht abgebaut werden können. Niemand kann heute übersehen, welche Wirkungen sich aus ihrer Kombination untereinander und mit anderen Stoffen, wie beispielsweise Arzneimitteln, ergeben. Völlig offen ist vor allem die Frage nach den möglicherweise gravierenden Langzeitwirkungen für die menschliche Gesundheit wie für die Natur. Besonders für die Kinder wächst so die Gefahr einer schweren Belastung gewissermaßen in doppelter Weise. Diese Situation löst zu Recht bei vielen Kindern, aber auch bei Erwachsenen große Besorgnis aus. Trotz niedriger Säuglings- und Kindersterblichkeit und wachsender Lebenserwartung in Deutschland sind diese zunehmenden Umweltbelastungen insbesondere eine große Gefahr für die Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen. Die psychische und physische Entwicklung Heranwachsender ist - wie es in dem Antrag formuliert ist - eben stärker gefährdet, und zwar durch einen anderen Stoffwechsel, durch andere Ernährungsgewohnheiten von Kindern, beginnend mit der Aufnahme der Muttermilch, die andere Atmung, die andere Schadstoffaufnahme - z. B. über den Boden-Hand-Mund-Kontakt -, durch die Herausbildung eines Angst- und Bedrohungspotentials der Kinder und durch die Einengung ihrer Lebensumwelt. Es ist wirklich schon erschreckend, wenn man an Hand der Antwort der Bundesregierung zum Zusammenhang von Umwelteinflüssen und Krankheitsentwicklung feststellen muß: Die von vielen Seiten und in unterschiedlichster Form immer wiederkehrende Hauptaussage lautet: Die Bundesregierung ist auf diesen zukunftsentscheidenden, ja im wahrsten Sinne des Wortes lebenswichtigen Gebieten nicht oder kaum aussagefähig. Dies nach einer jahrelangen, intensiv geführten Umweltdiskussion in der Bundesrepublik und einem zum Glück gestiegenen Umweltbewußtsein der Bevölkerung. Ich muß sagen: Dieses gestiegene Umweltbewußtsein ist, wie an den Antworten der Bundesregierung abzulesen, noch nicht bei der Bundesregierung angekommen. Das zeigt sich insbesondere in bezug auf den Zusammenhang zwischen Umweltbelastung und Kindesentwicklung. Will man hierzu tatsächliche politische Handlungen entwickeln, so setzt das eben eine detaillierte Sachkenntnis voraus. In den Antworten der Bundesregierung sind laufend Verweise darauf enthalten, daß zwischen einzelnen Umweltbelastungen und Beeinträchtigungen von Kindern ein monokausaler Zusammenhang nicht nachweisbar sei, daß vielmehr multikausale Zusammenhänge vorhanden seien, die so kompliziert seien, daß einzelne Faktoren überhaupt nicht betrachtet werden könnten. So wird zu den Daten aus dem Mikrozensus ausgeführt: Eine nähere Abfrage nach der Art der Erkrankung erfolgte nicht. Die Daten sind daher nur begrenzt interpretierbar.... Da derzeit nur diese beiden Meßpunkte des Mikrozensus verfügbar sind, kann aus den Zahlen kein Trend abgelesen werden. Ich zitiere eine weitere Aussage: Um einen möglichen Zusammenhang zwischen Umwelteinflüssen und angeborenen FehlbildunDr. Barbara Hall gen aufzudecken, ist eine Erfassung der angeborenen Fehlbildungen unter epidemiologischen Aspekten notwendig. Dem stehen gegenwärtig zahlreiche organisatorische und methodische Probleme entgegen. Zum Trost wird uns allerdings versichert: Durch derzeit begonnene Vorhaben könnten diese Probleme möglicherweise gelöst werden. Auf Seite 15 heißt es zum Thema „Nahrungsmittelallergie": „Verläßliche Daten zur Häufigkeit liegen nicht vor." Das gleiche wird über allergisch bedingte Nebenwirkungen von Arzneimitteln und über allergische Kontaktekzeme ausgesagt. Soweit einige Auszüge. Auf schichtenspezifische Angaben zur Häufigkeit und Verteilung der Krankheiten - in den angelsächsischen und skandinavischen Ländern eine Selbstverständlichkeit - wagt man angesichts dieser Situation gar nicht mehr zu hoffen. Solche Angaben werden auch nicht gemacht. Hier rächt sich nun der gewaltige Rückstand, der in der Bundesrepublik über Jahrzehnte gegenüber anderen entwickelten Industrieländern auf dem Gebiet der Gesundheitsberichterstattung und ihrer wissenschaftlichen Basisdisziplinen - der Sozialmedizin und der Epidemiologie - zugelassen wurde. Über Jahre und Jahrzehnte kontinuierlich und wissenschaftlich solide geführte Statistiken über die Entwicklung von Gesundheitsrisiken, Krankheits- und Sterbehäufigkeiten sind nun einmal unerläßliche Grundlagen für rechtzeitige Gefahrenabwehr und Gefahrenvermeidung, mit anderen Worten: für eine zielgerichtete und verantwortungsvolle Gesundheitspolitik. Anzeichen für eine Änderung der Situation gibt es erst aus allerjüngster Zeit. Bis heute besteht allerdings keine klare und verbindliche Vorstellung über Anbindung, Inhalte und Formen einer Gesundheitsberichterstattung auf Bundesebene. Wie widersprüchlich, ja kontraproduktiv noch immer verfahren wird, zeigt u. a. das Schicksal der an allen medizinischen Hochschuleinrichtungen in den neuen Bundesländern seit langem in Lehre und Forschung selbständig etablierten und vergleichsweise gut besetzten epidemiologischen und sozialmedizinischen Institute. Obwohl sich die entsprechenden Fachgremien der alten Bundesländer in Kenntnis der eigenen unbefriedigenden Lage und im Interesse einer gemeinsamen Fortentwicklung nachdrücklich für deren Erhalt und Ausbau eingesetzt hatten, wurden sie drastisch verkleinert und institutionell nach bundesdeutschem Vorbild wieder mit der Arbeitsmedizin „zurückvereinigt". Für beide Disziplinen stellt das einen Rückschritt von mindestens zwei bis drei Jahrzehnten dar. Ähnliches können wir leider Gottes auch auf dem Gebiet der Umwelthygiene und der Umweltmedizin und anderer wissenschaftlicher Grunddisziplinen, deren Leistungsfähigkeit im Zusammenhang mit dem Gegenstand unserer Debatte entscheidend ist, feststellen. Während es eine institutionalisierte Umweltmedizin fast noch gar nicht gibt, führt die Umwelthygiene an den bundesdeutschen Universitäten seit Jahrzehnten ein traditionelles Schattendasein. Auch auf der Seite ihrer praktischen Anwendung sieht es meist nicht besser aus. Sie befindet sich bekanntlich im öffentlichen Gesundheitsdienst und wird deshalb allzuoft durch dessen hinreichend bekannte generelle Auszehrungssituation beeinträchtigt. So erklärt sich eben auch die viel zu geringe Zahl von Fachleuten, aber auch der zu Recht von vielen - zunehmend auch von vielen Ärzten - beklagte Zustand der medizinischen Aus-, Weiter- und Fortbildung auf diesen Gebieten. Was die neuen Länder betrifft, so ist es im übrigen das gleiche bereits erwähnte Verfahren wie z. B. an der Charité: Verkleinerung selbständiger Abteilungen und Rückverwandlung in gemeinsame Einrichtungen mit der Mikrobiologie. Damit wurde ein klassischer wissenschaftlicher Anachronismus nicht nur belassen - was schon schlimm genug wäre -, sondern gerade erst neu etabliert, und all dies angesichts eines riesigen und dringlichen Entwicklungsund vor allem Handlungsbedarfs auf genau diesen Feldern. Daß die überwiegend leistungsfähigen Hygieneinstitute, die in allen Bezirken der ehemaligen DDR bestanden, aufgelöst wurden, könnte man noch mit der veränderten Struktur eines föderalen Staatsaufbaus erklären. Völlig unverständlich ist jedoch, daß die in ihnen versammelten, in aller Regel gut ausgebildeten Kräfte und wertvollen Untersuchungskapazitäten nur zum Teil Eingang in den neu etablierten öffentlichen Gesundheitsdienst gefunden haben. Ich möchte noch kurz auf das in der Präambel erwähnte Hauptanliegen der Bundesregierung eingehen, die Prävention. Diesen Standpunkt begrüßen wir. Allerdings muß ich sagen: Mit der Erfahrung der kinderärztlichen Betreuung in der DDR haben wir hierzu etliche Fragen, die nicht nur den Stellenwert der Forschung, der Lehre und der Anerkennung des Facharztes Kinderarzt betreffen, z. B. in den Berufsvereinigungen. Sie betreffen auch die möglichst durchgängige Betreuung der Kinder von Kinderärzten und eben nicht Allgemeinmedizinern, aber auch solche Dinge wie die zahnärztliche Betreuung, z. B. das Therapieverbot für Kinder- und Jugendzahnärzte, wenn sie im öffentlichen Gesundheitsdienst arbeiten. Die PDS/Linke Liste unterstützt nachdrücklich die z. B. von der „Initiative gegen die Verletzung ökologischer Kinderrechte" vorgebrachten Umweltrechte für unsere Kinder: eine sofortige drastische Reduzierung von Schadstoffgruppen aus allen Bereichen, eine Schadstoffhöchstmengenverordnung, die sich am Wohl von Kleinkindern orientiert - das beginnt z. B. mit der Messung der Luftbelastung, bei der Frage, ob ich das bei 1,80 m mache, also da, wo Erwachsene atmen, oder bei 1,20 m, also in der Atmungshöhe von Kindern; dabei ist teilweise eine Verdoppelung im unteren Bereich festzustellen -, ein Produktionsverbot für gesundheitsschädliche Chemikalien, den freien Zugang zu Umweltdaten, eine gesetzlich vorgeschriebene umwelttoxikologische Zusatzausbildung für alle Heilberufe, die Einrichtung eines Ministeriums zur Wahrung von Kinderinteressen. Wir sind der Meinung, daß diese Frage des Rechtes auf eine gesunde Entwicklung und eine gesunde Umwelt ein Verfassungsrecht sein muß - nicht nur für Erwachsene, sondern insbesondere für Kinder - und deshalb eine Ausrichtung an ihren Mindeststandards notwendig ist. Ich denke auch, es ist notwendig, bei der Debatte dieses Themas zu beachten, daß es kein Thema ist, das auf Deutschland beschränkt ist, sondern sehr wohl ein weltweites Thema, und daß wir mitverantwortlich sind für die Umweltbelastung von Kindern z. B. in der Dritten Welt, wenn sie in sehr umweltschädlichen Produktionen beschäftigt sind wie der Teppichherstellung, Gewebeherstellung usw., wo sie zusätzlich noch mit reiner Chemie konfrontiert werden, und wir letztendlich mit unseren Importbestimmungen dazu beitragen, daß Kinder in der Dritten Welt auf Grund der dort vorhandenen Produktionsweise sehr frühzeitig sterben müssen. Ich danke Ihnen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Dr. Höll, das war eine wesentliche Überschreitung der Redezeit. Meine Damen und Herren, ich mache nur darauf aufmerksam: Gemäß § 8 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung sind Frau Manila Sehn und unser Kollege Horst Kubatschka zu Schriftführern ernannt. Nun hat das Wort unser Kollege Klaus Lennartz.

Klaus Lennartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001319, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Umweltschädliche Stoffe belasten die Körper unserer Kinder mehr als die der Erwachsenen. Schadstoffe gelangen auf verschiedenen Wegen in unsere Umwelt - in die Luft, in das Wasser, in die Erde und in die Nahrung - und werden beim Atmen, Trinken Spielen und Essen aufgenommen. Kinder sind viel empfindlicher gegenüber Giften als Erwachsene. Ihre Hautoberfläche ist im Vergleich zum Körpergewicht größer und bis zum dritten Lebensjahr auch besonders durchlässig. Bei Kleinkindern ist die Fähigkeit des Körpers, schädliche Stoffmengen auszuscheiden, noch unterentwickelt. Jeder von uns kennt die besondere Anfälligkeit der Schleimhäute von Kindern und das Stichwort Krupp-Husten. Zahlreiche Untersuchungen belegen: Allergien, Atemwegserkrankungen und Immundefekte steigen bei Kindern und Jugendlichen in bedrohlichem Ausmaß an. Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion macht sehr deutlich, daß es beim Thema „Kindergesundheit und Umweltbelastungen" noch erhebliche Fragezeichen, Wissenslücken und Forschungsdefizite gibt. Umwelt und Gesundheit und ihren Wechselwirkungen werden von dieser Regierung und dieser Koalition generell zuwenig Rechnung getragen. Beim Thema kindliche Gesundheit und Umweltbelastungen gibt es noch viel zu häufig Fehlanzeige. Meine Kollegen Wilhelm Schmidt und Otto Schily haben diese Tatsache ausführlich beschrieben. Aber ebenso besorgniserregend für den Fortbestand unserer Gesellschaft und das Miteinander der Generationen sind auch die Folgen der Umweltprobleme für die kindliche Entwicklung. Werden uns unsere Kinder und Kindeskinder eines Tages zum Teufel jagen, wie es die Völker ehemals kommunistischer Staaten mit ihren abgehalfterten Machthabern getan haben, weil wir es versäumt haben, unsere Welt für sie lebenswert zu erhalten, uns in die Wüste schicken, die wir aus dieser Welt gemacht haben werden, wenn wir so weiter wirtschaften wie bisher? Werden sie uns die Frage stellen: Ihr habt doch alles gewußt über das Ozonloch, den Treibhauseffekt, die Trinkwasserbelastung und die Strahlenverseuchung? Vieles deutet darauf hin, daß das heutige Herumdoktern an Umweltschäden schlimme Auswirkungen auf die kindliche Psyche und Entwicklung hat. Sowohl unsere Erfahrungen im Alltag wie auch wissenschaftliche Untersuchungen weisen darauf hin, daß der dauernde kindliche Blick auf unseren zerstörerischen Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen im Innern unserer Kinder Umwelt- und Zukunftsangst erzeugt, ja sogar destruktive Verhaltensstrukturen bilden kann. ({0}) Ich weiß, einige von uns, von Ihnen liebe Kolleginnen und Kollegen, haben persönlich in die Augen der Kinder von Tschernobyl geschaut, die kaum noch glänzen. Gibt es nicht bereits auch ein Flackern in den Augen unserer Kinder, obwohl sie nicht diese lebensbedrohliche Begegnung mit den Folgen menschenfeindlicher Technik unseres Zeitalters machen mußten? Meine Damen und Herren, unterhalten Sie sich einmal mit einem Kinderarzt und fragen Sie ihn, was ihm tagtäglich in seiner Praxis begegnet, insbesondere bei den jungen Menschen zwischen zehn und 16 Jahren. Unterhalten Sie sich einmal mit den Müttern darüber, welche Zukunftsängste von ihnen mitgetragen werden. Ich habe viel Verständnis dafür, daß sich der Kollege Dr. Rüttgers, der sich anschickt, im Erftkreis mein Gegenkandidat zu werden, jetzt intensiv mit den Kolleginnen und Kollegen seiner Fraktion unterhält, um bewußt zu demonstrieren, wie sehr ihn dieses Thema absolut nicht interessiert. Ich nehme sehr dankbar zur Kenntnis, Herr Kollege, wie Sie mit diesem Thema mit Ihren Freunden aus der Koalition umgehen. ({1}) Meine Damen und Herren, es ist schon mehr als bedenklich, wie Sie sich bei diesem Thema demonstrativ verhalten. ({2}) Ich sage sehr bewußt: Unterhalten Sie sich einmal mit den Kinderärzten und den Müttern in ihrem Wahlkreis darüber, welche Ängste vorliegen. Dann wird Ihnen dieses Thema ein bißchen mehr unter die Haut gehen, als Sie hier demonstrativ versuchen, es darzulegen. Bei allen Umfragen, die unter Jugendlichen gestartet werden, äußern rund dreiviertel der Befragten sehr pessimistische Ansichten über den Zustand unserer Umwelt und die Chancen, die Probleme in den Griff zu bekommen. Krieg und Umweltzerstörung sind danach die größten Ängste unserer Jugend. Was sich verheerend auswirkt: Die Angst vor der fortschreitenden Umweltzerstörung hängt auch direkt mit der Technikfeindlichkeit zusammen, die wir gerade bei unserer jungen Generation überhaupt nicht gebrauchen können, wenn wir unsere Industriegesellschaft ökologisch modernisieren wollen. Ohne eine positive Grundhaltung zur Technik in den kommenden Generationen wird das nicht gelingen. ({3}) - Wo die herkommt? Sie kommt durch eine Politik, wie sie von Ihnen betrieben wird. ({4}) Sie versuchen, nach außen hin Handeln zu dokumentieren. Muß ich das wiederholen: Treibhauseffekt, Ozonloch, Wasserbelastung, Regenwälder, die täglich abgeholzt werden. Sie versuchen, eine Politik des Handelns zu suggerieren, doch täglich muß die Jugend entgegennehmen, daß nichts von dem, was Sie postulieren, in der Praxis standhält. Darum geht es doch. ({5}) - Wissen Sie, liebe Frau Kollegin, wenn Sie mit einem jungen, acht oder neun Jahre alten Mädchen einen Spaziergang machen und plötzlich merken, daß es nicht mehr weitergehen, nicht mehr atmen kann, und Sie dann mit diesem Kind zu einem Arzt gehen und feststellen, daß es nur noch 45 % seines Lungenvolumens hat, dann wird es auch Ihnen etwas anders. Prüfen Sie dann selber einmal, ob die Politik, die wir machen, wirklich dem standhält, was wir nach außen hin formulieren. ({6})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Lennartz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Limbach? - Bitte, Frau Kollegin Limbach.

Editha Limbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Lennartz, können Sie sich vorstellen, daß auch die Kolleginnen und Kollegen, die anderen Fraktionen als der Ihren angehören, verantwortlich gegenüber Kindern und der Umwelt handeln wollen und dies auch tun?

Klaus Lennartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001319, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Die Frage ist nur, inwieweit Sie diese Vorstellung auch in die Praxis umsetzen. Diese Regierung ist doch ein deutliches Zeichen für das Nichthandeln in der Verantwortung, um mit Jonas zu sprechen. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, um den Gedankengang von eben noch einmal aufzunehmen: Ohne eine positive Grundhaltung zur Technik in den kommenden Generationen wird uns dies nicht gelingen. Wie wir heute mit unseren natürlichen Lebensgrundlagen umgehen, beeinflußt direkt, wie wir in zehn, 20 oder 30 Jahren noch werden wirtschaften können - ein Zusammenhang, den hier niemand geringschätzen sollte. Wir Sozialdemokraten machen uns Sorgen, wie sich diese Umstände auf das Verhältnis der Generationen zueinander und auf das Zusammenleben in unserer gesamten Gesellschaft auswirken werden. Können unsere gut funktionierenden Generationenverträge Bestand haben, wenn wir heute kommenden Generationen die Lebensgrundlagen entziehen? Werden in nicht allzu ferner Zukunft Rache und Aggressionen der jüngeren gegenüber den älteren Generationen die Folgen des heute weitgehend ergebnislosen ökologischen Herumgewurstels sein? Wie wollen die handelnden und bestimmenden Erwachsenen Vertrauen und Glaubwürdigkeit bei Kindern und Jugendlichen finden, die eben durch dieses Handeln mit Allergien und Atemwegserkrankungen laufen gelernt haben? Ich bin fest davon überzeugt: Die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft hängt von unserer heutigen Fähigkeit ab, ökologisch umzusteuern. Der Boden dafür muß in allen Bereichen geschaffen werden: in der Familie, im Kindergarten, in der Schule, am Ausbildungs- und am Arbeitsplatz. Nur wenn wir uns selbst in die richtige, in die ökologische Richtung bewegen, wird es uns gelingen, kritische junge Menschen heranzuziehen, die mit Phantasie und Kreativität auch Umweltprobleme zu lösen bereit sind. Dazu bedarf es keiner „Katastrophenpädagogik", die den Mut zum Handeln gänzlich nimmt. Angesichts unserer existenzgefährdenden Umweltbedrohungen reicht aber auch jene Verbraucher- und Recyclingaufklärung nicht aus, die mit stromsparenden Waschmaschinen und Kompostierungsfibeln eher die Marginalien unserer Umweltprobleme behandelt. Körperlich und seelisch gesunde Kinder sind nur mit deutlichem und entschlossenem politischen Handeln hervorzubringen. Es würde nützen, wenn die Überzeugungen aus den Zehntausenden von Kinderbriefen, die den Umweltminister erreichen, schnell in das Handeln der Bundesregierung einfließen könnten. ({1}) Sie müssen aber erst einmal gelesen und auch verstanden werden. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, unserem Kollegen Dr. Bertram Wieczorek, das Wort. Dr. Bertram Wieczorek Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Liebe Umweltpolitikerinnen und -politiker im Präsidium! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich am Anfang meiner Ausführungen zunächst einmal an den Kollegen Schily richten, der der Bundesregierung zumindest Respekt gezollt hat, die zu einer sehr komplexen, komplizierten und, wie ich als Mediziner sage, umfassenden Fragestellung zum Themenbereich ,, chemisch-physikalische Noxen in der Umwelt" versucht hat, eine faire, offene Antwort zu geben. Ich finde, wenn wir alle Antworten glatt und sauber geben könnten, bestünde gar kein Anlaß zu einer Großen Anfrage. Es hat sich gezeigt, daß es noch sehr viele offene Felder gibt, die wir sozusagen bestellen müssen, auf denen wir unsere Verantwortung deutlicher wahrnehmen müssen. Ich meine aber, eine Antwort, die die Konfliktsituation aufzeigt, die ehrlich ist, ist allemal mehr wert, als eine, die alle Dinge glatt und als ein bereits völlig abgearbeitetes Thema darstellt. ({0}) In diesem Sinne möchte ich mich ganz herzlich bei den Mitarbeitern nicht nur des Bundesgesundheitsministeriums, sondern auch des Bundesumweltministeriums bedanken. Wir haben dort nämlich auch eine Reihe von Medizinern und ein Referat, das sich gerade mit diesem Thema, nämlich mit Umwelteinwirkungen auf die menschliche Gesundheit, sehr intensiv beschäftigt. ({1}) Ich kann Ihnen sagen - das ist mir ein wichtiges Anliegen -, daß es auch zwischen diesen beiden Ressorts eine durchaus fruchtbare Zusammenarbeit gibt. ({2}) Es ist richtig, daß wir in einer entwickelten Industriegesellschaft leben, die die Grundprobleme des Überlebens insbesondere bei Kindern gelöst hat. Wir haben eine niedrige Säuglingssterblichkeit. Es sterben sehr wenige Kinder an akuten Infektionskrankheiten. Wir haben uns aber weiteren, auch lebensbedrohenden Auswirkungen der Industrialisierung zuzuwenden und uns damit zu beschäftigen. Aber, Herr Kollege Lennartz, daraus abzuleiten, daß die Bundesregierung diejenige auf diesem Erdglobus wäre, die nichts tut, ist eine völlige Verdrehung der Tatsachen. ({3}) Wir haben durch die Umweltpolitik der letzten Jahre, besonders seit dem Beginn des Wirkens von Professor Töpfer, ein Umweltniveau erreicht, das auf dieser Welt einzigartig ist. Ich denke, das steht uns auch gut an, um den Entwicklungsländern - ich werde auf dieses Thema gleich noch zu sprechen kommen -, ein Beispiel zu geben, wie eine Gesellschaft verantwortlich mit der Umwelt umgehen kann und ein Signal setzt, mit dem Raubbau an der Natur und damit natürlich auch an den Menschen aufzuhören. Die Beziehung von Kindern zu ihrer Umwelt ist nicht nur eine Frage der chemischen und der physikalischen Noxen, sie ist auch eine Frage - das sage ich Ihnen als Arzt, der über 15 Jahre tagtäglich mit Kindern in der Sprechstunde zu tun hatte - der soziofamlliären Umweltbelastungen, die in einer ganz besonderen Art und Weise in unserer Leistungsgesellschaft zunehmend auch die Perspektive von Kindern negativ beeinflussen. In dem Sinne - Herr Kollege Lennartz, ich schätze Sie sehr -, sollte man über Dinge nur dann detailliert reden, wenn man sie wirklich versteht, und Aussagen nicht nur aus Briefen ableiten. ({4}) Vizepräsident Helmuth Becker Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Lennartz?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Ja.

Klaus Lennartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001319, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Unsere gegenseitige Schätzung brauchen wir uns nicht zu dokumentieren. Ich habe eine Frage an Sie: Herr Staatssekretär, sind Sie auf meine herzliche Einladung hin bereit, mit mehreren Kinderärzten ein Gespräch zu führen und insbesondere auf das Bezug zu nehmen, wovon ich gesprochen habe, nämlich auf die psychologische Belastung der 10- bis 16jährigen, die die Ärzte tagtäglich in ihren Praxen erleben? Sind Sie bereit, eine derartige Einladung anzunehmen, damit Sie als jemand, der einige Zeit als Arzt praktiziert hat, ein bißchen Nachhilfeunterricht bekommen?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Herr Kollege Lennartz, ich bedanke mich für die Einladung; sie ist damit schon angenommen. Ich kann Ihnen aber versichern, daß ich gerade zu diesem Themenkreis sehr häufig auch in den alten Bundesländern unterwegs bin. Ich habe Ihnen etwas voraus: eine Erfahrung. Ich komme nämlich aus einer Gesellschaft, in der der Raubbau an der Natur sozusagen der Imperativ der Industriepolitik war. Ich weiß aus meinen Erfahrungen, wie sehr gerade Kinder unter diesen Umwelteinwirkungen gelitten haben. Meine Damen und Herren, soziofamiliäre Umweltbelastung bedeutet für mich ganz vordergründig, auch die Rolle der Familie neu zu bestimmen. Es muß hier einfach einmal wiederholt werden - und ich denke, man kann das nicht oft genug sagen-, daß ein Kleinkind in den ersten drei Lebensjahren 50 % der gesamten Informationen seines Lebens aufnimmt. Das bedeutet: In diesen ersten drei Jahren lernt das Kind die sozialen Grundverhaltensweisen, und es lernt etwas ganz Wichtiges - anderenfalls lernt es dies nie -, nämlich die Liebe zu den Eltern, damit auch die Liebe zu sich selber und eine positive Grundeinstellung zur Zukunft. ({0}) Meine Damen und Herren, ich sagte, daß wir Abgeordneten aus den neuen Bundesländern in ganz besonderer Art und Weise die unseligen Erfahrungen aus dem unverantwortlichen Umgang mit der Natur und aus der Belastung des Menschen mit in diese Bundesrepublik eingebracht haben, auch mahnend und warnend. Man kann nicht - wie die Kollegin der PDS das getan hat - hier alles als positiv darstellen. ({1}) Einige positive Dinge muß man diskutieren - das hat übrigens die Bundesregierung auch getan -, z. B. ob man die Schwangerenberatung nicht zur Pflicht erklären könnte - das birgt aber Probleme, die man genauer untersuchen muß -, ob man nicht die Pflichtimpfung einführt, wie es sie bei uns gab. Da muß man wissen, daß es Risiken und Komplikationen und auch entsprechende Versorgungsfälle gibt. ({2}) - Ich rede ja nur über Erfahrungen, die wir mitbringen. Ein weiterer Punkt ist die Frage einer intensiven Betreuung - in welchem Rahmen auch immer - der Neugeborenen, der Säuglinge und der Kleinkinder in dem Alter, in dem sie ihr eigenes Immunsystem aufbauen, in dem sich die Körperfunktionen entsprechend entwickeln. Auch das ist etwas, was wir einbringen können. Wir können aber aus diesen manchmal doch alibihaften prophylaktischen Maßnahmen keine Rückschlüsse auf einen hohen Standard der Kindergesundheit ziehen. Das Paradebeispiel ist ja Bitterfeld. Sie wissen, daß nach Abschalten der alten, die Umwelt stark belastenden Anlagen ein drastisches Absinken der Zahl obstruktiver Atemwegserkrankungen zu verzeichnen war. Ich denke, wir werden noch eine ganze Reihe von Jahren darüber sprechen und besonders auf die Langzeitwirkung eingehen müssen. Auf der anderen Seite ist mir sehr wichtig, daß man verantwortungsvoll und dann auch auf dem Stand der Erkenntnisse über Leukämie-Cluster z. B. in der Umgebung von Kernkraftwerken spricht. Die Behauptung vom Kollegen Schmidt, in der Umgebung von Kernkraftwerken gäbe es wegen des Vorhandenseins dieser Anlagen eine erhöhte Rate von Leukämie, ist wissenschaftlich absolut unseriös. Ich kann Ihnen entgegenhalten - das können Sie auch für unseriös halten -: Ich habe sehr lange mitten im WismutGebiet in einer großen Kinderklinik gearbeitet, in einem Gebiet, in dem ohnehin eine sehr hohe natürliche Radioaktivität besteht, in dem durch jahrhundertelangen Bergbau die Radon-Konzentrationen in Häusern sehr hoch waren und zum Teil noch sind und viele andere Risikofaktoren auf die Kinder gewirkt haben. Dort haben wir seltsamerweise weniger Leukämiefälle gehabt. Man sollte also mit diesen Dingen sehr verantwortungsbewußt umgehen. Ich möchte noch auf ein weiteres Thema eingehen. Der Kollege Klinkert wird, glaube ich, auf die armselige Situation der Kinder im „schwarzen Dreieck" noch eingehen. Was tun wir eigentlich mit diesen Kindern? Was tun wir eigentlich mit jungen Frauen in Oberschlesien, die über eine Heiratsagentur Männer suchen - oder umgekehrt: Männer suchen Frauen -, die aus anderen Gebieten kommen, weil die Fehlgeburtenrate und die Mißbildungsrate so hoch sind, daß sie fast dem Stand im vorindustriellen Zeitalter entsprechen? Was machen wir mit den Kindern auf der böhmischen Seite, wo die Kraftwerke solche SO2Konzentrationen hervorrufen, daß man nicht einmal mehr in der freien Natur die Luft einatmen kann? Ich will, da die Zeit davonrennt, ein Allerletztes und mir sehr Wichtiges sagen. Ich glaube, daß unsere Diskussion auch ein bißchen scheinheilig ist. Für mich sind nach wir vor die häufigsten Ursachen für die Bedrohung der Gesundheit und für den Tod von Kindern der Hunger und die Unter- und Mangelernährung. Für mich sind nach wie vor der wichtigste Grund für die Bedrohung der Gesundheit die große Zahl an Geburtskomplikationen in den Entwicklungsländern, die akuten Infektionskrankheiten und viele andere Dinge, die auf mangelnder medzinischer und sozialer Betreuung beruhen. Da haben wir ein weites Aufgabenfeld. ({3}) - Nein. Ich sprach jetzt für mich. Ich bin sehr froh, daß Professor Töpfer auf der UNCED-Konferenz im letzten Jahr in Rio de Janeiro - der eine oder andere von Ihnen war ja auch dort - im Rahmen der Agenda 21, dieses sehr wichtigen Aktionsprogrammes, auch ein Kapitel unterstützt hat, das mir außerordentlich wichtig erscheint, nämlich den Punkt 6.1.3: Schutz und Förderung der menschlichen Gesundheit. Dort wird auf der Grundlage der UNO-Kinderkonvention detailliert auf die Bedrohungspotentiale bei Kindern, Jugendlichen und Frauen eingegangen. Wenn wir diese Agenda 21 im Rahmen der sich jetzt bildenden Arbeitsgremien weiterverfolgen und die Dinge auch national weiterentwickeln, können wir einen wichtigen Beitrag leisten, um global den Kindern eine glückliche Zukunft garantieren zu können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Parlamentarischer Staatssekretär, obwohl Ihre Eingangsbemerkung sehr freundlich war, war sie unzulässig. Nun hat als letzter Redner in der Debatte unser Kollege Ulrich Klinkert das Wort.

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Große Anfrage der SPD beginnt mit dem begrüßenswerten Satz: „Gesunde Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes." Dieser Satz stammt aus der Verfassung des Freistaates Bayern, und er ist - ebenso wie die Anfrage insgesamt - zu begrüßen, auch wenn diese Anfrage einige Suggestivfragen enthält. Herr Schily, Sie haben mit Ihren Ausführungen ja bewiesen, daß es Ihnen auch um Suggestives geht, wenn Sie behaupten, Ursache dafür, daß Umwelteinflüsse zu Lasten der Kinder zu verzeichnen sind, sei die Tatsache, daß unsere Gesellschaft übertechnisiert und überchemisiert ist. ({0}) Uns sollte es weniger darum gehen zu überlegen, ob wir übertechnisiert sind, sondern mehr darum, wie wir in der modernen Gesellschaft mit den Ressourcen haushalten können, um negative Umwelteinflüsse zu Lasten der Menschen und speziell der Kinder zu vermeiden. Überhaupt nicht anschließen kann ich mich den Ausführungen von Frau Wollenberger, dieser Aussteigermentalität, die ihren grünen Vorgängern hier im Parlament entspricht, die vielleicht auch deswegen diesem Parlament nicht mehr angehören. Im übrigen, Frau Wollenberger, sollten Sie mit den Ihnen über Ihr Mandat gegebenen Möglichkeiten vielleicht etwas verantwortungsbewußter umgehen und hier nicht auf Panikmache setzen. Frau Wollenberger, auch Panik macht krank. ({1}) Daran sollten Sie denken, wenn Sie von dieser Stelle aus der Öffentlichkeit panikmachende Äußerungen zur Kenntnis geben. ({2}) In Ihrer Anfrage versuchen Sie, ein ziemlich umfassendes Bild über Umwelteinflüsse und deren mögliche Auswirkungen auf die Gesundheit zu zeichnen. Diese Anfrage - das ist keine Kritik - kann natürlich nicht allumfassend sein. Auch ich möchte mich auf einige wenige Teilaspekte beschränken. Die Anfrage verdeutlicht, daß Aussagen über einen möglichen Zusammenhang zwischen der Beeinträchtigung der Gesundheit der Kinder und dem Zustand der Umwelt vielfach auf Vermutungen basieren, weil der Nachweis einer unmittelbaren Schädigung durch Umweltfaktoren nur schwer möglich ist. Es besteht nach wie vor erheblicher Forschungsbedarf, um hier weitere Erkenntnisse zu gewinnen. Lassen Sie mich ein Beispiel bringen. Es gab erwiesenermaßen in den letzten Jahren einen deutlichen Rückgang bei den Luftschadstoffen; gleichzeitig hat sich aber in den letzten sieben Jahren die Häufigkeit kindlicher Atemwegserkrankungen nicht verändert. Andererseits ist eine Zunahme der Zahl von Asthma-und allergischen Erkrankungen bei Kindern zu verzeichnen. Das kann man nicht automatisch mit wachsenden negativen Umwelteinflüssen erklären, sondern das ist eventuell auch ein Resultat wachsenden Gesundheitsbewußtseins und ein Resultat zunehmender medizinischer Möglichkeiten. Der Staat ist nicht nur berufen, über Forschung, wissenschaftliche Erkenntnisse und gesundheitliche Betreuung Auswirkungen bzw. deren Ursachen zu beseitigen, sondern er hat auch einen erheblichen Aufklärungsbedarf bei der Bevölkerung zu decken. Eine wesentliche Rolle bei der Gesundheit der Kinder spielen die Lebensgewohnheiten wie die Ernährung, aber auch das Passivrauchen, auf das an dieser Stelle vielfach hingewiesen worden ist. Ich behaupte, daß ein verqualmtes Wohnzimmer auf Dauer für die Gesundheit eines Kindes wesentlich schädlicher ist als die partielle Teilnahme am Straßenverkehr. Wie stellt sich die Situation in Deutschland dar? Aus Untersuchungsergebnissen der Jahre 1986 und 1989 ist zu erkennen, daß es keinen Trend in Richtung einer generellen Zunahme der Krankheitshäufigkeit bei Kindern gibt. Ich wies bereits darauf hin, daß andererseits die Häufigkeit bestimmter Erkrankungen zugenommen hat. Ob ein Zusammenhang mit Umweltbelastungen besteht oder nicht, kann in Deutschland zur Zeit nicht schlüssig bewiesen werden. Andererseits bietet uns die Tschechische Republik den statistischen Beweis des Zusammenhangs zwischen Umweltbelastungen und Erkrankungen von Kindern. Es wird oft behauptet, daß in Deutschland zuwenig getan wurde, um die Umweltbelastung zu reduzieren. Lassen Sie mich das an Hand von zwei Städten vergleichen. Die beiden Städte München und Prag liegen ungefähr 200 km voneinander entfernt. Während in München die SO2-Belastung im Jahre 1992 einen Höchstwert vom rund 150 µg/m3 Luft erreichte, lag der Maximalwert in Prag bei rund 1 500 µg/m3. Im Böhmischen waren es sogar über 2 000 µg/m3. Dies führte dazu, daß Kinder evakuiert werden mußten. Die Ergebnisse dort sind - statistisch nachweisbar -: eine geringere Lebenserwartung und eine wesentlich höhere Kindersterblichkeit. Andererseits liegen in Deutschland Erkenntnisse darüber vor, daß die Zahl psychosomatischer Beeinträchtigungen bei Kindern zunimmt. Als Ursache hierfür sind nicht bewältigte Konfliktsituationen in Familie, Schule und Freizeit anzusehen. Ein besseres umweltmedizinisches Wissen wird es ermöglichen, in vielen Teilbereichen sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Nach heutigen Erkenntnissen führen Umweltbelastungen in der Regel nicht zu typischen Umwelterkrankungen, sondern sie sind vielmehr als Risikofaktoren für unterschiedliche Erkrankungen im allgemeinmedizinischen Bereich anzusehen. Eine flächendeckende Statistik zur Häufung beispielsweise von Atemnotserkrankungen liegt in der Bundesrepublik zur Zeit noch nicht vor. Aber es kann davon ausgegangen werden, daß gerade die Grenzregionen unseres Landes in besonderem Maße gefährdet sind. Denn dort, wo der Wald stirbt, besteht natürlich die Gefahr - und für mich die Gewißheit -, daß die Gesundheit der Kinder - beispielsweise durch das SO2 aus dem berühmten „schwarzen Dreieck" - in besonderer Weise beeinträchtigt ist. Die Quote der Luftverunreinigungen durch Schwefeldioxid und Schwebstaub, die zur Reizung der Atemwege führen, ist in den vergangenen Jahren in Deutschland deutlich zurückgegangen. Eine Zunahme von Atemwegserkrankungen von daher ist eher unwahrscheinlich. Der statistische Beweis liegt vor, daß in letzter Zeit eine konstante Rate dieser Atemwegserkrankungen erreicht wurde, während man normalerweise gerade in Deutschland davon ausgehen müßte, daß es zu einem deutlichen Rückgang gekommen wäre. Auch hier besteht weiterer Forschungsbedarf, um herauszufinden, wo die Ursachen dafür liegen. Weitere Vorhaben der Bundesregierung bestehen darin, Erkenntnisse über die Auswirkung elektromagnetischer Strahlungen, über Elektrogeräte im Haushalt und beispielsweise über die Auswirkungen ionisierender Strahlung durch Computer zu sammeln. Lassen sie mich an dieser Stelle sagen, daß ich die ionisierende Strahlung durch Computer für nicht so gravierend und für nicht so schädlich ansehe wie - gerade bei Kindern - die Auswirkungen im psychischen Bereich, die von Computern ausgehen können. Es werden Möglichkeiten untersucht, auch den Verkehrslärm zu reduzieren. Aber die Lärmbelästigungen für Kinder und Jugendliche beschränken sich nicht nur auf den Verkehrslärm, sondern ein ganz besonderes Kapitel ist hier der Freizeitlärm. Hier gilt es auch wieder, helfend und aufklärend gegenüber Kindern und Jugendlichen zu wirken. Herr Schily hat angemahnt, daß in letzter Zeit durch die Vorhaben der Bundesregierung wenig Raum für träumende und spielende Kinder geschaffen wurde. Dies, meine Damen und Herren, ist nicht nur davon abhängig, ob durch ein Wohngebiet mit 30 oder 50 Stundenkilometern gefahren wird, sondern diesen Raum zu schaffen ist in erster Linie Aufgabe der Eltern. Wenn wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt ins Wochenende gehen, dann bin ich davon überzeugt, daß wir uns mit umweltgerechten Verkehrsmitteln zu unseren Wohnorten begeben werden. Frau Wollenberger, Sie haben beklagt, welche großen Schäden im Gesundheitsbereich durch das immer größer werdende Ozonloch entstehen. Ich nehme an, daß Sie nicht das ozonzerstörende Verkehrsmittel Flugzeug benutzen werden, um nach Hause zu kommen. Herr Lennartz, Sie haben sehr eindrucksvoll Ihren Spaziergang mit einem neunjährigen Kind geschildert, das aus Atemnot nicht mehr weitergehen konnte. Ich nehme an, daß Sie am Wochenende auf den Ihnen als Landrat zustehenden schweren Dienstwagen verzichten werden. ({3}) Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Es ist beantragt worden, die Entschließungsanträge der Fraktion der SPD und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 12/4914 und 12/4931 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Gesundheit und zur Mitberatung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie an den Ausschuß für Frauen und Jugend zu überweisen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Meine Damen und Herren, ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, 26. Mai 1993, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.