Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich wünsche einen guten Morgen. Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0})
a) zu dem Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung"
b) zu dem Endbericht der Enquete-Kommission „Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung"
- Drucksachen 11/2495, 11/7200,
12/4485 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Bruno Menzel
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Klaus Kirschner, Dr. Ulrich Böhme ({1}), Peter Büchner ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Umsetzung der Empfehlungen der EnqueteKommission „Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung" des 11. Deutschen Bundestages durch die Bundesregierung
- Drucksachen 12/1160, 12/2344 Zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Gesundheit liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Nach unserer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch; dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner spricht der Kollege Dr. Hans-Peter Voigt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute den Entschließungsantrag zum Zwischen- und Endbericht der Enquete-Kommission „Gefahren von Aids und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung". Beide Berichte sind im Laufe der letzten Wahlperiode mit einer Reihe von Empfehlungen dem Deutschen Bundestag übergeben worden.
Die Enquete-Kommission wurde eingerichtet, weil durch eine kontroverse öffentliche Diskussion das Thema Aids breite Teile der Bevölkerung verunsicherte. Eine neue Krankheit mit bis dahin unbekannten Übertragungswegen füllte zu jenem Zeitpunkt die Schlagzeilen. Viele gerufene und ungerufene Experten meldeten sich zu Wort und versuchten, mit Halbwissen und gezielten Desinformationen die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie erreichten damit eine Verunsicherung der Bevölkerung, wie wir sie im Zusammenhang mit einer Krankheit in den letzten Jahrzehnten nicht mehr erlebt hatten. Aids wurde zu einem Politikum.
In dieser Vielfalt verwirrender Stimmen hatten es die Mahner aus dem Bereich der seriösen Wissenschaft, die wirklich kenntnisreichen Ärzte und Sozialwissenschaftler, schwer, sich Gehör zu verschaffen.
Ich glaube, es ist der Enquete-Kommission gelungen, durch sachliche Arbeit, durch Einbinden des Sachverstandes aus den verschiedensten Wissenschaftsbereichen deutlich zu machen, welche Strategie zur Bekämpfung, Eindämmung, Linderung und Behandlung von HIV und Aids für die Zukunft sinnvoll und erfolgversprechend ist.
Während der Arbeit der Enquete-Kommission gab es eine enge Kooperation der Länder und der Bundesregierung mit der Enquete-Kommission. So wurden die Aussagen und Stellungnahmen Betroffener, in der Prävention und Betreuung engagierter Laien, auf die HIV-Infektion und Aids spezialisierter Ärzte und der gesamten Wissenschafts-Community schnell in politisches Handeln umgesetzt.
Als Fazit läßt sich feststellen, daß alle damals im Bundestag vertretenen Parteien die Überzeugung teilten, daß der Prävention eindeutig Vorrang vor restriktivem staatlichem Handeln einzuräumen sei. Der Enquete-Bericht bestätigt in vielen einzelnen Punkten die Politik der Bundesregierung und der Länder im Umgang mit der HIV-Infektion und der Krankheit Aids.
Ich bin fest davon überzeugt, daß die massenmediale Aufklärung in Kombination mit der zielgruppenspezifischen Prävention und der Strategie, möglichst
Dr. Hans-Peter Voigt ({0})
viel personale Kombination, persönliche Gespräche im Bereich der Hauptbetroffenen zu organisieren, dazu geführt hat, daß wir im Vergleich mit anderen Ländern niedrigere Zuwachsraten bei den Neuinfektionen haben.
Die Analysen der Präventionsmaßnahmen des letzten Jahrzehnts zeigen eindeutig: Der größte Erfolg ist dort zu erzielen, wo es gelingt, die Kompetenz von Laien durch die Organisation von Selbsthilfegruppen einzubinden, wo die Kommunikationsstrukturen der jeweiligen Betroffenengruppen genutzt werden, wo die Verhütungsbotschaften und die Präventionsinhalte in der Sprache der jeweiligen sozialen Gruppen vermittelt werden.
Wenn ich die Zuwachsraten aus dem Jahre 1992 mit denen von 1987 vergleiche, kann ich feststellen, daß in der Bundesrepublik Deutschland die Zuwachsraten pro Jahr an Aidsfällen etwa gleichgeblieben sind, während sie sich in der Schweiz, in Frankreich und in Spanien verdoppelt haben. In Italien sind sie sogar um das Dreifache gestiegen.
Derartige Zahlen dürfen nicht dazu führen, daß man sich auf den Ergebnissen ausruht; aber sie belegen, daß die Bundesrepublik Deutschland in ihrem Präventionsansatz richtig gelegen hat und einen erfolgversprechenden Weg gegangen ist.
Ich möchte mich in meinen Ausführungen auf die Prävention und auf das Thema „Aids und die Dritte Welt" konzentrieren. Zu Fragen des Krankheitsbildes und dem Problem HIV-infizierter Bluter wird mein Kollege Herr Dr. Altherr sprechen.
Erstens. Zur Prävention bei Heterosexuellen: In der Vergangenheit hat in der ärztlichen Praxis so gut wie keine Präventionsarbeit, bezogen auf HIV und Aids, stattgefunden. Die normale ärztliche Praxis ist stark im kurativen Bereich engagiert; Gesundheitsförderungsmaßnahmen spielen eine untergeordnete Rolle. Hier sehe ich einen sehr wichtigen Ansatzpunkt. Die Bundesärztekammer ist aufzufordern, verstärkt Weiterbildungsmaßnahmen anzubieten, durch die der Arzt motiviert wird, Gespräche über die Verhütung von HIV-Infektionen mit seinen Patienten zu führen.
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Der Arzt muß den Menschen deutlich machen, daß sie eine Eigenverantwortung für ihre Gesundheit, für ihr zukünftiges Leben und das ihrer Partner und für die Abwehr von Gefahren tragen. Der Arzt muß lernen, den Sextouristen anders anzusprechen als den bisexuellen Mann, die Alleinstehenden oder die vorübergehend getrennt Lebenden.
Zweitens. Prävention bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen: Die HIV-Prävention in den Bereichen Schule, Berufsschule, außerschulische Jugendarbeit, Arbeitswelt sowie Bundeswehr und Zivildienst muß in eine ganzheitliche Gesundheitsförderungsstrategie, bei der Aids nur eines von vielen Themen ist, eingebunden werden. Jugendliche sind heute stark verunsichert. Obwohl sie durch Aids nicht mehr gefährdet sind als ältere Menschen, werden sie häufig zur Hauptbetroffenengruppe erklärt.
Dem jungen Menschen sollte zunächst eine an der Realität orientierte Beschreibung der echten Bedrohung gegeben werden, um einer diffusen Aidsangst entgegenzuwirken. Bei der Information über die Übertragungswege einer HIV-Infektion und über ein angemessenes Vermeidungsverhalten müssen auch die grundsätzlichen Probleme angesprochen werden, die gerade junge Menschen bei der Gestaltung der Sexualität haben.
Drittens. Prävention bei Frauen: Die deutliche Zunahme der Zahl von mit HIV infizierten Frauen in den letzten Jahren - nicht nur in der Bundesrepublik, sondern weltweit - rechtfertigt besondere Präventionsstrategien für Frauen. Sie sind allerdings mit besonderer Behutsamkeit zu entwickeln. Es muß der Eindruck vermieden werden, daß Frauen zu einer neuen Hauptbetroffenengruppe erklärt werden, daß neue Diskriminierungsstrategien entstehen.
Viertens. Prävention in den neuen Bundesländern: In den jungen Bundesländern ist die epidemiologische Situation noch sehr günstig. Wir müssen große Anstrengungen unternehmen, um die Ausbreitung von HIV-Infektionen zu verhindern. Arbeitslosigkeit, Angst, Unsicherheit, Unzufriedenheit und Aggressivität können leicht zum Motor eines nicht gewollten Anstiegs der Zahl von HIV-Infektionen werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme jetzt zu einem weiteren, in meinen Augen sehr wichtigen Teil des Berichts der Enquete-Kommission, der leider in der letzten Zeit wenig Beachtung gefunden hat, von dem ich aber glaube, daß er uns in Zukunft ganz entscheidend beschäftigen wird: Es geht um HIV und Aids in der Dritten Welt. Die Anstrengungen zur Bekämpfung von HIV und Aids in den betroffenen Regionen der Dritten Welt müssen auch in Zukunft fortgesetzt und intensiviert werden. Wir müssen uns heute die Frage stellen: Welche zusätzlichen Maßnahmen müssen wir ergreifen, welche Denkansätze für unsere bisherige Strategie müssen wir überarbeiten, um in den Ländern der sogenannten Dritten Welt erfolgreicher gegen Aids vorgehen zu können?
Aids und seine Ausbreitung haben zutiefst und fundamental etwas mit den gesellschaftlichen Bedingungen zu tun, in denen die gefährdeten Gruppen von Menschen leben: Ungerechtigkeit, Benachteiligung, mangelnde Bildung und Armut sind Promotoren der Pandemie. Zu einer gesellschaftlich benachteiligten Gruppe oder am Rande stehenden Gruppe zu gehören erhöht das Risiko einer HIV-Infektion und mangelnder Fürsorge bei einer Aidserkrankung.
Durch Aids ist uns allen deutlich gemacht worden, wie eng der Zusammenhang zwischen Gesundheitspolitik und anderen Politikbereichen gesehen werden muß, welche Ursachen die Ausbreitung einer Epidemie - auch im 20. Jahrhundert, in dem man glaubte, Infektionskrankheiten beherrschen zu können - begünstigen und fördern.
Wir alle mußten erkennen - jeder auf seinem Gebiet: der Politiker, der Wissenschaftler, der Arzt, der Erzieher -, daß wir ein gemeinsames Vorgehen entwickeln müssen. Keiner wird allein erfolgreich sein, allein in seiner Fachdisziplin, in seiner Kultur, in seinem Land und in seiner von eigenen Traditionen geprägten Region. Länder- und fächerübergreifende
Dr. Hans-Peter Voigt ({2})
Kooperation ist der Schlüssel für ein gemeinsames erfolgreiches Vorgehen in der Zukunft.
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Wir müssen dem Grundsatz, daß Gesundheit ein Menschenrecht ist und kein Privileg, zum Durchbruch verhelfen. Das ist nur durch eine Allianz aller Kräfte möglich, die sich darum bemühen, den Menschen in den Entwicklungsländern zu echter Selbstbestimmung zu verhelfen.
Einige Bemerkungen zur Situation, zur Pandemie. Im Jahre 1992 hat die Weltgesundheitsorganisation errechnet, daß zwischen zehn und zwölf Millionen Erwachsene und eine Million Kinder durch HIV infiziert und über zwei Millionen Menschen an Aids erkrankt sind, seitdem diese Epidemie Ende der siebziger Jahre begonnen hat.
Afrika ist nach wie vor der am härtesten betroffene Kontinent mit über sieben Millionen Infektionen unter der Erwachsenenbevölkerung; davon entfallen 6,5 Millionen Infektionen auf die Lander südlich der Sahara. Da das Virus in dieser Region primär durch den Sexualkontakt zwischen Mann und Frau übertragen wird, haben wir etwa gleich hohe Anteile der Infizierten bei beiden Geschlechtern.
In Ost-, Zentral- und Südafrika sind in einigen städtischen Zentren bereits ein Viertel bis ein Drittel aller Erwachsenen zwischen 15 und 49 Jahren infiziert. In vielen Städten erwartet man, daß sich die Todesrate innerhalb der sexuell aktiven Bevölkerung im Laufe der neunziger Jahre verdreifachen wird.
In Lateinamerika erfolgt die Übertragung von HIV ebenfalls primär durch heterosexuelle Kontakte. In dieser Region gibt es bereits heute über eine Million Infektionen in der Erwachsenenbevölkerung. Die Entwicklung in Brasilien und in der Karibik ist in hohem Maße beunruhigend.
Die am meisten beunruhigende Entwicklung wird im Augenblick in Süd- und Südostasien beobachtet, wo sich die Epidemie ähnlich schnell entwickelt wie vor zehn Jahren in den Ländern südlich der Sahara. Weit über eine Million Erwachsene sind in dieser Region bereits infiziert, die meisten von ihnen in Thailand, Indien und Burma. Auch hier wird das Virus vor allem durch heterosexuelle Kontakte übertragen, obwohl auch der Drogengebrauch in einigen Gebieten, vor allem im sogenannten goldenen Dreieck, eine große Rolle spielt.
In Anbetracht der Geschwindigkeit, mit der sich die Infektion ausbreitet, und der Bevölkerungsdichte in diesem Teil der Welt zeigen die Vorausschätzungen der Weltgesundheitsorganisation, daß gegen Ende der neunziger Jahre mehr Asiaten pro Jahr neu infiziert werden als Afrikaner.
Einige Bemerkungen zu den Auswirkungen. Schon heute ist die Situation, bezogen auf die Versorgung der an Aids Erkrankten in den Entwicklungsländern - besonders in Afrika -, dramatisch. Die finanziellen Unterstützungen und Haushaltsmittel sind ebenso wie die Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems bei weitem überfordert. In den Ländern südlich der Sahara gibt es Krankenhäuser, die zu 70 % mit Aidspatienten belegt sind. Die Kosten für eine Behandlung von Aids liegen bei 100 Dollar, wenn wenig Therapeutika und wenig Fürsorge angeboten werden; bis zu 100 000 Dollar, wenn eine der modernen Medizin entsprechende Behandlung durchgeführt werden soll. Es ist leicht nachzuvollziehen, daß diese Mittel in keinem Land dieser Region zur Verfügung stehen.
Dieses sind die direkten Kosten der Krankheit. Darüber hinaus sind die sozialen und ökonomischen Kosten und Folgen dieser Krankheit zu bedenken. Aids betrifft vor allem die jüngeren und mittelalten Erwachsenen, die zu den produktivsten Kräften innerhalb der Bevölkerung zu rechnen sind. Das sind die Menschen, die als Haupternährer für die Familie gelten, die die Säulen der Gesellschaft sind, die am meisten bereit und in der Lage sind zu arbeiten.
In den Entwicklungsländern bedeutet soziale Sicherheit nicht die Finanzierung durch den Staat, sondern bedeutet, genug Menschen innerhalb der Familie zu haben, die für diese Familie arbeiten, um Lebensunterhalt und Wohnung sicherzustellen. Aids zerstört diese Strukturen mit verhängnisvollen Folgen, von denen somit auch viele Millionen Menschen getroffen werden, die nicht infiziert sind. Die Großfamilien verlieren die Wurzeln ihres Lebens, wenn der Vater oder die Mutter an den Folgen von Aids sterben - und meistens sterben beide etwa zur gleichen Zeit. So sind bereits zwei Millionen Kinder zu Aidswaisen geworden. Weitere acht Millionen Kinder werden bis zum Ende dieses Jahrhunderts folgen.
Ältere Menschen, die ihre erwachsenen Kinder durch Aids verloren haben, müssen den Rest ihres Lebens in Armut und ohne Fürsorge materieller und menschlicher Art verbringen. Sehr häufig haben sie noch die Waisen ihrer eigenen Kinder zu versorgen. Dadurch wird das Familienleben völlig verändert, verbunden mit Unruhe, Unsicherheit und der Aufhebung gewachsener traditioneller sozialer Bindungen.
Durch den Tod von Millionen Erwachsener wird die Gesellschaft nicht nur im kleineren familiären Bereich getroffen. Es werden darüber hinaus die politischen Strukturen verunsichert und ihrer Führungskräfte beraubt. Wichtige Produktivkräfte, die in der Lage gewesen wären, durch ihre Arbeitskraft den niedrigen Wohlstand zu mehren, werden aus diesem Entwicklungsprozeß herausgerissen.
Lassen Sie mich einige Bemerkungen zu den Ansätzen machen, die wir unterstützen können und von denen ich glaube, daß man durch sie dieser schrecklichen Pandemie begegnen könnte.
Erstens. Die Erfahrungen der letzten Jahre mit Präventionsstrategien unter der Führung der WHO haben gelehrt, daß eine der wichtigsten Voraussetzungen für die HIV-Prävention darin besteht, Safer Sex zu praktizieren. Die Menschen müssen aber auch auf die Gefahren anderer sexuell übertragbarer Krankheiten aufmerksam gemacht werden. Die Vermeidung dieser Krankheiten muß nach meiner Überzeugung zu einem wichtigen Schwerpunkt der jeweiligen Gesundheitssysteme werden. Außer Herpes sind alle anderen sexuell übertragbaren Krankheiten leicht zu diagnostizieren und nicht nur behandelbar, sondern mit Antibiotika auch heilbar. Wir wissen
Dr. Hans-Peter Voigt ({4})
heute, daß diese sexuell übertragbaren Krankheiten die HIV-Übertragung erleichtern, und zwar um einen Faktor zehn gegenüber der Situation, bei der wir eine bessere gesundheitliche Ausgangssituation haben, nämlich bezüglich der Transmissionsrate in den Industrieländern.
Zweitens. Aus den Erfahrungen der letzten Jahre haben wir gelernt, daß die personale Kommunikation, d. h. die Vermittlung von Information und Aufklärung über Aids durch persönliche Ansprechpartner, eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine erfolgreiche und zeitstabile Verhaltensänderung ist. Ein Projekt, das in Simbabwe durchgeführt worden ist, bestätigt genau diese Erfahrungen, die auch in den westlichen Industrieländern gemacht worden sind. Bei diesem Projekt in Simbabwe wurden Sexarbeiter, Schauspieler und Musiker als Multiplikatoren für die Gesprächsführung über HIV und Aids geschult. Sie gingen dann hinaus und haben versucht, ihre Erkenntnisse in persönlichen Gesprächen anderen Menschen in ihrem persönlichen und beruflichen Umfeld zu vermitteln. Der Erfolg war außergewöhnlich stark. Es nahm nicht nur die Kenntnis über HIV und Aids zu, sondern 90 % der weiblichen Prostituierten benutzen seitdem Kondome bei ihrer Arbeit.
Drittens. Durch die Organisation von Selbsthilfegruppen in den betroffenen Ländern der Dritten Welt binden wir in die Präventionsarbeit Menschen ein, die in der gleichen kulturellen Umgebung aufgewachsen sind, die die gleiche Sprache sprechen, die die Riten und Gebräuche kennen, die die Wünsche an die Lebenshaltung kennen, die eben aus dem gleichen sozialen Umfeld kommen, in dem die Menschen leben, die angesprochen werden sollen. In Uganda gibt es hierfür erfolgreiche Beispiele.
Viertens. Lassen Sie mich zum Schluß noch den Zusammenhang zwischen der Aidsbekämpfung und der Familienplanung in der Dritten Welt aufzeigen. Aus vielen Bemerkungen haben Sie entnehmen können, wie einschneidend die HIV-Infektion und die daraus resultierende Aidserkrankung für die soziokulturellen Strukturen und die Familienstrukturen in den betroffenen Ländern sind. Es wird damit deutlich, daß alle Maßnahmen, die im Zusammenhang mit Bevölkerungspolitik und Familienplanung ergriffen werden, mit den Maßnahmen gegen Aids und dem Aufbau von soliden Gesundheitsstrukturen abgestimmt werden müssen.
Familienplanung in der Dritten Welt und Aidsprävention müssen den Menschen das Rüstzeug vermitteln, mit dem eigenen Körper, mit der Gesundheit umgehen zu lernen. Der wichtigste Gesprächspartner dabei ist die Frau, die zu Selbständigkeit, Bildung und Eigenverantwortung geführt werden muß.
Ihr muß vermittelt werden, daß HIV-Infektion und Aids durch Sexualkontakte übertragbare todbringende Krankheiten sind, daß HIV von der Mutter auf den Fötus und das Kind übertragbar ist, daß die Gefahr, infiziert zu werden, wesentlich größer ist, wenn die Sexualpartner bereits durch andere sexuell übertragbare Krankheiten vorgeschädigt sind, daß bei einer großen Zahl von Geburten ohne vernünftigen Abstand die Gesundheit der Mutter und ihre Abwehrkräfte stark geschädigt sind, daß das persönliche
Wohlergehen durch eine große Zahl von Kindern gefährdet ist und daß Risikoschwangerschaften und ungewollte Schwangerschaften für ihre Gesundheit gefährlich sind.
Ich denke, wir sollten gemeinsam darüber nachdenken, ob wir nicht durch Umschichtung unserer Haushaltsmittel im Etat für die Entwicklungshilfe wesentlich mehr für die Aktivitäten, die diesen vier von mir zitierten Punkten entsprechen, zur Verfügung stellen.
Viele dieser Überlegungen nimmt eine Resolution auf, die anläßlich der 2. Internationalen Aids-EthikKonferenz als Folgekonferenz in Bonn am 10. und 11. September 1992 verabschiedet worden ist. Diese Konferenz stand unter der Schirmherrschaft des Bundeskanzlers, der zu Beginn der Konferenz sein Engagement für die betroffenen Länder selbst deutlich gemacht hat. In dieser Resolution heißt es - damit möchte ich schließen -:
Aids ist eine Krankheit, die keine Grenzen kennt. Aids betrifft alle und fordert auch alle zu internationaler Solidarität und Mithilfe heraus. Die bisherigen Entwicklungshilfeleistungen werden durch Aids gefährdet und sind zum Teil bereits zerstört. Eine weitere Destabilisierung der Weltgemeinschaft ist zu erwarten. Die Zusammenarbeit in der Entwicklungshilfe muß zur Erhaltung der Sozialstrukturen beitragen. Wirtschaftliche Strukturanpassungsprogramme dürfen bestehende Einrichtungen der Gesundheitsfürsorge und -erziehung nicht stören. Der Kampf gegen Aids ist nicht möglich ohne eine alle Sektoren übergreifende Entwicklungsarbeit. Die Regierungen der G-7- und der EG-Länder sollten erkennen, daß es ein ethischer Imperativ ist, die Entwicklungsländer zu unterstützen und ihnen zu helfen, daß globale Solidarität dringend gefordert ist. Aids ist sowohl für die Industrie- als auch für die Entwicklungsländer eine Herausforderung.
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Als nächste spricht die Kollegin Antje-Marie Steen.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als die Kommission 1987 ihre Arbeit aufnahm, war die Erwartung daran geknüpft, durch eine detaillierte Bestandsaufnahme, durch Bewertungen und Empfehlungen die Öffentlichkeit über Risiken und wirksame Wege zur Eindämmung von Aids zu informieren. Auf die Gefahr, daß aus einem Klima von Angst und Panik unangemessene Reaktionen für die Betroffenen erfolgen könnten, hat die Kommission mit einem umfangreichen Maßnahmenkatalog geantwortet, dessen Umsetzung in Modellprogrammen, aber auch in verschiedenen Kampagnen stattgefunden hat.
Ich möchte diese Gelegenheit hier nutzen, den Mitgliedern der Enquete-Kommission den Dank der SPD-Fraktion für die von ihnen geleistete Arbeit auszusprechen. Durch ihre Arbeit ist ein wichtiger Beitrag zur Enttabuisierung gesellschaftlicher Bereiche wie Homosexualität, Drogenabhängigkeit, ProstiAntje-Marie Steen
tution, ja insgesamt des Themas Sexualität geleistet.
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Allerdings muß man mit Erschrecken wieder zur Kenntnis nehmen, daß mit der Zunahme von Ausschreitungen gegenüber Ausländern auch die sogenannten Randgruppen ins Visier von Hetz- und Verfolgungskampagnen geraten. Das trifft neben Behinderten Schwule und Aidskranke. So die Überschrift einer Berliner Zeitung: „Gewalt gegen AIDS-Kranke in Berlin hat zugenommen." Die Selbsthilfeorganisation Mannometer stellt fest: 211 Fälle von Gewalt gegen Schwule, darunter zahlreiche HIV-Positive.
Sollte es mit der Akzeptanz und der Toleranz gegenüber Kranken und Infizierten doch nicht so weit gediehen sein, wie wir es uns wünschen? Um so intensiver und deutlicher müssen wir für das Verständnis in bezug auf HIV-Infizierte und Aidskranke eintreten. Sie sind nicht gefährlich, sie sind gefährdet. Sie brauchen unsere uneingeschränkte Solidarität.
Über eine Modellförderung in Zusammenarbeit mit den Ländern, mit Institutionen und besonders mit Selbsthilfegruppen ist eine Umsetzung der Empfehlungen versucht worden. Über Inhalte und Wirkung dieser Programme mag es unterschiedliche Meinungen geben; ich möchte aber für die SPD-Fraktion ausdrücklich betonen, daß wir diese Maßnahmen sehr begrüßt und auch unterstützt haben. Nur so war es möglich, relativ schnell und unproblematisch den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern ihren Problemen entsprechende Hilfe anzubieten. Diese Programme haben auch den Kenntnisstand über medizinische Fortschritte vergrößert und die Innovation für Forschung und Alternativen für neue Pflege- und Betreuungsformen ausgelöst.
Allerdings bedauern wir das schnelle und oft vor Abschluß erfolgte Ausscheiden aus den Modellversuchen außerordentlich. Das hat in vielen Fällen zu Verzögerungen geführt, weil die Anschlußfinanzierung durch Länder und andere Träger nicht zu leisten war.
Problemfelder, deren Auswirkungen zum Zeitpunkt der Erstellung des Berichtes noch nicht genau abschätzbar waren, die aber inzwischen an Gewicht gewonnen haben, haben uns dazu geführt, einen eigenen Antrag zu formulieren. Um gleich einen wichtigen Aspekt aufzugreifen: Es erscheint uns nötig, die Aufklärungsarbeit als präventive Maßnahme dergestalt zu stärken, daß Aufklärungsmaterial über die Hauptbetroffenengruppen hinaus in Sprache und Form andere Betroffene erreicht. Hier darf es keine erneute Tabuisierung geben. Wir haben das bereits bei einem Plakat erlebt. Ich verweise auf unseren Antrag, der detailliert darauf eingeht.
In ihrer hervorragenden Arbeit sollten die Deutsche Aids-Hilfe und die Selbsthilfegruppen weiterhin im gleichen Umfang unterstützt werden.
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Zu bedauern ist die restriktive Mittelausstattung durch die Bundesregierung, eine Ausstattung, die trotz der erweiterten Aufgabenstellung in den neuen Bundesländern keine zusätzliche Beitrags- und Mittelerhöhung erfahren hat, obwohl man weiß, daß z. B. im Bereich der drogenkranken HIV-Infizierten eine Zunahme der Beratungsarbeit erforderlich ist. Wenn diese Arbeit nicht genügend unterstützt wird, sind die Betroffenen nicht mehr zu erreichen und ohne kompetente Hilfe.
Drogenabhängige und Frauen überwinden nicht die Hemmschwelle, die nun einmal Ärzte und Behörden für sie darstellen. Daher sind aufsuchende und niederschwellige Beratungs- und Sozialisierungsangebote, wie sie durch die Deutsche Aids-Hilfe und die Selbsthilfegruppen geleistet werden, unersetzlich. Ihre engagierte Arbeit hat entscheidend bewirkt, daß in den neuen Bundesländern eine epidemiologisch günstige Entwicklung der Infektionsrate zu verzeichnen ist.
Ein Schwerpunkt sind HIV-infizierte und Aids-erkrankte Frauen, die in sehr jungen Jahren erkranken und auf Grund ihrer kurzen Berufstätigkeit schneller verarmen und zu verelenden drohen, unter ihnen sehr viele Alleinerziehende, deren Kinder eine ungewisse Zukunft haben. Das Heranwachsen dieser Kinder steht unter der Bedrohung des baldigen Verlustes der Mutter.
Wir begrüßen sehr, daß die Modelle „Frauen und Aids" sowie „Aids und Kinder" noch über den ursprünglichen Zeitpunkt hinaus gefördert wurden.
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Die Zahl der infizierten Frauen hat sich allerdings von 91 im Jahre 1985 bis 1992 auf 7 600 erhöht. Eine dramatische Zunahme ist bei den Frauen zu verzeichnen, die keiner der sogenannten Risikogruppen zugeordnet sind und deren Infektion auf heterosexuelle Kontakte zurückzuführen ist.
Da HIV-Infektion und Aidserkrankung überwiegend mit Homosexualität in Zusammenhang gebracht und als Hauptrisiko ausgemacht wurden, haben sich auch Prävention und Betreuung auf Homosexuelle ausgerichtet, also auf Männer und deren Lebens- und Verhaltensmuster. Es gibt aber sehr deutliche Unterschiede zur Situation der Frauen. Frauen erleben ihr „Positivsein" im Bereich der Wahrnehmung, der Sexualität und der Verantwortung für Kinder anders. Sie ziehen sich eher zurück, sie vereinsamen. Sie haben große Ängste vor der Stigmatisierung und der Entdeckung, die für ihre Kinder ebenfalls eine gesellschaftliche Ablehnung nach sich ziehen.
Beratungsstellen berichten, daß sie diese infizierten Frauen häufig erst erreichen, wenn diese im Vollbild Aids sind. Diese Frauen meiden die Beratungs- und Informationsstellen, die ansonsten von Prostituierten und Drogenabhängigen aufgesucht werden. Ihre Isolation nimmt mit dem Umstand ihrer Lebenssituation zu.
Wir halten es für unabdingbar, daß .aus dem Abschlußbericht des Modellprojektes „Frauen und Aids" neue Konsequenzen zu ziehen sind, die wir im Entschließungsantrag formuliert haben. Wir brauchen eine ausreichende Zahl von Rehabilitationsplätzen,
bei denen auch Kinder mitgebracht werden können. Aus der epidemiologischen Entwicklung der heterosexuell bedingten Infektionen ist zu schließen, daß die Zahl der aidskranken Frauen steigt und somit erheblicher Betreuungs- und Versorgungsbedarf für diese Frauen, aber auch für einen erheblichen Teil der Kinder besteht. Eine enge Kooperation der medizinischen und psychosozialen Dienste sowie die Vermittlung spezieller Hilfen können die Isolation der Frauen aufbrechen und das „Positivsein" erträglicher werden lassen.
So wie sich das Krankheitsbild der Frauen von dem der Männer unterscheidet, so unterschiedlich ist das der Kinder von dem der Erwachsenen. Aus dem Modellprojekt „Aids und Kinder" sollte nach Abschluß geprüft werden, inwieweit weiterer Handlungsbedarf besteht.
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Gerade Kinder erleben ihre Krankheit als stark isolierend, ausgrenzend in Kindergarten und Schule und einschränkend in der Teilhabe am kindlichen Spiel und in der Freizeit. Ihnen muß eine lebensbejahende Entwicklung möglich sein.
Drogenabhängigen Frauen, besonders stark HIVgefährdet, muß über das jetzt bestehende Maß hinaus Substitution möglich sein. Nicht erst der Ausbruch der Krankheit bei Schwangerschaft sollte Anlaß für eine Ausstiegsbehandlung sein, auch nach der Geburt ist dieses Angebot aufrechtzuerhalten.
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Die Zugangsvoraussetzungen für die Teilnahme an Substitutionsbehandlungen sind so zu verändern, daß niederschwellige und im Rahmen der Therapiefreiheit durch den Arzt entschiedene Ersatzbehandlungen durchgeführt werden können.
Eine Änderung des Betäubungsmittelgesetzes, die weitgehend zur Entkriminalisierung und zur gesundheitlichen und sozialen Stabilisierung der Betroffenen führt, wird von uns gefordert.
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Das gilt natürlich für alle Drogenkranken, um präventiv das HIV-Risiko zu mindern. Deshalb unterstützen wir die Bemühungen um neue Erkenntnisse und Methoden bei der Substitutionstherapie.
In diesem Zusammenhang gibt es auch einen Regelungsbedarf hinsichtlich des Zeugnisverweigerungsrechtes für ehrenamtliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Aids-Beratungsstellen. Es darf bei der Zubilligung des Zeugnisverweigerungsrechtes keinen Unterschied zwischen kompetenter Laienarbeit und sogenannten Berufsgeheimnisträgern geben.
({6})
Es gibt übrigens Fälle, in denen gegen ehrenamtliche Mitarbeiter Ermittlungsverfahren wegen Strafvereitelung eingeleitet wurden.
Die Enquete-Kommission wendet sich gegen eine Benachteiligung von HIV-Infizierten bei der Einstellung in den öffentlichen Dienst und fordert vom Bundestag eine Klarstellung des Beamtenrechtsrahmengesetzes. Es scheint ständige Verwaltungspraxis des Freistaates Bayern zu sein, von Beamtenbewerbern einen HIV-Test zu verlangen und im Falle positiver Ergebnisse den Zugang zu verwehren. Angesichts der unverändert bestehenden Diskriminierung von Schwulen und Lesben ist also eine Änderung im Sinne des Antrages vorzunehmen.
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Wir begrüßen sehr die Empfehlungen der EnqueteKommission zu Prävention und Tourismus, vor allem die Forderung nach einer Strafverfolgung deutscher Staatsbürger, wenn ihnen sexueller Mißbrauch an ausländischen Opfern nachzuweisen ist.
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Armut und ungünstige Lebensbedingungen führen in den Ländern der Dritten Welt zur Prostitution, vor allem in hohem Maße zur sexuellen Ausbeutung von Kindern. In dem Umfang, wie Frauen und Kinder Opfer dieser Menschenrechtsverletzung werden, steigen auch die Infektionsrate in diesen Regionen und damit die katastrophalen Folgen für die Gesamtbevölkerung dieser Länder. Die Hilfe, die wir hier leisten müssen, sollte in enger Zusammenarbeit mit den Zielländern auf dem Gebiet der Prävention, aber auch der Verbesserung der Basisgesundheitsdienste bis hin zu speziellen Entwicklungshilfemaßnahmen erfolgen. Hier folge ich Herrn Dr. Voigt in jedem Falle.
Legen wir Fallzahlen von 60 000 HIV-Infizierten in der Bundesrepublik zugrunde und berücksichtigen wir eine deutlich verlängerte Überlebensphase, so ist der Bedarf nach ambulanter und stationärer Pflege ablesbar; denn noch müssen wir davon ausgehen, daß alle auch erkranken.
Wir fordern schon seit langem eine Kostenübernahme der an den Bedürfnissen der Betroffenen orientierten gleichberechtigten interdisziplinären Zusammenarbeit und eine Vernetzung der ambulanten und stationären Versorgung durch die Sozialversicherung, aber auch durch eine endlich zu schaffende Pflegeversicherung. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.
Auf Grund therapeutischer und medizinischer Maßnahmen hat sich die Pflegephase deutlich verlängert. Die Pflege erfordert intensivere und längere Leistungen. Pflegeheime verweigern sehr oft die Aufnahme Aids-Schwerstkranker; sie fürchten nach wie vor Stigmatisierung und das Fernbleiben anderer Pflegebedürftiger. Wir sollten alles tun, um Aids-Kranken und Schwerstpflegebedürftigen bis zum Ende ihres Lebens das Zusammenleben mit Angehörigen und Freunden in vertrauter Umgebung zu ermöglichen.
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Deshalb ist der Schwerpunkt wie beim „Schöneberger Modell" auf eine so lange wie möglich aktivierende Bezugspflege, eine psychosoziale Betreuung einschließlich einer Sterbe- und Trauerbegleitung für die Angehörigen zu legen. Darüber hinaus sind ausreichende Rehabilitationsangebote zu machen. Wir fordern die Bundesregierung auf, weitere AlternatiAntje-Marie Steen
ven aus den angelaufenen Modellversuchen zu entwickeln und sie auch weiter zu verfolgen.
Wie ich schon betonte, hat es seit der Erstellung des Endberichtes für uns ständig neue Problemfelder gegeben, aber ganz besonders eines hat mehr und mehr an Brisanz zugenommen. Das sind die Geschehnisse um die HIV-Infektion bei Bluterkranken, deren schicksalhafte Verbindung zum Thema Aids eine neue Dimension bekommen hat. Uns hat die Anhörung nur darin bestärkt, uns heute und hier in dieser Abschlußempfehlung erneut damit auseinanderzusetzen. Das wird mein Kollege Schmidbauer machen.
Das zeigt auch ganz eindringlich, daß das Thema Aids in seiner Verknüpfung mit dem Leben und Sterben vieler junger Menschen unter uns nicht beendet ist. Im Gegenteil: Es darf kein Nachlassen im Kampf um die medizinische, soziale, psychische und pflegerische Bewältigung dieser Seuche geben.
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Wir dürfen die Kranken nicht zu Bittstellern degradieren, dürfen ihnen keine würdelosen Lebensbedingungen zumuten. Ihr Anspruch an Lebensqualität und Sicherheit ist zu erfüllen, wenn wir alle bereit sind, neue Wege in der Forschung, der Medizin und der sozialen Verantwortlichkeit zu beschreiten.
Das Entsetzen über diese Krankheit kann seinen Schrecken verlieren, wenn wir die Eigenverantwortlichkeit und die Akzeptanz auch anderer Lebenswelten stärken. Sie kann hinführen zu einer Gemeinschaftsleistung mit dem Ziel, neben der Enttabuisierung der Krankheit auch einen wichtigen Beitrag gegen eine Bagatellisierung des Themas zu leisten. Es gibt keinen Grund zur Entwarnung. Es gibt ihn erst recht nicht für Mittelkürzungen und Einsparungen.
({11})
Es gibt aber sehr viele Gründe, mit einem neuen Aufbruch im Kampf gegen Aids kompromißlos zu beginnen und die Verantwortung dafür zu übernehmen.
Deshalb bitte ich Sie, meine Damen und Herren, auch um die Zustimmung zu unserem Änderungsantrag zu dieser Beschlußempfehlung.
Ich darf mich bedanken.
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Als nächster spricht Dr. Bruno Menzel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Knapp drei Jahre nach Erstellung des Endberichts der Enquete-Kommission „Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung" bietet die heutige Debatte die Gelegenheit, das Thema Aids wieder stärker in das Bewußtsein von Politik und Gesellschaft zu rücken. Dies ist meines Erachtens dringend geboten, droht sich doch in weiten Teilen der Bevölkerung nach der ersten Informations- und Aufklärungswelle in der zweiten Hälfte der 80er Jahre eine gewisse Gleichgültigkeit bzw. ein Sich-Arrangieren mit der nach wie vor weltweit größten medizinischen Herausforderung breitzumachen.
Selbstverständlich würde niemand, weder in der Politik noch in anderen gesellschaftlichen Bereichen, grundsätzlich die Bedeutung der Aids-Thematik im ausgehenden 20. Jahrhundert leugnen. Dieser Einsicht folgen leider nicht immer auch die entsprechenden Handlungsweisen. Angesichts weltweit rund 13 Millionen Infizierter, davon - wie bekannt -60 000 in Deutschland bei über 9 000 Erkrankten, kann nur davor gewarnt werden, die politische, medizinische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Krankheit Aids zu vernachlässigen.
({0})
Indolenz gegenüber Aids ist ebenso kurzsichtig wie die Tatsache, daß eine ernsthafte und ergebnisorientierte Diskussion über diese Pandemie, aber auch die Verwirklichung notwendiger Maßnahmen allzuoft von vermeintlich dringenderen Fragen überlagert und zurückgedrängt wird.
({1})
Begreift man die Aids-Bekämpfung als große nationale Aufgabe, ohne dabei die gebotene internationale Zusammenarbeit außer acht zu lassen, ist es bedauerlich, daß es im Zuge der Beratungen zu der vorliegenden Beschlußempfehlung nicht gelungen ist, sich auf einen gemeinsamen Entwurf zu einigen.
({2})
Noch unerfreulicher ist die Tatsache, daß ein einheitliches Votum nur auf Grund geringfügiger Unterschiede nicht zustande gekommen ist - trotz der grundsätzlichen inhaltlichen Übereinstimmung.
In der Politik müssen sich Handlungen und Forderungen natürlich am jeweils Machbaren orientieren. Rufe nach immer mehr Geld oder der ständige Verweis auf verfassungsmäßige Kompetenzen mögen zwar begründet sein. Es wäre allerdings in meinen Augen ein wichtiges politisches Signal gewesen, wenn wir heute über einen gemeinsamen Antrag hätten abstimmen können.
({3})
Grund, den Problemkreis Aids zu instrumentalisieren oder politisch unter „ferner liefen" zu verbuchen und in irgendwelche Forschungslabors zu verbannen, gibt es jedoch keineswegs. Der medizinische Durchbruch steht noch immer aus. Die anfangs optimistischen Projektionen, ein Impfstoff stünde zu Beginn der 90er Jahre zur Verfügung, haben sich als unrealistisch erwiesen. Noch immer existieren Wissenslükken hinsichtlich der unterschiedlichen HIV-Typen und des genauen Erkrankungsprozesses sowie der optimalen therapeutischen Versorgung bereits Erkrankter. Selbst in den Industrieländern, wo durch vielfältige Maßnahmen im präventiven und wissenschaftlichen Bereich die Ausbreitung der Krankheit noch weitgehend im Zaum gehalten werden kann,
gibt es kaum Anlaß, sich zufrieden zurückzulehnen und Aids lediglich als Dritte-Welt-Phänomen zu unterschätzen.
Zwar wird die Zahl der HIV-Infizierten in den Entwicklungsländern allen Schätzungen zufolge weiter dramatisch ansteigen, zwar werden die ohnehin überforderten Gesundheitssysteme der Staaten in Afrika und Asien Aids nie allein bewältigen können, aber Aids findet auch bei uns statt, d. h. in den Industrienationen mit ihren gegenüber den Entwicklungsländern ungleich größeren finanziellen und wissenschaftlichen Kapazitäten. Daher müssen alle weiteren Impulse einer wirksamen sowohl nationalen als auch internationalen Bekämpfung der Epidemie - auch vor dem Hintergrund ihrer entwicklungspolitischen und ökonomischen Implikationen - von hier ausgehen.
({4})
Die Folgen, die ein Nachlassen im Kampf gegen Aids nach sich ziehen würde, wären katastrophaler, als es selbst die realistischsten Schätzungen derzeit schildern.
({5})
Meine Damen und Herren, trotz all dieser grundsätzlichen Überlegungen darf selbstverständlich nicht übersehen werden, daß auf den unterschiedlichsten Ebenen bereits eine ganze Menge geleistet wurde, beginnend damit, daß allein die Tatsache schon als durchaus positiv zu werten ist, daß der Gesundheitsausschuß des Deutschen Bundestages überhaupt die Gelegenheit hatte, einen Entschließungsantrag zum Ergebnis einer Enquete-Kommission zu verabschieden, die sich mit dem Thema Aids über den Zeitraum von drei Jahren befaßt hat.
Freilich hatte die Enquete-Kommission wie die meisten Gremien dieser Art, die sich mit einem so umfangreichen Thema befassen, mit den für sie typischen Problemen zu kämpfen. Mein Kollege Norbert Eimer hat darauf in seinem Sondervotum zum Endbericht hingewiesen. Aber trotz zum Teil unterschiedlicher Ansichten über Art und Umfang des Aufgabengebietes sowie in Fragen der Beratung und Betreuung oder der Bedeutung des HIV-Antikörpertests beinhaltet der Endbericht eine ganze Reihe positiver Ansätze und Empfehlungen, die - das zeigt nicht zuletzt die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD - wesentliche Anhaltspunkte für eine nachhaltige Strategie im Kampf gegen die Immunschwäche lieferten und entsprechend von der Bundesregierung und den Ländern für die Arbeit im Bereich der Prävention, der Betreuung der Infizierten und Erkrankten sowie der Forschung umgesetzt wurden.
({6})
In der Bundesrepublik hat sich der anfangs steile Anstieg der Ansteckungs- und Erkrankungszahlen zwischenzeitlich auf einem gleichbleibenden Niveau eingependelt oder zeitweise sogar etwas reduziert. Dies ist das Ergebnis einer erfolgreichen Aufklärungs- und Präventionsarbeit. Denn nach wie vor gilt: Um der Krankheit Aids erfolgreich zu begegnen, müssen mögliche Ansteckungsrisiken ausgeschaltet werden.
Dieser Tatsache tragen sowohl der Endbericht der Enquete-Kommission als auch die Beschlußempfehlung des Gesundheitsausschusses Rechnung, die dem präventiven Bereich breiten Raum gewähren. Dementsprechend hat auch die von der Bundesregierung in den vergangenen Jahren auf den Prinzipien von Freiwilligkeit, Beratung, Vertraulichkeit und nicht zuletzt Aktualität aufbauende Aufklärungsarbeit dazu beigetragen, daß in der Bevölkerung seit Bekanntwerden der Immunschwächekrankheit das Informationsniveau kontinuierlich gestiegen ist und entsprechende Verhaltensänderungen eingetreten sind. Ängste konnten abgebaut und Einstellungen gegenüber Krankheit und Erkrankten wesentlich rationaler gestaltet werden.
Mit Forschungsprojekten und Modellprogrammen wie z. B. „Drogen und AIDS", „Homosexuelle Männer und AIDS" oder auch dem Streetworker-Modell haben insbesondere die den primären Hauptrisikogruppen zugute kommenden präventiven Maßnahmen dort positive Wirkungen gezeigt und haben deren Anteil an den Neuerkrankungen zurückgehen lassen.
Diese eigentlich positiv zu bewertende Entwicklung wird allerdings durch die steigende Zahl Erkrankter, die sich bei heterosexuellen Kontakten angesteckt haben, konterkariert. Hier wird deutlich, daß bei allen Erfolgen, die die präventive Arbeit in den vergangenen Jahren gebracht hat - wofür im übrigen allen Beteiligten Respekt und Dank gebührt -, keine Veranlassung besteht, in dem Bemühen um Aufklärung und Informationen für alle Zielgruppen nachzulassen. Der Prävention in Bevölkerungskreisen, die nicht den klassischen Risikogruppen angehören - insbesondere Heterosexuelle, aber auch Frauen und Jugendliche - muß daher in Zukunft verstärkt Rechnung getragen werden.
Selbstverständlich gilt dies auch für die neuen Bundesländer, deren Situation sich allerdings wesentlich von der in der alten Bundesrepublik unterscheidet. Eine spezifische Präventionsstrategie muß die besondere epidemiologische Situation in den fünf neuen Ländern berücksichtigen; denn erst mit dem Mauerfall hat die Gefahr der HIV-Infektion dort eine zunehmende Bedeutung gewonnen. Wir brauchen deshalb in den neuen Ländern auch einen längeren Zeitraum, bis die gleichen Informationsgrundlagen wie im alten Bundesgebiet vorliegen. Dies muß durch einen hinlänglichen Förderungszeitraum der Präventionsstrategie gewährleistet werden.
Im Bereich der medizinischen HIV-Forschung ist in der Vergangenheit viel erreicht worden, wenngleich, wie gesagt, die Entwicklung eines Impfstoffes noch auf sich warten läßt. Immerhin läßt sich mit Medikamenten die Krankheit hinauszögern; die Chance zur Verlängerung des Lebens bereits Erkrankter ist gestiegen. Weltweit werden in den Forschungslabors die unterschiedlichsten Ansätze in Richtung der Entwicklung neuer HIV-Medikamente und -Impfstoffe verfolgt. Der Forschung muß daher im Rahmen des Möglichen auch weiterhin Unterstützung zukommen.
Dies gilt auch, meine Damen und Herren, für die Gentechnik, der in der Aids-Forschung besondere Bedeutung zukommt. Wir müssen in diesem Bereich sicherlich unsere Bemühungen verstärken. Unter Beachtung aller gebotenen Sicherheitserfordernisse dürfen die Chancen des Fortschritts in der Aids-Bekämpfung nicht durch ein Übermaß an Reglementierungen verhindert werden.
({7})
Aus diesem Grund müssen auf EG-Ebene die geeigneten Voraussetzungen für ein vernünftiges nationales Gentechnikrecht geschaffen werden.
Ich möchte im Zusammenhang mit dem Bereich Forschung auch ein Wort zum neuen GesundheitsStrukturgesetz sagen. Wir haben in den Beratungen auch erörtert, ob die Festbetragsbildung für patentgeschützte Arzneimittel erleichtert werden sollte. Ich bin froh, daß sich hier die Vernunft zugunsten der Forschung und damit zugunsten des medizinischen Fortschritts durchgesetzt hat.
({8})
- Herr Minister, ich widerspreche Ihnen ungerne. Ich denke, die Vernunft war auf beiden Seiten.
Das Gesundheits-Strukturgesetz nimmt auch keinen Einfluß auf die notwendige medizinische Versorgung von Aids-Patienten, die nach wie vor alle benötigten Medikamente und Behandlungen erhalten werden. Das möchte ich von dieser Stelle aus noch einmal ausdrücklich sagen.
({9})
Weder Patienten noch behandelnde Ärzte müssen Nachteile durch das Gesundheits-Strukturgesetz befürchten. Dies ist im Gesetz ausdrücklich so geregelt.
({10})
- Ich denke, es hören viele Leute zu, wenn im Bundestag diskutiert wird. Das nehme ich an.
Wie in anderen Bereichen hat die Bundesregierung auch im Rahmen der Betreuung und Versorgung von HIV-Infizierten und Aids-Erkrankten verschiedene Modellvorhaben unterstützt. Ohnehin hat der Bund in den zurückliegenden Jahren mit vielfältigen Instrumenten gesundheitspolitische Verantwortung im Bereich der Aids-Bekämpfung übernommen und wird dies - davon bin ich überzeugt - im Rahmen seiner Möglichkeiten auch weiterhin tun.
({11})
- Der hört sicher auch zu.
Einer Bundesförderung über die Laufzeit von Modellprogrammen hinaus sind aber aus verfassungsrechtlichen Gründen nun einmal Grenzen gesetzt, auch wenn immer wieder nach einer Ausweitung des finanziellen Engagements des Bundes verlangt wird und dies vielleicht auch tatsächlich wünschenswert wäre.
({12})
Es sind aber nun einmal die Länder - hoffentlich nehmen Sie Ihr Klatschen jetzt nicht zurück -, denen aus ihrer grundgesetzlich verankerten gesundheitspolitischen Kompetenz die Aufgabe zuwächst, sich für die Fortführung und Ausweitung dieser Projekte und Programme zu entscheiden.
({13})
Ich möchte daher insbesondere an die Landesregierungen appellieren, das in ihrer Kraft Stehende zu tun, damit erfolgreich begonnene Projekte nicht durch fehlende Anschlußfinanzierungen in ihrem Bestand gefährdet werden.
Ich bedanke mich, meine Damen und Herren.
({14})
Als nächste spricht die Kollegin Dr. Ursula Fischer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Einvernehmen scheint in diesem Hause, zumindest verbal, darüber zu bestehen, daß die Bekämpfung von Aids eine dauerhafte Aufgabe ist und sein wird. Das bezieht sich sowohl auf die Prävention - wo es immer wieder darauf ankommt, die Notwendigkeit vorbeugender Verhaltensweisen bewußtzumachen - als auch auf die Versorgung von HIV-Infizierten und Aids-Kranken, wo bewährte Formen der Hilfe gefestigt, stabilisiert, aber weitere auch noch geschaffen werden müssen.
Besonders bei Jugendlichen - aber nicht nur bei ihnen - besteht immer wieder die Gefahr, sich in falscher Sicherheit zu wähnen und die Möglichkeiten einer Infektion zu unterschätzen. Hier wissen wir, daß ein bedeutender Teil der Präventionsarbeit nicht nur über Massenmedien, sondern vor allem auch über die aufwendige personale Kommunikation und über ihre Multiplikatoren geleistet werden muß.
Aber auch eine zielgruppenspezifische Arbeit mit den Hauptbetroffenen bedarf der weiteren Intensivierung. Denken wir beispielsweise an den Bereich der männlichen Prostitution.
({0})
Gerade auf diesen Feldern kann und wird nach allen Erfahrungen, wie z. B. der „Deutschen AIDS-Hilfe e. V.", eine wirkungsvolle Hilfe nur dann geleistet werden, wenn die Finanzierung gerade auch dieses Leistungsträgers ausreichend gewährleistet ist und die erforderlichen Mehraufwendungen vom Bund getragen werden.
({1})
Ich weise deshalb erneut darauf hin - wie ich das schon im Herbst 1992 in der Haushaltsdebatte zum Einzelplan 15 getan habe -, daß es notwendig ist, auch dafür die Mittel aufzustocken. Beteiligung der
Länder ist unabdingbar, aber die Probleme im Bereich Aids müssen auf Grund ihrer enormen Bedeutung immer wieder auch Bundesangelegenheit bleiben.
({2})
Die zu erwartende Aufhebung der Sperre der Finanzmittel im Haushaltsplan 1992 ist zwar erfreulich, aber wir wissen, daß auch diese Mittel nicht ausreichen werden.
Auch auf dem Gebiet der Aids-Prophylaxe gilt, daß individuelle Prävention in ihren verschiedenen Formen nicht ausreicht. Hier ist vor allem auch soziale Prävention gefragt. Im Falle von Aids geht es nicht allein um die Änderung von Verhaltensweisen, sondern spezifisch um die Änderung von gesellschaftlichen Verhältnissen. Ohne deren Wandel wird es auch keine grundlegenden Änderungen von individuellen Verhaltensweisen geben.
Es bleibt eine wichtige Aufgabe, die Betroffenen vor Ausgrenzung, Isolation und anderen Arten sozialer Stigmatisierung zu bewahren. Das heißt auch, die rechtlichen Grundlagen zu verbessern oder besser selbst in der Verfassung Grundlagen zu schaffen, die die beschriebenen zwangsläufigen Effekte bei Aids-Infektionen und Aids-Erkrankungen durch konsequente Antidiskriminierungsgrundsätze verhindern.
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Eine Änderung des Betäubungsmittelstrafrechts ist längst überfällig. Entkriminalisierung der Betroffenen, mehr Möglichkeiten für die Substitutionstherapie, mehr akzeptierende Beratungs- und Hilfsangebote, Zurückdrängung der Beschaffungsprostitution und anderes mehr würden sozialer und gesundheitlicher Verelendung entgegenwirken. Von Menschen, die wieder eine Perspektive haben, kann mehr Verantwortungsbewußtsein für sich und auch für andere erwartet werden.
An dieser Stelle muß ich noch einmal dringend fordern, daß die Empfehlungen des Berichts, einsitzenden Drogenabhängigen saubere Spritzbestecke zur Verfügung zu stellen, auch realisiert werden müssen. Die Situation in den Gefängnissen ist nach wie vor katastrophal. Die Zahl der Infektionen und Erkrankungen in Haftanstalten steigt. Gefangene mit HIV werden in zahlreichen Gefängnissen einer repressiven Sonderbehandlung unterzogen. Zumindest das Recht, von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Aids-Hilfe begleitet zu werden, muß gerade in Haftanstalten uneingeschränkt eingeräumt werden.
({4})
Das ist keine Kritik am Bericht, sondern an der herrschenden Praxis im Lande.
Die Enquete-Kommission fordert die Abschaffung des § 175 des Strafgesetzbuchs, eines inhumanen Sondergesetzes gegen schwule Männer.
({5})
Die PDS/Linke Liste hält die ersatzlose Streichung der
§ § 175 und 182 für lange überfällig. Entsprechende
Anträge liegen im Bundestag vor. Selbstverständlich
muß es auch eine Rehabilitierung der Opfer geben. Leider wird im Bericht nicht deutlich, daß die Abschaffung dieses Paragraphen unabhängig von der Aids-Prävention eine Notwendigkeit ist.
Meine Damen und Herren, nach wie vor steht die Gewährung des Zeugnisverweigerungsrechtes für Mitarbeiterinnen von Aids- und Drogenberatungsstellen aus. Da dies aber der Verbesserung des Vertrauensverhältnisses zu den Ratsuchenden sowohl in der Prävention als auch in der Betreuung und Pflege zugute käme, unterstütze ich diese Forderung, die einer Empfehlung der Enquete-Kommission entspricht, nachdrücklich.
({6})
Im Zusammenhang mit der Prävention eine Anregung zur Forschung: Äußerst verwunderlich ist in den vorliegenden Entschließungsanträgen, daß die alleinige Forderung nach Unterstützung von Forschung im Rahmen der Infektologie aufgestellt wird. Das ist bekanntlich nur eine, wenn auch durchaus eine sehr wichtige von vielen wissenschaftlichen Disziplinen, die an der Aids-Forschung beteiligt sind. Als sicher darf gelten, daß die bisherigen Erfolge in der Aids-Bekämpfung zu einem hohen Anteil auf sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Da lobe ich mir an dieser Stelle sogar die Bundesregierung, die auf diesbezügliche Fragen gleich mehrfach den Wert sozialwissenschaftlicher Forschung, zumindest verbal, betont hat.
Gerade für Ostdeutschland wäre es jetzt wichtig, die epidemologische Situation dort auszunutzen und einen ausreichend langen Förderungszeitraum für den Aufbau der Aids-Prävention zu sichern und gleichzeitig eine begleitende Forschung zu fördern, um herauszufinden, welche Charakteristika in dieser überstürzt transformierten Gesellschaft die sich neu herausbildenden Risikogruppen annehmen. Die Frage beispielsweise, welche Verläufe die jetzt beginnende Drogen- und Prostitutionskarrieren annehmen, wäre heute sogar noch unter Präventionsaspekten wichtig zu untersuchen. Generell ist an dieser Stelle zu betonen, daß die pädiatrische Forschung im Zusammenhang mit Aids weiter intensiviert werden muß.
Besonders am Beispiel Aids wird die generelle Schwäche der bisherigen ambulanten Versorgung offenbar, die im übrigen keinesfalls durch das Gesundheits-Strukturgesetz vermindert worden ist. Ganz im Gegenteil: Wirksame Hilfe für HIV-Infizierte und Aids-Kranke macht in einer besonderen Weise die Zusammenarbeit verschiedener medizinischer und nichtmedizinischer Berufe notwendig. Hinzu kommt das unerläßliche Zusammenwirken mit Selbsthilfegruppen. Nur so läßt sich bekanntlich die erforderliche Kombination medizinischer, psychischer, sozialer, rechtlicher und materieller Hilfen gewährleisten. Gerade aber auf solche kooperative Betreuungsformen sind die bestehenden Versorgungssysteme in diesem Land äußerst schlecht vorbereitet.
Vielleicht haben Sie zumindest an dieser Stelle Verständnis für die bittere Bemerkung, daß gerade im Osten Strukturen wie Polikliniken zerschlagen wurDr. Ursula Fischer
den, anstatt ihre Vorteile zu nutzen und weiterzuentwickeln, z. B. auch für Aids.
({7})
Meine Damen und Herren, ich fordere Sie auf, dem Antrag der SPD auf eine weitere Erhöhung der Unterstützung der Aids-Stiftungen zuzustimmen. Denn die wachsenden Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der Stiftungen hängen übrigens auch damit zusammen, daß bei dem durchschnittlich jüngeren Alter der von Aids Betroffenen die sozialen Sicherungssysteme nicht greifen und ein hoher Anteil der Infizierten und Erkrankten von Sozialhilfe leben muß. Um so unverständlicher sind die unvertretbar langen Anerkennungszeiten im Falle von Aids bzw. auch die langen Zeiten für die Anerkennung von Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit. Diese Vorgänge müssen doch wohl im Interesse der Aids-Kranken, die keine Zeit mehr haben, lange zu warten, zu beschleunigen sein. Es darf doch nicht passieren, daß Betroffene über ihre Antragstellung versterben, wie das immer noch häufig in der Praxis - leider - passiert.
Meine Damen und Herren, auf viele Punkte wie HIV-Bluterkrankungen, Rehabilitation, Frauen und Kinder kann ich leider nicht eingehen. Ich danke an der Stelle meiner Kollegin Steen, daß sie gerade auf diese Punkte so ausführlich eingegangen ist. Ich habe dem eigentlich nichts hinzuzufügen.
Auf einen Punkt möchte ich mich noch konzentrieren: Aids und Dritte Welt. In der Arbeit der EnqueteKommission spielte das eine erfreulich große Rolle und hat auch in den Entschließungsanträgen seinen Niederschlag gefunden. Es besteht kein Zweifel darüber, daß das bisherige Engagement der Industrieländer in diesem Bereich nicht ausreicht.
({8})
Die Frage ist allerdings, ob es hier um mehr oder weniger schöne Absichtserklärungen geht, um die Darstellung von Ist-Zuständen, die zwar das Gewissen entlasten, aber ansonsten keine nennenswerte Änderung herbeiführen, oder ob die Unterstützung wirklich substantiellen Charakter erhalten soll, wie Herr Voigt auch vorgeschlagen hat.
Wie aber kann es wirklich zu einer Verbesserung in diesem Bereich kommen, solange keine grundlegende Umgestaltung der weltwirtschaftlichen Strukturen Raum greift und solange die Dritte Welt, statt faire Entwicklungschancen zu erhalten, weiter in tiefer Abhängigkeit und hoffnungsloser Verschuldung gehalten wird? Angesichts der katastrophalen Geschwindigkeit, mit der die Zahl der Infizierten und der Aids-Kranken in diesen Ländern zunimmt, halten wir hier Maßnahmen für gerechtfertigt. Nach wie vor zählt für mich dazu auch der Verzicht auf die Forderung des Schuldendienstes, um den betreffenden Ländern Möglichkeiten zu geben, die dadurch freiwerdenden Mittel gezielt für das Gesundheitswesen, insbesondere für Aids-Bekämpfungsprogramme, einzusetzen.
({9})
Meine Damen und Herren, die PDS/Linke Liste jedenfalls wird auch künftig bestrebt sein, ihre Aids-Politik an den Problemen, Erfahrungen und Forderungen der Betroffenen zu orientieren, um ihnen auf diese Weise möglichst wirkungsvoll zu helfen und zugleich die Gesunderhaltung aller Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Das ist im übrigen eine Aufgabe des Staates oder der Gesellschaft, die auch im Grundgesetz festgeschrieben ist.
Abschließen möchte ich mit einem Zitat von Manuela, geboren 1965:
Wenn die Leute hören, daß ich HIV-positiv bin, sind die meisten schockiert. Ich schaue doch so normal aus, habe auch nie Drogen genommen und gehöre auch sonst zu keiner Risikogruppe. Wie gibt es denn so etwas? Furchtbares schießt ihnen durch den Kopf. Dann sehen sie mich an, die Infizierte. Sie sehen nicht die Person, sie sehen nicht mich. In ihren Augen bin ich ein bedauernswertes Wesen, habe halt Pech gehabt, meinen sie. Aber ich lebe mein Leben trotzdem so gut ich kann und mag.
Ich hoffe, wir helfen ihr alle dabei.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Als nächster spricht der Bundesminister für Gesundheit, Herr Seehofer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Rund 60 000 HIV-Infizierte, 9 500 AIDS-Erkrankte in der Bundesrepublik Deutschland - dahinter verbirgt sich tausendfaches, unsägliches seelisches und körperliches Leid.
Ich gebe auf der einen Seite allen recht, die gesagt haben: Es ist erfreulich, daß sich diese Immunschwächekrankheit in der Bundesrepublik Deutschland entgegen allen Prognosen in den 80er Jahren wesentlich flacher, wesentlich langsamer entwickelt hat, als damals prognostiziert. Ich habe noch einmal nachgelesen, daß durchaus auch von Größenordnungen in Millionenhöhe in der Bundesrepublik Deutschland, mindestens aber von hunderttausendfacher Verbreitung die Rede war.
Aber so erfreulich diese Entwicklung ist, so sehr durch diese Zahlen auch bestätigt wird, daß die damals eingeschlagene Strategie als Antwort auf diese Herausforderung richtig war, sosehr liegt in diesen Zahlen auch eine Gefahr. Es könnte nämlich sein, daß die Gesellschaft insgesamt diese flachere Entwicklung als Entwarnung versteht. Darin liegt die große Gefahr,
({0})
daß die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland
die Immunschwächekrankheit Aids nicht mehr als
Problem oder gar als Gefahr begreifen. Nun wissen wir aber aus den internationalen Erfahrungen, daß sich solche günstigen Zahlen über Nacht zu einer dramatischen Entwicklung hin ändern können. Das Blatt kann sich sehr schnell wenden.
Meine Damen und Herren, nach wie vor ist es so - das wurde bereits gesagt -: Jede Infektion bedeutet Erkrankung, und jede Erkrankung bedeutet Tod.
({1})
Deshalb ist diese Immunschwächekrankheit nach wie vor nicht nur eine große gesundheitspolitische, sondern auch eine gesamtpolitische Herausforderung in der Bundesrepublik Deutschland.
({2})
Ich möchte mich auf drei Gesichtspunkte beschränken, obwohl das Problem natürlich wesentlich mehr Facetten hat.
Der erste Punkt, auf den es mir ganz entscheidend ankommt, ist, daß wir - ich hoffe, auch in der Zukunft parteiübergreifend - die Prävention, die Aufklärung und die Information vor die Repression setzen. Wir werden diese günstige Entwicklung nur dann beibehalten, wenn sich die Menschen auch identifizieren, wenn die Menschen das, was sie an Aufklärung, an Information bekommen, auch beherzigen, wenn es uns nicht nur gelingt, Gefährdungsbewußtsein herzustellen, sondern auch gelingt, Verhaltensänderung herbeizuführen.
({3})
Meine Damen und Herren, ein Nachlassen bei Prävention, Aufklärung und Information verstärkt ja eine zutiefst menschliche Neigung - nichts verblaßt so schnell wie die Information -, nämlich daß man sofort zur Tagesordnung übergeht, wenn das Bewußtsein nicht ständig erneut gestärkt wird. Gerade im Hinblick auf die junge Generation aber sehe ich ein ganz großes Problem. Aus vielen Gesprächen weiß ich von jungen Menschen, die für sich Aids nicht als Problem sehen, die zunehmend glauben, Aids gehe sie nichts an. Wenn wir in den Anstrengungen um Aufklärung und Information nachlassen, könnte das gerade bei der jungen Generation als Entwarnung mißverstanden werden.
({4})
Deshalb müssen wir alle miteinander ein Interesse daran haben, daß Aids wieder verstärkt in die Schlagzeilen kommt, daß Aids wieder mehr in den Mittelpunkt auch der gesellschaftspolitischen Diskussion, der gesundheitspolitischen Diskussion rückt; denn zur Entwarnung - auch das ist schon gesagt worden - besteht überhaupt kein Anlaß. - Aber wir als Politiker sollten für uns selbst auch einmal feststellen, denke ich, daß sich dieser Weg der Prävention und Aufklärung bewährt hat.
Zweiter Gedanke. - Meine Damen und Herren, die Infizierten von heute sind die Kranken von morgen. Bei den Zahlen - 9 500 Erkrankte und rund 60 000 Infizierte - bedeutet dies, daß sich die Frage der medizinischen, der sozialen und auch der menschlichen Betreuung von Erkrankten in der Zukunft wesentlich stärker stellen wird. Meine Damen und Herren, da stellt sich für mich ganz entscheidend die Frage: Wie gehen wir mit den Infizierten und Erkrankten in einer Gesellschaft um? - Wie wir mit Aidsinfizierten, mit Erkrankten umgehen, ist nämlich ein Spiegelbild für die Mitmenschlichkeit in unserer Gesellschaft.
({5})
Deshalb trete ich und tritt die Bundesregierung allen Tendenzen entgegen, Infizierte oder Erkrankte auszugrenzen. Wer jemals mit solchen Menschen gesprochen hat, weiß, daß sie am meisten gerade unter diesem Problem leiden, daß sich Freunde, Bekannte, Arbeitskollegen von Infizierten und Erkrankten abwenden, daß es ohnehin das größte Problem für diese Menschen ist, daß sie einsam sind. Meine Damen und Herren, es ist, wie gesagt, eine Meßlatte für die Mitmenschlichkeit in unserer Gesellschaft, in welchem Maß wir diesen Menschen unsere helfende Hand reichen, sie nicht ausgrenzen, Tendenzen zur Ausgrenzung in unserer Gesellschaft nicht unterstützen, sondern alles tun, diese Menschen verstärkt in unsere Mitte zu nehmen.
({6})
Ich habe in vielen Gesprächen mit Aidserkrankten immer wieder festgestellt, daß mit die größte Angst darin besteht, daß die Tatsache der Infektion oder Erkrankung am Arbeitsplatz bekannt wird. Das geht hin bis zu der Angst, daß diese Erkrankung in dem Gebäude, in dem man wohnt, bekannt wird, weil man befürchtet, daß der Vermieter bei Bekanntwerden der Erkrankung den Mietvertrag kündigt. Diese Ängste bewegen die Menschen.
Weil die 60 000 Infizierten von heute die Erkrankten von morgen sind, wartet da auf die Politik insgesamt eine gewaltige Herausforderung. Die Frage „Wie gehen wir mit diesen Erkrankten um?" wird immer stärker in den Mittelpunkt rücken.
Ich bin Ihnen, Herr Dr. Menzel, auch Ihnen, Kollege Voigt, dankbar dafür, daß Sie auf das GesundheitsStrukturgesetz verwiesen haben, weil auch hierzu im Moment wieder eine große Verunsicherungskampagne läuft. Ich möchte die Botschaft für die Infizierten, für die Erkrankten und für die Menschen, die sich um die Betreuung von Erkrankten kümmern, wiederholen: Weder die ambulante noch die stationäre Versorgung für Aidserkrankte oder HIV-Infizierte wird durch das Gesundheits-Strukturgesetz in irgendeiner Weise beeinträchtigt; im Gegenteil!
({7})
Sowohl die ambulante Pflege zu Hause als auch die Pflegehilfe für Schwerpflegebedürftige als auch die stationäre Versorgung
({8})
als auch die teilstationäre Versorgung, Kollege Walter Altherr, als auch die Medikamentenversorgung bleiben uneingeschränkt bestehen, so wie sie vor Inkrafttreten des Gesundheitsstrukturgesetzes bestanden haben; denn es ist ja nicht das Ziel des Gesundheitsstrukturgesetzes gewesen, an den Kranken zu sparen,
({9})
an den Aidskranken zu sparen, sondern das Ziel des Gesundheitsstrukturgesetzes war und ist, am Unwirtschaftlichen, am Uneffizienten zu sparen. Was für Aidskranke aufgewandt wird, ist aber nicht unwirtschaftlich und ineffizient, sondern notwendig.
({10})
Ich füge hinzu: Sollte entgegen allen aktuellen Erwartungen in absehbarer Zeit ein Impfstoff oder ein wirksames Medikament zur Beherrschung dieser Krankheit erfunden werden und dieser Impfstoff oder dieses Medikament sündteuer sein, dann müßten wir uns trotz aller Sparüberlegungen in der gesetzlichen Krankenversicherung dazu entscheiden, dieses Mittel oder diesen Impfstoff auch in unserer Gesellschaft zur Verfügung zu stellen und über die Krankenversicherung zu bezahlen.
({11})
Bei dieser Frage des Umgangs miteinander ist ein Nadelöhr die ambulante Betreuung. Meine Damen und Herren, entgegen allen Prognosen wird weitaus mehr ambulant betreut und gepflegt, als ursprünglich angenommen. Man hatte ja zu Beginn der Diskussion einmal befürchtet, daß es nur möglich sei, die Aidserkrankten in Infektionsabteilungen stationär zu behandeln. Wir stellen in der Bundesrepublik Deutschland die an und für sich erfreuliche Entwicklung fest, daß in weitaus höherem Maße ambulant betreut wird, ja daß es geradezu dem Wunsch der Erkrankten entspricht, in ihrer vertrauten Umgebung betreut zu werden. Wir stoßen aber gleichzeitig an das Problem, daß die ambulante Pflege in der Bundesrepublik Deutschland nicht unbedingt ein sehr hohes Maß an Entwicklung hat.
Deshalb bleibt für uns die Aufgabe, die ambulante Versorgung von Kranken und Pflegebedürftigen in der Bundesrepublik Deutschland, sei es innerhalb der Krankenversicherung, sei es durch eine eigene Pflegeversicherung, massiv zu verstärken, wobei es nicht nur um die Frage geht „Wieviel Geld stellen wir denen zur Verfügung, die gepflegt werden müssen?"; die zweite, mindestens genauso wichtige Frage ist „Wie gewinnen wir in der Zukunft Menschen, die zum Dienst am Mitmenschen bereit sind, die bereit sind, diese Aidskranken zu pflegen?".
({12})
Auch hier ist es natürlich immer ungünstig, wenn Politik - Herr Dr. Menzel, Sie haben das angesprochen - auf Kompetenzen verweist. Ich möchte in diesem Zusammenhang, weil es hier wie auch in anderen Politikbereichen eine Rolle spielt, einmal auf das Phänomen des Forderungsföderalismus in der
Bundesrepublik Deutschland verweisen, nämlich darauf, daß die Bundesländer sehr gerne Kompetenzen für sich beanspruchen, aber dann, wenn es um die Ausfüllung, um die Finanzierung dieser Kompetenzen geht, sehr gern auf den Bund verweisen. Hier, bei der ambulanten medizinischen und sozialen Betreuung von Aidskranken, stehen zuallererst die Länder in der Pflicht. Sie sind aufgefordert, verstärkt ihre Therapiemöglichkeiten, ihre Pflegemöglichkeiten auszubauen und sich nicht immer nur darauf zu verlassen, daß der Bund Modellprogramme, die er irgendwo einmal beginnt, auf Dauer in der Finanzierung weiterführt.
({13})
Die gesundheitspolitische Hauptverantwortung beim Thema Aids wie bei den Drogen liegt in der Bundesrepublik Deutschland bei den Bundesländern.
({14})
- Das gilt auch für den hochlöblichen Freistaat Bayern, Herr Walter Altherr.
({15})
Das Dritte, Frau Kollegin Steen, was ich noch sagen wollte, betrifft die Finanzen für die Aids-Hilfe. Wir haben unsere Zuwendungen an die Aids-Hilfe nicht gekürzt.
({16})
- Sie sind im Haushaltsausschuß. Da müßten Sie es doch wissen. In den letzten beiden Jahren haben wir sie sogar leicht erhöht: von 6,8 auf 7,4 Millionen DM. Deshalb muß ich für das Protokoll des Bundestages darauf hinweisen, daß die Aussage von der Mittelkürzung falsch ist. Ich verweise ganz nebenbei darauf, daß wir trotz der sehr schwierigen Haushaltslage 1993 die beiden Stiftungen, die Deutsche Aids-Stiftung „Positiv leben" und die Nationale Aids-Stiftung, jeweils mit 2 Millionen DM Zustiftung ausgestattet haben. Ich hoffe, daß der Haushaltsausschuß, nachdem die Länder ihre Zustiftungen in gleicher Größenordnung offensichtlich erfüllen, die Haushaltssperre aufhebt. Ich würde das sehr begrüßen.
({17})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Steen?
Herr Minister, geben Sie zu, daß Sie zwar keine Mittelkürzung per Saldo vorgenommen haben, daß sich aber die Aufgabenstellung für die Deutsche Aids-Hilfe dadurch wesentlich erweitert hat, daß die neuen Bundesländer dazugekommen sind? Wenn Sie das unter dem Strich betrachten, ist es in meinen Augen sehr wohl eine Mittelkürzung.
Frau Kollegin Steen, es entspricht einer alten Lebens12630
erfahrung, daß man zunächst einmal gar nichts zugibt.
({0})
Das ist das Spiel mit der Statistik. Fakt ist: Es gibt eine Erhöhung von 6,8 auf 7,4 Millionen DM. Nun kommt die alte Zahlenspielerei mit Durchschnitten usw. Oder man sagt: Die Zahlen sind gleich geblieben, aber die Aufgaben größer geworden. Ich will dazu ein Beispiel aus Bayern bringen; dort ist gerade Starkbierzeit. Zwei Männer gehen ins Hofbräuhaus und bestellen zwei Maß Bier und zwei Hähnchen. Der eine trinkt die zwei Maß, und der andere ißt die beiden Hähnchen. Im statistischen Mittel hat jeder ein Maß Bier und ein Hähnchen gehabt. Tatsächlich hat der eine einen Mordsrausch und der andere einen Mordsdurst.
({1})
Deshalb ist es falsch, nur den statistischen Durchschnitt zu betrachten. Und deshalb, Frau Kollegin Steen, gebe ich auch nichts zu.
({2})
Es gibt noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hoffacker.
({0})
Herr Bundesminister, nachdem im Gesundheitsausschuß und auch im Haushaltsausschuß erreicht werden konnte, daß die Stiftung „Positiv leben" über nahezu 4,5 Millionen DM verfügt: Sind Sie mit mir der Meinung, daß wir auch für die Nationale Aids-Stiftung das Ziel von 4,5 Millionen DM schnellstens erreichen müßten?
Nachdem Sie mein Arbeitsgruppenvorsitzender sind und ich insofern zu Ihnen in einem Abhängigkeitsverhältnis stehe,
({0})
gebe ich das gerne zu.
({1})
Es wird immer gesagt: Die Zahlen, die ihr nennt - die 60 000 Infizierten oder die 9 500 Erkrankten - sind falsch. Die statistischen Grundlagen in der Bundesrepublik Deutschland stimmen nicht. Ich möchte hier meiner Überzeugung Ausdruck geben, daß ich glaube, daß die Grundlagen, die zu diesen Zahlen führen, ausreichend sind, um ein einigermaßen sicheres Bild über die tatsächliche Lage in der Bundesrepublik Deutschland zu haben. Aus diesem Grund bin ich ein entschiedener Gegner, daß wir zur Verbesserung der Datenlage in der Bundesrepublik Deutschland für die Bevölkerung insgesamt oder für einzelne Gruppen Zwangstests einführen. Ich glaube, die Maßnahmen, die wir zur Zeit haben - die Laborberichtspflicht, die repräsentative Stichprobe bei Ärzten, der Test bei Blutspenden und jetzt bei den beiden Modellprogrammen für Neugeborene -, bilden eine ausreichende Grundlage, um ein objektives Bild über die tatsächliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland zu haben.
({2})
Das heißt jedoch nicht, daß es keinen Sinn macht, sich freiwillig testen zu lassen. Die Krankheit ist zwar nicht heilbar, aber sie ist behandelbar. Deshalb kann ein freiwilliger Test dazu führen, daß man rechtzeitig in die Hand eines fachkundigen Arztes kommt und die Krankheit für den Betroffenen wesentlich besser verläuft als bei einem verspäteten Test und einer verspätet einsetzenden medizinischen Behandlung.
({3})
- Auch die Infektionsgefahr ist geringer. Aber mir kommt es jetzt auf den Betroffenen selbst an. Deshalb möchte ich bei aller Ablehnung des Zwangstests durchaus dafür werben, daß man sich im Falle eines Falles einem freiwilligen Test unterzieht, um für sich selbst Klarheit zu schaffen und im Falle der Infektion die eigenen Behandlungschancen zu erhöhen.
Meine Damen und Herren, ich möchte mich nicht nur bei den beiden Stiftungen bedanken. Ich sagte bereits: Beide sind mit 2 Millionen DM Zustiftung durch den Bund ausgestattet; die eine Hälfte muß im Haushaltsausschuß noch entsperrt werden. Ich möchte mich auch bei der Aids-Hilfe bedanken. Es ist allgemein bekannt, daß die Aids-Hilfe da und dort eine unbürokratische und unkonventionelle Zielgruppenansprache durchführt. In Einzelfällen entspricht das nicht unbedingt der Vorstellung der Bundesregierung. Wir haben einzelne Projekte auch eingestellt. Das kann uns aber nicht davon abhalten, die Arbeit der Aids-Hilfe grundsätzlich zu begrüßen. Sowohl die beiden Stiftungen wie die Selbsthilfeeinrichtungen wie auch im besonderen die Aids-Hilfe sind ein Musterbeispiel dafür, daß kleinere Zellen, Selbsthilfegruppen, solche großen Herausforderungen weitaus besser erledigen als staatliche Behörden und große Einrichtungen.
({4})
Ich bedanke mich bei der Enquete-Kommission. Was dort erarbeitet wurde, war nicht nur für den ganzen Entscheidungshorizont in der Bundesrepublik Deutschland unverzichtbar, sondern auch richtungweisend weit über die Bundesrepublik Deutschland hinaus. Wir wissen, daß wir für die meisten Staaten auf dieser Welt mit unserer Aids-Politik als beispielgebend gelten. Ich hätte es auch begrüßt, wenn es heute im Deutschen Bundestag zu diesem Thema zu einem gemeinsamen Entschließungsantrag gekommen wäre. Die Tatsache, daß es nicht zu einer Gemeinsamkeit kommt, sollte meines Erachtens nicht dazu führen, daß wir die Immunschwächekrankheit Aids und insbesondere die Betroffenen in der Zukunft als Spielball der parteipolitischen Auseinandersetzung betrachten.
Ich appelliere an uns alle, daß wir im Hinblick auf das unsägliche menschliche und seelische Leid bei den Infizierten und Kranken so weit wie möglich auch in der Zukunft bei dieser Frage gemeinsam marschieren.
Herzlichen Dank.
({5})
Als nächste spricht die Abgeordnete Uta Titze.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute über den Zwischen- und den Endbericht der Enquete-Kommission - das wurde schon mehrfach erwähnt - sowie über die Große Anfrage der SPD-Fraktion zur Umsetzung der Empfehlungen. Ich möchte mich auf Haushaltsaspekte beschränken, da ich, wie Sie wissen, im Haushaltsausschuß sitze. Das führt dazu, daß man bei der Mittelgewährung genau feststellen kann - denn das ist die Stunde der Wahrheit -, was welche Äußerungen wert sind. Das ist buchstäblich gemeint. Bei der Mitteletatisierung erweist sich, was einem etwas wert ist.
Ich bin zuständig für den Einzelplan 15, Gesundheit. In dieser Funktion bemühe ich mich Jahr für Jahr um neue Mittel für die Bekämpfung von Aids. Die derzeitige Situation der Bundesregierung ist - in einem Satz gesagt -: Aids ist ab 1996 kein Thema mehr, zumindest finanziell. Das entspricht nicht dem, Herr Minister, was Sie hier ausgebreitet haben.
({0})
Bis dahin sollen die Länder die Finanzierung komplett übernommen haben. Hierzu kann ich aus tiefstem Herzen nur Glück wünschen. Denn nach den Verhandlungen zum Länderfinanzausgleich muß jedem von uns klar sein, daß die Erwartungen des Bundes eine herbe Enttäuschung erleiden werden.
Herr Menzel, ich sehe die Aufgabe der AidsBekämpfung genau wie Sie, nämlich als nationale Aufgabe. Das muß sich aber auch im Haushalt niederschlagen. Wie erwähnt, geht jedes Jahr aufs neue das Gefeilsche um die Mittel für die Aids-Bekämpfung los. Dabei geht es inzwischen nur noch um den Erhalt des Leistungsstandards, keineswegs mehr um die Einführung neuer Maßnahmen. Um das zu beweisen, gebe ich einen kurzen Überblick über die Ausgabenentwicklung in dieser Legislaturperiode.
Der Nachtragshaushalt 1991 sah dort, wo 1990 noch satte 102,3 Millionen DM etatisiert waren, nur noch 90,8 Millionen DM für die Aids-Bekämpfung vor. Die Hauptlast der Einsparungen - ich bitte Sie, sehr genau zuzuhören - war im Projektmittelbereich, und zwar mit 8,2 Millionen DM. Das heißt, die gewährten Mittel sanken von 54 Millionen DM auf 45,8 Millionen DM.
Im nächsten Haushalt - 1992 - wurden die Ausgaben für die Aids-Bekämpfung praktisch gleich halbiert, nämlich von 90,8 Millionen DM auf 50 Mil lionen DM; wohlgemerkt, das ist das finanzielle Engagement des Bundes.
({1})
- Das kommt noch, Herr Kollege.
({2})
Von den 45,8 Millionen DM im Projektmittelbereich blieben gerade einmal magere 8 Millionen DM übrig. Auf genau dem gleichen finanziellen Niveau wurden auch die Gelder für den Haushalt 1993 etatisiert. Insgesamt stehen 50,55 Millionen DM zur Verfügung, davon wiederum 8 Millionen DM für den Projektmittelbereich.
Dies ist eine zur realen Entwicklung der Aids-Erkrankungen gegenläufige Handhabung, die wir von der SPD daher mit Recht scharf kritisieren. Die SPD hat in den vergangenen Jahren immer wieder versucht, diese rückläufige Mittelgewährung aufzuhalten, wobei sich unsere Anträge an dem orientiert haben, was hier öfter gesagt wurde: Es darf keine Entwarnung an der Aids-Front geben; denn der Anstieg geht weiter, wenn auch etwas abgeflacht.
Damit Sie einmal eine Vorstellung davon haben, wie sich Kürzungen konkret auswirken, bringe ich einige Beispiele. So hat die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege ihre Modellprogramme fast völlig einstellen müssen. Betroffen waren u. a. das Großmodell „Gesundheitsämter", das „Streetworker-Programm", obwohl hier auch von der Bedeutung der aufsuchenden Präventionsleistung die Rede war, das Programm „Drogen und Aids" und das Projekt „Ambulante Betreuung im Rahmen von Sozialstationen" . Dies geschieht angesichts der Vereinigungsfolgen, verbunden mit finanziellen Auswirkungen auch auf die Haushalte der Länder.
Ich möchte mich hier deutlich gegen die Auffassung aussprechen, daß die Strategie der Bundesregierung im Endeffekt ein Erfolg war, da die Länder - jetzt komme ich zu Ihrem Zwischenruf, Herr Kollege - tatsächlich in die Finanzierung eingestiegen sind, aber in erheblich reduziertem Umfang. Die SPD ist der Auffassung, daß die Bundesregierung hier zumindest billigend ein sehr großes Risiko in Kauf genommen hat; denn bei Abwägung aller Argumente bestand die reale Gefahr für die Betroffenen, beispielsweise Obdachlose oder in Wohnprojekten lebende HIVInfizierte, alleingelassen zu werden.
Die Folge der Haltung der Bundesregierung, Modellprogramme und Projekte seien in erster Linie Ländersache geworden, zeigte noch deutlichere Spuren im Haushalt 1992; denn der entsprechende Haushaltstitel reduzierte sich von 45,8 Millionen DM auf gerade noch 8 Millionen DM. Von den vorhin angesprochenen zehn Projekten blieben nur noch zwei übrig, nämlich „Aids und Kinder" und „Aids und Frauen". Im Haushalt 1993 schließlich bewegt sich nichts mehr, weder nach oben noch nach unten. Die Mittel sind schlicht eingefroren.
Bemerkenswert bei der Entwicklung der Ausgabenkürzungen für die Aids-Bekämpfung ist, daß die
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in diesem Zeitraum mit einem blauen Auge davongekommen ist. Ich gönne es ihr; ihre Arbeit ist wichtig. Es wurde hier auch bereits erwähnt, daß Aufklärung im Sinne von präventiver Leistung weiterhin ihren Stellenwert hat. Aber ich frage mich, Herr Minister, warum wieder mal gekürzt wurde, wenn auch wesentlich weniger als in anderen Bereichen. Der Haushalt der BZGA belief sich in den Jahren 1990 folgende auf 35 Millionen DM, dann 32,5 Millionen DM und landete schließlich bei 27,55 Millionen DM für dieses Haushaltsjahr. Hier scheint die Bundesregierung einen Handlungsbedarf zu sehen. Dies kann ich nur nachhaltig unterstützen, aber das reicht nicht, das ist nicht in Ordnung.
Es dürfte ja inzwischen allgemein bekannt sein, welches die Gruppen der Hauptbetroffenen im Bereich Aids sind. Gerade sie sind überproportional von den Kürzungen betroffen. Ein Beispiel wurde schon im Rahmen einer Zwischenfrage angesprochen, Herr Minister, die Sie elegant mit dem Beispiel vom Starkbieranstich umgangen haben. Natürlich wurden die Mittel für die Deutsche Aids-Hilfe gekürzt, und zwar um 6 Millionen DM.
({3})
Jetzt ist Ihre Redezeit zu Ende.
Lassen Sie mich bitte mal ausreden!
({0})
Diese Warnung gilt Ihnen.
Entschuldigung, Frau Präsidentin, das ging nicht nach hinten, sondern nach vorne.
Diese 6 Millionen DM wurden für die Arbeit im Osten eingesetzt. Daß da ein eminenter Bedarf vorherrschte, war ja klar; das wurde auch berücksichtigt, allerdings in der Weise, daß man bei der Aids-Hilfe sparte.
Letzte Bemerkung: Ich hoffe, daß das, was Herr Seehofer ankündigte, nämlich die Entsperrung im Haushaltstitel für die Zustiftung zur Stiftung „Positiv leben", als Vorlage in der nächsten Haushaltsausschußsitzung vorliegt. Ich bitte Sie, Kolleginnen und Kollegen, speziell vom Haushaltsausschuß, aber auch von der Koalition, da Ihrem Versprechen nachzukommen, daß, wenn die Länder ihre Millionen über den Tisch geschoben haben - das ist bereits der Fall -, Sie auch Ihre Verpflichtung zur Zustiftung erfüllen werden.
Vielen Dank.
({0})
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Walter Altherr.
Verehrte Frau Präsidentin, ich hoffe, daß die überzogene Redezeit der Kollegin Titze mir nicht abgezogen wird.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Präsidentin, gestatten Sie mir an dieser Stelle ein Lob. Es wurde ja schon erwähnt, daß die Kommission eine sehr fruchtbare Arbeit geleistet hat. Es ist leider noch nicht erwähnt worden, daß Sie eine der Initiatorinnen dieser Kommission gewesen sind in Ihrer damaligen Funktion als zuständige Ministerin. Dafür herzlichen Dank.
({0})
Wilhelm Freiherr von Humboldt hat vor ca. 200 Jahren folgenden Satz geprägt: Es gibt nur eine Gesundheit und eine Menge von Krankheiten. - Wenn auch seit dieser Zeit auf dem gesamten Gebiet der Medizin bahnbrechende Fortschritte zu verzeichnen sind, so gibt es doch leider auch heute noch unheilbar, tödlich verlaufende Erkrankungen. Eine dieser, bislang nur symptomatisch zu behandelnden Krankheiten stellt der erworbene Immundefekt dar, unter dem Kürzel Aids bzw. im französischsprachigen Raum „Sida" bekannt.
Aids, eine Erkrankung mit globaler Dimension, die erstmals 1981 in den USA beschrieben wurde, zeigt eine dramatische Ausbreitungstendenz besonders in Afrika, Asien und Latein-Amerika. Den Angaben der WHO zufolge sind derzeit ca. 11 Millionen Menschen mit dem HIV-Virus infiziert, wobei man natürlich von einer hohen Dunkelziffer in den Entwicklungsländern ausgeht. Für die Jahrtausendwende rechnet man mit ca. 40 Millionen HIV-Infizierten, darunter 18 Millionen Menschen, die dann das Vollbild der AidsErkrankung ausgebildet haben werden.
Die Zahlen für die Bundesrepublik Deutschland sind, wie vorhin schon dargelegt, auf Grund sehr erfolgreicher Kampagnen, auf Grund der erfolgreichen Maßnahmen der Bundesregierung, rückläufig. Die Befürchtung ist nicht eingetreten. Der steile Anstieg konnte abgebremst werden. Wir hatten Ende Februar in der Bundesrepublik Deutschland ca. 9 500 HIV-Infizierte. Man muß auch leider sagen, daß bis zum heutigen Tage 4 508 Menschen in der Bundesrepublik Deutschland an den Folgen der Krankheit Aids gestorben sind.
Der befürchtete steile Anstieg ist nicht eingetreten auf Grund der Tatsache, daß rechtzeitige vielfältige Aufklärungs- und Informationskampagnen gestartet wurden, daß differenzierte Modellprogramme und Forschungsvorhaben inauguriert wurden.
Liebe Frau Kollegin Titze, an der Stelle möchte ich auf Sie zu sprechen kommen. Sie wissen ja - als Mitglied des Haushaltausschusses sollten Sie das zumindest wissen -: Mit Zahlen kann man alles beweisen und gegenbeweisen. Der Umgang mit Zahlen erfordert eine hohe Moral. Ich will Ihnen sagen: Alle Bundesprogramme sind so konstruiert, daß die Länder nach Ablauf dieses Programmvorhabens die Anschlußfinanzierung übernehmen müssen. Das erklärt eben den Rückgang der Mittel im Bereich des Bundeshaushalts.
({1})
Für die von Ihnen genannten Zahlen gibt es eine ganz einfache Erklärung. Ich will hier einmal beispielgebend die Länder Bayern und Baden-Württemberg herausstellen. Sie haben das Programm "Sozialstationen" angeführt. Das Land Bayern hat die Weiterführung dieses Programms in vorbildlicher Weise rechtzeitig finanziell abgesichert. Das war nicht bei allen Ländern so, leider, muß ich sagen. Auch BadenWürttemberg hat für dieses Programm rechtzeitig Mittel bereitgestellt. Ich verweise auch auf Schleswig-Holstein, wo letztes Jahr die Mittel im Bereich der Aids-Forschung verlängert werden mußten; das muß man korrekterweise auch sagen. Wir machen es uns doch wirklich zu einfach, wenn wir bei allen Problemen den Bund in die Pflicht nehmen. Föderale Elemente bedingen auch bei der Finanzierung, daß sich jeder nach seinen Kompetenzen beteiligt.
({2})
Meine Damen und Herren, die Verminderung der Inzidenzzahlen darf uns allerdings nicht dazu verleiten, daß wir uns in falscher, trügerischer Sicherheit wähnen; denn immer noch gibt es keine kausale Therapie für diese Erkrankung, keine Heilung dieser schrecklichen Krankheit. Die medizinischen Möglichkeiten beschränken sich derzeit auf eine Behandlung der opportunistischen Infektionen. Wenngleich auch neuerdings mit dem Medikament DDI ({3}) neben dem AZT ({4}) ein zweites Medikament zur Verfügung steht, so kann auch damit die tödliche Immunschwäche weiterhin nur hinausgezögert werden, die Lebensqualität nur bescheiden verbessert werden. Das muß uns bei der Diskussion dieses Problems immer klar sein. Frau Präsidentin, es sei mir erlaubt, hier zu sagen: Ich bin etwas enttäuscht, daß sowohl das Plenum als auch die Länderbank so geringen Anteil an diesem so wichtigen Thema nimmt.
({5})
Wie gesagt, im medizinisch-therapeutischen Ansatz stehen derzeit keine heilenden Möglichkeiten zur Verfügung, und es steht derzeit auch kein Impfstoff zur Verfügung. Ich hoffe jedoch, daß in den nächsten fünf Jahren die Forschungsgruppen um Luc Montagnier oder Gallo soweit sein werden, daß ein Impfstoff entwickelt werden kann. Ich vertraue auf die Innovationsfähigkeit der medizinischen Forschung und sehe dort die einzige Chance - auch gentechnisch, was Kollege Dr. Menzel schon erwähnt hat. Das sind für uns die Zukunftshoffnungen zur Bewältigung dieser Herausforderung.
({6})
Aus den genannten Gründen kommt den psychischen und sozialen Beratungs- und Betreuungsangeboten, auf die ich hier natürlich zeitbedingt nicht eingehen kann, nach wie vor eine sehr wichtige Rolle zu. Ich möchte hier stellvertretend für all die vielen Selbsthilfeorganisationen die beiden großen Aids-Stiftungen erwähnen. Ich glaube, wir sind uns hier im klaren - darüber herrscht auch Konsens -, daß diese Organisationen eine sehr segensreiche Arbeit in vielfältiger Weise vollbringen.
Diese segensreiche Arbeit fand ihre Anerkennung im Gesundheits-Strukturgesetz. Meine Damen und Herren, § 20 Abs. 3 a ermöglicht es nunmehr den Krankenkassen, diesen Organisationen Zuschüsse zu gewähren. Ich glaube, auch hier darf man dem Gesundheitsminister danken, der sich entscheidend dafür eingesetzt hat.
({7})
- Ja, geben Sie mal ein bißchen Applaus für den Bundesminister. Er hat es wahrlich verdient.
Solange es noch keine Heilung für diese Krankheit gibt, muß mit allen Mitteln der Prävention eine weitere Ausbreitung verhindert werden. Daneben müssen natürlich auch die Forschungsanstrengungen mit gleicher Intensität weiterlaufen. Die Bundesregierung stellte bislang mehr als 500 Millionen DM für Aufklärungskampagnen zur Verfügung. Das BMFT förderte bislang mit 150 Millionen DM. Für die Dritte Welt haben wir 100 Millionen DM eingesetzt. - Ich sehe, ich bin leider am Ende meiner Redezeit. Meine Damen und Herren, es wäre noch viel zu sagen; aber ich muß leider zum Schluß kommen.
Die nachhaltige Unterstützung der Entwicklungsländer erfordert die Solidarität aller Industriestaaten. Bundeskanzler Kohl appellierte eindringlich auf der internationalen Aids-Ethik-Konferenz auf dem Petersberg im September letzten Jahres an die Staats- und Regierungschefs, dieser ethischen Herausforderung und moralischen Verpflichtung nachzukommen, getreu dem Motto des Welt-Aids-Tages - 1. Dezember 1992 -, das da lautete: Aids - a community commitment! oder auf deutsch: Aids - die Verantwortung gemeinsam tragen!
Danke schön.
({8})
Als nächste spricht Dr. Helga Otto.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Aids ist eine Infektionskrankheit, und deshalb hat sie nicht nur für den einzelnen und seine Familie Bedeutung, sondern auch für die Gesellschaft, und in besonderen Regionen der Welt führt Aids zu einer bereits heute absehbaren ökonomischen und gesellschaftlichen Katastrophe, weil die leistungsfähigste Schicht der Bevölkerung und die Kinder dieser Länder von der Seuche dahingerafft wer- den. Wie groß die Katastrophe wird, hängt vom Vermögen der Menschheit ab, die Dimension zu erkennen, national, europäisch und international angemessene Maßnahmen zu ergreifen. Der Schlüssel dazu heißt Forschung.
Retroviren gehören zu den ersten bekannten Viren. Vor über 80 Jahren wurden sie als Erreger der infektiösen Pferdeanämie erkannt. Der hohe Stand der Wissenschaft und die internationale Kooperation
ermöglichten in beispielhaft kurzer Zeit die Erforschung der Retroviren. In diesem Zusammenhang muß man die Namen Robert Gallo und Montagnier nennen.
Mit jeder neuen wissenschaftlichen Erkenntnis tun sich immer neue Fragen auf, die gelöst werden wollen, und zwar mit dem Ziel, der Entwicklung eines brauchbaren Impfstoffes und einer lebensrettenden Therapie näherzukommen.
Da die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt war, wurde die Aids-Forschung seit 1983 zunächst großzügig und breit gefördert und führte auch in bestimmten Detailbereichen zu einem ansehnlichen Erfolg. Jedoch wird im Endbericht der Enquete-Kommission das Problem der Kontinuität der Forschung angesprochen und empfohlen, dafür zu sorgen, daß bislang erfolgreich arbeitenden Forschergruppen die Fortsetzung ihrer Arbeit ermöglicht werde.
Forschungsbedarf besteht jetzt u. a. in der Sozialwissenschaft, in der klinischen Forschung über die Unbedenklichkeit von Langzeitbehandlungen mit Virustatika, über neue Chemotherapeutika und besondere Therapieansätze bei Kindern, über Nachweismethoden und zur Transmission des Virus sowie zur Verhinderung dieser. Auch ist die Frage über die konzeptionelle Gestaltung ansetzender Prävention und von betreutem Wohnen Aidskranker nicht ausreichend beantwortet.
Ein Land mit einer rudimentär angelegten Epidemiologie, die das Interesse des einzelnen vor das Interesse der Gemeinschaft stellt, muß sich nicht wundern, der Gefahren einer sich ausbreitenden Seuche nicht Herr zu werden. Die Forschung stößt mangels verfügbarer Daten jedenfalls im Bereich der Epidemiologie schnell an ihre Grenzen.
Die Bundesrepublik beabsichtigt nun, die AidsForschung in die übliche Forschungsförderung einzugruppieren. Das Abschieben dieser Forschung auf die Länderebene ist der Bedeutung dieser Krankheit nicht angemessen, da es sich um eine Infektionskrankheit handelt. Ich glaube, diese satte Gesellschaft ist überhaupt nicht mehr in der Lage, auf eine Infektionskrankheit angemessen zu reagieren. Solange die bereits genannten Ziele, nämlich die mögliche Impfung und die Therapie, nicht erreicht sind und sich das Unheil weiter über uns und den Entwicklungsländern zusammenbraut, dürfen wir in Sachen Aids und besonders in der Forschung nicht nachlassen.
({0})
Dabei haben wir doch alle Voraussetzungen für die HIV-Forschung in unserem Lande geschaffen. Es gibt hochqualifizierte Leute auf allen Gebieten der Virusforschung, den dazugehörigen Nachwuchs und entsprechende Arbeitsmöglichkeiten. Aber was tut die Bundesregierung? Sie läßt hochqualifizierte Leute außer Landes gehen. Ich nenne in diesem Zusammenhang Frau Professor Karin Mölling, die jetzt nach Zürich gehen wird, um dort die Leitung eines Instituts zu übernehmen. Das ist für uns eine Blamage. Entweder hat die Schweiz mehr Geld oder mehr Einsicht in den Ernst der Lage.
({1})
Gentechnik und die Gentherapie sind für uns und auch für die HIV-Infizierten die Hoffnung. Das Virus, gegen das es noch kein Mittel gibt, ist ungleich gefährlicher als die Gentechnik. Also fördern wir doch ausreichend und gezielt die Aids-Forschung.
Die bessere Einbettung in die internationale Aids-Forschung könnte durch die Zusammenarbeit der spezialisierten Institute und der Universitäten mühelos gelingen, und so könnte die Lösung langfristiger Probleme schneller und kostengünstiger herbeigeführt werden.
Es gibt Vorschläge zur Neukonstruktion der HIVForschung in Deutschland, die sich an Erfahrungen anderer Länder wie England, Frankreich und USA anlehnen. Demnach soll unter Nutzung der vorhandenen personellen und apparativen sowie institutionellen Voraussetzungen gemeinsam über einen Forschungsrat unter Einbeziehung der Wissenschaftler, der Legislative und der Exekutive die Aids-Forschung strategisch und langfristig betrieben werden.
({2})
Daß es diese langfristigen Probleme gibt, hängt nicht nur mit dem außergewöhnlichen Vermehrungsvorgang der Retroviren, der hohen Variabilität der HIVViren und ihrer Fähigkeit zur heimlichen Integration der Erbsubstanz in das Genom der menschlichen Zelle zusammen; es gibt auch Folgekrankheiten wie die therapieresistente Tuberkulose der HIV-Infizierten. Das könnte eine große gesundheitspolitische Bedeutung allein dadurch bekommen, daß die Ansteckungsgefahr in Schulen und öffentlichen Verkehrsmitteln steigt. Die Bekämpfung einer wiederkehrenden, diesmal therapieresistenten Tuberkulose wird jedenfalls teurer als die HIV-Forschung finanzstarker und kompetenter Partner, die wir im Vergleich zu anderen Ländern trotz derzeitiger Probleme haben. Bei knappen Kassen ist es eine Frage der Prioritäten, welche Forschungsfelder und in welcher Größenordnung besetzt werden. Ein Land, in dem immer noch über 20 % des Forschungshaushalts in die Luft- und Raumfahrtforschung gesteckt werden, kann nicht von sich behaupten, daß es die Zeichen der Zeit richtig zu deuten vermag.
({3})
Im Haushalt 1993 sind für die Aids-Forschung beim Bundesministerium für Gesundheit 1,38 Millionen DM und beim BMFT 21 Millionen DM angegeben. Dies ist nicht wenig, aber gegen den gefräßigen Tiger Luft- und Raumfahrt ist die Gesundheitsforschung ein lächerlicher Zwerg.
({4})
- Das müßten Sie als Arzt mir eigentlich bestätigen, denn die Gesundheitsforschung ist ein Bereich, der immer relativ schlecht wegkommt.
({5})
Dabei geben wir pro Jahr 13,6 % unseres Bruttosozialprodukts für das Gesundheitswesen aus.
Ich bin sicher, die Aids-Forschung verdient weiterhin unsere ungeschmälerte Aufmerksamkeit; sonst wird es in den internationalen Gremien vielleicht bald heißen: Deutschland, wo seid ihr?
({6})
Als nächster spricht der Abgeordnete Hubert Hüppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den letzten Monaten ist es um das Thema Aids still geworden. Dies hat gute Seiten, aber auch schlechte. Gut ist, daß die Hysterie und Panik in der Bevölkerung nachläßt, da die früheren Schreckensprognosen hinsichtlich der Ausbreitung zumindest in der Bundesrepublik Deutschland glücklicherweise nicht eingetroffen sind. Die drohende Eskalation ist ausgeblieben. Gut ist auch, daß die Sensationslust der Regenbogenpresse nachgelassen hat. Einen Hauptanteil daran, daß heute sachlicher über dieses Thema gesprochen werden kann, hat sicherlich die breite Aufklärungs- und Informationskampagne der Bundesregierung. Die Aufklärung in der Bevölkerung war außerdem so durchschlagend, daß durch die Verhaltensänderung eine schnellere Ausbreitung des HIV-Virus unterblieben ist. Die Zahl der Sexualpartner ist rückläufig. Verläßlichkeit und Verantwortung in der Partnerschaft sind wieder stärker gefragt. Ein Großteil der Bevölkerung weiß heute: Kondome senken das Risiko, Treue ist besser. Der beste Schutz vor Aids ist verantwortliche Sexualität.
({0})
Weniger gut ist, daß langsam auch wieder Desinteresse zu spüren ist nach dem Motto: Aids ist nur etwas, was Schwule, Prostituierte und Drogenabhängige betrifft. Dies verdrängt bei manchen die Gefahr aus ihrem Bewußtsein. Dies kann zu einem tödlichen Irrtum werden. Die Erfahrungen zeigen, daß die Krankheit mehr und mehr, wenn auch langsamer, als zunächst angenommen, die bisher betroffenen Hauptgruppen verläßt.
Meine Damen und Herren, bisher waren Aids- bzw. HIV-Infektionen hauptsächlich unter Männern verbreitet. Dies ist kein Wunder, denn homosexuelle Männer sind nun einmal per Definition Männer, Hämophile sind Männer, und zwei Drittel der Drogenabhängigen sind Männer. Aber je mehr die HIVInfektionen auf heterosexuellen Geschlechtsverkehr zurückzuführen sind, um so mehr wird Aids auch zu einer Frauenkrankheit. Schließlich ist das Risiko der Infizierung bei heterosexuellem Verkehr bei Frauen dreimal so hoch wie bei Männern. Dies zeigen eindeutig auch die Zahlen. Waren von den bis Ende 1992 insgesamt 9 205 an Aids Erkrankten noch 9 % Frauen, so betrug der Anteil der Frauen bei den Neuerkrankungen bereits 13 %. Der Frauenanteil bei den Infizierten wird sogar auf ca. 15 % geschätzt.
({1})
Wenn die Beschlußempfehlung also die Prävention bei Heterosexuellen besonders betont, bedeutet dies auch gleichzeitig mehr Schutz für die Frauen. Wir sehen sehr wohl, daß sich die Gruppe der betroffenen Frauen nicht mehr allein auf das Schema Prostitution und Drogenmißbrauch einengen läßt. Wir sehen natürlich auch andere frauenspezifische Maßnahmen, wie z. B. die Fortbildung von Gynäkologen, da bei Frauen andere Krankheitsbilder, wie z. B. Gebärmutterkrebs oder Pilzinfektionen, auftreten. Wir wissen auch, daß aidskranke Frauen häufig isolierter sind als Männer. Wir sollten nicht vergessen - auch das halte ich für wichtig -, daß es wie in anderen Pflegebereichen auch hier so ist, daß es häufig wieder die Frauen sind, die die Erkrankten pflegen.
({2})
Ich möchte der Bundesregierung daher an dieser Stelle herzlich danken, daß sie sich mit der Finanzierung des Modellprojektes Frauen und Aids der besonderen Situation von Frauen angenommen hat.
({3})
Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle auch einige Worte zum Thema Sextourismus sagen. Sicherlich ist es richtig, wenn wir Männer in diesem Zusammenhang auch auf die Gefahren hinweisen. Schließlich ist Sextourismus gesellschaftliche Realität. Aber ich glaube, wir sollten auch deutlich machen, wer dabei Täter und wer dabei Opfer ist. Opfer - das ist für mich deutlich - sind die jungen Frauen und auch die jungen Männer, die sich im Ausland und in der Dritten Welt häufig unter Zwang prostituieren müssen. Ich sage auch deutlich: Wer sich im Ausland an Kindern und Jugendlichen vergreift, ist ein Verbrecher und sollte hier auch als solcher behandelt werden.
({4})
Lassen Sie mich noch auf die besonders tragische Situation von HIV-infizierten und aidskranken Kindern eingehen. Sicherlich ist diese Gruppe in der Bundesrepublik noch sehr klein, und von daher liegen auch wenig Erfahrungen und wissenschaftliche Kenntnisse vor. Aber auch bei Kleinkindern und Säuglingen gibt es inzwischen leider zunehmende Zahlen. Schon das Wissen, daß ein Kind HIV-positiv ist, bzw. der Verdacht, daß es infiziert sein könnte, kann zu erheblichen Problemen in nahezu allen Lebensbereichen führen. Den Müttern HIV-infizierter Kinder wird die Infektion des Kindes oft persönlich angelastet. Oft wird schon während der Schwangerschaft Druck auf infizierte Frauen ausgeübt, ihre Kinder abzutreiben, oder das Austragen der Schwangerschaft stößt zumindest auf Unverständnis. Wieder sind es die Frauen, die nicht selten von Männern angesteckt wurden, die hier die Hauptlast tragen müssen. Interessenverbände, wie es sie für andere
chronisch Kranke gibt, haben diese Frauen und Kinder nicht.
Hinzu kommt, daß die Mütter häufig drogenabhängig sind oder ihre Partner drogenabhängig sind und dabei noch weitere soziale Probleme haben. Oft ist die Mutter selbst schon an Aids erkrankt und nicht mehr in der Lage, ihr Kind oder ihre Kinder zu versorgen. Viele der betroffenen Kinder wachsen daher in Pflegefamilien oder bei Verwandten auf. Es ist erstaunlich - das sollte man bei allen schlechten Nachrichten, die wir heute gehört haben, auch einmal sagen -, daß trotz aller Schwierigkeiten bisher kein Fall bekanntgeworden ist, in denen Kinder außerhalb ihrer Herkunftsfamilie nicht hätten untergebracht werden können. Ich möchte deswegen allen danken, die als Verwandte oder als Pflegeeltern diese Verantwortung übernommen haben.
({5})
Dennoch, im Bereich der Verwandtenpflege sollten wir meiner Meinung nach überlegen, ob es nicht auch Möglichkeiten gibt, die Verwandtenpflege über die jetzt schon vorhandenen Beratungshilfen auch finanziell zu unterstützen. In diesem Zusammenhang sollte man noch einmal über § 6 KJHG nachdenken.
Meine Damen und Herren, die Erfahrungen mancher Betreuer von HIV-infizierten Kindern sind ebenso erschütternd wie beschämend. Im persönlichen Bereich erleben betroffene Kinder sowie ihre Eltern und Betreuer nach Bekanntwerden der Infektion nicht selten eine soziale Isolierung. So ist es nicht ungewöhnlich, daß sich Nachbarn und Freunde zurückziehen. Kinder dürfen nicht mehr mit den infizierten Kindern spielen. Wir sind es der Zukunft dieser Kinder einfach schuldig, weiterhin entsprechend präventiv vorzugehen und geeignete Maßnahmen einzuleiten.
Herzlichen Dank.
({6})
Als nächster spricht Horst Schmidbauer.
Aids betrifft uns alle, denn Aids kann uns alle treffen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war ein ganz großer Schritt, daß wir den 6 000 Hämophilen ein ganz normales Leben vermitteln konnten. Dies verdanken sie einem Präparat, und dieses Präparat ist aus Blutplasma gewonnen. Die Tragik dabei ist der Preis, der für diesen Schritt bezahlt worden ist. 2 000 Menschen aus diesem Kreis der Bluter müssen mit ihrem Leben dafür bezahlen. 400 sind schon tot, jährlich kommen 60 hinzu. Todesursache: Aids, übertragen durch dieses für sie lebensnotwendige Medikament. Also: Aids betrifft uns alle, denn Aids kann alle treffen.
Doch diesen Preis hätte man nicht zahlen müssen. Der medizinische Super-GAU war keine Naturkatastrophe. Viele Lander haben uns vorgemacht, daß es auch anders geht, Belgien beispielsweise: Blutimporte wurden gestoppt, eine nationale Blut- und Plasmaeigenversorgung wurde mit Hilfe von Personen, die unentgeltlich spendeten, aufgebaut. Das Ergebnis: 10 Millionen Einwohner, aber nur 35 HIVInfizierte durch diese Blutpräparate. Makaber daran: 17 von diesen 35 waren Empfänger ausländischer Präparate. Und bei uns gibt es mehr als 2 000 Infizierte!
Dabei hätten wir in der Bundesrepublik einen doppelten Schutz haben können, einmal durch eine Eigenblut- und -plasmaversorgung an Stelle der Importe von jährlich 1 Million Liter Blutplasmaprodukten. Zum zweiten hätten durch Hitzeinaktivierung der Präparate die Viren abgetötet werden können; dies wäre ab 1982 möglich gewesen.
({0})
Mit dieser Doppelsicherung hätten die meisten Infektionen verhindert werden können. Hätten! Können!
({1})
Dagegen stand das Versagen der Gesundheitsbehörden und die Profitgier der Pharmahersteller.
({2})
Bis heute will man nicht wahrhaben: Bei dem Geschäft mit dem Blut geht es um Geld - um viel, viel Geld! 1 000 DM kostet dieses Präparat hier - 1 000 Einheiten - in der Bundesrepublik. Umgerechnet 250 DM kostet dies in den USA.
({3})
Sichere Blutprodukte wurden ausgegrenzt, unsichere dagegen verordnet, und zwar teilweise grenzenlos.
({4})
Der Plasmaverbrauch ist bei uns so hoch wie in den USA. Herr Kollege Voigt, die USA haben bekanntermaßen viermal soviel Einwohner, wie die Bundesrepublik hat.
({5})
Aids betrifft uns alle, denn Aids kann alle treffen. Das beweist eine weitere Gruppe von Betroffenen: Die PPSB-Opfer. Es sind Menschen wie Sie und ich, die mit PPSB - das sind ebenfalls Blutgerinnungsmittel - behandelt wurden, z. B. nach einem Verkehrsunfall, bei der Entbindung, bei internistischen Untersuchungen oder bei chirurgischen Routineeingriffen.
Erst Jahre später erfahren die Menschen per Zufall: Sie sind auf Rezept mit dem tödlichen Aids-Virus infiziert worden. Sie haben, ohne es zu wissen, inzwischen andere infiziert, ihre Partner, ihre Kinder.
Schlimmer noch: Sie leben in einer Grauzone, und diese Grauzone wirkt fort. Wir wissen nicht, wie viele Menschen betroffen sind. Sind es Hunderte, sind es tausend?
Horst Schmidbauer ({6})
Ist es nicht die Bundesregierung, die mit dem Slogan angetreten ist: „Gib Aids keine Chance"? Ist es nicht die Bundesregierung, die in Hochglanzbroschüren an die Verantwortung der einzelnen appelliert?
({7})
Müßte aber in diesem Fall die Bundesregierung nicht an sich selbst appellieren und hier für eine Aufklärung sorgen? Nur dann, meine ich, kann man glaubwürdig bleiben.
({8})
Aids betrifft uns alle, denn Aids kann alle treffen. Deshalb müssen wir uns fragen: Was ist zu tun? Ich denke, wir müssen erstens den Betroffenen helfen und zweitens Lehren aus diesem medizinischen Super-GAU ziehen.
Das Leben und die Gesundheit von 2 000 Menschen sind zerstört. Der Staat hat zugesehen, wie ihnen die Versicherungen der Pharmaunternehmen Entschädigungsverträge abpreßten, die sittenwidrig sind. Unter Ausnutzung ihrer finanziellen Not und ihrer Angst, die Anonymität zu verlieren und von der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden, sind sie mit einem Taschengeld abgespeist worden.
Ich denke z. B. an die Frau aus meinem Wahlkreis, deren inzwischen an Aids verstorbener Ehemann, ein Bluter, sie ebenfalls infizierte, bevor er von seiner eigenen Infektion wußte. Sie hat 25 000 DM inklusive Beerdigungskosten für ihren Mann von der Versicherung erhalten, für die Infektion der Frau, für die man nicht verantwortlich sei - so wurde es dargestellt -, noch 10 000 DM dazu.
({9})
Die Frage lautet: Ist das der Preis für zwei Menschen bei uns in der Bundesrepublik?
({10})
Die Opfer in Spanien und in Frankreich bekommen von den Gerichten umgerechnet zwischen 300 000 und 600 000 DM zugesprochen. Das ist die Meßlatte, an der sich unser Staat messen lassen muß.
({11})
Deshalb fordern wir einen nationalen Hilfsfonds aus Mitteln der Pharmaindustrie und des Staates, der sofort greift. Die Betroffenen werden im Augenblick das Gefühl nicht los, daß man in Bonn und in der Pharmaindustrie das Problem aussitzen will.
({12})
Herr Schmidbauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Altherr?
Ja.
Herr Kollege Schmidbauer, stimmen Sie mit mir überein, daß dieser
Vergleich der Entschädigung in Frankreich mit der in Deutschland nicht zulässig ist, und zwar aus folgenden Gründen: In Frankreich betrieb der Staat die Plasmaversorgung zu mehr als 50 % in eigener Regie; nachweislich haben die Franzosen noch nach 1985 Derivate vermarktet, wiewohl sie wußten, daß Infektionsgefahr bestand?
In der Bundesrepublik Deutschland hat das BGA die wissenschaftlichen Erkenntnisse zeitgerecht umgesetzt. Dem müssen Sie doch wohl zustimmen.
({0})
Frau Präsidentin, ich kann dem überhaupt nicht zustimmen. Für mich ist das eine Frage des Maßstabes. Ich wehre mich ganz entscheiden dagegen, daß die Menschen, die tödlich infiziert worden sind, mit solchen Butterbrotbeträgen abgespeist werden.
Wenn Ihnen der Vergleich mit Frankreich Schwierigkeiten bereitet, dann lesen Sie die gestrige Presse nach. Dort können Sie lesen, was in Spanien geschieht. Auch dort sind den Menschen umgerechnet zwischen 350 000 und 500 000 DM von Gerichten zugesprochen worden, weil Präparate importiert worden sind. Wegen der Importe ist die Reaktion der Gerichte entsprechend ausgefallen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? - Ja.
Herr Kollege Schmidbauer, wir wissen alle, daß dieser Vergleich außergerichtlich zustande kam. Auch wir können ihn nicht gutheißen; das ist völlig klar und unbestritten. Nur dürfen Sie das nicht der Bundesregierung oder den Gerichten anlasten. Es war ein außergerichtlicher Vergleich.
Etwas anderes ist die Tatsache - da werden Sie mir zustimmen -, daß hier eine Nachbesserung erfolgen muß, und zwar nach dem Verursacherprinzip. Das heißt, die Pharmafirmen bzw. deren Assekuranzen müssen hier finanziell nachbessern; das ist unbestritten.
({0})
Wieweit sich der Staat daran beteiligen kann, kann ich derzeit auf Grund der Finanzlage nicht entscheiden; da bin ich auch nicht kompetent. Sie stimmen dem wohl zu.
Meine Frage wäre also: Stimmen Sie mir zu, daß ein außergerichtlicher Vergleich ohne Beteiligung des Staates, ohne Beteiligung der Gerichte stattgefunden hat und daß der außergerichtliche Vergleich zu diesem Ergebnis geführt hat?
Ich kann nicht zustimmen, daß das ein außergerichtlicher Vergleich war. Wenn man den Menschen 25 000 bis 65 000 DM gegeben hat, hat das nichts mit einem Vergleich zu tun. Vielmehr sind die Menschen auf Grund ihrer Lebensumstände, die heute den ganzen Tag über dargestellt worden sind, erpreßt worden.
({0})
Horst Schmidbauer ({1})
Gegen diese Form der Sittenwidrigkeit in unserer Gesellschaft müssen wir uns wehren. Wir müssen uns auch dagegen wehren, daß der Staat, die Pharmaindustrie und die Versicherer versuchen, diese Geschichte auszusitzen, weil sie sehr wohl wissen, daß die Menschen nur noch eine geringe Lebenserwartung haben.
({2})
Da sagen wir: Hier gibt es eine Sorgfaltspflicht des Staates. Der Staat muß in Vorleistung treten, bis die formelle Frage über Gerichte entschieden ist, und er darf das nicht aussitzen, bis die Menschen diese Situation nicht mehr erleben.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Voigt?
Herr Schmidbauer, stimmen Sie mit mir überein, daß auf Veranlassung und Bitten der Vertreter der organisierten HIV-infizierten Bluter die Bundesregierung und auch die damalige Enquete-Kommission nicht handeln sollten?
Stimmen Sie mir zu, daß diese Vertreter uns gebeten haben, einen außergerichtlichen Vergleich in eigener Regie durchführen zu können, und ausdrücklich die Enquete-Kommission gebeten haben, sich mit diesem Thema nicht zu beschäftigen, weil sie der Meinung sind, daß dieses Thema nicht in der Öffentlichkeit diskutiert werden sollte?
Ich kann Ihnen nur zustimmen, daß ich aus der Anhörung weiß, daß die Verbände konkrete Vorstellungen über die zukünftige Lösung haben. Sie denken an einen nationalen Fonds, der durch die Pharmaindustrie bzw. deren Versicherer und die Bundesregierung gespeist wird.
Frau Präsidentin, meine Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wenn man weiterhin so vorginge, wäre das eine Verhöhnung der Opfer. Die Rechtskultur unserer Gesellschaft würde schweren Schaden leiden.
Ich frage mich, woher eigentlich unsere Zurückhaltung kommt. Die Pharmaindustrie signalisierte Bereitschaft, sich an einem nationalen Fonds zu beteiligen. Ich zitiere, 22. Januar 1993:
Die zusätzliche Einrichtung eines staatlichen Hilfsfonds unter humanitären Gesichtspunkten für alle durch Blutprodukte Geschädigten sollte nachhaltig betrieben werden.
Die Versicherungen versuchen dagegen, von den einkassierten Millionen oder Milliarden möglichst nichts herauszurücken. In einem Schreiben aus München an den Bundesverband Pharma ist formuliert - das möchte ich zitieren -:
Im Einvernehmen mit führenden Erstversicherern dürfen wir hierzu anmerken, daß die Haftpflichtversicherer, die das Pharmaprodukthaftpflichtrisiko abdecken, keine Veranlassung sehen, über die geleisteten Schadenzahlungen hinaus etwaige Liberalitätsleistungen zu erbringen. Insofern kann die Befürwortung eines öffentlichrechtlichen Fonds durch den BPI nicht für die Versicherer präjudizierend wirken.
Ich denke, wir müssen diesen Teufelskreis durchbrechen.
Was haben wir denn aus dieser Affäre gelernt, meine Damen und Herren? Wie verhindern wir eine Wiederholung dieser Katastrophe? In unserem Antrag haben wir die vor uns liegenden Aufgaben bereits formuliert. Der Antrag wird heute wahrscheinlich nicht die Zustimmung des Hauses finden.
Ich möchte deshalb an dieser Stelle für die SPD unser Angebot erneuern: Schaffen wir den von mir skizzierten nationalen Entschädigungsfonds sofort! Reformieren wir vor allem das Arzneimittelgesetz! Bauen wir eine nationale Eigenversorgung mit Blut und Blutplasma auf!
Wenn die Menschen bei uns begreifen, daß sie mit einer unentgeltlichen Blut-/Plasmaspende vor allem sich selbst helfen und schützen, können wir endlich ein Importverbot für Blut und Plasma durchsetzen. Entziehen wir dem Geschäft mit dem Blut die Grundlage! Aber auch bei uns darf mit Blut- und Plasmaspenden kein Geschäft gemacht werden. Nur so können wir die Menschen zu solidarischem Handeln gewinnen. Verhindern wir, daß sich eine solche Tragödie wiederholt!
({0})
Ich sage zum Schluß: Was helfen die besten Absichten, die gemeinsamen Einsichten, die heute formuliert worden sind, wenn der eigentliche Durchbruch fehlt. Den Durchbruch hin zu einem gesellschaftlichen Konsens sehen wir immer noch als eine große Aufgabe an. Wir wünschen Ihnen Kraft und Mut, Herr Minister, diese Frage anzugehen, denn Aids betrifft uns alle, da Aids alle treffen kann.
({1})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Zwischen- und Endbericht der Enquete-Kommission „Gefahren von Aids und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung" auf Drucksache 12/4485.
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/4528 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der SPD? - Gegenprobe! - Der Antrag der SPD ist durch die Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden. Enthaltungen hat es nicht gegeben. Der Änderungsantrag ist damit also abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Gesundheit? - Gegenprobe! - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei denselben Stimmverhältnissen angenommen.
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Vizepräsident Helmuth Becker
- Bei einer Enthaltung. Entschuldigung, das habe ich nicht gesehen.
Ich rufe nunmehr Punkt 12 der Tagesordnung auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Monika Ganseforth, Dr. Liesel Hartenstein, Dr. Klaus Kübler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Umsetzung der Empfehlungen der EnqueteKommission
„Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" durch die Bundesregierung
- Drucksachen 12/2669, 12/4280 -
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro ({1})
- Drucksache 12/3380 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Zur Großen Anfrage liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor.
Ich weise darauf hin, daß die Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN zu ihrem Entschließungsantrag namentliche Abstimmung wünscht. Nach unserer Geschäftsordnung kann eine namentliche Abstimmung aber nur von einer Fraktion oder von anwesenden 5 v. H. der Mitglieder des Hauses verlangt werden. Ob der Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die erforderliche Unterstützung hat, wird nach Ende der Aussprache festgestellt.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste hat unsere Frau Kollegin Monika Ganseforth das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hat die Bundesregierung, hat die sie tragende Koalition es wirklich ernst gemeint, als sie vor fast drei Jahren den Beschluß gefaßt und vor allen Dingen verkündet hat, die CO2-Emissionen in der Bundesrepublik um 25 bis 30 % in bezug auf den Zeitraum von 1987 bis zum Jahr 2005 zu reduzieren? Jedenfalls hat sie seitdem keinen konkreten Schritt zur Umsetzung des Beschlusses getan. Statt dessen haben sich Kanzler, Umweltminister und Umweltpolitiker der Koalition international
- besonders in Rio - für ihren weitgehenden Beschluß feiern lassen. Das ist ja auch einfacher und weniger anstrengend als die notwendigen Maßnahmen gegen die Interessen und Lobbyisten durchzusetzen, und es gibt sie reichlich von der Ziegeleiindustrie
bis zu den Energieanbietern, von der chemischen Industrie bis zur Automobilindustrie.
Die Gewinner einer Klimaschutzpolitik melden sich weniger lautstark und liegen der Bundesregierung weniger am Herzen. Damit meine ich nicht nur diejenigen, die Leidtragende einer verfehlten Klimaschutzpolitik sein werden, nämlich die nachfolgenden Generationen, sondern ich meine die Branchen, die von einer Klimaschutzpolitik profitieren würden: der Bausektor, Handwerk und Industrie, vor allen Dingen dezentral.
Es ist erwiesen, daß je eingesparter Energiemenge, die in 25 000 t Heizöl entsprechend umgerechnet werden kann, netto 100 Arbeitsplätze entstehen. Genaugenommen entstehen zwar noch mehr Arbeitsplätze, aber es fallen auch welche weg; der Gewinn beträgt netto 100 Arbeitsplätze.
Die Produktions- und Exportzahlen energiesparender Produkte haben sich in der Vergangenheit überproportional entwickelt. Während beispielsweise die Zuwachsraten aller Exporte in der Bundesrepublik von 1982 bis 1988 jährlich durchschnittlich 3,9 % betrugen, erreichten sie bei energiesparenden Erzeugnissen wie Heizkessel, Wärmepumpen, elektronischen Gütern 9 % jährlich, d. h. mehr als doppelt soviel.
Aus diesem Grunde ist eine ökologische Steuerreform, wie sie die SPD seit langem fordert und wie sie in unserem Entschließungsantrag nachzulesen ist, nämlich die Arbeit finanziell zu entlasten, aber den Energie- und Rohstoffverbrauch schrittweise zu belasten, das Gebot der Stunde.
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Langfristiges strategisches Denken und Handeln gibt es bei dieser Regierung jedoch weder in Fragen der Wirtschaft noch in Fragen des Umweltschutzes.
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- Ich bin ja einmal gespannt, ob Sie hier zur Vignette oder zur Mineralölsteuererhöhung reden. Das ist ja überhaupt noch nicht festgelegt, geschweige denn in ein langfristiges Konzept mit stufenweisen Erhöhungen auf der einen und Entlastungen auf der anderen Seite, von dem ich geredet habe, eingebettet.
Wir wollten in unserer Großen Anfrage „Umsetzung der Empfehlungen der Enquete-Kommission ,Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre' durch die Bundesregierung" erfragen, ob die Regierung noch zu dem von ihr propagierten Reduktionsziel steht und wie sie es umsetzen will. Damals hieß die Enquete-Kommission noch „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre"; inzwischen heißt sie nur noch „Schutz der Erdatmosphäre"; denn für eine Vorsorge ist es ja längst zu spät.
Daß die Beantwortung der Großen Anfrage lange dauerte, hat uns nicht beunruhigt, denn gut Ding will Weile haben. Was dann aber nach neun Monaten dabei herauskam, war weniger als das sprichwörtliche Mäuslein. Im Konfliktfall hat sich der Umweltminister beim Klimaschutz nirgends gegen seine Kabinettskol12640
legen und -kolleginnen durchgesetzt, wie die Antworten zeigen.
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So heißt es auf die Frage nach den konkreten Maßnahmen beispielsweise: ist anzustreben; ist zu prüfen; wird derzeit erarbeitet; die Regierung wird sich einsetzen; die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen. Und das nach vielen Jahren Propagierung des Ziels!
Zum Beispiel die Wärmeschutzverordnung, die beim Neubau, aber besonders bei der Renovierung des Gebäudebestandes große Energiesparpotentiale bringen würde, die sogar wirtschaftlich wäre, hakt nach wie vor. Daß der vorliegende Entwurf völlig unzureichend ist und gerade dem Standard entspricht, den Schweden vor mehr als zehn Jahren hatte, sei nur am Rande erwähnt. Der Altbau bleibt völlig unberücksichtigt.
Zur Wärmenutzungsverordnung und deren Novellierung, die seit fast zehn Jahren im Entwurf vorliegt, heißt es, sie solle möglichst bald den beteiligten Kreisen zur Anhörung zugeleitet werden. Dabei wäre ihr Effekt für den Klimaschutz enorm: 100 Millionen t CO2-Ersparnis jährlich oder ein Drittel des notwendigen Einsparpotentials. Bitte bringen Sie das voran!
Auch die Novellierung der Honorarverordnung für Architekten und Ingenieure wird derzeit vorbereitet. Wir haben gestern in Leipzig wieder gehört, daß es sehr wichtig sei, sie zu verabschieden. Das ist durchgängig das Niveau der Antworten; die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen.
Daß die Bundesregierung die Bundesbürger im Verkehrsbereich mit Vollgas in den Verkehrskollaps rasen läßt, ist inzwischen allgemein bekannt. Mit dem Entwurf des Bundesverkehrswegeplanes nimmt die steigende CO2-Emission um mindestens 38 % bis zum Jahr 2005 zu, wie das Prognos-Institut ermittelt hat. In der Vergangenheit übertrafen die tatsächlichen Zuwächse immer noch alle Prognosen. Damit werden mögliche CO2-Minderungsbemühungen auf anderen Gebieten von vornherein unterlaufen.
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- Es geht nicht um Einzelfälle, es geht um das gesamte Konzept. Da ist der Wurm drin.
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Natürlich spricht sich die Regierung gegen eine stärkere Anlastung der Kosten auf den Straßengüterverkehr aus, dabei weiß doch jeder, daß er von der Allgemeinheit hoch subventioniert wird. Die Regierung meint, die Bahn habe auch so durchaus eine Chance.
Auch bei der Energiepolitik hat die Bundesregierung die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Obwohl es mittlerweile Allgemeingut ist, daß die Energieversorgungsunternehmen zu Energiedienstleistungsunternehmen umgewandelt werden müßten, „beabsichtigt die Bundesregierung nicht, Einfluß auf die Unternehmenszielsetzung von Energieversorgungsunternehmen zu nehmen". Da wundert es auch nicht, daß deshalb keine ordnungspolitischen Maßnahmen zur Verstärkung erneuerbarer Energien geplant sind und der Einsatz der Kraft-Wärme-Kopplung seitens der Bundesregierung nicht unterstützt wird. Ein Gesetzentwurf für die Verbesserung der Einspeisbedingungen für Kraft-Wärme-Kopplung wird vom Land Brandenburg eingebracht, und es wäre ungeheuer wichtig, daß der Bundestag diese Initiative aufnimmt und unterstützt.
Zur Novellierung des lange zugesagten Energiewirtschaftsgesetzes aus dem Jahre 1935 habe es - man höre und staune - erste Gespräche innerhalb der Bundesregierung gegeben, heißt es in der Antwort. Den 1991 von der SPD eingebrachten Entwurf lehnt die Bundesregierung natürlich ab. Sie setzt statt dessen auf Kernenergie. So wundert es nicht, daß inzwischen die Spatzen von den Dächern pfeifen: Die Bundesregierung hat den Mund zu voll genommen; sie wird das Reduktionsziel von 25 bis 30 % bei CO2 bis zum Jahr 2005 so nicht erreichen. Das wird für das Klima schlimme Folgen haben und bedeutet für unser Land eine gigantische Blamage.
Mit Spannung erwartet man dann die Antwort auf die Frage, ob die Bundesregierung an ihrem Reduktionsziel festhalte. Die Antwort auf diese entscheidende Frage ist vieldeutig. Das läßt nur den Schluß zu, daß sich die Regierung von ihrem Ziel verabschiedet hat.
Ich habe eine Frage: Mit der Zeit hat es hier eben einen Sprung gegeben. Ist das richtig?
Jawohl, Frau Kollegin. Sie haben fünf Minuten länger Zeit.
Ich habe jede Menge aus meiner Rede herausgelassen, weil die Uhr schon so weit war. Auf einmal ist sie wieder zurückgegangen. Das ist eine merkwürdige Uhr. Vielleicht geht es bei der Bundesregierung in bezug auf die CO2-Problematik entsprechend.
({0})
Frau Kollegin, es kann sich nur um ein Mißverständnis zwischen Geschäftsführern und Präsidium handeln. Die Bundesregierung ist diesmal nicht schuld.
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Vielleicht hat der Bundesminister ja auch noch irgendwo Reserven in petto. Man kann es nur hoffen.
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Ich appelliere an Sie: Weichen Sie heute diesen Fragen nicht aus, indem Sie über Rio berichten. Das globale Denken ist wichtig, aber zum globalen Denken gehört auch das lokale Handeln.
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Herr Töpfer, ergreifen Sie die notwendigen Maßnahmen. Energieverbrauch ist kein Schicksal, sondern Ergebnis politischer Entscheidungen.
Monika Ganseforth Schönen Dank.
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Nächster Redner ist unser Kollege Dr. Klaus Lippold.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die ökonomische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Klimaproblematik stellt nach dem Ende der Ost-West-Auseinandersetzung eine der schwierigsten Herausforderungen für Entwicklung und Umsetzung einer dauerhaften Strategie zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen dar.
Die politische Moral läßt es nicht zu, das sich abzeichnende Gefälle zu ignorieren und die Kosten des Handelns der nächsten Generation zu übertragen. Diese Aussage hat globale Gültigkeit. Doch wir stehen erst am Beginn globalen Handelns.
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Die internationale Gemeinschaft steht vor neuartigen Fragen, vor Problemen, für die sie - das hat auch der Club of Rome so gesehen - nicht genügend erprobte, eingefahrene internationale Entscheidungsmechanismen hat.
Die Bundesrepublik Deutschland hat bisher international mit großem Erfolg darauf hingearbeitet, diese internationale Herausforderung aufzugreifen, das Problem in seiner ganzen Tragweite bewußt zu machen und politische Lösungsstrategien europäisch und weltweit voranzutreiben.
Ich wiederhole: Die Klimaveränderung ist ein globales Problem. Maßnahmen einzelner Staaten reichen nicht aus, hier etwas zu bewegen. Mit der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung in Rio ist es zum erstenmal gelungen, über 150 Staaten zusammenzubringen, die bereit waren, gemeinsam nach Lösungen für die Umweltprobleme zu suchen. Dies war aber nur möglich, indem die umweltpolitischen Themen eng mit der Entwicklungspolitik verknüpft wurden, ein Zusammenhang, den ich für ausgesprochen richtig halte.
Die Bundesrepublik hat bei der Vorbereitung dieses Abkommens international eine führende Rolle gespielt. Ihr Beitrag und die Ausführungen von Bundeskanzler Kohl in Rio ebenso wie der Einsatz unseres Bundesumweltministers, dem dafür nochmals ganz herzlich zu danken ist, haben weltweit Beachtung und Anerkennung gefunden.
({1})
In Rio wurden zwei nach ihrem Inkrafttreten völkerrechtlich verbindliche Übereinkommen von mehr als 150 Staaten sowie der EG unterzeichnet: eine Rahmenkonvention zum Schutze des Klimas und eine Konvention zum Erhalt der biologischen Vielfalt.
Darüber hinaus einigte man sich auf eine nicht verbindliche Grundsatzerklärung über die Waldbewirtschaftung und -erhaltung. Ich will ganz deutlich sagen, daß wir an Stelle dieser Walddeklaration eine verbindliche Waldkonvention brauchen, um auch in dieser für die Welt wichtigen Problematik ein Stück weiterzukommen. Ich möchte aber auch deutlich sagen, daß es genauso wichtig ist, das von der Bundesregierung vorgelegte Ratifizierungsgesetz, wofür ich nochmals ganz ausgesprochen danke, jetzt dem Parlament zuzuleiten, damit wir es verabschieden können. Denn es hat wenig Sinn, daß die Bundesregierung zwar ihre Schularbeiten macht, wir dieses Gesetz aber nicht zugeleitet bekommen, um es zu verabschieden. Es wäre schon gut, wenn wir zu den ersten Nationen gehörten, die hier ratifizieren.
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- Zu den ersten europäischen Nationen, die dies ratifizieren, habe ich gemeint. Mir wäre es auch lieber gewesen - darüber brauchen wir uns gar nicht zu streiten -, wenn wir noch vor den USA ratifiziert hätten. Wir können nicht auf der einen Seite die USA wegen ihres zögerlichen Verhaltens schelten und auf der anderen Seite selbst nicht ratifizieren. Da werden wir selbst zulegen müssen.
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Meine Damen und Herren, das ist einer der Punkte, wo wir etwas tun müssen, aber es gibt eine ganze Reihe weiterer Punkte.
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Ich glaube, wir müssen auf europäischer Ebene deutlich machen, daß hier ein gemeinsames Voranschreiten notwendig ist. Ich spreche mich nochmals ganz deutlich dafür aus, in der Frage der CO2 Energiesteuer europäisch die Dinge entscheidend voranzutreiben.
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Die Rahmenbedingungen, an die diese Frage geknüpft wurden, waren, daß sich in den USA etwas bewegt und Japan Vergleichbares tut. Die USA haben sich unter Clinton und seinem Vizepräsidenten bewegt, und die Japaner haben sowieso ein höheres Energiepreisniveau als wir. Insofern entfällt eine diesbezügliche Argumentation. Die Japaner überlegen auch, wie sie Steuern ökologisch effizient einsetzen, - genau das, was auch wir tun wollen. Wenn die Amerikaner und die Japaner dies tun, gehe ich davon aus, daß auch dieses Haus bereit ist, über entsprechende Fragen noch einmal intensiv nachzudenken und die richtigen Entscheidungen zu treffen.
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Ich halte es für wichtig, bei der CO2-Energiesteuer deutlich zu machen, daß wir Anrechnungsmöglichkeiten schaffen, daß wir Kompensationsmöglichkeiten schaffen, damit wir wirtschaftlich vorgehen können, und daß wir die CO2-Reduktion nicht auf dem teuersten Wege erreichen wollen, sondern nach
Dr. Klaus W. Lippold ({7})
Wegen suchen, wie wir die CO2-Reduktion wirtschaftlich vernünftig erreichen können.
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Diese Wege müssen wir uns offenhalten. Das halle ich für wichtig.
Frau Ganseforth, man kann in dem einen oder anderen Punkt sicherlich unterschiedliche Auffassungen haben, aber in der Grundzielsetzung sind wir uns doch sicher wie selten einig. Daß wir uns dann bei Detailfragen darüber unterhalten, was der bessere Weg ist, halte ich politisch für ein zulässiges Verfahren.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat in mehreren Kabinettsbeschlüssen die CO2-Reduktion mit ihrem Reduktionsziel von 25 bis 30 % festgelegt. Ich verstehe nicht, Frau Ganseforth, warum Sie daran zweifeln. Es ist immer wieder deutlich gemacht worden - ich gehe davon aus, daß das auch gleich nicht anders sein wird -, daß die Bundesregierung zu diesem Ziel steht.
Es ist vielfach Nebel gestreut worden mit dem Hinweis, in der Enquete-Kommission sei berichtet worden, die Bundesregierung sei abgewichen. Das war aber nicht so. Hier wurde gesagt: Wir haben einen Maßnahmenkatalog. Wir haben durchgeprüft, was dieser Maßnahmenkatalog bringt. Es zeichnet sich ab, daß er vielleicht unzureichend sein könnte. Also wurde gesagt: Wir haben in Auftrag gegeben, nach weiteren Strategien zu suchen, die sinnvoll ergänzend eingesetzt werden können, um dieses Ziel zu erreichen. - Da bin ich durchaus der Meinung, daß wir dies tun sollten.
Es ist ja immer so, daß man infolge der vorgegebenen Zeit nicht alles das behandeln kann, was man eigentlich behandeln möchte. Deshalb will ich jetzt nur noch auf einige Stichworte hinweisen, auf die meine Kollegen Paziorek und Ruck sicherlich noch ausführlicher eingehen werden. Das eine betrifft den ersteren Bereich, und das andere ist eine Schlußbemerkung zur Entwicklungspolitik.
Ich glaube, es ist wichtig, daß die Wärmeschutzverordnung verabschiedet wird. Wie ich der Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der SPD entnehme, ist diese Verordnung wirtschaftlich vertretbar. Dies freut mich. Ich kann also davon ausgehen, daß sie auch umgesetzt wird, und zwar sofort.
Wir sollten durchaus darüber nachdenken, was an langfristigen Zielen vorzugeben ist, urn das effizient zu gestalten. Aber das wird eine Aufgabe der kommenden Monate sein.
Wir brauchen darüber hinaus eine Förderung, ein Förderungsprogramm, ein Förderungskonzept für den Altbaubestand - das ist ein Punkt, auf den ich noch einmal hinweisen möchte -, weil das große Einsparpotential im Altbaubestand liegt. Auch hierzu kann ich in der Kürze der Zeit nicht mehr sagen.
Ich glaube, daß wir auch hier wirtschaftlich vorgehen können; denn dieses Förderungsprogramm wird ein Selbstläufer sein. Es aktiviert privatwirtschaftliche Mittel und spielt damit die Kosten, die es verursacht, selbst wieder ein. Ich finde, besser kann man eine solche Lösung gar nicht erreichen.
Heizungsanlagenverordnung, Wärmenutzungsverordnung - da allerdings in praktikabler Form - sind weitere Stichworte, die angesprochen werden müssen.
Ich rede auch nicht drumherum. Gerade die Diskussion gestern in Leipzig hat mir deutlich gemacht, daß ich von den mitteldeutschen Ländern Reduktionen in der Braunkohle nicht erwarten kann, wenn ich nicht auch im westdeutschen Bereich deutlichere Reduktionen als bisher bei der Steinkohle hinzunehmen bereit bin. Ich kann nicht von den einen etwas verlangen - was sie mit der Reduktion im Braunkohlebergbau übrigens schon überdurchschnittlich geleistet haben -, wenn es bei den anderen heißt: Business as usual. Das geht nicht.
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Deshalb müssen wir hier auch sehen, daß wir die Dinge vorantreiben.
Frau Kollegin Ganseforth, es gibt, wie immer im Leben, auch hier Punkte, zu denen man unterschiedliche Auffassungen hat. Zu den Punkten, bei denen wir unterschiedlicher Auffassung sind, gehört der Einsatz der Kernenergie. Ich gehe davon aus, daß Kernenergie verantwortbar ist; denn wenn sie nicht verantwortbar wäre, müßten wir sie sofort und nicht übermorgen abschalten.
Da liegt Ihr Widerspruch. Sie sagen: Kernenergie ist nicht verantwortbar, aber abschalten tun wir sie nicht. - Da gebe ich dem Kollegen Feige recht, der in diesem Punkt wesentlich konsequenter ist. Er hält die Kernenergie nicht für verantwortbar und will abschalten. Sie halten die Kernenergie nicht für verantwortbar und wollen sie beibehalten.
Ich sage: Wir brauchen die Kernenergie zur Lösung des Problems des Treibhauseffekts, zur Lösung des Problems der Klimakatastrophe als einen Beitrag. Ich sage das so, damit nicht wieder hinterher das faule Argument kommt, wir wollten allein über Kernenergie die Problemlösungen schaffen. Das hat nie jemand behauptet. Dieser Pappkamerad wird immer erst aufgebaut, um ihn dann glorreich besiegen zu können.
Wir brauchen also auch die Kernenergie. Ich bitte darum, daß man den Club of Rome nicht immer nur dann zitiert, wenn es einem in den Kram paßt, sondern ihn auch dann zitiert, wenn er ansonsten zu fundierten Ergebnissen kommt.
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Der Club of Rome hat ganz deutlich gesagt: Die Kernkraft ist angesichts des Treibhauseffekts und der Klimakatastrophe eine Variante, eine Option, die man einbeziehen muß, um zur Problemlösung zu kommen.
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Wir werden darüber hinaus im Verkehrsbereich Lösungen finden müssen. Dazu gehört mit Sicherheit die Verringerung des Flottenverbrauchs. Wir werden die Anregungen der Industrie hierzu, dies steuerpolitisch zu begleiten, aufgreifen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Nächste Rednerin ist Frau Kollegin Man ta Sehn.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Sensibilität der Bürger in Fragen des Klima- und Umweltschutzes ist hoch. Eine repräsentative Bevölkerungsumfrage in Ost- und Westdeutschland aus dem letzten Jahr im Auftrage des Bundesumweltministeriums hat ergeben, daß 74 % der Bürger glauben, daß wir uns zur Zeit in einer schweren Umweltkrise befinden. Die restlichen 26 % sehen die Krise in der Zukunft heraufziehen. Ich als Mitglied der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" halte diese Umfrage des Instituts für praxisorientierte Sozialforschung für überaus interessant und aufschlußreich.
In der Liste der drängenden Probleme nehmen das Ozonloch, die Luftverschmutzung, die Müllprobleme und die Klimaveränderungen die vordersten Plätze ein. Die Verkehrsprobleme stehen im Mittelfeld des Problemkatalogs. Erst am Ende findet sich u. a. das Stichwort Überbevölkerung, das mit den an erster Stelle stehenden Umweltproblemen ursächlich eng verknüpft ist.
Gleichzeitig sind 72 % der Bürger der Meinung, daß die bestehenden deutschen Umweltgesetze nicht ausreichen bzw. daß die behördliche Überwachung unzureichend ist.
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- Die Bürgerinnen und Bürger, Herr Feige, sehen vor allem den Staat und die Wirtschaft in der Verantwortung.
Bei den Antworten kommt klar zum Ausdruck, daß das Bewußtmachen zum größten Teil noch nicht tief genug greift. Persönliche Interessen stehen oftmals im Gegensatz zu den Interessen der Allgemeinheit. Umweltschädigende Einflüsse, die von jedem einzelnen ausgehen, werden nicht als solche registriert. Hier muß mehr Bewußtsein in die Verantwortung eines jeden geschaffen werden.
Liebe Frau Ganseforth, Ihre Rede hat mich dazu veranlaßt, ein bißchen von meinem Konzept abzuweichen. Ich bitte Sie ganz herzlich, die von Ihnen hier aufgeführten Ziele, die in der Tat durchaus erstrebenswert sind, zunächst einmal in Ihrer eigenen Partei umzusetzen.
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Ich habe zumindest durch meine Tätigkeit im Wirtschaftsausschuß und im Haushaltsausschuß nicht den Eindruck, daß Ihre eigenen Kollegen das so sehen wie einige wenige hier.
({2})
Ich würde mich an Ihrer Stelle nicht hier hinstellen, wenn ich nicht wüßte, daß ich meine Fraktion oder zumindest eine Mehrheit meiner Fraktion im Rücken habe.
Die kritische Begleitung der Umweltpolitik durch die Öffentlichkeit ist gut ,und richtig. Voreilige Verurteilungen von Maßnahmen zum Schutz der Umwelt als nutzlos und zuwenig restriktiv verstellen den Blick auf den in Gang gesetzten Prozeß, entmutigen viele Bürger und führen letztendlich zu Desinteresse. Diese Situation haben wir jetzt, zumindest wenn es um Klimaschutz geht.
Auch die Ergebnisse der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung wurden in der Öffentlichkeit und natürlich auch von den Damen und Herren der Opposition als völlig unzureichend und folglich als nutzlos dargestellt. Also keine Hoffnung für den Umwelt- und Klimaschutz?
Wer die ausgehandelten Abkommen als leere Hillsen bezeichnet, hat nicht begriffen, welcher Prozeß in Rio in Gang gesetzt wurde. Sicherlich enthält die Klimaschutzkonvention keine völkerrechtlich bindende Verpflichtung der industrialisierten Staaten zur Begrenzung ihrer CO2-Emissionen. Die Emissionsfestschreibung ist aber auch nur ein kleiner Schritt zu einer langfristig angelegten globalen Klimaschutzpolitik. Eine sorgfältige Analyse an Stelle voreiliger Kritik zeigt den Wert dessen, was in Rio erreicht wurde.
Die UN-Konvention zum Schutz des Klimas steckt den Rahmen für die zukünftige internationale Zusammenarbeit ab und schafft die dazu erforderliche institutionelle Struktur. Das ist in dieser frühen Phase einer internationalen Kooperation zum Schutz des Klimas angesichts großer Interessenunterschiede und eines unterschiedlich stark ausgeprägten Problembewußtseins ein bedeutsamer Schritt in die richtige Richtung.
Das Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht und das Montrealer Protokoll beweisen, daß eine Rahmenkonvention und deren anschließende sukzessive Ausgestaltung erfolgreich zu einer völkerrechtlich verbindlichen Festlegung des Verzichts auf klimaschädigende Stoffe führen. Ausstiegsfristen können international den Erfordernissen rasch angepaßt werden.
Für außerordentlich wichtig halte ich, Herr Töpfer, die Einbringung der Parlamentarier in den UNCEDfollow-up-Prozeß. Von besonderem Interesse sind für mich die Vorstellungen der Bundesregierung darüber, wie dies im einzelnen geschehen soll.
Auch die Nichtregierungsorganisationen dürfen nicht aus dem weiteren Prozeß ausgeschlossen werden. Ein geeignetes Verfahren dafür muß gefunden werden.
Die Agenda 21 als das Handlungsprogramm für die nächsten Jahre und Jahrzehnte muß endlich, amtlich übersetzt und mit Register versehen, der Öffentlichkeit breit zugänglich gemacht werden.
Die Entwicklungsländer müssen die Chance zum Aufbau einer tragenden Wirtschaft bekommen. Freier Handel ist die beste Entwicklungshilfe. Die protektionistischen Einfuhrregelungen der EG für Bananen stehen in krassem Widerspruch dazu.
Aber auch die Entwicklungsländer selbst müssen ihren Beitrag leisten, indem sie die Rahmenbedingungen für eine funktionierende Wirtschaft wie die Schaffung einer demokratischen Staatsstruktur, den Auf12644
Marita Sehn
bau einer effizienten Verwaltung, den Ausbau des Bildungswesens, die Bekämpfung der Korruption und Maßnahmen zur Verringerung des Bevölkerungswachstums voranbringen.
Legt man Schätzungen zugrunde, nach denen im Jahre 2030 rund 10 Milliarden Menschen auf diesem Globus leben, die zunehmend, und dies zu Recht, nach dem Lebensstandard der Industrienationen streben, erscheinen mir unsere Bemühungen zur CO2-Minderung schon jetzt überholt und eigentlich nutzlos.
Aufbauend auf der guten Vorarbeit der EnqueteKommission schon in der letzten Legislaturperiode, verfügen wir über ein gutes nationales Programm zur Reduzierung der CO2-Emissionen.
({3}) Dies gilt es umzusetzen.
Unter anderem gehören dazu:
Erstens. Die Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes. Voraussetzung ist hier der Energiekonsens. Dazu müssen sich alle beteiligten Parteien bewegen.
({4})
Für die F.D.P. führt auf absehbare Zeit kein Weg an einem Energiemix mit der Kernenergie unter Einhaltung der Sicherheitstechnik vorbei,
({5})
solange andere, vergleichbar versorgungsgünstige, umweltfreundliche und preisgünstige Energieträger nicht zur Verfügung stehen.
Frau Ganseforth, ich empfehle Ihnen als Lektüre den Artikel eines SPD-Bundestagsabgeordneten, nämlich Horst Niggemeier, im „Handelsblatt" von gestern. Ich denke, es ist ganz aufschlußreich, wenn man das einmal liest.
({6})
Ein Ausstieg aus der Kernenergie muß zwangsläufig mit dem Anstieg der CO2-Emissionen erkauft werden.
Zweitens. Die Novellierung der Wärmeschutzverordnung, der Heizungsanlagenverordnung und der Kleinfeuerungsanlagenverordnung. Energieeinsparungen und effiziente Energienutzung, insbesondere die konsequente Ausschöpfung der hohen Reduktionspotentiale bei den privaten Haushalten, haben Schlüsselfunktionen im nationalen CO2-Minderungsprogramm. Um so unverständlicher ist die Haltung der CSU, die eine Novellierung der Wärmeschutzverordnung und der Heizungsanlagenverordnung mit dem Argument der Baukostensteigerung immer wieder verzögert. Langfristig wird die Senkung des Heizenergiebedarfs um rund ein Drittel die erhöhten, ökologisch sinnvollen Investitionsaufwendungen aufwiegen.
Drittens. Der Erlaß der Wärmenutzungsverordnung, mit dem das Energiesparpotential im industriellen und im gewerblichen Bereich, soweit wirtschaftlich vertretbar, ausgeschöpft werden soll, ist dringend erforderlich.
Viertens. Über die Umstellung der Kfz-Steuer auf eine emissionsbezogene Steuer mit einer CO2-Komponente wird man demnächst ebenfalls diskutieren müssen.
({7})
Die F.D.P. unterstützt das ehrgeizige Ziel der Bundesregierung, bis zum Jahr 2005 eine Verminderung der energiebedingten CO2-Emissionen in der Bundesrepublik um 25 bis 30 % zu erreichen. Ich denke, dieses Ziel ist auf der Grundlage einer vernünftigen Zusammenarbeit aller Beteiligten auf Bundes- und auf Landesebene zu schaffen.
Folgende Maßnahmen - um nur einige zu nennen, Frau Ganseforth - mit tendenziell CO2-mindernden Wirkungen sind bereits in Kraft: Für das Gebiet der neuen Bundesländer ist ein mehrjähriges gemeinsames Bund-Länder-Förderungsprogramm zur Sanierung und Modernisierung von Fernwärmeversorgungsnetzen mit besonderem Schwerpunkt bei der Kraft-Wärme-Kopplung aufgelegt worden. Die Förderung begann 1992 mit Bundesmitteln in Höhe von 150 Millionen DM im Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost. Es folgten das Stromeinspeisungsgesetz, mit dem die Elektrizitätsversorgungsunternehmen zur Annahme von Strom in das öffentliche Netz und zur Vergütung dieser Stromeinspeisung mit an den Durchschnittserlösen orientierten festen Sätzen verpflichtet werden, sowie das 250-Megawatt-Windenergieprogramm und das 1 000-Dächer-Photovoltaikprogramm zur Förderung regenerativer Energien.
Klimaschutzpolitik kann aber nicht an unseren nationalen Grenzen haltmachen. Nationale Alleingänge sind eher kontraproduktiv.
({8})
Eine gesamtwirtschaftliche Verschlechterung, bedingt durch Wettbewerbsverzerrungen, verhindert Investitionen zum Schutze der Umwelt. Vielmehr gilt es, das langfristige Eigeninteresse der Verursacher am Umwelt- und Klimaschutz zu wecken.
({9})
Gehörte die USA bislang eher zu den Verzögerern in der internationalen Klimaschutzpolitik, so zeichnet sich nach dem Wechsel im Präsidentenamt mit der Ankündigung, eine Energiesteuer einzuführen, eine Neuorientierung ab.
Das Junktim der EG-Kommission zur Einführung einer CO2-Energie-Steuer, wonach andere OECDStaaten ebenfalls vergleichbare Maßnahmen ergreifen müssen, kann damit als erfüllt angesehen werden.
Die F.D.P. unterstützt die Initiative der EG-Kommission für eine umfassende europäische Strategie für weniger CO2-Emissionen und mehr Energieeffizienz. Deshalb muß es unser Ziel sein, die CO2-EnergieSteuer möglichst bald gemeinschaftsweit in Kraft zu setzen und einen internationalen Konsens unter Einschluß der Staaten Mittel- und Osteuropas über eine Strategie zum Klimaschutz voranzutreiben. Daß es sich hierbei um eine Politik der vielen kleinen Schritte handelt, sollte jedem bewußt sein. Jeder von uns steht
Marita Sehn
in seinem Bereich beim Umwelt- und Klimaschutz als Verursacher in der Verantwortung.
Wie widersprüchlich wir uns doch trotz aller Besorgnis um unsere Umwelt verhalten, zeigt die Verkehrsentwicklung besonders deutlich, ein künftig bedeutsamer Bereich, was die Kohlendioxidemissionen betrifft.
Bereits die öffentlichen Anhörungen der EnqueteKommission im Juni bis November letzten Jahres hinsichtlich der Nachfrageentwicklung im Verkehrsbereich haben mich damals zu dem Schluß kommen lassen, daß eine stufenweise Erhöhung der Mineralölsteuer das Instrument mit der größten Lenkungswirkung ist.
({10})
Der hartnäckigen Konsumentennachfrage wird durch eine Verteuerung des Autofahrens allein nicht zu entgegnen sein. Nur die Einführung einer emissionsbezogenen Kfz-Steuer, zusammen mit einer zeitlich gestaffelten Erhöhung der Mineralölsteuer, steigert mittel- bis langfristig die Nachfrage nach benzinsparenden Autos und mobilisiert teilweise bereits vorhandene, allerdings bislang häufig noch ungenutzte technische Reserven.
({11})
Der Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erscheint mir, Herr Feige, dennoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt verfrüht. Ich weiß, es ist ein politischer Antrag. Ich meine, wir sollten zuerst abwarten, inwieweit eine für das deutsche Gewerbe zufriedenstellende EG-weite Einigung in der Frage der Harmonisierung der Steuerbelastung bei den Lkws erzielt werden kann. Ich fordere daher - leider, Herr Feige -, Ihrem Antrag nicht zuzustimmen.
Vielen Dank.
({12})
Ich erteile unserer Frau Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Lippold, Ihnen würde ich gerne sagen: Warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah. - Sie lenken mit Verweis auf die EG, auf die Vereinigten Staaten, auf Japan wenig effektvoll und glaubwürdig von den eigenen Möglichkeiten, endlich zu handeln, ab. So beißt sich die Katze eigentlich nur selber in den Schwanz. Sie jault, und wir kommen nicht weiter.
Meine Damen und Herren, die Vorschläge der Klima-Enquete-Kommission zur Reduzierung der klimarelevanten Emissionen sind bekannt, übrigens nicht erst seit heute. Handeln ist endlich angesagt. Zur UNCED-Konferenz in Rio wurden seitens der Bundesregierung, insbesondere von Herrn Töpfer, vollmundige Erklärungen abgegeben, deren Halbwertzeit allerdings verblüffend gering war. Heute bleibt nur festzustellen: Es tut sich absolut nichts in Sachen einer aktiven Klimaschutzpolitik der Bundesregierung. Im Gegenteil: Der koalitionseigene Bleifußminister rast auf den emissionsreichen Totalstau zu. Der für die Energiepolitik zuständige Wirtschaftsminister macht lieber gleich gar nichts, bevor er sich mit den Interessen der verschiedenen Kapitalfraktionen der Energie-und Atomwirtschaft anlegt.
Intern diskutiert man in der Regierung doch schon - es wäre gut, Kollege Lippold, wenn Sie das endlich zugeben würden -, wie man von der propagandistisch ausgeschlachteten Parole, den CO2-Ausstoß bis zum Jahr 2005 um 25 bis 30 % zu reduzieren, politisch unbeschadet Abstand nehmen kann. Sie haben dies sofort übernommen. Da werden dann selbst faule Zeitungsenten wie die im „Bild der Wissenschaft" strapaziert: „Mit CO2 leben lernen". - Sagen Sie endlich offen und ehrlich, was Sie wollen! Sagen Sie den Menschen, daß es Sie einen feuchten Kehricht schert, wie und ob Ihre Kinder und Enkel später noch leben können! Sagen Sie offen: „Nach uns die Sintflut!" oder besser „Nach uns das Ozonloch! ", dann weiß jeder, woran er ist.
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Dabei könnten wir heute durchaus schon erheblich weiter sein. Es ist nicht erst seit gestern bekannt, daß die Energiepreise nicht die ökologischen Folgekosten und die Knappheit der Ressourcen widerspiegeln. Erinnern wir uns: Von 1985 bis 1987 sind die Preise für Normalbenzin von durchschnittlich 1,38 DM auf 99 Pfennige gefallen, bei Diesel von 1,33 DM auf 91 Pfennige. Bis heute haben die Preise noch nicht wieder das Niveau von 1985 erreicht. Dies wurde durch den Preisverfall des Rohöls infolge des ersten Golfkrieges verursacht. Durch den Ölpreisverfall gingen auch die Erdgaspreise und die Drittlandskohlepreise in den Keller.
Das Gebot der Stunde und der Vernunft hätte nun heißen müssen: Die Bundesregierung erhebt eine Energieabgabe auf Importenergieträger, um den Trend aufzufangen. Diese Importabgabe hätte schon damals zu der gezielten Förderung von Energieeinsparung, der Erhöhung der Energieeffizienz, der Nutzung regenerativer Energiequellen und dem Ausbau umweltgerechter Verkehrssysteme eingesetzt werden können. Außerdem hätte die volkswirtschaftlich sinnvolle Stützung der heimischen Steinkohle hieraus finanziert werden können.
Diese Maßnahmen aber unterblieben aus ideologischen Gründen. Ja, die Bundesregierung benutzte den Preisverfall als willkommene Morgengabe an die Wirtschaft. Die verheerenden Marktsignale blieben nicht ohne Wirkung: Mehr Autos auf den Straßen, 75 statt 55 PS durchschnittlich. Jede Blechkiste fuhr nun mehr als 180, und man konnte es sich erlauben, weil der Sprit billig war. Trotz Senkung des spezifischen Kraftstoffverbrauchs durch technische Verbesserungen stieg der Gesamtverbrauch wieder - und mit ihm die Emissionen.
Nicht zufällig stagnierte nach 1986 der Fernwärmeausbau; Fördermittel gab es nicht mehr. Einfache Brauchwassersolaranlagen, die bis 1986 auch preislich mit Öl und Gas konkurrieren konnten, wurden von Leuten, die nur der Preis und weniger die Umwelt
interessierte, nicht mehr gekauft. Im Kleinfeuerungsbereich liegt die Gas-Brennwerttechnik auf Eis, weil der geringere Verbrauch die höheren Gerätekosten bei den heutigen Energiepreisen nicht wieder einholt.
Das dicke Ende dieser verfehlten Energiepolitik der Bundesregierung kommt nun auf uns zu, nicht nur in Form weiter steigender Emissionen, sondern auch in Form steigender Preise in fünf bis zehn Jahren, wenn sich die Knappheit der Ressourcen weltweit unerbittlich bemerkbar macht und wir dann auf unserem hohen Verbrauch sitzen. Da hilft es auch gar nichts, nur auf den Osten Deutschlands zu schielen, selbst wenn dort unbestritten hohe Einsparpotentiale liegen. Das hat gestern die Anhörung in Leipzig sehr deutlich bestätigt.
Will aber die Bundesregierung ihrem in Rio mit großem Getöse verkündeten Ziel wenigstens ein winziges Stück näherkommen, dann ist bundesweit eine Neuorientierung in der Verkehrs- und der Energiepolitik notwendig.
Es ist höchste Eisenbahn für höhere Energiepreise, nicht nur, um die Bahn zu sanieren. Höhere Energiepreise müssen Teil eines notwendigen Maßnahmenpakets in Richtung einer ökologischen Energieversorgung sein. Hierzu gehört auch die Änderung der Rahmenbedingungen der Energienutzung. Für die PDS/Linke Liste ist ganz wichtig: Wer finanziell schwach ist, darf nicht mit hohen Heizungskosten in schlecht isolierten Mietwohnungen sitzengelassen oder durch schlechten und teuren öffentlichen Nahverkehr von der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden. Eine solche Politik ist schlicht asozial.
Höhere Preise für Energie dürfen nicht in Theo Waigels zahlreichen Haushaltslöchern versacken, sondern müssen zielgerichtet und zweckgebunden für eine umweltfreundliche, sozial verträgliche und ressourcenschonende Energieversorgung eingesetzt werden. Dafür sehe ich aber bisher nicht den geringsten Ansatz. Ich fürchte eher, die Bundesregierung kassiert das Geld, baut immer neue Straßen, vernachlässigt weiter den ÖPNV, setzt weder auf Energieeinsparung noch Verkehrsvermeidung und führt uns alle und die Umwelt an der Nase herum.
Unter diesen Bedingungen können wir dem Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht zustimmen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Der nächste Redner ist unser Kollege Dr. Klaus-Dieter Feige.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zwei Ereignisse haben am vergangenen Sonntag für Aufsehen gesorgt. Das eine war die Kommunalwahl in Hessen, wo den sogenannten Volksparteien eine so deutliche Abfuhr erteilt wurde, daß die eine sich nur deshalb zum Sieger erklärte, weil sie ein paar Prozent weniger verloren hat als die andere. Die Wählerinnen und Wähler in Hessen haben der desolaten Bundesregierung genauso eine Ohrfeige verpaßt wie der konturlosen sozialdemokratischen Wankelopposition. Von den im Bundestag vertretenen Parteien sind allein DIE GRÜNEN als Gewinner aus dieser Wahl hervorgegangen. Und wenn die Regierung und die SPD so weiterwursteln wie bisher, dann dauert es nicht mehr lange, bis wir im Bundestag Darmstädter Verhältnisse haben. Mit 25 % sollte mir das nur recht sein.
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Das zweite Ergebnis am vergangenen Wochenende war die Volksabstimmung in der Schweiz. Mit überwiegender Mehrheit haben die Bürger für eine Erhöhung der Mineralölsteuer gestimmt. Von einem Tag auf den nächsten wurden die Spritpreise um 20 erhöht. Die Schweizer haben den Interessenvertretern der Autofahrer eine klare Abfuhr erteilt. Sie haben ein politisches Signal gesetzt und deutlich gemacht, daß sie zu persönlichen Einschränkungen bereit sind.
Meinen Kollegen, die gestern in einer Diskussionsrunde darauf hinwiesen, daß in einem Land wie z. B. Mexiko die Mineralölsteuer ganz deutlich unter unserer liegt, kann ich nur sagen: Auch solche Milchmädchenrechnungen gehen nicht auf. Man sollte sich das Durchschnittseinkommen in solchen Ländern vor Augen führen. Entscheidend ist, was in den Ländern mit dem Hauptausstoß an CO2 passiert. Dazu gehört die Bundesrepublik.
Da tagt nach wochenlanger Diskussion die Koalitionsrunde und beschließt - mager genug - eine Mineralölsteuererhöhung um 13 Pfennig pro Liter. Kaum ist aber der Kanzler aus dem Hause, tanzen die Mäuse auf dem Tisch und kippen den Beschluß.
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Man könnte kopfschüttelnd zur Tagesordnung übergehen, wenn es sich nur um die abgewirtschaftete Regierung und ihre Kreisverkehrspolitik handeln würde. Aber es geht um weit mehr, meine Damen und Herren. Es geht um das Ansehen unserer Demokratie im In- und Ausland. Und wenn denn tatsächlich der Trend der Wähler nach rechts oder in die Stimmenthaltung gestoppt werden soll, dann muß endlich Schluß sein mit parteitaktischem Opportunismus, mit Egomanie und Geltungssucht. Dies gilt für die konfuse Regierung. Dies gilt auch für die orientierungslose Sozialdemokratie.
Bei der drohenden Klimakatastrophe geht es schlicht und ergreifend um die Entscheidung zwischen einem einigermaßen gesicherten und humanen Überleben der menschlichen Gesellschaft, wie wir sie kennen, oder den Absturz ins Chaos mit unüberschaubaren Folgen.
In der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD lese ich:
Auch wenn nicht alle komplizierten naturwissenschaftlichen Zusammenhänge dieser drohenden globalen Umweltgefährdung im einzelnen geklärt sind, gebietet die Vorsorge, in unserem
eigenen Interesse und im Interesse künftiger Generationen zu handeln, insbesondere wegen der langen zeitlichen Verzögerung, die zwischen der Entstehung von Treibhausgasen und ihren Auswirkungen auf das Klima liegen.
Da könnte man meinen, die Regierung habe endlich den Ernst der Lage erkannt.
Leider ist das aber nur Stoff aus den berüchtigten Sonntagsreden, wie die folgenden Ergüsse der Regierung beweisen. Es wird geprüft, studiert, geforscht, berichtet und empfohlen. Nur eines wird nicht getan: Es wird nicht gehandelt.
Es ist ja nicht erst seit dem CO2-Reduzierungsbeschluß der Bundesregierung vom November 1990 bekannt, daß insbesondere die Industriestaaten die Freisetzung von Treibhausgasen jeder Art entschiedenst einschränken müssen. Ernstzunehmende Warnungen gibt es seit nunmehr knapp einem Jahrzehnt, und seit dieser Zeit liegen auch konkrete Vorschläge von GRÜNEN und Umweltschützern auf dem Tisch, den ökologisch überlebensnotwendigen Strukturwandel im Bereich der Wirtschaft, der Energieversorgung und des Verkehrssystems einzuleiten.
Gerade in der Verkehrspolitik wird das Bild der Regierung immer diffuser. Nur ein Beispiel: Gestern in der Debatte erzählte uns Herr Krause, daß eine Mineralölsteuererhöhung 150 000 Arbeitsplätze gefährden würde, während der Bundesumweltminister Töpfer in der vergangenen Wochen im ZDF-Mittagsmagazin jceinerlei Gefahren für die Arbeitsplätze in der deutschen Automobilindustrie sah. Ich akzepetiere das.
Aber was ist denn wieder mit dem Krause los? Krauses Größenwahn kennt keine Grenzen. In der kommenden Woche will er in Brüssel seine umwelt- und sozialpolitisch verheerende Vignette notfalls auch gegen den Widerstand kleiner EG-Staaten durchsetzen. Es ist schon ein besonderes Bubenstück, wenn so mit europäischen Partnern umgesprungen wird, vor allem vor dem Hintergrund, daß nur in der Bundesrepublik Deutschland kein Tempolimit auf Autobahnen eingeführt ist. Wir sollten erst einmal vor der eigenen Türe kehren.
Aber so richtig dummdreist wird das Ganze,
({2})
wenn man weiß, daß auf der Tagesordnung nicht einmal eine Beschlußfassung zu diesem Sachverhalt vorgesehen ist. Ich weiß gar nicht, was er uns da vormachen will. Nach zwei Jahren bundespolitischer Verantwortung müßte ihm klar sein, daß das angestrebte Ziel unter einem dänischen Vorsitz überhaupt nicht durchsetzbar ist. Ich glaube, er wirft Nebel, er täuscht und versucht, die Öffentlichkeit für dumm zu verkaufen. Und was wird am Schluß dabei herauskommen? Der Stau wird immer größer, und die Umwelt wird immer weiter zerstört. Und dies alles nur, weil der Bundesverkehrsstauminister mit infantiler Verliebtheit automobilen Träumen nachhängt. Ein Ministeramt ist aber nicht dafür da, um sich Jugendwünsche zu erfüllen, sondern u. a., um Schaden vom gesamten deutschen Volke abzuwenden.
Meine Damen und Herren, diese Regierung ist nicht nur unberechenbar, sie ist darüber hinaus handlungsunfähig und, ich glaube, in dem Sinne zusehends gemeingefährlich.
Wir haben heute einen Entschließungsantrag zur Mineralölsteuererhöhung eingebracht, um dieser Koalition die Möglichkeit zu geben, endlich eine Entscheidung zu treffen. Wohlgemerkt - Frau Sehn hat es gesagt -: Dies ist Ihr Antrag und nicht unser. Und kommen Sie bloß nicht mit dem Hinweis auf die Solidarpaktgespräche, daß wir wieder warten müssen. Auch in der vergangenen Woche haben Sie entschieden, und da lag der Termin für diese Gespräche längst fest.
Sie wissen ganz genau, daß wir der Meinung sind, daß wesentlich drastischere Umbaumaßnahmen im Verkehrsbereich erfolgen müssen und wir nach wie vor bei unserer Forderung nach einer Erhöhung der Mineralölsteuer um zunächst 50 Pfennig bleiben. Das können Sie ja überall nachlesen.
Trotzdem bieten wir Ihnen Ihren eigenen Beschluß von der vergangenen Woche an, damit Sie dieses Wintertheater endlich beenden und damit in Sachen Kostenwahrheit wenigstens einmal ein ganz kleiner Schritt gemacht wird. Aber nicht einmal das wollen Sie. Dabei haben wir auch noch eine Anregung des ADAC-Präsidenten Flimm aufgenommen, der gesagt hat:
Es ist eine Milchmädchenrechnung, daß die Autofahrer ihren Wagen häufiger stehenlassen, wenn die Mineralölsteuer angehoben wird und gleichzeitig die Kilometerpauschale steigt.
Deshalb haben wir der Umwelt zuliebe in unserem Antrag auf die Erhöhung der Pauschale verzichtet. Wir werden doch dem ADAC-Präsidenten nicht widersprechen, wenn er diese Warnung hinsichtlich eines ökologischen Ziels formuliert.
An dieser Stelle noch ein Wort zu der, ich glaube, erbärmlichen Position der SPD-Fraktion. Heute erzählt sie, daß sie unseren Antrag ablehnen will. Dagegen hat sie vorgestern im Umweltausschuß praktisch wortgleich den gleichen Antrag eingebracht. Bei Ihnen weiß man offensichtlich überhaupt nicht mehr, was hinten und was vorne ist.
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Das gilt auch für Ihren eigenen Entschließungsantrag. Es fällt mir schwer, das zu sagen. Aber da ist das gleiche Geblubbere wie bei der Bundesregierung, mit einem Unterschied: Sie wollen noch mehr Berichte, noch mehr bedrucktes Papier und noch mehr hohle Worte. Wir müssen endlich von den Berichten und irgendwelchen Informationen, was einmal als Ziel erreicht werden soll, wegkommen. Das Ziel, Herr Lippold, ist doch nicht ausreichend, wenn man noch nicht einmal auf dem Weg ist. Wer nicht auf dem Weg ist, kann natürlich nicht vom Weg abkommen.
Was der Umwelt nützen soll, müssen Sie diesem Hause, glaube ich, noch erklären. Tatsache ist jedenfalls, daß wir bei Ihnen auch nicht den geringsten Willen für einen Regierungswechsel erkennen, genau
so wenig wie den Willen, einen ökologischen Strukturwandel, der für unsere Wirtschaft und für die Schaffung von Arbeitsplätzen unabdingbar ist, einzuleiten.
Ich bitte angesichts der Dramatik der Umweltsituation, in diesem Fall vom Beifall abzusehen.
Schönen Dank.
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Ich erteile jetzt dem Herrn Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Dr. Klaus Töpfer das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung, der Bundesumweltminister begrüßen außerordentlich diese Debatte. Wir haben noch kein Jahr seit dem großen, bewegenden Treffen in Rio hinter uns gebracht; aber es ist wichtig, eine Bestandsaufnahme vorzunehmen und zu sehen, was sich international und national in der Zwischenzeit getan hat, um diesen so häufig berufenen, von uns mitgestalteten Geist von Rio in die Praxis umzusetzen.
Ich hatte die Gelegenheit, die Position der Bundesregierung dazu vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen im November letzten Jahres vorzutragen. Ich möchte Ihnen nun die Punkte vortragen, von denen wir glauben, daß dieses Follow-up, diese Nachfolgearbeit abhängig ist. Es geht zum einen darum, daß wir diesen innovativen Ansatz von Rio - Umwelt und Entwicklung zu verbinden - auch im institutionellen Gefüge der Vereinten Nationen wiederfinden.
Wir hatten bisher das Umweltprogramm der Vereinten Nationen ({0}), und wir hatten das Entwicklungsprogramm ({1}). Es ist gut und richtig, daß wir in der Zwischenzeit die Kommission für nachhaltige Entwicklung, die ,,Commission for Sustainable Development", eingerichtet haben. Diese Kommission muß so etwas werden wie ein neuer Weltsicherheitsrat, in diesem Fall im Sicherheitsbereich Mensch und Umwelt. Wir sind dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, Boutros Ghali, dankbar daß er die Neustrukturierung der Organisation der Vereinten Nationen gerade mit diesem Ziel in Angriff genommen hat. Ich glaube, das ist ein erstes wichtiges Ergebnis der Konferenz von Rio.
Wir haben immer gesagt - ich glaube, in Übereinstimmung auch mit den Fraktionen dieses Hohen Hauses -: Rio kann sich am Ende dieser Konferenz nicht als Erfolg erweisen, sondern nur in dem Prozeß, der folgt. So wie der Helsinki-Prozeß den Entspannungsprozeß in Europa ermöglicht hat, muß der RioProzeß die Entspannung zwischen Nord und Süd, zwischen Arm und Reich ermöglichen. Wir müssen einen Kalten Krieg des Menschen mit der Umwelt verhindern. Dies ist in Rio zumindest vermieden worden. Ich glaube, daß daher eine Weiterentwicklung gerade im Organisationsaufbau der Vereinten Nationen eine logische Konsequenz ist.
Welche Aufgaben haben wir im Follow-up?
Erstens. Umgehende Ratifikation und schnelle Umsetzung der zwei Konventionen, die dort gezeichnet worden sind. Ich unterstreiche nachhaltig das, was Kollege Lippold gesagt hat. Die Bundesregierung hat hier ihre Hausaufgaben gemacht: Beide Konventionen sind mit einem Ratifizierungsgesetz im Kabinett akzeptiert worden. Wir haben die Gegenäußerung zur Meinung des Bundesrates zur Klimakonvention abgegeben. Ich hoffe inständig darauf, daß wir hier in diesem Haus möglichst bald beide Ratifizierungsgesetze erörtern können und sie verabschieden. Es gibt gegenwärtig schon über zehn Staaten, die die Klimakonvention ratifiziert haben. Wir sollten nicht zu den letzten gehören, sondern dies in Kürze machen.
Es ist erfreulich, daß die Vereinten Nationen unser Angebot angenommen haben, die erste Nachfolgekonferenz der Vertragsstaaten hier in Deutschland abzuhalten. Wir werden gerade damit unser hohes Engagement belegen können. Dies zeigt auch die Tatsache, daß wir die Wüstenkonvention mit auf den Weg gebracht haben und daß wir mit unseren Partnern, z. B. mit Frankreich, der Meinung sind, daß wir auch eine Konvention für Wasser zu erarbeiten haben.
Zweitens. Wir müssen die Waldprinzipien umsetzen und fortentwickeln. Wir brauchen eine Waldkonvention. Sie war in Rio nicht möglich. Wir werden sie in der Folge herbeizuführen haben.
Drittens. Wir brauchen neue Formen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Es ist immer wieder übersehen worden, daß gerade die GATT-Verhandlungen dafür eine zentrale Bedeutung haben. Wir sehen es jetzt auch im Zusammenhang mit Mittel- und Osteuropa, welche Auswirkungen auf den Handel und unsere Wirtschaftsstruktur damit verbunden sind.
Auch die Stahlkrise, die hier gestern erörtert wurde, ist ein Hinweis darauf, wie wichtig es ist, die internationalen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen so abzustimmen, daß sie der globalen Entwicklung wirklich hilfreich sind.
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Wir haben bei solchen konkreten Fragen viel zu häufig vergessen, wie unmittelbar sie auf den Prozeß, den wir in Rio erörtert haben, Auswirkungen haben. Wir möchten die GATT-Verhandlungen mit einer Umweltkomponente verbinden. Es ist gut, daß in der Zwischenzeit dazu eine entsprechende Arbeitsgruppe beim GATT eingerichtet worden ist.
({3})
Viertens. Wir brauchen eine neue Wirtschafts- und Lebensweise auch in den hochentwickelten Industrieländern des Nordens. Ich verweise hier nur darauf, daß wir in der Zwischenzeit einen wichtigen Schritt in der Umsetzung einer ökologischen und sozialen Marktwirtschaft vorwärts gemacht haben. Das Kreislaufwirtschaftsgesetz, das in der Diskussion ist, und die Auswirkungen auf eine neue Produktverantwortung im gesamten Abfallbereich, von der Verpackung bis zu den Autos, sind direkte Konsequenzen aus einer Konferenz, die nachhaltige Entwicklung - „sustainable development" - zu ihrem zentralen Wort gemacht hat. Ich möchte das nur deutlich machen,
damit man nicht alles auf die Klimasituation - so wichtig ihre Berücksichtigung ist - verengt. Hier brauchen wir neues Arbeiten, neue Produktverantwortung, Kreislaufwirtschaft, und zwar nicht nur als ein Schlagwort, sondern als konkretes Handeln. Ich kann das im Zusammenhang mit dem Abfallbereich sehr deutlich als einen Fortschritt in der Bundesrepublik Deutschland belegen, der weltweit beachtet wird und Nachfolger findet.
({4})
Fünftens. Wir müssen in der Armutsbekämpfung weiter vorankommen. Wir haben, glaube ich, in Rio de Janeiro außerordentlich gut mit dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zusammengearbeitet. Dies ist ein wichtiger Followup-Prozeß. Die Agenda 21 ist ein zentraler Teil dieser Arbeit, die wir in Rio geleistet haben; deswegen ist dies ebenfalls ein Follow-up, ein Nachfolgearbeitsbereich.
Sechstens. Dies gilt auch für die Bevölkerungspolitik. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich hierzu nur eines sagen. Maßnahmen der Frauenförderung und der Familienplanung insbesondere sind erst dann wirksam, wenn sie mit Maßnahmen zur Bekämpfung der grundlegenden Ursachen, nämlich Armut und Unterentwicklung, zu integrierten Programmen verbunden werden. Auch dies ist in Rio vielleicht des öfteren übersehen worden. Deswegen ist es wichtig, dies hier im nachhinein als bedeutsam herauszustellen.
Siebtens. Wir brauchen technologische Zusammenarbeit, Wissensvermittlung sowie Entwicklung und Ausbau technischer und institutioneller Kapazitäten, auch dies nicht nur mit den Entwicklungsländern, sondern in besonderer Weise auch mit den sogenannten Ländern im Umbruch, also den Ländern Mittel-und Osteuropas. Was wir dort gegenwärtig beim Aufbau leistungsfähiger administrativer Strukturen tun, ist ein unmittelbares Follow-up von Rio. Ich möchte das mit großem Nachdruck unterstreichen, weil es uns natürlich auch auf vielen anderen Ebenen außerordentlich wichtig und hilfreich ist.
Achtens. Die Finanzfragen. Ich möchte darauf hinweisen, daß wir die globale Umweltfazilität nach wie vor als ein wichtiges, unersetzliches Instrument unserer Rio-Follow-up-Arbeit sehen. Wir vertreten hier also keineswegs einen Rückgang, sondern eine Aufstockung.
Neuntens. Wir brauchen dies als eine Hilfe zur Selbsthilfe. Ich muß das immer und immer wieder unterstreichen.
Zehntens. Wir haben deutlich zu machen, daß Umweltzerstörung friedensgefährdend ist, daß sie die Menschen und die Menschheit insgesamt bedroht. Ich erinnere an die Arbeiten der Völkerrechts-Kommission zu einem Tatbestand „Umweltverbrechen". Verbrechen wie Völkermord, schwerste Menschenrechtsverletzungen, weitreichende, schwerwiegende Umweltschäden, müssen vor einem internationalen Strafgerichtshof angeklagt werden. Wir sind der Überzeugung, daß hier jetzt mehr geleistet werden muß. Wir sollten genauso selbstverständlich nach Grünhelmen fragen, wie wir gegenwärtig über Blauhelme diskutieren. Den Vereinten Nationen muß eine Einsatzgruppe verfügbar sein, damit dort, wo durch menschliches Versagen oder bewußtes Fehlverhalten Gefahren für die globale oder regionale Umwelt ins Haus stehen, kurzfristig gehandelt werden kann.
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Ich meine, das ist eine unmittelbare Konsequenz.
Dies sind unsere zehn Punkte zum Nachfolgeprozeß von Rio.
Lassen Sie mich nun zum zweiten Teil, zur Frage des Klimas, kommen. Auch dabei ist es, wie häufig bestätigt, gut, erst einmal die Fakten zu untersuchen.
Wir haben uns bis zum Jahr 2005 das Ziel gesetzt, auf der Basis des Jahres 1987 die CO2-Emissionen um 25 bis 30 % zu vermindern. Wo stehen wir heute, im Jahr 1993, im Vergleich zum Jahr 1987, wenn wir, was natürlich nötig ist, die CO2-Emissionen der damaligen DDR und der damaligen Bundesrepublik Deutschland zusammenzählen?
Wir hatten im Jahre 1987 in Deutschland insgesamt eine Emission von CO2 in Höhe von 1,064 Milliarden t. Ende 1992 hatten wir, nach den vorläufigen Daten des Umweltbundesamts, eine Emission von 910 Millionen t CO2. Nach den Grundrechenarten bedeutet das, daß die CO2-Emissionen in Deutschland von 1987 bis 1992 um 14,5 % zurückgegangen sind. Das ist ein Faktum. Es ist notwendig, ein Faktum auch zu erwähnen.
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- Sie sagen, die Industrie sei plattgemacht worden. Wenn Sie sich einmal überlegen, was Sie damit gesagt haben, werden Sie sich möglicherweise korrigieren. Ich will nur eines dazu sagen: Sie erwarten doch von der Bundesregierung, daß nicht in hohem Maße energieintensive und ökologisch ineffizient arbeitende Industrien vorhanden sind. Die Industrie in der ehemaligen DDR war in unglaublicher Weise energieineffizient und ökologisch belastend. Deswegen ist es richtig, daß diese Anlagen nicht mehr da sind.
({7})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Feige?
Aber sehr gerne.
Bitte sehr, Herr Dr. Feige.
Herr Minister Töpfer, stimmt es denn, daß die Reduktion um rund 14 % allein auf Kosten der Produktionsstätten der neuen Länder geht und daß die CO2-Emission in den alten Bundesländern im gleichen Zeitraum sogar etwas angestiegen ist?
Herr Kollege, wenn Sie eine Sekunde gewartet hätten, hätte ich Ihnen die Zahlen genannt. Die Rückführung folgt daraus, daß die CO2-Emissionen in dem genannten Zeitraum in den neuen Bundesländern um 50 % zurückgegangen und in den alten Bundesländern um etwa 3 % gestiegen sind.
Bei einem Anstieg des realen Bruttosozialprodukts in den alten Bundesländern von rund 20 % bedeutet dies aber, daß die Energieeffizienz in den Jahren von 1987 bis 1993 massiv gestiegen ist. Ich meine, daß wir damit genau das erreicht haben, was wir wollten. Die Pro-Kopf-Emissionen an CO2 waren in der ehemaligen DDR exakt doppelt so hoch wie die in der alten Bundesrepublik Deutschland. Wenn wir uns heute in der Situation befinden, in der sich genau dies wieder eingependelt hat, dann kommt das nicht von allein, ohne Anstrengung; es macht eine Neustrukturierung der Energieversorgung in den neuen Bundesländern erforderlich.
Das ist die Priorität des CO2-Programms der Bundesrepublik Deutschland. Nicht die Frage, wie wir bei einem Kohlekraftwerk im Westen die Effizienz von 38 % auf 40 % erhöhen, entscheidet die Situation, sondern die Frage, wie wir die unglaublich ineffizienten alten Braunkohlekraftwerke in den neuen Bundesländern schließen können und durch moderne, hocheffiziente Kohlekraftwerke ersetzen können. Das ist die oberste Priorität im CO2-Programm der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland.
({0})
Das führte zu der Entscheidung, daß wir in Lippendorf neue Kohlekraftwerksblöcke haben werden. Dort werden 15 Milliarden DM eingesetzt, um neue Braunkohlekraftwerke mit hoher Effizienz zu bauen, die mit gleicher Menge an Kohle mehr Strom erzeugen. Da können Sie, Frau Ganseforth, beim besten Willen nicht hierherkommen und sagen, wir hätten auf diesem Gebiet noch nichts getan. Massiv ist genau dort gehandelt worden, wo die eingesetzte Mark CO2-Emissionen in wirklich hohem Maße vermindert. Dies ist die Priorität, der wir nachgehen müssen.
({1})
Entscheidend bleibt, daß dies nicht ein vorübergehender Effekt ist - das ist wahr -, daß wir also mit wieder anwachsender wirtschaftlicher Aktivität in den jungen Bundesländern nicht wieder einen solchen Anstieg bekommen. Hier jetzt in Braunkohlekraftwerke mit höchster Effizienz, mit der Möglichkeit der Kopplung von Kraft und Wärme, mit der Möglichkeit der Vorschaltung von entsprechenden Gasturbinen, mit der Möglichkeit der Wirbelschichtfeuerung zu investieren - das sind die Aufgaben, die heute zu bewältigen sind. So wichtig die Wärmeschutzverordnung ist - wir wollen sie ja auch verabschieden -, entscheidender ist gegenwärtig, daß wir diese unglaubliche Verschwendung von Energie und die damit verbundene hohe Belastung durch CO2 jetzt zurückführen. Das ist für mich der entscheidende Punkt.
({2})
Herr Minister, gestatten Sie noch eine Frage der Frau Kollegin Ganseforth?
Ja, gerne.
Vizepräsident Helmuth Becker Bitte.
Wir haben gestern eine Anhörung in den neuen Ländern gehabt. Ich möchte Sie fragen, ob Sie nicht meinen, daß die Wärmeschutzverordnung mit Blick auf den Altbaubestand mit Plattenbauweise in den neuen Ländern wie auch mit Blick auf den Neubau ebenso wichtig ist. Meinen Sie nicht auch, daß ein Ausspielen besserer Kraftwerke gegen die Wärmeschutzverordnung dem Klima nicht nützt, daß dies nicht der richtige Ansatz ist, sondern beides gleichrangig behandelt werden sollte?
Ich gebe Ihnen das außerordentlich gerne zu. Ich wäre falsch verstanden, wenn ich das eine gegen das andere ausspielen wollte.
Lassen Sie mich mit Blick auf die begrenzte Zeit nur zwei Worte zur Mineralölsteuer sagen, meine Damen und Herren, weil man meint, hier sei ein Auffassungsunterschied zwischen dem Kollegen Krause und mir festzustellen.
({0})
- Nun warten Sie doch einmal ab. Ich weiß nicht, auf was Sie alles hoffen, Herr Kollege, aber auf das sicherlich auch.
Zunächst einmal sind wir der Meinung, daß die Mineralölsteuer zu erhöhen ist.
({1})
Die Mineralölsteuer, Herr Kollege Feige, betrifft das Benzin und den Dieselkraftstoff. Wir müssen aber hinzufügen: Wenn wir heute bei uns den Preis für Dieselkraftstoff erhöhen, ohne auch die Kostenfaktoren für unsere Nachbarn zu erhöhen, dann führt das nicht zu einer Entlastung unserer Autobahnen von Lkws, sondern dazu, daß die gleichen Lkws über die Autobahn fahren, nur daß sie ein anderes Nummernschild tragen. Das mag für viele Bereiche bedeutsam sein, nicht aber für den Umweltschutz. Im Gegenteil, dafür ist es eher nachteilig, wenn wir davon ausgehen, daß unsere Lkws z. B. besser auf ihre technische Qualität untersucht werden, als das bei manchem Nachbarn der Fall ist.
({2})
Das heißt doch, daß Herr Kollege Krause völlig recht hat, wenn er sagt: Wenn wir nur die Mineralölsteuer auf den Dieselkraftstoff erhöhen, werden etwa 150 000 oder 180 000 Arbeitsplätze wegfallen, nämlich dort, wo Lkws nicht mehr von Deutschen gefahren werden. Das sagt auch der Bundesumweltminister. Ich will keine Verlagerung der Standorte von Transportunternehmern, sondern eine Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene.
Wenn wir das erreichen wollen, müssen wir in Brüssel für die Europäische Gemeinschaft einvernehmlich eine Absenkung der Kfz-Steuer für Lkws durchsetzen und eine Vignette für die Lkws drauflegen.
({3})
Was haben Sie denn dagegen einzuwenden, meine Damen und Herren? Das ist doch ein rationales Konzept. Wir sind dann frei, die Mineralölsteuer schrittweise zu erhöhen, damit sich die Menschen daran anpassen können. Dies alles ist doch eine großartige und vernünftige Strategie. Ich hoffe, daß Sie das in gleicher Weise mittragen werden.
Wenn dies dazu führt, daß wir die Wegekosten, die bei uns der Steuerzahler bezahlt hat, von den Ausländern mitbezahlen lassen, die bisher unsere Straßen kostenlos benutzen, ist das sicherlich auch ein Argument, das nicht gegen die Rationalität eines solchen Beschlusses spricht.
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Das, was im Augenblick noch nicht entscheidungsfähig ist, ist die Frage: Wie kommt der Kollege Krause in Brüssel mit der gemeinschaftlichen Zustimmung zu einer Absenkung unserer Kfz-Steuer für die Lkws zurecht? Das ist alles, und diese Diskussion bezeichnen Sie als „Wintertheater". Ich bewundere manchmal Ihre rhetorischen Qualitäten, vor allen Dingen, wenn Sie hier stehen. Wenn man sonst mit Ihnen spricht, ist das alles ganz interessant. Sobald Sie aber hier oben stehen, stellen Sie immer alles ganz anders dar. Das aber will ich gar nicht kritisieren.
Was ich deutlich machen möchte, ist, daß die Bundesregierung und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine ganz klare Konzeption haben, in der die Mineralölsteuer selbstverständlich ein wichtiger Faktor ist, daß man aber fragen muß: Wie können wir die Harmonisierung der Verkehrsleistungen in Europa erreichen? Das aber können wir über die Mineralölsteuer leider nicht erreichen. Deswegen muß die Voraussetzung etwa durch eine Vignette für Lkws geschaffen werden, um diese Harmonisierung zu ermöglichen.
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Insgesamt also, meine Damen und Herren, sind wir keine Bundesregierung, die vollmundig etwas beschließt. 25 % bis 30 % CO2-Reduktion bleibt selbstverständlich das Ziel dieser Bundesregierung. Sie arbeitet daran, dieses Ziel durch ganz konkrete Maßnahmen vornehmlich in den jungen Bundesländern und durch die soeben von Frau Kollegin Sehn angesprochenen, sehr deutlich dargestellten Maßnahmen auch in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt umzusetzen. Ich hoffe, daß wir schon im nächsten Jahr bessere, weiterreichende Minderungszahlen haben als diese 14,5 %, die ich Ihnen heute mitteilen konnte.
Ich danke Ihnen sehr herzlich.
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Meine Damen und Herren, das Wort erhält jetzt unsere Frau Kollegin Dr. Liesel Hartenstein.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Klimaschutz ist kein Markenzeichen deutscher Umweltpolitik, Herr Minister. Da hilft alles Drumherumreden nichts, und da hilft auch kein Ausweichen auf die internationale Ebene.
Wir sind uns schnell darüber einig, daß Klimaschutz auf allen Ebenen stattfinden muß: auf der internationalen Ebene genauso wie auf der nationalen Ebene. Auf der internationalen Ebene unterstützen wir Ihre Bemühungen voll. Aber wirksamer Klimaschutz beginnt vor Ort, und hier ist die Bundesregierung gewaltig im Rückstand.
({0})
Das muß einmal eindeutig festgestellt werden.
({1})
Es hilft auch kein meines Erachtens reichlich fragwürdiger Umgang mit Zahlen, Herr Minister. Ich bedauere, daß Sie gestern nicht dabeisein konnten, als die Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" eine Anhörung im Rahmen der Leipziger Messe durchgeführt hat. Da wurde uns gesagt, eine Reduzierung der CO2-Emissionen um 30 bis 40 % sei bis zum Jahre 2005 in den neuen Ländern sehr wohl erreichbar. Einige Experten haben die Meinung vertreten, eine Reduzierung um 30 % sei in Ostdeutschland heute schon eingetreten. Aber sie haben ebenso deutlich gesagt, dies sei nicht Erfolg einer gezielten Strategie, sondern leider eine Folge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Das muß man doch deutlich sagen. Man darf hier keine Grauzonen belassen, wie das in Ihren Ausführungen geschehen ist.
Meine Damen und Herren, an den Fakten ändert die ständige, gebetsmühlenartige Wiederholung guter Absichten nichts, eine Wiederholung, die sagt, man wolle gewißlich an dem 25-%-Beschluß vom November 1990 festhalten. Gute Absichten allein sind eben noch keine Politik.
Es ist unbestritten, daß der Regierungsbeschluß vor zweieinhalb Jahren einmal fortschrittlich war. Die Bundesrepublik Deutschland hat damit eine echte Vorreiterrolle eingenommen, und der Bundeskanzler hat sich auch noch auf der Rio-Konferenz im Glanz dieser Vorreiterrolle weidlich gesonnt. Aber inzwischen ist der Glanz verblaßt - einfach durch Nichtstun. Ein ehemals vorwärtsweisender Beschluß ist heute zu verbalen Schwüren verkommen. Und für mich gilt auch hier das Bibelwort: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen! Diese Taten sehe ich nicht.
({2})
In der Regierungserklärung in Berlin hat der Bundeskanzler am 20. Mai 1992 gesagt: Wir haben als erstes großes Industrieland die Verminderung der Treibhausgase aktiv in Angriff genommen. - Sie, Herr Bundesumweltminister, haben ihm beigepflichtet.
Wenn dem so wäre, dann bräuchten wir heute keine große Debatte zu führen. Aber ich frage Sie: Wo bleiben denn die konkreten Maßnahmen, die auch heute wieder so dringlich angemahnt werden, von der Wärmeschutzverordnung bis zur Eindämmung des motorisierten Straßenverkehrs? Sie sind nicht vorhanden! Sie sind nicht in Kraft, sie sind noch nicht einmal beschlossen.
Und ich frage Sie ganz speziell: Wenn dem so wäre, daß Klimaschutz zu den vorrangigen politischen Aufgaben dieser Bundesregierung gehörte, warum hat sie dann nicht die einmalige Chance, die sich in den neuen Bundesländern bot und immer noch bietet, mit beiden Händen ergriffen, die Chance nämlich, im Zuge des Neuaufbaus und der Umstrukturierung der Wirtschaft alle Möglichkeiten zur rationellen Energienutzung, zur Einsparung von Energie und zur Nutzung erneuerbarer Energien wirklich auszuschöpfen? Der Bundeskanzler spricht so gern von einer historischen Chance; hier wird sie ihm geboten. Ich halte es nicht für entschuldbar, daß wir in unglaublicher Verblendung daran vorbeigehen.
Ich komme noch einmal zurück auf die gestrige Anhörung in Leipzig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, fast alle Experten haben übereinstimmend bestätigt, daß es in den neuen Ländern riesige offene Potentiale für den Klimaschutz gebe. Sie haben ebenso einhellig die Befürchtung geäußert, daß diese offenen Potentiale durch Fehlinvestitionen und durch Aufrechterhaltung bzw. Schaffung ineffizienter Strukturen für lange Zeit wieder geschlossen werden.
Der Grund für diese Befürchtung: weil der Neuaufbau ganz nach dem Muster der alten Bundesländer vor sich gehe, weil infolgedessen neue Erkenntnisse und neue Technologien gerade auch im Bereich Klimaschutz nicht genügend berücksichtigt würden. Hier muß doch der Hebel angesetzt werden!
Ich frage Sie: Wollen wir sehenden Auges beim Aufbau in den neuen Ländern alle Fehler wiederholen, die wir in den alten Ländern gemacht haben? Sind wir denn überhaupt nicht lernfähig?
Die größten Reduktionspotentiale liegen nach Aussage der Experten im Raumheizungssektor. Bekanntlich haben die neuen Bundesländer einen enorm hohen Altbaubestand, der sanierungsbedürftig ist. Nach Schätzungen müssen bis zum Jahre 2005 2,4 Millionen Altbauwohnungen saniert werden, und es müssen zusätzlich rund 1 Million neue Wohnungen gebaut werden.
Da drängen sich doch folgende Fragen auf: Erstens. Wo bleibt die Wärmeschutzverordnung, die sicherstellt, daß neue Wohnungen in Ost und West nicht nach veralteten Wärmedämmstandards gebaut werden?
Zweitens: Wo bleibt ein umfassendes Förderprogramm zur Altbausanierung, auch zur energetischen Sanierung?
Drittens: Warum wird eigentlich nichts für die Erneuerung und den Ausbau der Fernwärmenetze getan, die in den neuen Ländern einen wesentlich höheren Anteil an der Wärmeversorgung haben, nämlich 25 % im Vergleich zu nur 8 % in den alten Ländern?
Dies alles würde nicht nur dem Klimaschutz dienen, sondern dies würde auch Arbeitsplätze für Jahrzehnte schaffen - im Handwerk, im Ausbaubereich, in der Heizungstechnik.
({3})
Die Klage über die Hemmnisse war allgemein, Hemmnisse, die dem rationellen und ökologisch verträglichen Energieeinsatz entgegenstehen. Das betrifft nicht nur mangelnde Finanzmittel und Informationsdefizite - die gibt es auch -, wichtige Hemmnisse sind ebenso die ungeklärten Eigentumsverhältnisse und falsche Rahmenbedingungen. Das möchte ich noch einmal ausdrücklich betonen.
Ein ganz entscheidendes Hemmnis ist der Stromvertrag vom August 1990!
({4})
Das ist nicht nur meine Auffassung, sondern auch die Auffassung der Sachverständigen. Er hat die Monopolstrukturen von den alten Bundesländern auf die neuen übertragen. Er bremst den Einsatz der umweltfreundlichen Kraft-Wärme-Kopplung. Er bremst auch die dezentrale Energieerzeugung durch die Stadtwerke. Er schreibt eine verbrauchsorientierte Energiepolitik fest, statt eine energieeinsparende Energiepolitik zu fördern. Bis jetzt dominiert die Absatzstrategie, sagte ein Sachverständiger aus Halle. So ist das: Die Verkaufsstrategie dominiert, nicht die Einsparstrategie.
Ich frage Sie: Wann werden wir solche anachronistischen Hürden endlich beseitigen?
Ein zweites Handlungsfeld ist der Verkehrsbereich. Die Sorge vor einer verkehrsproduzierenden Zersiedlung kam unüberhörbar zum Ausdruck. Die zunehmende Trennung der Funktionsbereiche Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Freizeit usw. ist überall zu beobachten.
Hinzu kommt, daß die gegenwärtige Verkehrspolitik durch eine deutliche Begünstigung der Straße, durch eine deutliche Vernachlässigung des ÖPNV und durch eine massive Benachteiligung der Schiene gekennzeichnet ist. Warum begreift man nicht, daß dies der falsche Weg ist? Verkehrspolitik ist Klimapolitik!
({5})
Nicht die Imitationen alter, umweltfeindlicher Strukturen, sondern der Aufbau neuer, umweltfreundlicher Verkehrsstrukturen muß doch das Ziel sein. Es wäre zu wünschen, daß Herr Krause diese Lektion lernt, bevor es zu spät ist, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Ein Wort zu den Ausführungen der Kollegen Frau Sehn und Herrn Feige. Da möchte ich zunächst zu Herrn Feige sagen: Wenn es um die Konturen einer
Partei geht, empfehle ich uns allen, daß jeder zunächst einmal vor der eigenen Türe kehrt.
({7}) -Oh ja!
Herr Feige, ich kann hier für die SPD als Fraktion und als Partei unmißverständlich erklären: Wir wollen eine ökologische Steuerreform! Dies ist eindeutige Mehrheitsmeinung, und es ist nicht fair, irgendwelche „Ausreißer" zu zitieren.
Liebe Frau Sehn, wenn ich an Herrn Baum denke und mich daran erinnere, wie oft er schon gesagt hat, daß die F.D.P. die Verbandsklage einführen wolle, dann sind wir, glaube ich, schnell quitt miteinander.
({8})
Auch bei Ihnen gibt es eine Menge „Ausreißer".
Zu einer ökologischen Steuerreform gehört aber ein geschlossenes, ausgewogenes Konzept einschließlich der schrittweisen Erhöhung der Energiesteuern; ich betone das deutlich. Nur muß man auch wissen - und das ist uns wichtig -, daß man die sozialen und strukturellen Auswirkungen, z. B. im ländlichen Raum, zu berücksichtigen hat. Nicht zuletzt deswegen haben wir eine Entfernungspauschale statt der Kilometerpauschale vorgeschlagen. Wir haben ebenso eine Fernpendlerpauschale vorgeschlagen.
Mit isolierten Einzelmaßnahmen, mit isolierten Einzelaktionen wird das Ziel nicht erreicht.
Frau Kollegin Hartenstein, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grüner? - Bitte, Kollege Grüner.
Frau Kollegin, ist es richtig, daß Sie in Ihrem Energiesteuerprogramm, in Ihrem Bundestagswahlprogramm zwar eine Energiesteuer fordern, aber die Kohle von einer solchen Steuer ausnehmen wollen? Ich habe das bisher immer als SPD-Programm betrachtet. Was ist eigentlich Ihre ökologische Steuerreform vor diesem Hintergrund?
Lieber Herr Grüner, jetzt müssen Sie mir zuerst einmal sagen: Meinen Sie das Wahlprogramm für 1990, oder meinen Sie ein Wahlprogramm für 1994, das ich noch nicht kenne, daß Sie aber offensichtlich kennen?
({0})
- Gut, Sie kennen also das Konzept „Fortschritt 90" und wissen, daß damals eine Erhöhung der Mineralölsteuer vorgeschlagen war, sogar mit einem konkreten Betrag. Und Sie wissen genauso, daß die Kohle über die Einführung von Luftschadstoffabgaben herangezogen werden sollte. Ich glaube, es ist müßig, jetzt dieses Konzept noch einmal vorzutragen; Sie kennen es.
Wenn Sie die ökologische Steuerreform ansprechen, dann kann ich leider mit Rücksicht auf die Zeit hier nur das Prinzip nennen: Es muß alles teurer werden, was ökologisch schädlich ist. Es muß alles begünstigt werden, was umweltfreundlich ist, was also ökologisch vorteilhaft ist, z. B. die Reduzierung des Rohstoffeinsatzes, z. B. die Verringerung des
Energieverbrauchs usw. Das ist die Grundlinie. Mehr kann ich im Augenblick dazu nicht sagen; sonst wären abendfüllende Ausführungen nötig.
Frau Kollegin Hartenstein, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Feige? - Bitte, Herr Kollege Feige.
Frau Hartenstein, ist es bisher nicht so gewesen, daß gerade die Koalition den Anträgen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN immer eine Abfuhr erteilt hat, weil wir Einzelschritte in die richtige Richtung wollten, die Koalition aber immer sagte, das gehe nicht mit Einzelschritten, wir müßten ein Gesamtkonzept vorlegen? Glauben Sie nicht auch, daß Einzelschritte ein Gesamtkonzept durchaus unterstützen können?
Herr Kollege Feige, Ihre Frage ist sehr allgemein gehalten. Auch hier müßte man präziser wissen, auf was Sie hinaus wollen. Sie können beispielsweise im Verkehrsbereich nicht Einzelschritte unternehmen, ohne den Menschen gleichzeitig Alternativen anzubieten. Deswegen sind wir dafür, daß ein größerer Anteil der Milliarden, die dem Herrn Bundesverkehrsminister zur Verfügung stehen, zur Sanierung und zur Modernisierung des Schienenverkehrs verwendet werden. Deswegen sind wir dafür, daß sie zum Ausbau der ÖPNV-Netze auch im ländlichen Raum verwendet werden, damit die Menschen wirklich ein Angebot haben, wenn die Mineralölsteuern angehoben werden sollten. Deswegen sind wir auch dafür, daß die Arbeit von Steuern entlastet wird, wenn auf der anderen Seite eine ökologische Steuerreform z. B. den Energieverbrauch belastet.
({0})
- Ich würde Sie bitten, Herr Kollege Feige, mich fortfahren zu lassen. Denn es kommt noch ein Tagesordnungspunkt, und am Freitagnachmittag läuft die Zeit noch schneller weg als sonst.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich möchte ich sehr wünschen, daß der Herr Bundesverkehrsminister, die Frau Bundesbauministerin und auch der Bundeswirtschaftsminister an unserer Debatte teilnehmen könnten. Denn an diese Adresse muß man nämlich die Forderungen richten, insbesondere die, die ich jetzt aus Leipzig mitgebracht habe.
Auch im Bereich Gewerbe und Industrie sind falsche Weichenstellungen sichtbar. So monieren die Sachverständigen beispielsweise, daß die heutige Praxis der Investitionszuschüsse im wesentlichen kapitalintensive Produktionsprozesse fördere und nicht arbeitsintensive. Sie verlangen - zu Recht, meine ich -, daß die begrenzten staatlichen Mittel auf Zukunftstechnologien, auf Hochtechnologien konzentriert werden und zwar auf solche Produktionsformen, die mit einem Minimum an Energieaufwand und einem Minimum an Rohstoffeinsatz auskommen. Hier besteht echter Handlungsbedarf, hier besteht echter Umsteuerungsbedarf. Freilich, Umsteuern setzt Um12654
denken voraus, und genau dieses vermisse ich bis dato noch bei Ihnen.
({1})
Lassen Sie mich zum Schluß sagen, meine Damen und Herren: Willy Brandt hat einmal die Vision formuliert, die ostdeutschen Länder könnten mittelfristig der modernere Teil Deutschlands werden.
({2})
Ich frage die Bundesregierung und auch Sie, Herr Gallus, ob sie nicht endlich die Rahmenbedingungen schaffen will, um diese Vision wahrzumachen. Das wäre eine historische Leistung.
({3})
- Ich habe es vernommen. - Global denken, lokal handeln: Darüber, ob Rio folgenlos bleibt, wird nicht erst beim nächsten Erdgipfel entschieden, sondern vor Ort, auch hier in Bonn. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, die Weichen neu zu stellen. - Haben Sie es vernommen, Herr Gallus?
Danke schön.
({4})
Meine Damen und Herren, der nächste Redner ist unser Kollege Dr. Peter Paziorek.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Hartenstein, so sehr ich Ihr Engagement für den Klimaschutz schätze, muß ich doch sagen, daß Sie durch die Art und Weise, wie Sie heute vormittag Klimaschutzpolitik beschreiben - obwohl Sie das nicht wollen, das unterstelle ich -, der Klimaschutzpolitik einen großen Schaden zufügen. Sie stellen nämlich die Problematik so dar, als ob das alles ganz einfach sei, als müßten wir nur endlich anfangen, die Weichen richtig zu stellen; dann könnten die Probleme schon gelöst werden.
Wer so argumentiert, verkennt die Schwierigkeiten, die im Detail liegen und auf die bei jeder seriösen Klimaschutz- und Umweltschutzpolitik die richtigen Antworten gefunden werden müssen.
({0})
Sie haben immer wieder die gestrige Anhörung der Enquete-Komission in Leipzig angesprochen. Ich z. B., der ich Mitglied der Enquete-Kommission bin, konnte gestern in Leipzig nicht dabeisein, weil ich an einer Anhörung unserer Fraktion zum Thema nachwachsende Rohstoffe teilnehmen wollte, eine Problematik, die nach meiner Ansicht ein wichtiger Detailpunkt der Klimaschutzpolitik ist.
({1})
Im Detail, liebe Frau Hartenstein, ist uns gestern von Fachleuten, die für den Einsatz nachwachsender Rohstoffe sind, hinsichtlich des Bereichs der Holzkraftwerke gesagt worden: bei der Schwefelbilanz hervorragend - das ist ganz klar -, bei der CO2-Bilanz ebenfalls hervorragend. Aber bei Stickoxiden und beim Staub sind die modernsten Holzkraftwerke in der Leistungsfähigkeit schlechter als das modernste fossile Kraftwerk.
Wenn wir jetzt z. B. Filter einbauen wollen, um den Staubausstoß bei den Kraftwerken im Holzbereich zu verhindern, bekommen wir solch hohe Gestehungs- und Investitionskosten, daß allein dadurch die nachwachsenden Rohstoffe, z. B. im Bereich der festen Rohstoffe, des Holzes, teurer werden und damit keine Marktchancen mehr haben. So haben wir überall die Detailpunkte.
Der Bundesumweltminister hat gerade zu Recht gesagt: Wir arbeiten an der Umsetzung unseres Maßnahmenkataloges. - Natürlich muß man so arbeiten, daß das seriös ist und einer wirklich intensiven Diskussion standhält.
({2})
Man darf sich nicht einfach hier hinstellen und sagen: Das geht alles so. - Nein, das Problem ist, es geht im Detail nicht so.
Deshalb lassen Sie mich an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Frau Hartenstein, wir müssen natürlich - und da sind wir einer Meinung - deutlich machen, daß Umweltschutzpolitik und Klimaschutzpolitik so wichtig sind, daß diese Politikfelder z. B. nicht gegenüber dem Grundsatz „Wiederaufbau Ost" und auch nicht gegenüber dem Grundsatz, daß unsere Wirtschaft im internationalen Standard wettbewerbsfähig bleiben muß, zurückstehen dürfen.
Liebe Kollegin Enkelmann, Sie sagen, es werde zur finanziellen Unterstützung überhaupt nichts getan. - Der Bundesumweltminister hat gestern gesagt: 15 Milliarden DM müssen jetzt aufgelegt werden, um die Altlasten der früheren DDR im Umweltschutzbereich zu beseitigen. Wenn wir das Geld zur Verfügung hätten, um Klimaschutzpolitik zu betreiben, dann wären wir in der Tat ein Stückchen weiter. Aber wir müssen erst einmal Ihre Altlasten abbauen, die Sie über 40 Jahre haben auflaufen lassen.
Lieber Kollege Feige, Sie haben gerade gesagt, daß Ihr Antrag, der jetzt vorliegt, im Grunde genommen nur das aufgreift, was wir in der Fraktion beschlossen haben. Ich muß Ihnen sagen, da haben Sie völlig falsche Informationen. Wir haben in der Fraktion beschlossen, daß wir in der Tat eine Erhöhung der Mineralölsteuer brauchen. Aber die Erhöhung der Mineralölsteuer kann nicht ohne Beteiligung der ausländischen Speditions- und Lkw-Unternehmer in Betracht kommen. Sollen die denn vielleicht kostenlos durch Deutschland fahren und nur die Deutschen die externen Kosten im Umweltschutzbereich bezahlen? Das kann doch wohl nicht wahr sein!
({3})
Aber, lieber Herr Feige, ich habe ja Verständnis für Ihre Situation. Nach dem sogenannten politischen Erdbeben in Hessen haben Sie vielleicht Sorge, ob Sie in der nächsten Legislaturperiode noch umweltpolitischer Sprecher Ihrer Fraktion sind. Deshalb kommt es jetzt manchmal zu hektischen Aktionen. Aber es hat keinen Zweck, in der Beziehung hat die CDU/CSUFraktion die Punkte richtig gewichtet.
({4})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Feige?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Paziorek, sind dann alle Pressemitteilungen über die Koalitionsgespräche zur Frage Vignette und Erhöhung der Mineralölsteuer um 13 Pfennig erstunken und erlogen? Hat sich der Kanzler nicht dafür eingesetzt und deshalb Watschen von der CDU/CSU-Fraktion bekommen?
({0})
Lieber Kollege Feige, ich weiß nicht, ob alle Pressemitteilungen „erstunken und erlogen" sind. Ich weiß nämlich nicht, welche Sie gelesen haben. Aber ich weiß, daß die Pressemeldungen, die ich gelesen habe, deutlich gemacht haben, daß es der CDU/CSU-Fraktion vor allen Dingen um die Einführung der Lkw-Vignette für ausländische Unternehmen geht. Das ist ein guter und richtiger Ansatz. Ich glaube, das sollten Sie mit Blick auf unsere Abstimmung gleich als unsere Position zur Kenntnis nehmen.
Wir haben ja gesagt zu einer Klimaschutzpolitik, auch vor dem Hintergrund der veränderten Rahmendaten, trotz der Wiedervereinigung Deutschlands, obwohl auch verstärkt Geldmittel in den Aufbau Ost fließen müssen. Es hat auch gar keinen Zweck, daß wir in Schubladen denken: einerseits Wirtschaftspolitik, andererseits Umweltpolitik. Wir müssen zu einem vernetzten Denken kommen, bei dem Umweltpolitik und Wirtschaftspolitik zusammengeführt werden
({0})
und durch das auch Denkweisen verändert werden. Das ist genau das, was der Konzeption der Bundesregierung und unserer Koalition zugrunde liegt.
({1})
Damit steht für die CDU/CSU-Fraktion auch fest, daß wir an der Beschlußlage des Bundestages vom 27. September 1991, nach der wir die CO2-Reduktion um 25 % wollen, nichts zu ändern brauchen. Deshalb unterstützen wir die Bundesregierung auch in ihrer Beschlußfassung vom Dezember 1991 und sagen: Es besteht überhaupt gar kein sachlicher Anlaß, heute Ihrem Entschließungsantrag zuzustimmen. Er bringt in der Sache nichts Neues. Die Verfahrensvorschläge sind auch nicht sensationell neu. Deshalb kann ich sagen, daß es für eine Zustimmung zu diesem Entschließungsantrag keine sachliche Grundlage gibt.
({2})
Gestatten Sie noch eine Frage der Abgeordneten Liesel Hartenstein?
Selbstverständlich.
Bitte, Frau Kollegin.
Herr Kollege Paziorek, über die Komplexität der Themen sind wir uns sicherlich einig. Wir sind uns aber offenbar nicht einig über die Dringlichkeit der Maßnahmen, die erfolgen müssen. Ich verstehe ja, daß Sie die Bundesregierung schützen wollen, aber haben Sie denn wirklich eine Erklärung dafür, daß zu allen diesen angesichts der Dringlichkeit der Klimaproblematik überfälligen Maßnahmen - Wärmenutzungsverordnung, Wärmeschutzverordnung, Ausbaukonzept für Fernwärme, massives Förderprogramm für erneuerbare Energien, Konzept zur Eindämmung des Straßenverkehrs, Novellierung des Energiegesetzes, Revision des Stromvertrages usw. - heute noch nichts, wirklich gar nichts auf dem Tisch liegt? Ich möchte gerne wissen, wie Sie das wirklich beurteilen, da Sie ja Mitglied der Enquete-Kommission sind und sich keine Illusionen darüber machen können, daß jeder Tag, jede Woche, die wir verstreichen lassen, ohne drohenden Gefahren gegenzusteuern, das alles nur noch teurer macht und unter Umständen unumkehrbar macht?
Frau Hartenstein, von der Zielrichtung her stimmen wir alle Ihnen zu. Genau die Punkte, die Sie angesprochen haben
- Wärmeschutzverordnung, Wärmenutzungsverordnung, Förderprogramm für die Gebäudewirtschaft, auch im Althausbereich -, sind Punkte, die wir zu einer sinnvollen Strategie, bezogen auf das Jahr 2005, brauchen.
({0})
- Ich bin mit der Beantwortung noch nicht fertig. - Nur: Es hat keinen Zweck, daß wir Anfang 1993 z. B. eine Wärmenutzungsverordnung in Kraft setzen, die beispielsweise völlig kompliziert ist, übertrieben ist und vielleicht falsche Schwerpunkte im Bereich der betrieblichen Abwärme außerhalb der Betriebe setzt,
({1})
daß wir dadurch also, Frau Hartenstein, eine Regelung verabschieden, die so kompliziert ist, daß die Wärmenutzungsverordnung bis zum Jahre 2005 nur schwer oder vielleicht auch gar nicht sinnvoll umgesetzt werden kann.
Genau darauf kommt es uns an: Lieber jetzt, in 1993, noch zwei oder drei Monate warten und dann eine gute und sinnvolle Wärmeschutzverordnung und Wärmenutzungsverordnung auflegen, als - ich sage das ganz deutlich, Frau Hartenstein - unter Hektik
- wie Sie das wollen - hier Verordnungen zu erlassen, die in der Praxis nachher nicht umsetzbar sind.
({2})
Genau das ist der Stand. Das Traurige ist, daß Sie diese Zielrichtung nicht erkennen, sondern jetzt, um parteipolitische Vorteile zu erzielen, in Hektik machen, was der Klimaschutzpolitik unter dem Gesichtspunkt „2005" bestimmt nicht dient.
({3})
Um es noch einmal klarzustellen: Die Klimaschutzpolitik richtet sich nicht nur an den Bund, sondern auch an die Länder und an die Kommunen. Deshalb brauchen wir auch örtliche und regionale Energie- und Klimaschutzkonzeptionen. Wir brauchen alles das, was Sie, Frau Hartenstein, gerade angesprochen haben. Wir brauchen auch eine Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes, damit die Zielrichtung klar wird, nämlich mehr Umweltschutz und Ressourcenschonung.
Ich sage noch einmal ganz deutlich: Auch die CDU/CSU-Fraktion ist dafür, daß langfristig, kontinuierlich, sozial- und wirtschaftspolitisch verträglich die Mineralölsteuer angehoben wird, um dadurch auch ein Umsteuern in der Verkehrspolitik herbeizuführen. Nur: Es hat keinen Zweck, Frau Hartenstein, wenn Sie z. B. sagen „Es tut sich ja nichts im Bereich des Schienenverkehrs" und damit auch der Öffentlichkeit einfach unterschlagen, daß eine langfristig tragfähige Stärkung des Schienenverkehrs nur möglich ist, wenn die Bahnreform kommt.
Deshalb kann ich nur sagen: Tim Sie doch bitte nicht den zweiten Schritt vor dem ersten Schritt, sondern unterstützen Sie unseren Verkehrsminister beim ersten Schritt, damit wir die Bahnreform auch beim Bundesrat jetzt wirklich über die Bühne bekommen, damit wir eine sinnvolle neue Verkehrspolitik betreiben können!
({4})
Es gibt kein einheitliches, geschlossenes Rezept, das in einem Sprung die CO2-Probleme löst. Das ist Ihr Denkfehler. Wir sind von der Zielrichtung her völlig einer Meinung; nur ist der Strategieansatz bei Ihnen meines Erachtens überzogen. Vielmehr sind viele kleine Schritte auf unterschiedlichen Feldern notwendig.
Außerdem müssen wir auf der EG-Ebene die Umweltschutzstandards, insbesondere im Energiebereich, auch tatsächlich harmonisieren, wenn die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft nicht beeinträchtigt werden soll. Die Bundesregierung und die Koalition sind mit ihrem Druck auf die EG in Sachen Klimaschutz auf dem richtigen Weg.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Meine Damen und Herren, ich erteile das Wort jetzt unserer Frau Kollegin Brigitte Adler.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD „Umsetzung der Empfehlungen der Enquete-Kommission durch die Bundesregierung" ist ein weiteres Signal für die umwelt- und klimapolitische Handlungsunfähigkeit dieser Regierung.
Die schon früher geäußerten Befürchtungen, daß den Versprechungen der Bundesregierung, in der Klimapolitik eine Vorreiterrolle zu spielen, keine oder nur halbherzige Taten folgen werden, bewahrheiten sich immer deutlicher. Statt entschlossenen Handelns, wie der Herr Bundeskanzler es noch vor zwei Jahren forderte, werden allmählich unverantwortbare Verzögerungs- und Verschleppungstaktiken sichtbar.
({0})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Landwirtschaftspolitik gibt dafür ein trauriges Beispiel:
Die Landwirtschaft ist von der Klimaveränderung in besonderer Weise betroffen, da die nachhaltige Ertragsfähigkeit vieler Standorte reduziert und in einigen Regionen der Erde gänzlich zerstört werden kann. Um so mehr müßte die Landwirtschaft bestrebt sein, ihre Rolle als Mitverursacherin des Treibhauseffektes ernst zu nehmen und endlich umwelt- und klimaverträgliche Nutzungsformen in die Tat umzusetzen.
Mit rund 10 % ist die Landwirtschaft weltweit am Treibhauseffekt beteiligt: CO2-Freisetzung wegen fortschreitender Bodennutzung und zunehmenden Humusverlusten, Methanemissionen aus der Rinder- und Schafhaltung, Lachgasemissionen durch intensive Stickstoffdüngung. Aber auch das nach wie vor zugelassene Pestizid Methylbromid zerstört ebenso wie Lachgas die Ozonschicht.
Den Zusammenhang „Klima und Landwirtschaft" sollten wir allerdings nicht einseitig betrachten; denn die Klimabelastung ist nur ein Merkmal der ökologischen Krise in der Landwirtschaft. Eine Erhöhung der Umweltverträglichkeit landwirtschaftlicher Produktion würde den Naturhaushalt in vielfacher Hinsicht entlasten.
Frau Kollegin Adler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gallus?
Nein, das gestatte ich jetzt nicht.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf den Kollegen Paziorek eingehen, der die nachwachsenden Rohstoffe als ein Allheilmittel oder zumindest ein wichtiges Mittel in der Landwirtschaft ansieht. Ich möchte dazu sagen, daß gerade Monokulturen auch in unserem Land als sehr schwierig anzusehen sind, daß sie vor allem deshalb bedenklich sind, weil im Nonfood-Bereich mit Pestiziden und anderen Pflanzenbehandlungsmitteln behandelt wird, der Boden entsprechend belastet wird und damit auch das Grundwasser wieder belastet wird.
Insofern sollten wir diese Diskussion zu den nachwachsenden Rohstoffen sehr sorgfältig führen und allen möglichen Gefährdungen gegenüberstellen, welchen Nutzen diese nachwachsenden Rohstoffe auch haben könnten. Dazu ist, meine ich, noch eine weitere Anhörung oder weitere Behandlung in den Ausschüssen notwendig.
Angesichts dieser Zusammenhänge, nämlich zwischen Klima und Landwirtschaft, stimmt es bedenklich, wenn die Bundesregierung die Ergebnisse der EG-Agrarreform entgegen besserem Wissen als Erfolg für den Klima- und Umweltschutz präsentiert, obwohl auch nach der EG-Agrarreform die LandwirtBrigitte Adler
schaft von einem Marktordnungssystem beherrscht wird, das keinerlei Anreize für ökologisch verträgliche Produktionsweisen bietet. Einkommenstransfers in Milliardenhöhe werden an die Landwirtschaft überwiesen, ohne diese an umweltverträgliche Wirtschaftsweisen zu binden.
Eine Auskunft darüber, wie sie die Agrarreformbeschlüsse zugunsten von Umwelt und Klima beeinflußt hat, bleibt die Bundesregierung schuldig. Ebensowenig antwortet sie auf die Frage, wie sie sich für die EG-weite Einführung der von der Enquete-Kommission empfohlenen Stickstoffsteuer einsetzt. Gleichzeitig argumentiert die Bundesregierung, daß eine Stickstoffbesteuerung nur EG-weit durchführbar ist. Richtig, aber ohne Überzeugungsarbeit wird es nie gelingen.
Wie aber könnte man auf EG-Ebene für umweltpolitisch sinnvolle Maßnahmen plädieren, wenn man im eigenen Land nicht in der Lage ist, z. B. eine Düngemittelanwendungsverordnung zu verabschieden, um endlich die gravierenden Folgeschäden der Stickstoffdüngung abzustellen?
({0})
Lassen Sie mich abschließend noch ein Wort zur Dieselölverbilligung in der Landwirtschaft sagen. Mit fast 1 Milliarde DM wird der Dieselöleinsatz jährlich subventioniert. Nach Aussagen der Bundesregierung würde eine Streichung dieser Subvention zu einer Verbrauchsminderung um lediglich rund 1 % führen. Die eigentliche Zielsetzung der Frage in unserer Großen Anfrage aber wollte die Bundesregierung nicht verstehen: 1 Milliarde DM könnten vernünftigerweise z. B. für die Förderung des ökologischen Landbaus eingesetzt werden. Aber dazu fehlt dieser Bundesregierung der politische Wille.
({1})
Jetzt hat unser Kollege Dr. Christian Ruck das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich fange mit dem an, womit Frau Adler aufgehört hat: mit dem politischen Willen. Frau Adler, Sie sind Mitglied im Entwicklungsausschuß. Sie müßten mitbekommen haben, daß wir gerade im Rio-Prozeß eine Bundesregierung erlebt haben, die wirklich alles versucht hat, um diesen Prozeß in Gang zu bringen,
({0})
und daß ihr der Bundestag dabei geholfen hat. Beide haben im Vorfeld und während der Rio-Konferenz eine hervorragende Rolle gespielt. Sie haben vermittelt, initiiert, zusammengeführt und auch Beschlüsse herbeigeführt. Das ist, glaube ich, unbestritten und kann auch von Ihnen, Frau Adler, nicht übersehen werden.
({1})
Unsere bange Frage ist nun, ob nach acht Monaten ein Rio-Prozeß deutlich wird, der darauf hinweist, daß nicht etwa nur Papiertiger am Werk waren. Denn die tropischen Wälder schrumpfen weiter. Die CO2Belastung hat nicht abgenommen. Auch das Ozonloch ist nicht kleiner geworden.
Wir sollten uns jedoch an den positiven Signalen orientieren: daß das neue Präsidentengespann der USA offensichtlich willens ist, die bisherige umweltpolitische Blockadepolitik der Vereinigten Staaten zu beenden, daß UNO-Generalsekretär Boutros Ghali erste Schritte eingeleitet hat, die Umwelt- und Entwicklungspolitik des UN-Systems besser zu koordinieren und zu straffen, und daß das von uns, von Deutschland und der Bundesregierung, durchgesetze europäische Programm zum Tropenwaldschutz in Brasilien nach mühsamen politischen und technischen Vorarbeiten nun startklar ist. Das sind einige ermutigende Zeichen. Andere hat Minister Töpfer bereits genannt.
Doch es stehen uns unmittelbar schwierige Nagelproben bevor. So ist z. B. nicht sicher, ob die laufende internationale Tropenholzhandelskonferenz in Japan überhaupt wieder in Fahrt kommt und tatsächlich zu einem besseren Schutz aller Wälder vor hemmungslosem Raubbau führt. Sicher ist auch noch nicht, ob, wie wir alle hoffen, die globale Umweltfazilität Ende 1993, wenn die Pilotphase ausläuft, wirklich, wie beschlossen, mit 3 Milliarden US-Dollar Sonderziehungsrechten weitergeführt oder, wie zu hören ist, auf Betreiben der Weltbank gekürzt wird. Denn schon Ende 1992 konnten sich die 34 Geberländer der Weltbanktochter IDA nicht auf die in Rio eigentlich beschlossene Aufstockung der Gelder zur Umsetzung der Agenda 21 einigen. Hier waren unsere Gelder aus dem BMZ-Haushalt in Höhe von 240 Millionen DM bereits als Verpflichtungsermächtigung eingestellt. Es lag also nicht an uns.
Das UNO-Sekretariat der Rio-Konferenz bezifferte die jährlich notwendige Geldsumme zur Umsetzung der Agenda 21, des tragenden Pfeilers der Rio-Konferenz, von 1993 bis zum Jahr 2000 allein für die Entwicklungsländer auf 600 Milliarden US-Dollar, davon 125 Milliarden US-Dollar an Zuschüssen und Krediten durch die internationale Gebergemeinschaft. Diese Gebergemeinschaft, meine Damen und Herren, ist gerade bei höchstens 5 Milliarden USDollar angelegt. Bei dieser schwindelerregenden Diskrepanz kann ich nur hoffen, daß sich das UNOSekretariat geirrt hat.
Aber wie auch immer: Die von den Industrieländern aufzubringende Summe ist in etwa mit dem vergleichbar, was jetzt im Solidarpakt zwischen Ost- und Westdeutschland im Feuer ist. Ich frage mich natürlich, ob der Solidarpakt zwischen Norden und Süden für uns alle nicht genauso wichtig ist. Auch Nord und Süd sind vereinigt: in der Klimazerstörung, in der Vernichtung der Schöpfung, im Drogenproblem, in der Flucht der Menschen vor Elend und Unterdrükkung.
Wie der innerdeutsche, so ist auch der Nord-SüdSolidarpakt eine beispiellose, aber notwendige Investition in die Zukunft. Denn die Option, unseren Reichtum gegenüber dem Rest der Welt abzuschotten und zu verteidigen, ist nichts anderes als ein ungedeckter Blankoscheck gegenüber unseren Kindern und Kindeskindern. Unsere politischen Leistungen
werden nicht daran gemessen, welche Partei 1994 oder 1998 wie ausgesehen hat, sondern daran, ob wir eine lebenswerte Umwelt hinterlassen haben, und vor allem, ob wir den größten globalen Sprengstoff dauerhaft und friedlich entschärfen konnten, nämlich das gewaltige Armutsgefälle gegenüber und innerhalb zwei Dritteln dieser Welt.
Was können wir tim, was müssen wir tun, um die Agenda 21 Wirklichkeit werden zu lassen? Mit ihrer konsequenten Schwerpunktsetzung auf Umweltschutz, Armutsbekämpfung sowie Bildung und Ausbildung ist die deutsche Entwicklungshilfe qualitativ auf einem sehr guten Weg. Angesichts der gewaltigen Herausforderungen beim Wiederaufbau der neuen Bundesländer sowie der notwendigen Hilfen für Osteuropa und angesichts der Konjukturschwäche unserer Wirtschaft ist die Forderung nach einer kurz- und mittelfristigen Verdoppelung der deutschen Entwicklungshilfe - das sind die 0,7 % des Bruttosozialprodukts - unrealistisch. Wir sollten uns aber dennoch geschlossen das Versprechen von Bundeskanzler Kohl an die Dritte Welt zu eigen machen und ab Mitte der 90er Jahre die zugesagte Erhöhung unserer Entwicklungshilfe in Richtung 0,7 % schrittweise - vielleicht bis zum Jahre 2005 - zumindest annähernd erfüllen und entsprechende Signale in der mittelfristigen Finanzplanung setzen.
Wir alle wissen jedoch, daß auch eine Verdoppelung unserer Entwicklungshilfe nichts bewirken würde, wenn nicht die anderen Geberländer und Entwicklungsinstitutionen mitziehen, ihren Ressourcentransfer ebenfalls erhöhen und mit uns koordinieren, unsere Schwerpunktsetzung mittragen oder flankieren, die GATT-Verhandlungen gemeinsam zum Erfolg führen und gemeinsamen politischen Druck auf diejenigen Regierungen in der Dritten Welt ausüben, denen die Zukunft und die Armut ihrer eigenen Bevölkerung mehr oder weniger gleichgültig sind.
Bundeskanzler Helmut Kohl und die zuständigen Minister und Staatssekretäre haben mit ihrer Überzeugungsarbeit im Ausland viel in Bewegung setzen können. Wir sollten sie dabei mit unseren vielfältigen internationalen Kontakten auch in Zukunft geschlossen und nachdrücklich unterstützen.
({2})
Viel Überzeugungsarbeit gibt es auch im eigenen Land, nicht nur bei der Akzeptanz der Entwicklungspolitik in einer schwierigen Zeit. In Westdeutschland sind beispielsweise 50 % aller Wirbeltierarten ausgestorben oder vom Aussterben bedroht.
Wir brauchen also nicht mit dem Finger auf die Tropenwaldländer zu zeigen, sondern müssen entschlossene Schritte auch im eigenen Land unternehmen.
({3})
- Das betrifft vor allem die Bundesländer, in deren
Zuständigkeit der Naturschutz liegt und die bekanntlich bunt gemischt von allen Parteien in diesem Land vertreten werden.
({4})
Auch bei den Länderregierungen steht die Nagelprobe noch aus.
Ich glaube, meine Damen und Herren, diese Überzeugungsarbeit im Ausland und im Inland ist der eigentliche Inhalt und ist die eigentliche Aufgabe des Rio-Prozesses. Daß das länger als acht Monate dauert, wird niemanden verwundern. Wir sollten diese Aufgabe mutig und mit langem Atem auf uns nehmen, auch in einer Schicksalsgemeinschaft zwischen den Entwicklungs- und Umweltpolitikern aller Parteien.
Vielen Dank.
({5})
Zu einem kurzen Beitrag erhält Frau Kollegin Monika Ganseforth noch einmal das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So kann ich noch einmal etwas Revue passieren lassen: Was wir heute hier gehört haben, war doch so die kleine Münze vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit den 13 Pfennig über die Träumereien und die Beschwörung des Geistes von Rio bis zu den Mitnahmeeffekten durch den Zusammenbruch in den neuen Ländern; aber es war sehr wenig Konkretes zur Klimaschutzpolitik.
({0})
Ich fand, es war doch wieder ein Ablenken von den Versäumnissen. Ich habe sehr viele Ausreden und Ausflüchte gehört.
({1})
Es gab Schlupflöcher, und es ist hier das SchwarzerPeter-Spiel gespielt worden.
Wir waren in der Enquete-Kommission schon einmal weiter. Wir waren uns schon einmal sehr einig, und zwar nicht nur in den Zielen, sondern auch darüber, daß wir eine große Aufgabe haben, um die es geht. Ich nenne nur die ökologische Steuerreform. Wir waren uns einig, daß wir eine Effizienzrevolution in bezug auf die Energie brauchen und den Einstieg in das Solarzeitalter. Es geht nicht darum, Kohle gegen Kernenergie, Braunkohle gegen Steinkohle und Gas gegen Öl auszuspielen, sondern wir wissen, daß wir ganz anders ansetzen müssen, daß es um die Grundsätze unseres Wirtschaftens und unseres Lebens geht.
Wir wissen genug, und ich appelliere noch einmal an Sie: Lassen Sie uns da anknüpfen, wo wir schon einmal waren. Wir haben eine große Aufgabe vor uns. Noch ist sie zu packen, aber nicht so, wie das hier heute diskutiert worden ist.
Schönen Dank.
({2})
Meine Damen und Herren, gemäß § 27 der Geschäftsordnung erhält zu
Vizepräsident Helmuth Becker
einer Kurzintervention unser Kollege Georg Gallus das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich habe mich zu dieser Kurzintervention wegen der Ausführungen der Frau Adler gemeldet. Man muß jetzt doch einmal nüchtern bleiben und sich fragen: Weshalb haben wir die intensive Landwirtschaft bekommen? Deshalb, weil wir mehr Menschen bekommen haben. Man kann doch nicht sagen: Wir müssen in 30 Jahren 10 Milliarden Menschen ernähren - und das in einer extensiven Landwirtschaft.
({0})
Ich bin der Auffassung, daß man nicht gegen die Gentechnologie sein kann, wenn man gleichzeitig weiß, daß man über diesen Weg höchstwahrscheinlich zu Pflanzen kommen kann, bei denen man den Einsatz von Stickstoff vermindern kann.
({1})
Man muß in dieser Frage wirklich nüchtern bleiben!
Dann möchte ich noch hinzufügen: Wer überhaupt auf dieser Welt die Schöpfung - wie ja immer so schön gesagt wird - erhalten will, wer will, daß noch Elefanten in Afrika herumlaufen, daß es noch Regenwald gibt, wer Artenschutz betreiben will, der muß in anderen Teilen eine intensive Landwirtschaft betreiben. So einseitig also, wie die Dinge bier von Frau Adler dargestellt worden sind, können sie nicht gesehen werden.
({2})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/4511. Wie bereits zu Beginn der Debatte angekündigt, wünscht die Gruppe namentliche Abstimmung. Nach unserer Geschäftsordnung kann eine namentliche Abstimmung aber nur von einer Fraktion oder von anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages - das sind 34 Abgeordnete - verlangt werden. Ich stelle daher die Frage: Wer unterstützt den Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf namentliche Abstimmung? - Das sind zehn Damen und Herren des Hauses. Damit kann über den Entschließungsantrag nicht namentlich abgestimmt werden.
Ich bitte nunmehr diejenigen, die für den Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind fünf Stimmen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen und ein Mitglied der Gruppe PDS/Linke Liste. Wer enthält sich der Stimme? - Das sind die SPD-Fraktion und ein Teil der Gruppe PDS/ Linke Liste. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/4527 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und zur
Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, den Ausschuß für Verkehr, den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau sowie den Ausschuß für Forschung, Technologie und Technologiefolgenabschätzung zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind alle Überweisungen so beschlossen.
Der Bericht der Bundesregierung auf Drucksache 12/3380 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie auch damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den letzten Punkt unserer heutigen Tagesordnung auf, den Punkt 13:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Fritz Schumann ({0}) und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Aufschub der Zustimmung der Bundesregierung zur Fusion der Kali und Salz AG und der Mitteldeutschen Kali AG
- Drucksache 12/4268 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß Treuhandanstalt ({1})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Im Ältestenrat ist eine Aussprache mit Fünf -Minuten-Beiträgen vereinbart worden. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Ich werde die Aussprache eröffnen, sobald die notwendige Ruhe hergestellt ist. - Die Aussprache ist eröffnet. Zunächst hat unsere Frau Kollegin Dr. Ursula Fischer das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! „Unser Kali, Arbeit für uns, Brot für die Welt!" fordern seit zwei Jahren Kali-Kumpel. Das ist eine vernünftige Forderung, die bei ihrer Realisierung sowohl deutschen Bergarbeitern und ihren Familien helfen würde als auch ein wirkungsvoller Beitrag gegen den Hunger in der Welt wäre.
Nun liegt nach mehrjährigen Verhandlungen hinter den Kulissen ein Fusionsplan auf dem Tisch, der von dieser Forderung meilenweit entfernt ist. Deshalb sagen wir auch hier und heute laut und deutlich: Die geplante Fusion zwischen der Mitteldeutschen Kali AG und der BASF-Tochter Kali und Salz AG ist ein gigantischer Deal zu Lasten der Thüringer Kali-Industrie. Bezahlen wird das alles der Steuerzahler, und gewinnen wird die BASF.
Um das zu belegen, möchte ich einige Fakten nennen. Die Mitteldeutsche Kali AG bringt in die Fusion ein: Zielitz, einen modernen Kali-Betrieb; Bernburg, ein modernes Steinsalzwerk; qualitativ hochwertige Salze aus dem Werra-Revier, die nach Schätzungen noch 50 Jahre reichen werden, sowie 1,044 Milliarden DM Bargeld.
Nicht von der Kali und Salz AG übernommen werden z. B. die stillgelegten Kaligruben in Sollstedt,
Bleicherode, Sondershausen, Roßleben, Dorndorf, Unterbreizbach und Bischofferode und die Sozialpläne für die entlassenen Kalikumpel. Hier werden wieder einmal die Gewinne privatisiert und die Verluste sozialisiert, d. h. dem Steuerzahler auf die Schultern gepackt.
Dies wird noch deutlicher, wenn man weiß, daß die Mitteldeutsche Kali AG 49 % des Gesellschafteranteils und damit auch 49 % des Risikos übernimmt. Der Anteil der Risikoübernahme, der von der Treuhandanstalt realisiert wird, liegt also damit deutlich über dem Produktionsanteil, der nur ca. ein Drittel der Gesamtproduktion beträgt. Das bedeutet, wenn das fusionierte Unternehmen rote Zahlen schreibt, wird der Steuerzahler überproportional am Ausgleich der Verluste beteiligt.
Ein weiteres Beispiel: 1988 hat die DDR zu Weltmarktpreisen 3,5 Millionen Tonnen Kalidünger verkauft, die Bundesrepublik 2,5 Millionen Tonnen. Jetzt soll die Produktion in den neuen Bundesländern um zwei Drittel, in den alten Bundesländern allerdings nur um ein Fünftel reduziert werden. Auf wessen Kosten wird hier also abgespeckt?
Des weiteren ist darauf hinzuweisen, daß die Mitteldeutsche Kali AG bis heute bereits 27 000 Mitarbeiter entlassen hat. Laut Fusionsplan sollen weitere 1 884 Mitarbeiter 1993/94 bei der Mitteldeutschen Kali AG entlassen werden und 1 744 Mitarbeiter bei Kali und Salz, der BASF-Tochter, dort allerdings planmäßig in Betrieben, deren Lagerstätten auslaufen, und über fünf Jahre gestreckt.
Das heißt auch, daß der Landkreis Worbis, in dem es bereits heute eine Arbeitslosenquote von 22 % gibt, in dieser Hinsicht noch durch 720 Mitarbeiter aus Bischofferode „bereichert" wird. Ist das eine gleichberechtigte, sozial gerechte Lösung?
Bereits die wenigen Beispiele zeigen deutlich: Eine Fusion in dieser Form erfolgt mit sehr hohen, die Treuhandanstalt und damit letztendlich den Bund auch in ferner Zukunft belastenden Aufwendungen, ohne daß Arbeitsplätze im Sinne industrieller Kerne erhalten werden.
Deshalb fordern wir: Erstens. Die Fusion darf erst erfolgen, wenn die Mitteldeutsche Kali AG und K und S unzweifelhaft belegt haben, daß der Zusammenschluß in dieser Form ökonomisch, ökologisch sowie sozial vertretbar und allen anderen möglichen Varianten vorzuziehen ist.
({0})
Zweitens. Die Thüringer Landesregierung möge endlich aktiv in die Fusionsverhandlungen eingreifen und die Interessen der Thüringer Bürgerinnen und Bürger vertreten.
({1})
Drittens. Die Gewerkschaft Bergbau und Energie muß sich endlich darauf besinnen, die Interessen der Kumpel West und Ost zu vertreten.
Viertens. Es müssen Möglichkeiten geschaffen werden, Kali im Rahmen der Wirtschafts- und Osteuropahilfe einzusetzen. In Westeuropa werden 100 Kilo Kali pro Hektar und Jahr ausgebracht, in Afrika 8 bis 15 Kilo und in Südamerika 20 bis 30 Kilo. Es ist also international ein enormer Bedarf an Kalidüngemitteln zur Eindämmung des Hungers in der Welt vorhanden. Wenn natürlich, statt wirkungsvoll zu helfen, z. B. die Rohkaffeepreise ständig weiter gedrückt werden, darf man sich nicht wundern, wenn ein Land wie Brasilien entsprechend weniger Kali kaufen kann.
Fünftens sind wir der Auffassung, daß die Einführung einer Kaliquote in den Ländern sinnvoll wäre. Die Vergabe müßte nach Vorratslage, Werkstoffgehalt, Anzahl der Kalistandorte im Land und sozialer Lage erfolgen.
Sechstens muß endlich ernsthaft darangegangen werden, für die bereits entlassenen 27 000 Kumpel ebenso wie für alle anderen Arbeitslosen Arbeitsplätze zu schaffen. Es muß aufhören, daß sich der Staat mit Hinweisen auf die Soziale Marktwirtschaft immer weiter aus der Veranwortung zieht. Mit einem Recyclingpark allein kann man z. B. an der Werra keine 8 000 Menschen beschäftigen. Das permanente Gerede darüber schafft auch nicht einen einzigen Arbeitsplatz.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat der Kollege Udo Haschke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin mir sicher, daß mindestens fünf Kollegen aus dem Kalibereich heute auf der Tribüne sitzen. Wenn ich Sie auch nicht direkt erkenne, möchte ich Sie doch besonders begrüßen.
({0})
- Ja, ich habe ihnen Eintrittskarten besorgt. Wir reden eben nicht nur.
({1})
Ich war jetzt auf der Demonstration, selbstverständlich; denn das machen wir nicht mit. Wir machen nicht mit, daß Thüringer Salz von hessischen Tunneln aus gefördert und über hessische Vertriebsgesellschaften verkauft wird.
Deshalb hat die Thüringer Landesregierung - daher war Ihr Appell eigentlich überflüssig, Frau Kollegin Fischer - bereits alles gestoppt und gesagt: Die Fusion ist vernünftig, aber zu gleichen Bedingungen. Wir wollen nicht, nachdem wir schon 7 000 bis 8 000 Arbeitsplätze abgebaut haben, nun in gleichen Bedingungen mit der anderen Seite noch einmal 1 800 oder 1 500 Arbeitskräfte verlieren. Wir wollen auch nicht, daß das an der Geldfrage gemessen wird, weil der Sozialabbau in Ost nur 7 000 DM kostet und in West 32 000 DM. Da spielen wir nicht mit. Das ist der Standpunkt der Thüringer Landesregierung. Den darf ich so mitteilen.
Aber ich muß mich natürlich auch fragen: Woher kommt denn so ein Denken? Da habe ich hier ein
Udo Haschke ({2})
Interview vom Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen Schröder - Zitat -:
Die Bereitschaft im Westen, beim Aufbau in Ostdeutschland mitzuhelfen, darf nicht überstrapaziert werden. Der Wille zu teilen hat dort Grenzen, wo Menschen belastet werden.
({3})
Im Osten muß endlich begriffen werden, daß es 40 Jahre gedauert hat,
- das ist alles noch Zitat bis in der Bundesrepublik der heutige Lebensstandard erreicht worden ist. Wir haben für die Einheit bezahlt.
Das kann ja wohl nicht ernst zu nehmen sein. Soll das heißen, wir sollen jetzt 40 Jahre warten? Sollen die Kumpel von Kali 40 Jahre warten? Irgendwo hat für mich jeder Spaß seine Grenzen. Er hat da seine Grenzen, wo sich die IG Bergbau und Energie hinstellt und sagt, man müsse endlich begreifen, daß die Bedingungen eben so sind, und man nimmt das dann einfach hin. Man kann zwar in Deutschland Ost, also in Thüringen, Sachsen-Anhalt usw. fleißig um Mitglieder werben, kann Mitgliedsbeiträge kassieren, kann mit großen Mitgliederzahlen aufwarten, und dann soll man plötzlich nicht mehr für die Interessen eintreten können?
Ich halte diese Debatte - insofern bin ich froh, daß dieser Punkt auf die Tagesordnung gesetzt worden ist; dafür bin ich wirklich dankbar - nur unter diesem Gesichtspunkt für wichtig, daß wir sagen: Hört auf, vom Teilen zu reden, wenn ihr es nicht wollt.
({4})
Frau Kollegin Gisela Schröter, Sie haben das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ein Wort zu Herrn Haschke: Herr Haschke, ich finde es ganz gut, was Sie gesagt haben, aber etwas irritiert mich schon - das habe ich vorhin auch den Kalikumpeln gesagt -: Die Thüringer Landesregierung ist erst munter geworden, als die Betriebsräte munter geworden sind, als die Betriebsräte aufgerufen und gesagt haben: Hier können wir nicht mehr mitmachen. Vorher haben Sie nämlich schön abgewartet und haben nichts getan.
({0})
Der Aufschub der Zustimmung zur Fusion der Kali und Salz AG und der Mitteldeutschen Kali AG ist nach meinem Dafürhalten gut begründbar.
({1})
-Ach, lassen Sie mich doch jetzt einmal weiterreden.
- Ich habe als Abgeordnete des Wahlkreises Sondershausen die MdK im wahrsten Sinne des Wortes direkt vor meiner Nase. Ich habe die Umstrukturierung des Kaliproduktions- und Forschungsstandortes Sondershausen bis zur Abwicklung hautnah miterlebt und mit den freigesetzten Beschäftigten - so heißen heute die Arbeitslosen - oft genug auch durchlitten.
Ich hoffe, Sie nehmen keinen Anstoß an meinem doch etwas erregten Ton. Ich komme gerade von draußen und habe dort mit demonstriert.
({2})
- Ich habe Sie gesehen. - Ich habe dort mit den unmittelbar Betroffenen geredet und konnte mich dort auch nicht zurückhalten. Es wäre schön gewesen, wenn ich noch einige mehr von den hier Anwesenden dort gesehen hätte. Ich glaube, das hätte manches andere erübrigt.
({3})
Allein die Gesichter der Demonstrierenden der diesmal zu schließenden Kalistandorte Merkers und Bischofferode sprechen nämlich eine beredte Sprache. In ihrer Betroffenheit, in ihrer Wut und Bestürzung gleichen sie nämlich aufs Haar den Gesichtern der Stahlwerker in Rheinhausen. Das ist kein Wunder. Hier sind Arbeitnehmer Ost wie West angeblich marktwirtschaftlichen Sachzwängen geopfert worden. Hier wie dort intoniert man das Thema „fehlender Absatz" in wechselnden Tonlagen, ohne den Gründen und möglichen Abhilfemaßnahmen ernsthaft nachzugehen.
Ein weiteres Thema kommt im Falle der ostdeutschen Kaliindustrie, die schon zu DDR-Zeiten stark westmarktabsatzorientiert war, hinzu. Nach der Wende wurde alles getan, die potentiell wettbewerbsstarke ostdeutsche Kaliindustrie in ihrer weiteren Entwicklung zu begrenzen. Kritisiert wird hier vor allem das Herausschießen zukunftsträchtiger Sortimente, die bis zuletzt ihren Markt hatten. Erinnert sei hier an das Produkt Kaliumsulfat, bei dem die westdeutsche gegenüber der ostdeutschen Kaliindustrie, nämlich die Kali und Salz AG, starke Marktanteilinteressen hat. Erinnert sei hier daran, daß in Ostdeutschland seit Juli 1991 nicht mehr produziert wird, obwohl die Produkteigenschaften des ostdeutschen Kaliumsulfats besser sind als die des westdeutschen Gegenübers.
({4})
Meine Damen und Herren, das gibt es, daß ein ostdeutsches Produkt auch einmal besser ist als ein westdeutsches!
({5})
Wir haben aber auch erfahren müssen, was einem solchen Produkt widerfährt. Eine Betriebsbesetzung der betroffenen Belegschaft im Juni 1991 änderte am Lauf der Dinge auch nichts mehr. Die K und S AG hatte mit alten Leitungsmitgliedern schon im Jahre 1990 und noch vor der Gründung der MdK alles klargemacht. Ab Mitte 1991 verpflichtete sich die in der Hand der Treuhand befindliche damalige Kali-Werra
AG, dieses Produkt weder zu produzieren noch zu verkaufen.
Die im Dezember 1990 installierte MdK, die die drei ostdeutschen Kaliproduktionsregionen umfaßt, hat sich übrigens bis zum heutigen Tag an diese Maßgabe gehalten. Sie ist ja schließlich vom ersten Tag an aufs innigste mit der K und S AG verquickt. Die Treuhand hat sich in dieser Sache auf die Autonomie des Vorstands der Kali-Werra AG berufen.
Absatzprobleme für das Produkt gab es übrigens bis zuletzt keine. Mit dem Herausschießen des Produkts Kaliumsulfat beseitigte man, wie sich für viele nun leider erst im nachhinein herausstellt, ein wichtiges Standbein zum Überleben des Kaliverarbeitungsstandorts Merkers. Nach dem gegenwärtigen Fusionskonzept soll das Merkerser Rohsalz bloß noch gefördert und im Westen in Kali- und Salz-Anlagen verarbeitet werden.
Der laut diesem Konzept ebenfalls zu schließende nordthüringische Kaliproduktions- und Förderstandort Bischofferode zeichnet sich übrigens dadurch aus, daß er seinen Absatz ganz überwiegend in Westeuropa realisiert, daß er mit 80 % der unter den ostdeutschen Kalistandorten am stärksten ausgelastete ist und ein Produkt anbietet ({6})
Herr Kollege Haschke, die Frau Kollegin hat ihre Redezeit bereits überschritten.
- ich bin gleich fertig -, das in seinen Spezifikationen nur noch von einem anderen Weltmarktproduzenten, einem russischen, erreicht wird.
Bitte noch einen Schlußsatz.
Noch einen Satz.
({0})
- Glauben Sie mir, ich versuche, auch das zu tun.
Ich bitte Sie jedenfalls, im Sinne der ernsthaften Suche nach alternativen Vorgehensweisen dem vorliegenden Antrag zuzustimmen.
({1})
Ich erteile das Wort dem Minister in der Staatskanzlei des Landes Thüringen, Andreas Trautvetter.
Minister Andreas Trautvetter ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um zu Beginn etwas zu sagen: Jawohl, wir sind für die Fusion der Mitteldeutschen Kali AG und der Kali und Salz AG. Die Situation der deutschen Kaliindustrie ist jedem bekannt. Mit dieser Fusion wird der Erhalt der Kaliindustrie in Deutschland insgesamt garantiert. Auch gibt es sowohl auf der Arbeitgeber- wie auf der Arbeitnehmerseite keinen Beteiligten, der nicht für die Fusion ist.
Die Diskussionen in den letzten Monaten sind nicht durch die Kalifusion im allgemeinen entstanden, sondern nach der Bekanngabe der Art und Weise, wie die Fusion vollzogen werden soll. Das ist, glaube ich, der entscheidende Unterschied.
({1})
Liebe Frau Schröter, die Thüringer Landesregierung braucht sich nicht belehren zu lassen, wie und wann sie in Verhandlungen eingreift; denn mit Bekanntwerden der Tatsache, wie die Fusion vollzogen werden soll, ist die Thüringer Landesregierung tätig geworden.
({2})
Diejenigen, die am meisten von der Erhaltung industrieller Kerne reden, sollten sich in dem Punkt der Kalifusion auch einmal auf die Seite der Arbeitnehmer Ost stellen; denn das fehlt momentan.
({3})
Bitte geben Sie das einmal an Ihre Fraktionskollegen aus dem Bundestag weiter, die sich gewerkschaftlich in dieser Richtung engagieren.
({4})
Der Hauptkritikpunkt unsererseits ist der ungleichmäßige Arbeitsplatzabbau Ost und West in bezug auf die zeitliche Staffelung. Es ist an Hand der vorliegenden Daten nicht nachvollziehbar - da stimme ich Ihnen zu -, daß wirklich die aus betriebswirtschaftlicher Sicht besten Standorte erhalten bleiben. Ich wehre mich dagegen, daß man von einem gleichmäßigen Arbeitsplatzabbau in Ost und West spricht; denn es ist schon ein Unterschied, ob in einer Region mit einer Arbeitslosigkeit von 5 bis 8 % Werke schrittweise stillgelegt werden und der Arbeitsplatzabbau weitestgehend durch natürlichen Abgang erfolgen kann oder ob wie in Thüringen, in einer Region mit einer Arbeitslosigkeit von 30 %, eine sofortige Schließung erfolgt.
Es stimmt: Die ostdeutsche Kaliindustrie hat im Zeitraum von 1990 bis 1992 von 32 000 Kalikumpeln bereits 27 000 nach Hause geschickt. Von daher sind die Verhältnisse im Ruhrgebiet und in Ostdeutschland nicht vergleichbar.
({5})
Stellen Sie sich einen Brancheneinschnitt auf dem Arbeitsmarkt von über 90 % im Ruhrgebiet vor. Dann wissen Sie, was dort los wäre.
({6})
Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Thüringer Kalikumpeln, die zusammen mit der Landesregierung konstruktiv nach Möglichkeiten gesucht haben, wie die Situation geändert werden kann.
Gemeinsam suchen wir neue Lösungsvorschläge, die in folgendem bestehen: Suche nach zusätzlichen
Minister Andreas Trautvetter ({7})
Absatzmöglichkeiten vor allem in der Dritten Welt; die Schaffung von Alternativarbeitsplätzen; einen zeitlich gleichmäßigen Arbeitsplatzabbau in Ost und West; die Überprüfung von neuen technischen Varianten in der Kalifusion und natürlich - aber das muß der letzte Schritt sein - die Gleichstellung der Kalikumpel in West und Ost bezüglich des Sozialplans.
In diesem Sinne ist die Thüringer Landesregierung tätig. Wir werden vor Vertragsabschluß mit unserem Partner Vorstand MdK und Treuhandanstalt verhandeln, damit diese Punkte erfüllt werden.
Danke schön.
({8})
Meine Damen und Herren, die Kollegin Barbara Weiler hat sich zu einer Kurzintervention gemeldet. Das ist nach unseren Usancen erst am Schluß der ersten Runde möglich. Diese Debatte hat aber nur eine Runde. Deshalb halte ich es für sinnvoll - ich nehme an, daß sich dagegen kein Widerspruch erhebt -, daß ich die Kollegin Weiler jetzt ans Mikrofon bitte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich deshalb gemeldet, weil ich feststelle und den Eindruck habe, daß im Moment nur noch Abgeordnete aus Thüringen und aus dem Osten Deutschlands hier sind.
({0})
Das finde ich bedauerlich, weil ich als hessische Abgeordnete natürlich auch ein besonderes Interesse habe, daß die Fusionsergebnisse und die Probleme mit Kali und Salz insgesamt sozialverträglich und partnerschaftlich behandelt und gelöst werden.
({1})
- Ganz recht. Lassen Sie mich einmal zu Ende sprechen.
Dieser Konflikt ist der erste größere - aber er ist nicht der einzige, und er wird nicht der einzige bleiben -, in dem die Arbeitnehmer aus Ostdeutschland und Westdeutschland gegenseitig ausgespielt werden. Ich spreche hier, damit Sie Verständnis haben, daß neben der berechtigten Empörung, die Sie zur Zeit in Thüringen erleben, auch wir große Sorgen um die Standorte in Niedersachsen und Hessen haben. Es ist zwar richtig, daß die Einbettung in die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Westen bedeutend besser ist, aber gerade in Nordhessen und in Osthessen haben wir auch strukturschwache Gebiete,
({2})
die große Probleme haben, Entlassungen zu kompensieren.
Noch etwas: Wir haben selbstverständlich nichts dagegen, daß der Kompromiß noch einmal auch hinsichtlich sozialer Aspekte überprüft wird. Keine
Fusion, kein Arbeitsplatzabbau darf nur nach ökonomischen Aspekten erfolgen.
({3})
Ich denke aber, daß die Fusionsergebnisse, die jetzt auf dem Tisch liegen und auch von Vertretern der IG Bergbau und Energie unterstützt worden sind, einen ganz weiten Schritt zu einem Konsens darstellen.
Lassen Sie mich zum Schluß sagen - darum stehe ich hier und habe auch den Mut, gegen die empörten Kaliarbeiter aus Thüringen die Interessen der niedersächsischen und hessischen Kumpel zu vertreten -: Bedenken Sie bitte, daß die Situation dort auch ausgesprochen schwierig ist.
({4})
Ich erteile das Wort der Kollegin Manta Sehn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte Ihnen sagen: Ich komme nicht aus den neuen Bundesländern. Ich bin eine Abgeordnete aus den alten Bundesländern. Vielleicht relativiert das Ihre Intervention doch ein kleines bißchen.
Die deutsche Kaliindustrie ist auf Grund der nach wie vor stagnierenden Nachfrage auf den Weltkalimärkten mit ihren vorhandenen Überkapazitäten in erheblichen Schwierigkeiten, und das - das haben Sie richtig gesagt - in Ost und auch in West. Nahezu alle Branchenunternehmen arbeiten auf Grund der katastrophalen Lage auf dem internationalen Kalimarkt mit erheblichen Verlusten, was zur Folge hat, daß ein Arbeitsplatzabbau in dieser Branche schmerzlich, aber unausweichlich sein wird.
Ich muß offen sagen: Ich kann die Menschen in Ost und in West, um die es geht, sehr gut verstehen. Ich kann auch die Emotionen verstehen und sehr gut nachvollziehen. Aber, ich glaube, wir müssen trotz allem die Politik, auch die Wirtschaftspolitik, dort machen, wo sie hingehört. Ich glaube, wir sind heute bei diesem Thema - das will ich ganz offen sagen - nicht an der richtigen Stelle.
Auch die Kali und Salz AG und die Mitteldeutsche Kali AG, um die es in dem vorliegenden Antrag der PDS/Linke Liste geht, erwirtschaften trotz der Stillegung von Teilwerken, z. B. in Salzdetfurth, oder der Anwendung neuer Unternehmenskonzepte Verluste. Es ist nicht anzunehmen, daß sich dies in Kürze ändern könnte.
Versuche, diese beiden Kaliwerke an internationale Interessenten zu veräußern, waren nicht von Erfolg gekrönt, so daß sich auf Grund der schon seit längerer Zeit erprobten Zusammenarbeit der beiden Werke eine Fusion als die einzig mögliche Alternative herauskristallisierte. Ziel dabei war und ist es, durch eine an den Absatzmöglichkeiten angepaßte Produktionskapazität sowie insbesondere durch die Ausnutzung der dabei anfallenden Synergieeffekte bessere Kostenvorteile zu erzielen und so die Wettbewerbsfähigkeit der beiden Kaliwerke zu erhöhen.
Marita Sehn
Daß diese Fusion der Kali und Salz AG mit der Mitteldeutschen Kali AG auf Grund der wirtschaftlichen Situation unvermeidlich ist, erkennen sogar die Arbeitnehmer der beiden Werke an, wie eine gemeinsame Beratung aller deutschen Betriebsräte der Kaliindustrie ergab. Diese Position wird auch von der IG Bergbau und Energie geteilt.
Wer kritisiert, daß 3 500 Arbeitsplätze abgebaut werden, muß auch sagen, daß durch dieses Konzept immerhin 7 500 Arbeitsplätze im deutschen Kalibergbau trotz der schlechten Lage auf dem internationalen Kalimarkt erhalten werden können. Daß daneben in Verhandlungen zwischen der Treuhandanstalt und der IG Bergbau und Energie sozialverträgliche Abfindungen im Bergbau gefunden werden müssen, ist selbstverständlich.
Auf Grund dieser Lage halte ich ein weiteres Aufschieben der Fusion, so wie von der PDS/Linke Liste in ihrem Antrag gefordert, für kontraproduktiv, weil jeder weitere Tag zusätzliche Kosten verursacht, Kosten, die nicht zu finanzieren sind.
({0})
Auch im Antrag der PDS/Linke Liste fehlt jeglicher Hinweis darauf, wie die Umsetzung ihrer Forderungen finanziert werden könnte.
Die Umsetzung des jetzt ausgehandelten Fusionskonzeptes ist für die Treuhandanstalt mit erheblichen Kosten verbunden. Neben der Freistellung der Werke der Mitteldeutschen Kali AG für ökologische Altlasten muß die Treuhandanstalt die Kosten der Bilanzbereinigung sowie die Sozialpiankosten tragen und eine Bareinlage von über 1 Milliarde DM für Reparaturen und Rationalisierungsinvestitionen leisten.
({1})
Damit ist für die Treuhandanstalt das obere Ende der Fahnenstange erreicht.
({2})
- Die Treuhandanstalt wird wohl nicht in den alten Bundesländern, sondern in den neuen Bundesländern aktiv werden.
Wer Forderungen stellt, die mit weiteren Kosten verbunden sind, muß sagen, wo das Geld herkommen soll. Jedes weitere Aufschieben einer Fusion verursacht Kosten, die der Bund nicht mehr tragen kann. Mit jedem verlorenen Tag geht auch eine Chance zur Konsolidierung dieser Werke verloren.
Ich freue mich darüber, daß das Wirtschaftsministerium in Erfurt die Situation erkannt hat. Ich wünsche, daß die Verhandlungen für das Wirtschaftsministerium und auch für die Menschen in Thüringen erfolgreich ausgehen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Vera Wollenberger.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich stelle eine seltene Übereinstimmung quer durch die Parteien mit Ausnahme der F.D.P. zu dem heute diskutierten Thema fest.
({0})
Ich finde, wenn es solche seltenen Übereinstimmungen gibt, dann sollte man die parteipolitischen Mätzchen vielleicht beseite lassen; denn die Größe des Problems zeigt, daß es nur mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung gelöst werden kann.
({1})
- Das werde ich mir merken.
Für die ostdeutsche Kali gab es seit der Wende nur eine Bestimmung: zu eben der Kali und Salz AG überführt zu werden, von der auch die anderen Kollegen schon gesprochen haben. Die Bildung der Mitteldeutschen Kali AG mit ehemaligen Kali-undSalz-Leuten im Vorstand und Aufsichtsrat im Dezember 1990 war schon ein Schritt dahin. Sortimentsabtretungsverträge zwischen alten Kadern und der Kali und Salz AG im August 1990, noch bevor die Treuhand operativ wurde, taten ihr übriges.
Garniert wurde das Ganze durch einen Verzicht der Ostkali, den westdeutschen Markt zu beliefern. Konkret: Es existiert eine neue deutsch-deutsche Grenze, eine Kaligrenze, und zwar seit Ende 1990.
Zu dieser innerdeutschen Marktabgrenzung - bei einem zusammengebrochenen ostdeutschen Markt - kam im April 1991 der Beitritt zum europäischen Kaliexportkartell, dem die Kali und Salz AG bereits angehörte. Ein Gang von der Plan- in die Kartellwirtschaft und ein Beispiel dafür, welche Entsprechungen der politisch nach Art. 23 vollzogene Anschluß auf wirtschaftlichem Gebiet hat. Dabei ist dies eine Industrie, bei der 60 % der Vorkommen nach der deutschen Teilung auf der östlichen Seite zu liegen kamen; im gesamtdeutschen Vergleich übrigens die besseren Vorkommen, die jetzt nach dem Fall der Mauer zurückkommen, aber sogleich kartellistisch eingebunden werden. Das Ganze paßt irgendwie schlecht zu den anderweitig vorgetragenen Marktbeschwörungen. Es paßt auch schlecht zu dem, was die Kollegin von der F.D.P. gerade gesagt hat, nämlich daß die Probleme in der Industrie allein gelöst werden müssen.
Die jüngste Runde in diesem mehr als zwei Jahre anhaltenden Ringen um die Zukunft der ostdeutschen Kaliindustrie stellt das Fusionskapitel dar. Dies, nachdem eine Zusammenarbeit - schönfärberisch und in Ostohren wohlklingend: eine Kooperation - zwischen der Kali und Salz AG und der Mitteldeutschen Kali AG auf dem Gebiet des Vertriebs und der Verschiffung schon seit zwei Jahren praktiziert wird.
Das Kapitel Fusion kam deshalb auf, weil das Bundeskartellamt eine reine Anlehnung des Ostunternehmens an das Westunternehmen nicht akzepVera Wollenberger
tierte. Gefordert war eine in Ansätzen eigentümerische Lösung. Mit der Formel 49 % für die Treuhand und 51 % für Kali und Salz am künftigen Gemeinschaftsunternehmen, das übrigens die Rechtsform einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung annehmen soll, meint man, dem Genüge zu tun und so zu garantieren, daß nicht Dritte ins Spiel kommen.
Von einer Fusion - zu deutsch: zusammenführen - kann im vorliegenden Fall nur eingeschränkt gesprochen werden. Erst einmal meint sie: weglassen.
Von der ohnehin stark geschrumpften ostdeutschen Kaliindustrie - von 32 000 Beschäftigten sind übrigens nur noch knapp 5 000 und nicht 7 000, wie sie sagten, gegenwärtig vorhanden - und noch vier Kalistandorten sollen noch einmal zwei Kalistandorte draufgehen: Merkers im thüringischen Werragebiet und Bischofferode in Nordthüringen. Überleben sollen - zumindest vorläufig - im Rahmen dieses Fusionskonzeptes, wofür die Treuhand plötzlich 1 Milliarde DM locker machte, die Standorte Unterbreizbach und Zielitz. Das Rohsalz der Gruben Merkers und Unterbreizbach soll künftig vom Westen aus gefördert und dort verarbeitet werden.
Daß die Ausgestaltung dieser Fusion nur unausgewogen geraten konnte, erscheint angesichts der Vorgeschichte nur konsequent. Akzeptiert zu werden braucht die Fusion deswegen aber noch lange nicht.
Was ist davon zu halten, daß das eingestandenermaßen bessere Rohsalz auf der thüringischen Werraseite im Hessischen verarbeitet werden soll? Weiter: Was ist davon zu halten, daß der westwärts gerichtete Rohsalzförderverbund realisiert werden soll, obwohl der ostwärts gerichtete Förderverbund kostengünstiger zu realisieren ist? Dafür hat die Treuhand plötzlich Geld.
Was ist davon zu halten, daß ausgerechnet das am besten ausgelastete und das am stärksten nach Westeuropa liefernde ostdeutsche Kaliwerk, das Werk Bischofferode in Nordthüringen, geschlossen werden soll, während die Kali und Salz AG gleichzeitig erklärt, sie sei jederzeit in der Lage, dasselbe Produkt mit denselben begehrten Spezifikationen selber herzustellen, da ein Markt für dieses Produkt unzweifelhaft existiert? Das ist Marktklau.
Es ist ohnehin merkwürdig, daß die Treuhand bisher bei finanziell weit geringeren Kalisanierungsvorhaben auf die angespannte öffentliche Finanzlage und auf das Kriterium der Investorneutralität beharrte, während jetzt plötzlich mehr als 1 Milliarde DM Bares zur Verfügung stehen und nichts anderes als eine „Kali-und-Salz"-Lösung herausgekommen ist. Ein wie großer Teil von dieser Milliarde direkt oder indirekt innerbetrieblichen Vorgängen der Kali und Salz AG zugute kommt, darüber darf man im Moment noch rätseln. Wir haben es hier mit einer ganz neuen Variante des Aufschwungs Ost zu tun: Sanierung West.
In diesem Sinne stimmen wir dem vorliegenden Antrag zu und erhoffen uns damit, daß alternative Vorgehensweisen zur Standort- und Zukunftssicherung des ostdeutschen Kalibergbaus doch noch erwogen werden.
({2})
Ein Glück, Frau Kollegin, daß Sie weder der Bundesregierung noch dem Bundesrat angehören; denn sonst könnte auf Grund der Redezeitüberschreitung jetzt eine Verlängerung der Debatte beantragt werden.
Ich gebe als letztes das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen Hans-Ulrich Köhler.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es geht in der hinter uns gebrachten Debatte um einen massiven Arbeitsplatzabbau beim Kali in den östlichen Regionen, und zwar in einer Größenordnung zwischen 25 000 und 27 000 Arbeitsplätzen.
Wie soll ich jetzt die Solidarität aller Kollegen aller Fraktionen im Hause anmahnen? Warum ist das Plenum heute so schwach besetzt, wenn es darum geht, innerdeutsche Solidarität zu zeigen.
({0})
- Ich brauche keinen Beifall dafür. Ich weiß, wovon ich spreche.
Wenn es an der Ruhr um 2 000 bis 4 000 Arbeitsplätze im Stahlbereich geht, dann wackelt die EG in Brüssel.
({1})
Hier geht es jedoch um einen massiven Arbeitsplatzabbau. Auch er berührt nationale - deutsche - Interessen. Wir alle sind aufgefordert, sowohl die Interessen des Landes Thüringen als auch die Interessen der hessischen Arbeitnehmer zu vertreten. Aber eines bitte ich dabei auch zu bedenken: Solidarität wird immer nur dann eingefordert, wie die Kollegin von der SPD aus Hessen es gerade getan hat, wenn Arbeitsplätze im Westen in Gefahr sind. Was bei uns in den östlichen Ländern an Arbeitsplatzabbau durch Umstrukturierungsmaßnahmen geschehen ist, sucht in der Welt seinesgleichen. Auch hier bitte ich um die Solidarität der Arbeitnehmer aus allen Teilen der Bundesrepublik.
Danke schön.
({2})
Herr Kollege Köhler, diese Bemerkung muß ich noch machen: Die Kritik an der mangelnden Teilnahme an einer Debatte halte ich an einem Freitag um 13.30 Uhr für nicht zulässig. Die PDS/Linke Liste hat auf der Aufsetzung dieses Punktes auf die Tagesordnung bestanden. Niemand wußte vorher, daß dies geschehen wird. Die Mitglieder des Ausschusses Treuhandanstalt sind auf dem Wege nach Berlin. Eine ganze Reihe dieser Kollegen hätte sicher gern an dieser Debatte teilgenommen, wenn sie rechtzeitig geplant worden wäre.
({0})
Vizepräsident Hans Klein
Ich finde, wir sollten uns selber nach draußen nicht schlechter darstellen, als wir sind. Ich gehöre gewiß zu denjenigen, die oft genug beklagen, daß das Haus nicht gut genug besetzt ist.
Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/4268 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß der Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 24. März 1993, 15 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.