Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/11/1993

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich teile mit, daß interfraktionell vereinbart worden ist, die verbundene Tagesordnung um die Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung einer bundeseigenen Liegenschaft - Drucksache 12/4477 - zu erweitern. Dieser Zusatzpunkt soll ohne Debatte mit Tagesordnungspunkt 3 aufgerufen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Darm ist es so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe Jens, Hans-Eberhard Urbaniak, Wolfgang Weiermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Den „Montan-Standort Deutschland" stabilisieren - Neue Arbeitsplätze schaffen - Soziale Folgen der Krise auffangen - Drucksache 12/4461 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({0}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß b) Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/ Linke Liste Ausrufung der manifesten Krise für den Stahlmarkt in der Europäischen Gemeinschaft - Drucksache 12/4448 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({1}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Es beginnt der Kollege Peter Reuschenbach.

Peter W. Reuschenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001827, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben unseren Antrag eingebracht, weil endlich Schluß sein muß mit dem untätigen Abwarten und dem gebetsmühlenartigen Beschwören der sogenannten Marktkräfte, die es schon richten würden. Daß der Herr Bundeswirtschaftsminister bis heute nicht von sich aus das Bedürfnis hatte und die Notwendigkeit begriffen hat, vor dem Parlament und vor der Öffentlichkeit seine Absichten und Pläne für die Bewältigung der Montankrise in Deutschland, vor allem für die Bewältigung ihrer regionalen und sozialen Folgen, darzulegen, ist eigentlich unfaßbar. ({0}) Es war blamabel, daß er in der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht nicht mehr als einen einzigen Satz zur Montankrise über die Lippen brachte. Er sagte: „Nur bei konsequenter Rationalisierung können wir die Interessen der deutschen Stahlproduzenten effizient vertreten. " Das war alles und eigentlich Null zu einer insgesamt mehr als Hunderttausend-Arbeitsplätze-Dimension. ({1}) Statt dessen steht immer noch der zynische Kommentar des Wirtschaftsministers zu den Brüsseler Weichenstellungen im Raum, wonach er damit „im großen und ganzen" zufrieden sei, und man solle sich nicht so haben - eine Katastrophe sei die Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise in Deutschland und in den Montanbranchen nicht. 5 bis 6 Millionen Arbeitslose bzw. fehlende Arbeitsplätze, die höchste Arbeitslosigkeit seit Ende der 30er Jahre und obendrauf düsterste Prognosen für die Automobilindustrie, für die Textilindustrie, für den Anlagenbau und für andere Bereiche und nun die Gewißheit, daß in der Montanwirtschaft und ihrer Zuliefererindustrie und im Mantelgewerbe mehr als 100 000 Arbeitsplätze zur Disposition stehen - ist das Grund zur Zufriedenheit „im großen und ganzen", ist das keine Katastrophe? Herr Minister, Sie müssen zur Kenntnis nehmen, daß Ihre Haltung von immer mehr Menschen als oberflächlich und gleichgültig empfunden wird. ({2}) Auch inhaltlich ist es völlig unbegreiflich, daß Sie die Brüsseler Weichenstellung vom 25. Februar die12522 ses Jahres als zufriedenstellend bezeichnen. Abgesehen davon, daß Sie und die EG-Kommission sich unverhältnismäßig viel Zeit gelassen haben, bis es überhaupt zu einer konkreten Befassung mit der Stahlkrise kam - unser Kollege Vondran hat in unserer Aktuellen Stunde am 10. Februar völlig zu Recht gesagt: „zu spät" -: Was ist denn entschieden worden? Im Grunde nichts, außer der Aufforderung an die Stahlindustrie in Europa, rd. 30 Millionen t Rohstahl- und rd. 20 Millionen t Warmwalzkapazität stillzulegen. Die Ankündigung, diesen Kapazitäts- und Arbeitsplatzabbau mit EG-Mitteln zu flankieren, blieb bis heute reichlich vage. Die ersten Stillegungsbeschlüsse der Stahlindustrie und des Bergbaus sind gefaßt. Rheinhausen: minus 2 300; Hoesch: minus 2 400; Thyssen hat angekündigt: minus 4 800; Kokerei Zollverein: Stillegung, minus 1 100; Verbund Friedrich Heinrich und Rheinland auf den 1. Juli 1993 vorziehen, demnächst eine weitere Schachtanlage mit 6 000 bis 8 000 Beschäftigten und gestern an der Saar eine Ankündigung von minus 4 000. Und trotzdem ist nichts geklärt - weder seitens der EG noch seitens der Bundesregierung. Gestern morgen hat es mich vom Stuhl gehauen, verehrter Herr Minister, als ich Ihre Erklärung im Morgenmagazin hörte, Sie könnten bis zur Stunde keine konkreten Angaben zu Absichten der Bundesregierung machen; man müsse sich halt gedulden. Die Bundesregierung, das Wirtschaftsministerium hatte ein halbes, vielleicht sogar ein dreiviertel Jahr Zeit, sich auf diese Entwicklung vorzubereiten. Ihre Schularbeiten dazu haben Sie nicht gemacht. ({3}) Nichts von den notwendigen außenwirtschaftlichen, finanziellen, sozialen und regionalen Konditionen, unter denen Stahl- und Bergbauunternehmen die Anpassung bewältigen sollen, ist bisher definiert. Ohne Importregulierungen für Drittländer-Stahl und ohne grenzüberschreitende und EG-interne Preisstabilität würde die geforderte Mammutstillegungsaktion, selbst wenn sie realisiert würde, immer aufs neue von internen und externen „Ausbrechern" unterlaufen und erneut zu heimischen Kapazitätsproblemen führen. Ob die EG - und wenn ja, wie - zumindest für die Zeit der von ihr geforderten Umstrukturierung der Stahlindustrie solchen Außenflanken- und Dumpingschutz gewährt, weiß heute niemand, jedenfalls ist der Entwurf einer entsprechenden Verordnung bis heute niemandem zur Kenntnis gekommen. Unser Kollege Vondran hatte ja recht, als er in unserer Aktuellen Stunde am 10. Februar mahnte: „Ohne wirksame, zeitlich begrenzte Außenflankierung geht es nicht." Brancheninterne Berechnungen schätzen die Kosten des verlangten Kapazitätsabbaus in Europa auf 12 bis 14 Milliarden DM, davon wohl zwei Drittel in Deutschland. Brüssel hat ganze 500 Millionen DM für ganz Europa angekündigt. Ob selbst diese vergleichsweise geringe Summe durch 200 oder 300 Millionen DM seitens der Bundesregierung, wie die EG gefordert hat, für Deutschland aufgestockt würde, ist bis zur Stunde ungewiß und eher unwahrscheinlich. Da sicher ist, daß die derzeitigen gesetzlichen Vorruhestands- und Anpassungsregelungen für einen sozial verträglichen Abbau von weit mehr als 50 000 Arbeitsplätzen direkt in der Montanindustrie nicht ausreichen, sind auch da neue rechtliche Bestimmungen und beträchtliche Summen erforderlich, um Sozialpläne, Umschulung und Qualifizierung sowie Beschäftigungsgesellschaften zu finanzieren. Statt dessen hat die Bundesregierung im FKP sogar noch angekündigt, die Anpassungsregelungen für den Bergbau kappen zu wollen. Wie sich auf dieser vagen Grundlage Unternehmen und Betriebsräte sinnvoll mit Personalplanung befassen sollen, ist im Augenblick wirklich ein Rexrodtsches Geheimnis. ({4}) Ein Abbau von Arbeitsplätzen in der absehbaren Größenordnung ist ohne gewaltige Anstrengungen um neue Arbeitsplätze nicht zu verantworten. Aber ob die EG und die Bundesregierung für die betroffenen Standorte Investitionszulagen für neue Arbeitsplätze, Mittel für die Aufbereitung von aufgegebenen Stahl-und Bergbauflächen, für die Dekontaminierung von verseuchten Böden oder für die Einrichtung von Beschäftigungsgesellschaften, die solche Flächenaufbereitungen durchführen und zugleich sonst arbeitslos werdende Stahl- und Bergarbeiter auffangen könnten, zur Verfügung zu stellen bereit sind, ist nicht geklärt. Die hier nur beispielhaft genannten völlig offenen Fragen zeigen, daß die EG und die Bundesregierung den Zug der Stahl- und Kohleanpassung auf ein Gleis in Richtung Ungewißheit gesetzt haben. Der Wirtschaftsminister hat sich in seiner Rede zum Jahreswirtschaftsbericht gegen die Kritik zur Wehr gesetzt, er denke lediglich in der Kategorie „Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt". Er hat gesagt, man verfüge über viele Instrumente, die man einsetzen werde. Auch die Sprecher der Koalitionsfraktionen, Kollege Ost, Kollege Beckmann, haben gesagt, man müsse gemeinsam überlegen, wie man diesen Prozeß flankieren und abfedern könne. Mein Gott, dann tun Sie das doch endlich in dieser Situation! ({5}) Denn es ist doch eher fünf nach als fünf vor zwölf. Lassen Sie doch Ihre eigenen Worte nicht zu einer hohlen Sprechblase werden! Unser heutiger Antrag bildet eine solide, qualifizierte Grundlage für solche Beratungen. Wir erwarten und hoffen, daß sowohl heute hier als auch anschließend im Ausschuß sorgsam beraten und entschieden wird. All das gebietet nach wie vor, gemeinsam an einen Tisch mit allen Beteiligten und Betroffenen - den Unternehmen, Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften, Betriebsräten und den betroffenen Bundesländern und Städten - das Wie der unabweisbaren wirtschafts-, struktur- und sozialpolitischen Notwendigkeiten zu beraten. Wenn für Sie das Wort „nationale Stahl- oder Montankonferenz" zu einem roten Tuch geworden ist, dann lassen Sie sich eine andere Bezeichnung einfallen. Aber tun Sie es! Konrad Adenauer hat einmal gesagt: Wenn es an der Ruhr brennt, dann hat der Rhein nicht genug Wasser, um die Flammen zu löschen. Das gilt heute auch für Ostdeutschland, für die Saar, für die Küste, für Niedersachsen und für Standorte an anderer Stelle. Einer meiner Altvorderen, Waldemar von Knoeringen, hat einmal in einer kritischen Situation meiner Partei zornbebend ausgerufen: Wenn die Menschen nichts von unserer Politik in ihrem unmittelbaren Lebensbereich spüren, dann könnt ihr Partei und Politik in den Rauchfang schreiben. Für die heutige Situation gilt das mehr als damals. Hören Sie auf, bloß zu kommentieren, fangen Sie an zu agieren! ({6}) Herr Minister, Sie haben vor ein paar Wochen geschworen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Daran muß man Sie heute leider erinnern. ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Kollege Dr. Ruprecht Vondran.

Dr. Ruprecht Vondran (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002394, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Entscheidung zu Rheinhausen trifft uns nicht unvorbereitet. Nicht nur die Beteiligten, sondern auch die breite Öffentlichkeit wußte, daß eine schwierige Wahl zwischen Duisburg und Dortmund zu treffen war. Die Entscheidung ist schmerzlich, aber wohl notwendig. Damit das Haus Krupp-Hoesch in seinem Bestand gesichert werden kann, muß ein Teil der Arbeitsplätze aufgegeben werden. Betriebswirtschaft, Technik und Markt haben da ihre eigene bittere Konsequenz. Gemeinsame Aufgabe von Unternehmen und Politik ist es nun, eine soziale Begleitung zu finden, die das Schmerzhafte erträglich macht. Das gilt im konkreten Fall Rheinhausen, und das gilt für alles, was noch kommt. Mir liegt daran, daß wir auch in einer solchen Stunde den Blick in die Zukunft richten. Das Thema ist ja nicht auf Rheinhausen begrenzt. Wir haben auch nicht eine Unternehmenskrise KruppHoesch. Wir haben auch nicht eine deutsche, sondern wir haben eine europäische Stahlkrise. Wie muß der Weg aussehen, der nach vorne führt? Mit der Tatbestandsbeschreibung will ich mich nicht lange aufhalten. Das ist alles hinlänglich bekannt und hier zwischen uns schon diskutiert worden. Meine Frage lautet: Was müssen die Unternehmen, was muß die Politik leisten, damit wir zu Lösungen kommen? Welche Bedeutung kommt insbesondere der Entscheidung des EG-Ministerrats vom 25. Februar 1993 zu? Unter all den Nachrichten, die auf uns einstürzen, möchte ich eine herausheben, die nicht so recht in die düstere Landschaft paßt; sie könnte sonst leicht untergehen. Am Stahlmarkt gibt es ein erstes Zeichen, daß sich die Preisspirale nicht weiter abwärts dreht. Jeder Marktsachverständige wird Ihnen das bestätigen. Zwar werden die Unternehmen auch im zweiten Quartal tiefrote Zahlen schreiben, aber es ist wichtig, daß die Erlöse nicht mehr weiter ins Bodenlose fallen. Allerdings ist die Nachfrage weiterhin schwach, und eine gute Mengenkonjunktur läßt offenbar noch lange auf sich warten. Die Entscheidung des EG-Ministerrats zeigt also eine erste stabilisierende Wirkung. Dabei hat Brüssel den Unternehmen keine behördlichen Produktionsquoten und keine Mindestpreise verordnet, wie es vielfach gefordert worden ist. Es ist viel Einfacheres geschehen: Die europäische Politik gibt gesundem Menschenverstand wieder eine Chance - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Unternehmen dürfen und sollen sich der drastisch verringerten Nachfrage durch gleichgewichtige Produktionskürzungen anpassen. Dies ist eine wichtige Nachricht aus Brüssel. Wenn Sie das überrascht: Nach der bisherigen Brüsseler Rechtsmeinung durften die Firmen noch nicht einmal untereinander wissen, wie sie jeweils auf die Krise reagieren. Selbst der Austausch von Produktionszahlen stand unter der Androhung von Geldbußen. Ich zitiere aus einem offenen Brief des EG-Generaldirektors für Wettbewerb von Anfang dieses Jahres: Art. 65 des Montanvertrages verbietet den Austausch von Firmenzahlen, die das Marktverhalten beeinflussen könnten. Es ist gewiß kein Ruhmesblatt der Brüsseler Politik: Die EG-Kommission hatte selbst den Austausch von Erzeugungsdaten des letzten Quartals, des letzten Halbjahres, also von historischen Zahlen, verboten. Das muß man wissen, wenn man die Situation beurteilen will. Nach vorn gerichtete Vereinbarungen, etwa auf einen Markteinbruch von 20 bis 30 % durch eine Angebotskürzung um 20 oder 30 % zu reagieren, waren natürlich erst recht untersagt. Wie kann ich den Stahlarbeitern von Rheinhausen, aber auch ihren Kollegen an anderen Standorten verständlich machen, daß Brüssel in den letzten Jahren Milliarden- Subventionen abgesegnet, sich zugleich aber dem Versuch, die dadurch geschaffenen Überkapazitäten zumindest temporär stillzulegen, mit geradezu missionarischem Eifer widersetzt hat? Der Industrieministerrat hat nun eine Wende gebracht. Künftig gibt die EG-Kommission nach Beratung mit der Industrie Indikationen, in welche Richtung der Markt geht, und fordert sie auf, diese Orientierung zu berücksichtigen. Das ist ein Fingerzeig - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Statt dogmatischer Verhärtung wohltuender Pragmatismus. Der Bundeswirtschaftsminister und seine Beamten haben Entscheidendes dazu beigetragen, diesen Sinneswandel in Brüssel herbeizuführen. Ich möchte ihnen dafür Dank sagen. Es ist nun an der Industrie, die notwendige Selbstdisziplin zu üben. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Vondran, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Reuschenbach?

Peter W. Reuschenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001827, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da Sie von der Wende bei der „Subventionitis" gesprochen haben, verehrter Herr Kollege Vondran, frage ich Sie, ob Sie die gestrige dpa-Meldung kennen und was Sie dazu sagen. Diese in der „Rheinischen Post" abgedruckte Meldung lautet: Die italienische Regierung hat bei der EG-Kommission durchgesetzt, daß staatliche Beihilfen von gut 600 Millionen DM für den maroden Stahlkonzern Ilya nicht verboten werden.

Dr. Ruprecht Vondran (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002394, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist die Kurzfassung einer Diskussion, die in der Tat in Brüssel läuft. Sie wissen wahrscheinlich, daß der italienische Staatskonzern in den letzten zwei Jahren 3 Milliarden DM verloren hat und daß er mit 16 Milliarden DM überschuldet ist. Es ist so, wie ich das einer Zeitung gesagt habe: Da scheinen heiße Thermen im Haus zu sein, die dem Unternehmen Lebenswärme geben. - Bisher hat die Europäische Kommission in der Tat noch nichts Entscheidendes gegen diesen Subventionsmißbrauch getan.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Gestatten Sie noch eine Zusatzfrage? - Bitte.

Peter W. Reuschenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001827, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wie darf ich denn dann Ihre vorhergehende Bemerkung interpretieren, daß eine entscheidende Wende in Brüssel - einschließlich des Ministerrates - bei Subventionsmißbräuchen eingetreten sei, wenn Sie sagen, das sei aber eine mehr oder weniger normale neue Diskussion, was die über 600 Millionen DM für Ilva angeht?

Dr. Ruprecht Vondran (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002394, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Reuschenbach, ich komme auf das Subventionsthema noch zurück. Dieses Thema ist von zentraler Bedeutung. Ich hatte bis jetzt mehr über die aktuellen Marktvorausschätzungen gesprochen und wollte deutlich machen, daß es Zeichen der Hoffnung in einer schwierigen Situation gibt. Ich komme auf dieses Thema aber noch zurück. Meine Damen und Herren, nur wenn man den Problemen an die Wurzel geht, wird dieser Wirtschaftszweig wieder gesund werden. Die Überkapazitäten, die auf den Markt drängen, müssen dauerhaft und eben nicht nur vorübergehend beseitigt werden. In der Industrie ist heute weithin Bereitschaft zu finden, bei der Erfüllung dieser Aufgabe zusammenzuwirken. Aber ich kenne die europäische Stahlszene ganz gut und weiß deshalb: Wenn die Preise wieder die Kosten decken, könnte hie und da die Bereitschaft schwinden, das Notwendige und Richtige zu tun, sich enger zu setzen. ({0}) Deshalb ist es gut, daß die Politik einen Zeitrahmen abgesteckt hat. In einem halben Jahr muß der Dialog über das, was Bestand hat, und das, was dem Abriß verfällt, beendet sein. Der katalytische Druck der Politik hilft, in der Industrie zum Konsens zu kommen. Einfach dürfen wir uns diese Aufgabe dennoch nicht vorstellen. Die Stahlindustrie der Gemeinschaft muß 30 Millionen t Stahlkapazität abbauen. Sie wird künftig einer Belegschaft von 100 000 Menschen keine Arbeit mehr anbieten können. Finanzielle Lasten türmen sich auf. Der Kollege Reuschenbach hat dazu schon einige Zahlen genannt. Die Anlagen, die außer Betrieb gehen müssen, stehen noch mit hohen Beträgen zu Buche. Der von der EG eingesetzte Sachverständige schätzt die Restbuchwerte und die technischen Kosten der Stillegungen auf 7 Milliarden DM. Hinzu kommen die Kosten für Sozialpläne. Geht man einmal davon aus, daß sie im Schnitt 50 000 DM in der EG kosten, so sind hier weitere 5 Milliarden DM erforderlich. Der EG-Beauftragte schätzt den Sozialplanaufwand sogar doppelt so hoch ein. Das brächte den Gesamtaufwand auf 17 Milliarden DM. Wo immer die richtige Zahl liegen mag, sie bewegt sich jedenfalls im zweistelligen Milliardenbereich. Wer soll nun zahlen? Meine Antwort heißt: Viele Schultern müssen mittragen: die Anteilseigner, deren Unternehmen nicht mehr prosperieren; die Banken, die auf Chance und Risiko gesetzt haben und deren Kredite nun notleidend geworden sind; die EG-Kommission, die über eine ertragsunabhängige, montanspezifische Steuer ein Vermögen von 1,5 bis 2 Milliarden DM angesammelt hat; die beteiligten Staaten über ihre sozialen Sicherungssysteme - aber auch nicht mehr - und schließlich auch die Wettbewerber, denen es etwas wert sein muß, in bereinigten Marktverhältnissen zu leben. Die deutsche Stahlindustrie hat in den letzten Jahren, in denen viele ihrer Konkurrenten am Tropf hingen, keine Subventionen verlangt und auch keine erhalten. Sie ruft auch heute nicht danach. Sie ist bereit, Selbsthilfe zu leisten. Sie erwartet auch nicht, daß die EG die „manifeste Krise" ausruft. Politik und Unternehmen wissen, daß die behördliche Verordnung von Produktions- und Lieferquoten nur den Nachfragemangel verteilt, den Markt aber nicht bereinigt. Sie erinnern sich an die Erfahrung, daß ein behördliches Zuteilungssystem wenig transparent und sehr anfällig für willkürliche politische Entscheidungen ist. Sie erinnern sich auch an das wenig rühmliche Ende dieser Planwirtschaft. Der Verteilungskampf verlagerte sich nämlich aus den Brüsseler Büros Zug um Zug vor den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Dort brach das System unter einer Flut von 90 Klagen zusammen. ({1}) Dies, meine Damen und Herren, kann der Weg nicht sein. Auch vor mehr oder weniger spektakulären Stahlkonferenzen möchte ich warnen. Firmennamen und das feine Nervensystem von Lieferanten, Kunden und Finanzen müssen pfleglich behandelt werden. Industrielle Standorte sind von sensibler Qualität. Mir macht die Diskussion um den Standort Duisburg Sorge, meine Damen und Herren. Und auch den Belegschaften sollte es erspart bleiben, zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen zu werden. Natürlich dürfen nicht nur Unternehmer allein, sondern müssen auch Gewerkschaftler, die Politiker der betroffenen Regionen, der Länder und des Bundes in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Aber alles zu seiner Zeit. In jedem Fall bedarf es größerer Behutsamkeit, als sie üblicherweise an großen runden Tischen vor laufenden Kameras und offenen Mikrophonen zu finden ist. ({2}) Die Industrie, ich sagte es, ist in der Pflicht, den notwendigen Interessenausgleich zu suchen. Die Politik zögert auch nicht, dies sehr kräftig zum Ausdruck zu bringen. Was von den Unternehmen erwartet wird, ist viel: Die Verantwortlichen müssen untereinander ausmachen, wer bleibt und wer geht, welche Standorte erhalten und welche aufgegeben werden müssen, wie die Produktion auf die leistungsfähigsten Anlagen zu konzentrieren ist und welche Beträge für die Stillegung von Kapazitäten aufzubringen sind. Ich sagte, das ist viel, das ist sehr viel, was hier verlangt wird. Erfolgreich können sie nur sein, wenn die Politik die dafür notwendigen Bedingungen setzt. Bevor der Bundeswirtschaftsminister an den Verhandlungstisch in Brüssel ging, habe ich einige solche Erfolgsvoraussetzungen genannt. In der gebotenen Kürze will ich das auch heute hier tun. Erstens. Ohne eiserne Subventionsdisziplin ist der Markt nicht zu bereinigen. ({3}) Hier liegt, meine Damen und Herren, eine Bringschuld der Politik. Hier ist nicht das Verantwortungsfeld der Unternehmer. Kapazitäten stillzulegen, möglicherweise ganze Standorte zu räumen und über Sozialpläne zu verhandeln ist ein wenig dankbares und aufreibendes Geschäft. Viel einfacher ist es, wie bisher öffentliche Gelder zu nehmen, wie bisher die Löcher in den Finanzen damit zu stopfen und wie bisher weiter zu wursteln. So geschehen in vielen europäischen Nachbarländern. Unternehmer können mit Aussicht auf Erfolg untereinander Stillegungen nur aushandeln, wenn die Regierungen künftig auf Erhaltungssubventionen verzichten. In Brüssel ist dies zugesagt worden. Wir müssen darauf bestehen, daß dieses Versprechen, Herr Minister, eingehalten wird. ({4}) Zweitens. In der EG muß es Rechtssicherheit geben. Ein Unternehmen, das seinen Konkurrenten zum Marktausgang begleiten und ihm für Kapazitätsstillegungen Ausgleichszahlungen leisten soll, muß Sicherheit haben. Es muß sicher sein, daß es die freiwerdende Marktposition rechtswirksam übernehmen kann. Die Wirtschaft ist keine karitative Veranstaltung. Was kann ein Unternehmen bewegen, seinem Wettbewerber Millionenbeträge zu zahlen, wenn die Gegenleistung mit rechtlichen Zweifeln belegt wird? Hier hat Brüssel in den letzten Tagen eher Zweifel gestreut als Klarheit geschaffen. Diese Unsicherheit muß ausgeräumt werden. Drittens. Die Marktposition, die ein Unternehmen erwirbt, muß werthaltig sein. Wer einen Konkurrenten auszahlt, belastet sich selbst mit Kosten. Er kann nicht akzeptieren, daß die von ihm erworbene Position durch zusätzliche Importe besetzt und damit entwertet wird. Das wäre unfaire Konkurrenz: Der eine trägt Stillegungskosten seines Wettbewerbers. Der Drittlandproduzent, sei er aus Osteuropa, sei er aus Südamerika, kommt lastenfrei. Eine angemessene Außenflankierung ist deshalb unverzichtbar. Brüssel hat sie im Prinzip zugesagt, aber die Ausgestaltung ist noch offen. Die Nachrichten, die mich erreichen, sind allerdings nicht gut. Hier muß die Bundesregierung tätig werden. Viertens. Wenn von der Industrie in einem Selbstreinigungsprozeß insgesamt ein Milliardenbetrag bewegt werden soll, ist dazu eine angemessene Zeit erforderlich.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Vondran, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Urbaniak?

Dr. Ruprecht Vondran (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002394, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Vondran, Sie haben sicherlich auch die Meinung gehört, die der EG-Kommissar Brittan geäußert hat, daß der Außenschutz, insbesondere gegenüber den osteuropäischen Ländern, eine völlig untergeordnete Frage sei. Wie beurteilen Sie das angesichts Ihrer Konzeption, wonach der Außenschutz funktionieren müsse?

Dr. Ruprecht Vondran (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002394, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich halte mich an die Zahlen, die ich ganz gut kenne. Es gibt Drittlandimporte, die in der Größenordnung von 5 Millionen t auf den deutschen Markt kommen. Davon kommen etwa zweieinhalb Millionen t aus den Nachfolgestaaten der UdSSR und den übrigen osteuropäischen Ländern. Sie haben sich in der letzten Zeit verdoppelt und verdreifacht. Die Preise, die Sie hier im Markt vorfinden, werden mit etwa 25 % unterboten. Wenn das nicht in eine klare Ordnung gebracht wird, dann ist das, was ich Ihnen hier vorschlage, nicht machbar. Das heißt, dies ist eine zwingende Voraussetzung dafür, daß wir zu einem selbstreinigenden Prozeß kommen. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Vondran, Herr Urbaniak möchte eine weitere Zwischenfrage stellen.

Dr. Ruprecht Vondran (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002394, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön, Herr Kollege Urbaniak.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Können Sie daher bestätigen, daß Herr Brittan unrecht hat, Herr Vondran?

Dr. Ruprecht Vondran (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002394, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich kann die Meinung des Kommissars und EG-Vizepräsidenten Sir Leon Brittan in dieser Frage überhaupt nicht teilen. Meine Damen und Herren, wenn ein großer Betrag in der Industrie im Rahmen eines Selbstheilungsprozesses bewegt werden soll, so ist eine angemessene Zeit erfordlich. Zwei Jahre sind da kurz bemessen. Die Brüsseler Entscheidung vom 25. Februar billigt nur ein Jahr zu und läßt eine Option für ein weiteres offen. Die Stillegungsbeschlüsse sollen aber jetzt fallen. Wer sie trifft, muß jetzt wissen, womit er rechnen kann. Auch hier geht es also nicht ohne eine schnelle Präzisierung der Ministerratsentscheidung. Meine Damen und Herren, was ich hier entwickelt habe, ist ein „Strukturkrisenkartell", wie es unser Wettbewerbsgesetz in seinem § 4 ausdrücklich vorsieht, um Strukturbrüche zu vermeiden und eine „planmäßige Anpassung der Kapazität an den Bedarf herbeizuführen". Der Montanunionsvertrag hat dafür keine eigene Vorschrift. Aber er läßt genügend Gestaltungsraum, den es zu nutzen gilt. Marktwirtschaft gibt es in der europäischen Stahlindustrie seit Jahrzehnten nicht mehr. Daran krankt die Branche. Hier ist nun eine Chance, einen neuen Anfang zu machen. Schließlich muß man wohl auch noch die Alternativen bedenken. Die weitere Auflösung der europäischen Rechtsordnung durch eine Fortsetzung nationaler Subventionszahlungen ist sicherlich keine Lösung. Ein Crash der privaten Unternehmen und ein Ende der privaten Stahlwirtschaft in Europa liegen zumindest nicht im deutschen Interesse.. Ein Rückfall in die Planwirtschaft nach Art. 58 des Montanvertrags kann allenfalls die Ultima ratio sein, wenn wirklich gar nichts mehr geht, aber doch bestimmt nicht unsere erste Wahl. Ein Strukturkrisenkartell ist also immer noch die beste aller Möglichkeiten. Meine Damen und Herren, ich möchte nicht abschließen, ohne der Hoffnung auf Zukunft doch etwas Raum zu geben, trotz alledem und gerade deshalb. Als ich vor einiger Zeit in Japan war, berichtete der Präsident eines großen Unternehmens von einer Begegnung mit einem ausländischen Journalisten. Dieser hatte wohl etwas vorlaut gefragt, ob Japan angesichts seiner Schwierigkeiten nicht das Land der untergehenden Sonne sei. Die Antwort des Japaners kam ruhig und sicher: Ich weiß aus Erfahrung, daß die Sonne da, wo sie untergeht, auch immer wieder aufgeht. ({0}) Wir haben nach Rheinhausen noch einen langen dunklen Weg vor uns. Aber ich bin im Gegensatz zu anderen Stimmen, die in diesen Tagen zu hören sind, zuversichtlich, daß die Sonne auch für die deutsche Stahlindustrie wieder aufgehen wird. Allerdings wird sie dann eine ganz und gar veränderte Landschaft bescheinen. Ich bedanke mich herzlich. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Abgeordnete Klaus Beckmann.

Klaus Beckmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zum drittenmal in diesem Jahre beraten wir hier über die Situation der Stahlindustrie. ({0}) Produktionsrückgang und anhaltender Preisverfall haben das Bild der Stahlindustrie in den letzten zwei Jahren geprägt. Mit dem Beschluß von Krupp-Hoesch, das Stahlwerk in Rheinhausen zu schließen, ist die erste Stillegung eines Stahlstandortes beschlossen worden. Aber auch durch mehrfaches Wiederholen ökonomisch und gesellschaftspolitisch fragwürdiger Forderungen - die beiden vorliegenden Anträge enthalten eine Menge davon - werden die Argumente der Opposition nicht besser. Erinnern wir uns doch: Eine ähnliche Situation wie heute haben wir 1975 erlebt. Damals versuchten die nationalen Regierungen, europaweit notwendige Anpassungsmaßnahmen dieser Branche durch erhebliche Subventionszahlungen zu verzögern oder auf ihre europäischen Partner abzuschieben. Kurzfristiges, aber auch kurzsichtiges Mittel war die Einführung eines Quotensystems. ({1}) Es eröffnete dem Dirigismus von Brüssel Tür und Tor und konterkarierte das handelspolitische Ziel eines freien binnenwirtschaftlichen Warenverkehrs. ({2}) Nationale Egoismen gewannen zunehmend an Bedeutung, und von einer gemeinsamen europäischen Handelspolitik war man meilenweit entfernt. Ergebnis dieser Politik war die Aufrechterhaltung unrentabler Kapazitäten. Erst allmählich begann ein Umdenken in der Stahlbranche. Mit dem Wegfall des Quotensystems 1988 war der Weg wieder frei für Wettbewerb auf dem europäischen Stahlmarkt. Meine Damen und Herren, die deutschen Unternehmen haben in den vergangenen Jahren gut davon profitiert. Daß der Stahlboom jedoch nicht von Dauer sein konnte, das mußte ja auch in den Führungsetagen von Klöckner, Thyssen und Krupp-Hoesch und in denen der Banken mit Sicherheit seit langem bekannt gewesen sein. Dennoch haben sie es leider versäumt - das will ich hier anmerken -, sich auf die heutige Situation rechtzeitig einzustellen. Allerdings liegen die Vorsorgedefizite nicht allein beim Management. In den Aufsichtsräten der montanmitbestimmten Stahlriesen sitzen Vertreter der IG Metall. Hier soll partnerschaftlich gearbeitet und gemeinsam Verantwortung getragen werden. Mitbestimmung heißt also auch Mitverantwortung. ({3}) Der Ruf nach dem Staat bedeutet demnach nur ein Wegschieben von Verantwortung. ({4}) Noch ist die Bereitschaft der Gewerkschaften gering, konstruktiv und konzeptionell zur Bewältigung der Krise beizutragen. ({5}) Dies aber müssen sie zukünftig tun und die Grenzen der heute praktizierten Montanmitbestimmung hinter sich lassen. Eine unverantwortlich enge, an ehemaligen Wachstumsraten orientierte Lohn- und Unternehmenspolitik bestimmt leider heute noch das Verhalten einiger Gewerkschafter. Man hat ab und zu den Eindruck, als hätten sie den Ernst der Stunde noch nicht erkannt. ({6}) Wie anders läßt es sich erklären, daß die IG Metall in Ostdeutschland mit Streik droht? Wie sonst könnte man ihre Forderung nach Aufrechterhaltung einer 26%igen Steigerung der Löhne in Ostdeutschland verstehen? ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Beckmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Weiermann?

Klaus Beckmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Im Augenblick möchte ich meinen Gedanken fortführen, Frau Präsidentin. Meine Damen und Herren, merken Sie denn nicht, daß die Gewerkschaften damit die ostdeutschen Stahlunternehmen, ({0}) die sich dem rauhen Wind eines freien Wettbewerbs aussetzen müssen, gefährden? Merken Sie denn nicht, daß ein vehementes Nein zum notwendigen Umstrukturierungsprozeß das Totengeläut für einige Stahlstandorte einleitet? Die Stahlindustrie trägt schwer an der Kostenlast, die durch die hohen Personalkosten bedingt ist. ({1}) Dies erschwert den Stand im internationalen Wettbewerb. Die Personalkosten machen heute schon, Herr Kollege Reuschenbach, 22 % der Gesamtkosten in der Stahlbranche aus. 50 DM Lohnvollkosten sind in den westdeutschen Stahlunternehmen die Regel. Ich will nur anmerken, daß im Vergleich dazu Großbritannien mit 35 DM verhältnismäßig günstig dasteht. Über die 2 DM Lohnvollkosten in Osteuropa will ich bei dieser Gelegenheit gar nicht reden. Eine Erhöhung und damit eine Abkopplung der Lohnkosten von der Produktivität würde sich auf die Stellung der deutschen Stahlindustrie im Wettbewerb nachhaltig auswirken und zu irreversiblen Schäden im europäischen und im internationalen Wettbewerb führen. ({2}) Ziel muß jetzt die Konzentration auf leistungsfähige und international wettbewerbsfähige Produktionsstandorte sein. Deshalb muß jetzt analog dem konsequenten Abbau vorhandener Überkapazitäten auch der Abbau von Arbeitsplätzen in die Wege geleitet werden. Selbstverständlich muß dieser Abbau sozialpolitisch abgefedert werden, Herr Kollege Reuschenbach. ({3}) Ich beziehe mich auf das, was ich hier in der letzten Debatte gesagt habe. Für meine Fraktion sind aber - das will ich unterstreichen - nur solche Beihilfen akzeptabel, die gezielt vergeben werden und die auch Innovationen ermöglichen. Nicht zuletzt die hemmungslose Subventionsvergabe vergangener Tage hat zu dem Desaster geführt, das wir heute vorfinden. Wir stehen - das muß man ehrlicherweise sagen - vor einem Scherbenhaufen, den die Unternehmen und die politisch Verantwortlichen, insbesondere in den Regierungen der betroffenen Lander, zum Teil selbst verursacht haben. ({4})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Beckmann, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reuschenbach?

Klaus Beckmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte sehr.

Peter W. Reuschenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001827, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Werter Herr Kollege Klaus Beckmann, ist Ihnen erinnerlich, daß im Zeitraum dieses hemmungslosen Subventionswettlaufs in Europa auf deutscher Seite liberale F.D.P.-Wirtschaftsminister der Bundesregierung angehört haben? ({0}) Und wo hat die deutsche Stahlindustrie fünf, sechs oder sieben Jahre lang von einem „hemmungslosen Subventionswettlauf" in Deutschland etwas abbekommen?

Klaus Beckmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich habe, Herr Kollege Reuschenbach, von der Situation in Europa gesprochen. Dort war es in der Tat so. Wenn wir Anfang der 80er Jahre die deutsche Stahlindustrie unterstützt haben, dann immer unter dem Vorbehalt, daß sie das, was bundesseitig an Zahlungen geleistet wurde, wieder zurückzuzahlen hat. Das ist auch weitestgehend geschehen. ({0}) Aber wir können leider nicht erkennen, daß man in den letzten Jahren des Stahlbooms klüger geworden wäre. ({1}) - Frau Präsidentin, ich möchte gern fortfahren.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Weiermann kann also nicht fragen.

Klaus Beckmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich möchte für alle, die es immer noch nicht gemerkt haben, deutlich sagen: Waren, die nicht kostendeckend produziert werden können, werden sich langfristig nicht am Markt behaupten können. Das Blindekuhspiel der Sozialdemokraten und der Gewerkschaften muß endlich aufhören. Es rächt sich ja schon heute: Zu den 2 100 Stahlarbeitern, die in Rheinhausen ihren Arbeitsplatz verlieren, werden in den nächsten Monaten noch mehr hinzukommen. Schmerzhafte Maßnahmen sind notwendig, um den Strukturwandel in dieser Branche zum Erfolg zu führen und die deutsche Stahlindustrie als wesentlichen Eckpfeiler des Wirtschaftsstandorts Deutschland zu erhalten. Der sozialverträgliche Abbau von Arbeitsplätzen darf nicht allein von den notwendigen Sozialplänen abhängig sein. Hier sind auch die benachbarten Branchen und die mittelständische Wirtschaft in den betroffenen Regionen gefordert. Komfortable Modalitäten allerdings hemmen die vom Umstrukturierungsprozeß betroffenen Stahlarbeiter in ihrer Entscheidung, in andere Wirtschaftsbereiche auszuweichen. Leider sind auch Teile der Gewerkschaften noch immer Gefangene ihres eigenen Handelns. Was wir nun brauchen, meine Damen und Herren, ist eine langfristig wettbewerbsfähige deutsche Stahlindustrie auf dem Weltmarkt. Noch hat die Branche alle Chancen dazu. Sie muß sich den neuen Marktbedingungen stellen und darf nicht in Wehleidigkeit verharren. Ich hatte auch nicht den Eindruck, daß das aus den Ausführungen des Kollegen Vondran zu hören war. Sie muß sich jetzt den neuen Marktbedingungen stellen. Ökonomische Entscheidungen müssen von allen Verantwortlichen gemeinsam getragen werden. Das Anstimmen von Klageliedern, Fackelzüge und Demonstrationen sind verständlich, nutzen aber wenig. Sie heizen nur die Stimmung auf und stehen konstruktiven Gesprächen eher im Wege. Der EG-Ministerrat hat - das ist erwähnt worden - auf seiner Sondersitzung am 25. Februar dieses Jahres unter besonderer Mitwirkung von Bundesminister Dr. Rexrodt ein Rahmenkonzept verabschiedet, ({0}) das auf zwei Säulen ruht. Erstens. Die Stahlunternehmen werden eigenverantwortlich die erforderlichen Umstrukturierungen planen. Zweitens. Sie werden gemeinsam die notwendigen Maßnahmen für einen Kapazitätsabbau bis zum 30. September dieses Jahres beschließen. Sie wissen, daß die EG-Kommission zugesagt hat, daß diese Entwicklung sozial flankiert werden soll. Die Kommission stellt bis 1995 zu den jetzt gewährten Mitteln noch 240 Millionen ECU - das sind fast 500 Millionen DM - zur Verfügung. Auch die Bundesregierung ist, wie wir hören, bereit, die Sozialmaßnahmen der Kommission zu unterstützen. Wir wären sehr daran interessiert, zu hören, welche Stützungsmaßnahmen die betroffenen Landesregierungen, z. B. in Nordrhein-Westfalen und an der Saar, ergreifen wollen. Meine Damen und Herren, die F.D.P.-Bundestagsfraktion begrüßt die Entscheidungen von Brüssel. Sie unterstützt auch den Bundeswirtschaftsminister in seinen Bemühungen, den notwendigen Umstrukturierungsprozeß in der Stahlindustrie zu flankieren. Wir sind mit dem Wirtschaftsminister der Überzeugung, daß eine nationale Stahlkonferenz ein untaugliches Mittel ist, die anstehenden Probleme zu lösen. Die Verantwortung für die Krise tragen in erster Linie die Stahlunternehmen - und damit auch die Gewerkschaften - vor Ort. Eine Verlagerung der Verantwortung von den Unternehmern und den Tarifpartnern auf den Staat ist mit meiner Fraktion nicht zu machen. Auch in diesem Punkt lehnen wir den Antrag der SPD ab. Die Stahlindustrie muß schlanker werden. Der notwendige Strukturwandel bedeutet für die betroffenen Regionen auch eine Chance. Es ist nun Aufgabe des Staates, Rahmenbedingungen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze zu setzen. Der verzögerte Abbau von wirtschaftlich nicht mehr notwendigen Arbeitsplätzen in der Stahlindustrie ist - man muß das mit aller Deutlichkeit sagen - nichts anderes als eine sektorale Subventionierung. Wenn wir auf den benachbarten Steinkohlebergbau blicken, werden die Fehler der Vergangenheit ganz offenbar. Ein sektorspezifischer Dauertropf aus Bonn für die Stahlindustrie ist mit meiner Fraktion nicht denkbar, erst recht nicht eine Deutsche Stahl AG. Es wäre auch falsch, zu erwarten, daß die Lücken, die durch den Arbeitsplatzabbau aufgerissen werden, sofort geschlossen werden können. Deshalb müssen jetzt alle miteinander sprechen: die Unternehmer mit den Gewerkschaften und den Betriebsräten in ihren eigenen Konzernen, aber auch untereinander, die Parteien, wir als Regierungskoalitionäre mit der Opposition und die Bundes- mit den Landespolitikern. ({1}) Meine Fraktion bekundet ihre Bereitschaft, an Konsensgesprächen auf allen Ebenen aktiv und kooperativ mitzuwirken. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß einen Blick auf die ostdeutsche Stahlindustrie werfen. Herr Ministerpräsident Stolpe, wir wissen, daß dort vor der Wende 7 bis 8 Millionen Tonnen Stahl erzeugt worden sind. Heute ist es nur noch wenig mehr als die Hälfte. Ich denke, alle Anstrengungen der Stahlindustrie sollten darauf gerichtet sein, daß es zu keiner Deindustrialisierung der ostdeutschen Stahlstandorte kommt. Es kommt darauf an, daß auch die Unternehmen in Ostdeutschland in einem freien Wettbewerb ihre Chance erhalten. Deshalb gilt der deutschen Stahlindustrie, die in eigener Verantwortung ein Konzept für den Abbau von Überkapazitäten vorlegt, unsere Unterstützung. Denn wer anders als die Unternehmen selbst könnte besser in der Lage sein, ihre Situation richtig einzuschätzen? Eine den Markterfordernissen angepaßte Stahlproduktion liefert uns dann letztlich die für unsere Wirtschaft notwendige Werkstoffbasis. In diesem Sinne werden wir den Umstrukturierungsprozeß in der deutschen Stahlindustrie gerne begleiten und flankieren. Klaus Beckmann Vielen Dank. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde es schon erschütternd, mit welcher Arroganz und Ignoranz hier zum Teil über Schicksale von Zehntausenden von Menschen in der Stahlindustrie und in den betreffenden Regionen diskutiert wird. ({0}) Die Gruppe PDS/Linke Liste hat einen Antrag zur schrittweisen Bewältigung der Stahlkrise eingebracht, der zwei präzise Forderungen enthält. Zum einen geht es darum, daß der Bundestag die Bundesregierung verpflichten soll, die Anwendung der entsprechenden EG-Instrumentarien durchzusetz en, zum anderen darum, daß in Ergänzung dazu eine nationale Stahlkonferenz unter Einbeziehung sämtlicher Betroffenen durchgeführt wird. ({1}) Daneben liegt Ihnen noch ein späterer Antrag der SPD-Fraktion vor, der wohl auch deshalb eingereicht wurde, damit hier nicht ausschließlich über unseren Antrag verhandelt werden muß. Er enthält ähnliche Zielstellungen, ist aber etwas komplizierter formuliert. ({2}) Das ist gar nicht weiter schlimm. Es ist nicht dramatisch. Ein bißchen Konkurrenz im Parlament ist nicht schädlich. Hauptsache, es gelingt tatsächlich, die Krise auf dem europäischen Stahlmarkt zu überwinden. Es gibt allerdings einen Unterschied zwischen den beiden Anträgen. Darauf möchte ich hinweisen. Sie gehen sofort auf die Frage der Sozialpläne und der sozialen Abfederung im Falle von Entlassungen ein. Das findet sich in unserem Antrag nicht. Ich sage Ihnen auch, warum. Natürlich sind wir für solche sozialen Abfederungen am bitteren Ende eines bestimmten Prozesses. Aber wir meinen, daß es heute noch nicht notwendig ist, gleich diesen Weg zu öffnen. Vielmehr muß es zunächst darum gehen, dafür zu kämpfen, daß die Stahlstandorte erhalten werden. Es darf nicht gleich der Weg in die soziale Abfederung von Massenentlassungen gesucht werden. ({3}) Schon im Januar 1993 wurde auf Antrag unserer Gruppe eine Aktuelle Stunde zur Situation in der Stahlindustrie hier im Bundestag durchgeführt. Dabei haben wir gefordert, daß sich die Bundesregierung für die Ausrufung der manifesten Krise beim EG-Ministerrat einsetzen soll. Die Reaktion war, wie nicht anders zu erwarten, ablehnend. Damals wurde sogar noch bestritten, daß hier in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt eine Stahlkrise bevorsteht. ({4}) Das allein sagt schon eine Menge über die Fähigkeit der Koalition zur Analyse der wirtschaftlichen Lage aus. Wer die wirtschaftliche Lage so falsch einschätzt, erweist sich als unfähig, notwendige Instrumentarien zu schaffen oder einzusetzen, um eine Krise zu bewältigen. Damals wurde gesagt: Das ist ein Managementfehler bei Klöckner; um mehr geht es gar nicht. Ich erinnere mich noch sehr genau an diese Debatte. Daß überhaupt eine Krise in diesem Umfang bevorsteht, wurde glatt geleugnet. Wenn unser Antrag hier im Bundestag Erfolg hätte, dann würden für den gesamten Bereich der Europäischen Gemeinschaft für Stahlerzeugnisse ein Quotensystem und Mindest- und Höchstpreise festgelegt werden. Die Folge wäre, daß einerseits relativ gleichberechtigt an sämtlichen Stahlstandorten innerhalb der Europäischen Gemeinschaft die Produktion zurückgefahren werden müßte, andererseits aber die Stahlstandorte erhalten blieben. Für Rheinhausen scheint es allerdings fast schon zu spät zu sein, weil die Regierung untätig geblieben ist und weil die KruppKonzernleitung ganz offensichtlich die Gunst der Stunde nutzen will, einen lange gefaßten Entschluß zu realisieren. Der vorübergehende Schutzmechanismus eines Quoten- und Preissystems wilde erlauben, die Wiederankurbelung der Wirtschaft in den USA und in Europa, vor allem in Osteuropa, abzuwarten. Denn die Hauptursache der Stahlkrise ist das Konjunkturproblem. Wenn die Regierung nicht völlig den Anspruch aufgegeben hat, die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, dann darf sie jetzt nicht Kahlschlagkonzepte unterstützen, sondern muß für die Erhaltung der Kapazitäten eintreten, die wieder gebraucht werden, wenn die Konjunktur in Fahrt kommt. Man muß darüber hinaus auch einmal zur Kenntnis nehmen, daß die Bundesrepublik Deutschland ohne die ehemalige DDR in den 20 Jahren von 1970 bis 1990 eine Rohstahlkapazität von etwa fünf Millionen Tonnen abgebaut hat, während in der Europäischen Gemeinschaft in diesem Zeitraum insgesamt 28 Millionen Tonnen Kapazität dazugekommen sind. Mein Vorwurf ist doch nicht, daß andere Regierungen ihre Stahlstandorte schützen. Mein Vorwurf ist, daß diese Regierung es hier in der Bundesrepublik Deutschland nicht tut. ({5}) Es ist zu fragen, bis auf welches Niveau eigentlich der Anteil der BRD-Stahlproduktion im EG-Rahmen noch absinken soll. Und die Bundesregierung tut nichts dagegen! Die Forderung nach einer nationalen Stahlkonferenz entspricht einem ganz notwendigen und dringenden Anliegen. Dabei geht es nämlich zunächst um eine gerechte Verteilung der Stahlproduktion zwischen West- und Ostdeutschland. Als Deutschland noch in zwei Staaten geteilt war, machte die Stahlproduktion in der DDR etwa 15 % der Gesamtstahlproduktion in Deutschland aus. Wenn schon an eine solche Mengenverteilung heute nicht mehr zu denken ist - wir sind jetzt bei einem Anteil von 7,5 %, und zwar wegen der Art und Weise der Plattmachung der Industriestandorte in der früheren DDR -, dann müßte wenigstens ein Anteil von 8 % bis 10 % der Stahlproduktion für Ostdeutschland gesichert werden. ({6}) Mengenmäßig entspräche dies einem Anteil von etwa 3,5 bis 4 Millionen Tonnen Stahl jährlich. Das ist auf jeden Fall mehr, als heute in den Stahlstandorten Ostdeutschlands produziert wird, allerdings immer noch deutlich weniger, als in der Zeit der DDR dort produziert wurde. Damals waren es über 7 Millionen Tonnen jährlich. Bemerkenswert ist, mit welchen Begründungen es die Bundesregierung ablehnt, irgend etwas zur Überwindung dieser Krise zu tun, also auch die geforderten EG-Instrumentarien einzusetzen bzw. eine nationale Stahlkonferenz einzuberufen. Wie schon mehrfach zitiert, geht ja der Bundeswirtschaftsminister davon aus, daß Wirtschaft in der Wirtschaft und nicht durch die Bundesregierung gemacht werden müsse. Herr Beckmann hat das ja alles wiederholt, und Graf Lambsdorff hat in der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht erklärt, daß die Stahlkrise in erster Linie durch die Konzernleitungen und durch die über die MontanMitbestimmung einbezogenen Gewerkschaften zu verantworten sei und es deshalb überhaupt nicht gerechtfertigt wäre, wenn die Konzerne und Gewerkschaften jetzt nach dem Staat rufen. Das haben wir eben noch einmal gehört. ({7}) Die Kritik an den Konzernleitungen ist sicherlich berechtigt. ({8}) Ende der 80er Jahre haben diese Konzerne dreistellige Millionengewinne durch die Stahlproduktion eingefahren, aber keine Zukunftsfürsorge getroffen; denn sie haben diese Gewinne nicht dafür eingesetzt, z. B. notwendige Ersatzproduktionen in den betroffenen Regionen zu schaffen, so daß es bei der Monostruktur der Stahlindustrie in diesen Regionen geblieben ist. ({9}) Meines Erachtens haben sie damit ihre Pflichten aus den Art. 14 und 15 des Grundgesetzes, nämlich die Sozialbindung des Eigentums, verletzt. Der Vorwurf gegen die Gewerkschaften dagegen ist völlig unbegründet. Daran ändert auch die MontanMitbestimmung nichts. Die Gewerkschaften sitzen zwar dadurch in den Aufsichtsräten einzelner, miteinander im Wettbewerb stehender Unternehmen und wirken an Konzernentscheidungen mit, aber eben nur an Konzernentscheidungen von Konkurrenten, nicht an konzernübergreifenden Entscheidungen. Und notwendige, konzernübergreifende Strategien und Lösungen lehnt die Koalition als Instrument gesamtgesellschaftlicher Planung schon aus ideologischen Gründen ab. Heute ist aber nicht die Zeit für Ideologie; hier hilft nur praktisches Handeln. Ich bekenne mich diesbezüglich zu mehr Regulierung und mehr Staat. Denn selbst dann, wenn der Vorwurf von Graf Lambsdorff an die Konzernleitungen und an die Gewerkschaften in vollem Umfang zuträfe, ist doch die Schlußfolgerung abenteuerlich und unverantwortlich. Einer Bundesregierung und einem Staat darf doch das Schicksal von Zehntausenden Familien in keiner Situation gleichgültig sein, ({10}) unabhängig davon, ob die Regierung bzw. der Staat einen Anteil daran hat, daß die Familien in eine solche Situation geraten sind. ({11}) Die Bundesregierung und der Staat stehen also unabhängig davon, welchen Anteil sie am Entstehen der Krise haben, in der Verantwortung. Abgesehen davon hat die Bundesregierung sehr wohl einen beachtlichen Anteil an der Verantwortung, indem sie weder international noch national den notwendigen Rahmen geschaffen und sich auch nicht dafür eingesetzt hat, diese Krise zu verhindern oder wenigstens zu lindern. Der von mir zitierte Satz des Bundeswirtschaftsministers bringt eine Haltung zum Ausdruck, die ihn für sein Amt gänzlich ungeeignet erscheinen läßt. Ein Bundeswirtschaftsminister, der erklärt, daß er für Wirtschaft nicht zuständig sei, und damit erklärt, daß er die Absicht hat, sein Amt nicht auszuüben, erklärt sich für überflüssig und wäre schnellstens durch einen solchen zu ersetzen, der wenigstens akzeptiert, daß er für die Wirtschaft eine Verantwortung trägt. ({12}) Es gibt aber eine weitere sehr beachtliche negative Folge, wenn die Bundesregierung sich weigert, sich für die Anwendung der EG-Instrumentarien nach EGKS-Vertrag einzusetzen. Wie eigentlich wollen Sie die Menschen von der Notwendigkeit der Europäischen Union und der Schaffung europäischen Rechts überzeugen, wenn in einer solchen Krisensituation nicht einmal die vorhandenen rechtlichen Instrumentarien eingesetzt werden? Damit beweisen Sie doch den Menschen geradezu, daß ihr Mißtrauen gegen europäische Befugnisse und europäisches Recht begründet ist. Was nützt es, Druck auf die eigene Regierung auszuüben, wenn die sich auf Brüssel herausreden kann, wobei es ja hier so ist, daß Brüssel nicht aktiv wird, weil die Bundesregierung es ablehnt, selbst aktiv zu werden? Dahinter steckt eine Ideologie des marktwirtschaftlichen Rigorismus. Diese Ideologie und der Weg, den die Bundesregierung dabei beschreitet, wird in eine andere Verfaßtheit der Bundesrepublik Deutschland führen. Sie wollen offensichtlich zurück zum Manchester-Kapitalismus.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Gysi, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lammert?

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Gysi, nachdem genau die Krisenmechanismen, deren Einsatz Sie jetzt wieder fordern, bei der letzten großen europäischen Stahlkrise zum Einsatz gekommen sind, ohne auch nur annähernd die Ergebnisse zu erreichen, die Sie sich vom Einsatz dieser Mittel jetzt versprechen: ({0}) Worauf begründen Sie eigentlich den Optimismus, daß dieser Mechanismus zu genau den Ergebnissen beitragen könnte, die nach der überwiegenden Meinung aller Redner der heutigen Debatte offensichtlich unvermeidlich sind?

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Daß die Anwendung der damaligen Instrumentarien durchaus auch Mängel hatte, ist unbestritten. Daß sie das Gelbe vom Ei sind, ist nie behauptet worden. Aber wir haben es hier mit einer schweren Krise zu tun, und das wäre immerhin ein Instrument, die Schließung zahlreicher Stahlstandorte und damit Massenentlassungen zu verhindern. Das hat übrigens auch damals zum Teil durchaus geklappt. Wir können ja aus den Fehlern von damals lernen und es diesmal besser machen. Auf jeden Fall ist es immer noch richtiger, diesen Weg zu gehen, als einfach zuzusehen und zuzulassen, wie die Stahlstandorte Schritt für Schritt geschlossen werden. Ich weiß schon, daß das auch ein Planungselement hat und daß es dagegen ideologische Vorbehalte gibt. Aber ich sage noch einmal ganz deutlich: Hier geht es wirklich nicht um Ideologie, sondern darum, Stahlstandorte und damit auch in großem Umfang Arbeitsplätze zu erhalten.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Henn? Dr. Gregor Gysi: Ja, bitte.

Bernd Henn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000868, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Gysi, ist Ihnen bekannt, daß die Rohstahlkapazität in der Bundesrepublik Deutschland in den 80er Jahren um 30 % abgebaut worden ist, im EG-Bereich lediglich um 7 %, und daß dieser Abbau von Kapazität ohne Massenentlassungen vonstatten ging? Sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß das etwas mit dem Krisenmechanismus zu tun hat, der in den 80er Jahren von der EG angewendet worden ist?

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Es ist sehr schön; Sie haben in Ihre Frage den ganzen Sachverhalt schon mit eingebaut. Auf diese Weise brauche ich nur noch ja zu sagen. Es ist ja ganz klar, daß gerade diese Instrumentarien dazu geführt haben, daß trotz Produktionsrückgang keine Massenentlassungen erforderlich waren. Das ist auch das Instrumentarium, das wir für jetzt fordern, sicherlich noch besser und vor allen Dingen gerechter angewandt als damals. Ich darf fortfahren.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ihre Redezeit ist zu Ende.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin, das ist ein bißchen schwierig. Ich muß nämlich unbedingt noch sagen, daß eine Folge zunächst darin bestehen wird, daß Zehntausende ihre Arbeit verlieren. Wir haben unterschiedliche Schätzungen. Die IG-Metall fürchtet den Verlust von etwa 50 000 Arbeitsplätzen, davon allein 14 000 in Ostdeutschland, wo wir in der Stahlindustrie überhaupt nur noch 24 000 Arbeitsplätze haben. Der Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl, nämlich Sie, Herr Vondran, hat ja sogar einmal befürchtet, daß 100 000 Arbeitsplätze durch diese Krise beseitigt werden könnten. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, daß das ganze Regionen betrifft, so daß auch Gewerbe, Mittelstand usw. davon betroffen sind, was zur weiteren Vernichtung von Arbeitsplätzen führt. ({0}) Arbeitslosigkeit ist für die Betroffenen und ihre Familienangehörigen stets ein großes soziales und psychisches Problem. Da die Koalition nun auch noch dabei ist, Arbeitslosenunterstützung, Arbeitslosenhilfe etc. zu kürzen, verschärft sie dieses Problem noch. In dieser Situation - ich mache es jetzt kürzer -

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Nein, es ist jetzt Schluß.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin, lassen Sie mich als letztes sagen: ({0}) - Doch, doch! - Ich hoffe sehr, daß die Stahlarbeiter in Ost und West sich nicht entsolidarisieren lassen und durch eine starke Bewegung die Pläne der Regierung und der Konzernleitungen durchbrechen. Sie werden für Ihre Politik des Frühkapitalismus Ihre Quittung bekommen. Leider aber werden wir alle sie bekommen, weil das, was ich geschildert habe, eine andere Verfaßtheit der Bundesrepublik Deutschland bedeuten würde, die es zu verhindern gilt. Danke. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Ministerpräsident des Landes Brandenburg, Herr Stolpe. Ministerpräsident Dr. Manfred Stolpe ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In wenigen Stunden ist es nun soweit: Die Ministerpräsidenten der Länder und die Bundesregierung beginnen ihre Verhandlungen zum Solidarpakt. Ministerpräsident Dr. Manfred Stolpe ({1}) Kein anderer Begriff hat in den Jahren seit der deutschen Einheit so viele Erwartungen geweckt. Kein anderes politisches Vorhaben hat aber auch nur ähnlich hohe Anforderungen an alle Beteiligten gestellt. Bei dem Solidarpakt geht es um eine große nationale Anstrengung. Die Menschen sehen auf Bonn. Die Politik ganz Deutschlands ist gefragt, ob sie noch handlungsfähig ist oder nicht. Die Ziele sind hoch gesteckt, muß dieser Pakt doch der schleichenden Rezession im Westen ein deutliches Signal entgegensetzen, bei uns im Osten aber dem bislang zu mager ausfallenden Aufschwung zu einem nachhaltigen Erfolg verhelfen. ({2}) Schaffen wir das nicht, wird die Verunsicherung der Menschen in West und Ost noch größer. Das wäre eine gefährliche Entwicklung. ({3}) Deshalb müssen die Verhandlungspartner heute und morgen erkennbar machen: In einer parlamentarischen Demokratie gibt es gemeinsame, übergreifende Herausforderungen. Die müssen über Parteigräben hinweg auch gemeinsam bewältigt werden. Die Stahlkrise gehört mitten hinein in diese gesamtdeutsche Aufgabenstellung. ({4}) Duisburg an der Ruhr und Eisenhüttenstadt an der Oder praktizieren miteinander die Solidarität, die sie jetzt von uns allen brauchen. Die Stahlwerker üben den aufrechten Gang. In Ostdeutschland erlebe ich insbesondere bei ihnen, aber auch bei anderen Metallarbeitern eine wachsende Verbitterung. Fünf Sechstel der Arbeitsplätze sind innerhalb von zweieinhalb Jahren verlorengegangen. Das Gerade vom Gesundschrumpfen glaubt keiner mehr. Zu viele Versprechungen wurden gebrochen. Gerade in dieser Lage wird auch noch die Überlebenshilfe ABM von 350 000 für Ostdeutschland zugesagten Plätzen auf voraussichtlich 30 000 zum Jahresende 1993 zusammengestrichen. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, zunächst einmal möchte ich Sie bitten, die notwendige Ruhe wiederherzustellen. Herr Ministerpräsident, sind Sie bereit, eine Frage des Abgeordneten Norbert Blüm zu beantworten? Ministerpräsident Dr. Manfred Stolpe ({0}): Herr Kollege, Sie sollten sich genauer danach erkundigen, was da gespielt wird.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Ministerpräsident, sind Sie bereit, eine Frage des Abgeordneten Blüm zu beantworten? Ministerpräsident Dr. Manfred Stolpe ({0}): Ich denke, das machen wir nachher; denn das geht ja von der Zeit ab. ({1}) - Meine Damen und Herren, der Lärm hier hilft nicht. Es reift im Osten die Zeit heran, in der schnell aus Protesten massive Unruhen werden. Ich lade Sie herzlich ein, mitzukommen, wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter ihren Protest und ihre Enttäuschung artikulieren. ({2}) Da helfen Ihnen Ihre Sprüche gar nichts. ({3}) Kommen Sie mit dahin. Ich lade Sie herzlich mit ein. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Rüttgers, Sie haben zur Zeit nicht das Wort. Ich möchte Sie bitten, sich zu mäßigen. Ministerpräsident Dr. Manfred Stolpe ({0}): Meine Damen und Herren, die Stahlstandorte Brandenburg, Hennigsdorf, Eisenhüttenstadt, Eberswalde und Oranienburg leiden nicht nur unter dem Strukturumbruch, der die ganze ostdeutsche Wirtschaft erschüttert, sondern sie sind auch Opfer der europäischen Stahlkrise. Dabei ist es nicht so, daß im Osten alles nur noch Schrottwert hat. Das Gegenteil trifft an einigen Stellen zu. Die Stahlbetriebe Brandenburgs sind von ihren technischen Voraussetzungen her voll überlebensfähig und genauso gut wie andere europäische Betriebe, mit denen sie das Schicksal teilen, sich auf einem schwierigen Markt behaupten zu müssen. ({1}) Die ostdeutsche Stahlindustrie hat ihre Opfer gegenüber der Europäischen Gemeinschaft schon gebracht. Seit 1990 wurden die Kapazitäten auf ein Drittel, die Arbeitsplätze auf ein Sechstel heruntergefahren. Die Menschen erwarten, daß das Stahlsterben ein Ende hat. Ich will es Ihnen deutlich und ungeschminkt rüberbringen, meine Damen und Herren: Wir im Osten meinen es bitter ernst, wenn wir unsere Forderungen nach gesicherten Stahlstandorten erheben. Ebenso ernst meinen wir es mit den Forderungen nach einer neuen Politik, die Arbeit sichert, die Existenzen sichert und die verhindert, daß im Osten Ministerpräsident Dr. Manfred Stolpe ({2}) Brachen der Industrie und Arbeitslosigkeit bestimmend sind. ({3}) Die brandenburgische Landesregierung wird ihren Anteil dazu leisten, indem alle verfügbaren Landesmittel gezielt zur Erhaltung von Arbeit und zur Schaffung neuer Arbeit eingesetzt werden. ({4}) Aber allein können wir die wachsende Not nicht wenden. Wir brauchen die Unterstützung der Bundesregierung und der Treuhandanstalt. Sie müssen mit den ostdeutschen Ländern gemeinsam handeln: durch eine zügige Sanierung der überlebensfähigen Kerne der ostdeutschen Indsutrie, durch die Entwicklung industrieller Standorte zu neuen Strukturen und marktgerechter Produktion, durch die Prüfung der Sanierungsfähigkeit von Unternehmen in Problemregionen - nicht nur nach betriebswirtschaftlichen, sondern auch nach regionalpolitischen und industriepolitischen Erfordernissen -, durch die Gleichstellung der mittelständischen Unternehmen bei der Finanzausstattung mit Unternehmen der Großindustrie und durch die Bereitschaft, notwendigen Industriekernen eine Adaptionszeit von bis zu fünf Jahren einzuräumen. Wir wollen solidarisch mit den Menschen vor Ort bleiben und Sachwalter unseres verbliebenen Realvermögens sein. Wir können es uns nicht leisten, Betriebsgenehmigungen wegen eines Konkurses erst einmal erlöschen zu lassen. Der Aufbau von Neuem würde um ein Vielfaches länger dauern und käme zudem keineswegs billiger als die Erhaltung der Kernbereiche. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Regionen wehren sich gegen das Plattmachen der Industriebetriebe, wehren sich gegen industriellen Kahlschlag. Die Menschen wollen dort arbeiten, wo sie leben. Sie wollen in ihrer Heimat eine Perspektive für sich und ihre Familien. ({5}) Sie wollen nicht abwandern. Es sind Menschen, die das Ende der sozialistischen Kommandowirtschaft herbeigeführt haben. Jetzt fühlen sie sich als Spielball einer egoistischen Wirtschaftspolitik mißbraucht. ({6}) Die deutsche Stahlpolitik wird der Testfall einer sozialen Marktwirtschaft. ({7}) Die Stahlpolitik wird nicht Gegenstand der Verhandlungen zum Solidarpakt sein, aber sie ist ein Gradmesser der Fähigkeit zur Solidarität. Gesamtstaatliches Handeln ist hier gefordert. Abwarten hilft weder im Westen noch im Osten. Es ist Zeit für einen effektiven Runden Tisch „Stahl". ({8}) Sie sollten den Begriff, der sich bei uns voll bewährt hat, auch hier ernst nehmen. ({9}) Der Bund ist gefordert, beim Stahl einen Einstieg in gemeinsames Handeln zu starten. Die Nagelprobe für einen ehrlichen Solidarpakt hat mit der Stahlkrise begonnen. Ich danke Ihnen. ({10})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Norbert Blüm das Wort.

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir können über vieles streiten, nur nicht über Fakten. Deshalb stelle ich fest: Erstens. Für ABM stehen im Haushalt für 1993 9,9 Milliarden DM zur Verfügung. Keine Mark ist gekürzt. 9,9 Milliarden DM für ABM! ({0}) - Das steht neu zur Verfügung. ({1}) Zweitens. § 249h des Arbeitsförderungsgesetzes Arbeitsförderung Ost: Die Inanspruchnahme dieser Arbeitsförderung Ost ist nach oben unbegrenzt. ({2}) Wir stellen den Trägern der Umweltsanierung und der freien Jugend- und Sozialarbeit ein pauschaliertes Arbeitslosengeld zur Verfügung. Das sind die Fakten. Die Verteilung der ABM-Stellen - das ist meine dritte Klarstellung - folgt freilich nicht durch die Bundesregierung, sondern durch die selbstverwaltete Bundesanstalt für Arbeit. ({3}) Wenn die Bundesanstalt für Arbeit 1992 unter anderen Bedingungen, unter Konditionen erhöhter Zuschüsse, ABM-Plätze für 1993 bewilligt hat, sinkt 1993 freilich die Zahl der ABM-Plätze. Wir sind von 350 000 Stellen ausgegangen. Der Präsident der Bundesanstalt schätzt für dieses Jahr einen Durchschnitt von 300 000 Stellen. Das sind die Fakten. Meine letzte Bemerkung, Herr Ministerpräsident: Keine Bundesregierung vor uns hat für Arbeitsmarktpolitik so viel getan wie diese Koalition. ({4}) Das sind die Fakten.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Dem Minister Blüm kann ich die Redezeit nicht beschränken; dem Abgeordneten Blüm muß ich bei einer Kurzintervention die Redezeit beschränken. Deswegen, Herr Abgeordneter Blüm, bitte ich Sie, zum Ende zu kommen.

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deshalb mein letztes Wort: Laßt uns nicht über Fakten streiten, sondern über Strategien, und die Fakten nicht verdrehen! Darum bitte ich Sie, Herr Ministerpräsident. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Auf eine Kurzintervention kann nicht mit einer Kurzintervention geantwortet werden. Deswegen kann ich dem Abgeordneten Schreiner nicht das Wort erteilen. Aber Herr Ministerpräsident des Landes Brandenburg, wenn Sie es wünschen, können Sie noch einmal antworten. Ministerpräsident Dr. Manfred Stolpe ({0}): Herr Bundesminister, wir werden Gelegenheit haben, diese Themen zu vertiefen. Wir werden das klären. ({1}) Herr Bundesminister, Sie haben die Zielzahl von 350 000 bestätigt. Davon sind wir ausgegangen. Sie wissen genau wie ich: Wenn die Mittel eingefroren werden, dann fallen uns so viele Plätze weg, daß wir am Jahresende auf die von mir genannte Zahl kommen werden. ({2}) - Wenn sich nichts ändert, meine Damen und Herren, sprechen wir uns wieder. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Kuhlwein, Ihren Ausdruck „Meute" möchte ich rügen. Das ist unparlamentarisch. ({0}) - Zwingen Sie mich bitte nicht, Herr Abgeordneter Reuschenbach, auch Ihnen einen Ordnungsruf zu erteilen. Das Wort hat nunmehr der Minister für Wirtschaft, Dr. Günter Rexrodt.

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Stahlkrise in Deutschland, in Europa, in den Industrieländern hat konjunkturelle und hat strukturelle Ursachen. Konjunkturell, weil beispielsweise die Autoindustrie und der Maschinenbau weniger kaufen. Sie haben selbst Probleme. Strukturell, weil weltweit mehr Kapazität, als selbst bei guter Konjunktur ausgelastet werden könnte, auf dem Markt ist. Außerdem ist die Nachfrage aus Osteuropa weggefallen, und die osteuropäischen Anbieter drängen auf unsere Märkte. Zu erwähnen ist auch die Abschottung, die in den USA stattfindet. Seit der letzten Stahlkrise Mitte der 70er Jahre ist allen bekannt, daß das Angebot höher als die Nachfrage ist und daß nach einer guten Konjunkturphase, wie das anfangs 1991/1992 noch der Fall war, der Markt einbrechen wird. Festzustellen ist, daß auch die deutschen Stahlunternehmen die Anpassung verzögert und unterlassen haben. In guten Jahren für die Stahlindustrie sind keine ausreichenden Reserven gebildet worden, und die Produktion hat oft zu teuer stattgefunden. ({0}) Diese Versäumnisse sind im übrigen nicht nur dem Management anzulasten - dem auch -, sie wurden vielmehr in den montanmitbestimmten Aufsichtsräten abgesegnet. Die richtigen Entscheidungsalternativen, die es gab, sind kurzfristigen und zur damaligen Zeit falschen Arbeitsmarktinteressen geopfert worden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Minister, sind Sie bereit, eine Frage des Abgeordneten Weiermann zu beantworten?

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Ja, bitte.

Wolfgang Weiermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002447, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundeswirtschaftsminister, ist Ihnen nicht bekannt, daß mit der Fusion von Krupp und Hoesch die Montan-Mitbestimmung in der letzten Stahlobergesellschaft sozusagen verschwunden ist und daß im Stahlbereich zwar bei Tochterunternehmen Mitbestimmung herrscht, diese aber im Regelfall wiederum durch die Konzerne beherrscht werden? Ist Ihnen das nicht bekannt?

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Mir sind die Mitbestimmungsverhältnisse in den Stahlunternehmen sehr gut bekannt. ({0}) Ich bleibe aber bei meiner Aussage, daß die Verzögerungen, die stattgefunden haben, und die Nichtentscheidungen, darauf zurückzuführen sind, daß es einen Konsens der Arbeitnehmerseite und der Arbeitgeberseite in den Unternehmen gab, bestimmte Dinge, die notwendig waren, zu damaliger Zeit nicht zu tun. ({1}) Die Verzögerungshaltung von damals wurde als besonders sozial begrüßt. Sie war das Gegenteil. Jetzt, wo unübersehbar ist, daß die Rechnung nicht aufgeht, soll die Verantwortung einseitig beim Staat, bei der Politik abgegeben werden. So läuft das nicht, meine Damen und Herren. ({2}) Ich sage es immer wieder - ich stehe ja zu meinem Wort, das hier so oft zitiert wird; aber es muß relativiert werden -: Der Staat, auch der Bund wird seinen Part spielen, aber eben seinen Part spielen. Das ist kein unwichtiger, aber ein spezifischer Part. ({3}) - Wir sprechen, Herr Abgeordneter Reuschenbach, mit allen, wenn es sinnvoll ist, auch mit mehreren gleichzeitig. Wir flankieren die soziale Anpassung durch Hilfen nach Art. 56 des Montanvertrages mit ca. 200 Millionen DM jährlich. Das erhalten die Arbeitnehmer in anderen Branchen im übrigen nicht. Von Brüssel kommt darüber hinaus noch eine Menge anderes Geld. Herr Abgeordneter Reuschenbach, Sie haben vorhin - das ist sehr plakativ - in den Raum gestellt: „Nun handelt, nun überweist einmal! " Das tun wir ja, wenn die Zeit gekommen ist. ({4}) - Lesen Sie es im Protokoll nach, wenn Sie sich nicht erinnern können! Wenn die Zeit gekommen ist, wenn es Anträge gibt, wenn Brüssel genehmigt - und Brüssel wird genehmigen -, wird dieses Geld überwiesen. Die Bundesregierung steht zur sozialen Absicherung, zur Flankierung und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze mit regionalen Förderungsmitteln und anderem mehr. Wir fördern aus verschiedenen Töpfen, auch aus Töpfen der EG. Wir setzen uns generell intensiv für Verbesserungen der Standortbedingungen ein. Da ist noch viel zu tun. Das wird auch den Stahlunternehmen und den Stahlstandorten zugute kommen. Wir sind auch bereit, als Moderator aufzutreten, wenn dies gewünscht ist. ({5}) Dazu zählt im übrigen auch, daß wir uns dafür einsetzen, daß das Mandat für den ehemaligen Generaldirektor Braun, der eine von allen Seiten unbestritten wichtige Koordinierungsfunktion wahrnimmt, verlängert wird. Wir nehmen in Brüssel die deutschen Interessen mit Entschiedenheit wahr, wie es unsere Pflicht ist, wie es unser Anliegen ist und wie es selbstverständlich ist: nachhaltig und immer wieder. Die Fortschritte, die in den letzten Jahren, beispielsweise bei europäischen Beihilfen, gemacht worden sind, sind zu weiten Teilen dem entschiedenen Bemühen und den Initiativen der Bundesregierung zuzuschreiben. Das Ganze trägt jetzt Früchte. Es ist keineswegs so, daß die Deutschen die alleinigen Opfer wären. Auch Belgien, auch Frankreich, auch Großbritannien, auch Luxemburg haben Opfer gebracht. Es wird immer wieder mit Statistiken gearbeitet. Ich habe eine Statistik hier, aus der ich Ihnen hinsichtlich der Opferverteilung in Europa je nach Basisjahr beweisen kann, daß die Entwicklung so oder so verlaufen ist. Das bringt überhaupt nichts. Sie kennen den Spruch über die Statistik. Tatsache ist, daß alle Opfer gebracht haben, auch die Deutschen. Tatsache ist aber auch, daß sich Disziplin und Opfergleichheit in Italien und Spanien nicht durchgesetzt haben, sondern daß sich diese Lander der Opfergleichheit entzogen haben. Und wir werden mit Nachhaltigkeit - warum sollten wir das nicht tun? - darauf drängen, daß hier angemessene Lösungen gefunden werden. Nur, meine Damen und Herren - das darf ich auch einmal sagen, und da möchte ich auch für ein bißchen Vorsicht und ein bißchen Fairneß im deutschen Interesse werben -, wir haben auch Interessen in Brüssel. Da gucke ich Sie an, Herr Ministerpräsident Stolpe. Da muß einiges durchgesetzt werden, und da besteht die Notwendigkeit, daß einstimmig abgestimmt wird. Deshalb sollten wir diese Dinge mit der gebührenden Vorsicht angehen und nicht provozieren. Das dient nicht den deutschen Interessen. Hier würde ich auch niemanden vorführen. ({6}) Der EG-Ministerrat hat nicht zuletzt auf mein Drängen am 25. Februar 1993 der Industrie einen gewissen Freiraum verschafft zur Umstrukturierung durch unternehmensübergreifende Planung, Freiraum auch für die Stabilisierung bei den Preisen. Da sind ja - das ist heute schon zitiert worden - erste positive Entwicklungen in Gang gekommen. Dies ist meines Erachtens allemal die bessere Lösung als die „manifeste Krise" durch Produktionsquoten oder durch Preisregulierungen. Bei Quoten schneiden die deutschen Unternehmen im allgemeinen schlechter ab, als es ihrem Anteil an der EG-Produktion entspricht. Die ostdeutschen Unternehmen würden ganz besonders schlecht abschneiden, Herr Ministerpräsident Stolpe. Im übrigen ist die Erfahrung der Vergangenheit, daß diese Quoten und Preisabsprachen allenthalben durchbrochen werden, daß sie niemals kontrollierbar sind. Im übrigen kommt hinzu, daß sich Unternehmen, die sich in einer Strukturkrise befinden, in Sicherheit wähnen und nicht die Rationalisierungsmaßnahmen durchführen, die sie eigentlich durchführen müßten. Die Quotenregelung und die Preisregulierung sind das Falscheste, was man sich betriebswirtschaftlich und darüber hinaus volkswirtschaftlich wünschen kann. ({7}) Warum sollte eigentlich die Bundesregierung nicht in den Chor derer einstimmen, die die „manifeste Krise" wollen? Das ist ja viel einfacher für uns. Da würden wir Handlung zeigen, da würden wir uns vor die Leute stellen. „Manifeste Krise": Die europäischen Instrumente würden eingesetzt. Warum sollten wir das nicht tun? Da würde die Bundesregierung überhaupt keinen Schaden nehmen. Wir tun es nicht, weil das eine falsche Lösung ist, weil das falsche Vorschläge sind, weil das nicht durchführbar ist. Wir sind an der Sache orientiert. ({8}) Nicht eine Tonne Absatz mehr gäbe es durch Quotenregelungen, und nicht eine Rationalisierungsmaßnahme wäre verzichtbar. Es gäbe zwar öffentlichkeitswirksame Effekte, aber die können uns nicht davon abhalten, das zu tun, was wirklich notwendig ist. Noch einmal: Haltung und Strategie in Brüssel werden mit allen abgestimmt. Das können Sie beobachten, jeden Tag. Wir sprechen mit den Unternehmen, wir sprechen mit der Wirtschaftsvereinigung Stahl, wir sprechen mit den Gewerkschaften, wir sprechen mit den Ländern. Es findet permanent eine Konferenz statt. Eine nationale Stahlkonferenz findet allerdings nicht statt. Sie wird von jenen, die sie so vehement fordern, als Alibi-, als Showveranstaltung verstanden. ({9}) Eine Alibi- und Showveranstaltung wollen wir nicht machen. Vielmehr wollen wir unsere Arbeit machen. Die Verantwortung soll anderen vor die Tür gelegt werden, der Schwarze Peter soll hin und her geschoben werden, als ob das den Stahlarbeitern hilft. ({10}) Jeder muß seiner Verantwortung gerecht werden. Als erste sind die Unternehmen in mitbestimmenden Gremien gefordert. Krupp handelt im übrigen richtig, wenn jetzt entschieden wird. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen: Eine Entscheidung, die jetzt getroffen wird, hätte man leichter umsetzen können, wenn sie früher getroffen worden wäre. Aber dazu war offensichtlich die Kraft nicht da. Heute wird es schwerer. Die Mitarbeiter, die an Ruhr, Saar und im Osten Deutschlands betroffen sind, sind hart getroffen. Wenn dies die Bundesregierung feststellt, weiß ich, daß damit den Menschen nicht geholfen ist. Ich kann aber nur sagen: Wir sind uns dessen bewußt. Ich wiederhole auch: Wir werden die soziale Flankierung vornehmen, und wir werden unseren Teil dazu beitragen, daß Ersatzarbeitsplätze in zukunftsorientierten Industrien an den Standorten geschaffen werden können. Das ist ehrlich gemeint. Die Mittel stehen zur Verfügung. Mehr ist im Moment nicht zu tun. Stahlstandorte zu erhalten, die nicht erhalten werden können, ist nicht möglich. Das müssen auch die betroffenen Menschen - so hart das für das individuelle Schicksal ist; das weiß ich sehr wohl - leider auch verstehen. Aus gegebenem Anlaß ist festzuhalten: Es gibt Stahlunternehmen, bei denen es dramatischer zugeht als an Ruhr und Saar, beispielsweise in den neuen Bundesländern. Von 1989 bis zur Stabilisierung, die wir in zwei bis drei Jahren erwarten, verschwinden im Osten Deutschlands 85 % der Arbeitsplätze in der Stahlwirtschaft. Ich wiederhole: 85 %, und dies in vier bis fünf Jahren! Von 68 000 Stahlarbeitsplätzen im Jahre 1989 gab es Ende 1992 noch 16 000 Arbeitsplätze. Ich sage auch hier der Fairneß halber: Es hilft den betroffenen Menschen in Rheinhausen an der Ruhr nicht, wenn ich diese Zahl hier vortrage. Aber das ist die Entwicklung. Ich finde, es steht uns gut an, - auch den Menschen an der Ruhr, auch den Politikern an der Ruhr -, wenn Solidarität zwischen Ost und West nicht immer nur beschworen, sondern wenn sie auch gezeigt wird. ({11})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Minister Rexrodt, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Philipp zu beantworten?

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Ja, bitte.

Ingeborg Philipp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Wenn die Notsituation sehr groß geworden ist, sollte man auch ungewöhnliche Schritte tun. Ich habe mir folgendes überlegt, da ich auch eine langjährige Stahlwerkerin bin. Wenn wir dazu übergehen, den Acht-StundenTag als Sechs-Stunden-Tag weiterzuführen, dann kommen wir auf eine 28-Stunden-Woche, und wir können aus 2 000 Arbeitsplätzen 3 000 Arbeitsplätze machen. Das ist machbar. Wir könnten damit endlich einen positiven Effekt mit Blick auf die Steuererhöhungen erreichen, die gefordert werden. Diese Frage möchte ich stellen. Ich weiß, daß Männer in diese Richtung -

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Abgeordnete, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Frage kurz und präzise formulieren würden; sonst müssen Sie sich zu einer Kurzintervention melden.

Ingeborg Philipp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Es ist die Frage: Hat die Bundesregierung daran gedacht, in dieser Notsituation auf den Sechs-Stunden-Tag überzugehen, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen? ({0})

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Frau Abgeordnete, wenn ich mir den Hinweis erlauben darf: Zunächst einmal ist nicht die Bundesregierung der Arbeitgeber der dort beschäftigten Menschen, sondern das müßten die Unternehmen machen. Die zweite Bemerkung ist: Ich bin eigentlich sehr froh, daß ich in Ihrer Frage bzw. in Ihrem Statement eine ganze Reihe von arbeitsmarktpolitischen Grundsatzpositionen auch meiner Partei wiederfinde. Wir sind nämlich sehr für eine flexible Arbeitszeit, ({0}) wenn diese flexible Arbeitszeit eben so gehandhabt wird, daß jeder dann auch den Lohnanteil bekommt, den er verdient. In der Stahlindustrie dürfte sich aber eine Reihe von technischen, also arbeitsprozessualen Schwierigkeiten ergeben, so daß ich das für nicht oder sehr schwer durchführbar halte. Aber es steht Ihnen frei, bei den Unternehmensleitungen dies ins Gespräch zu bringen. Wenn Sie gestatten, möchte ich jetzt mit meinen Ausführungen fortfahren: Wir haben unsere Pflicht auch in bezug auf die sogenannten Billigimporte aus osteuropäischen Staaten getan. Wir haben sogar das letzte Mal, am 25. Februar 1993 - das darf ich einmal so sagen -, für deutsche Verhältnisse eine sehr ungewöhnliche Haltung im Brüsseler Ministerrat entwickelt, als es darum ging, diese Billigimporte zu begrenzen. Mitte 1992 hatten wir die Anwendung der Schutzklausel gegenüber der CSFR in Brüssel beantragt und durchgesetzt. Es gibt nun Zollkontingente gegenüber der Tschechischen und der Slowakischen Republik, bald wohl auch für Polen. Es gibt Mengenkontingente gegenüber den Staaten der GUS. Darüber hinaus werden alle übrigen Importe überwacht, und das Instrumentarium wird im Zusammenhang mit der Überwachung in Gang gesetzt. Aber, meine Damen und Herren, wir können osteuropäische Länder nicht strikt ausgrenzen. Wir können ihnen nicht Marktwirtschaft vorleben, ihnen Marktwirtschaft empfehlen, dann machen sie Marktwirtschaft, und dann müssen sie völlig draußen vor bleiben. Das geht doch nicht! ({1}) Es ist auch nicht so, daß man da gleich automatisch von Dumping sprechen kann. Ich bin da sehr problembewußt, und wir haben viel getan. Ich habe es eben vorgetragen. Das ist für unsere Verhältnisse außergewöhnlich, was die Freihandelspolitik angeht. Wir haben es getan, aber wir müssen das abwägen. Sie wissen ganz genau, daß da ein Dilemma besteht und daß die ganze Geschichte eine Gratwanderung ist, die wir da machen. Es geht auch nicht an, da immer gleich von Dumping zu sprechen, meine Damen und Herren. Diese Länder haben nun einmal geringere Kosten, und wenn geringere Kosten da sind und auf dieser Basis angeboten wird, dann ist das Marktwirtschaft. ({2}) Das ist im übrigen die Marktwirtschaft, die wir nach dem Kriege praktiziert haben. Da ist das auch von Deutschland umgekehrt so gemacht worden. Wir müssen auch die Stahlverarbeiter beachten, denen es nicht durchweg gutgeht. Sie können nicht auf Dauer Stahl auf dem Binnenmarkt teurer einkaufen als auf den Weltmärkten. Wir können nicht die gesamte stahlverarbeitende Industrie durch einen wasserdichten Außenschutz gefährden. Das will im übrigen auch die Stahlindustrie nicht, wenn man mit ihren Vertretern Gespräche führt, die sachlich orientiert und nicht auf Außenwirkung bedacht sind. Auch deshalb bevorzuge ich diesen Weg. Der Stahlkrise kann man nicht mit einfachen -

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Der Abgeordnete Vondran wollte noch eine Zwischenfrage stellen. Bitte schön.

Dr. Ruprecht Vondran (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002394, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, Sie haben von den günstigen Kosten der osteuropäischen Stahlproduzenten gesprochen. Das ist sicherlich für die Lohnkosten zu akzeptieren, obwohl da vielleicht nur ein Drittel oder ein Viertel westlicher Produktivität vorhanden ist. Aber würden Sie das auch für Kohle, für Erz, für Strom, für Frachten gelten lassen? Würden Sie es für die Frage gelten lassen, wie dort etwa Kapital behandelt, eingesetzt wird? Würden Sie es auch für die Umweltkosten gelten lassen? Oder ist es nicht so, daß in all diesen Kostenelementen hohe Subventionen stecken? ({0})

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Herr Abgeordneter Vondran, das ist nur bedingt richtig. Wenn Sie die Produktionskosten von Erz und Kohle ansprechen, dann würde ich sagen, daß das, was ich eben vorgetragen habe, richtig ist. Wenn Sie Umweltschutz und Kapitalbehandlung ansprechen, mache ich Abstriche. Aber ich bitte zu bedenken, daß wir anderen Ländern nicht vorschreiben können, wie sie ihre volkswirtschaftlichen oder umweltrelevanten Kosten in betriebswirtschaftliche Kostenrechnungen einbeziehen. Das machen auch westliche Handelspartner anders als wir, und eine einheitliche wirtschaftliche Kalkulationsgrundlage weltweit zu fordern, um daraus nationale Beschränkungen oder Öffnungen abzuleiten, das kann man nicht ohne weiteres tun. Herr Abgeordneter Vondran, lassen Sie mich aber sagen, daß wir problembewußt sind. Das ist ein differenziertes Thema, und ich sage ein drittes Mal, wir haben uns - und ich bin Ihnen dankbar, daß Sie das auch gewürdigt haben - in Brüssel dafür eingesetzt, daß bei den Dingen, die offensichtlich zu einer Gefährdung führen, weil die Grundlagen da auch nicht in Ordnung sind, Zollkontingente und Mengenkontingente vereinbart worden sind. Meine Damen und Herren, der Stahlkrise kann man nicht mit einfachen Parolen beikommen, mit platten Schuldzuweisungen, mit Hin- und Herschieben von Verantwortlichkeit, mit Unterstellen von Tun und Unterlassen. Das bringt überhaupt nichts. Ich habe auch den Eindruck, daß die Menschen an der Ruhr und auch die Gewerkschaften als die Vertreter dieser Menschen das begriffen haben. Worauf es ankommt, ist, daß wir mit Augenmaß an die Dinge herangehen, daß wir Zusammenarbeit pflegen und daß wir uns abstimmen. Wir als Bundesregierung tun das, und im übrigen ist das die Voraussetzung dafür, daß wir deutsche Interessen in Brüssel durchsetzen können, was nicht sehr einfach ist. Lassen Sie uns aufhören mit der Polemik. Sie schaden denen, denen Sie helfen wollen. Wir spielen unseren Part, wir spielen ihn hier und in Brüssel, ({0}) jeden Tag, an der Sache orientiert, im Interesse der Stahlwirtschaft und im Interesse der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sachbezogen, ruhig und auf eine gute und zukunftsorientierte Lösung bedacht. Schönen Dank. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Dr. Otto Graf Lambsdorff das Wort.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Mißverständnis hat ergeben, daß ich nicht unmittelbar nach dem Herrn Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg zu Wort gekommen bin. Herr Ministerpräsident, Sie haben uns eingeladen, mit Ihnen gemeinsam die brandenburgische Stahlindustrie zu besuchen. Ich möchte die Einladung gern annehmen und bitte um einen Terminvorschlag. Den Ort, zu dem wir dann gemeinsam fahren können, suchen Sie bitte aus. Ich bin bereit, mit Ihnen dort die Position zu vertreten, die Sie hier genannt haben, daß Sie z. B. für EKO Stahl staatliche Beihilfen aus der Treuhandanstalt, aus den Landesregierungen, aus der Bundesregierung brauchen. Aber da mache ich auch darauf aufmerksam, und zwar nicht nur Sie, sondern auch Ihre sozialdemokratischen Kollegen, daß es verteufelt schwierig ist, in der Europäischen Gemeinschaft einerseits die Erlaubnis zu beantragen, solche Beihilfen zu bezahlen, und andererseits Subventionsverbote zur Verhinderung der Verfälschung des Wettbewerbs durchzusetzen. Deswegen sage ich Ihnen: Lassen Sie die Finger von der manifesten Krise. In dieser Konstellation wird das für Deutschland außerordentlich schwierig. Drittens zu den Importen, meine Damen und Herren: Ich bin dafür, daß wir Regelungen und Kontingentierungen finden und nicht alles ins Land hineinlassen können. Mit dem Dumpingvorwurf, Herr Vondran, werden wir nicht weit kommen, aber ganz zumachen, nichts hereinlassen, da gilt der Satz: ({0}) Wenn die Importe nicht kommen, dann kommen die Menschen! ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Hans-Eberhard Urbaniak.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist so, daß Herr Rexrodt darauf aufmerksam gemacht hat, unser Antrag zur nationalen Stahlkonferenz ziele auf eine Showveranstaltung ab. Ich kann Ihnen hier nur sagen, daß die Sozialdemokraten in schwierigen Zeiten immer die Zusammenarbeit angeboten haben. Sie haben den Vorschlag, sich am runden Tisch zusammenzusetzen und Fragen der deutschen Einheit zu erörtern, dreimal ausgeschlagen. Nun haben Sie Probleme, die Sie überhaupt nicht mehr meistern können. Hier würden wir aber in einer branchenspezifischen Abstimmung mit unserer Konferenz durchaus einen Weg nach vorn eröffnen. Darum fordern wir Sie auf, unserem Antrag Folge zu leisten. ({0}) Der zweite Punkt: Herr Rexrodt, Sie haben in der Aktuellen Stunde hier gesagt: Auch ich werde zu den Menschen gehen. Der Kollege Lambsdorff hat das seinerzeit in vielen Betriebsversammlungen gemacht. Ich habe noch nicht gehört, daß Sie in einer Vertrauensleutesitzung oder in einer Belegschaftsversammlung waren und mit den betroffenen Menschen gesprochen haben. Ein Minister sollte das, was er sagt, auch einlösen. Also zeigen Sie in dieser Frage Aktivität! ({1}) Der dritte Punkt: Sie sagen, Mittel für die Bewältigung der wirtschaftlichen Fragen, der Kapitalfragen sowie der sozialen Fragen stünden hinreichend zur Verfügung. Wir werden in den Beratungen des Wirtschaftsausschusses, des Haushaltsausschusses und auch des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung hören, wie die Dinge von der Bundesregierung materiell ausgestaltet werden. Kommen Sie da nicht mit einem schlanken Konzept! Denn eines ist für die Sozialdemokraten klar: Die betroffenen Arbeitnehmer, die durch diese Entscheidungen überrollt worden sind, tragen nicht die Schuld dafür, daß Stahlstandorte plattgemacht werden. Darum müssen wir Sozialpläne haben, die finanziell ausgestaltet werden, und wir lehnen betriebsbedingte Kündigungen selbstverständlich ab, meine Damen und Herren. ({2}) Was die Fragen der Massenfreisetzungen angeht, die uns in den letzten 24 Stunden bekanntgeworden sind, so sehe ich kein Konzept der Bundesregierung, wie sie damit fertigwerden will, auch nicht was die Frage der Ersatzarbeitsplätze angeht. Ich darf darauf aufmerksam machen, daß wir seinerzeit die Art. 58 und 56 praktiziert haben. Beides hat uns in eine Phase der Stabilität gebracht. Diesen damals zustandegekommenen Konsens erwarten wir heute wieder. Sie lehnen das ab. Das ist eine schlechte Position. Wenn wir jetzt in diese Schwierigkeiten gekommen sind, Herr Rexrodt, dann sage ich: In der damaligen Phase, als der Art. 58 abgelöst worden ist, hat das Subventionsunwesen um sich gegriffen. Warum hat da die Bundesregierung nicht geschaltet und gesagt: Dieses muß man verhindern, Sie sind doch über jeden Antrag, der der Kommission in dieser Frage zugeht, unterrichtet. Daher sage ich: Sie tragen eine große Schuld an der Situation. ({3}) Ich sage zum Schluß: 200 000 Stahlarbeitnehmer sind in den letzten 20 Jahren freigesetzt worden. Das ist alles sozial flankiert worden und war eine gute Sache. Es gereicht auch dem demokratischen Staat zur Ehre, wobei wir nur einen Vertrag ausgenutzt haben, der dazu in den fünfziger Jahren abgeschlossen worden ist. Darum verlangen wir auch heute, daß der Art. 56 voll ausgenutzt wird. Abschließend: In einer Vertrauensleuteversammlung der IG Metall mit Betriebsräten - eine große Veranstaltung vor vier Wochen - wurde ein Mann besonders begrüßt. Das war der Direktor des Arbeitsamtes. Die Kollegen haben in diesem Jubel gesagt: Das ist unser neuer Chef. - Das kann ja wohl keine Perspektive sein! Treten Sie deshalb mit uns dafür ein, daß betriebsbedingte Kündigungen vermieden, Ersatzarbeitsplätze geschaffen werden und das unselige Subventionswesen beseitigt wird. Nur so können wir eine akzeptable Lage für die Arbeitnehmer in den Stahlstandorten und für die Bevölkerung bekommen. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Erich Fritz das Wort. ({0})

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, der Herr Bundeswirtschaftsminister hat hier eindringlich vorgetragen - im Unterschied zu Ihnen, Herr Reuschenbach -, daß das, was in Brüssel herausgekommen ist, ein wirklicher Schritt nach vorne ist, daß das ein richtiges Ergebnis war und daß die Auswirkungen bereits jetzt positiv spürbar sind. Es zeigt vor allem auch den politischen Willen, die Krise zu meistern, auch wenn dabei nicht alle Blütenträume sofort reifen können. Daß die Unternehmen jetzt eine vernünftige Grundlage haben, und zwar für konzernübergreifende Konzepte, ist von unschätzbarem Wert. ({0}) - Sie können ja nicht da sein, bevor die Voraussetzungen dafür überhaupt geschaffen worden sind. Jetzt können sie geschaffen werden. Sie müssen auf den Tisch. Das haben wir verschiedentlich angemahnt, und jetzt kommen sie ja auch. Die Entscheidung der Krupp Stahl AG von vorgestern ist für einen Dortmunder Abgeordneten natürlich eine gewisse Erleichterung, weil sie den Standort Dortmund gewährleistet. Sie ist aber dennoch ein schwerer Schlag für das Ruhrgebiet, das wir als einheitliche Wirtschaftsregion verstehen. Ich sehe in der Entscheidung für Dortmund auch eine Bestätigung für öffentliche Vorleistungen. Die Vorleistungen, die diese Bundesregierung für den Standort Dortmund erbracht hat: Bau der Conti Glühe, die Großkokerei, die Schachtschleuse, ({1}) die Infrastrukturmaßnahmen usw. Ich sage das, was Sie den Leuten draußen alles verschweigen. ({2}) Sie tun so, als wenn diese Region in den vergangenen Jahren im Stich gelassen worden wäre. Dabei wissen Sie so gut wie ich, daß gerade diese Bundesregierung ein Vielfaches dessen, was jemals für das Ruhrgebiet getan worden ist, getan hat. ({3}) Diese Kapazitätsanpassung heißt für Dortmund, daß im Montanbereich, in dem seit Jahren Tausende von Mitarbeiterstellen abgebaut worden sind, eine schwere zusätzliche Belastung kommt, 2 400 mehr, die durch die Strukturpolitik der letzten Jahre nicht aufgefangen werden konnte. Allerdings soll auch niemand so tun, als käme das ganz unvorbereitet; denn jeder weiß natürlich, daß auch das Konzept Hoesch 2 000 bereits einen umfangreichen Personalabbau vorgesehen hat. Das heißt: Auch in der Phase der hohen Auslastung war dem Unternehmen bereits klar, daß eine solche Anpassungsphase wieder nötig werden würde. Wichtig ist jetzt, daß die gefällten Entscheidungen nicht nur ein weiterer Schritt abwärts sind, sondern daß auf einem konsolidierten Niveau eine neue Perspektive für die Betriebe und die Beschäftigten entstehen kann. Neue Perspektiven brauchen allerdings auch die vom Personalabbau betroffenen Arbeitnehmer und ihre Familien. Deshalb ist eine konzentrierte Anstrengung für Ersatzarbeitsplätze nötig, die auch die Unternehmen in die Pflicht nimmt. Am Standort zu investieren sollte in Zukunft vor dem Zukauf quer durch die Republik Vorrang haben. Ich glaube, daß die Wirtschaft des Raumes auch einiges zu bieten hat. Der Arbeitsmarkt ist in Bewegung. ({4}) - In der Tat, die Arbeitslosenzahlen steigen. - Er ist auch in sich in Bewegung, wenn Sie die Arbeitsämter fragen. Die Angebote des Handwerks und der mittelständischen Industrie müssen aufgegriffen werden. Darin steckt eine ganze Menge an Potential für neue bzw. andere Arbeitsplätze. ({5}) - Wenn Sie darüber lachen, dann zeigt das nur, daß Sie aus dem Denken der vergangenen Jahre nicht herauskommen. ({6}) Sie können doch nicht in einer Situation, in der wir den Menschen in den ostdeutschen Bundesländern eine völlige Umstellung auf andere Bereiche, auf neue Lebensziele und auf neue Berufe tagtäglich zumuten, so tun, als könnten wir in der alten Art und Weise im Ruhrgebiet über die feine Art ohne jede Zumutung, sich auch selber neue Ziele zu stecken und neu anzufangen, auskommen. Das glauben Sie doch wohl selber nicht.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Fritz, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Urbaniak zu beantworten?

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Immer.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte sehr.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Fritz, Sie sagten, der Arbeitsmarkt sei in Bewegung. Meinen Sie damit die aufsteigenden Prozentzahlen von mehr Arbeitslosen zwischen Duisburg, Dortmund, Unna, Essen und Bochum? Oder was meinen Sie eigentlich? ({0}) Denn die Zahl der Arbeitslosen steigt doch unerträglich.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Urbaniak, das ist doch eine reine rhetorische Frage. Ich habe das gerade doch schon gesagt, und zwar auf den Zwischenruf von Herrn Jens, der wesentlich seriöser war als Ihre Zwischenfrage. ({0}) Neben dem Anstieg der Arbeitslosigkeit - Sie kennen doch die Zahlen aus Dortmund und aus dem Landesarbeitsamt auch - ist der Arbeitsmarkt auch in sich in Bewegung. Das heißt: Es gibt auch Neuvermittlungen. Es gibt auch neue Arbeitsplätze in anderen Bereichen. Wir müssen Menschen, die natürlich in einer existentiellen Situation sind, aber auch zumuten, daß sie selber dazu beitragen, daß neue Perspektive entsteht. Das ist nicht nur - wie in vergangenen Zeiten - alles vom Staat, vom Steuerzahler zu erhalten. Der Stahl und die Stahlarbeiter gehören nun wahrlich im Ruhrgebiet nicht zu den Stiefkindern der Nation.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Fritz, der Abgeordnete Urbaniak bittet Sie, noch eine weitere Frage zu beantworten. Sie können das jedoch verweigern. Aber fragen muß ich Sie das.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gut, bitte sehr, ich verweigere nichts.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte schön.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Fritz, können Sie mir bestätigen, daß wir gerade in den letzten Wochen und Monaten einen steilen Anstieg der Arbeitslosigkeit im Ruhrgebiet festzustellen haben und daß das bei den Massenfreisetzungen in der Stahlindustrie noch einen zusätzlichen negativen Auftrieb geben wird? ({0})

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich kann auch zum dritten Mal bestätigen, daß das so ist. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß der Arbeitsmarkt in sich in Bewegung ist. Meine Damen und Herren, weil die Kollegen von der SPD immer gern verschweigen und so tun, als sei das ganze Problem ein Problem der Bundesregierung und als hätte die Bundesregierung den Schlüssel der Lösung dieser Probleme in der Tasche, erinnere ich einmal an den Einsatz dieser Bundesregierung: an den Einsatz Norbert Blüms für das Zustandekommen der Frankfurter Vereinbarung; an die Ruhrgebietskonferenz beim Bundeskanzler, nach der Ihre Oberbürgermeisterkollegen anschließend Beifall geklatscht haben, weil das eine große Sache war; ({0}) an das Stahlstandortesonderprogramm, an das Programm für die Montanregion, an die Art und Weise, wie wir immer gemeinschaftlich die Strukturpolitik betrieben haben, wofür ja ungeheure Summen an flankierenden Maßnahmen eingegangen sind.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Der Abgeordnete Reuschenbach möchte gern eine Frage stellen. Beantworten Sie die?

Peter W. Reuschenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001827, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Fritz, Sie haben eben zu Recht die Konferenz, die der Bundeskanzler auf Ratschlag vieler, auch aus eigener Einsicht einberufen hat, gelobt. Sie haben nicht gesagt, daß das eine Schauveranstaltung gewesen sei. ({0}) - Das habe ich auch gar nicht behauptet; hören Sie doch zu! Sie haben nicht gesagt, daß das eine Schauveranstaltung gewesen sei. Warum wäre dann jetzt eine Konferenz mit allen Beteiligten, den betroffenen Bundesländern, den betroffenen Städten, den Arbeitnehmern, den Arbeitgebern, nun plötzlich eine Schauveranstaltung gegenüber der, die Sie eben zu Recht lobend erwähnt haben?

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube, daß der Unterschied ganz einfach ist, Herr Reuschenbach. Was wir in dieser Situation brauchen - weil Sie auch von Flankierung sprechen -, ist, daß Konzepte da sind. Im Augenblick kann eine solche Veranstaltung gar nichts anderes sein als ein allgemeines Rundgespräch, und wenn Sie Ihren Ministerpräsidenten in den letzten Tagen angehört haben, dann hat er auch nicht den Ansatz für ein solches Konzept. Sie wissen aber so gut wie ich, daß die Regionalpolitik in erster Linie Politik des Landes ist. ({0}) Das heißt, als erstes müssen jetzt die Vorstellungen der betroffenen Regionen und Länder auf den Tisch, und dann können wir uns über den nächsten Schritt unterhalten.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Der Abgeordnete Reuschenbach möchte eine weitere Frage stellen, und dann haben wir noch einen Fragewunsch von Herrn Abgeordneten Jens. ({0}) Aber ich möchte bitten, daß auch dem Redner die Chance gegeben wird, einige Passagen geschlossen vorzutragen. ({1}) Bitte, Herr Reuschenbach!

Peter W. Reuschenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001827, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Darf ich Ihre Antwort so verstehen, daß nach einer gewissen Zeit, wenn alle Beteiligten vom Bund bis hinunter zur letzten Stadt ihre, wie Sie meinen, Schularbeiten gemacht haben, eine solche Konferenz, wie sie einmal stattgefunden hat und wie Sie sie lobend erwähnt haben, notwendig, richtig und zweckmäßig wäre?

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube, Herr Reuschenbach, daß Sie und Ihre Kollegen sich so intensiv an dieser Vokabel, an diesem Instrument festbeißen, weil Sie nichts anderes anzubieten haben und weil Sie das gebetsmühlenartig wiederholen. ({0}) - Wir haben eine ganze Menge anzubieten. Ich komme gleich darauf zurück, wenn Sie mich weitersprechen lassen. ({1}) - Anträge, Herr Urbaniak, haben Sie schon so viele gestellt, und die haben alle nichts bewirkt. Die können Sie auf Ihren Versammlungen vortragen; aber Sie schaffen dadurch nicht eine Tonne Absatz mehr und nicht einen Arbeitsplatz mehr! Das, was Sie wollen, Herr Reuschenbach, das kann man natürlich genausogut so machen, wie der Wirtschaftsminister es richtig macht, indem er zielgerichtet an den konkreten Punkten mit denen spricht, mit denen gesprochen werden muß. Er ist dafür der richtige Ansprechpartner, und da brauchen wir gar kein weiteres Instrument.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Reuschenbach legt keinen Wert mehr auf die Antwort; er hat sich schon lange gesetzt. Ich kann nun dem Abgeordneten Dr. Jens die Möglichkeit geben, eine Frage zu stellen, und auch noch dem Abgeordneten Hinsken. Aber ich lege Wert darauf, festzustellen, daß ich dann keine weiteren Zwischenfragen bei diesem Redner zulassen werde. - Bitte sehr, Herr Jens!

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Fritz, sind Sie vielleicht bereit, dem Wirtschaftsminister zu sagen, daß es sich bei Stahlproblemen, bei sektoralen Strukturproblemen wirklich nicht um Länderprobleme handelt - es geht doch auch um Brandenburg, es geht um Bremen, es geht um Niedersachsen, es geht um Bayern - und daß deshalb nun wirklich aus meiner Sicht dieser etwas liberalistisch angehauchte Wirtschaftsminister in erster Linie die Verantwortung dafür hat, daß ein Konzept auf den Tisch kommt? ({0})

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie sprechen über unterschiedliche Dinge. Was der Bundeswirtschaftsminister tun muß, das tut er. Er muß die deutschen Interessen in Brüssel durchsetzen, und dabei wollen wir ihm alle den Rücken stärken. Das hat er angefangen, und das muß er weiterführen. Aber alles, was regionale Abfederung, Ersatzarbeitsplätze, Strukturkonzepte betrifft, das ist doch nun wirklich Angelegenheit der Länder, und da kann der Bund nur flankierend eintreten. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun kommt die Frage des Abgeordneten Hinsken.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Fritz, sind Sie mit mir der Meinung, daß es angebracht wäre, außerhalb solcher Konferenzen auch heute bei dieser wichtigen Debatte seitens der wichtigsten Stahlstandortländer zugegen zu sein, zumindest durch die Wirtschaftsminister und Sozialminister, wie das auch von der Bundesregierung erwartet wird und erwartet werden konnte, die heute zugegen ist, während die Länder Nordrhein-Westfalen und Saarland durch Abwesenheit glänzen, was ich überhaupt nicht verstehe? ({0})

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Hinsken, ich widerspreche Ihnen im allgemeinen nicht gern und in diesem Fall schon gar nicht. Das zeigt aber nur, daß alle die von Ihnen Angesprochenen Angst haben, hier wirklich in die Verlegenheit zu kommen, Konzepte auf den Tisch legen zu müssen. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, ich lasse Sie jetzt ungestört weiterreden.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, der Antrag der SPD versucht den Eindruck zu vermitteln, als sei niemand zur sozialen Flankierung der Anpassung bereit. Deshalb nehmen Sie bitte zur Kenntnis, welche Instrumente bereits jetzt zur Verfügung stehen. Da sind zunächst die Mittel nach § 56 des Montanvertrages, und die stockt Brüssel von 210 Millionen auf 450 Millionen - nicht DM, Herr Reuschenbach, sondern ECU - auf, und diese Entscheidung begrüßen wir ausdrücklich. Der Finanzminister muß diese Mittel unmittelbar zur Hilfe für die Arbeitnehmer weiterleiten. Die Bundesregierung wird im gleichen Umfang wie bisher helfen. Mittel dafür stehen im Bundeshaushalt zur Verfügung. Entsprechend der Zahl kann es natürlich sein, daß der Ansatz im Haushalt nicht genau paßt. Das ist eine Sache, die wir dann hier zu regeln haben. Als besonders hilfreich erweist sich in dieser Phase, daß bei der Novellierung des Arbeitsförderungsgeseizes im vergangenen Jahr viele Kolleginnen und Kollegen aus dem Haus mitgeholfen haben, daß die Möglichkeiten des § 128 AFG erhalten bleiben. Dadurch muß die Stahlindustrie bei Frühpensionierung öffentliche Mittel nicht zurückzahlen. Das ist eine Leistung, die jetzt Spielräume schafft und die soziale Abfederung verbessert. Wir sind also nicht ohne Instrumente zur Flankierung. Noch eine Anmerkung: In der Stahldebatte vom 10. Februar habe ich hier den Vorschlag gemacht, die Auffanglinie für abzubauende Mitarbeiter mit verstärkten Anstrengungen zur Aufarbeitung und Vermarktung von Industrie- und Gewerbeflächen zu verknüpfen. Damals habe ich mir aus den Reihen der SPD anhören müssen, das sei der Vorschlag zu einem Arbeitsdienst. Der Herr mit dem Schnauzer war das. Da war ich doch sehr überrascht, am 3. März in der NRZ zu lesen, daß Herr Kollege Reuschenbach eben dies in die Diskussion gebracht hat, und nun finde ich das auch hier im Antrag der SPD. ({0}) Der ehemalige Essener Oberbürgermeister, so lese ich, denke dabei an die Sanierung freigewordener Industrieflächen. Einer wachsenden Zahl von Arbeitslosen stünden im Ruhrgebiet riesige Areale gegenüber. Sie blieben, so heißt es weiter, oft jahrelang unbenutzt und fehlten für die Ansiedlung neuer Betriebe. Warum nicht beide Probleme zusammen angehen?, heißt die abschließende Frage. Zustimmung, Herr Reuschenbach! Aber Sie gehören genau zu der Riege der Oberbürgermeister, die über Jahrzehnte im Ruhrgebiet wesentlich dazu beigetragen haben, daß Flächenrecycling nicht stattgefunden hat, ({1}) und zwar durch die Art und Weise, wie in den Räten im Ruhrgebiet die Verbindung zwischen Großindustrie und Politik dafür gesorgt hat, daß man an andere Strukturen überhaupt nicht gedacht hat. ({2}) - Wissen Sie, Herr Roth, das kann ich doch für meine Stadt Dortmund nun in vielen Einzelheiten beweisen, daß das so ist. Daß der Flächenengpaß ein wesentlicher Blockadefaktor für neue Arbeitsplätze ist, wurde in der letzten Diskussion schon angesprochen. Für Konzepte, wie Sie sie nun vorschlagen, ist das ganz besondere Engagement der Unternehmen gefordert. Das können nicht Beschäftigungsgesellschaften alter Art sein. Mit der Geldforderung allein hat man noch kein Konzept. Deshalb muß nach meiner Meinung dazu beigetragen werden, daß wir in der weiteren Beratung des Konzepts nachdenken, ob wir nicht bestimmte neue Instrumente, die wir für den Osten gefunden haben, tatsächlich auch im Ruhrgebiet und an den anderen Stahlstandorten einsetzen können. Aber das können wir doch nicht tun, bevor überhaupt klar ist, worum es geht. Für die Anpassung der Kapazitäten in der europäischen Stahlindustrie müssen die Planungen transparent gemacht werden. Das ist im Rahmen des Krisenkartells möglich. Auf diese Offenlegung, meine Damen und Herren, haben die Stahlarbeiter und hat die Öffentlichkeit in den betroffenen Regionen einen Anspruch. Es muß nämlich gesichert sein, daß die deutschen Interessen gewahrt bleiben und nicht deutsche Unternehmen übermäßig und in keinem sinnvollen Verhältnis zu den Produktionsmengen und dem Standard der Anlagen bluten müssen. Die EG spricht von insgesamt 50 000 Arbeitsplätzen, die abgebaut werden müssen. Die Zahlen für die Bundesrepublik werden mit 30 000 im Westen und 10 000 im Osten angegeben; das wären vier Fünftel. Rechnet man die Kapazitätsanpassung von ungefähr 30 Millionen Tonnen auf die Mitgliedsländer um, so müßten Italien und Spanien gemeinsam 14 Millionen Tonnen abbauen, die Bundesrepublik 5 Millionen, und das wäre ein Beitrag von 17 %. Entweder stimmen die Zahlenangaben für die ganze EG nicht oder die für Deutschland nicht. Das muß geklärt werden, ganz besonders deshalb, weil die deutsche Stahlindustrie in der Vergangenheit große Beiträge zur Kapazitätsanpassung geleistet hat, besonders in der letzten Stahlkrise. ({3}) Mißtrauen der Stahlarbeiter ist also insofern berechtigt. Ich bitte die Bundesregierung, in Brüssel für eine gerechte Lastenverteilung zu sorgen. Diese Forderung muß deshalb besonders hartnäckig vorgebracht werden, weil ganz offensichtlich die deutschen Unternehmen ihre Vorleistungen in den letzten Jahren zwar am Markt, nicht aber von der EG honoriert bekamen und in dieser Zeit der Subventionszirkus in Europa weitergegangen ist. An dieser Stelle sage ich ein Wort auch an die Kolleginnen und Kollegen, die nicht aus den Stahlregionen kommen: Glauben Sie nicht, daß das, was wir jetzt hier diskutieren, nur ein Thema für den Stahl sei! Subventionen in Europa sind auch in anderen Bereichen problematisch und können es werden. Es kann andere Wirtschaftszweige treffen. Am Beispiel Stahl kann man nur besonders gut ablesen, daß gegen subventionierte Konkurrenz nicht anzukommen ist. Die Subvention von Staatsunternehmen oder staatsnahen Unternehmen mit Partnerländern kann auf Dauer auch in anderen Branchen Gefahr für Arbeitsplätze bringen. Die Bundesregierung ist also gut beraten, wenn sie noch stärker, als sie das in der Vergangenheit getan hat, auf die Einhaltung des Subventionskodex drängt. Dabei müssen wir eingestehen, daß auch die Bundesrepublik in dieser Frage nicht ganz jungfräulich ist und daß bestimmte Dinge, die wir in den neuen Bundesländern vorhaben, damit natürlich auch nur schwer in Einklang zu bringen sind. Die SPD, meine Damen und Herren, versuchte in den letzten Wochen, die Stahlkrise parteipolitisch zu nutzen. ({4}) - Also, Herr Urbaniak, Sie sind daran doch intensiv beteiligt. ({5}) Den Stahlarbeitern soll der Eindruck vermittelt werden, der Bund sei an den Arbeitsplatzverlusten schuld. Das wird gesagt. Die Stahlarbeiter haben aber nicht ein so eingeschränktes Blickfeld, die wissen genau, was los ist. Die wissen auch genau, daß die Bundesregierung immer zur Stelle war, wenn es galt, Montanstandorten zu helfen. ({6}) - Das müssen Sie als ehemaliger Oberbürgermeister nun wirklich nicht fragen. ({7}) Die Stahlarbeiter wissen ganz genau, welche Rolle die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen bei der Übernahme von Hoesch durch Krupp gespielt hat. ({8}) Sie wissen auch ganz genau, wer nach Rohwedder eine Lücke im Management mit katastrophalen Folgen für den Fortgang der Umstrukturierung bei Hoesch zu verantworten hat. Der Aufgalopp der SPD-Größen an den Stahlstandorten wirkt zum Teil sehr aufgesetzt. Wenn ich dann als letzten Satz in der Zeitung lese - vorher war von einem Gespräch mit Herrn Klose in Dortmund die Rede, das nichts gebracht hat -: Dann fuhr er nach Duisburg, um sich noch ein Stahlwerk anzusehen, dann weiß ich, daß da mit Menschen gespielt wird. Es ist ein böses Spiel, Hoffnungen zu erwecken, Hoffnungen darauf, die Politik könnte Dinge regeln, die sie in Wirklichkeit nicht regeln kann, und die Menschen in etwas hineinzutreiben, was nicht einzulösen ist. ({9}) Herr Minister Einert hat an dieser Stelle am 10. Februar wesentlich realistischer gesprochen, als Sie das draußen tun. Was Sie tun, ist nicht in Ordnung. Der Ansatz, der für die Politik eigentlich richtig sein sollte, ist der, daß man sich über die Ausgangslage verständigt und daß man dann gemeinsam das tut, was von der Politik getan werden kann und getan werden muß. Da ist, glaube ich, die Bundesregierung auf dem richtigen Weg. Meine Damen und Herren, der SPD-Antrag wird von uns abgelehnt. ({10}) - Das machen wir sowieso. - Er wird von uns abgelehnt, weil er keinen Schritt macht, die Änderung der Situation seit der letzten Stahlkrise wirklich zur Kenntnis zu nehmen. Sie tun so, als hätte sich in der Zwischenzeit in Deutschland und in Europa nichts geändert. Die alten Instrumente tragen nicht mehr. Deshalb werden wir das so nicht machen, sondern den jetzt eingeschlagenen Weg fortsetzen. Herzlichen Dank. ({11})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zunächst einmal möchte ich feststellen, Herr Abgeordneter, daß der Ausdruck „Quatschkopf" unparlamentarisch ist. Dann erteile ich dem Abgeordneten Henn das Wort zu einer Kurzintervention.

Bernd Henn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000868, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Fritz, ich möchte zu einem Punkt Ihrer Ausführungen eine kurze Anmerkung machen. Sie haben noch einmal sehr scharf gegen die Subventionen in der EG gesprochen und haben eigentlich die Tendenz erkennen lassen, daß Sie Subventionen für die Zukunft verhindern wollen. Nun muß man aber doch zur Kenntnis nehmen, daß im europäischen Raum in der Vergangenheit so viel passiert ist, daß die Unternehmen in den westlichen Partnerländern der EG mittlerweile eine Stahlindustrie haben, die hochproduktiv ist. Ich kann Ihnen das an Hand von Zahlen deutlich machen. In Italien z. B. werden pro Stahlarbeiter 463 t erzeugt, während es in der Bundesrepublik 348 t sind. Das heißt, es hat eine Verzerrung stattgefunden. Wenn Sie jetzt alles dem Markt überlassen wollen, kann es natürlich passieren, daß ausgerechnet die deutsche Stahlindustrie, die sich in der Vergangenheit etwas sauberer verhalten hat, niederkonkurriert wird. Deswegen halte ich es für eine Gefahr, hier nur gegen Subventionen zu reden. Vielmehr müssen Sie auch sagen: Wo will man die Verteidigungslinie für die deutsche Stahlindustrie aufbauen, wie viele Millionen Tonnen sollen es im Rahmen der EG sein? Ich denke, man muß noch einmal darauf hinweisen: Die deutsche Stahlindustrie hat in den 80er Jahren 30 % Rohstahlkapazität gegenüber 7 % im EG-Maßstab abgebaut. Hier ist es doch langsam notwendig, den Anteil an den EG-Kapazitäten zu beziffern, den die deutsche Stahlindustrie erhalten soll. Auch dazu müßten Sie eine Aussage machen können. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Wolfgang Weiermann das Wort.

Wolfgang Weiermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002447, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Fritz, ich will Ihnen einmal ganz deutlich sagen: Das, was z. B. in Dortmund und Rheinhausen mit dem Ruf nach der Politik geschehen ist, und daß sich die SPD und Herr Klose diesem Ruf gestellt haben, war etwas, was ich von Ihrer Fraktion und der anderen Fraktion der Regierung in den stark gebeutelten Industriestandorten bislang nicht erlebt habe. Wir waren da, wir haben mit den Menschen diskutiert, und wir haben auch ihre Wünsche weitergetragen. Das, was wir heute an dieser Stelle auch mit der Einbringung unseres Antrags machen, ist im Grunde genommen nichts anderes, als zu verwirklichen, daß Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, die abhängig beschäftigt sind, auch über dieses Jahr hinaus die Chance bekommen, Arbeit und Brot zu erhalten. ({0}) Das ist die Ausgangsposition unserer heutigen Diskussion. Es geht auch um die Verantwortung der Politik. Den Schwarzen Peter kann man nicht weiterschieben, die wirtschaftspolitische Verantwortung trägt der Bund; daran führt kein Weg vorbei, und das muß auch hier deutlich werden. ({1}) Es gab ständige Mahnungen. Ich war noch gar nicht in diesem Hause, sondern ich war Betriebsratsvorsitzender bei einem Stahlunternehmen, und schon damals, zu Beginn der 80er Jahre, 1981/1982, haben wir deutlich gemacht - wir haben nichts verschlafen -, daß die sich entwickelnden Subventionen, die im Bereich der anderen stahlerzeugenden EG-Länder inzwischen auf 124 Milliarden DM angewachsen sind, dazu führen, den privatwirtschaftlich geführten deutschen Stahl sozusagen vom Markt zu verdrängen. Sie haben bislang zehn Jahre Zeit gehabt, dies zu verhin12544 dern. Sie haben es nicht verhindert, und das werfen wir Ihnen an dieser Stelle heute vor. ({2}) Da gibt es natürlich auch Gemeinsamkeiten; das will ich an dieser Stelle gar nicht verhehlen. Der Wirtschaftsausschuß hat im November des Jahres 1992 die, glaube ich, logische Formel gefunden, zu sagen: Dann darf der deutsche Bundeswirtschaftsminister im EG-Ministerrat so lange keine Zustimmung zu Subventionen für andere EG-Stahlbereiche geben, solange nicht die deutschen Stahlinteressen eine ausreichende Berücksichtigung finden. Das ist doch eine Logik, meine Damen und Herren. ({3}) Italien - vorhin ist schon von der Finsider/IlvaHolding gesprochen worden - hat in den letzten zehn Jahren mit rund 40 Milliarden DM an Subventionen den Löwenanteil der rund 120 Milliarden bekommen. Es folgen Frankreich und England mit etwas geringeren Subventionen, aber auch Belgien hat mit rund 15 Milliarden DM einen Löwenanteil bekommen. Die deutschen Unternehmen - auch das muß einmal klargemacht werden - haben in der Krisenphase der 80er Jahre zwar finanzielle Hilfen in Höhe von 6 bis 7 Milliarden DM bekommen, sie standen aber unter der Verpflichtung, zurückgezahlt zu werden. Das ist auch geschehen. Insofern kann man von Subventionen in dieser Art nicht reden. Ich sage ganz deutlich: Wenn diese Summen - 40 Milliarden DM, 30 Milliarden DM und 15 Milliarden DM - in die deutsche Stahlindustrie geflossen wären, Herr Dr. Vondran, brauchten wir eine Vernichtung von Stahlstandorten in der Bundesrepublik Deutschland zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu beklagen. Das wäre viel Geld gewesen, und die Unternehmen hätten bei dieser Subventionierung in der Tat noch schwarze Zahlen schreiben können. Ich sage einmal: Der deutsche Michel hat über zehn Jahre bei seiner EG-Politik im Ministerrat sozusagen im Tiefschlaf gelegen und ist für die Situation bei Stahl und bei der Kohle verantwortlich. ({4}) - Ja, ja. Ich meine jetzt den Michel, der in Brüssel regierungsverantwortlich hätte wach sein müssen, was ja nicht der Fall war. Nach dem möglichen Aus - ich sage „möglich", weil erst heute die Aufsichtsratssitzung stattfindet - für Rheinhausen herrscht an allen weiteren Standorten Sorge, wie es denn eigentlich weitergehen kann. Ich habe die Bilder, die das Fernsehen in unsere Stuben herüberbrachte, sehr nachdenklich verfolgt. Da sah man die Betroffenheit von Menschen, die nicht wissen, wie es denn weitergehen soll. Kommen Sie doch von dem hohen Roß herunter, zu glauben, daß man heute einen Arbeitsplatz, der in der Stahlindustrie oder auch im Bergbau verlorengeht, sozusagen egalisieren kann mit dem Anbieten eines Arbeitsplatzes in der Maschinenbauindustrie oder in der Automobilindustrie! Auch diese Branchen sind gegenwärtig nicht in der Lage, Menschen aufzunehmen. Deswegen bedarf es keiner billigen Worte, auch an dieser Stelle nicht, ({5}) sondern einer Konzeption, die den Menschen den Mut gibt, daß sie sagen: Unsere Existenz ist über die Jahre gesichert. Deswegen fangen Sie endlich mit einer Wirtschaftspolitik an und hören Sie auf mit entsprechenden naßforschen Aussagen! ({6}) Wir brauchen eine Stabilisierung des europäischen Stahlmarktes mit fairen Wettbewerbsbedingungen, damit die Sicherheit deutscher Montanstandorte erreicht werden kann. Ich habe schon eben gesagt: Wir stehen vor einem Scherbenhaufen der Politik der Bundesregierung. Das klagen wir Sozialdemokraten heute an. ({7}) Die Antwort des Bundeswirtschaftsministers: „Wirtschaft wird in der Wirtschaft gemacht" , macht für mich und für viele Menschen draußen eigentlich nur deutlich, daß auch zukünftig wenig von der Bundesregierung in dieser Frage zu erwarten ist. ({8}) Die SPD-Bundestagsfraktion macht mit ihrem Antrag klar, daß sie nicht willens ist, die verfehlte Stahlpolitik, die sich natürlich auch existentiell auf den Bergbau auswirkt, einzig und allein wiederum auf dem Rücken und zu Lasten der Arbeitnehmer auszutragen. Das wollen wir mit unserem Antrag verhindern. ({9}) Lassen Sie mich an dieser Stelle noch eines deutlich machen: Es wird der Dienstleistungsbereich, auch der technologische Dienstleistungsbereich, immer als die Zukunftsvision beschworen. Da ist Gott sei Dank auch etwas dran. Aber es ist nur so lange etwas dran, wie es uns gelingt, auch den industriellen Unterbau in den Regionen zu erhalten. Ohne einen industriellen Unterbau wird auch die Dienstleistung in den Sog der Arbeitsplatzsorgen mit hineingeraten. Nur mit industriellem Unterbau ist dieser Bereich abzusichern. ({10}) Der Bergbau verspürt mit 3 Millionen t weniger Absatz durch die Stahlkrise erhebliche Schwierigkeiten, und es muß mit weiteren Schließungen gerechnet werden. Auch hiervon sind Regionen mit Arbeitslosenziffern - das ist ja nachweisbar - von mehr als 20 % betroffen. Zu befürchten ist ein Abbau von 40 000 Arbeitsplätzen allein beim Stahl. Ich habe schon eben gesagt: In vielen Fällen gibt es kaum eine Chance, einen gleichwertigen Arbeitsplatz zu bekommen. Deswegen ist auf die EG-Kommission einzuwirken, ein regionales Hilfsprogramm aufzulegen, das alle Montanstandorte umfaßt; denn die Bergleute sind in Sorge, in den Sog des Arbeitsplatzverlustes hineinzugeraten. Mit den Ankündigungen, weitere Zechen, z. B. auch im Ruhrgebiet, zu schließen, können ganze Gebiete - aber nicht nur dort - zum Armenhaus der Nation abrutschen. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei Stahl und Bergbau haben nach dem Krieg, haben nach 1945, dieses Land, diese Bundesrepublik, wieder aufgebaut und zu dem gemacht, was sie heute in der Tat noch ist. Deswegen darf es heute nicht heißen: Der Mohr - die Stahlarbeiter und die Bergleute - hat seine Schuldigkeit getan, er kann gehen. Die Bergleute und Stahlarbeiter sind keine Schachfiguren, die man beliebig hin- und herschieben kann. So geht es einfach nicht! ({11}) Wie sieht es in der Zukunft aus? Es wird den deutschen Stahlunternehmen bei einem kalendertätigen Verlust von 1 Millionen DM - in verschiedenen Bereichen, nicht in allen - schwerfallen, die Wettbewerbsverdrängung zu überleben und darüber hinaus genügende Investitionsmittel bereitzustellen, um mit einer sich zukünftig verändernden Technologie Schritt halten zu können. Wenn die deutsche Stahlindustrie die technische Wende nicht finanzieren kann, dann gehen entsprechend später die Lichter aus. Deswegen muß die Politik eine Rahmenplanung schaffen, die den Unternehmen die Gewißheit verleiht, auf dem Markt auch längerfristig eine Chance zu haben. Ich denke, Herr Dr. Vondran, an das Dünnwandgießen. Ich denke ferner daran, daß uns die Konkurrenz in Korea oder in Japan inzwischen vorgemacht hat, wie integrierte Stahlwerke aussehen und daß sie integriert kostengünstiger arbeiten. Wenn wir auf Dauer Schritt halten wollen, kommen wir an einer solchen Entwicklung nicht vorbei. Wir müssen dafür die entsprechenden finanziellen Mittel aufwenden. Jetzt leuchtet hier das Licht auf. Man hat mir gesagt, ich hätte zehn Minuten Redezeit.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Weiermann, die haben wir Ihnen auch eingestellt. Ich habe sehr darauf geachtet, daß sie Ihnen nicht auch nur um eine Minute gekürzt wird. ({0})

Wolfgang Weiermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002447, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es war mir jetzt ein bißchen schnell. Ich darf, weil durch meine Vorredner der SPD-Fraktion das eine oder andere in der Sache schon gesagt wurde, recht herzlich darum bitten, alles zu tun und nicht zuzulassen, Herr Bundeswirtschaftsminister Rexrodt, daß in Deutschland die letzten Ofen ausgehen. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregierung auf: Helfen Sie mit, den Menschen bei Kohle und Stahl die Chance zu geben, weiterarbeiten zu können! Ein herzliches Glückauf! ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Kurt Rossmanith das Wort.

Kurt J. Rossmanith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001887, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Weiermann, ich glaube, wir sollten über das, worüber wir uns einig sind, nicht unnötigen Streit vom Zaune brechen, nämlich darüber, daß es uns allen, die wir mit diesem Thema beschäftigt sind, natürlich nicht nur um den Industriezweig Stahl geht, sondern daß wir alle als verantwortliche Politiker auch die Menschen, d. h. die Arbeitnehmer, in diesem Bereich sehen. Gerade deshalb hätte ich von den Anträgen, die Sie bzw. die PDS gestellt haben - aber ich meine jetzt die SPD; von der PDS erwarte ich nichts anderes -, erwartet, daß sie so konstruktiv sind, daß wir auf deren Basis das Problem jetzt vernünftig angehen können und daß wir sehen, wie wir aus der Strukturkrise, die zweifellos gegeben ist, herauskommen bzw. welche Lösungsansätze und Lösungsmöglichkeiten sich hier ergeben. Nur, wie bereits in den Aktuellen Stunden zur Lage der Stahlindustrie im Januar und im Februar dieses Jahres wurde auch in Ihrem Antrag wieder deutlich, daß Ihnen nichts anderes einfällt als der Ruf nach dem Staat, der wieder einmal die Rolle des Wunderheilers übernehmen soll. Ich stelle dem entgegen, daß in einer marktwirtschaftlichen Ordnung auch in Krisensituationen die Eigenverantwortlichkeit der Unternehmen und des Unternehmertums an erster Stelle stehen muß. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Opposition, Sie machen es sich einfach zu leicht, wenn Sie im wesentlichen externe Ursachen für die kritische Lage der deutschen Stahlindustrie sehen und diese Ursachen für die Krise verantwortlich machen. Die Unternehmen, ich betone noch einmal: die montan-mitbestimmten Unternehmen, müssen sich natürlich vielmehr fragen lassen, ob sie die letzten vier bis fünf Jahre des Stahlbooms auch zur Zukunftssicherung genutzt haben. Sie müssen sich fragen lassen: Haben Sie konsequent rationalisiert und hinreichend Vorsorge gegenüber konjunkturellen und strukturellen Schwankungen getroffen? Denn daß die Stahlindustrie von solchen Schwankungen regelmäßig und stärker betroffen ist als die Gesamtwirtschaft, müßte meines Erachtens in der Zwischenzeit jedem bekannt sein, insbesondere in den Chefetagen der Unternehmen. Aber ich möchte nochmals betonen, daß es sich hier um einen montanmitbestimmten Industriezweig handelt. Das heißt, nicht nur im Aufsichtsrat, der paritätisch besetzt ist, sitzen die Gewerkschaften mit am Tisch, sondern auch im Vorstand hat die Gewerkschaft einen Vertreter. Deshalb, Herr Kollege Weiermann, habe ich nicht ganz Ihre Schelte verstanden, die Sie jetzt der Bundesregierung und den sie tragenden Fraktionen für die letzten zehn Jahre haben zukommen lassen. ({0}) Unternehmerische Versäumnisse können nicht durch Stahlkonferenzen ausgeglichen werden. Auch die Ausrufung der sogenannten manifesten Krise durch die EG und die damit verbundene Festlegung obligatorischer Produktionsquoten hilft hier sicherlich nicht weiter. Wer den Eindruck erweckt - es ist ein sehr gefährlicher Eindruck, der hier erweckt werden soll -, daß solche Maßnahmen ein Allheilmittel seien, durch das Stillegungen und Anpassungen überflüssig werden würden, der handelt meines Erachtens unredlich und erweckt nicht erfüllbare Erwartungen und Hoffnungen. Wer in der jetzigen Situation fordert, die manifeste Krise ausrufen zu lassen, zeigt im übrigen, daß er mit den Gepflogenheiten in Brüssel überhaupt nicht vertraut ist. Die eigentlichen Leidtragenden einer solchen Maßnahme wären die Stahlunternehmen und damit die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Bereich in den neuen Bundesländern. Denn sie können keine ausreichende Referenzmenge aus der Vergangenheit für die EG vorweisen. Es ist meines Erachtens deshalb geradezu töricht, anzunehmen, daß andere Unternehmen großzügig bereit wären, solche Referenzen abzugeben. ({1}) Anstelle staatlicher Eingriffe ist meines Erachtens ein flexibles und umfassendes Lösungskonzept gefragt. Dabei muß die Kompetenz und Verantwortung für die Anpassung an den Markt bei dem Unternehmen bleiben. Der unvermeidbare Kapazitätsabbau ist durch rechtliche und finanzielle Maßnahmen zu flankieren. Hinzutreten muß eine schärfere Subventionskontrolle; denn ohne Einhaltung der Beihilfedisziplin - dies hat die Vergangenheit sehr deutlich gezeigt - besteht die Gefahr, daß selbst die besten Lösungsansätze ins Leere laufen. Diesen Forderungen wird meines Erachtens das vom EG-Ministerrat am 25. Februar dieses Jahres verabschiedete Rahmenkonzept für die Umstrukturierung der europäischen Stahlindustrie gerecht. Im Rahmen der bis Ende September dieses Jahres eigenverantwortlich zu treffenden Absprachen über die nötigen Maßnahmen zum Abbau von Überkapazitäten bietet sich für die Stahlunternehmen die Chance, neue, langfristige Strategien zu entwickeln. Bisher versäumte Rationalisierungen könnten nachgeholt werden. Vor allem aber muß in neue, zukunftsträchtige Technologien konsequent investiert werden. ({2}) Neben der EG-Kommission, die jetzt zusätzliche Mittel zur sozialen Abfederung des Prozesses bereitgestellt hat - es wurde hier bereits die Zahl 450 Millionen ECU genannt, was annähernd 900 Millionen DM sind -, leistet der Bund schon seit Jahren einen erheblichen Beitrag zur Umstrukturierung der Montanregionen. Über ihren Beitrag an der Normalförderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur hinaus stellt der Bund seit 1989 jährlich Mittel in Höhe von 100 Millionen DM zur Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen und zur Förderung von Investitionen in den vom Strukturwandel besonders betroffenen Regionen zur Verfügung. Auch im laufenden Haushaltsjahr stehen für dieses Sonderprogramm zusammen mit den Komplementärmitteln der Lander 200 Millionen DM bereit. Diese Leistungen des Bundes dürfen aber nicht davon ablenken - ich betone das mit aller Deutlichkeit -, daß für die Lösung der regionalen Probleme in erster Linie die Länder zuständig sind. ({3}) Ich spreche hier nochmals den Herrn Ministerpräsidenten Rau, den Ministerpräsidenten Lafontaine und auch den vorhin dagewesenen Ministerpräsidenten Stolpe an ({4}) - der inzwischen nicht mehr an dieser Debatte teilnimmt bzw. nicht mehr da ist. ({5}) - Ja, die Maxhütte hat auch etwa 1 800 Arbeitsplätze. Herr Kollege Verheugen, wenn Sie hier Bayern ansprechen, da könnte ich Ihnen ganz andere Dinge erzählen. ({6}) Gerade die Bayerische Staatsregierung hat in den vergangenen 20, 30 Jahren, was die Abschaffung von Monostrukturen und die Hinführung zu einem wirklichen Netz von Industriezweigen in allen Regionen anbelangt, Wesentliches geleistet. Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen könnte sich in der Tat an Bayern ein sehr gutes Beispiel nehmen. ({7}) Ich möchte dem Kollegen Henn und dem Herrn Gysi, der inzwischen wohl auch schon Wichtigeres zu tun hat, nachdem er hier einen, wie ich meine, nicht gerade besonders tatkräftigen Beitrag geleistet hat, ({8}) sagen, daß wir die Kosten mit zu tragen haben, die uns durch die Überwindung der sozialistischen Hinterlassenschaft ({9}) in der ehemaligen DDR aufgebürdet worden sind. Das ist das Problem, mit dem wir uns herumschlagen müssen. Wir müssen im Moment in der Tat jede Mark umdrehen und müssen deshalb diese begrenzten Mittel ganz zielgerichtet in den betroffenen Regionen einsetzen. Ich bin daher der Meinung - lassen sich mich das am Schluß noch sagen -, daß die Bundesregierung in Brüssel in der Tat gut verhandelt und daß sie auch die Linie mit den Beteiligten vorbereitet hat. Natürlich ist das Erreichte kein Patentrezept. Die notwendigen Rationalisierungen und Stillegungen bleiben auch den deutschen Stahlproduzenten nicht erspart. Vermieden werden aber unkontrollierte, bruchartige Entwicklungen. Dies ist meines Erachtens entscheidend. Die von Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, geforderten Eingriffe führen hier nicht weiter. Deshalb sind Ihre Anträge meines Erachtens alles andere als hilfreich. Das wird sich auch in der parlamentarischen Beratung zeigen, die wir jetzt in den Ausschüssen vornehmen werden. ({10})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Ottmar Schreiner das Wort. ({0})

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der brandenburgische Ministerpräsident, Herr Stolpe, hatte zu Beginn seiner Ausführungen darauf hingewiesen, daß es für niemanden mehr nachvollziehbar sei, daß bei steigender Arbeitslosigkeit, bei steigendem Arbeitsplatzabbau insbesondere auch in Ostdeutschland gleichzeitig davon auszugehen sei, daß Ende dieses Jahres in Ostdeutschland nur noch ein Restbestand von etwa 30 000 AB-MaBnahmen zur Verfügung stünde. Daraufhin hat sich der Bundesarbeitsminister ganz aufgeregt zu Wort gemeldet, um eine Zwischenfrage zu plazieren. Er hat das anschließend in Form einer Kurzintervention nachgeholt. Der Bundesarbeitsminister hat in keinem einzigen Wort die Zahl 30 000 hier dementieren können - in keinem einzigen Wort! Sie haben Nebelkerzen geworfen. Sie haben in keinem einzigen Satz dementieren können, daß das Jahr 1993 sukzessive durch einen massiven Abbau der Arbeitsmarktinstrumente gekennzeichnet ist und daß nach Lage der Dinge Ende des Jahres in der Tat mit einem Restbestand von 30 000 bei weiter massivem Auswuchs der Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland gerechnet werden muß. Das ist arbeitsmarktpolitisch die Bankrotterklärung dieser Bundesregierung. Sie nehmen sehenden Auges den weiteren dramatischen Aufwuchs der Arbeitslosigkeit in Kauf. ({0}) Ich will Ihnen die Vergleichszahl für dieses Jahr aus meiner eigenen Region, dem Saarland, nennen, wo man ebenfalls mit einem Abbau im Stahlbereich um etwa 3 000 Arbeitsplätze rechnen muß, ohne die indirekten Abbaueffekte etwa im Bereich der Zulieferbetriebe. Dem Saarland standen im Februar 1993 noch 1 635 AB-Maßnahmen zur Verfügung. Wir gehen davon aus, daß im Dezember 1993 gerade noch ein kärglicher Restbestand von 86 - nochmals: 86! - überbleibt. Genauso stellt sich die zahlenmäßige Entwicklung in allen anderen Bundesländern dar, im besonderen in den Bundesländern, in denen die Arbeitslosigkeit auf Grund des strukturellen Wandels massiv steigt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Schreiner, der Abgeordnete Scharrenbroich möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ohne Schnurrbart, bitte schön.

Heribert Scharrenbroich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001945, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte das nicht bewerten, Herr Kollege Schreiner. - Herr Kollege Schreiner, wenn Sie die Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung so klassifizieren, wie Sie es gerade gemacht haben, ({0}) wie können Sie das angesichts der Tatsache begründen, daß für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Jahre 1992 9,4 Milliarden DM ausgegeben wurden und im Jahre 1993 9,9 Milliarden DM - also mehr - ausgegeben werden? Wie ist das, was Sie gerade dargestellt haben, angesichts dieser Zahlen zu erklären?

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist ziemlich einfach zu erklären: Weil ein Teil der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die im Jahre 1993 greifen, im vorigen Jahr von der Bundesanstalt für Arbeit bewilligt worden sind. Das ist ja einer der Gründe dafür, warum im Bundesarbeitsministerium offenkundig erwogen worden ist, gegen den früheren CDU/CSU-Fraktionskollegen Franke ein Disziplinarverfahren zu eröffnen. Der frühere CDU/CSU-Kollege Schreiber, heute Sozialminister in Sachsen-Anhalt, hat, bezogen auf die Kürzungen der AB-Maßnahmen, gesagt, man müsse die Bundesregierung nun endlich an den Hammelbeinen ziehen. ({0}) Alle früheren Kollegen, die in dieser Fraktion gesessen haben und heute an anderer Stelle verantwortlich sind, unterstützen uns in all diesen Fragen mit den Argumenten, die die SPD hier vorgetragen hat. Im übrigen, da Sie auf diese Zahlengröße hinweisen: Die Zahlengrößen sind relativ. Sie dürfen nicht vergessen, daß dies selbst bei einem Gesamtvolumen von knapp 10 Milliarden DM für AB-Maßnahmen in Relation zu der massiv steigenden Arbeitslosigkeit im Ergebnis deutlich weniger ist, als im vorigen und vorvorigen Jahr zur Verfügung gestanden hat. ({1}) Die Bundesregierung geht in ihren eigenen Prognosen im sogenannten FKK-Papier ({2}) - von mir aus auch FKP-Papier, das ist ja auch Wurscht; es heißt neuerdings sogar FKPG ({3}) davon aus, daß die Arbeitslosigkeit im Jahre 1993 vor dem Hintergrund eines prognostizierten Wachstums von minus 1 % um mindestens 450 000 Personen aufwächst.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Schreiner, darf ich Sie daran erinnern, daß nicht nur die Frage kurz und präzise sein soll, sondern daß auch die Antwort mindestens nicht länger als die Ihnen zustehende Redezeit sein sollte. Nun möchte der Abgeordnete Scharrenbroich noch eine Frage stellen.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin ja sehr dankbar für seine Fragen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Es ist mir klar, daß Sie dankbar dafür sind, aber das ist nicht mein Problem. ({0}) Nun wollen wir das aber kurz und präzise machen.

Heribert Scharrenbroich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001945, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, heißt das, daß man Ihrer Antwort - das war ja der erste Teil der Einlassung, die wir gerade von Ihnen gehört haben - entnehmen kann, daß Sie bestätigen, daß sich, wenn Vorwürfe zu erheben sind, diese nicht an die Bundesregierung, sondern an die Bundesanstalt - die eine Selbstverwaltung, bestehend aus Arbeitgebervertretern und Arbeitnehmervertretern, hat - richten? Können wir festhalten, daß diese Vorwürfe dann an die Bundesanstalt für Arbeit zu richten wären?

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, das können wir gerade nicht festhalten. Herr Kollege, seitdem Sie nicht mehr im Sozialausschuß sind, haben Sie in dieser Materie noch weniger Ahnung als vorher. Das ist wirklich bedauerlich. Es trifft so nicht zu. ({0}) Die Bundesanstalt für Arbeit heißt Bundesanstalt für Arbeit, weil sie etwas zur Arbeitsförderung machen soll. Die Bundesanstalt für Arbeit beklagt sich zu Recht über diese Bundesregierung, weil die Bundesregierung sie mit ihren gesetzlichen Vorgaben, z. B. mit der 10. Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz, von ihrer eigentlichen Funktion, nämlich Arbeit zu fördern, mit dazu beizutragen, daß die Arbeitsmarktinstrumente möglichst massiv eingesetzt werden, abbringt und weil die Bundesregierung die Bundesanstalt für Arbeit in eine Bundesanstalt zur Finanzierung von Arbeitslosigkeit umfunktionieren will. ({1}) Dagegen wehrt sich die Bundesanstalt für Arbeit zu Recht, Herr Kollege. ({2}) Jetzt können Sie sich wirklich setzen; jetzt reicht es. Der Kollege Beckmann hat von dem fragwürdigen Ruf nach dem Staat gesprochen. Der Kollege Rossmanith hat ähnliche Töne von sich gegeben. Ich will Sie, Herr Blüm und liebe Kolleginnen und Kollegen, daran erinnern, daß in § 2 des ja immer noch gültigen Arbeitsförderungsgesetzes als Zielsetzung steht: „Die Maßnahmen nach diesem Gesetz haben insbesondere dazu beizutragen, daß weder Arbeitslosigkeit noch ein Mangel an Arbeitskräften eintreten oder fortdauern kann." - Ich wiederhole: „... daß weder Arbeitslosigkeit ... eintreten oder fortdauern kann". Das ist die gesetzliche Verpflichtung des Staates, primär der Bundesregierung. Dieser Verpflichtung kommen Sie nicht mehr nach. Sie kommen ihr seit langem nicht mehr nach. Sie kommen ihr heute weniger denn je nach. ({3}) Zweiter Punkt. Der Bundeswirtschaftsminister hat in seinen lichtvollen Ausführungen gesagt, die Bundesregierung werde den Anpassungsprozeß, den strukturellen Wandel im Bereich der Stahlindustrie natürlich sozial flankieren und mit dazu beitragen, daß Ersatzarbeitsplätze geschaffen werden. Nun ist doch die spannende Frage: Wie, wann und in welcher Größenordnung soll das geschehen? Wenn Ihre Auffassung, Herr Rexrodt, ernst zu nehmen ist, daß sich die Bundesregierung an der Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen beteiligen will, warum sind Sie dann gegen die Einberufung einer nationalen Stahlkonferenz, in der Sie die Möglichkeit hätten, alle Beteiligten - den Bund, die Bundesländer, die Gewerkschaften, die Stahlindustrie - an einen Tisch zu bringen und über die Vorschläge zu reden, die bislang öffentlich geäußert worden sind. Das wäre doch „das" Gremium, in dem man alle Kräfte bündeln könnte, in dem man Vorschläge sortieren, sichten, kritisch diskutieren könnte, und anschließend könnte man mit einem Gesamtpaket an die Öffentlichkeit treten. Warum weigern Sie sich, die Beteiligten an einen Tisch zu rufen, wenn Sie denn wirklich zur Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen beitragen wollen? Ich will Ihnen dazu noch in Erinnerung rufen, daß die IG Metall der Öffentlichkeit in den letzten Wochen und Monaten eine Fülle von Vorschlägen unterbreitet hat. Sie hat u. a. darauf hingewiesen, daß gerade der Stahlbereich hervorragend für Recyclinganlagen ge- eignet sei, daß an den Stahlstandorten eine moderne Recyclingproduktion aufgenommen werden könnte. Wir haben in unserem Antrag, der von einigen Kollegen ohne nähere Begründung als fragwürdig dargestellt worden ist, ({4}) aber auch in einem dem Parlament seit Februar dieses Jahres vorliegenden Grundsatzantrag „Ablösung des Arbeitsförderungsgesetzes durch ein Arbeits- und Strukturförderungsgesetz" darzulegen versucht, welche Instrumente geeignet wären, gerade Ersatzarbeitsplätze zu schaffen, nämlich eine dreijährige Projektförderung, möglichst unter Beteiligung aller Betroffenen einschließlich der Stahlindustrie, die ja nicht gebrauchte Betriebseinrichtungen und vieles andere mehr zur Verfügung stellen könnte. Mein herzlicher Aufruf - wenn die Regierung es wirklich ernst meint - lautet: Laden Sie die Betroffenen an einen Tisch! Reden Sie über die Vorschläge, und handeln Sie endlich! ({5}) Ich komme zum Schluß. Das Allerfalscheste ist das, was die Generallinie der Bundesregierung bisher auszeichnet. Sie gehen nicht nur von einem Zuwachs von einer halben Million Arbeitslosen in diesem Jahr aus, sondern sie fördern die hohe Arbeitslosigkeit zusätzlich, indem Sie die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik kappen. Gleichzeitig werden Sie im Jahre 1993 gezwungen sein, weit mehr als 50 Milliarden DM zur Finanzierung von Arbeitslosigkeit auszuschütten. Welchen Sinn macht eine solche Politik? Welchen Sinn macht es, die Menschen in die Arbeitslosigkeit zu treiben und die wenigen arbeitsmarktpolitischen Instrumente, die es gibt, zu beerdigen, gegen Null zu bringen? Diese Politik ist irre, und sie führt in die Irre. Wir rufen Sie zu einer schnellen, unverzüglichen Umkehr auf. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Norbert Blüm das Wort.

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich greife die letzte Behauptung des Kollegen Schreiner auf. Sie haben sie im Ohr: Arbeitsmarktpolitik gegen Null zu bringen, wirft er dieser Bundesregierung vor. Die Arbeitsmarktpolitik 1993 hat ein Volumen von 50 Milliarden DM. Der Unterschied zwischen Ihren Behauptungen und der Wirklichkeit kann gar nicht so groß sein, daß das hier vorgetragen wird, ohne rot zu werden. 50 Milliarden DM ({0}) für Arbeitsmarktpolitik sind im Haushalt der Bundesanstalt vorgesehen. Das nennt der Kollege Schreiner Null. ({1}) Zweite Bemerkung. Ich habe es heute schon einmal vorgetragen, aber wenn es zweimal verdreht wird, muß ich es zweimal richtigstellen. 9,4 Milliarden DM waren im Haushalt des Jahres 1992 für ABM vorgesehen; hinzu kamen 3 Milliarden DM aus dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost. In diesem Jahr sind es 9,9 Milliarden DM plus das neue Instrument Arbeitsförderung Ost, das es im vorigen Jahr gar nicht gab und das in seiner Inanspruchnahme nach oben nicht begrenzt ist. Die Bundesanstalt zahlt für die Einstellung von Arbeitslosen in Umweltprojekte das Geld in pauschalierter Form, das der Arbeitslose vom Arbeitsamt erhalten würde, und zwar getreu dem Grundsatz: Besser Geld für Arbeit als für Arbeitslosigkeit. ({2}) Herr Schreiner, nicht darum herumreden. Treten Sie bitte an dieses Pult und sagen, was die Bundesregierung von den 9,9 Milliarden DM, die für dieses Jahr im Haushalt vorgesehen sind, zurückgenommen hat. Wenn Sie nur eine Mark finden, die wir von der Zusage über 9,9 Milliarden DM zurückgezogen haben, dann ({3}) - nein - würde ich Ihnen die 9,9 Milliarden DM, wenn ich sie hätte, schenken. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich muß darauf achten, daß bei einer Kurzintervention die zeitliche Vorgabe eingehalten wird, Herr Abgeordneter.

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir stehen zu unserem Wort. Wer mehr für ABM tun will, der muß uns Geld beschaffen. Dann muß er sagen, woher das Geld kommt, wo es an anderer Stelle weggenommen wird. Darüber kann gesprochen werden. Noch besser als Geld für ABM ist Geld für neue Arbeitsplätze, denn ABM bleibt immer nur eine Ersatzlösung. Deshalb ist unser Hauptaugenmerk die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zu einer kurzen Erwiderung erteile ich dem Abgeordneten Ottmar Schreiner das Wort. ({0})

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie sind wirklich ein begnadeter Meister in der Beherrschung der Wunderwaffe Nebelkerzen. Sie sind eine Art Nebelkerzenminister. Ich will Ihnen zu den Zahlen noch einiges sagen. ({0}) - Herr Rüttgers ist die Generalgouvernante dieser Fraktion. Herr Minister, ich habe Ihnen gesagt, daß die Arbeitsmarktinstrumente im Laufe dieses Jahres gegen Null tendieren werden. Ich habe Ihnen eben vorgetragen, daß im Dezember 1993 bei steigendem Arbeitsplatzabbau nach unseren Schätzungen, die von den ostdeutschen Sozialministern bestätigt werden, in Ostdeutschland noch 30 000 AB-Maßnahmen zur Verfügung stehen; im vorigen Jahr waren es 400 000. Ich habe Ihnen vorgerechnet, was im Saarland abgebaut wird - von 1 600 auf gerade noch 86 im Dezember 1993. Hat das nicht etwas mit in Richtung Null zu tun? Sie behaupten doch immer, Sie seien der Enkel von Adam Riese. Sind Sie es oder sind Sie es nicht? ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Blüm, bei einer kurzen Erwiderung kann ich keine Zwischenfrage zulassen. Es kann auch auf eine Kurzintervention nicht mit einer Kurzintervention geantwortet werden. Aber dem Bundesarbeitsminister ist es natürlich nicht verwehrt, in dieser Funktion nach Art. 43 Abs. 2 zu antworten.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ist er jetzt Abgeordneter oder Minister? Ich bin etwas verwirrt. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nachdem er sich auf die Regierungsbank zurückgezogen hat, gehe ich davon aus, daß er in seiner Funktion als Minister dort sitzt und nicht als Abgeordneter. Bitte schön.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben gesagt, 50 Milliarden DM seien 1992 für aktive Arbeitsmarktpolitik verausgabt worden. So habe ich Sie verstanden. Diese Zahl ist nicht nachvollziehbar, wenn man unter aktiver Arbeitsmarktpolitik diejenigen Instrumente begreift, die dazu geeignet sind, Arbeit zu fördern, gesellschaftliche Werte zu schöpfen, oder zumindest unmittelbar in diese Richtung führen, wie z. B. Qualifizierungsmaßnahmen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin kommt zu dem Ergebnis, daß 75 % der Ausgaben des vergangenen Jahres in die passiven Leistungsbereiche, einschließlich Vorruhestandsregelung - dem stehen doch auch keine Wertschöpfungen gegenüber -, geflossen sind. Schminken Sie sich also diese 50 Milliarden ab, und sehen Sie mal bei Ihrem Freund Adam Riese nach, wie sich das wirklich verhält. Letzte Bemerkung: Sie haben gefordert, wir sollten sagen, wo das Geld herkommt. Kollege Geißler, Sie, selbst der Kollege Rüttgers haben eine Irrfahrt unternommen und haben mit uns gemeinsam eine Arbeitsmarktabgabe gefordert, weil die gegenwärtigen Finanzierungsgrundlagen zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit in höchstem Maße ungerecht sind. Sie waren es, der im Jahre 1991 in die Hochglanzbroschüren zum Abfeiern des Bundesministers hineingeschrieben hat, die Förderung von Arbeit sei nicht teurer als die Finanzierung von Arbeitslosigkeit. ({0}) Wenn Sie diesen Satz endlich mal auswendig lernten, würden Sie hier am Podium nicht solchen Unsinn erzählen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm, das Wort.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Herr Präsident, wir machen jetzt ein richtiges Kontrastprogramm. Kollege Schreiner hat gesagt, er habe Rechnungen vorgeführt. Die Rechnung, wie er auf 30 000 kommt, habe ich nicht gehört. Hat sie irgend jemand im Saal gehört? Er hat eine Behauptung aufgestellt, aber eine Rechnung nicht. Jetzt kommt das Kontrastprogramm von Blüm. Ich rechne Ihnen jetzt die gut 50 Milliarden DM für Arbeitsmarktpolitik vor. Das ist der Unterschied: Behauptungen ohne Rechnung, Behauptungen mit Rechnung. ({0}) - Herr Schreiner, Ihre Argumente stehen auf Hammelbeinen, um Ihr Wort aufzunehmen. ({1}) Ich rechne: Berufliche Bildung - 17,2 Milliarden DM; Eingliederung von Aussiedlern - 1,2 Milliarden DM; berufliche Rehabilitation - 4,1 Milliarden DM; Förderung der Arbeitsaufnahme - 400 Millionen DM; Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen - 9,9 Milliarden DM; Umwelt-ABM - 800 Millionen DM; 1 Milliarde DM Lohnkostenzuschüsse für ältere Arbeitnehmer; Leistungen nach dem Vorruhestandsgesetz, Altersübergangsgeld - 14,4 Milliarden DM; Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit - 400 Millionen DM; ({2}) Programm berufliche Weiterbildung - 100 Millionen DM; Kurzarbeitergeld - 1,9 Milliarden DM. Meine Damen und Herren, ich habe meine Rechnung vorgeführt. Herr Schreiner hat nur Behauptungen vorgeführt. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Gerd Andres das Wort. Ich möchte aber darauf aufmerksam machen, daß ich weitere Kurzinterventionen nicht zulassen werde. Bitte sehr.

Dr. h. c. Gerd Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte nur auf ein Argument eingehen, das hier gefallen ist, und den Bundesarbeitsminister an einen Sachverhalt erinnern. Im Rahmen der Beratungen der 10. Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz haben die Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung bei den Schlußberatungen den Antrag vorgelegt, die Bundesregierung aufzufordern, einen Arbeitsmarktbeitrag einzuführen. Dieser Antrag wurde mit den Stimmen der Koalition auch beschlossen und ist Gegenstand des Berichtes des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zur 10. Novelle zum AFG. Dieser Bericht ist vom Deutschen Bundestag in zweiter und dritter Lesung zur Kenntnis genommen worden und in der Ausschußfassung beschlossen worden, so daß sich damit die Frage des Bundesarbeitsministers, wer für die aktive Arbeitsmarktpolitik mehr Geld haben möchte, schlicht beantwortet. Es war die eigene Fraktion, die im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung die Einführung eines Arbeitsmarktbeitrags gefordert hat. Dann hätten Sie auch entsprechende Finanzsummen zur Verfügung, um die aktive Arbeitsmarktpolitik entsprechend zu finanzieren. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Damit Sie diese Diskussion fortsetzen können, bittet Sie der Ältestenrat, der Überweisung zuzustimmen, und zwar die Vorlagen auf den Drucksachen 12/4461 und 12/4448 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ich nehme an, daß das Haus damit einverstanden ist. - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung der Planungsverfahren für Verkehrswege ({0}) - Drucksache 12/4328 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr ({1}) Innenausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk Fischer ({2}), Dr. Dionys Jobst, Horst Gibtner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ekkehard Gries, Horst Friedrich, Manfred Richter ({3}), Dr. Klaus Röhl und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes - Drucksache 12/4518 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr ({4}) Finanzausschuß Haushaltsausschuß c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr ({5}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Dirk Fischer ({6}), Heinz-Günter Bargfrede, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ekkehard Gries, Horst Friedrich, Roland Kohn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. zur Erklärung der Bundesregierung Deutsche Verkehrspolitik im zusammenwachsenden Europa zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Erklärung der Bundesregierung Deutsche Verkehrspolitik im zusammenwachsenden Europa - Drucksachen 12/2281, 12/2293, 12/4007 Berichterstattung: Abgeordnete Elke Ferner Dr. Klaus Röhl Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abgeordneten Dirk Erik Fischer das Wort.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. haben am 7. März 1992 die Bundesregierung in einem Entschließungsantrag aufgefordert, die Verkehrspolitik zur Erhaltung des Standortes Bundesrepublik Deutschland im europäischen Raum als eine zentrale Aufgabe zu verstehen. Diese Aufforderung ist, meine ich, heute aktueller denn je. Wann war die verkehrspolitische Debatte so lebhaft wie heute, wann war der Bedarf an öffentlichen Mitteln zur Bewältigung von Verkehrsaufgaben bei Bund, Ländern und Gemeinden so groß? Wann war das Risiko eines Verkehrsinfarktes so erheblich, wann der Handlungsbedarf in der EG so eklatant? Wann war der Bedarf an kurzfristig erreichbarer Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur so dringend? Dies sind alles Fragen, die wir zu diskutieren, und Aufgaben, die wir zu lösen haben. Man darf wohl auch fragen, warm je die Verkehrspolitik so aktiv und bemüht war, Antworten und Lösungen zu den verschiedenen Fragen zu finden. Das gilt für Anstrengungen, z. B. den Bundesverkehrswegeplan nicht als reine Trendfortschreibung zu sehen, das gilt für eine umfassende Bahnreform, den Kampf um die Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen in der Europäischen Gemeinschaft in einem einheitlichen off enen Binnenmarkt, das gilt für die Privatisierung von derzeitigen Staatsaufgaben bei Flugsicherung, Eisenbahn und Autobahn, das gilt für die Beseitigung stark regulierter Verkehrsmärkte wie z. B. durch ein Tarifaufhebungsgesetz, das wir hier sehr bald in der zweiten und dritten Lesung zu behandeln haben werden. Das gilt auch für die Beschleunigung der Planung von Verkehrsinfrastrukturprojekten. Das ist eine Schicksalsfrage für unser Land bei der Bewältigung der Anforderungen an unser Verkehrssystem, und zwar nicht zuletzt weil wir Drehscheibe des Verkehrs in Europa sind. Als Haupttransitland ist das für uns eine Aufgabe, die eine wahrhaft europäische Dimension hat und nicht nur aus dem engeren regionalen oder nationalen Blickwinkel heraus gesehen werden darf. Wann standen aber auch - das muß man auch sagen - neben der Regierungsmehrheit Opposition und Bundesrat wegen notwendiger Grundgesetzänderungen so in der gemeinsamen Verantwortung für die Verkehrspolitik? Dirk Fischer ({0}) Dies sollte uns allen wohl auch gemeinsam Veranlassung geben, sich in der Sprache, in der Anstrengung und in dem Aufeinandereingehen zu bemühen, soviel in gemeinsamer Verantwortung zu bewältigen, wie wir, die wir auch gemeinsam auf dem Prüfstand der Bürger stehen, leisten müssen, um in der öffentlichen Beurteilung und Akzeptanz als verantwortungsbewußt bei der Bewältigung solcher nationaler Herausforderungen gesehen zu werden. Angesichts des europäischen Binnenmarktes und der Öffnung Osteuropas und des damit verbundenen Verkehrswachstums, der zunehmenden Umweltbelastung und vermehrter Engpaßsituationen im Verkehr ist es erforderlich, die teilweise gegenläufigen Ziele wie Wahrung der Mobilitätsbedürfnisse der Bürger, Bereitstellung von Verkehrs- und Transportmöglichkeiten für die Wirtschaft - dies hat insbesondere durch erheblich erweiterte Schienenkapazitäten zu geschehen -, aber auch den Schutz unserer natürlichen Umwelt und die damit aufgegebene Senkung der Umweltbelastungen, die Sicherung gleichwertiger Lebensbedingungen in allen Regionen unseres Landes sowie die Erhaltung der mittelständischen Struktur des Verkehrsgewerbes durch entsprechende verkehrspolitische Maßnahmen einschließlich des Postulats der Erhöhung der Verkehrssicherheit in Einklang zu bringen. Ziel ist es, die Mobilität der Bürger und der Wirtschaft umweltgerechter und sozial verträglich zu sichern. Dies erreichen wir nur mit einem abgestimmten Konzept von Ordnungs- und Investitionspolitik, das auf die Kooperation und Integration der Verkehrsträger, auf den Umweltschutz, die Verkehrssicherheit, den verstärkten Einsatz moderner Technik und auch auf die Strategie des Marktes setzt. Ich möchte exemplarisch acht Felder nennen, auf denen wir einen gesteigerten Handlungsbedarf haben. Das erste Feld ist die Strukturreform der Eisenbahn. Ich sage hier ganz deutlich: Alles ist in der Verkehrspolitik nichts, wenn die Strukturreform von DB und DR nicht zustande kommt. Ziel ist ein attraktiver Transport von Personen und Gütern. Wir sind überzeugt davon, daß die Bahntechnologie Zukunft hat. Sie ist modern und wird gebraucht, aber im Wettbewerb muß ihre Leistungsfähigkeit und Attraktivität gesteigert werden. Notwendig ist die Schaffung von Eisenbahnen, die ihren Marktanteil durch wettbewerbsgerechtes Verhalten erhöhen. Nach meiner Auffassung können wir nur so die Vorteile im Rahmen eines Gesamtverkehrssystems voll zur Geltung bringen. Bahnen brauchen in der Zukunft dringend den Wettbewerb; denn nur Wettbewerb stimuliert permanent auch die Leistungsfähigkeit und die Attraktivität im Markt. ({1}) Das heißt: schnellstens Abkehr von einer Behördenbahn und hin zu einer privatwirtschaftlich organisierten unternehmerischen Bahn, die auf Gewinnerzielung ausgerichtet ist und die eigenverantwortlich agieren können muß. Allein mit einer Befreiung der Eisenbahn von finanziellen und personellen Altlasten wären derartige Ziele der Reform nicht erreichbar. Das zweite Feld ist die Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen. Wir haben eine lebhafte Diskussion. In diesem Bereich muß es endlich gelingen, daß unser Gewerbe zu den gleichen Bedingungen im Wettbewerb in Europa agieren kann wie alle anderen. ({2}) Dafür ist es hohe Zeit. Wir brauchen in dem Zusammenhang auch eine gerechte Anlastung der Kosten der Erzeugung und des Unterhalts unserer Verkehrsinfrastruktur für alle inländischen, aber endlich auch für alle ausländischen Nutzer. Nach meiner Auffassung brauchen wir auch in unserem Land, aber selbstverständlich ebenso im europäischen Maßstab, eine Angleichung der Wettbewerbsbedingungen zwischen den Verkehrsträgern. Wir wünschen unserem Bundesverkehrsminister für seine nachhaltige Anstrengung, in der Europäischen Gemeinschaft endlich zu einem Durchbruch bei der Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen zu kommen, allen erdenklichen Erfolg. Diese Aufgabe ist schwer genug, weil sie in einer außerordentlich kurzen Zeit bewältigt werden muß, nachdem es über viele Jahre eine Verweigerung gegeben hat. Deswegen müssen wir hier auch eine gemeinsame und vollständig von uns unterstützte Anstrengung leisten. ({3}) Das dritte Feld ist die Vernetzung der Verkehrssysteme. Wir können uns eine umweltgerechte Bewältigung des Verkehrswachstums ohne integrierte Verkehrssysteme nicht denken. Schnittstellen sind vorrangig mit privatem Kapital auszubauen. Wir müssen auch alle Regelungen darauf überprüfen, ob sie die Vernetzung fördern oder behindern. Das vierte Feld ist die Planungsbeschleunigung. In einem Land, in dem die Planung und der Bau von Verkehrswegen, einschließlich der des umweltfreundlichen Verkehrsträgers Schiene, zehn bis zwanzig Jahre dauern, hat der Staat die Reaktionsmöglichkeit auf Verkehrswachstum und -herausforderungen verloren. ({4}) Wir müssen hier die Handlungsfähigkeit wiedererlangen. ({5}) Fünftens. Der Umweltschutz im Verkehr ist heute mehr denn je eine Frage der Akzeptanz von Verkehr in dieser Gesellschaft. Wir müssen deswegen auch auf diesem Gebiet in unserem Land die maximal möglichen Anstrengungen unternehmen. Das sechste Feld ist die private Finanzierung von Bau, Unterhalt und Erneuerung der Verkehrsinfrastruktur. Wer alles über den Bundeshaushalt finanzieren will, der verschiebt den Bau auf Zeitachsen, die nicht akzeptabel sind, wenn wir die Verkehrsprobleme bewältigen und den Verkehrsinfarkt vermeiden wollen. Dirk Fischer ({6}) Das siebte Feld stellt die Regionalisierung im öffentlichen Personennahverkehr dar. Wir müssen die Verantwortung für diesen Bereich endlich auf die regionale Ebene geben, wo sie in einer Hand zu konzentrieren ist. Diese Aufgabenverteilung hat das Grundgesetz ohnehin immer so vorgesehen. Wir glauben, daß deswegen auch im Rahmen der Bahnreform ein neuer Aufgabenzuschnitt für diese Verkehre gefunden werden muß. Ich will dazu nur an Zitate der Minister Matthöfer und Hauff erinnern, die 1981 im alten Plenarsaal des Bundestages gesprochen worden sind. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, wir haben schließlich mit dem achten Komplex, nämlich mit dem Aufbauwerk in den neuen Bundesländern, d. h. mit der möglichst kurzfristigen Herstellung von leistungsfähigen Verkehrswegen in den neuen Bundesländern, eine Investitionsanstrengung vor uns, die wir bewältigen müssen, weil wir vor der Anforderung stehen, so schnell wie möglich gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland herzustellen. ({7}) In diesem Rahmen werden wir uns heute auch bemühen - ein Antrag dazu liegt auf dem Tisch -, die erforderlichen Finanzmittel durch eine zeitlich begrenzte Umschichtung im Rahmen des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes zur Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs und des kommunalen Straßenbaus zu stimulieren. Deutsche Verkehrspolitik muß im zusammenwachsenden Europa nach vorn blicken. Der vorliegende Entschließungsantrag formuliert den Handlungsbedarf, den der Deutsche Bundestag dazu sehen muß. Wir haben ein hartes Stück Arbeit in einem sehr kurzen Zeitraum vor uns. Wir müssen uns gemeinsam dieser Aufgabe stellen. Es ist das Verlangen der Bürger, dem wir zu entsprechen haben.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Fischer, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zum Schluß kämen.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin glücklich, daß die Verkehrspolitik in der politischen Diskussion endlich den Stellenwert erhalten hat, der angesichts der Probleme dem Bereich Verkehrspolitik schon immer hätte zuteil werden müssen. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Margrit Wetzel das Wort.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Fischer, Sie haben soeben die gemeinsame Verantwortung beschworen und haben es geschafft, hier innerhalb von zehn Minuten wieder einmal einen verkehrspolitischen Rundumschlag abzuleisten. Erlauben Sie, daß ich nur auf einige Punkte eingehe. Wir sind insbesondere mit der Zielsetzung des Planungsvereinfachungsgesetzes selbstverständlich einverstanden. Auch wir sind der Meinung, die Planungszeiten für Verkehrswege müssen verkürzt, die Planungen vereinfacht und für alle Verkehrsträger möglichst gleich gestaltet werden. ({0}) - Klatschen Sie nicht zu früh, denn Sie werden noch einiges zum Nachdenken bekommen. Der vorliegende Gesetzentwurf enthält auch eine ganze Reihe wichtiger, längst überfälliger Vereinfachungsmaßnahmen, die wir seit längerem fordern. Insofern werden sie natürlich unsere Unterstützung finden. Wir haben trotzdem erhebliche Kritik an diesem Gesetzentwurf und hoffen deshalb, daß unsere Änderungsanträge im Ausschuß Mehrheiten finden, weil sich durch dieses Gesetz der Abbau demokratischer Beteiligungsrechte wie ein einziger schwarzer Faden hindurchzieht. ({1}) Ich denke, das geht nicht. Verkehrswege müssen in Übereinstimmung mit den betroffenen Gemeinden und Regionen und gemeinsam mit ihnen geplant werden. Die Beteiligung der Träger öffentlicher Belange, der Kommunen wie der Bürger, ist immer auch ein Frühindikator für das Erkennen von Konflikten. Die Menschen, die die Verkehrswege wollen, wollen - und darauf haben sie ein Recht -, daß sie gut und vernünftig geplant sind. Verkehrswegebau ist deshalb ohne Berücksichtigung der Belange der Betroffenen nicht mehr möglich, es sei denn, Sie riskieren ganz bewußt und gezielt einen weiteren Vertrauensverlust in den Staat. Das sollten Sie nicht tun. Wir befürchten, daß der Entwurf in der jetzt vorliegenden Form in einigen wesentlichen Punkten speziell an den Bedürfnissen der neuen Länder und den gewachsenen Mitwirkungsmöglichkeiten der Kommunen vorbeigehen wird. Demokratische Mitwirkung wird zum Störfaktor degradiert und systematisch ausgeschaltet. Ich will darauf gleich noch eingehen. Das Vereinfachungsgesetz weckt Erwartungen, die es so schlicht nicht erfüllen kann. Ich will Ihnen auch erklären, warum. Das scheint aber andererseits - der Einwurf sei erlaubt; auch Sie haben einen Rundumschlag gemacht - bei der immer offener zutage tretenden Konzeptionslosigkeit unseres Verkehrsministers inzwischen Methode zu bekommen. Herr Krause betreibt im Moment vor allem Etikettenschwindel. ({2}) Das geht los bei dem unendlichen Planungszeitraum von 20 Jahren für den Verkehrswegeplan. ({3}) Statt überschaubar zu handeln werden dort lauter leere Versprechungen festgeschrieben. Niemand weiß, welche Maßnahme warm zu finanzieren sein wird. Wer da mit Privatisierung abhelfen will, begibt sich in ein Abenteuer: bei den Bundesautobahnen als Tragikomödie, bei der Bundesbahn als Trauerspiel. Wenn sich der Finanzminister zum Totengräber einer Bahnreform macht, bei der er eigentlich 100 Milliarden in den nächsten Jahren sparen wollte, dann kann das kein Mensch mehr verstehen. Herrn Krauses Vignetten-Theater statt Anlastung der Wegekosten für ausländische Lkw ist kaum zu überbieten. Der Kanzler schlägt Mineralölsteuererhöhung ohne Zweckbindungen vor, d. h. für uns, daß sich die CDU aus der verkehrspolitischen Fachdiskussion gründlich verabschiedet hat. ({4}) So viele Döspaddeleien irritieren die Bevölkerung und werden weder von den Betroffenen noch von der EG ernstgenommen. Im Föderalen Konsolidierungsprogramm streichen Sie 14 Milliarden DM für die Finanzierung des GVFG und die Defizite aus dem schienengebundenen Personennahverkehr. Wer eine Überleitung der Aufgaben- und Ausgabenverantwortung des ÖPNV ohne zweckgebundene Übertragung der Mittel macht, weiß genau, daß das mit dem Ende des öffentlichen Personennahverkehrs gleichbedeutend ist. ({5}) - Natürlich. Wir werden statt des dringend notwendigen Neubaus eine durch nichts mehr aufzuhaltende Stillegung der Schienenstrecken im ländlichen Raum haben. Dann nützen uns Planungsvereinfachung und Planungsbeschleunigung herzlich wenig. Damit bin ich wieder bei den falschen Erwartungen, die dieser Gesetzentwurf weckt, weil er einen Zeitgewinn suggeriert, der in Wahrheit ein neuer Etikettenschwindel ist. Erstens liegen gravierende Verzögerungen beim Bau von Verkehrswegen im Bereich der politischen Akzeptanz und der Vorarbeiten, d. h. vor jedem Eintritt in ein Planverfahren, vor. Der zweite Verzögerungsgrund liegt, das wissen wir alle, in den mangelnden Finanzen. Auch das hat mit dem Planverfahren überhaupt nichts zu tun. Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Fristsetzungen im Raumordnungsverfahren werden - ich bitte Sie, das gründlich zu überdenken - eine gerade für die neuen Bundesländer möglicherweise kontraproduktive Wirkung haben. Es ist richtig, daß das Raumordnungsverfahren für alle Bundesländer verbindlich werden soll. Wenn aber diese für die Belange der regionalen wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Ländern so wichtigen Verfahren mit einer Frist von sechs Monaten - inklusiv der Mitteilung des Ergebnisses - belegt werden, dann ergibt sich - beabsichtigt oder nicht, sei dahingestellt - ein geradezu gemeiner Vorteil für die alten Bundesländer. Ich will Ihnen das erklären. Die neuen Länder sind mit einer derart kurzen Fristsetzung völlig überfordert, weil sie immer noch nicht über die notwendige, von uns im übrigen immer wieder eingeforderte fachliche und sachliche Ausstattung verfügen und noch zuwenig Erfahrung mit der Durchführung geregelter Verfahren haben. Zukünftig kann kein Antrag mehr gestellt werden, für den nicht die kompletten Umweltverträglichkeitsstudien vorliegen und sämtliche Vorarbeiten abgeschlossen und erledigt sind. Nachreichungen innerhalb einer so kurzen Frist noch vornehmen zu wollen ist ziemlich ausgeschlossen. Das wird automatisch zur Folge haben, daß wir mehr fertige Planungen aus den alten Bundesländern bekommen, als in den neuen überhaupt begonnen werden können. Wir werden unsere Bedenken in den Ausschußberatungen ausführlich einbringen und entsprechende Anträge auf Fristverlängerung stellen. Denn jeder hat doch das Recht, gesetzte Fristen zu unterschreiten; niemand nimmt ihm das. Aber die im Gesetzentwurf vorgesehene Zustimmungsfiktion bei Nichteinhaltung der Frist geht unseres Erachtens an den zunehmenden Gestaltungsmöglichkeiten der Gemeinden und auch am Fortschreiten ihrer regionalen Raumentwicklungspläne und ihrer städtebaulichen Entwicklungspläne schlicht vorbei. Konflikte, die auf Grund zu stark verkürzter Verfahren nicht ausgeräumt werden können, führen mit Sicherheit zu Klagen. Diese Klagen werden eine erheblich stärkere Verzögerung zur Folge haben, als wenn wir die Möglichkeit eröffneten, sich frühzeitig mit erkannten Problemen auseinanderzusetzen. Für die Bürger in den alten Ländern, auch darüber sollten wir uns klar sein, wird ein Demokratieabbau, d. h. das Wegfallen demokratisch errungener Rechte, in einem umgekehrten Verhältnis zur Klagefreudigkeit stehen. Ob wir uns das einhandeln wollen, sollten wir gründlich überlegen. Auch mit den Landesbehörden darf man nicht so umgehen, wie es der Gesetzentwurf vorsieht. Die vorgesehene Benehmensregelung könnte gerade in den neuen Ländern sehr leicht auf Grund des fehlenden Fachpersonals und der noch geringen Erfahrung zu einem Verschlafen wichtiger Einwendungen führen. Das können wir uns nicht erlauben. Wir werden deshalb vorschlagen, es bei einer die Mitwirkung garantierenden Einvernehmensregelung zu lassen und diese Einvernehmensregelung mit knappen Fristen zu versehen. Auch bei der Planung von Schienenwegen muß die frühzeitige Beteiligung der Länder gewährleistet bleiben, die Sie in Ihrem Entwurf ausschalten wollen, weil das Land auf die Erschließungswirkung von Verkehrswegen Einfluß behalten muß, genauso wie bei der Verknüpfung mit anderen Verkehrsträgern. Weil das Land Mittler zwischen Antragsteller und Betroffenen hinsichtlich der Lärmbelastung und anderer Auswirkungen bleibt, ist der Erörterungstermin bei der Änderung von Verkehrswegen unseres Erachtens unverzichtbar. Nur in persönlichen Gesprächen zwischen Betroffenen und Anhörungsbehörde, gerade in den neuen Ländern, können wichtige Anregungen erläutert und Zusammenhänge geklärt werden. Wir alle wollen doch Verantwortung dafür haben, daß die Entwicklungsmöglichkeiten für demokratische Beteiligung gerade in den ostdeutschen Kommunen aufgebaut statt abgebaut wird. Deshalb ist es auch falsch, an den betroffenen Anwohnern vorbei Nutzungsänderungen von militäDr. Margrit Wetzel rischen Flughäfen in zivilen Betrieb ohne jegliche Information und Beteiligung der betroffenen Kommunen vorzunehmen, denn die haben erhebliche Auswirkungen sowohl auf die Struktur von Regionen als auch auf die wirtschaftliche Entwicklung und auf die Belastung der betroffenen Bevölkerung. Die Leute sind dort nie gefragt worden, ob sie die militärischen Flughäfen haben wollen. Wir sollten sie jetzt zumindest fragen, welchen Gewinn sie sich für die wirtschaftliche Entwicklung in ihren Gemeinden davon versprechen. ({6}) Die Frage ist doch, ob Sie wirklich so wenig Mut und so wenig Vertrauen in die Selbstverantwortung der demokratisch Beteiligten haben, daß Sie selbst die geringsten Mitwirkungsrechte aushebeln wollen. Wir hoffen deshalb auf eine faire Diskussion, auf eine gründliche Prüfung unserer Änderungsanträge und auf eine sachliche Beratung der Vorschläge, die wir Ihnen vortragen wollen, damit wir dieses Gesetz in einem möglichst breiten Konsens verabschieden können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Ekkehard Gries das Wort.

Ekkehard Gries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000726, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn richtig ist, was ich gelesen habe, hat ein nicht wenig zitierter Architekt gesagt, Planen und Bauen seien ein fortwährender Prozeß. ({0}) Das Ergebnis dieses Prozesses sehen Sie von mir aus gesehen rechts als ein stilles Monument architektonisch Schlichtweg falsch verstandenen Modernismus' und des Versagens von High-Tech. Ich bin der Meinung, daß sich das nicht nur der Bundestag - ich bin sicher, daß sich das in Berlin nicht wiederholen wird -, sondern vor allen Dingen auch eine Volkswirtschaft nicht länger werden leisten können. Wir erleben bei uns viele Rekorde, wir sind in vielen Dingen Weltmeister bzw. Europameister: Wir haben den längsten Urlaub, wir haben mit Sicherheit das beste soziale Netz, wir haben die meisten Feiertage bzw. werden in dieser Hinsicht nur von unwesentlichen Staaten übertroffen. Unser Einkommensniveau ist sicher Weltspitze. Vor allen Dingen aber sind wir - und da wird es ernster - Weltmeister bei der Dauer von Planungsverfahren und Planungsprozessen. Das werden wir uns, meine Damen und Herren, zukünftig nicht mehr leisten können. Das gilt für alle Verkehrswege, nicht nur für diejenigen, die man jeweils liebt. Wir sind auch schizophren und widersprüchlich. Auf der einen Seite sagen wir ja zur Schiene. Ich habe noch keinen aus der Verkehrspolitik oder anderen Bereichen - die „Experten" befinden sich ja meistens außerhalb des Verkehrsbereichs - getroffen, der gesagt hätte, wir brauchten die Schiene nicht. Alle reden vom Vorrang der Schiene. Aber was geschieht? Ich erinnere mich an die Diskussionen im letzten Bundestag, als wir hier noch Wessi-Grüne hatten. Als die ersten Planungen zur Schnellbahnstrecke Köln-Rhein/Main in Angriff genommen wurden, gründeten sie die ersten Initiativen gegen die Schiene. Deshalb sind wir heute noch nicht weiter, und in diesem Jahrtausend wird diese Neubaustrecke noch nicht in Betrieb genommen werden. Das ist schon abenteuerlich. ({1}) - Herr Dr. Feige, Sie hatten Glück, daß Sie noch nicht im letzten Bundestag saßen. Wir wollen einmal sehen, was ist, wenn bei Ihnen eine solche Strecke gebaut wird. Wir sind auch Weltmeister in der Verleugnung, wenn es um Straßen geht. Keiner will die Straße, sie wird verteufelt, der Autofahrer wird verketzert. ({2}) Aber jeder ist schnell dabei, wenn es um die Umgehungsstraße im eigenen Wahlkreis geht. Dann fordert man sie. ({3}) Meine Damen und Herren, was glauben Sie denn, wie lange der Bürger das noch hinnimmt? Wir haben es geschafft, hier wirklich an die Grenze der Handlungsfähigkeit zu kommen. Wir haben eine geradezu gigantische Planungsbürokratie aufgebaut. Wir haben fast schon eine Inzucht von Öko-Instituten geschaffen. Wir haben Kosten produziert. Wir haben eine viel zu große Zahl von Gerichten permanent mißbraucht. Die Gerichte beschäftigen sich ja nicht mehr mit dem Recht, sondern nur noch mit Rechthaberei seitens bestimmter Leute. Meine Damen und Herren, es herrscht Egoismus in Reinkultur. Ich karikiere das nicht, sondern nenne die Dinge nur beim Namen. Die Folge all dessen ist: Es wird gar nicht mehr gebaut. Wir reden hier über den Bundesverkehrswegeplan und über astronomische Milliardensummen. In Wirklichkeit geschieht ja gar nichts. Es passiert nichts mehr; die Investitionen bleiben bei dieser Politik auf der Strecke - nur nicht auf der Strecke, auf die sie gehören: weder auf der Schiene noch auf der Straße, auch nicht auf den Binnenschiffahrtswegen. Inzwischen sind wir gar kein halbwegs vernünftiges Gemeinwesen mehr. Wir sind eine Ansammlung von Bedenkenträgern. Das macht mir, ehrlich gesagt, Sorge. Wie will man auf dieser Basis eigentlich noch Investitionen realisieren? Wir haben vergessen, wo die Bedürfnisse der Menschen liegen, wo der Bedarf dieser Gesellschaft ist, was dringend notwendig ist, was verzichtbar und was nicht verzichtbar ist. All das haben wir vergessen. Darüber müßten wir wieder einmal nachdenken. Ich sage in Richtung nicht nur der Sozialdemokraten, aber insbesondere der Sozialdemokraten: Wir haben eine Kommunalwahl kurz hinter uns. Ich habe in dem Wahlkreis, in dem ich Spitzenkandidat war, mit meinen lockeren Reden Erfolg gehabt. Dort hat die F.D.P. in Hessen am besten abgeschnitten. Ich kenne aber Wahlkreise, in denen gerade die Sozialdemokraten voll auf die Schnauze gefallen sind, z. B. in Kassel oder in Wiesbaden mit einem hochsympathischen Oberbürgermeister, der 15 % verloren hat. Er weiß auch, warum: weil ihm die Grünen und die Fundamentalisten in der eigenen Partei, der SPD, eine völlig idiotische Verkehrspolitik aufgezwungen haben. ({4}) Von der SPD-Basis, nicht von den Vernünftigen, die Wahlämter innehaben, wird systematisch die Verbesserung der Verkehrsverbindungen von Ost nach West verhindert und sabotiert. Wir müssen sie gegen den Willen der Landesregierung und der Offiziellen in der Region - nicht der Bürger - durchsetzen. Ich finde, das war eine Quittung der Wähler, die Sie verdient haben. Darüber sollten Sie nachdenken. Das ist der Sinn der ganzen Geschichte, daß wir darüber nachdenken. ({5}) Es ist jetzt nicht die Zeit, diese lächerlichen grünweißen, rot-grünen oder ähnlichen Lollys zu installieren, teure Straßen von vier auf zwei Spuren zurückzubauen, die Leute zu behindern, zu bedrängen, ihnen das Leben schwerzumachen und sie in Eisenbahnzüge zu drängen, die nicht funktionieren. Das ist keine Verkehrspolitik. Dafür haben Sie die Quittung bekommen. Ich finde das auch richtig. Die Menschen lassen sich das endlich nicht mehr gefallen. Das sage ich in jede Richtung. ({6}) Planungsbeschleunigung muß sein. Sie muß überhaupt nicht bedeuten - Frau Wetzel, Sie malen da immer Schlimmes an die Wand --, daß die Interessen der Bürger nicht berücksichtigt werden, daß wir die davon Betroffenen nicht sehr frühzeitig in den Planungsprozeß einbeziehen, daß wir nicht ausreichend Rücksicht nehmen auf ökologische Tatbestände. Das ist im Grunde genommen selbstverständlich. Aber es muß erst einmal entschieden werden. Wir dürfen nicht immer nur darüber reden. Die F.D.P. hat wirklich keinen Nachholbedarf, wenn es darum geht, Bürgerrechte zu wahren und zu berücksichtigen. Aber so wie bisher geht es nicht weiter. Wir müssen die Effizienz der Planung erhöhen, und wir müssen die Kosten wieder in den Griff bekommen. Vor allen Dingen aber müssen wir entscheiden. Deshalb hoffe ich, daß wir für dieses Gesetz eine breite Zustimmung erhalten. Ich gehe nach den Beratungen im politischen Raum auch hinsichtlich des Bundesrates davon aus, daß wir das schaffen. Das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, der zweite wesentliche Gegenstand, den wir hier diskutieren, ist eine bittere Pille. Vielleicht sind wir ganz falsch beraten, das jetzt zu diskutieren, denn um 16 Uhr beginnt im NATO-Saal des Bundeskanzleramtes die Diskussion zwischen der Bundesregierung und den Ministerpräsidenten der Lander. Ein Ministerpräsident war heute hier, wenn auch, wie ich fand, ziemlich kurz. Wir reden hier über die Verlagerung von jeweils 1 Milliarde DM in den Jahren 1993 und 1994. Wichtig ist die Frage: Was passiert ab 1995 mit den 14 Milliarden DM und mehr? Zur Diskussion steht nicht nur unser Antrag, son-dem auch das Schicksal des ÖPNV und des kommunalen Straßenbaus. Unser Antrag ist, wenn Sie so wollen, ein Notbehelf für zwei Jahre. Deshalb gehe ich auch davon aus, daß Sie ihm zustimmen werden. Wichtiger ist die Diskussion im Zusammenhang mit dem föderalen Konsolidierungsprogramm. Dieser Begriff ist eine Sprachschöpfung des Unmenschen. Da wundern wir uns, daß uns der Bürger nicht mehr versteht! Das können wir ja kaum noch aussprechen, aber wir gewöhnen uns daran. Das will ich einmal kritisieren. Aber das ist eben typisch für den Zeitgeist. Wir müssen zusehen, daß die Lastenverteilung im Zusammenhang mit dem ÖPNV, daß die Regionalisierung im Zusammenhang mit der Bahnreform vernünftig erfolgen; andernfalls brauchen wir uns über den Koalitionsantrag bezüglich der zweimaligen Verlagerung von jeweils 1 Milliarde DM nicht zu unterhalten. Aber wir wollen heute ja nur die Überweisung beschließen. Dann wollen wir sehen, wie es mit den restlichen 14 Milliarden DM weitergeht. Wir sind alle der Meinung, daß wir weiterhin den ÖPNV brauchen, daß wir den kommunalen Straßenbau brauchen, manchmal sogar gegen den Willen der Landesregierungen; dann helfen eben wir den Kommunen. Das alles ist unbestritten. Ich bin sicher, daß wir dafür eine breite Mehrheit finden werden. Zum Schluß noch folgendes. Herr Verkehrsminister, ich schließe mich den Wünschen des Kollegen Fischer aus der CDU/CSU-Fraktion vollinhaltlich an. Wir wünschen Ihnen bei den Verhandlungen im Zusammenhang mit der Anlastung der Wegekosten am 15. März vollen Erfolg. Das braucht unser Gewerbe, und das ist verkehrspolitisch sinnvoll. Anschließend werden wir das Ergebnis umsetzen. Das ist ehrlich gemeint. ({7})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nun dem Abgeordneten Dr. Fritz Schumann das Wort.

Dr. Fritz Schumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002114, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der kürzlich vorgelegte Straßenbaubericht 1991 und unzählige Stellungnahmen von Verbänden, Organisationen, Kommunen und anderen Institutionen sowie vieler besorgter Bürger zeigen sehr deutlich, daß sich auf dem Gebiet des Verkehrswesens eine Entwicklung vollzieht, die so nicht weitergeführt werden kann. Wachstumsraten im Straßenverkehr von 4 % jährlich - so weist es zumindest der Straßenbaubericht aus - sind weder wirtschaftlich noch finanziell auf die Dauer verkraftbar, noch sind sie in irgendeiner Dr. Fritz Schumann ({0}) Weise ökologisch vertretbar. Diese Entwicklung, wenn sie uneingeschränkt so weitergehen sollte, wird in kürzester Zeit auf weiten Strecken zum Verkehrsinfarkt führen und damit zum wirtschaftlichen Hemmnis statt zum Fördernis. Noch viel weniger ist diese Entwicklung mit grundlegenden ökologischen Erfordernissen vereinbar. Infrastruktur und damit auch Verkehr gehören zu einer funktionierenden Wirtschaft und Gesellschaft. Das ist uns schon klar. Wie sehr Mängel in der Infrastruktur wirtschaftliche Entwicklung hemmen können, können gerade wir aus den neuen Bundesländern bestätigen. Die Chance der deutschen Einheit, auf diesem Gebiet aus den Erfahrungen in den alten Bundesländern zu lernen und nicht allein die Ideologie der Autolobby zu vertreten, wurde unseres Erachtens vertan, genauso wie in dem vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen und der Beschlußempfehlung des Verkehrsausschusses zur deutschen Verkehrspolitik im zusammenwachsenden Europa bestehende Chancen unserer Auffassung nach nicht wahrgenommen wurden. Der mit der Beschlußempfehlung zur Annahme empfohlene Antrag ist eher ein Armutszeugnis als eine in die Zukunft gerichtete Orientierung. Er schreibt im Prinzip bisher praktizierte Politik fort, sicher mit ein paar veränderten Vorzeichen - aber die bestehen in der Hauptsache in der Privatfinanzierung von Verkehrsanlagen und der Beschneidung von Mitspracherechten von Bürgerinnen und Bürgern in der Verkehrswegeplanung -, und ist nicht zuletzt unter dem Thema der europäischen Verkehrspolitik eine Fiskalharmonisierung. Damit steht die Bundesrepublik leider nicht allein in Europa. Es ist aber dringend geboten, auf europäischer Ebene ein Verkehrskonzept zu entwickeln, das aus der Erfahrung der Gegenwart, verbunden mit zukünftigen Vorstellungen, eine echte Alternative zum bisherigen Verkehrskonzept darstellt. Vorschläge dazu gibt es sicher eine ganze Menge. Die Beziehungen zwischen den westlichen europäischen Ländern sollen sich vertiefen. Osteuropa kann schon heute nicht mehr aus der Betrachtung zur Verkehrsentwicklung herausgelassen werden. Das wird auch erwähnt. Die Prioritäten von Bahn und Binnenschiffahrt müßten nach unserer Auffassung aber viel deutlicher als bisher gesamteuropäisch betrachtet und festgeschrieben werden. Überhaupt ist zu fragen, ob es noch Sinn macht, Europa zwar politisch nach dem Subsidiaritätsprinzip betrachten zu wollen, aber wirtschaftlich als übergreifend grenzenlos anzunehmen. Es geht dabei nicht um die Wiedereinrichtung von Landesgrenzen. Es geht um die Organisation von Stoff- und Lebenskreisläufen bestimmter Regionen, die in Verkehrsströmen ihren Niederschlag finden. Umdenken ist hier dringend angemahnt. Der freie Lauf der Marktkräfte ist nicht nur von Natur aus unsozial, sondern offenbar auch unökologisch, gewissermaßen auch von Natur aus bzw. gegen sie. Zurück zur Bahn. Die vom Bundesfinanzminister anfangs geplante Verknüpfung von Bahnreform und Einsparung des Bundes im Rahmen des föderalen Konsolidierungsprogramms hätte Fakten geschaffen, die die Gestaltungsspielräume für die Herstellung eines ökologischen Verkehrssystems von vornherein zerstört hätte. Das ist zwar momentan vom Tisch. Dafür kommt der Rückzug des Bundes aus der Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs. Wir fordern deshalb als Bestandteil der Bahnreform und einer bei gesichertem finanziellen Ausgleich begrüßenswerten Regionalisierung des ÖPNV, vor einer Grundgesetzänderung folgende Punkte zu erfüllen: Festlegung eines bundesgesetzlich verankerten Leistungsauftrags der Bahn in den beiden Aufgabenfeldern des Personen- und Güterverkehrs, bundesrechtliche Verankerung des ÖPNV als gemeinwirtschaftliche Pflichtaufgabe der Daseinsvorsorge, Verabschiedung eines Bundes-ÖPNV-Gesetzes als bundesrechtlichen Rahmen für die von Ländern zu erlassenden Landes-ÖPNV-Gesetze zur Sicherung der Existenz und der Minimalqualitäten des Schienennah- und -regionalverkehrs, Verbleib des Gesamtschienennetzes im Besitz des Bundes zur Verhinderung von kurzfristigen, betriebswirtschaftlich bedingten Streckenstillegungen und eine finanzielle Absicherung des ÖPNV durch eine zweckgebundene Erhöhung der Mineralölsteuer zur Umgestaltung des Verkehrssystems, an der die Länder beteiligt werden. Nun noch einige Gedanken zum Planungsvereinfachungsgesetz als eine im Sinne der Regierungspolitik logische Fortsetzung des Beschleunigungsgesetzes Ost, zunächst befristet, jetzt gesamtdeutsch unbefristet. Auch wir sind gegen Bürokratismus und langwierige Verwaltungsverfahren. Dennoch lehnen wir den vorliegenden Gesetzentwurf ab. Er ist in seinen wesentlichen Punkten undemokratisch und richtet sich gegen Beteiligungsrechte von Bürgerinnen und Bürgern in der Verkehrswegeplanung. Ginge es der Bundesregierung tatsächlich um eine Verfahrensverkürzung, dürfte sie nie auf die Idee kommen - wie sie es zunächst tut -, einen möglichen Verzicht auf Erörterungstermine gesetzlich festzuschreiben. Die Öffentlichkeitsbeteiligung durch Erörterungstermine hat in erster Linie eine konstruktive Funktion und wirkt somit verfahrensverkürzend. Die Schaffung eines Instrumentariums aus Plangenehmigung, Maßnahmegesetzen usw. lehnen wir ebenso ab wie eine Linienbestimmung durch Bundesgesetz. Danke.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Klaus-Dieter Feige das Wort.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetz wird die Serie von sogenannten Erleichterungs- und Beschleunigungsgesetzen fortgesetzt. Zuerst stand das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz - das übrigens nur mit Hilfe SPD-regierter Länder in Kraft gesetzt werden konnte. Es tut mir außerordentlich leid, das sagen zu müssen. Das Investitionserleichterungsgesetz und Maßnahmegesetze sollen in der Folge suggerieren, daß diese Bundesregierung alles tut, damit es im Land schneller vorangeht. Einen solchen Eindruck wollen Sie hinterlassen. Aber die Wahrheit ist ganz anders. In beinahe schon als Tradition zu nennenden Versuchen von Volksverdummung wird durch die Koalition immer wieder probiert, ihre Ideologie des Demokratieabbaus als Entwicklungshilfe für die Kolonien im Osten Deutschlands, den sogenannten neuen Ländern, zu tarnen. ({0}) Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie haben bisher in allen Gesetzen nichts weiter getan, als den Unterschied im rechtlichen Zustand zwischen Ost- und Westdeutschland nach der Methode „teile und herrsche" zu zementieren. Die Unterschiede im Recht zwischen Ost- und Westdeutschland werden von Ihnen immer deutlicher getrennt. ({1}) Manch einer im Westen hat sich bisher in dieser Hinsicht noch ganz sicher gefühlt. Aber ich glaube, inzwischen steht er vor der Situation, daß es eines Tages auch ihn erreichen wird. Mit dem Entwurf des Planungsvereinfachungsgesetzes weichen Sie nämlich neuerdings davon ab, lediglich im Osten Demokratieabbau zu betreiben. Der reicht Ihnen jetzt nicht mehr. ({2}) Das neue Ziel ist die gesamte Bundesrepublik. ({3}) Allerdings glaube ich - das habe ich aus den Worten von Frau Wetzel gehört -, daß das in diesem Land eigentlich niemanden mehr überrascht hat. Denn bereits in der Debatte zum VerkehrswegeplanungsBeschleunigungsgesetz haben wir Ihnen dieses Ziel vorgeworfen. Sie haben noch nicht einmal ein Hehl daraus gemacht, daß Sie genau das vorhaben, nämlich die Mitbestimmungsrechte in diesem Land zu reduzieren. So ist das heute nichts weiter als die Konsequenz. Darm will ich Ihnen noch eines sagen. In dieser Hinsicht haben Sie nicht, wie damals versprochen, auf die Ergebnisse über die Auswirkungen des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes gewartet. Sie gehen in die vollen und tun so, als ob es sich dort bewährt hätte.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Dr. Feige, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Fischer zu beantworten? - Bitte schön.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dr. Feige, haben Sie zufällig übersehen, daß mit der Drucksache 12/4328 das rückständige Recht der alten Bundesländer auf dem Gebiet der Verkehrswegeplanung dem fortschrittlichen Recht der neuen Bundesländer angepaßt werden soll?

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe überhaupt nicht übersehen, daß Sie genau das tun wollen. Aber es gibt offensichtlich himmelweite Unterschiede in unseren Vorstellungen, was fortschrittlich ist. Wenn ich heute sagen muß, daß wir bemüht sind, konservative Positionen gegenüber einer christdemokratischen Partei zu vertreten, dann sollten Sie sich überlegen, was in dieser Hinsicht in Ihrer Politik überhaupt noch konservativ zu nennen ist. Ich muß Ihnen sagen, daß das, was in den alten Ländern an Rechten erkämpft worden ist, nicht etwa auf Ihrem Mist gewachsen ist, sondern - ganz im Gegenteil - durch den Druck der Ökologiebewegung zu Beginn der 80er Jahre ({0}) und auch durch die GRÜNEN, wie ich glaube, in der letzten Legislaturperiode hier hereingebracht wurde. Wenn Sie am UVP-Gesetz knabbern, wenn Sie bereits dort unterminieren - durch die Verkürzung von Fristen wird die Mitbestimmung eingeschränkt -, dann ist das natürlich Ihr erklärtes Ziel. Aber was das mit Fortschritt im Sinne von demokratischer Entwicklung zu tun hat, kann ich beim besten Willen nicht erkennen. ({1}) Sie versuchen, mit einem neuen Zentralismus die Strategieunfähigkeit zu kaschieren. Das findet sich an diversen Stellen im Gesetzentwurf. Mit dem Versuch, die Linienführung von Verkehrswegen von europäischer oder nationaler Bedeutung auf Bundesgesetzebene festzuschreiben, rütteln Sie an den bewährten Fundamenten unseres Föderalstaats. Mit diversen Fristverkürzungen wollen Sie, wie eben bereits gesagt, ähnliches tun. Ich glaube, Sie haben nicht erkannt, wo die tatsächlichen Ursachen für die Verzögerungen im zeitlichen Ablauf liegen. Sie liegen im Verwaltungsprozeß, im Planungsprozeß selbst, an dem die Öffentlichkeit gar nicht beteiligt ist. Es gibt absolut keinen Grund, in dieser Hinsicht etwas zu unternehmen. Hören Sie endlich auf, so zu tun, als gehörte dieses Land Ihnen allein und als wäre jeder, der Sie von der Regierung in ihrer Allmacht stoppen will, ein Hochverräter. Alle Erfahrung besonders schneller Planungsvorhaben in der DDR der Nachwende hat gezeigt, daß es mit den Betroffenen und Experten gemeinsam viel schneller geht als gegen sie. Das Beispiel DDR sollte Ihnen in Sachen Zentralstaatlichkeit zu denken geben. Denn auch Zentralstaatlichkeit stand in der DDR am Anfang des Endes einer Regierung. Die Zeit der Runden Tische ist für die Bürger in den neuen Ländern nicht nur eine angenehme Erinnerung, sondern auch eine wichtige politische Erfahrung dafür, wie man einen nationalen Solidarpakt schaffen kann. Und davon sind wir weiter weg denn je. Wenn die Bundesrepublik auch in 20 Jahren noch lebenswert sein soll, gibt es zu Ihrer Politik nur die Alternative eines sofortigen Umdenkens hin zur Verkehrsvermeidung. Das Wort Verkehrsvermeidung, Herr Kollege Fischer, habe ich in Ihrem Beitrag unter den acht Punkten bis auf ein paar marginale Ansätze absolut vergeblich gesucht. Wenn Sie es hinnehmen, daß die Horrorszenarien von der Verkehrsentwicklung, die von Ihnen dargestellt wurden, durch den Bau realisiert werden, dann ist Ihr Acht-Punkte-Programm die Sicherheit dafür, daß es in diesem Land mit der Ökologie zu Ende geht. Wir brauchen keine neuen Verkehrswege, die weiter Verkehr provozieren, sondern sollten alles tun, damit es weniger Verkehr gibt. Dazu gehören Maßnahmen wie intensive Aufklärung für eine ökologische Verkehrswende und Vermeidungskonzepte. Davon reden meine Kollegen im Umweltausschuß jeden Tag, immer wieder neu, und sie reden und reden; und wenn sie nicht gestorben sind, werden sie in hundert Jahren weiter davon reden. Sie sind wirklich nicht in der Lage, eine Verkehrswende in diesem Land einzuleiten. Ich muß auf das Thema Mineralölsteuer zurückkommen. Die tatsächlichen Kosten für ein Auto, für die Umwelt und das Leben müssen auf den Mineralölpreis umgelegt werden; sonst haben wir keine Chance. Sie subventionieren Vielfahrer. Ich glaube, eine Diskussion über diesen Gesetzentwurf wird sehr anstrengend sein. Ich mag meine Hoffnung nicht aufgeben; aber ich kann in Ihren heutigen Wortbeiträgen nicht den Ansatz eines Einlenkens in die richtige Richtung erkennen. Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Rudolf Meinl.

Rudolf Meinl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001459, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der große Nachholbedarf beim kommunalen Straßenbau, bei den Einrichtungen und Anlagen sowie der Gerätetechnik des ÖPNV war und ist in den jungen Bundesländern offensichtlich. Eine Straßenzustandsbewertung für Chemnitz weist z. B. aus, daß nur 25,1 % der Straßen als funktionsgerecht eingestuft werden können, während 34,6 % mit schweren und schwersten Schäden behaftet sind. Von den 182 Brücken haben 23 die Zustandsnote IV und sind damit abrißwürdig. Radwege sind in den neuen Ländern so gut wie nicht vorhanden und müssen neu angelegt werden. Für den ÖPNV sind neben der Beschaffung neuer Busse und Straßenbahnen erhebliche Investitionen im Bereich der Gleisanlagen und vor allem im Einstiegbereich der Haltestellen notwendig, um eine ökologische und stadtverträgliche Verkehrsentwicklung zu erreichen. Die Mittel aus dem Programm „Aufschwung Ost" haben einen großen Anschubeffekt für die notwendigen Arbeiten bewirkt. Um so krasser ist jedoch die Situation nach dem Wegfall des Programms „Aufschwung Ost". Die Mittel reduzierten sich z. B. für Sachsen auf ca. 36,5 % für 1993 gegenüber 1992 - GVFG plus Aufschwung Ost -, obwohl die GVFGMittel um fast 100 % erhöht wurden. Der Anteil der in den Altbundesländern verfügbaren Mittel stieg dagegen auf 143 %. Der heute eingebrachte Gesetzentwurf zur Ånde-rung des GVFG korrigiert diese Schieflage etwas und ist daher unverzichtbar. Gemessen an den Mitteln für 1992 stehen den neuen Bundesländern damit wenigstens 65 % zur Verfügung. Hier, Frau Kollegin Dr. Wetzel, muß ich doch noch einmal darauf zurückkommen: Wenn Sie Ihre Befürchtungen - vielleicht sollte ich sagen: Hoffnungen - äußern, daß diese Mittel in den neuen Ländern nicht verbaubar sind ({0}) - ich habe zugehört! -, und wenn Sie von Unqualifiziertheit und Unfähigkeit der zuständigen Stellen in den neuen Ländern sprechen, ({1}) dann kann ich nur sagen: Das ist die BesserwessiMentalität, die wir nicht akzeptieren. ({2}) Ich sage es ausdrücklich: Ich bedanke mich bei jedem, der aus den alten in die neuen Bundesländer kommt, um uns zu helfen, ganz egal, auf welchem Gebiet. Für uns ist das ein learning by doing. Wie gesagt, besten Dank an alle, die uns helfen. Die Gültigkeitsdauer von zwei Jahren für dieses Gesetz gewährleistet jedoch nicht, daß in diesem Zeitraum der vorhandene Nachholbedarf beim kommunalen Straßenbau und beim ÖPNV ausgeglichen werden kann. Es muß daher an einer Lösung zur Weiterführung der Verkehrsinfrastrukturangleichung ab 1995 gearbeitet werden. ({3}) Die Umschichtung von einer Milliarde DM zugunsten der neuen Bundesländer beläßt den alten Bundesländern immer noch verfügbare Mittel in Höhe von 120 % gegenüber dem Stand von 1992. Niemand kann dabei von einem Verzicht sprechen. Die starke Mittelreduzierung hätte aber für die neuen Bundesländer eine zeitliche Streckung der Bau- und Beschaffungsmaßnahmen, sogar teilweise mit Unterbrechung, zur Folge. Eine Angleichung der Infrastruktur durch Aufbau vor Ausbau fände damit auf Jahre hinaus nicht statt. Der ÖPNV würde wegen fehlender Attraktivität nicht als eine Alternative zum Individualverkehr angenommen. Gerade hierfür wurde am 4. März 1993 in Chemnitz eine Weltneuheit vorgestellt, ein Doppelstockbus von 15 m Länge in Niederflurausführung mit 100 Sitzplätzen. Das bereits als „Megashuttle" bezeichnete Fahrzeug wird nach Ausstellungen in Sidney und Leipzig ab Ende April im Linienverkehr in Chemnitz eingesetzt. Da die Serienfertigung in Sachsen aufgenommen wird, kann damit auch zur Sicherung bzw. Schaffung von Arbeitsplätzen beigetragen werden. ({4}) Die Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf ist also auch eine Frage der Solidarität der alten mit den neuen Bundesländern. Bei der gestrigen Nach12560 tragshaushaltsdebatte in diesem Hohen Haus hat sich ja auch die Opposition mehrfach zu dieser Solidarität bekannt. Wie man tatsächlich damit umgeht, wird sich bei der Behandlung dieses Gesetzentwurfs im Bundesrat zeigen. ({5}) Stimmen Sie dieser Umschichtung zu! Die neuen Bundesländer brauchen diese Mittel dringend. Vielen Dank. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile dem Abgeordneten Reinhold Hiller das Wort.

Reinhold Hiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000901, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! An unserer Solidarität mit den neuen Bundesländern wollen wir keinen Zweifel lassen; das haben wir auch in der Vergangenheit nicht getan. ({0}) Wir sehen ein, daß die Notwendigkeit zusätzlicher Mittel für den öffentlichen Personennahverkehr besteht. Das will ich vorab ganz deutlich erklären, damit hier keine Mißverständnisse auftreten. Vor einem Jahr habe ich an dieser Stelle die Konzeptionslosigkeit der Verkehrspolitik der Bundesregierung beklagen müssen. Damals habe ich geglaubt, eine Steigerung sei nicht mehr möglich; doch Bundesverkehrsminister Krause hat das Unmögliche möglich gemacht. Die Bundesregierung steht vor einem verkehrspolitischen Durcheinander. Keiner weiß, wo es langgeht, aber alle gehen mit. Dabei ist den Bürgerinnen und Bürgern offensichtlich geworden: Der Bundesregierung geht es nicht um die Lösung der immensen Verkehrsprobleme. ({1}) Sie sucht vielmehr, wie der Verdurstende in der Wüste nach Wasser, verzweifelt nach immer mehr Geld für die chronisch leeren Kassen des Finanzministers.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Reinhold Hiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000901, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Hiller, ich möchte Sie fragen, ob es nicht gerade einem schleswig-holsteinischen SPD-Abgeordneten anzuraten wäre, mit dem Vorwurf eines Durcheinanders im Moment sehr zurückhaltend umzugehen. ({0})

Reinhold Hiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000901, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich weiß nicht, was diese Frage hier bedeuten soll. Der Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein hat Klarheit geschaffen, und die notwendige Klarheit in dieser Angelegenheit wird auch im Untersuchungsausschuß bestätigt werden. ({0}) Ich komme zurück auf die Bundesregierung. Meine Damen und Herren, wenn Sie in den letzten beiden Wochen die Presse verfolgt haben, wissen Sie, welcher Aufstand gegen die Autobahnvignette durch die Bevölkerung ging. Vignette ja, Vignette nein, Mineralölsteuererhöhung nein, Mineralölsteuererhöhung ja, dann beides kombiniert, am nächsten Tag wieder anders - da blickt niemand mehr durch. Nur in einem bestand Einigkeit: Dieses Theater wurde von der Bevölkerung in keiner Weise akzeptiert. Der Gipfel der ganzen Diskussion ist, daß Sie versucht haben, der Bevölkerung weiszumachen, daß zur Finanzierung der Bahnreform die acht Milliarden DM notwendig seien, die durch die Vignette eingenommen werden sollten. Ich glaube, daß Sie damit der Akzeptanz, die die Bahnreform noch in der Bevölkerung hat, einen Bärendienst erwiesen haben. Die Wahrheit ist: Nicht Bahn und ÖPNV sollen als zukünftige Verkehrsträger fit gemacht werden. Die Wahrheit ist: Bei Ihren Steuerüberlegungen gucken Sie danach, wie man dem Finanzminister aus seiner Klemme helfen kann. ({1}) Die unzumutbare Finanzdiskussion über die Sanierung der Bahn müsse schnellstens beendet werden, erklärte das BDI-Präsidium am Montag in Köln. Es widersprach zugleich politischen Behauptungen, die Bahnreform erfordere die Erhöhung von Steuern oder die Neueinführung von Gebühren. - Da die Koalitionsfraktionen nicht auf die SPD hören, sollten sie mindestens die Bevölkerung und die Fachverbände im Urteil über dieses Steuertheater ernst nehmen. Alle sind sich darin einig, daß das AutobahnAbkassier-Modell der Bundesregierung verkehrsund umweltpolitisch sinn- und nutzlos ist. Hier soll eine Kopfsteuer für Autofahrer als Füllmasse für Haushaltslöcher eingeführt werden. ({2}) Herr Minister Krause, Sie können ja heute noch einmal den Versuch unternehmen, uns zu erklären, wie hoch die Mineralölsteuer für Pkw in den europäischen Ländern ist. Sie werden keine Chance haben, glaube ich, der Bevölkerung zu erklären, daß ausgerechnet wegen dieser Disparität diese Steuererhöhungen bei uns in Deutschland notwendig sind. Tatsache in der politischen Diskussion ist: Sie haben es über Jahre nicht geschafft, in Brüssel die Schwerlastabgabe zur Herstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen durchzusetzen. Das ist der Fehler Ihrer Politik, den Sie jetzt über andere Instrumente wettmachen wollen. In den europäischen Nachbarländern sind die Benzinpreise höher als in Deutschland. Der bürokratische Aufwand, um die Autobahngebühr zu erheben, die Vignette zu kontrollieren und Kontrollstellen zu errichten oder gar für eine exakte Abrechnung der auf der Autobahn gefahrenen Kilometer den „gläsernen Autofahrer " zu schaffen, ist überhaupt nicht abschätzbar. Daher bestehen große Besorgnisse. Reinhold Hiller ({3}) Die Polizei ist jetzt schon mit ihren zahlreichen Aufgaben personell an ihrer Leistungsgrenze angelangt und wäre mit einer solchen zusätzlichen Kontrollaufgabe völlig überfordert. Das hat die Gewerkschaft der Polizei eindeutig erklärt, und die Polizisten haben in dieser Sache recht. Der Verkehrsminister denkt auch nicht an ein Umsteuern in der Verkehrspolitik, wie Sie, Herr Kollege Fischer, es hier darzustellen versucht haben. Ihm fehlen die Gelder für die gigantischen Straßenbauprojekte. Dafür sucht er nun neue Möglichkeiten. Er sinniert über die Privatisierung der Autobahn. Für sein Autobahn-AG-Projekt wird er aber nur dann Interesse finden, wenn der Straßenverkehr als Hauptverkehrsträger der Zukunft auch künftig politisch festgeschrieben wird. ({4}) In der Verkehrspolitik geht es jedoch nicht um Profit; es geht um eine zukunftsorientierte ökologische Verkehrspolitik. ({5}) Dabei ist auch den Verantwortlichen in der Wirtschaft längst klar, daß der Straßenverkehr und der Traum von einer europaweiten Just-in-time-Produktion nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch keine Zukunft haben werden. ({6}) Nur die Bundesregierung lebt in einer automobilen Vergangenheit. Noch vor wenigen Jahren träumten viele Verkehrsexperten von vollen Zügen und vollen Bussen. Dieser Zustand ist vielfach endlich eingetreten bzw. im Osten noch vorhanden. Da muß man einfach nüchtern feststellen, daß angesichts dieser Tatsache ein weiterer Finanzbedarf in diesem Sektor bestehen wird. Dies gilt insbesondere für die neuen Bundesländer. Deshalb verdienen der ÖPNV und die Bahn in dieser Sache weitere Unterstützung in den nächsten Jahren. Wenn Sie durch Kürzung von Mitteln Strukturen zerschlagen, dann wird es nicht mehr möglich sein, diese wiederherzustellen. ({7}) Das ist genau das, was man an der Entwicklung in den neuen Bundesländern zu beklagen hat. Die Beratungen im Ausschuß und auch mit den Ländern werden zeigen, wie ernst die Politik ihre Sonntagsreden nimmt, in denen sie nämlich fordert, daß der Verkehr von der Straße auf die Schiene oder vom Pkw in den Bus verlagert werden soll. Wenn man heute eine Bilanz zieht, stellt man fest, daß alle Bundesländer nicht in der Lage sind, die derzeitigen Kosten eines attraktiven Schienen-Personennahverkehrs zu finanzieren. Dies ist eine Frage, die uns auf Dauer beschäftigen wird. Deshalb bin ich sehr gespannt darauf, was die Beratungen über den von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf bringen werden. Die Abwälzung von ÖPNV- und Bahnkosten - Stichwort: Regionalisierung - vom Bund auf die Lander, wie sie die Regierung plant, wird ohne Umwege zur Bahn- und ÖPNV-Zirrhose führen. Die Hälfte des derzeitigen Streckennetzes beider deutscher Bahnen wäre unmittelbar bedroht. Statt zu einer Stärkung der Bahn käme es zu einer weiteren Schwächung. Weite Teile, besonders des ländlichen Raums, drohen von der Schiene abgehängt zu werden. Wir werden es alle erleben, daß viele Menschen aus Finanznot von Bus und Bahn zum Pkw zurückkehren müssen. Dies kann keine vernünftige Politik sein. Ihnen liegt ein Entschließungsantrag der SPD-Bundestagsfraktion vor. In Ihrer Rede, Herr Kollege Fischer, kann ich durchaus einige Übereinstimmungen feststellen. Aber ich kann sie nicht in der konkreten Politik der Bundesregierung feststellen. ({8}) Deshalb empfehle ich Ihnen, diese Lücke zwischen Theorie und Praxis der Bundesregierung auszugleichen. Dabei ist unser Entschließungsantrag eine Hilfe. ({9}) Die Horrorszenarien von der künftigen Verkehrsentwicklung sind allen bekannt. Selbst die Gutachten, die vom Verkehrsminister für den Bundesverkehrswegeplan erstellt worden sind, haben Sie nicht zu den notwendigen Konsequenzen veranlaßt. Für mich stellt sich da einfach eine Frage. Wenn in diesem Hause im Zusammenhang mit dem Bundesverkehrswegeplan über Hunderte von Milliarden DM diskutiert wird, dann kann ich die Diskussion nicht begreifen, wenn es um 1 Milliarde DM zusätzlich für die neuen Bundesländer geht, und dann kann ich nicht verstehen, wieso es nicht möglich sein soll, diese Mittel aus dem BVWP umzuwälzen, um den Notwendigkeiten einer neuen Verkehrspolitik besser gerecht zu werden. ({10}) Je mehr wir uns bewegen, desto weniger werden wir uns in der Zukunft bewegen können, ({11}) weil wir immer mehr im Stau stehen werden. ({12}) Das wird das Ergebnis Ihrer Politik sein, wenn Sie so weitermachen wie bisher. Vielen Dank. ({13})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Blank ist die nächste Rednerin.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Beschleunigungsmaßnah12562 men bei der Verkehrswegeplanung sind nicht nur in den neuen Bundesländern, sondern auch in den alten Bundesländern zwingend erforderlich. Um den Standort Deutschland zu halten und damit Arbeitsplätze zu sichern, brauchen die Unternehmen und die Bürger eine optimale Infrastruktur und vor allem Planungssicherheit. Politik, Verwaltung und Wirtschaft müssen dabei an einem Strang ziehen. Die gesellschaftliche Entwicklung driftet in der Verkehrspolitik und insbesondere in der Verkehrswegeplanung jedoch zunehmend in eine andere Richtung ab und blockiert. Es ist nicht einmal so sehr das gestiegene Umweltbewußtsein, das die Wege versperrt, sondern Ökologie-Ideologen, Hobbyprotestler und Bürger, die ihr Individualinteresse über das Gemeinwohl stellen, verschleppen und vereiteln häufig Entscheidungen. ({0}) Dazu nutzen sie jede Möglichkeit, die ihnen unser Rechtsstaat bietet. Das Gemeinwohl als schützenswertes Grundgut unserer Gesellschaft gerät zunehmend in Vergessenheit. Wir spüren dies täglich; denn wenn 98 % der Bürger eine Verkehrsmaßnahme möchten, 2 % aber in der Lage sind, diese Planung über zehn Jahre, teilweise sogar 20 Jahre zu verschleppen, dann stimmt etwas nicht bei der Abfolge im Planungs- und Genehmigungsbereich. ({1}) Wenn der BUND in Bayern Planungszeiten von 15 Jahren geradezu als „demokratische Errungenschaft" feiert ({2}) und bei der Einführung von Planungsbeschleunigungen den „Rückfall in vordemokratische Zustände" beschwört, wird uns drastisch vor Augen geführt, wie weit wir mit dieser Entwicklung als Wirtschaftsstandort Deutschland, der mit der technologischen und wirtschaftlichen Entwicklung weltweit Schritt halten muß, gekommen sind. ({3}) Hier gilt es einzuhaken und die Weichen neu zu stellen; denn im Interesse aller Beteiligten ist deutlich zu machen: Einmal muß Schluß sein! ({4}) Hier kann und muß das Gesetz zur Vereinfachung der Planungsverfahren für Verkehrswege ansetzen, um uns aus diesem Dilemma zu lösen, in das uns der Rechtsmittel- und Genehmigungsstaat führte. Der Bürger hat einen klaren Anspruch auf Entscheidung innerhalb einer eng bemessenen Frist. Um nichts anderes geht es in dem vorgelegten Gesetzentwurf. Die Beschleunigungsmaßnahmen sind erforderlich, da die derzeitigen Verzögerungen bei der Planung von Schienenstrecken, Straßen und Wasserstraßen von 10 bis 15 Jahren nicht länger hingenommen werden können. Als Haupttransitland benötigt Deutschland eine optimale Verkehrsinfrastruktur. Wie sonst soll die von allen geforderte Verlagerung von Verkehrszuwächsen auf die Schiene möglich sein? Es geht nicht an, daß SPD, BUND, speziell in Bayern, und Bürger lauthals die Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene fordern, aber dann, wenn Schienenwege geplant werden, Hand in Hand gegen den Ausbau der Schienenwege protestieren und ihn verzögern. ({5}) Die Leistungen aller Verkehrsträger sind eng mit den Aktivitäten von Bürgern, Gesellschaft und Wirtschaft verknüpft. ({6}) Nahezu alle Schritte, auch zur Verkehrsverlagerung, beginnen mit Planung und Genehmigung. Verläßlichkeit der Planungs- und der Genehmigungsdauer wird unverzichtbar. Nur so hat die Bundesrepublik im weltweiten Wettbewerb um Aufträge, Produktion und Arbeitsplätze weiterhin gute Chancen. Es wird höchste Zeit, daß wir unsere aufwendigen Verfahrens- und Verwaltungsabläufe abspecken, auch im Hinblick auf den europäischen Binnenmarkt. Der vorliegende Gesetzentwurf beschleunigt und vereinfacht nicht nur, sondern sorgt zugleich für Kosteneinsparungen bei den Kommunal- und Landesverwaltungen. Der Gesetzentwurf enthält verfahrensrechtliche Bestimmungen. Materiellrechtliche Anforderungen an die Planung, z. B. bei der Berücksichtigung von Umweltbelastungen, werden nicht geändert. Auch findet nach wie vor Bürgerbeteiligung statt. ({7}) Lassen wir nicht zu, daß die wirtschaftlichen und verkehrlichen Anforderungen sowie die gesellschaftlichen Realisierungsmöglichkeiten in Deutschland immer weiter auseinanderklaffen! Die derzeitige Situation erinnert mich an folgenden Witz: Ein amerikanischer und ein deutscher Brückenbauer wetten darum, wer sein Projekt zuerst fertiggestellt hat. Nach einem Jahr fragt der Amerikaner bei seinem deutschen Kollegen nach: „Noch zehn Tage, und wir schließen unser Projekt ab." Darauf der Deutsche: „Noch zehn Formulare, und wir fangen an. " Damit der Witz in Deutschland nicht Wahrheit bleibt, denke ich, daß Vereinfachung der Planungsverfahren für Verkehrswege und Mobilität im Verkehr nur mit Mobilität im Kopf zu bewältigen sind. Dazu leistet dieser Gesetzentwurf einen entscheidenden Beitrag. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Die Redezeitüberschreitung wurde nur deswegen zugelassen, damit der Witz noch gebracht werden konnte. ({0}) Ich erteile dem Bundesminister für Verkehr, unserem Kollegen Dr. Günther Krause, das Wort.

Dr. Günther Krause (Minister:in)

Politiker ID: 11001203

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann der Kollegin Wetzel nur zustimmen, daß wir einen schwarzen Faden durch unsere Verkehrspolitik ziehen wollen. Ich bin froh, daß es kein roter ist; ({0}) denn das, was Sie hier heute geboten haben, ist wirklich Konzeptionslosigkeit. ({1}) Was beispielsweise die Lollis, die ja in Kassel in großer Zahl aufgestellt wurden - davon konnte ich mich beim Wahlkampf überzeugen -, betrifft, so hat man es sich in der Argumentation mit dem Bürger ganz einfach gemacht, indem man die Umschichtung der Mittel aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz für den Osten statt Steuererhöhungen gefordert hat. Dort haben wir noch riesige Löcher in den Straßen. Wir sollten mit den Spielzeugen zur Verkehrsverhinderung, die sehr viele Menschen in Westdeutschland überhaupt nicht wollen, die aber viel Geld kosten, aufhören. Statt Blumenschalen mit Rosen auf gut ausgebaute Straßen mit GVFG-Mitteln zu stellen, sollten wir mit demselben Geld lieber die Löcher des Sozialismus im Osten beseitigen. ({2}) Deshalb ist die 1 Milliarde DM Umschichtung verkehrspolitisch und finanzpolitisch wichtig. ({3}) Ich meine, daß der Ministerpräsident des Landes Hessen einen wichtigen und richtigen Satz gesagt hat: „Wir müssen wieder Politik für die kleinen Leute machen." Was wir für die kleinen Leute, für die Trucker beispielsweise - das sind 150 000 Arbeitsplätze in Deutschland -, tun können. dazu habe ich heute von der SPD kein Wort gehört. Sie verzichten vielleicht auf den Berufsstand der Brummifahrer. Das mache ich nicht. Deshalb müssen wir eine Autobahnbenutzungsgebühr in Deutschland einführen, damit wir die Wettbewerbsbedingungen in der Europäischen Gemeinschaft harmonisieren. ({4}) Die Umsetzung der von Ihnen ständig gepredigten Theorie, daß das, was die Lkws befördern, von der Straße auf die Schiene kommen soll, in die Praxis wird nicht möglich sein, wenn wir nicht etwas dafür tun, daß der durch Deutschland fahrende Transitverkehr, der nicht in Deutschland zugelassen ist, zur Kasse gebeten wird. Internationale Dienstleistungen und nationale Steuersysteme passen nicht zusammen. Das ist der Widerspruch, den wir auflösen müssen. Wir haben in der Regierungserklärung vor knapp einem Jahr vier Säulen der Verkehrspolitik definiert. Ich halte mich ganz strikt an diese vier Säulen der Verkehrspolitik. Allerdings habe ich bei dem schwarzen Faden schon damals von Ihnen keinen Beifall bekommen. Das ist aus der Sicht der Opposition richtig. Ich vermisse nur Ihr Konzept. Zu den vier Säulen gehört die Strukturreform der Bahnen. Dies ist ein Problem, das in der alten Bundesrepublik Deutschland vielleicht besser in Ihrer Regierungsverantwortung hätte gelöst werden können. Dann hätten wir heute nicht einen Schuldenberg, den Sie in Ihrer Regierungsverantwortung mit angerichtet haben, der Deutschen Bundesbahn von 55 Milliarden DM. Dieser Schuldenberg hat nichts mit dem Osten zu tun. Dies ist eine Erblast aus einer Zeit, wo man über die Verhältnisse gelebt hat - das ist die Realität ({5}) und Schattenhaushalte gespeist hat. ({6}) Das war in den 70er Jahren, als es in der Verkehrspolitik der Punkt Nummer eins war, in Deutschland eine Autobahnauffahrt im Umkreis von 25 Kilometern zu haben, wie es durch einen sozialdemokratischen Verkehrsminister verkündet wurde. Ich muß heute mit diesen Nachwehen der falschen Verkehrspolitik, daß die Deutsche Bundesbahn in den 70er Jahren den Gnadenstoß bekommen hat, fertig werden. ({7}) Die zweite Säule ist die Planungsbeschleunigung. Es ist doch absurd, die Behauptung aufzustellen: „Wir wollen mehr Eisenbahn" , und dann diese Eisenbahn mit einer Planungsdauer von durchschnittlich 15 Jahren zu planen ({8}) und sich zu wundern, daß wir die ICE-Strecke in Kassel erst nach 20 Jahren eröffnen konnten. Die Idee des Hochgeschwindigkeitsnetzes war eine gute Idee in Deutschland. Andere Europäer, beispielsweise unsere französischen Nachbarn, hatten zu diesem Zeitpunkt schon lange das Hochgeschwindigkeitseisenbahnnetz. Sie haben nicht so lange darüber palavert. Das beschleunigte Planungsrecht ist den meisten Bürgern in unserem Land ein Anliegen. Wir haben in den jungen Bundesländern - ich lade die Kollegen, die die Verwaltung in den jungen Bundesländern kritisieren, recht herzlich ein, sich einmal vor Ort zu informieren; sie sind vielleicht zu wenig im Osten, um zu wissen, was dort wirklich geleistet wird ({9}) mit dem beschleunigten Planungsrecht hervorragende Ergebnisse erreicht. Die Deutsche Reichsbahn ist heute die größte Baustelle in Europa. Wir haben bereits im letzten Fahrplan zwischen Berlin und Dresden eine ICE-Strecke mit 160 km/h Reisegeschwindigkeit in Betrieb genommen. Unterhalten Sie sich einmal mit Reichsbahnern alter Prägung, die den Sozialismus pur erlebt haben, von dem ich hoffe, daß er nie wieder in Deutschland eine Redewendung wird. ({10}) Diese Reichsbahner haben erlebt, daß ihre Züge in einem maroden Streckensystem gefahren sind. Wenn wir ab Mai 1993 einen ICE von München über Frankfurt am Main nach Berlin fahren lassen können, dann ist das ein Erfolg der Verkehrspolitik dieser Bundesregierung und nicht Ihrer Redereien, wir täten nichts für die Eisenbahn, vor allem in Ostdeutschland. ({11}) Um aus der strukturellen Krise in unserem Lande herauszukommen - wir haben ja in der Debatte vorher von den Problemen der Stahlarbeiter gehört -, müssen wir zuerst an die Menschen denken. Eine bedeutende Mehrheit der Menschen wünscht sich Ortsumgehungsstraßen, Terminals oder Ausbaumaßnahmen. Die Menschen verzweifeln wegen der Handlungsunfähigkeit. Dies hat etwas mit der sogenannten Politikverdrossenheit zu tun. Deshalb müssen wir die guten Erfahrungen mit dem Planungsrecht-Ost jetzt sehr schnell in das Planungsrecht-West übertragen. Ich bedanke mich bei den Kollegen, die etwas von dem kleinen Mann in Deutschland auf der Straße halten, bei meinen Kollegen der CDU/CSU und der F.D.P. Ich werde ab Montag in Brüssel versuchen, für den kleinen Mann einzutreten, der sein Geld am Steuer eines Lkws wirklich verdienen muß. Und ich bedanke mich, daß ich den Auftrag erhalten habe, die Harmonisierungsbedingungen für unser Verkehrsgewerbe so auszuhandeln, daß wir eine europäische Verkehrspolitik, die auch der kleine Mann in Deutschland wieder versteht, realisieren können. Ich denke, daß wir dann mit dem Ergebnis des letzten Sonntags auch in meiner Partei recht zufrieden sein können. ({12})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/4328 und 12/4518 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist offenbar nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr auf Drucksache 12/4007. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. auf Drucksache 12/2281 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen. Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 2293 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses? - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Mit dem gleichen Stimmenverhältnis ist die Beschlußempfehlung angenommen. Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs ({0}) - Drucksache 12/1836 - ({1}) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2}) - Drucksache 12/4526 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Eckhart Pick Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. ({3}) - Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich die notwendige Ruhe im Saal hergestellt haben. Meine Damen und Herren, ich eröffne jetzt die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort unserem Kollegen Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten.

Dr. Wolfgang Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was lange Zeit unter Ergänzung des Bürgerlichen Gesetzbuches - Bauhandwerkersicherungsgesetz - lief und von der Bundesregierung im Dezember 1991 eingebracht wurde, mauserte sich im Laufe der Vorberatung durch den Bundesrat im September 1991 zu einem Artikelgesetz, in dem plötzlich auch Änderungen des Verbraucherkreditgesetzes gefordert wurden, die nichts mit einer Bauhandwerkersicherung zu tun haben. Dieses Verbraucherkreditgesetz, noch im Dezember 1990 in der letzten Sitzung mit „heißer Nadel" gestrickt, war als Schutz für Verbraucher gedacht, um sie bei Kreditgeschäften besser aufzuklären und vor Kredithaien zu schützen. Dies hat das Gesetz auch erfüllt, litt aber von Anfang an unter Ungenauigkeiten und bürokratischen Übertreibungen. So wurden Banken, Sparkassen und Bausparkassen zu einer Flut unnötiger Papiere verpflichtet, nicht zuletzt auch deswegen, weil Kreditverträge nur mehr in einer „Urkunde" aufgenommen werden durften. Verlangte Zahlenangaben konnten nur durch Rechenakrobatik mit dem Risiko der „Strafe", gegebenenfalls auf Jahre im nachhinein auf den gesetzlichen Zins von 4 % herabgestuft zu werden, angegeben werden. Das Gesetz konnte zudem durch geschickte Manipulation zu Spekulationen gegen Kreditinstitute mißbraucht werden. Doch dazu nachher mehr. Meine Damen und Herren, man könnte nun sagen, auf der einen Seite Entbürokratisierung beim Verbraucherkreditgesetz, auf der anderen Seite Zusatzbelastungen beim Bau. So ist es nicht. Der neue § 648a BGB soll eine sinnvolle Ergänzung - wohl besser: Ersetzung - des alten § 648 Abs. 1 BGB darstellen. Dies ist für Handwerk und Baufirmen eine notwendige Möglichkeit, sich gegen Pleiten oder auch betrügerische Bauträger finanziell abzusichern. Das bisher einzige Sicherungsinstrument - sofern man sich nicht vertraglich bei Annahme des Auftrages absicherte - war gemäß § 648 Abs. 1 BGB die Sicherungshypothek. Diese hatte noch nie eine große Bedeutung und ist durch die Praxis der Banken, sich für gegebene oder versprochene Kredite umfangreich grundbuchlich abzusichern, praktisch unwirksam geworden. Dies insbesondere auch deswegen, weil die Sicherungshypothek erst nach erbrachten Leistungen oder Teilleistungen verlangt werden kann, d. h. zu einem Zeitpunkt, wenn das Risiko der Vorleistung bereits vorhanden ist und meistens das Objekt durch anderweitige Belastung in der Regel keine Sicherheit mehr darstellt. So sind erhebliche Existenzen vernichtet oder gefährdet worden, wenn größere Bauvorhaben nicht ordnungsgemäß durchfinanziert waren oder durch andere Umstände die notwendigen Geldmittel nicht aufgebracht wurden. Die Bauhandwerker mußten einen totalen Ausfall hinnehmen und fielen bei nachfolgenden Konkursverfahren in der Regel aus, mindestens die, die zuletzt am Bau tätig waren. Die eingebrachten oder eingebauten Materialien verfielen der Pfandverstrickung der Grundschuldeigentümer, weil sie durch den Einbau wesentliche Bestandteile des Gebäudes geworden waren. Nur selten führte die durch den Einbau erfolgte Werterhöhung auch zu genügend hohen Erlösen bei der Zwangsvollstrekkung, so daß in der Regel gerade die Grundpfandgläubiger befriedigt werden konnten. Auch die Durchführung zur Erlangung einer Sicherungshypothek, entweder dingliche Einigung gemäß § 873c BGB oder - bei deren Verweigerung - Klage und Abwarten eines rechtskräftigen Urteils, gegebenenfalls bei Gefahr im Verzuge durch einstweilige Verfügung zur Erlangung einer Vormerkung, war und ist nicht geeignet, eine vernünftige Sicherung der Bauhandwerker zu erreichen. Nur am Rande sei auf einen frühen Versuch verwiesen, der die Umständlichkeit der Sicherungshypothek vermeiden wollte, das Gesetz zur Sicherung von Bauforderungen aus dem Jahre 1909. Da aber die notwendige Durchführungsverordnung insbesondere zur Schaffung von Bauschöffenämtern nicht erlassen wurde, hat dieses Gesetz nie Bedeutung erlangt und ist quasi in Vergessenheit geraten. Die vorliegende Gesetzesbestimmung in § 648a BGB schließt daher eine Lücke, ohne von einem Bauherrn Unzumutbares zu verlangen und ohne dem Bauhandwerker auf Kosten des Bauherrn mehr zu geben, als ihm letztlich zusteht - Sicherheit für von ihm im vorhinein zu erbringende Leistungen. In sehr umfangreichen Beratungen und einer zusätzlichen Anhörung von Sachverständigen wurde der Regierungsentwurf im wesentlichen übernommen und im Rechtsausschuß nach Einfügung einiger Änderungen einstimmig verabschiedet. In dem Zusammenhang bedanke ich mich auch bei meinem Kollegen Pick für die gute Zusammenarbeit. Ich freue mich, daß ich einen Gesetzentwurf vorstelle, dem wir nachher einstimmig zustimmen. Meist ist sehr viel Widerspruch von Ihrer Seite zu hören. Der Unternehmer eines Bauwerkes, einer Außenanlage oder eines Teils davon erhält dann ein Leistungsverweigerungsrecht, wenn der Besteller innerhalb einer ihm zu setzenden Frist dem Verlangen auf Sicherheitsleistung nicht nachkommt. Dieser Anspruch steht dem Unternehmer unabhängig davon zu, ob er den Auftrag per Zuschlag oder per Einzelvertrag erhalten hat. Selbst entgegenstehende Vereinbarungen sind gemäß § 648a Abs. 7 unwirksam. Damit soll schwachen Baubetrieben oder Handwerkern jede Druckwirkung großer Besteller, auf die Sicherheit im voraus zu verzichten, genommen werden. Erst in der Schlußdiskussion wurden neben den Bauwerken die Außenanlagen in das Gesetz mit aufgenommen, um auch Landschaftsgärtner und Sportplatzbauer im vollen Umfang in den Schutz der neuen Regelung einzubeziehen. Diese Leistungen wurden bisher im Rahmen von § 648 BGB nicht als sicherungsfähig angesehen. Neben den klassischen Sicherungen durch Grundpfandrechte und ähnliches kann die Sicherung insbesondere auch durch die Garantie eines Kreditinstitutes oder - übrigens auch eine Erweiterung - eines Kreditversicherers geleistet werden, weil dies in der Regel einfach und kostengünstig durchzuführen ist. Die Kosten für die Sicherheitsleistung hat der Unternehmer zu ersetzen, weil es ihm freisteht, eine Sicherung zu verlangen oder auf sie zu verzichten. Um aber den Unternehmer nicht mit urkalkulierbaren Kosten zu belasten, wurde ein Höchstsatz von 2 vom Hundert jährlich festgelegt. Nach Bekundungen der Banken sind dies Kosten, die normalerweise nicht erreicht werden und deren obere Grenze daher angemessen ist. Der Sicherungsgeber, z. B. die Bank, kann sich das Recht vorbehalten, sein Versprechen im Falle einer wesentlichen Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Bestellers - des Bauherrn - zu kündigen, und haftet dann nur für die Kosten der bis zu diesem Zeitpunkt erbrachten Leistungen. Leistet der Unternehmer trotzdem weiter, geschieht dies auf eigenes Risiko. Das Kreditinstitut oder der Kreditversicherer darf Zahlungen an den Unternehmer nur leisten, wenn der Besteller den Vergütungsanspruch anerkannt hat oder die Voraussetzungen der Zwangsvollstreckung vorliegen. Damit ist sichergestellt, daß kein Bauherr durch unberechtigte Auszahlung des Sicherungsgebers benachteiligt wird. Es ist im Grunde genommen überflüssig, aber zur Klarstellung im Gesetz festgehalten, daß neben einer Sicherung gemäß § 648a BGB die Sicherungshypothek nicht verlangt werden kann. Verweigert der Besteller die Sicherheit oder leistet er sie nicht rechtzeitig, stehen dem Bauunternehmer die Rechte nach den §§ 643 und 645 Abs. 1 BGB zu. Der Unternehmer kann eine angemessene Nachfrist mit der Erklärung bestimmen, daß er den Vertrag kündige, wenn die Sicherung nicht bis zum Ablauf der Frist vorgenommen wird. Unabhängig davon kann er für bereits erfolgte Leistungen einen entsprechenden Teil der Vergütung verlangen. Gilt danach der Vertrag als aufgehoben, kann der Unternehmer den Vertrauensschaden, das negative Interesse, verlangen, d. h., er ist so zu stellen, wie wenn er nicht auf die Gültigkeit des Vertrages vertraut hätte, z. B. ouch Ersatz des Verlustes bei Verzicht auf anderweitige Aufträge bei Auftragsannahme. Zwei Ausnahmen vom Gesetz sind vorgesehen, und zwar erstens, wenn der Besteller eine juristische Person des öffentlichen Rechts oder eines öffentlichrechtlichen Sondervermögens ist, da hier für den Bauunternehmer kein finanzielles Risiko besteht, und zweitens, wenn eine natürliche Person ein Einfamilienhaus mit oder ohne Einliegerwohnung bauen oder herstellen läßt. Die letztere Ausnahme wurde deswegen mit aufgenommen, um den „Häuslebauer" nicht unnötig mit „Papierkram" zu belasten. Es ist relativ selten, daß bei kleineren Bauobjekten eine notfalls notwendige Nachfinanzierung scheiterte, und selbst für einen solchen Fall ist die Existenz eines Bauunternehmens oder eines Bauhandwerkers in der Regel nicht gefährdet. Diese Erleichterung gilt dann nicht mehr, wenn ein Baubetreuer für die natürliche Person ein solches Haus erstellt. Alles in allem, meine Damen und Herren, ein ausgewogenes Gesetz. Der zweite Teil dieser Gesetzeseinbringung, die Änderung des Verbraucherkreditgesetzes, die sozusagen „im Bauch des Bauhandwerkersicherungsgesetzes" mit in das Gesetzgebungsverfahren kam, enthält ebenfalls notwendige und ausgewogene Änderungen des in etwas zu großer Eile im Dezember 1990 verabschiedeten Gesetzes. Ziel des Gesetzes war der Schutz von Kreditnehmern, insbesondere vor dem „Übertölpeln" durch Kredithaie, die immer wieder gekonnt - durch Angabe verschiedener Zinssätze, Nebenkosten und Versicherungsgebühren - den Verbrauchern Kredite aufschwatzten, deren Kosten in auffälligem Mißverhältnis zu anderen Konditionen standen. Da dadurch nicht immer der Tatbestand des Wuchers erfüllt war, mußten viele Kreditnehmer diese überteuerten Kredite abzahlen. Gemeint waren vor allen Dingen sogenannte Verbraucherkredite, d. h. Ratenzahlungskredite, die in der Regel bis zu fünf Jahren abgeschlossen werden. Durch die Änderung des Gesetzes ist nunmehr klargestellt, daß neben den bereits in § 3 aufgezählten Ausnahmen, z. B. Kleinbeträge bis zu 400 DM oder gewerbliche Kreditbeträge über 100 000 DM oder auch Arbeitgeberdarlehen, nunmehr auch die Kreditverträge nicht mehr unter dieses Gesetz fallen, die im Rahmen der Förderung des Wohnungswesens und des Städtebaus auf Grund öffentlich-rechtlicher Bewilligungsbescheide zu unter den marktüblichen Sätzen liegenden Zinssätzen angeboten werden. Bei Einzelausnahmen von Bestimmungen wurde in § 3 Abs. 2 Nr. 2 neu aufgenommen, daß bei grundpfandrechtlich gesicherten Krediten bzw. Bausparkassenkrediten zusätzlich zu den §§ 7, 9 und 11 bis 13 auch der neue § 4 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 b keine Anwendung findet. Das bedeutet, daß bei diesen Krediten kein Gesamtbetrag aller vom Verbraucher für die Gesamtlaufzeit zu entrichtenden Teilzahlungen einschließlich Zinsen und sonstiger Kosten angegeben werden muß. Dies ist auch gerechtfertigt, da sich bei langfristigen Grundstückskrediten in der Regel auch kein Gesamtbetrag angeben läßt, weil kaum Kredite mit festen Konditionen über so lange Zeiträume gewährt werden. Zusätzlich sind bei der Vergabe - spätestens bei der Eintragung - der dafür notwendigen Grundschulden in der Regel Notare mitwirkend, die auch eine Aufklärungspflicht haben. Bausparkassen wurden u. a. deswegen ausgenommen, weil Konditionen bei Abschluß des Bausparvertrages und nicht bei Zuteilung geben werden. Oft werden die Kredite in Teilbeträgen ausgegeben, gegebenenfalls vorher getilgt oder in über 10 bis 20 Jahren die Konditionen erheblich geändert. Bei allen anderen Krediten - in der Regel kurz-oder mittelfristige Laufzeiten bis fünf Jahre - müssen, falls bei der Vergabe der Zinssatz bzw. die Kosten des Kredites nicht für die gesamte Laufzeit feststehen, diese Kosten auf Grund der Anfangskonditionen hochgerechnet werden. Dabei darf aber ein deutlicher Hinweis auf die Vorläufigkeit nicht fehlen. Richtigerweise wurden - das quasi als Klarstellung - Kontokorrentkredite von der Regelung ausgenommen, weil auch hier ein Gesamtbetrag auf die Laufzeit schlichtweg von der Höhe der Inanspruchnahme abhängt und nicht im voraus mitgeteilt werden kann. § 4 Abs. 1 neuer Satz 4 Nr. 1 d wurde zur Klarstellung geändert, nachdem der Zinssatz und alle sonstigen Kosten des Kredits, soweit ihre Höhe bekannt ist, im einzelnen zu bezeichnen, im übrigen dem Grunde nach anzugeben sind. Eine Änderung des § 4 Abs. 2 zur Klarstellung des effektiven Jahreszinses erschien nicht notwendig, da bisher schon klargstellt wurde, daß sich die Berechnung nach § 4 der Preisangabenverordnung richtet und damit bei Bauspardarlehen ausschließlich nach § 4 Abs. 8 dieser Verordnung. Ein besonderes Ärgernis wurde bei der Veränderung der Schriftform beseitigt. Der Ausdruck „Urkunde" wurde ersetzt durch „schriftlichen Vertrag", der auch durch getrennte Annahme durch die Vertragsparteien wirksam wird und bei dem die Erklärung des Kreditgebers mit Hilfe einer automatischen Einrichtung erstellt werden kann. In der Vergangenheit hatte dies insbesondere bei großen Banken und Sparkassen zu einer nicht vertretbaren Mehrarbeit und zusätzlich zu unvertretbar hohen Portokosten geführt. ({0}) - Es waren Millionen, glauben Sie mir das! ({1}) Hier handelt es sich nicht um Kosten von einigen zehntausend Mark, sondern um Hunderttausende, um Beträge,die gar Millionenhöhe erreichen. ({2}) Die Änderung begünstigt daher die Kostenstruktur und kommt damit dem Verbraucher zugute. Um Spekulanten die Möglichkeit zu nehmen, auf Kosten der Bank zu spekulieren, wurde in § 3 Abs. 2 eine neue Nr. 4 aufgenommen, die § 9, die sogenannten „verbundenen Geschäfte", dann ausnimmt, wenn die Finanzierung dem Erwerb von Wertpapieren, Devisen oder Edelmetallen dient. Bisher konnte auf Grund der Widerrufsmöglichkeit gemäß § 7 ein Spekulant am Montag z. B. Wertpapiere auf Kredit kaufen, diese z. B. freitags bei gestiegenem Kurs bezahlen und verkaufen, urn den Kursgewinn einzustreichen, aber er konnte auch am Freitag bei gefallenem Kurs das Geschäft zu Lasten der Bank widerrufen, um dieser den Kursverlust zu überlassen. Unabhängig davon, daß dies zu untragbaren Ergebnissen führt, muß auch niemand, der mit Wertpapieren, Devisen oder Edelmetallen spekuliert, geschützt werden. Das vorliegende Gesetz mit seinen Änderungen soll auch keine Pauschalkritik an dem Verbraucherkreditgesetz sein, zeigt aber, wie hektisch der Bundestag nach der Wiedervereinigung arbeiten mußte und wie dabei zwangsläufig Fehler entstehen. Die Änderung des Gesetzes zeigt aber auch, daß wir Politiker und Industrie und Handel nicht übereinander reden, sondern miteinander reden und arbeiten sollten, damit vernünftige Korrekturen an Gesetzen, die von Anfang an falsch oder nicht ganz richtig waren oder durch neu hinzugetretene Umstände so nicht mehr richtig sind, im parlamentarischen Verfahren vorgenommen werden können. Ich bitte um Zustimmung auch für dieses Gesetz. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, der nächste Redner ist unser Kollege Dr. Eckhart Pick.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001715, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wenden uns heute einem Gesetzgebungsvorhaben zu, das einerseits - und das kam in der Rede des Herrn Kollegen von Stetten ja zum Ausdruck - eine schwierige zivilrechtliche Thematik zum Gegenstand hat, die sich dem Verständnis der Laien nur schwer erschließt. Zum anderen verbergen sich hinter dem Titel des Gesetzes - Gesetz zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs ({0}) und anderer Gesetze - zwei gesetzliche Regelungen, die eine große Bedeutung für die Praxis haben werden. Die eine Regelung enthält die Reform der Sicherheitenstellung zugunsten von Unternehmern, die Bauleistungen gegenüber einem Auftraggeber erbringen. Diese Reform löst Altbekanntes, aber wenig Bewährtes ab. Die zweite Regelung betrifft Änderungen des Verbraucherkreditgesetzes, die jeden berühren können, der einen Kredit aufnimmt, um sich private Bedürfnisse zu erfüllen. Die beiden unterschiedlichen Materien verdienen nach unserer Auffassung eine getrennte Beurteilung und Bewertung. ({1}) Zunächst zum Bauhandwerkersicherungsgesetz: Wie bereits betont, geht es dabei um eine echte Reform des Rechts der Sicherheiten im Interesse des Unternehmers, der im allgemeinen gegenüber dem Besteller seine Leistungen zuerst zu erbringen hat und insofern ein ganz erhebliches Risiko eingehen kann. Dieses besteht darin, daß er seinen Vergütungsanspruch unter Umständen nicht realisieren kann, falls der Besteller zahlungsunfähig werden sollte. Seit fast 100 Jahren existiert im Bürgerlichen Gesetzbuch eine Vorschrift, nämlich § 648 BGB, von der der Gesetzgeber einmal annahm, sie erfülle das Sicherungsbedürfnis des Unternehmers. Sie gibt dem Unternehmer eines Bauwerks nämlich einen schuldrechtlichen Anspruch auf Einräumung einer Sicherungshypothek am Grundstück des Bestellers. Die Erwartung des Gesetzgebers hat sich nicht erfüllt -ja nicht erfüllen können: Zum einen muß der Unternehmer in der Regel vorleisten. Zum anderen rangiert die Sicherungshypothek regelmäßig am Ende der Gläubigerschlange und läßt sich im Rahmen einer Zwangsversteigerung des Grundstücks nicht mehr realisieren. Banken rangieren in der Regel vor dem Unternehmer, also auch vor dem kleinen Handwerker. Wenn er kommt, sind andere schon längst da. Das erinnert ein bißchen an die Geschichte vom Hasen und vom Igel. Der Gesetzgeber hat im Jahre 1909 schon einmal einen Anlauf - Herr Kollege von Stetten hat darauf hingewiesen - in Form des „Gesetzes zur Sicherung von Bauforderungen" unternommen, das allerdings nur halbherzig eingeführt wurde und mangels der vorgesehenen Durchführungsverordnung keine Bedeutung erlangt hat. Es ist zu einer rechtshistorischen Kuriosität geworden und wird allenfalls gelegentlich in Staatsexamina abgefragt. Das neue Gesetz zeigt einen Weg auf, der - das möchte ich hier neidlos anerkennen - eine pfiffige Lösung des Problems durch den Vorschlag der Bundesregierung darstellt, aber nicht so, daß sie nicht noch in den Ausschußberatungen hatte verbessert werden können. Es geht um einen neuen § 648a BGB. Wichtig ist, daß durch den Ausschuß auf Anregung der SPD der Anwendungsbereich des Gesetzes auch auf Unternehmer ausgedehnt wurde, die die Außenanlagen eines Hauses erstellen. Es besteht kein vernünftiger Grund, meine Damen und Herren, solche Leistungen, die unmittelbar mit der Errichtung eines Bauwerks zusammenhängen, vom Schutz des Gesetzes auszunehmen. ({2}) Ein Gärtner oder Landschaftsgestalter, der das Grundstück gärtnerisch oder landschaftsgestaltend aufwertet, verdient die gleiche Sicherung wie derjenige, der Stein auf Stein setzt. Im übrigen wurden durch die neue Formulierung auch zahlreiche Unklarheiten beseitigt, nämlich die äußerst interessante Streitfrage, ob eine Außenbaumaßnahme dem Bauwerk oder nur dem Grundstück zugute kommt, wie bekanntlich im Rahmen des § 648 BGB in vielen Fällen streitig ist. Die zweite Verbesserung des Entwurfs betrifft die Kosten der Sicherheitsleistung, die der Unternehmer zu stellen hat. Die Präzisierung und Limitierung der Kosten bis maximal 2 % der Auftragssumme schützen insbesondere kleinere und mittelständische Handwerker und ersetzen das nach unserer Auffassung zu unbestimmte Tatbestandsmerkmal der „üblichen Kosten", wie es vorher geheißen hat. Die dritte wesentliche Verbesserung besteht darin, daß der Rechtsausschuß die Ausnahme von der gesetzlichen Verpflichtung, eine Sicherheit zu stellen, präzisiert hat. Statt der interpretationsbedürftigen Formulierung „überwiegend zur Deckung des eigenen Wohnbedarfs" wurde die auch sonst geläufige Bestimmung eingeführt, daß nur beim Bau eines Einfamilienhauses mit bzw. ohne Einliegerwohnung der sogenannte „Häuslebauer" von der gesetzlichen Verpflichtung zur Stellung von Sicherheiten ausgenommen sein soll. Damit wurden auch Konsequenzen aus der Anhörung vom 9. Dezember 1992 gezogen. Wenn man so will, meine Damen und Herren, ist das gleichzeitig auch ein verbraucherschützendes Element, weil damit die Gesamtkosten gemindert werden. Während die SPD-Fraktion diesem Teil des Gesetzes ihre Zustimmung aus Überzeugung von der Richtigkeit des Weges geben konnte, tun wir uns mit dem zweiten Teil des Gesetzes schwerer. ({3}) Es war schon etwas ungewöhnlich, daß der Bundesrat in seine Stellungnahme zum Bauhandwerkersicherungsgesetz eine Novelle zum Verbraucherkreditgesetz hineingemogelt hat. ({4}) Wenn dieses Verfahren den Zweck gehabt haben sollte, eine Änderung auf leisen Sohlen herbeizuführen, ist dieses Vorhaben jedenfalls nicht gelungen. Dafür haben Öffentlichkeit und Anhörung gesorgt. ({5}) Andererseits hat die Novellierung auch Gelüste geweckt, nämlich die, von den tatsächlichen oder vermeintlichen Zwängen des Verbraucherschutzes befreit zu werden. Das hätte man von seiten des Bundesrates wissen müssen. Man hat das Tor jedenfalls einen Spaltbreit geöffnet. Plötzlich wollten einige Kreditgeber ganz aus dem Anwendungsbereich des Verbraucherkredits herausgenommen werden - z. B. die Ausgeber von grund-pfandrechtlich gesicherten Krediten, die Bausparkassen und die Landeskreditanstalten, die die öffentlichen Mittel für den Wohnungsbau verteilen. Der Ausschuß hat dem Verlangen, grundpfandrechtlich gesicherte Kredite einschließlich solcher der Bausparkassen ganz auszunehmen, widerstanden. Dagegen wurden die öffentlich-rechtlichen Anstalten von der Mehrheit im Ausschuß jetzt ausdrücklich ausgenommen. Ich sage „ausdrücklich", weil schon bisher die Auffassung vertreten wird, daß sie ohnehin nicht unter den Verbraucherkredit fallen, weil sie nicht gewerblich handeln. Man kann sicher diese Entscheidung auch sachlich mit dem Argument begründen, daß öffentlich-rechtliche Kredite wegen der allgemein günstigeren Bedingungen kaum Alternativen haben, eine gewisse öffentliche Kontrolle gewährleistet ist und der Darlehnsnehmer damit als weniger schutzbedürftig erscheinen kann. Insoweit ist die Interessenlage ähnlich wie beim Arbeitgeberdarlehn, das ja bekanntlich auch nicht dem Verbraucherkreditgesetz unterliegt. Wir haben unsere Zustimmung dazu nicht leichtfertig gegeben, aber man kann darüber durchaus geteilter Meinung sein. Nicht einverstanden ist die SPD-Fraktion mit der Mehrheitsentscheidung im Ausschuß, bei grundpfandrechtlich gesicherten Krediten auf die Angabe des Gesamtbetrages aller Teilzahlungen und Kosten eines Kredits zu verzichten. Wir verkennen nicht die Probleme der Praxis, bei sich ändernden Bedingungen - insbesondere bei variablen Zinsen usw. - eine aussagefähige Angabe dazu zu machen. Trotzdem halten wir diese Schwierigkeiten für überwindbar. Insoweit ist die jetzt getroffene Entscheidung ein Rückschritt in bezug auf einen effektiven Verbraucherschutz. Es gibt auch positive Punkte, d. h. Verbesserungen, die durchgesetzt wurden. So sind die erleichterten Formvorschriften in 4, was die getrennten schriftlichen Erklärungen betrifft, sicher ein Fortschritt ohne Beeinträchtigung des Verbraucherschutzes. Auch die Möglichkeit, die Erklärung des Kreditgebers in Form einer faksimilierten Unterschrift abzugeben, ist nichts anderes als eine zeitgemäße Fortentwicklung der Schriftlichkeit einer Erklärung. Es ist in der Tat unverständlich, daß z. B. eine Bausparkasse Millionen von Bausparverträgen durch eigenhändige Unterschrift der Mitarbeiter und gleichzeitige Unterschriftsleistung des Kunden mehrfach hin- und herschicken muß. Das verwirrt mehr, als es nutzt. Insgesamt halten sich Verbesserungen und Verschlechterungen nach unserer Meinung die Waage. Deswegen hat die SPD-Fraktion im Ausschuß diesen Teil des Gesetzes, also die Änderung des Verbraucherkredits, nicht mitgetragen, sondern sich der Stimme enthalten. Wir gehen davon aus, daß die Erfahrungen mit dem geänderten Recht des Verbraucherkredits sorgfältig beobachtet werden. Die SPD-Fraktion wird in absehbarer Zeit einen entsprechenden Bericht einfordern, wie das übrigens schon einmal zugesagt war. Das neue Recht kann kein Freibrief für Tests sein, ob die Regeln des Verbraucherkredits dehnbar sind oder nicht - inwieweit er also belastbar ist. Es spricht z. B. auch nichts dagegen, daß die Landeskreditanstalten freiwillig ausreichende Informationen an die Kreditnehmer leiten. Wir, die SPD-Fraktion, sagen hier und heute zu, dieses Thema, wenn Mißbräuche auftreten, durch eine neue gesetzliche Initiative wieder aufzugreif en. Die SPD-Fraktion wird sich deshalb in der zweiten Lesung hinsichtlich des Verbraucherkreditgesetzes der Stimme enthalten, aber in der Schlußabstimmung der Änderung des Bauhandwerkersicherungsgesetzes und anderer Gesetze insgesamt zustimmen. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Detlef Kleinert.

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Die wissenschaftliche Seite ist von den Herren Vorrednern dankenswerterweise sehr ausführlich und korrekt dargestellt worden, so daß ich mich der Darstellung des Sachverhaltes, was die Änderungen im Bereich der Sicherung der Bauhandwerker angeht, nur anschließen kann. Was verbirgt sich aber politisch dahinter? Politisch verbirgt sich dahinter, daß derjenige, der auf einem kahlen Grundstück erst einen Wert schafft, nachher mit seiner Lohnforderung völlig leer ausgeht, wenn spekulativ überzogen worden ist, wenn das Angesparte der Käufer von zukünftig entstehenden Wohnungen, wenn die Kredite der Bank rechtzeitig vorher so säuberlich abgesichert sind, daß nichts, aber auch gar nichts mehr übrigbleibt, so daß der einzige, der hier wirklich einen Wert geschaffen hat, der, dessen persönliche Leistung und die unmittelbare Arbeit seiner selbst und seiner wenigen Mitarbeiter drinsteckt, leer ausgeht. Dieses Übel ein wenig einzudämmen - ich glaube nämlich, es wird nur ein wenig eingedämmt - ist Absicht des Gesetzes. Es handelt sich um eine schlanke, um eine besser anwendbare, um eine vernünftigere Lösung, von der hoffentlich möglichst viele Handwerker auch Gebrauch machen werden. Über den Begriff des Handwerkers und die Frage, wer dazuzurechnen ist und wer nicht, hat der Kollege Pick bereits gesprochen. Auch das begrüßen wir sehr, daß es hier fürderhin nicht zu kleinlichen Einkastelungen kommen kann; aber entscheidend wird sein, daß von dem Instrumentarium auch Gebrauch gemacht wird. Ich bin nicht völlig glücklich damit, daß der Unternehmer die Zinslast tragen soll, wenn solche Sicherungsvorkehrungen notwendig werden. Ob die Höchstgrenze dabei der richtige Weg ist, weiß ich nicht, und ich möchte auf gar keinen Fall hier und heute den Eindruck erwecken, daß die angegebene Höchstgrenze etwa eine Ziffer sein sollte, an der sich die in dieser Hinsicht - wie an anderen Stellen auch - freudig griffigen Banken orientieren sollten. Ich bin der Meinung, in den allermeisten Fällen ist dieses Risiko für erheblich weniger abzudecken als für die hier genannten Beträge der Höchstgrenze. ({0}) Ich bin auch der Meinung, daß sich das Verhältnis zwischen den Großen unserer Wirtschaft und dem Mittelstand auch jetzt zuwenig verschiebt. Es ist viel mehr zu tun, um eine wirkliche Wettbewerbsgleichheit zwischen gleich leistungsstarken, aber nicht gleich finanzstarken Kräften am Markt, gerade auch am Baumarkt, herzustellen, und wir sind nicht der Meinung, daß die Übersicherung der Banken - wir werden darüber im Insolvenzbereich und in anderen Bereichen zu sprechen haben - der vernünftigen Absicherung derjenigen vorzuziehen ist, die wirklich in vorderster Front Werte schaffen, selbständig tätig sind und zum Gedeihen unserer Wirtschaft mehr beitragen als mancher große Konzern. ({1}) Deshalb begrüßen wir diesen Teil der Vorlage besonders. Wir begrüßen aber auch - im Gegensatz zu den hier eher kritischen Anmerkungen des Herrn Kollegen Pick - ausdrücklich das, was geschehen ist, um das gut gemeinte Verbraucherkreditgesetz auch zu einem einigermaßen gut gemachten Verbraucherkreditgesetz zu gestalten. Dazwischen besteht ja gelegentlich ein Unterschied. ({2}) Alles, was hier an Bedenken geäußert worden ist, sollte man doch bitte, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD-Fraktion, immer wieder unter dem Oberbegriff sehen: Wer zahlt denn eigentlich die zusätzlichen Sicherungen für die Verbraucher? ({3}) Die wird immer nur der Verbraucher bezahlen, und wenn Sie an dieser Stelle auch nur etwas überziehen, dann greifen Sie in die Tasche des Verbrauchers, um den Verbraucher zu schützen, und das ist ein Paradoxon. Das wird aber immer häufiger praktiziert. ({4}) - Noch schlimmer wird die Sache allerdings, Frau Kollegin, wenn in Wirklichkeit dazwischengeschaltete Sachwalter der Interessen der armen Leute an der Geschichte verdienen, ({5}) Detlef Kleinert ({6}) ohne daß die bewußten armen Leute das Geringste davon haben; und wiederum wird der Verbraucher die Kosten zu tragen haben. ({7}) Das sind die Grundsatzfragen, die auch bei diesem Verbraucherkreditgesetz zu prüfen sind. ({8}) Wenn ich eine Fülle von Unternehmen aus reinem Formalismus in die Pflicht nehme, eigenhändig etwas zu unterschreiben, einen Vertrag zurückzuschicken und noch einmal eigenhändig unterschreiben zu lassen, so wie es in diesem Gesetz steht, dann ist das zuviel. Es handelt sich ja wohl um ein Redaktionsversehen, aber immerhin! Es ist ja auch angesprochen worden. Wenn ich so etwas veranstalte, dann zahlt das natürlich die Masse der angesprochenen Verbraucher, und je unsinniger es ist - das ist eine Faustregel; darauf können Sie sich verlassen -, um so mehr wird gezahlt. Das ist ganz einfach! ({9}) Deshalb sind wir der Meinung: Es ist der Bundesregierung, es ist insbesondere der Bundesjustizministerin und dem Bundesjustizministerium sehr herzlich für die ganz normale Art zu danken, wie dieses Gesetz hier jetzt nachgebessert worden ist, nachdem gewisse praktische Erfahrungen gezeigt haben, daß sich das empfiehlt. Es gibt wirklich keinen Grund für die von Ihnen angekündigte Zurückhaltung bei der Zustimmung. Wenn Sie Gesetze einfacher machen und wenn Sie auch auf einige sogenannte Schutzgesetze verzichten, dann werden zum Schluß die Verbraucher entlastet und nicht „geschützt" sein. Wer allerdings dabei unter Umständen belastet wird, das sind die sozialdemokratischen Vertragsanwälte der Verbraucherschutzvereinigungen. ({10}) Es sind diejenigen, die bei dieser Gelegenheit über völlig unsinnige Abmahnungen, zu denen hier dauernd neue Anlässe geschaffen werden, Geld verdienen und das als Schutz der Armen ausgeben, ({11}) während es dem Verdienst von Sozialdemokraten dient, die so schlecht nun auch wieder nicht dastehen. Ich danke Ihnen. ({12}) Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, ich erteile das Wort jetzt dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz, unserem Kollegen Rainer Funke.

Rainer Funke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000624

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Genugtuung darf ich feststellen, daß das Kernstück des Gesetzes, nämlich der von der Bundesregierung zur Verbesserung der Bauhandwerkersicherung vorgeschlagene Or 648a BGB, im Deutschen Bundestag unstreitig ist. Er sieht einen gesetzlichen Anspruch des Bauhandwerkers auf eine Sicherheitsleistung durch den Besteller vor, bis zu deren Erbringung er seine Leistung verweigern darf. Damit besteht die Aussicht und Hoffnung, daß einem Mißstand abgeholfen wird, dessen sich der Gesetzgeber schon beim Inkraftreten des Bürgerlichen Gesetzbuches zur Jahrhundertwende bewußt war. In Berlin hatten wir damals ungezügelte Grundstücksspekulation und einen Bauboom, so daß viele Geschäfts- und Wohnbauten schon kurz vor oder nach ihrer Fertigstellung zur Zwangsversteigerung gelangten, und wir können nur hoffen, daß sich eine solche Situation nicht wieder ereignet. Aus diesem Grunde wird sicherlich das Bauhandwerkersicherungsgesetz nicht geändert. Damals sind die Bauhandwerker, die mit ihren Arbeitsleistungen und Materiallieferungen zur Wertsteigerung der Grundstücke beigetragen hatten, regelmäßig mit ihren offenen Werklohnforderungen leer ausgegangen. So ist es bei den Baupleiten leider bis heute geblieben. Das Gesetz über die Sicherung von Bauforderungen, das wegen des Mißstands, den ich eben erwähnt habe, 1909 geschaffen wurde und neben der Bauhandwerkersicherungshypothek des § 648 BGB einen zusätzlichen Schutz der Bauhandwerker bewirken sollte, hat diesen Schutz nicht gebracht. Die zum Vollzug notwendigen Gesetzesvorschriften waren einfach zu kompliziert. Dagegen haben wir mit § 648 a BGB jetzt eine ganz einfach handhabbare Regelung geschaffen, die so einfach ist, daß die „Zeitschrift für Rechtspolitik" vor kurzem geschrieben hat: Eigentlich ganz komisch, daß man so lange gebraucht hat, um eine so einfache und vernünftige Regelung zu schaffen. ({0}) Aber manchmal sind die einfachsten Dinge mit am schwierigsten. Ich glaube, diese Regelung ist auch wirtschaftlich vernünftig, denn die Kosten, die dadurch entstehen, betragen zwischen 0,2 und 0,5 % der Bausumme. Dabei darf man auch nicht vergessen, daß die gegenwärtig nach § 648 BGB mögliche Eintragung und spätere Löschung einer Sicherungshypothek auch nicht kostengünstiger ist, denn da entstehen ganz erhebliche Kosten für Notare, Gerichte und gegebenenfalls für die Anwälte. Wir erbitten Ihre Zustimmung auch zu den in Art. 2 des Gesetzes vorgesehenen Änderungen des Verbraucherkreditgesetzes. Diese Bestimmungen sind nicht hineingemogelt, und sie sind auch nicht vom Himmel gefallen; ({1}) vielmehr haben wir sie ganz bewußt hineingenommen, weil - ({2}) - Frau Kollegin Blunck, wir haben schon häufiger darüber gesprochen. ({3}) Wir waren natürlich froh, daß der Bundesrat auf diese gute Idee gekommen ist. Aber Sie können sicher sein, daß wir auch vorher schon auf diese kluge Idee gekommen waren und entsprechende Vorbereitungen getroffen haben. ({4}) Es ist doch überhaupt keine Schande, daß man sich ein Gesetz - hier das Verbraucherkreditgesetz - eine gewisse Zeit nach seinem Inkrafttreten daraufhin ansieht, ob es praktikabel ist, und daß man es, wenn man in einzelnen Punkten sieht, daß es nicht so praktikabel ist, ändert. Genau das haben wir getan, nichts anderes, denn Gesetze müssen handhabbar sein. Wenn sie nicht so funktionieren, wie wir uns das ursprünglich gedacht haben, dann wird man Änderungen vorzunehmen haben. Insbesondere ist die Pflicht zur Angabe des Gesamtbetrags aller vom Verbraucher zu leistenden Zahlungen zu erwähnen, die nach der jetzt geltenden Regelung dann besteht, wenn dies „möglich" ist. Hier stellt der Entwurf klar, daß die Angabe nur dann zu machen ist, wenn der Gesamtbetrag aller in Betracht kommenden Zahlungen bei Abschluß des Kreditvertrags für die gesamte Laufzeit der Höhe nach feststeht. Gleichzeitig wird der Verbraucherschutz, Frau Kollegin Blunck, gegenüber dem bisherigen Recht verstärkt: Bei persönlichen Ratendarlehen ist ein fiktiver Gesamtbetrag sogar bei variablen Konditionen anzugeben, und zwar auf der Grundlage der bei Vertragsabschluß geltenden Bedingungen. ({5}) Ein weiteres Problem bildete namentlich für die relativ spät in den Anwendungsbereich einbezogenen Grundstückskredite auch die Einhaltung der vollen gesetzlichen Schriftform. Ihre Erfordernisse tragen dem heutigen Massengeschäftsverkehr nicht ausreichend Rechnung. Dem Rechtsausschuß des Bundestages ist daher sehr dafür zu danken, Herr Kollege Kleinert, Herr Kollege von Stetten, daß er eine Lösung vorgeschlagen hat, die das mehrfache Hin- und Herschicken der Vertragsurkunde zwischen den Parteien künftig erübrigt. ({6}) Die Eilbedürftigkeit der Änderungen hat es erforderlich gemacht, die Regelungen zum Verbraucherkreditgesetz in das laufende Gesetzgebungsverfahren zur Bauhandwerkersicherung einzustellen. Gleichwohl sind die Verbraucherinteressen auch im Verfahren gewahrt worden. Die Ausschüsse des Bundestages haben eigens eine Anhörung durchgeführt und den Verbraucherverbänden Gelegenheit gegeben, zu den vorgesehenen Änderungen Stellung zu nehmen. Ich glaube, daß wir insgesamt ein ganz rundes Gesetz zu beschließen haben. Ich danke für die Unterstützung der Arbeit der Bundesregierung vor allen Dingen in den Ausschüssen. Ich danke Ihnen vielmals. ({7})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Vor der Abstimmung hat unsere Frau Kollegin Lilo Blunck nach § 31 unserer Geschäftsordnung das Wort zu einer Erklärung zur Abstimmung erbeten. Bitte, Frau Kollegin Blunck.

Lieselott Blunck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann diesem Gesetz zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches nicht zustimmen, weil der löbliche Vorsatz, dem Bauunternehmer die Bezahlung seiner Arbeit zu sichern, mißbraucht wird, um klammheimlich das Verbraucherkreditgesetz zu ändern. ({0}) Politikverdrossenheit kommt auch daher, daß politische Zusammenhänge von den Bürgern nicht erkannt werden, auch gar nicht erkannt werden können, wenn, wie im vorliegenden Fall, der Sachzusammenhang beim besten Willen nicht herstellbar ist und sich der Eindruck nicht von der Hand weisen läßt, daß hier gemauschelt wird. ({1}) Ich kann dem Gesetz nicht zustimmen, weil sich die öffentliche Hand, die doch eigentlich für den Bürger da sein soll, hier auf Kosten eben dieser Bürger das Leben zum Schaden der Verbraucher und Verbraucherinnen erleichtern will. Hier arbeitet die öffentliche Hand in unseliger Weise mit der Kreditwirtschaft zusammen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß gewisse Querverbindungen voll ihre Wirkung zeigen. Ich kann diesem Gesetz nicht zustimmen, weil der Verbraucher und die Verbraucherin mit der geplanten Lieselott Blunck ({2}) Änderung des Verbraucherkreditgesetzes in einigen Fällen erheblich schlechter gestellt werden. ({3}) Ein Bauherr muß wissen, in welchen Jahren er in welcher Höhe öffentliche Fördermittel erhält und wie - in welcher Zeit und in welcher Höhe - er sie zurückzahlen muß. ({4}) Genau das verhindern die Änderungen des Verbraucherkreditgesetzes. Wenn nicht mehr die Pflicht besteht, bei Immobilienfinanzierungen den Gesamtaufwand auszuweisen, sind überteuerte Finanzierungen im Verbund mit Kapitallebensversicherungen und Bausparverträgen gewissermaßen gesetzlich abgesichert, ({5}) und damit wird den berüchtigten Drückerkolonnen in den fünf neuen Bundesländern erneut Tür und Tor geöffnet. ({6}) Ich fordere Sie daher alle auf, meinem Beispiel zu folgen: Stimmen Sie mit Nein! ({7})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Blunck, Sie haben gesagt, es könnte der Eindruck entstehen, daß in diesem Hause gemauschelt wird. Das wollen wir zurückweisen. In diesem Hause gibt es keine Mauschelei. ({0}) Es gibt Verhandlungen und Beratungen. ({1}) Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf des Bauhandwerkersicherungsgesetzes auf den Drucksachen 12/1836 und 12/4526. Die Fraktion der SPD hat durch den Kollegen Pick beantragt, zu einzelnen Punkten getrennte Abstimmungen durchzuführen. Ich lasse zuerst über Art. 1 und 2 abstimmen. Ich rufe Art. 1 und 2 in der Ausschußfassung auf. Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Bei Stimmenthaltung des Kollegen Dr. Seifert sind Art. 1 und 2 in der Ausschußfassung angenommen. Ich rufe Art. 2 a in der Ausschußfassung auf. Wer stimmt für Art. 2 a in der Ausschußfassung? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Bei Gegenstimmen des Kollegen Dr. Seifert und der Frau Kollegin Blunck und Stimmenthaltung der SPD-Fraktion ist auch Art. 2 a in der Ausschußfassung angenommen. Ich rufe Art. 2 b, Art. 3, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer zustimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Bei Stimmenthaltung des Kollegen Dr. Seifert sind auch Art. 2 b, Art. 3, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung angenommen. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Bei Stimmenthaltung des Kollegen Dr. Seifert und Gegenstimme der Frau Kollegin Blunck ist der Gesetzentwurf in dritter Lesung angenommen. Meine Damen und Herren, ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der steuerlichen Bedingungen zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland im Europäischen Binnenmarkt ({2}) - Drucksache 12/4487 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({3}) Innenausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau EG-Ausschuß Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß i 96 GO b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Horst Gibtner, Wolfgang Börnsen ({4}), Dr. Dionys Jobst und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der Überleitungsfrist des Einigungsvertrages zu § 24 a Straßenverkehrsgesetz - Drucksache 12/3770 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({5}) Innenausschuß Ausschuß für Verkehr c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Jürgen Meyer ({6}), Dr. Hans de With, Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines ... StrafverfahVizepräsident Helmuth Becker rensänderungsgesetzes - Genetischer Fingerabdruck - ({7}) - Drucksache 12/3981 -Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({8}) Innenausschuß Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Günther Toetemeyer, Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau und weiterer Abgeordneter Unterstützung des Demokratisierungsprozesses in Zaire - Drucksache 12/4314 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({9}) Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Günther Toetemeyer, Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Unterstützung des Demokratisierungsprozesses in Togo - Drucksache 12/4315 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({10}) Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Günter Toetemeyer, Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau und weiterer Abgeordneter Durchführung demokratischer Präsidentschaftswahlen in Kamerun - Drucksache 12/4316 Überwei sungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({11}) Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit g) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament Entschließung zu den Schlußfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates vom 11./12. Dezember 1992 in Edinburgh - Drucksache 12/4181 Überweisungsvorschlag: EG-Ausschuß ({12}) Auswärtiger Ausschuß Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 und den heute morgen aufgesetzten Zusatzpunkt auf: 3. Abschließende Beratung ohne Aussprache a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 24. Februar 1988 zur Bekämpfung widerrechtlicher gewalttätiger Handlungen auf Flughäfen, die der internationalen Zivilluftfahrt dienen - Drucksache 12/3196 - ({13}) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({14}) - Drucksache 12/4345 - Berichterstattung: Abgeordnete Hermann Bachmaier Klaus-Heiner Lehne b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({15}) zu dem Antrag der Abgeordneten Freimut Duve, Dr. Willfried Penner, Wolfgang Thierse, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Beibehaltung des ermäßigten Steuersatzes für Kunstwerke - Drucksachen 12/1320, 12/2936 - Berichterstattung: Abgeordnete Eike Ebert Wolfgang Schulhoff c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({16}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Verordnung ({17}) des Rates zur Änderung der Haushaltsordnung vom 21. Dezember 1977 für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften - Drucksachen 12/3584 Nr. 3.1, 12/4342 Berichterstattung: Abgeordnete Karl Diller Hans-Werner Müller ({18}) d) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({19}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 25 02 Titel 642 01- Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz -- Drucksachen 12/4031, 12/4343 Berichterstattung: Abgeordnete Adolf Roth ({20}) Dr. Wolfgang Weng ({21}) Thea Bock e) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({22}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 12 Titel 616 31 - Zuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit - Drucksachen 12/4085, 12/4344 - Berichterstattung: Abgeordnete Karl Diller Dr. Gero Pfennig Ina Albowitz f) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 91 zu Petitionen - Drucksache 12/4463 - Vizepräsident Helmuth Becker g) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({24}) Sammelübersicht 92 zu Petitionen - Drucksache 12/4464 - h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 93 zu Petitionen - Drucksache 12/4465 ZP Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({26}) zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft in O-1561 Potsdam, Bauhofstraße 2-8 - Drucksachen 12/3149, 12/4477 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Nils Diederich ({27}) Hans-Werner Müller ({28}) Werner Zywietz Tagesordnungspunkt 3 a: Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Vertragsgesetzentwurf zur Bekämpfung gewalttätiger Handlungen auf Flughäfen, Drucksache 12/3196. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/4345, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 3 b: Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Beibehaltung des ermäßigten Steuersatzes für Kunstwerke, Drucksache 12/2936. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1320 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 3 c: Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Vorschlag der EG zur Änderung der Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften, Drucksache 12/4342. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Auch diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 3 d und e: zwei Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses zu überplanmäßigen Ausgaben im Haushaltsjahr 1992, Drucksachen 12/4343 und 12/4344. Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über die beiden Beschlußempfehlungen gemeinsam abstimmen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch; dann verfahren wir so. Wer stimmt für beide Beschlußempfehlungen? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann sind auch diese Beschlußempfehlungen einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 3f bis h: Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 12/4463 bis 12/4465. Das sind die Sammelübersichten 91 bis 93. ({29}) - Dann stimmen wir zunächst über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf der Drucksache 12/4463 ab; das ist die Sammelübersicht 91. Wer für die Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen. Dann kommen wir jetzt zur Drucksache 12/4464 und zu der Sammelübersicht 92. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Bei einer Stimmenthaltung ist auch diese Beschlußempfehlung angenommen. Nun kommen wir zu der Sammelübersicht 93 auf der Drucksache 12/4465. Richtig? ({30}) Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Bei Gegenstimmen aus der SPD-Fraktion und der Gruppe PDS/Linke Liste ist auch diese Beschlußempfehlung angenommen. Wir kommen jetzt zu dem eben erwähnten Zusatzpunkt: Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zur Veräußerung einer bundeseigenen Liegenschaft in Potsdam, Drucksachen 12/3149 und 12/4477. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Bei Stimmenthaltungen aus der SPD-Fraktion und der Gruppe PDS/ Linke Liste ist die Beschlußempfehlung angenommen. Nunmehr rufe ich den Tagesordnungspunkt 1 auf: Fragestunde - Drucksache 12/4482 In der Fragestunde werden zunächst drei Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie aufgerufen. Die Frage 54 des Kollegen Weißgerber sowie die Frage 55 und die Frage 56 des Kollegen Wolf-Michael Catenhusen sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Damit ist dieser Geschäftsbereich, der schon gestern aufgerufen war, erledigt. Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Familie und Senioren. Zur Beantwortung steht uns die Parlamentarische Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk zur Verfügung. Ich rufe die Frage 30 der Frau Kollegin Hildegard Wester auf: Mit welcher Begründung beabsichtigt die Bundesregierung, die Leistungen der Sozialhilfe für Haushalte mit mehr als vier Personen zu kürzen? Bitte, Frau Staatssekretärin. Roswitha Verhülsdonk, Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Familie und Senioren: Frau Kollegin Wester, ich beantworte Ihre Frage 30 wie folgt: Frau Kollegin Wester, die Bundesregierung beabsichtigt nicht, die gesamten Leistungen der Sozialhilfe für Haushalte mit vier und mehr Personen zu kürzen. Es ist vielmehr daran gedacht, die Regelsätze - ich betone: nur die Regelsätze! - für Personen in größeren Haushalten geringfügig abzusenken. Die übrigen Leistungen, insbesondere für Unterkunft, Heizung, für Anschaffungen, Kleidung und Hausrat, bleiben wir bisher. Es handelt sich bei dieser Maßnahme im wesentlichen um ein vorübergehendes Einfrieren der Regelsätze für die größeren Haushalte. Mit der Steigerung, die ein Jahr später in Höhe von 3 % im Gesetz vorgesehen ist, nehmen auch diese Haushalte wieder an Steigerungen der Regelsätze teil. Die geringfügige Absenkung der Regelsätze begründe ich wie folgt: Die Regelsätze decken den Bedarf für Ernährung, für allgemeine Haushaltskosten, z. B. Haushaltsenergie, und für persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens, z. B. Körperpflege und Wäsche von geringem Wert. Es ist bekannt, daß größere Haushalte dabei günstiger wirtschaften können als kleinere Haushalte. Da die Grundlagen für die geltenden Regelsätze nur für die Bedarfe kleinerer Haushalte, also für die große Masse der Haushalte, berechnet werden konnten, wird schon seit längerem gefordert, z. B. von den kommunalen Spitzenverbänden und auch von den Ministerpräsidenten der Länder, daß die Kumulierungseffekte bei der Festsetzung der Regelsätze berücksichtigt werden. Der Gedanke ist also, diese Haushalte als eine Bedarfsgemeinschaft zu verstehen und nicht als eine Addition von Personen mit jeweils eigenem Regelsatz. Hinzu kommt, daß größere Haushalte auf Grund von Sozialhilfeleistungen zum Teil - das gilt insbesondere für die neuen Länder - mehr Geld zur Verfügung haben als größere Haushalte von Arbeitnehmern aus Erwerbseinkommen. Ich denke, das kann wohl nicht richtig sein; denn das fördert nicht die Bereitschaft, aus eigenen Kräften für den Unterhalt der Familie zu sorgen. Es muß unser aller Bestreben sein, daß die Menschen in unserem Lande versuchen, aus eigener Kraft für ihren Unterhalt zu sorgen. Das Gesetz, das wir vorlegen, enthält ja eine ganze Menge von Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Zusatzfrage, Frau Kollegin Wester, bitte.

Hildegard Wester (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002488, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatssekretärin, wie hoch müßte Ihrer Meinung oder der Meinung Ihres Hauses nach der Abstand zwischen dem Nettoeinkommen und den Leistungen nach dem BSHG sein?

Roswitha Verhülsdonk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002371

Frau Kollegin, die Frage ist ebenfalls schriftlich gestellt worden und wird von mir gleich beantwortet, d. h. Ihre Zusatzfrage steht in einem gewissen Zusammenhang zur nächsten Frage.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Das betrifft Frage 31, die dann kommt. Dann eine Zusatzfrage des Kollegen Graf, bitte.

Günter Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000719, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatssekretärin, Sie haben eben gesagt, daß Sie dadurch verhindern wollen, daß die Bezieher der Sozialhilfe, wenn die Familie mehr als vier Personen umfaßt, vielfach mehr Geld haben als eine Arbeiterfamilie mit der gleichen Kopfzahl, die über weniger Geld verfügt. Würden Sie mir denn zugestehen, daß es richtig ist, daß eine Arbeiterfamilie, die niedrigere Bezüge als die der Sozialhilfe hat, natürlich einen Rechtsanspruch auf Sozialhilfe hat?

Roswitha Verhülsdonk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002371

Das will ich Ihnen zugestehen, Herr Kollege. Ich habe aber nicht so argumentiert wie Sie. Ich habe jedenfalls bisher nicht behauptet - und werde das auch nicht tun -, daß generell die Einkommen keinen Lohnabstand zu der Sozialhilfe halten. Ich habe gesagt, daß ist punktuell der Fall, und habe dabei die neuen Länder genannt.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Habermann, eine Zusatzfrage, bitte schön.

Michael Habermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000768, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatssekretärin, wenn Sie sagen, daß es in größeren Haushalten, wo mehrere Erwachsene mit mehreren Kindern leben, zu Einspareffekten kommt, dann müßten Sie mir jetzt beantworten können, warum das Kindergeld vom ersten Kind mit 70 DM beim zweiten auf 130 DM usw. steigt. Das wird doch damit begründet, daß, je mehr Kinder in einer Familie leben, ein desto höherer Aufwand entsteht. Um so größer muß auch die öffentliche oder gesellschaftliche Hilfe für diese Familien sein. Ist das nicht ein Widerspruch zu dem, was Sie uns jetzt im Bereich der Sozialhilfe gesagt haben?

Roswitha Verhülsdonk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002371

Nein, Herr Kollege. Sie sind ein sehr sachverständiger Kollege und Mitglied des zuständigen Ausschusses. Deswegen sage ich Ihnen sicher nichts Neues, wenn ich Ihnen und allen, die zuhören, klarmache, daß mit der Sozialhilfe der Bedarf für das soziokulturelle Existenzminimum festgelegt wird, damit niemand in diesem Land in Armut fällt. Dabei entfallen selbstverständlich andere Sozialleistungen, etwa das Kindergeld, weil bei Sozialhilfe alles eingerechnet ist. Eine völlig andere Funktion hat das Kindergeld. Wir leben Gott sei Dank in einem Lande, in dem es Tariflöhne gibt. Dabei wird nicht danach gefragt, ob jemand ein, zwei, drei, vier oder fünf Köpfe zu ernähren hat. Wenn das anders wäre, wären vermutlich in Zeiten der Arbeitslosigkeit genau die Personen ohne Beschäftigung, die am teuersten sind und die das Einkommen am dringendsten brauchen. Insoweit ergänzen wir den Tariflohn. Praktisch machen wir ihn zu einem Familienlohn, indem wir Kindergeld zahlen. Das Kindergeld deckt aber bei weitem nicht die Kosten, die Kinder ihren Eltern verursachen, sondern es deckt sie nur anteilig. Die Staffelung, die Sie genannt haben, ist damit zu begründen, daß bei einer Familie mit einem Kind die Eigenleistung der Eltern für den Unterhalt höher sein kann, als wenn ein zweites Kind dazukommt. Insoweit ist der Anteil, den der Staat an dem Unterhaltsbedarf des Kindes übernimmt, ein höherer. Beim dritten und vierten Kind steigert sich dieser Anteil weiter. Das Ganze wird durch die Ihnen bekannten Kinderfreibeträge im Steuerrecht ergänzt.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, noch einmal zu den Regeln der Fragestunde: Fragen müssen kurz sein und eine kurze Antwort ermöglichen. Ich bitte, das zu beachten. Die nächste Zusatzfrage, Herr Kollege Dr. Ilja Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Staatssekretärin, Sie haben im Grunde die Familienmitglieder nicht als eigenständige Individuen definiert, sondern als eine Gemeinschaft. Heißt das, daß in Ihrem Hause nicht davon ausgegangen wird, daß Kinder oder die Frauen eigenständige Ansprüche auf eigenständiges Einkommen oder in diesem Falle eigenständige Sozialhilfe haben?

Roswitha Verhülsdonk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002371

Das heißt das nicht. Wir haben sehr viele Rechtsgebiete, in denen definiert ist, daß die Mitglieder einer Familie jeweils eigenständige Rechte haben. Nur, beim Bundessozialhilfegesetz haben wir eine völlig andere Struktur. Hier geht es um den soziokulturellen Mindestbedarf. ({0}) - Nein, er ist zwar in den Regelsätzen pro Person festgelegt. Aber man muß doch sehen, ob eine gewisse Bedarfsgerechtigkeit bei allen, die Sozialhilfe beziehen, besteht, z. B. den Mitgliedern eines kleinen Haushaltes, einer alleinerziehenden Mutter mit ihrem Kind und den Personen, die in Großhaushalten leben. Da gibt es eben in bezug auf die Bedarfsgerechtigkeit einen Abstand. Bei großen Haushalten sind die addierten Einzelleistungen der Regelsätze höher und bringen eine höhere Bedarfslinie als bei einem kleinen Haushalt. Dies ist ein Problem - ich sagte es schon-, das auch die Ministerpräsidenten der Länder und auch die kommunalen Spitzenverbände anerkannt haben. Auch Wohlfahrtsverbände haben diesen Tatbestand nicht geleugnet.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Dr. Uwe Küster.

Dr. Uwe Küster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatssekretärin, eine Ihrer Aussagen muß ich noch einmal hinterfragen. Sie sagten, daß Sozialhilfeempfänger im Vergleich zu den Einkommensbeziehern in den unteren Einkommensgruppen zuviel bekommen. Kann das nicht auch bedeuten, daß die in Erwerbstätigkeit stehende vierköpfige Familie im Vergleich zu Sozialhilfeempfängern zuwenig bekommt? Was gedenkt die Bundesregierung, in dieser Richtung zu tun, um dieses Minimum für die Zukunft zu garantieren?

Roswitha Verhülsdonk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002371

Lieber Herr Kollege, Sie wissen, daß uns die Regelung der Bezahlung von Arbeit entzogen und vom Grundgesetz her den Tarifparteien überlassen ist. ({0}) - Wir sind ja gerade dabei, Änderungen vorzunehmen. ({1}) Sie kennen ja alle das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ({2}) zur Frage der Freibeträge. In diesem Zusammenhang kann man etwas tun. Aber ich denke, daß wir uns alle darüber einig sein können, daß es ordnungspolitisch nicht möglich ist, den Bedarfsstandard für irgend jemand als Grundlage für eine Art Mindestlohn heranzuziehen und von dem Bedarfsstandard der Sozialhilfe auf eine Mindestsicherung für Arbeitnehmer zu kommen. Das dürfte weder finanzierbar sein, noch paßt es in die Landschaft unseres Grundgesetzes.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich rufe die Frage 31 unserer Kollegin Hildegard Wester auf: Wie hoch ist das von der Bundesregierung bei ihren Berechnungen zugrunde gelegte Arbeitseinkommen, und auf welcher Berechnungsgrundlage basiert dieses einkommen? Frau Parlamentarische Staatssekretärin, bitte sehr.

Roswitha Verhülsdonk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002371

Frau Kollegin Wester, die Bundesregierung geht bei ihren Überlegungen zum Abstand zwischen den Leistungen im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt und den Arbeitseinkommen von den durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelten unterer Lohngruppen zuzüglich Kindergeld und Wohngeld aus. Nach Ansicht der Bundesregierung eignet sich als Referenzgröße besonders die Leistungsgruppe 3, zu der alle Hilfsarbeiten gehören, für die keine fachliche Ausbildung erforderlich ist. In den Tarifverträgen werden die hier eingestuften Arbeiter als Hilfsarbeiter, einfache Arbeiter, ungelernte Arbeiter und ähnlich bezeichnet. Nach der vorliegenden amtlichen Statistik der Löhne und Gehälter für den Monat Juli 1991 betrug der durchschnittliche Bruttoverdienst der Arbeiter in der Industrie einschließlich Hoch- und Tiefbau mit Handwerk in der Leistungsgruppe 3, von der ich sprach, 3 337 DM.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Eine Zusatzfrage, Kollegin Wester, bitte.

Hildegard Wester (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002488, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wie viele Familien verfügen über ein Einkommen, das Sie jetzt zur Beispielsberechnung herangezogen haben, und stellt dieses Lohneinkommen einen repräsentativen Querschnitt für das Einkommen von Familien mit zwei Kindern dar?

Roswitha Verhülsdonk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002371

Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten. Ich habe mich gerade bei meinen Mitarbeitern noch einmal vergewissert: Die Zahlen haben wir nicht. Vielleicht fragen Sie einmal im Arbeitsministerium nach. Da werden Sie die Zahlen sicher eher erfahren können.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Eine weitere Zusatzfrage der Kollegin Wester.

Hildegard Wester (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002488, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wäre es möglich, diese Frage schriftlich zu beantworten?

Roswitha Verhülsdonk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002371

Ich will das gerne an den Kollegen des zuständigen Hauses weitergeben.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Staatssekretärin, Sie antworten ja für die Bundesregierung. Wenn Sie diese Hilfe übernehmen, sind wir Ihnen sicher alle sehr dankbar.

Roswitha Verhülsdonk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002371

Ich habe es angeboten, ja.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Keine weitere Zusatzfrage? ({0}) - Sie haben zwei Zusatzfragen gehabt. ({1}) - Also schön, eine weitere Zusatzfrage. Bitte, Kollegin Wester.

Hildegard Wester (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002488, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatssekretärin, welche Arbeitseinkommen haben Sie für die Berechnung der Einkommensgrenzen beim Erziehungsgeld und Kindergeld zugrunde gelegt? ({0})

Roswitha Verhülsdonk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002371

Das ist Ihnen als Mitglied des Ausschusses doch sicherlich bekannt. Zur Zeit wird beim Erziehungsgeld ein Jahresnettoeinkommen in Höhe von 29 400 DM für ein Ehepaar mit einem Kind zugrunde gelegt. Für jedes weitere Kind erhöht sich die Einkommensgrenze um 4 200 DM. Ab diesen Einkommensgrenzen wird das Erziehungsgeld stufenweise gemindert. Beim Kindergeld gibt es zunächst keine Einkommensgrenze. Jeder bekommt Kindergeld. Bei den höheren Einkommen wird das Kindergeld allerdings stufenweise auf einen Sockelbetrag reduziert, weil bei diesen Familien gleichzeitig auch der Steuerfreibetrag eine entsprechende ergänzende Hilfe zum Unterhalt des Kindes bietet.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Habermann, bitte.

Michael Habermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000768, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatssekretärin, ich versuche, langsam und deutlich zu sprechen, damit die Frage auch bei Ihnen ankommt. ({0}) Dann kommt vielleicht auch die Antwort bei uns besser an. Das von der Bundesregierung zugrunde gelegte Arbeitseinkommen dient Ihnen als Beleg dafür, daß der gebotene Abstand zwischen Sozialhilfe und Arbeitseinkommen zu gering ist. Frau Staatssekretärin, wie bewerten Sie die Tatsache, daß dieses Arbeitseinkommen, obwohl es so niedrig ist, daß es fast von den Leistungen der Sozialhilfe erreicht wird, letzten Endes aber zu hoch ist, um nach dem sechsten Monat des Bezugs von Erziehungsgeld auch weiterhin ungekürzt Erziehungsgeld zu bekommen?

Roswitha Verhülsdonk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002371

Die Frage ist ziemlich kompliziert und steht eigentlich nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der gestellten Ausgangsfrage. Es ist eine rein familienpolitische Frage, die mit dem Sozialhilferecht wenig zu tun hat. Ich könnte sie beantworten, aber ich weiß nicht, Herr Präsident, ob das im Rahmen der Fragestunde sinnvoll ist. Wenn Sie diese Frage schriftlich einreichen, antworte ich Ihnen gerne schriftlich.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Darum würde ich bitten, denn sie steht wirklich nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ausgangsfrage. Ich rufe nun Frage 32 des Kollegen Michael Habermann auf: Wie will die Bundesregierung, trotz der beabsichtigten Kürzung der Sozialhilfeleistungen für kinderreiche Familien, deren Existenzminimum sicherstellen, angesichts der Tatsache, daß die Leistungen des BSHG so konzipiert sind, daß sie dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht ({0})?

Roswitha Verhülsdonk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002371

Herr Kollege Habermann, in meiner Antwort auf die Frage 30 der Abgeordneten Wester habe ich bereits darauf hingewiesen und begründet, daß die Absenkung der Regelsätze bei größeren Haushalten zusammen mit der Regelsatzerhöhung zum 1. Juli dieses Jahres zu einem Mehr an Bedarfsgerechtigkeit zwischen verschiedenen großen Haushalten führt. Die Sicherstellung existenznotwendiger Leistungen der Sozialhilfe, der eine gerechte Bedarfsfeststellung gerade dient, wird dadurch nicht berührt. Ich betone nochmals, daß das Minus, das eintritt, zunächst unter 1 % des geltenden Gesamtbedarfs liegt und durch die Steigerungen, die ein Jahr später eintreten, nämlich durch eine Erhöhung um 3 %, ja schon wieder aufgehoben wird. Das heißt, ab diesem Zeitpunkt nehmen auch die größeren Haushalte an den Regelsatzsteigerungen teil.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Eine Zusatzfrage des Kollegen Habermann, bitte.

Michael Habermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000768, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatssekretärin, da ich davon ausgehe, daß Sie in Ihrem Ministerium nicht die Ministerin bzw. die Beamten, die zwei Kinder haben, quasi für eine Verbrauchsstichprobe herangezogen haben, sondern daß Sie über Daten verfügen, die Ihnen eine Beurteilung dieses Sachverhaltes ermöglichen, möchte ich von Ihnen wissen, welche Grundlagen Sie für die Beurteilung dieser Fragen herangezogen haben und seit wann Ihnen das bekannt ist, da Sie ausgerechnet in diesem Jahr mit diesem Thema kommen.

Roswitha Verhülsdonk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002371

Das Thema ist ja schon lange in der Diskussion. Sie wissen, daß die Bedarfsfeststellung entsprechend der Häufigkeit typischer Haushalte vorgenommen worden ist. Das heißt, in der Regel sind kleinere Haushalte die Grundlage für die Erhebungen gewesen, die zu der Festsetzung der Regelsätze geführt haben. Davon ausgehend hat man einfach addiert und für jede weitere Person dieselben Regelsätze, die beim Zwei- und Drei-Personenhaushalt errechnet worden sind, zusätzlich gezahlt. Die Großhaushalte machen in der Bundesrepublik ja mittlerweile eine Minderheit aus. Sie sind in diesen statistischen Erhebungen nicht entsprechend berücksichtigt worden. Die Kumulierungswirkung ist erst in der Diskussion über die Frage erkannt worden - sie wird ja öffentlich geführt -, ob die Leistungen der Sozialhilfe in bestimmten Fällen nicht so hoch sind, daß sie Erwerbseinkommen überschreiten. Wir erfahren aus der Presse ja ständig von Beispielen, in denen Auszahlungsbeträge im Rahmen der Soialhilfe von 3 000 und 4 000 DM, bezogen auf bestimmte Familien, genannt werden. Das hat nicht unbedingt zur Akzeptanz des Bundessozialhilfegesetzes in der Gesellschaft beigetragen. Wir müssen durch mehr Gerechtigkeit in bezug auf unterschiedlich große Bedarfsgemeinschaften einen Beitrag dazu leisten, daß in der Gesellschaft die Akzeptanz der Sozialhilfe erhalten bleibt. Denn den Menschen, die ihren Unterhalt nicht selbst bestreiten können, verhilft die Sozialhilfe zu einem wichtigen Rechtsanspruch.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Eine weitere Zusatzfrage, Kollege Habermann.

Michael Habermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000768, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatssekretärin, wenn es so ist, daß es bei größeren Haushaltsgemeinschaften Einsparpotentiale gibt, dann muß man aber auch berücksichtigen, daß in solchen Haushaltsgemeinschaften höhere Kosten anfallen, da die Verschleißerscheinungen bei Maschinen und Geräten größer sind, z. B. weil die Waschmaschine häufiger läuft. In welchem Umfang wurden diese Mehrausgaben, die bei solchen Familien ebenfalls zu Buche schlagen, in dieser Berechnung berücksichtigt?

Roswitha Verhülsdonk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002371

Herr Kollege, ich erinnere an meine Antwort auf die erste Frage der Frau Kollegin Wester. Darin habe ich sehr deutlich gemacht, daß die beabsichtigte Kürzung nur die Regelsätze, d. h. die Hilfe zum Lebensunterhalt betrifft, nicht jedoch andere laufende Leistungen wie Anschaffungen, Einmalleistungen, Kleiderhilfe, Weihnachtshilfe, Wohnkostenübernahme. Die Waschmaschine in diesen Haushalten würde, wenn sie kaputtgeht, auch weiterhin ersetzt.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Günter Graf.

Günter Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000719, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatssekretärin, Sie sprachen eben davon, daß die einprozentige Absenkung durch eine dreiprozentige Aufstockung aufgefangen werde. Betreiben Sie damit nicht Augenwischerei vor der deutschen Öffentlichkeit, da wir wissen, daß die Steigerung der allgemeinen Lebenshaltungskosten um einiges höher ist als die dann noch verbleibenden 2%?

Roswitha Verhülsdonk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002371

Der Hintergrund all dieser Sparmaßnahmen ist ja bekannt. Es geht darum, daß es notwendig ist, die Ausgaben, die gewaltig zugenommen haben und unter deren Last die Länder und Gemeinden stöhnen, auf eine verträgliche Höhe zurückzuführen, damit die Länder und Gemeinden - vor allen Dingen die Gemeinden - in der Lage sind, ihren Beitrag zur Finanzierung des Aufbaus in Deutschland zu leisten.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Eine weitere Zusatzfrage der Frau Kollegin Uta Würfel.

Uta Würfel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002569, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Staatssekretärin Verhülsdonk, vor dem Hintergrund der hier und anderenorts getroffenen Feststellung, daß es sich bei der Gewährung von Sozialhilfe und den in diesem Zusammenhang gewährten Beträgen tatsächlich um das handelt, was die Familien brauchen, müssen wir, wenn das so ist, konsequenterweise doch zu dem Schluß kommen, daß den Familien mit vier Kindern, die über ein Erwerbseinkommen verfügen, dann, weil eine Gerechtigkeitslücke entsteht, weil die Gerechtigkeit nicht hergestellt ist - auch nach den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts -, tatsächlich mehr Geld zur Verfügung gestellt werden muß, sei es über den steuerlichen Bereich oder über die Gewährung von mehr Kindergeld. Ich möchte Sie fragen, ob wir nicht wahrheitsgemäß folgendes sagen müßten: Vor dem Hintergrund leerer Kassen ist es uns zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich, die Familien mit Erwerbseinkommen und mehreren Kindern finanziell so auszustatten, wie wir es gerne möchten. Nachdem die Familien mit Sozialhilfeeinkommen gerechterweise, wie wir bislang immer annahmen, finanziell richtig ausgestattet sind, muß nun, urn diese Gerechtigkeitslücke zu beseitigen, die von Ihnen sicherlich auch als sehr schmerzhaft empfundene Kürzung um 1 % in die Tat umgesetzt werden. Roswitha Verhülsdonk, Parl Staatssekretärin: Der Zusammenhang ist nicht so, wie Sie ihn darstellen. Aber ich möchte zu dem Hauptteil Ihrer Frage Stellung nahmen: Die Bundesregierung hat sehr oft und immer wieder in diesem Hause dargelegt, daß sie einen weiteren Ausbau des Familienlastenausgleichs für notwendig hält und ihn in dem Maße vornehmen wird, in dem Finanzmittel zur Verfügung stehen. Wir haben ja auch immer wieder das Konzept genannt. Was wir jetzt erreicht haben, ist, daß das Existenzminimum von Kindern durch den Familienlastenausgleich heute gerade abgedeckt ist. Darüber, das die Steuerfreistellung des Existenzminimums in dem Maße fortgeschrieben werden muß, in dem die Geldentwertung fortschreitet, sind wir uns auf der einen Seite einig. Im Ausschuß für Familie und Senioren sind wir uns auch darüber einig, daß darüber hinaus eine zusätzliche Förderung der Familien erforderlich ist. Das Ganze ist eine Frage der verfügbaren Finanzen. Es geht dabei um Milliardenbeträge.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Eine Zusatzfrage des Kollegen Herbert Werner.

Herbert Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002484, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, könnten Sie uns einerseits vielleicht noch einmal klarmachen, wie sich der Zuwachs von 2 bzw. 3 % im Rahmen der Sozialhilfe vor dem Hintergrund der Lohnentwicklung, wie sie sich in diesem Jahr und schon in bezug auf das nächste Jahr abzeichnet, für die nächsten Jahre darstellt, und könnten Sie uns andererseits klarmachen, wie in den vergangenen Jahren die Entwicklung der Sozialhilfeausgaben vor dem Hintergrund der prozentualen Lohnanstiege in den unteren Lohngruppen prozentual verlaufen ist?

Roswitha Verhülsdonk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002371

Herr Kollege, in der Beantwortung einer späteren Frage nehme ich sowieso Stellung zu den Steigerungssätzen, die es in der Sozialhilfe jährlich gegeben hat. Es ist tatsächlich so - das ist ja auch in den Debatten der letzten Tage deutlich gemacht worden -, daß wir im Bereich der Regelsätze der Sozialhilfe stärkere Anstiege hatten als in der Lohnentwicklung.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Eine weitere Zusatzfrage, bitte, Frau Kollegin.

Erika Reinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, ist die Diskrepanz zwischen Lohn und Sozialhilfe nicht auch darin begründet, daß wir bei der Sozialhilfeerhöhung immer Nettobeträge haben, es sich dagegen bei den Tariflöhnen um Bruttoerhöhungen handelt und davon noch die Steuern abgezogen werden?

Roswitha Verhülsdonk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002371

Die Problematik des Vergleichs hat noch eine andere Seite, Frau Kollegin: Es ist so, daß die Bedarfssätze der Sozialhilfe, die Regelsätze, noch durch die volle Übernahme der Kosten von Warmmiete, von Wohnen ergänzt werden, so daß am Ende ein Betrag gezahlt wird, der den Lebensbedarf und das Wohnen abdeckt. Demgegenüber bleiben bei den Nettolöhnen der Einkommensbezieher nach Einbeziehung von Kindergeld und Wohngeld noch ungedeckte Teile des Wohnens bestehen, die man bei einem Vergleich berücksichtigen muß. Denn das Wohngeld deckt nur einen Teil der Miete, und zwar nur der Kaltmiete ab; damit müssen in der Regel noch erhebliche Beträge geleistet werden. Wenn ich diesen Vergleich anstelle, komme ich überhaupt erst einmal dazu, feststellen zu können, wie nah die Sozialhilfesätze an real verfügbaren Einkommen in Arbeitnehmerhaushalten liegen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Nach dieser Zusatzfrage der Frau Kollegin Reinhardt kommen wir zur Beantwortung der Frage 33 des Kollegen Michael Habermann: Welche prozentuale Erhöhung haben die Regelsätze des BSHG und die Leistungen des Kinderlastenausgleichs seit 1983 erfahren?

Roswitha Verhülsdonk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002371

Herr Kollege Habermann, die Eckregelsätze im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz haben sich seit 1983 wie folgt entwickelt - ich will kurz die Tabelle darstellen -: Im Jahre 1983 lagen sie bei 342 DM. Die Veränderung gegenüber dem Vorjahr betrug 1,2 %. Die im folgenden genannten Prozentsätze geben jeweils die Veränderung gegenüber dem Vorjahr an. 1984 351 DM, plus 2,6 %; 1985 370 DM, plus 5,4 %; 1986 389 DM, plus 5,1 %; 1987 398 DM, plus 2,3 %; 1988 407 DM, plus 2,3 %; 1989 419 DM, plus 2,9 %; 1990 436 DM, plus 4,1 %; 1991 461 DM, plus 5,7 %; 1992 491 DM, plus 6,5 %. Ich stelle Ihnen die Tabelle gerne zur Verfügung. Der Kinderfreibetrag - das bezieht sich nun auf den anderen Teil der Frage -, der bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage für die Einkommen- bzw. Lohnsteuer zu berücksichtigen ist, hat sich in derselben Zeit wie folgt verändert: Er betrug 1983 432 DM jährlich. Ab 1992 beträgt er 4 104 DM jährlich. Dabei habe ich die Zwischenstufen weggelassen. Die Erhöhung des Kinderfreibetrages von 432 DM auf 4 104 DM entspricht einer Erhöhung um 850 %. Jetzt komme ich zum anderen Teil des Familienlastenausgleichs, nach dem Sie fragen: Das Kindergeld ist für das erste Kind von 50 auf 70 DM und für das zweite Kind von 100 auf 130 DM angehoben worden. Für alle Kinder ist ein Kindergeldzuschlag von bis zu 65 DM je Kind für Eltern neu eingeführt worden, deren Einkommen unter dem steuerlichen Grundfreibetrag liegt. Die Auswirkungen dieser Maßnahmen sind je nach Kinderzahl und Einkommensverhältnissen unterschiedlich. Vergleicht man den durchschnittlichen Zahlbetrag je Kind von 1 067 DM im Jahr 1983 mit dem durchschnittlichen Zahlbetrag von 1 279 DM im Jahre 1992, so ergibt sich eine durchschnittliche Erhöhung von 19,9 %. Auch hier habe ich nur zwei Zahlen verglichen, sozusagen die Eckzahlen für den Zeitraum, nach dem gefragt ist. Auch habe ich einen Mittelwert zugrunde gelegt, weil sich dieser Betrag je nach Kinderzahl und Größe des Haushalts etwas unterscheidet.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Eine Zusatzfrage des Kollegen Habermann.

Michael Habermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000768, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatssekretärin, trotz der Zahlen und der enormen Prozentsteigerungen, die Sie uns genannt haben, haben Sie eben von der Nähe zwischen BSHG-Leistungen und Einkommen durch Löhne gesprochen. Mich würde interessieren, ob Sie bestätigen können, daß auf Grund dieser Zahlen die Entwicklung derzeit so ist, daß sich Löhne der von Ihnen genannten Einkommensgruppe und BSHG-Leistungen weiter auseinanderentwickeln und nur in den Jahren 1985, 1986 und 1987 sehr dicht zusammen lagen.

Roswitha Verhülsdonk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002371

Herr Kollege Habermann, ich habe Ihre Presseerklärung gelesen, auf die Sie sich beziehen. Sie entnehmen einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion Zahlenmaterial, in der nach der Entwicklung von Sozialhilfeleistungen für Kinder im Vergleich zu den Transferleistungen für Kinder gefragt worden war. Es handelt sich dabei um Durchschnittszahlen für die alten Bundesländer, und zwar zu einem ganz bestimmten Haushaltstyp, näm12580 lich zu dem Haushaltstyp eines Ehepaares mit zwei Kindern. Die Zahlen bieten keine Grundlage für die Beurteilung der Abstandsproblematik und sind daher für die Behauptung, daß das Abstandsgebot umfassend eingehalten wird, aus mehreren Gründen ungeeignet. Ich will nur einige nennen: Eine Alleinverdienerfamilie mit zwei Kindern ist eine von zahlreichen größeren Haushaltsgemeinschaften. Eine umfassende Untersuchung über die Abstandswahrung muß auch Familien mit mehr als zwei Kindern und auch Alleinerziehende mit mehreren Kindern einbeziehen. Man kann also nicht von einem Haushaltstyp ausgehen und dann feststellen, ob das Abstandsgebot gewahrt ist. Auch nicht jeder ermittelte Abstand kann rein rechnerisch - ob 50 oder 100 DM, was auch immer Sie zugrunde legen - als im Sinne des Sozialhilferechts ausreichend angesehen werden. Vielmehr bedürfen die ermittelten Abstandsgrößen auch noch einer zusätzlichen Betrachtung, z. B. welche Belastungen ein Arbeitnehmerhaushalt im Bereich des Wohnens selbst zu tragen hat.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Letzte Zusatzfrage des Kollegen Habermann.

Michael Habermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000768, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Zahlen, die ich verwandt habe, sind auch in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 7. Januar dieses Jahres veröffentlicht worden, verbunden mit der Erklärung, daß das Abstandsgebot nicht eingehalten werde. Wenn Sie diese Zahlen jetzt nicht mehr als Ihre Zahlen betrachten, würde ich gerne wissen, welche Zahlen, welche Einkommen Sie zugrunde legen, um den Abstand zwischen BSHG-Leistungen und Einkommen durch Lohn entsprechend zu definieren.

Roswitha Verhülsdonk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002371

Ich weiß nicht, welche Ableitungen die „Frankfurter Allgemeine" in bezug auf diese Zahlen, zu denen ich stehe und die wir Ihnen mitgeteilt haben, vorgenommen hat. Ich habe eben nur versucht, Ihnen klarzumachen, daß Sie aus dem Vergleich eines Vier-PersonenHaushaltes mit zwei Kindern eine Schlußfolgerung ziehen, die so nicht gezogen werden kann, weil man zur Ermittlung des Abstands zwischen Einkommen und Sozialhilfe viel umfangreichere und schwierigere Vergleichsberechnungen anstellen muß. Es reicht eben nicht, Einkommen eines Haushaltstyps gegenüberzustellen, ohne alle anderen Transferleistungen einzubeziehen, wie z. B. das Wohngeld. Wir haben zu der Frage des Abstandsgebots ein Gutachten erstellen lassen, das aktualisiert wird, weil es auf Zahlen der alten Bundesrepublik basiert und wir es jetzt auf die Situation in den neuen Bundesländern ausdehnen müssen. Dieses Gutachten wird in Kürze zur Verfügung stehen. Das ist dann der Zeitpunkt, Herr Kollege Habermann, zu dem man sich sowohl im Ausschuß wie in diesem Hause über die Frage, ob das Abstandsgebot gewahrt ist, besser unterhalten kann. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, wir haben jetzt noch die Fragen 34 und 35 der Kollegin Brigitte Lange. Beide Fragen sollen schriftlich beantwortet werden. Die Anworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich bedanke mich für die Beantwortung der Fragen, Frau Staatssekretärin. Wir kommen nunmehr zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Manfred Carstens zur Verfügung. Die Fragen 36 und 37 des Kollegen Rolf Schwanitz sowie die Fragen 40 und 41 des Kollegen Ludwig Stiegler und die Frage 42 des Kollegen Dr. Hans-Hinrich Knaape sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. So kommen wir zur Beantwortung der Frage 38 des Kollegen Günter Graf: Ist es zutreffend, daß der 6-spurige Ausbau der Autobahn A 1 ({0}) zwischen dem Ahlhorner Dreieck und dem Lotter Kreuz bei Osnabrück Ende 1995 beginnen soll?

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Vorbehaltlich des Beschlusses des Deutschen Bundestages zur Aufnahme von Teilstrecken der Bundesautobahn A 1 zwischen Ahlhorn und Lotte/Osnabrück in den „vordringlichen Bedarf" des neuen Bedarfsplanes werden die Vorbereitungen der niedersächsischen Straßenbauverwaltung auf einen ersten Baubeginn 1995 ausgerichtet.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Zusatzfrage des Kollegen Graf? - Bitte.

Günter Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000719, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, dann frage ich Sie vor dem Hintergrund der jetzigen Antwort: Wie kann es angehen, daß in der Öffentlichkeit in Abstimmung mit dem zuständigen Straßenbauamt schon heute felsenfest dargestellt wird - ich begrüße die Maßnahme -: Die Maßnahme läuft ohne Wenn und Aber?

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Ich führe das mit darauf zurück, daß die Region offensichtlich einen Wahlkreisabgeordneten gewählt hat, der sich sehr für die Region einsetzt. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Keine weitere Zusatzfrage? - Dann bitte ich um die Antwort auf die Frage 39 des Kollegen Graf: Wenn ja, wie erklärt es sich dann, wie in öffentlichen Medien zu lesen war, daß die Einstufung der A 1 in den vordringlichen Bedarf im Bundesverkehrswegeplan zwischenzeitlich in Bonn durchgesetzt wurde, obwohl mir auf meine Anfrage hin Gegenteiliges mitgeteilt wurde? Manfred Carstens, Parl. Staatsminister: Die Bundesregierung hat in Anwort auf Ihre Anfragen u. a. zur Bundesautobahn A 1 mitgeteilt, daß die Einstufung von Teilabschnitten zwischen Ahlhorn und Osnabrück in den „vordringlichen Bedarf" nur möglich ist, sofern der Deutsche Bundestag eine Ausweitung des Planungsvolumens beschließt.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Zusatzfrage, Herr Kollege Graf? ({0}) - Keine weitere Zusatzfrage. Vielleicht kann man das auch im Wahlkreis weiterbesprechen. Nun rufe ich die Frage 43 des Kollegen Dr. Ilja Seifert auf: Sieht die Bundesregierung in der Teltowkanaltrasse eine akzeptable Lösung für eine Verbindung der BAB A 100 und BAB A 113? Bitte, Herr Staatssekretär. Manfred Carstens, Parl. Staatsminister: Die Antwort heißt: Ja. Ich ergänze aber noch etwas, Herr Dr. Seifert. Ich hatte Ihnen schon eben bei der Begegnung außerhalb des Saals angeboten, weiter auf diese Fragestellung einzugehen. Die Ergänzung lautet: Die Notwendigkeit eines neuen Zubringers vom Berliner Stadtautobahnring, A 100, an die A 113 und an den Berliner Ring, A 10, für den Verkehr in Richtung Dresden, Frankfurt/Oder und zum Flughafen Schönefeld ist durch das bei der Bundesverkehrswegeplanung hierfür ermittelte Nutzen-Kosten-Verhältnis von 10,6 eindrucksvoll bestätigt. Die jetzt vorliegende Umweltverträglichkeitsstudie - das ist gegenüber der Antwort, die wir vor einigen Monaten hierzu gegeben haben, neu - weist als Ergebnis der ökologischen Risikoanalyse für die vier untersuchten Trassenvarianten nur geringfügige Unterschiede auf. Demgegenüber sind für die Teltowkanal-Trasse verkehrlich eindeutige Vorteile im Hinblick auf die angestrebte größtmögliche Entlastung des Stadtstraßennetzes ermittelt worden.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Seifert? - Bitte.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Staatssekretär, ich wundere mich über Ihre neueste Umweltverträglichkeitsprüfung, die ich nicht kenne. Ich weiß nur, daß die Bürgerinnen und Bürger dort anderes wissen. Ich würde Sie darum bitten, mir die Unterlage über diese Umweltverträglichkeitsprüfung zur Verfügung zu stellen. Nun aber meine Frage: Kann es sein, daß Sie diese Trasse deshalb bevorzugen, weil Sie dort am wenigesten Widerstand von der Bevölkerung erwarten, weil dort auf bundeseigenem Gebiet gebaut wird und insofern relativ geringe Klagemöglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger bestehen? Manfred Carstens, Parl. Staatsminister: Es wird sicherlich eine Reihe von Gründen geben, die letzten Endes den Ausschlag für das Auswählen dieser Strecke geben. Ich aber habe von den Gutachten, von der Umweltverträglichkeitsstudie, den werkehrlichen Vorzügen und dem Nutzen-Kosten-Verhältnis von 10,6 gesprochen. Das alles zusammengenommen, Herr Kollege Dr. Seifert, ist im Vergleich zu anderen Trassen, die in Deutschland geplant und gebaut werden sollen, unvergleichlich gut. Insofern braucht man keine nähere Begründung dafür, weswegen man diese Strecke ausgewählt hat. Es gibt so viele hinreichende Belege dafür, die dafür sprechen, dies so zu machen. Die Umweltverträglichkeitsstudie ist wahrscheinlich sehr dick. Ich weiß nicht, wie viele Exemplare wir davon haben. Wenn es aber eben möglich ist, lasse ich Ihnen eine davon zukommen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Noch eine Zusatzfrage des Kollegen Seifert? - Bitte.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Das wäre sehr nett. Trotzdem noch einmal, Herr Staatssekretär: Wäre es nicht möglich, eine verkehrsvermeidende Konzeption zu erarbeiten und dann auch umzusetzen? Die Autobahn bringt doch nicht nur Verkehr aus Berlin heraus, sondern schafft auch Verkehr in Berlin hinein; das ist doch unumstritten. Wo soll dieser hin? Manfred Carstens, Parl. Staatsminister: Ich habe in meiner ersten Antwort schon zum Ausdruck gebracht, wofür diese Straße dient, was alles angebunden werden soll. Mir ist es ein Wunsch, weniger Verkehr auf diesen Strecken zu haben. Die Tatsachen aber sprechen andere Worte.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Staatssekretär, ich bedanke mich für die Beantwortung der Fragen. Wir sind damit am Ende der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr. Meine Damen und Herren, wir haben noch vier Fragen vorliegen. Ich möchte sagen, daß wir in etwa einer Viertelstunde unsere Beratungen nach der Tagesordnung fortsetzen. Es handelt sich dabei um den Tagesordnungspunkt 8, nämlich um die Beratung des Antrages der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zu den Grundlagen der deutschen Politik gegenüber den Partnerstaaten südlich und östlich des Mittelmeeres. Ich bitte diejenigen, die zu diesem Tagesordnungspunkt reden wollen, sich hier in absehbarer Zeit einzufinden. Nunmehr rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek zur Verfügung. Für die Fragen 44 und 45 des Kollegen Klaus Lennartz ist ebenso wie für die Frage 46 der Kollegin Antje-Marie Steen und die Fragen 49 und 50 der Frau Kollegin Liesel Hartenstein eine schriftliche Beantwortung beantragt. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Es bleiben uns also die Fragen 47 und 48 unserer Frau Kollegin Marion Caspers-Merk, der ich noch sagen möchte: Ich habe keine weiteren Zusatzfragen zugelassen, weil wir für den Geschäftsbereich bereits eine halbe Stunde der Fragestunde verwandt haben. Ich rufe die Frage 47 auf: Welche technischen Sicherheitsstandards sind in den Verarbeitungsbetrieben für Kunststoffabfälle in Indonesien vorhanden, und hat der TÜV die entsprechenden Anlagen umfassend begutachtet? Bitte, Herr Staatssekretär.

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Herr Präsident, Frau Kollegin Caspers-Merk! Fragen nach technischen Sicherheitsstandards in ausländischen Verarbeitungsbetrieben fallen nicht in die Zuständigkeit der Bundesregierung. Die Bundesregierung sieht sich auch nicht in der Lage, innerhalb der für die Beantwortung einer mündlichen Anfrage relativ kurz befristeten Zeit umfangreiche Untersuchungen über ausländische Verarbeitungsbetriebe und deren technische. Sicherheitseinrichtungen anzustellen. Sofern sich die Fragestellung auf die Verwertung gebrauchter Kunststoffverpackungen aus Sammlungen des Dualen Systems Deutschland konzentriert, fällt sie in die Vollzugskompetenz der Länder für die Verpackungsverordnung vom 12. Juni 1991. Insoweit ist darauf hinzuweisen, daß die Umweltminister der Länder in ihren Feststellungsbescheiden nach § 6 Abs. 3 der Verpackungsverordnung, mit denen das Duale System für die Entsorgung vor. Verkaufsverpackungen in allen Bundesländern im Dezember 1992 genehmigt worden ist, im Wege von Auflagen die stoffliche Verwertung im Ausland an bestimmte Voraussetzungen geknüpft haben. Eine stoffliche Verwertung ist danach im Ausland nur in Anlagen zulässig, deren Eignung und Kapazität durch einen geeigneten unabhängigen Sachverständigen überprüft ist. Die Überprüfungsergebnisse, sogenannte Zertifikate, sind den Ländern vorzulegen. Ferner ist den Ländern eine Importgenehmigung der zuständigen Behörde des Importlandes vorzulegen. Dem Bundesumweltministerium ist bekannt, daß die DSD beabsichtigt, gebrauchte Kunststoffverpakkungen bei der Firma Golgon in Medan, Indonesien, verarbeiten zu lassen. Der Betrieb wurde vom TÜV Rheinland, Niederlassung Singapur, am 19. Oktober 1992 im Wege der sogenannten Erstbewertung begutachtet. Die Prüfung und Bewertung von speziellen Vorgaben und Bestimmungen wie z. B. technische Anforderungen und Sicherheitsstandards des jeweiligen Landes wird von der DSD GmbH bei den zuständigen Landesbehörden angefordert.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Zusatzfrage, Frau Kollegin Caspers-Merk.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär Wieczorek, wir haben ja schon sehr oft in diesem Hause über die Frage der Verbringung von Wertstoffen oder auch von Giftmüll ins Ausland diskutiert. Insofern frage ich Sie - die Verpackungsverordnung ist ja eine Bundesverordnung -: Wie wollen Sie in Zukunft dafür Sorge tragen, daß nicht durch Umdeklarationen beispielsweise von „Abfälle" in „Wertstoffe" immer wieder im Ausland Produkte mit dem Grünen Punkt ganz normal abgelagert werden, und wie sehen Sie sich hier in der Verantwortung dahin gehend, daß beispielsweise das Prinzip der Inlandsentsorgung, das Sie ja auch immer hochhalten, vollständig verwirklicht wird und nicht der bequeme Weg in den Export gewählt wird?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Ich möchte auf den ersten Teil Ihrer Frage antworten, daß auf der Grundlage des § 14 des Abfallgesetzes und des § 13 des Abfallgesetzes die obersten Landesbehörden sowohl für die Abfallhierarchie, d. h. für die Prinzipien „Vermeidung", „Verwertung" und „umweltgerechte Entsorgung", wie auch für die Genehmigung von Abfällen verantwortlich sind. Da wir es in diesem Fall aber mit dem potentiellen Export von Wertstoffen zu tun haben, gelten die Regelungen, die auf der Grundlage der Freistellungsbescheide der Umweltminister der Bundesländer gegeben wurden. Zum zweiten Teil Ihrer Frage. - Wir sind uns völlig einig darüber - das gibt auch das jetzige Abfallgesetz her, und das wird sich in der 5. Novelle des Abfallgesetzes noch stärker niederschlagen, weil wir dann auch den EG-Begriff des Abfalls einführen werden, um die subjektive Auslegung damit endgültig liquidieren zu können -, daß der Abfall, wenn es Abfall ist, auch dort beseitigt wird, wo er entsteht.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Noch eine Zusatzfrage der Frau Kollegin Caspers-Merk.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, meinen Sie nicht, daß der Begriff „Grüner Punkt" auch dadurch ins Gerede kommt, daß immer wieder im Ausland Funde gemacht werden wie diesmal wieder in Indonesien, woraus sich ergibt, daß praktisch überhaupt keine Verwertung stattgefunden hat, und wie wollen Sie dafür Sorge tragen, daß bei uns hier in der Bundesrepublik - da wir den Wertstoff offenbar nicht entsorgen können, denn sonst müßte er nicht ins Ausland verbracht werden; da also der Zwang zum Export sehr groß ist - nicht Zwischenlager entstehen, weil ja zur Zeit beobachtet werden kann, daß überall bei den Sortieranlagen Zwischenlager für Kunststoffabfälle entstehen?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Zunächst einmal kann ich Ihnen nicht bestätigen, daß es sich in Indonesien um Funde handelt. Sie reflektieren hier auf bestimmte Zeitungsveröffentlichungen. Ich bedauere natürlich sehr, daß Ihre Kollegin Liesel Hartenstein heute nicht anwesend sein kann, weil deren zwei Fragen nahtlos an Ihre Fragestellung anschließen. ({0}) Mit Ihrer Erlaubnis kann ich Ihnen auch konkret die Menge nennen, die im Jahre 1992, also bis zum Importstopp durch das indonesische Handelsministerium, durch das von mir genannte Unternehmen nach Indonesien verbracht wurde. Das waren insgesamt 94 Tonnen für die Probeverarbeitung. Das zweite, Frau Caspers-Merk, habe ich Ihnen, so denke ich, schon geantwortet. Solange es - das soll, wie gesagt, mit der Novellierung des Abfallgesetzes geändert werden - durch die mögliche subjektive Auslegung des Abfallbegriffs immer wieder illegale Müllexporte, die als Wertstoffexporte deklariert werden, gibt, können die Landesbehörden ihrer Vollzugspflicht natürlich nicht in dem Maße nachkommen wie bei einer eindeutigen Definition des Begriffs Abfall.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich möchte noch einmal darauf aufVizepräsident Helmuth Becker merksam machen, daß Fragen kurz gefaßt sein und eine kurze Beantwortung ermöglichen müssen. Ich sage das ganz allgemein. Nun hat das Wort zu einer Zusatzfrage Frau Kollegin Jutta Müller.

Jutta Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ich möchte dann wirklich nur ganz kurz fragen. - Diese Zeitungsberichte über Indonesien, das ist eine Seite. Es gibt aber auch eine Greenpeace-Studie, die zeigt, daß in anderen Staaten schon sehr oft Abfall bis hin zu Giftmüll gefunden worden ist. Ich möchte jetzt einmal ganz weg von Ihrer rechtlichen Bewertung, d. h. daß geprüft werden muß, daß eine Importgenehmigung vorliegen muß. - Finden Sie es eigentlich nicht - ich sage einmal - moralisch verwerflich, daß man die Armut anderer Staaten dazu ausnutzt, Importgenehmigungen zu erhalten, damit wir unseren Müll bequem in diese Staaten wegschieben können, die die Importgenehmigungen oftmals erteilen müssen, um Geld zu bekommen, und die diese Importgenehmigungen nicht etwa deshalb erteilen, damit das vernünftig entsorgt werden kann?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Liebe Frau Kollegin, Sie vermengen hier offensichtlich ein umweltpolitisches Thema mit einem sozialpolitischen Thema. Um beim Beispiel Indonesien zu bleiben, gebe ich Ihnen beim sozialpolitischen Thema natürlich recht. Das näher darzulegen würde aber zu weit führen, da Sie, Herr Präsident, eine kurze Antwort fordern. Beim umweltpolitischen Aspekt - das wird noch einmal in der Beantwortung der Frage 48 zum Ausdruck kommen - ist es natürlich auch wesentlich, globale Umweltauswirkungen zu betrachten, und zwar auch im Falle einer echten stofflichen Verwertung von Verpackungen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Wir kommen zur Frage 48 der Abgeordneten Marion Caspers-Merk: Inwieweit ist Indonesien in der Lage, aus den Kunststoffabfällen hochwertige Recycling-Kunststoffe herzustellen, und warum können diese Möglichkeiten nicht in der Bundesrepublik Deutschland realisiert werden? Herr Staatssekretär, Sie können die Frage jetzt beantworten.

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Frau Kollegin Caspers-Merk, die von mir bereits erwähnte Firma Golgon in Medan in Indonesien wird vom TÜV-Sachverständigen als ein Unternehmen dargestellt, das durchaus mit westlichen Unternehmen vergleichbar ist. Der Betrieb verfügt laut TÜV-Bericht über eine Kapazität von ca. 7 200 Jahrestonnen, die Anfang 1993 durch Errichtung eines zusätzlichen Betriebes auf 12 000 Jahrestonnen erweitert werden soll. Eingangsstoffe sind agglomerierte Kunststoffe, die die Firma derzeit zum größten Teil aus den USA bezieht. Künftig soll DSD-Material 75 % der Eingangskapazität betragen. Endprodukte sind Regranulate, Folien ({0}) und Spritzgußteile wie Eimer, Körbe, Spielzeug aus Low-Density-Polyethylen, aus High-Density-Polyethylen und Polypropylen. Laut Aussagen des TÜV werden qualitativ gute und ansprechende Produkte für den Privatbereich hergestellt. Abnehmer der Waren sind zu 100 % indonesische Kunden. Die stoffliche Verwertung gebrauchter Kunststoffverpackungen im Ausland ist nach Angabe der DSD erforderlich, da die inländischen Verwertungskapazitäten für Kunststoffverpackungen noch nicht ausreichen, um die hohen Vorgaben der Verpackungsverordnung zu erfüllen. Die Lohn- und Lohnnebenkosten in Indonesien erlauben es nach Darstellung der DSD, die angelieferten sortierten Kunststoffe weiter differenziert zu sortieren. Damit erhält man weitaus bessere Ausgangsmaterialien für die Wiederverwertung, als in der Bundesrepublik Deutschland möglich. Die Verarbeitungsergebnisse sind qualitativ hochwertig und zum Teil mit Produkten aus Primärmaterial vergleichbar. Frau Kollegin, ich füge gleich hinzu, wenn Sie den Bericht des TÜV Rheinland aus Singapur gern zur Verfügung gestellt haben möchten, dann bin ich in der Lage, Ihnen den zu übergeben. Vizepräsident Helmuth Becker Zusatzfrage der Frau Kollegin Caspers-Merk.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ist es zutreffend, daß der ursprüngliche TÜV-Bericht nur aus sieben Zeilen bestand - es hat mich doch erstaunt, wie stark Sie das hier alles vorgetragen haben - und daß auch berechtigte Zweifel daran bestehen, daß in einem Entwicklungsland plötzlich Verarbeitungskapazitäten aufgebaut sein sollen, während bei uns, in einem High-Tech-Land, die Kunststoffe offenbar keine Abnehmer finden?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Frau Kollegin Caspers-Merk, der Bericht des TÜV-Rheinland umfaßt nicht nur sieben Zielen, sondern er ist sehr umfangreich. Ich kann Ihnen das Material gern übergeben. Die Errichtung von Unternehmen der kunststoffverarbeitenden Branche in Indonesien hat in keiner Weise etwas mit den Aktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland in bezug auf die Vorbereitung der Verpackungsverordnung zu tun, sondern resultiert aus günstigen Verarbeitungsmöglichkeiten, günstigen Standorten, und zwar primär, wie ich schon ausführte, auf den US-amerikanischen Markt konzentriert.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Noch eine Zusatzfrage der Frau Kollegin Caspers-Merk. Bitte.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, teilen Sie die Auffassung und die Kritik vieler Umweltschützer europaweit und weltweit, daß die einseitige Festlegung auf die hohen Verwertungsquoten, ohne gleichzeitig Recyclingkapazitäten im eigenen Land zu schaffen, dazu geführt hat, daß in diesen Ländern die Wertstoffpreise total zerfallen sind und aufgebaute eigene Kapazitäten im Moment zusammenbrechen? - Ich beziehe mich hierbei auf Äußerungen von Umweltschützern auf einer Konferenz im letzten Herbst in Amsterdam.

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Frau Caspers-Merk, Sie wissen, daß das Ziel der Verpakkungsverordnung insbesondere auch in bezug auf die Verkaufsverpackung nicht nur darin besteht, den Kunden zu belasten und die Verpackungen weiterhin zu produzieren, sondern auch darin, einen Wandel in der Stoffstruktur herbeizuführen. Das von Ihnen angesprochene Problem des Verfalls der Grundstoffpreise - ich kann mich hier nur wiederholen, Herr Präsident - hat einmal einen sozialpolitischen Hintergrund, den hier näher darzustellen sehr weit führen würde. Ich bitte Sie, aber auch zu berücksichtigen, daß bei entsprechenden Größenordnungen, die ich hier dargestellt habe, auch eine enorme Einsparung an Importen von reinem Erdöl zum Zwecke der Veredelung, der Weiterverarbeitung stattfindet.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Zusatzfrage der Frau Kollegin Jutta Müller.

Jutta Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nachdem wir dazu angehalten worden sind, kurze, knappe Fragen zu stellen, Herr Staatssekretär, stelle ich jetzt eine kurze, knappe Frage. - Wenn dieses Recycling denn derart viel Mühe und Unsicherheiten mit sich bringt und man schon ins Ausland gehen muß, weil hier keine Kapazitäten sind, weil die Lohnkosten so hoch sind, warum steuert man dann nicht in der ganzen Umweltpolitik und vor allem in der Abfallpolitik um und setzt mehr auf Vermeidung von Abfällen, damit die Abfälle erst gar nicht entstehen, und wir uns damit - sage ich einmal - diesen ganzen Zirkus, den wir jetzt haben, ersparen können?

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Frau Kollegin Müller, eine ganz kurze Antwort auf Ihre präzise Frage: Die Verpackungsverordnung hat ja gerade den Sinn, daß Abfall vermieden wird, indem die Erfassung und die Verwertung aus dem Abfallbereich herausgenommen werden.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Staatssekretär, herzlichen Dank für die Beantwortung der Fragen aus ihrem Geschäftsbereich. Wir kommen damit zum letzten Geschäftsbreich, nämlich dem des Auswärtigen Amtes. Die Fragen 59 und 60 des Kollegen Michael von Schmude sowie die Frage 61 des Kollegen Dr. Klaus Kübler sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe die Frage 57 des Kollegen Heinz-Jürgen Kronberg auf: Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, daß die Zahlungen der Bundesrepublik Deutschland an die EG-Kommission bezüglich der Hilfe für die Flüchtlingsbetreuung im ehemaligen Jugoslawien 162 Mio. DM - bei einem Finanzvolumen von 578 Mio. DM für die EG insgesamt - betragen, aber die Bewilligungsquote von Finanzhilfen aus diesen Mitteln an deutsche Nichtregierungsorganisationen trotz wesentlich höheren Antragsvolumens bei immer noch deutlich unter 1 % liegt, und wie gedenkt die Bundesregierung gegebenenfalls gegen diese Vergabepraxis vorzugehen?

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Herr Kollege, die Bundesregierung ist seit längerem bemüht, bei der Vergabe von Mitteln im Rahmen der humanitären Hilfe der EG-Kommission eine höhere Bewilligungsquote für Anträge der deutschen Nichtregierungsorganisationen zu erreichen. Der bisherige Anteil deutscher Nichtregierungsorganisationen, der 1992 bei 0,93 % der insgesamt an Nichtregierungsorganisationen vergebenen Mittel lag, ist ausgesprochen unbefriedigend. Der Direktor des für die humanitäre Hilfe zuständigen EG-Amtes hat sich bei verschiedenen vom Auswärtigen Amt mit ihm geführten Gesprächen sehr kooperativ gezeigt und ist bereit, bei der Beseitigung des bisherigen Ungleichgewichts mitzuwirken. Die gemeinsamen Bemühungen haben bereits dazu geführt, daß Anträge der GTZ sowie der Organisationen Caritas, Malteser Hilfsdienst und ADRA durch das von mir bereits genannte Amt genehmigt worden sind. Am 9. März dieses Jahres, also vorgestern, fand auf Vermittlung des Auswärtigen Amtes eine Sitzung statt, bei der sich Vertreter des zuständigen EG-Amtes mit Repräsentanten der deutschen Nichtregierungsorganisationen in aller Offenheit aussprachen, um die in der Vergangenheit entstandenen Irritationen auszuräumen und die Weichen für eine bessere Zusammenarbeit in der Zukunft zu stellen. Das Ergebnis dieser Aussprache fand die einhellige Zustimmung der anwesenden Nichtregierungsorganisationen. Die Bundesregierung ist der Ansicht, daß damit der richtige Weg zur Sicherstellung einer angemessenen deutschen Beteiligung bei der EG-Mittelvergabe eingeschlagen ist.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Keine Zusatzfrage. Dann rufe ich die Frage 58 des Kollegen Heinz-Jürgen Kronberg auf: Ist die Bundesregierung der Ansicht, daß beim Ankauf der Hilfsmittel für das ehemalige Jugoslawien durch Nichtregierungsorganisationen unter Zuhilfenahme der EG-Mittel auch entsprechende Warenangebote seitens der Firmen in den neuen Bundesländern stärker Berücksichtigung finden sollten, und will sie sich in Zukunft stärker für eine demgemäße Vergabepraxis seitens Nichtregierungsorganisationen bei der EG-Kommission einsetzen?

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Herr Kollege Kronberg, die Bundesregierung hat bereits im vergangenen Jahr die Nichtregierungsorganisationen gebeten, bei ihren Ausschreibungen zur Beschaffung von Hilfsgütern verstärkt Hersteller in den neuen Bundesländern zu berücksichtigen. Soweit sich einzelne Firmen aus den neuen Bundesländern an die Bundesregierung gewandt haben, wurde ihnen jeweils eine Anschriftenliste der Nichtregierungsorganisationen zur Verfügung gestellt. Deutsche Nichtregierungsorganisationen beschaffen Hilfsgüter in eigener Zuständigkeit und Verantwortung. Eine Möglichkeit, den Nichtregierungsorganisationen im Rahmen der Vergabe von Mitteln zur Durchführung der humanitären Hilfe die Nutzung bestimmter Einkaufsquellen vorzuschreiben, sieht die Bundesregierung deshalb nicht. Das gleiche gilt für die Vergabepraxis der EG-Kommission. Ich glaube, inzwischen hat es sich herumgesprochen, so daß in Zukunft Firmen in den neuen Bundesländern stärker zum Zuge kommen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Kronberg, eine Zusatzfrage, bitte.

Heinz Jürgen Kronberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001224, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, sind die von Ihnen eben erwähnten Listen auch heute noch für die Firmen in den neuen Bundesländern erhältlich? Wenn ja, unter welcher Anschrift?

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Wenden Sie sich vertrauensvoll an mich. Ich bemühe mich, Ihnen die Liste zur Verfügung zu stellen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Damit sind wir am Ende der Fragestunde. Ich bedanke mich sehr bei Herrn Staatsminister Helmut Schäfer für die Beantwortung der beiden Fragen. Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Volkmar Köhler ({0}), Karl Lamers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Dr. Olaf Feldmann, Burkhard Zurheide, Manfred Richter ({1}) und der Fraktion der F.D.P. Grundlagen deutscher Politik gegenüber den Partnerstaaten südlich und östlich des Mittelmeers, insbesondere den Maghreb-Staaten - Drucksache 12/4479 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({2}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit EG-Ausschuß Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem unserem Kollegen Dr. Volkmar Köhler das Wort.

Dr. Volkmar Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001154, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Schon seit Monaten betrachten die öffentliche Meinung und die Presse in Deutschland die Entwicklung an der Südküste des Mittelmeeres mit wachsender Sorge. Natürlich ist dies eine Herausforderung sowohl für die europäische Mittelmeerpolitik als auch für die deutsche Politik gegenüber diesem gesamten Raum. ({0}) Aber wir sehen einen besonderen Handlungsbedarf gegenüber den Staaten des engeren Maghreb. In den fünf Maghreb-Staaten leben zur Zeit 66,3 Millionen Menschen bei einer Wachstumsrate der Bevölkerung von 2,7 %. Für das Jahr 2025 erwartet man eine Bevölkerungszahl von 125 Millionen Menschen, also nahezu eine Verdoppelung. Dabei nimmt die Verstädterung der Bevölkerung schnell zu. Die Maghreb-Staaten sind im Import und im Export intensiv mit der Europäischen Gemeinschaft verbunden. Die jeweils zwei Drittel des Außenhandels in beiden Richtungen entfallen auf die Beziehungen zwischen diesen Ländern und der Europäischen Gemeinschaft. Wenn dabei die Bilanz der Bundesrepublik im Handel ausweist, daß die Maghreb-Länder mehr zu uns exportieren, als wir nach dort exportieren, ist das nur scheinbar beruhigend. Der Überschuß erklärt sich vor allem aus Öllieferungen. Damit bezieht sich dies nur auf Libyen und Algerien. Deutschland hat den drei engeren Maghreb-Staaten Algerien, Marokko und Tunesien seit langen Jahren durch Entwicklungshilfe bei der Lösung ihrer Probleme nützlich zu sein versucht. Algerien hat bis Ende 1990 741 Millionen DM bilateraler Entwicklungshilfe erhalten, Marokko 2,258 Milliarden DM und Tunesien 2,243 Milliarden DM. Aber alle bilaterale Hilfe und die Hilfe anderer Geber haben nicht dazu geführt, daß wir heute sagen können, die Probleme dieser Länder sind dauerhaft im Griff. Im Gegenteil, ein Blick vor allem auf die Bevölkerungsstruktur muß zu großen Sorgen führen. In den drei genannten Ländern sind rund 50 % der Bevölkerung unter 20 Jahre alt. Sie brauchen Wohnungen, Arbeitsplätze und eine Zukunftsperspektive. Die Arbeitslosigkeit in den drei Ländern schwankt zwischen 12 und 36 %. Das heißt, daß es vor allem in Algerien gegenwärtig so ist, daß über 50 % der jungen Menschen keine Aussicht auf einen Arbeitsplatz haben - und das, obwohl Millionen von Einwohnern dieser Staaten als Gastarbeiter in Europa wohnen. Wir stehen vor der Frage, ob soziale und ökonomische Instabilität, auch politische Instabilität und die Auseinandersetzung mit dem Islamismus diese ganze Entwicklung dramatisch verschärfen können. Es gibt Leute, die von besorgniserregenden Migrationsbewegungen aus diesen Ländern nach Europa reden und darüber große Sorge äußern. Wir bringen in unserem Antrag, mit dem wir die Diskussion auf dieses Problemfeld lenken wollen, aber nicht nur die Sorge zum Ausdruck. Deswegen haben wir in unserem Antrag zunächst einmal sehr deutlich herausgehoben, welche jahrhundertealten kulturellen, politischen und religiösen Beziehungen zwischen dem Raum des Maghreb und Europa bestanden haben, die für beide Seiten ungemein fruchtbringend gewesen sind. Viel Leid der Geschichte hat sich auch in Segen umgewandelt. Wer einmal nach Fez in Marokko kommt, in eine Stadt, die von Flüchtlingen aus Andalusien gegründet wurde - die dortige Musik heißt „andalusische Musik" -, spürt auch etwas davon, wie das Zusammensein der europäischen und der arabischen Völker im Bösen wie im Guten die Gemeinsamkeit geprägt hat. Wir wollen deswegen in unserem Antrag ausdrücklich den Blick darauf lenken, daß wir diesem Raum nicht in einer defensiven, in einer abwehrenden und besorgten Haltung gegenüberstehen, sondern den Dialog und die Zusammenarbeit mit unseren Partnern südlich des Mittelmeeres als eine große Chance und als eine Möglichkeit der Bereicherung gerade im immateriellen Sinne begreifen sollten. Wir wollen helfen, dort die Probleme zu lösen. Viele Probleme Dr. Volkmar Köhler ({1}) müssen die Staaten selber lösen. Sie müssen einige Dinge in Ordnung bringen; auch das verschweigen wir nicht. Deswegen fordern wir sie auf, durch Beachtung und Einhaltung der die Region betreffenden UN-Beschlüsse einen Beitrag zum Frieden und zur Stabilisierung zu leisten. Um es einmal zuzuspitzen: Der völlig überalterte und sinnlose Sahara-Konflikt muß endlich beseitigt werden. Es paßt nicht in die Landschaft, daß die Vereinten Nationen für diesen Konflikt 100 Million Dollar aufwenden, eine Summe, die ausreicht, jeden einzelnen Bewohner der westlichen Sahara bis an sein Lebensende mit einer fürstlichen Rente auszustatten. ({2}) Hier muß endlich politische Vernunft walten. Wir wollen, daß sich diese Staaten bemühen, die Gemeinschaft der Maghreb -Staaten auszubauen. Gestern war der vierte Jahrestag der UMA der Maghreb-Staaten. Aber urn diese UMA sieht es noch nicht so befriedigend aus, wie das gewünscht werden kann. Es gibt eine Reihe von Fortschritten, und doch sind entscheidende Fragen noch nicht gelöst. Wir raten, daß sich die UMA zu einer Zollunion entwickelt und daß Möglichkeiten für Freihandelsabkommen zwischen der EG und diesen Staaten unter Berücksichtigung der GATT-Regelungen gesucht werden. Vor allem müssen Konsequenzen für eine gemeinsame Agrarpolitik geprüft werden. Wir wünschen in unserem Antrag, daß die Europäische Gemeinschaft ihre große organisatorische Erfahrung, ihre administrative Erfahrung, wie man eine solche Regionalorganisation aufbaut, zur Verfügung stellt und einsetzt, um die UMA zu fördern. In der Tat sehen wir die Zusammenarbeit mit dem Maghreb zu einem großen Teil als eine europäische Aufgabe. Deswegen sind in den verschiedenen Entschließungspunkten dazu klare Aussagen gemacht, auch zur Handelspolitik. Denn Europa bleibt in den Handelsbeziehungen durch restriktive Regelungen, die manche Bemühungen unserer Entwicklungshilfe konterkariert haben, vor allem in Marokko, diesen Staaten etliches schuldig. Wir meinen, daß auch der politische Dialog intensiviert werden muß. Deswegen fordern wir, daß im Rahmen der EPZ auf eine gemeinsame Politik der europäischen Staaten gegenüber den Partnerstaaten im Süden des Mittelmeers hingewirkt werden und daß die politische Gemeinsamkeit vertieft werden sollte. Es ist doch so, daß der Dialog der fünf südeuropäischen und fünf nordafrikanischen Staaten ins Stocken gekommen ist. Genauso ist der Dialog der fünf nordafrikanischen Staaten mit den zwölf europäischen Staaten ins Stocken gekommen. Wir wünschen, daß diese Stockung überwunden wird. Wir wissen, woran es liegt. Es ist zum Teil das Sonderproblem Libyen im Anschluß an das grauenhafte Attentat auf den PanAm-Jumbo über Lockerbie. Dazu haben unsere französischen und amerikanischen Verbündeten - wenigstens in Nuancen - eine verschiedene Meinung. Aber ich glaube, wir sollten, nachdem nun die Clinton-Adminstration im Amt ist, versuchen, darüber zu sprechen, wie wir über diesen Stillstand hinauskommen können, um auf der Ebene der nordafrikanischen Gemeinschaft und der Europäischen Gemeinschaft wieder zu einem fruchtbaren Dialog zu kommen. Wir begrüßen ausdrücklich die bilaterale Zuwendung, die die Bundesregierung diesen Ländern zuteil werden läßt. Wir sind froh, daß der Herr Bundespräsident Anfang April Tunesien besuchen wird. Wir sind froh, daß der Herr Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit Marokko besuchen wird. Wir hoffen, daß diese Besuche dazu führen werden, daß die bilaterale Hilfe weiter ausgebaut, womöglich verstärkt wird. Allerdings kann das nicht nur eine Frage der Entwicklungshilfe sein. Gerade beim Beispiel Algerien geht es darum, Wege zu finden, um den wirtschaftlichen Austausch zu beleben, um mit Algerien in der Frage von Gaslieferungen endlich zu wirtschaftlich vernünftigen Vereinbarungen zu kommen, damit die geplante Pipeline für Erdgas über Marokko nach Spanien einen Sinn macht. Es geht darum, wertvolle deutsche Investitionen aus früherer Zeit in Algerien zu revitalisieren. Darüber muß intensiv gesprochen werden. Wenn wir uns diesem Gebiet so zuwenden, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, dann wissen wir, daß wir damit ein ernstes Problem unserer Außenpolitik anfassen. Denn wenn wir auf Demokratie, wenn wir auf Menschenrechte schauen, dann finden wir in den Staaten des engeren Maghreb nicht alles zu unserer Freude geregelt. Angesichts der bitteren Auseinandersetzung zwischen der algerischen Regierung und den Integristen der FIS sind es sehr schonende Worte, die ich hier spreche. Es wird darum gehen, daß wir in den Diskussionen, die wir über dieses Thema führen, für unsere demokratiepolitischen und für unsere moralischen Grundüberzeugungen in der Außenpolitik die richtige Verbindung mit der Behandlung vitaler Interessen bekommen. Wir müssen eine Politik entwickeln, die in sich glaubwürdig und den Realitäten angemessen ist und in der wir dieses Spannungsfeld besser, als es uns z. B. in Sachen China gelungen ist, der Öffentlichkeit vermitteln. Mein Freund Lamers wird sich hierzu noch näher äußern. Ich bin überzeugt, daß wir auch gegenüber solchen Nachbarn die Philosophie einer Koexistenz entwikkeln müssen, um Entwicklungen in unserem Sinne zu unterstützen und zu ermöglichen. Man kann nicht immer erst dann helfen, wenn die Probleme in Wahrheit vorüber sind. Man muß auch ein Risiko eingehen. Koexistenz müssen wir uns gegenüber anderen Kulturkreisen und anderen Ordnungen überlegen, auch wenn sie nicht die Atombombe haben. Denn gegenüber der Sowjetunion mit ihrem Potential hatten wir sehr wohl Koexistenzphilosophien entwickelt. Das sollten wir in diesen Fällen auch machen. Hier geht es um Dinge, die auf eine andere Weise als nukleares Potential alarmierend und besorgniserregend sind. Hier geht es um Menschen und um die Zukunftsordnung unserer unmittelbaren Nachbarn und damit um ein Stück gemeinsames Schicksal, das wir meistern sollten. Meine verehrten Damen und Herren, ich bitte Sie, uns das Mißverständnis zu ersparen, als wollten wir mit diesem Antrag eine Maghreb-Politik neu erfinden. Deutscher Bundestag --- 12. Wahlperiode Dr. Volkmar Köhler ({3}) Davon kann natürlich überhaupt nicht die Rede sein. Was wir aber möchten, ist, den Dingen einen neuen Impuls zu geben. Wir möchten, daß im Parlament und in der deutschen Öffentlichkeit über diese Dinge intensiver geredet wird, weil sie uns etwas angehen und weil wir uns nicht den Vorwurf zuziehen wollen, die Politik habe kritische Entwicklungen verschlafen. Wir wollen es rechtzeitig auf den Tisch bringen. Wir sind dankbar, wenn alle, die das wichtig finden, daran mitwirken. Ich habe im Vorfeld dieses Antrags manches Gespräch mit dem so kenntnisreichen Kollegen Wischnewski geführt. Ich wäre sehr froh, wenn es in den Ausschußberatungen möglich wäre, zu gemeinsamen Entschließungen und gemeinsamen Überzeugungen zu kommen, damit diese Politik wirklich auf einem breiten Fundament weitergeführt und implementiert werden kann. Danke sehr. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Christoph Zöpel das Wort.

Dr. Christoph Zöpel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002604, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Innerhalb kurzer Zeit ist dies die zweite Debatte des Deutschen Bundestages über die Beziehungen Europas, speziell Deutschlands, zur islamischen Welt. Das letzte Mal habe ich mich bei dieser Thematik gefragt: Was ist bedeutend, was ist nicht bedeutend an dem, was wir hier beraten? Bedeutend ist sicherlich, daß die intensivere Beschäftigung mit den europäisch-arabischen Beziehungen eine notwendige, durch die geschichtliche Entwicklung bedingte Änderung der Schwerpunkte deutscher und europäischer Außenpolitik aufzeigt. ({0}) Darauf werde ich noch zurückkommen. Deutsche und europäische Beziehungen zu unseren Partnerstaaten südlich und östlich des Mittelmeers - diese Begriffswahl halte ich für glücklich -: Mit diesen Formulierungen machen Sie schon im ersten Teil Ihres Antrags deutlich, daß sich Europa nicht als Festung verstehen darf. Das ist nicht verkehrt, auch in der innenpolitischen Diskussion nicht. Am Ende Ihres Antrags nehmen Sie diesen Gedanken wieder auf, indem Sie darauf hinweisen, ganz Europa müsse sich gemeinsam sowohl um die Partnerstaaten im Süden wie im Osten kümmern. Ich halte diesen Gedanken für weit über das, was wir heute diskutieren, hinausgehend. Und ich halte es für denkbar, daß wir in den nächsten Wochen auf diesen Gedanken zurückkommen, wenn nämlich die Frage zu beantworten ist, ob nicht so gut wie alle Probleme mit östlichen oder südlichen Partnerstaaten, die Deutschland innerhalb der EG und die die EG als Ganzes haben, doch wohl nur multilateral und nicht bilateral zu lösen sind. Ich meine damit auch die Asylfrage. ({1}) Die Verhandlungen laufen in dieser Richtung. Wir werden darüber hoffentlich genauso aufgeklärt wie bei diesem Antrag sprechen können. Multilaterale Lösungen aller EG-Staaten und aller ihrer Partnerstaaten sind ein Gebot der Stunde. Sie schreiben in Ihrem Antrag, Europa wolle helfen, Spannungsfelder in Nordafrika und im Nahen Osten aufzulösen. Dem kann man natürlich nur zustimmen. Dennoch kann ich - ich nehme an, auch Sie - einen solchen Satz heute nicht mehr mit einer solchen Unbefangenheit oder einem solchen Optimismus schreiben bzw. - wie in meinem Fall - lesen, wie das noch vor anderthalb Jahren möglich gewesen ist. Inzwischen ist offenkundig, daß wir Europäer unsere Konflikte nach dem historischen Umbruch von 1989 eben nicht unter uns zu lösen vermögen. Die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien sind virulenter und kräftiger und grausamer als die meisten der Konflikte, über die wir sprechen und an die wir denken, wenn von Nordafrika und dem Nahen Osten die Rede ist. Das Fatale daran ist: Dieser Konflikt, territorial in Europa angesiedelt, ist auch ein Konflikt zwischen Europäern - in diesem Fall europäischer Christen überwiegend orthodoxer und katholischer Glaubensrichtung - und Moslems. Damit sind der Nahe Osten und Europa schon viel enger miteinander verwoben, als wir es gern wahrgehabt hätten, und deshalb müssen wir bei dem sicherlich richtig bleibenden Satz „Wir Europäer möchten helfen, Spannungsfelder in der arabischen Welt zu lösen" daran denken, daß das erste große konkrete Spannungsereignis mit grausamen Wirkungen für betroffene Menschen zwischen Europäern, zwischen Christen und Moslems, in Bosnien bisher nicht gelöst werden konnte. ({2}) Der erste Teil meiner Rede gilt einem Gedanken, der mir wichtig ist: Wenn wir Europäer sagen, wir möchten Spannungen in der arabischen Welt abbauen, müssen wir uns klar sein, daß sich zumindest in der öffentlichen Diskussion - ich sage bewußt nicht: bei den Parteien, die hier im Bundestag vertreten sind - Spannungen gegenüber diesem Teil der Erde, gegenüber diesen Nachbarn südlich des Mittelmeers aufbauen. Diese Spannungen bauen sich auf bei der Wahrnehmung, bei der Bewertung, bei der Diskussion über gesellschaftliche, innenpolitische Entwicklungen in den arabischen Ländern, die mit den Worten „Fundamentalismus", „Islamismus" oder „Integrismus" bezeichnet werden. Es sind spektakuläre Ereignisse, auf die wir reagieren, über die unsere Massenmedien schreiben. Ich will einige wenige nennen, die unsere Öffentlichkeit erregen: Dauerhaft ist es sicherlich der Versuch, das Todesurteil gegen den Schriftstellter Salman Rushdie durch die iranische Regierung in Europa vollstrecken zu lassen. In neuerer Zeit sind es die Terroranschläge ägyptischer Fundamentalisten auf europäische Touristen in Ägypten. Dazu sei mir die Bemerkung erlaubt, auch wenn ich Zahlen vermeiden will: Auch hier sollten wir Europäer bescheiden bleiben; denn es ist ja nicht so, daß Ausländer in Deutschland in jedem Fall ungefährdet leben, vor allem nicht islamische Ausländer, wie auch gestern wieder der tragische Todesfall eines Türken in Mühlheim gezeigt hat. Ich fände es nicht falsch, wenn die Presse, die über Übergriffe in Ägypten spektakulär berichtet, diese Zusammenhänge manchmal sähe, um nicht eine neue europäische Überheblichkeit mit der Gefahr eines Feindbildes entstehen zu lassen. Sicherlich spielen auch Terroranschläge wie auf dem Flughafen in Algier eine Rolle in der öffentlichen Diskussion. Das alles sollte uns bewegen, sich zu vergewissern, was denn islamischer Fundamentalismus ist, worauf er zurückzuführen ist. Ich glaube, es ist richtig, was uns Wissenschaftler sagen, daß kontinuierliches Bevölkerungswachstum, zunehmende Arbeitslosigkeit, vor allem Jüngerer, zu einer wachsenden sozialen Unzufriedenheit geführt haben. Die Leitbilder jüngerer Vergangenheit sind obsolet geworden: weltweit der Kommunismus, aber auch arabischer Nationalismus. Andererseits sind wir gefordert. Das westliche Gesellschaftskonzept, das wir ja, Herr Kollege Köhler, auch in unserem Verhältnis zu diesen Partnerstaaten verteidigen wollen, eignet sich - nicht völlig ohne unsere Mitverantwortung - in den arabischen Ländern auch als Feindbild. Das sollten wir immer mit beachten. Wir sollten daran arbeiten, daß dies abgebaut wird. Wenn dies nicht gelingt - Wissenschaftler bestätigen es -, werden Bewegungen unter dem Motto „Der Islam ist die Lösung" weiter an Einfluß gewinnen und mit den Mitteln, mit denen religiös-politische Bewegungen im christlich-mohammedanischen Kulturkreis immer gearbeitet haben, Erfolg haben, und zwar mit einer aus unserer aufgeklärten Sicht fragwürdigen Verbindung von methaphysischem Fanatismus auf der einen und karitativem sozialem Engagement auf der anderen Seite. Man kann es ja leider nicht leugnen, daß in den Slums von Kairo die Fundamentalisten auch so etwas ähnliches wie Nichtregierungsorganisationen sind, die dort soziale Nöte für die benachteiligten Schichten zu lindern suchen. Daß schließlich und endlich eine solche von den Fundamentalisten bereitete Basis durch politische Führungsgruppen genutzt werden kann, denen es schon immer um die Macht ging, ist offenkundig. Die Ergebnisse kennen wir. Sie haben bisher in allen Fällen zu mehr oder weniger ausgeprägten theokratisch-absolutistischen Herrschaftsformen geführt, mit denen wir nicht zurechtkommen und bei denen Demokratie und Pluralismus keine Rolle spielen. Die Regierungen, die gegen die Fundamentalisten kämpfen, verdienen unsere Unterstützung im kritischen Dialog. Am Beispiel Algerien wird das deutlich. Man sollte sie unterstützen - wir wollen das -, wenn sie sich um Demokratie und Pluralismus bemühen. Man wird meines Erachtens mit ihnen sinnvoll darüber reden müssen, wo wir uns fragen, ob nicht ihre zentralistischen, teilweise autoritären Tendenzen bei innerer Schwäche mit dazu beitragen, daß man den Fundamentalisten nicht genug Einhalt gebietet. Aber wichtiger als diese Auseinandersetzung mit unseren arabischen Partnerstaaten ist etwas Selbstreflexion bei uns, der die klare politische Grundentscheidung vorausgehen muß, daß wir in Europa alles tun, um erste Ansätze zu stoppen, daß sich mit dem Islam so etwas wie ein neues Feindbild Europas verbinden könnte. Das wird aber nur gelingen, wenn wir auch über unsere geistigen Fundamente nachdenken und uns klar sagen: Das Menschenbild, daß wir haben, das Menschenbild der Aufklärung, entspricht einer Gesellschaft, die eines Feindbildes nicht bedarf. Das ist ja in diesem Übergang von der kommunistischen Bedrohung der Welt zu der Ära, von der wir gehofft haben, es gebe in ihr keine generelle Bedrohung mehr, schon etwas, worüber nicht genug nachgedacht wurde: Welch stabilisierender Faktor für westeuropäische und nordamerikanische Gesellschaften war der Kommunismus als Feindbild, und suchen nicht manche ein neues? Ich will dem wiederholend entgegensetzen: Eine Gesellschaft, die der Aufklärung verpflichtet ist, braucht kein Feindbild. Mit dieser Grundhaltung lohnt es sich dann, mit unseren Partnerstaaten in der arabischen Welt im Rahmen eines christlich-islamischen Dialogs, im Rahmen interkultureller Beziehungen, über ökonomische Verflechtungen, über vertrauensbildende Maßnahmen als Vorstufen einer Politik gemeinsamer Sicherheit zu sprechen. Ohne diese europäische Selbstreflexion, glaube ich, haben all die kleineren Schritte keine Chancen. Diese Überlegungen über das grundsätzliche Verhältnis zum Islam sind für mich die Voraussetzung, daß praktische europäische und deutsche Außenpolitik gegenüber den arabischen, islamischen und speziell den fünf Maghreb-Staaten Chancen hat. Ich will jetzt im zweiten Teil dessen, was ich hier sage, einige Überlegungen dazu formulieren. Diese praktische Politik ist nach einer Außenpolitik zu entwickeln, die durch den Ost-West-Gegensatz bestimmt war, in der es ein eigenartiges Verhältnis des Handelns zwischen Achten und Bedrohung und aktiver Entspannung gab. Dieses Handlungsmuster ist zu Ende. Vielen fällt es schwer, den Befürwortern und den Kritikern dieser Politik, zu begreifen, daß das Muster Achten auf Bedrohung und Reagieren durch Entspannungspolitik zu Ende ist. Neue außenpolitische Beziehungen müssen aufgebaut werden, wesentlich vielfältigere als zuvor. Natürlich gab es in der früheren Außenpolitik einerseits auch Elemente, an die eine neue Politik gegenüber dem arabischen Raum anschließt - das ist sicherlich die Dritte-Welt-Politik mit den Komponenten der Entwicklungshilfe -; andererseits haben wir Europäer und Deutsche daran mitgewirkt - das ist aufzuarbeiten -, Araber im Rahmen des Ost-West-Konflikts zu instrumentalisieren; das können wir nicht mehr. Wesentlicher aber ist etwas anderes, was uns in diesen Monaten immer deutlicher wird oder zuminDr. Christoph Zöpel dest werden muß: Die Außenpolitik des Ost-West-Gegensatzes hatte es in einer Beziehung einfach. Es gab relativ wenige gesellschaftlich wirklich relevant werdende gesellschaftspolitische Auswirkungen. In der gegenseitigen Bedrohung schotteten sich die Systeme voneinander ab, begegneten sich diplomatisch, wenn sie sich nicht militärisch bedrohten. Die Abschottung ist zu Ende. Dieses Ende der Abschottung spüren wir vor allem durch Wanderungsbewegungen aus Nordafrika, die Sie, Herr Kollege Köhler, angesprochen haben und die die Spanier, Franzosen und Italiener natürlich stärker berühren als uns, und durch Wanderungsbewegungen aus Osteuropa über die deutsch-polnische und deutsch-tschechische Grenze nach Deutschland. Das ist, glaube ich, der für die Außenpolitik gesellschaftlich wahrscheinlich entscheidende Unterschied. Die Abschottung ist vorbei und damit die gegenseitige Sicherung durch Grenzen. Heute kommen Menschen und zwingen damit auch zu außenpolitischem Handeln, weil so etwas wie Weltgesellschaftspolitik spürbar ist, indem Menschen dahin gehen, wo es ihnen gutgeht, was sie lange nicht durften. In diese Zusammenhänge eingebettet, kann man konkrete Ziele formulieren. Aus sozialdemokratischer Sicht sind Ziele von Nahost- und Mittelostpolitik: Beiträge zur Sicherung des Friedens - das sagen Sie auch - und zur Verminderung der Rüstung. Herr Kollege Köhler, wenn wir uns auf eine gemeinsame Schlußabstimmung einigen, würde es aus meiner Sicht Sinn machen, noch darüber nachzudenken, etwas über Rüstungskontrollpolitik gegenüber diesem Raum, über den wir sprechen, mit in den Antrag zu nehmen. Wir sollten darüber im Ausschuß diskutieren. ({3}) Es macht auch Sinn - da waren Sie zurückhaltend; das ehrt auch wieder, sage ich ausdrücklich -, durchaus die deutschen Interessen an einer solchen Politik zu formulieren. Gerade weil es gesellschaftliche Verbindungen und Implikationen gegenseitig gibt, wird es nicht zu vermeiden sein, denn es wird den Menschen, die Politik beobachten, nur so zu vermitteln sein, die eigenen Interessen zu artikulieren. Alles andere macht Außenpolitik in der Demokratie unmöglich. Einigkeit besteht darüber, daß wirtschaftliche Zusammenarbeit mit diesen Ländern, das Einstehen für die Menschenrechte und die Förderung von Pluralismus und Demokratie zu den Zielen einer solchen Außenpolitik gehören. Die beiden letzten Punkte allerdings, Menschenrechte und Förderung von Pluralismus und Demokratie, machen Außenpolitik schwieriger, als es die Entspannungspolitik war. Sie, Herr Kollege Köhler, haben aufrichtig, wie wir alle das ja auch darstellen sollen, schon darauf hingewiesen, daß wir da früher zu erheblichen Kompromissen in Menschenrechtsfragen gegenüber der Sowjetunion und gegenüber ihren Satellitenstaaten bereit gewesen sind, weil eben die Sowjetunion über Atomwaffen verfügte. Die außenpolitische Praxis ist ja auch schwierig. Es muß abgewogen werden zwischen der notwendigen Vertretung unserer aus der Aufklärung stammenden Positionen und der notwendigen - ja, ich darf es einmal so formulieren - internationalen Bescheidenheit, die Europa gut ansteht. Es ist zu überlegen: Wann handeln wir denn tatsächlich, um für Menschenrechte etwas zu tun? - Unsere Praxis ist da ja nicht immer überzeugend. Eigentlich gibt es nur ein Instrument, das wir in der Außenpolitik mit etwas Erfolg anwenden, wenn wir Menschenrechte durchsetzen wollen, und das ist die Entwicklungshilfe. Das ist aber natürlich der fatale Zugang, bei dem man nur bei Armen etwas für die Menschenrechte tun kann. Demgegenüber gehört die Praxis unserer Iran-Politik wirklich nicht zu den Ruhmestaten, die Deutsche vollbracht haben. - Ich sage bewußt wieder nicht „die Bundesregierung", Herr Staatsminister. Vier Milliarden Handelsbilanzüberschuß gegenüber einem Land, von dem Herr Rushdie verfolgt wird - das ist schon eine Verführung dazu, um es einmal ganz einfach zu formulieren, nicht jeden Morgen über die Menschenrechte zu reden. - Das macht Sorge, und darüber sollte intensiver nachgedacht werden. Weil dies so ist, weil wir zu allen Ländern dieser Region die diplomatischen Beziehungen aufrechterhalten, selbst im Extremfall Iran - wenn man vor allem unter dem Gesichtspunkt der Rechte der Frau über Menschenrechte nachdenkt, kommt man zu dem Schluß, daß auch Saudi-Arabien nicht unbedingt ein Land ist, in dem die Vorstellungen der zu Recht auf Emanzipation eingeschworenen Frauen in Deutschland besonders beachtet werden; wir tun auch da nichts Praktisches -, dann macht es auf der anderen Seite schon Sinn, auch zu allen Oppositionsbewegungen in diesen Ländern Kontakt zu haben. Das kann Regierungpraxis schwierig machen; für Parteien und Fraktionen ist es einfacher. Was eine Regierung nicht immer kann, sollten gesellschaftliche Gruppen einschließlich der Parteien tun. Solange wir als Maßstab haben „Mit dem Iran halten wir die diplomatischen Beziehungen aufrecht", sollten wir auch mit jeder Oppositionsbewegung, die sich in Menschenrechtsfragen nicht schlechter verhält als die Regierung des Iran - wenn ich das einmal so formulieren darf -, sprechen, um zu wissen, was in diesen Ländern passiert, ({4}) obwohl es auch da dann manchmal Probleme gibt. Für mich gibt es eigentlich nur zwei Kriterien, eines gegenüber der Opposition, eines gegenüber der Regierung, nach denen bei Kontakten ein Trennstrich zu ziehen ist. Das erste ist internationaler Terrorismus und das zweite - ich hoffe, es wird nicht virulent -ist, wenn ein anderes Land seine Staatsbürger auch bei uns verfolgt mit dem Ziel, sie vom Leben zum Tod zu befördern. Notwendig sind diese Kontakte allemal, und zwar deshalb - da wiederhole ich das, was ich in der Debatte über die Anträge vor drei Wochen sagen konnte -, weil es zu vernünftigen Beziehungen mit unseren Partnerstaaten nur kommen kann, wenn es auch gesellschaftliche Vernetzungen gibt zwischen Muslims und Christen, zwischen Arabern und Euro12590 päern, die Substanz legen unter die Notwendigkeiten und Beschränktheiten der Diplomatie, die die Außenpolitik bestimmen. Getragen werden muß dies - ich wiederhole das - immer wieder von einem täglich schwierigen Abwägungsprozeß europäischer Politik: einerseits für unsere Prinzipien, für Menschenrechte und Demokratie einzutreten, aber dies andererseits nicht so zu tun, daß wir den Eindruck erwecken, wir Europäer wären der Maßstab der Welt, und vor allem vorsichtig zu sein, daß wir mit diesen unseren eigenen Prinzipien im Innern und gegenüber jeweils unterschiedlichen Partnern auch konsequent umgehen. Herzlichen Dank. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Manfred Richter das Wort.

Manfred Richter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001835, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Maghreb liegt vor unserer Haustür. Zehntausende deutscher Urlauber fahren jählich an die sonnigen Strände Tunesiens und Marokkos, Zehntausende von Menschen aus diesen Ländern kommen zu uns auf der Suche nach Arbeit und Brot. Seit den Zeiten der alten Römer quer durch das arabische Mittelalter war der südliche Rand des Mittelmeeres so etwas wie die Grenze der bekannten Welt, geheimnisvoll und exotisch, Traumziel von Völkerwanderungen und Phantasien. Kaffee und Pfeffer, Parfum und Weihrauch, griechische Philosophie und die Ziffer Null, die unser modernes Rechnen bis ins Computerzeitalter ermöglichte, kamen über Nordafrika und den islamischen Raum nach Europa. Heute werden wir aufgeschreckt, wenn uns Meldungen über fundamentalistische Entwicklungen, Launen exzentrischer Diktatoren, vielleicht auch eines Tages wieder ansteigende Erdölpreise in unserer mitteleuropäischen und gesamtdeutschen Nabelschau stören. Was ängstigt uns am Fundamentalismus, so wie er in Algerien, aber auch in Ägypten sichtbar wird? Sind wir auf der Suche nach einem neuen Feindbild, nachdem uns der Kommunismus abhanden gekommen ist? Fühlen wir uns bedroht von Menschen, deren Denken das 12. Jahrhundert widerspiegelt? Haben diese nicht ihrerseits eine diffuse Angst vor dem Fremden, Westlichen, und finden sie sich nicht aus einem Unterlegenheitsgefühl auf dem kleinsten Nenner von Obsession und Überlebensangst zusammen? Wer sagt, daß wir uns genügend urn Algerien, um Mauretanien gekümmert haben, als diese Länder in vielleicht selbstverschuldete Schwierigkeiten gerieten? Sehen wir in Ghaddafi wie auch in den Fundamentalisten nur Feindbilder? Haben wir den Westsahara-Konflikt in seinen Ursachen und Lösungsmöglichkeiten wirklich erfaßt? Ist die demographische Explosion, die sich vor unserer Tür anbahnt, für uns unmittelbar bedrohlich? Die EG hat in der Lissabonner Erklärung des Europäischen Rates vom Juni 1992 zu den Maghreb-Staaten noch einmal deutliche Zeichen gesetzt. Wir unterstützen den Ausbau der Maghreb-Union. Mit Marokko ist eine Assoziierung geplant, die den Staaten entspricht, welche uns geographisch und politisch am nächsten stehen. Marokko ist unser Hoffnungsträger in der Region. Auch Tunesien wird für eine vertiefte Zusammenarbeit schon bald in Frage kommen. Wie aber können wir den noch jungen und fragilen Demokratisierungsprozeß in Mauretanien unterstützen, einem Land, das zu den ärmsten und am meisten benachteiligten der Erde gehört? Auch die Kenntnisse über Algerien, das schon wegen seiner Beziehungen zu Frankreich eine Brücke zu unserem Europa darstellt, sind in der deutschen Öffentlichkeit eher schwach ausgeprägt. Wer nicht regelmäßig die französische Presse verfolgt, nimmt nur sporadisch Nachrichten über die politischen Vorgänge in diesem Land wahr. Hilft ein Appell an ein diskreditiertes Regime, zu demokratischen Strukturen zurückzukehren, wenn dahinter doch wieder der gefürchtete Fundamentalismus mit Machtübernahme droht? Kommen nicht auch immer noch aus den konsolidierteren Staaten Nachrichten über Menschenrechtsverletzungen, Zwangsmaßnahmen gegen Oppositionelle, Einschränkungen der Pressefreiheit und ähnliches? Wir verurteilen dies, wo immer es geschieht. Allerdings müssen wir in erster Linie verbesserte Kenntnis der Tatsachen und Ursachen, in zweiter Linie die Bereitschaft zur intensiven Zusammenarbeit und schließlich auch einmal ein offenes Wort unter Freunden einsetzen, um die Dinge ins Lot zu bringen. Der Fundamentalismus Nordafrikas ist nicht primär religiös, sondern wirtschaftlich und sozial bedingt. Je besser es den Menschen geht, um so weniger werden sie den Volksverführern folgen. Das gilt sogar für unsere Klimazone. Das Beispiel Mauretaniens zeigt, daß der Keim der Demokratie auch auf sandigem Boden sprießen kann. Eine immer engere Zusammenarbeit mit Marokko und Tunesien, sicherlich eines Tages auch mit Algerien, wird die Entwicklung in diesen geistig und kulturell reichen und letztlich auch wirtschaftlich vielversprechenden Ländern stimulieren und vorantreiben. Auch Libyen sollte man keineswegs abschreiben. Lassen Sie mich zum Abschluß festhalten: Der Appell an die Staaten des Maghreb-Raums, die Entwicklung der Demokratie in ihren Ländern voranzutreiben, Menschenrechte und Pressefreiheit zu gewähren, Pluralismus und Toleranz einzuüben, geht ins Leere, wenn wir nicht zugleich Geduld, Behutsamkeit und Verständnis für die kulturelle Andersartigkeit zeigen. Vor allem aber sind wir gefordert, durch politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit Rat und konkrete Hilfe zur Verfügung zu stellen. Was die Einhaltung der UN-Resolutionen betrifft, so sind unsere Ansprechpartner neben der Weltorganisation auch die Staaten des Maghreb selbst, damit Frieden und Stabilität in der Region gesichert werden. Annäherung an unser Europa auf der Basis der Manfred Richter ({0}) Gleichwertigkeit, freie und faire Handelsbeziehungen, Hilfe zur gesellschaftlichen Stabilisierung, gegen Landflucht und Intellektuellen-Exodus, sind vonnöten. Europa und vor allem das vereinte Deutschland haben die Chance, den Fanatikern und falschen Propheten den Boden zu entziehen und den Demokraten, die den wirklichen, modernem Denken aufgeschlossenen Islam praktizieren, die Hand zu reichen. Vielen Dank. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Ursula Fischer das Wort.

Dr. Ursula Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000557, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kollege von der SPD, Sie sprachen über europäische Selbstreflexion. Ich finde das sehr interessant. Ich meine allerdings, das setzt voraus, daß vor allem wir Deutschen bereit sind, über uns selbst zu reflektieren. Da, so muß ich sagen, habe ich manchmal meine Zweifel, daß wir das auch wirklich tun. Das ist genau das gleiche wie mit dem Feindbild, das natürlich auch nach innen besteht. Wenn das nicht abgebaut werden kann, dann, so befürchte ich, vermögen wir leider auch in diesen Ländern wenig zu tun. Die Abgeordneten der PDS/Linke Liste befürworten Initiativen, die der weiteren Gestaltung und Vertiefung der Beziehungen Deutschlands zu den Staaten südlich und östlich des Mittelmeeres und insbesondere den Maghreb-Staaten dienlich sind. Wir hätten auch keine Probleme, einzelnen Aussagen des Antrages zuzustimmen. Vergleicht man jedoch den vorliegenden Antrag der Regierungsparteien in seiner Gesamtheit mit der Lissabonner Erklärung des Europäischen Rates vom Juni 1992 zum Nahen Osten und zum Maghreb sowie der KSZE-Schlußakte von Helsinki zu Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittelmeerraum, so fällt es einfach schwer, nachzuvollziehen, worin der Handlungsbedarf gegenüber dem engeren Maghreb eigentlich besteht und - was viel wichtiger ist - worin er im Antrag zum Ausdruck kommt. Wir möchten nicht annehmen, daß der Stein des Anstoßes zu diesem Antrag in erster Linie, wie es darin heißt, die Befürchtung ist, die Demokratisierungsbestrebungen in der Region könnten scheitern und einen Flüchtlingsstrom größeren Ausmaßes auslösen. Wenn das der Fall sein sollte, dann wenden wir uns entschieden dagegen; denn dann geht es nicht um Grundlagen deutscher Politik gegenüber Staaten und Völkern einer Region und auch nicht um eine tatsächliche Zusammenarbeit. Bereits am 1. August 1975 hatten die beiden deutschen Staaten gemeinsam mit den anderen KSZE-Staaten ihre Absicht bekundet, die gutnachbarlichen Beziehungen zu den Mittelmeerstaaten zu entwikkeln. Dabei ließen sie sich von geographischen, historischen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Aspekten leiten. Damals gingen die Unterzeichner der Schlußakte von Helsinki von der Überzeugung aus - ich zitiere -, „... daß die Sicherheit in Europa im weiteren Zusammenhang der Sicherheit der Welt zu betrachten ist und daß sie mit der Sicherheit im Mittelmeerraum in seiner Gesamtheit eng verbunden ist, ...". Es erhebt sich nunmehr für mich die Frage, warum das vor über 17 Jahren bekundete Interesse, zum Frieden, zur Verminderung von Streitkräften in der Region, zur Festigung der Sicherheit, zur Verringerung der Spannungen in der Region und zur Ausweitung des Umfangs der Zusammenarbeit beizutragen, nicht auch heute Grundlage deutscher Politik gegenüber allen Mittelmeerstaaten und insbesondere auch gegenüber den Maghreb-Staaten sein sollte. Dazu hätte es des Antrages nicht bedurft. Statt die komprimierten Aussagen der Erklärung von Lissabon zum Maghreb und zum Nahen Osten mit neuen Überlegungen zu untersetzen, ziehen sich die Initiatorinnen und Initiatoren des Antrages teilweise auf sogenannte Grundlagen zurück, die weit hinter den eben zitierten zurückbleiben. Man fragt sich, was aus der Absicht der Bundesregierung von vor 17 Jahren geworden ist, die Kontakte und den Dialog aufrechtzuerhalten und zu verstärken, wenn heute erneut erst Grundsteine für einen konstruktiven politischen Dialog gelegt werden sollen. In Friedens- und Sicherheitsfragen beschränkt sich der Antrag auf Allgemeinplätze und kann kaum eine politikfähige Grundlage sein. Kein Wort über Abrüstung - ich hoffe, daß das im Ausschuß noch nachgeholt wird -, Rüstungskontrolle, Stopp des Rüstungsexports in diese Region, kein Wort über Nichtweiterverbreitungsverträge und über vertrauensbildende Maßnahmen. Auch die Gruppe PDS/Linke Liste sieht einen Handlungsbedarf im Hinblick auf den Mittelmeerraum. Entlang dem südlichen und östlichen Mittelmeer verläuft eine Art Trennlinie zwischen Nord und Süd. Sie durch eine vertrauensvolle Zusammenarbeit auf gleichberechtigter Grundlage zu überbrücken ist in der Tat von großer Bedeutung, und zwar nicht nur für die Anrainerstaaten dieses bedeutenden internationalen Gewässers, sondern auch im Interesse aller arabischen und europäischen Völker. Vertrauensvolle Beziehungen können auch in dieser Region nach unserer Auffassung nur dann gedeihen, wenn die Militärpräsenz der NATO drastisch abgebaut, die internationalen und regionalen Beziehungen entmilitarisiert werden, wenn nicht der Versuch unternommen wird - hier stimmen wir mit den verbalen Beteuerungen der Antragsteller voll überein -, politisch-ideelle Wertvorstellungen des Westens den Staaten auch dieser Region aufzuzwingen. Eine demokratische und gerechte Weltwirtschaftsordnung könnte wesentlich wirksamer Demokratie und Menschenrechte im südlichen und östlichen Mittelmeerraum befördern als wiederholte Beteuerungen zum Dialog. Leider ist im Antrag der Koalitionsparteien und in der bisher geführten Debatte nicht ersichtlich, was die Regierung des vereinten Deutschland zu tun gedenkt, um die Grundlagen deutscher Politik gegenüber den Staaten südlich und östlich des Mittelmeeres, insbe12592 sondere den Maghreb-Staaten, entsprechend den Erfordernissen neu zu gestalten. Das wäre aber dringend erforderlich, damit Deutschland z. B. einen wirksamen Beitrag zur Lösung des seit über 15 Jahren schwelenden Westsahara-Konfliktes leisten kann. Der Antrag hat auch das Anliegen verfehlt, Grundlagen deutscher Politik neu zu benennen oder sie zu präzisieren, die einer gerechten Lösung des NahostKonfliktes in seiner Gesamtheit entsprechen würden. Aus all diesen Gründen können wir dem Antrag der CDU/CSU und der F.D.P. in der vorliegenden Form nicht zustimmen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Staatsminister Helmut Schäfer das Wort.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst sagen, daß wir den Entschließungsantrag trotz der an ihm geübten Kritik begrüßen. Aber es spricht natürlich nichts dagegen, daß man noch einiges von dem hinzufügt, was hier in den Beiträgen einiger Kollegen gefordert wurde. Das kann man in den Ausschüssen sicherlich tun. Ich möchte hier allerdings dem leise anklingenden Vorwurf widersprechen, die Bundesregierung habe den Maghreb erst jetzt nach dem Antrag entdeckt. Davon kann ja wohl nicht die Rede sein. Das betrifft nicht Sie, Herr Köhler, sondern die Kritiker Ihres Antrages. Davon kann sicher nicht die Rede sein. Ich darf auf die vielen Gesprächskontakte verweisen: Seine Exzellenz der marokkanische Botschafter sitzt hier oben. Er verfolgt die Debatte mit Interesse, er war gestern im Auswärtigen Ausschuß und sprach vor einem Vertreter der Polisario, d. h. wir hatten gestern erst eine Westsahara-Anhörung. Wir hatten gestern wieder einmal den israelischen Außenminister hier, Wir hatten kürzlich den Besuch von Bundesaußenminister Kinkel in Tunesien; auch der Bundespräsident reist bald dorthin. Der Bundespräsident war vorher in Marokko. Wir waren natürlich alle schon, Herr Köhler, häufig in diesen Staaten und pflegen ständig unsere Kontakte, was nicht heißt, daß unsere MaghrebPolitik schon optimal wäre. Natürlich spielt aber der Mittelmeerraum bei unseren politischen Überlegungen eine große Rolle Natürlich wissen wir, die Völker dort sind nicht nui unsere Nachbarn, sondern wir sind durch diese Nachbarn in vielerlei Hinsicht auch in unserer Kultur positis beeinflußt worden. Wenn man sich allein einmal diE Wirkung der arabischen Sprache auf die deutschE etwas verdeutlicht, dann ist man überrascht, wie grof der Einfluß des so viel gescholtenen Islam auf uns ist Herr Zöpel hat es ja gesagt. Ich bin auch immer der Meinung gewesen, daß mar den Islam nicht schlechthin als eine Art von fundamentalistischer Gefahr abtun kann, sondern daß wir die Gefahren, die es innerhalb des Islam gibt, durch eine gescheite Politik zu beseitigen versuchen sollten Diese Politik, meine Damen und Herren, muß sid natürlich auf alle Länder erstrecken, übrigens and auf Menschenrechtsverletzungen überall und nicht nur dort, wo es gerade politisch paßt. Das kann man gerade auch auf den gestrigen Tag beziehen. Es gab nämlich nicht nur einen Toten bei uns, Herr Kollege Zöpel, sondern auch an anderer Stelle. Hier stellt sich auch die Frage, ob man das bei hier anwesenden Besuchern von dort ansprechen darf, soll oder sogar muß. Meine Damen und Herren, auch die Europäische Gemeinschaft hat gerade in letzter Zeit deutlich gemacht, daß sie die Beziehungen zu den drei Maghreb-Staaten inzwischen verstärken will. Präsident Delors war gerade in Marokko. Wir sind dabei, einen Partnerschaftsvertrag zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Marokko zustande zu bringen. Da gibt es noch Schwierigkeiten, insbesondere - ich nenne zwei Punkte - in bezug auf eine Freihandelszone, aber auch der GATT-Konformität. Wir sind um ein Partnerschaftsabkommen mit Tunesien bemüht. Auch hierüber wird in den nächsten Monaten in der EG beraten. Wir haben eine ganze Fülle der Zusammenarbeit mit den Maghreb-Staaten aufzuweisen. Aber Sie wissen, daß natürlich die Europäische Gemeinschaft auch nicht gleichermaßen mit allen Maghreb-Staaten gute Zusammenarbeit pflegen kann, weil es das bereits angesprochene Faktum von Sanktionen gegen einen Maghreb-Staat gibt - Libyen ist genannt worden -, und weil wir natürlich auch, z. B. was Algerien betrifft, die innenpolitische Lage dieses Landes berücksichtigen müssen, die sehr schwierig ist. Ich will die Gründe hier nicht im einzelnen aufzählen. Meine Damen und Herren, ich glaube, daß auch eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittelmeerraum sicher ein guter Gedanke ist, der hier in Europa unterstützt wird. Nur ist im Augenblick die Frage zu stellen, ob man diesem Gedanken in einer Phase sehr delikater Verhandlungen im Nahen Osten nahetreten soll. Hier müßte man schon bedenken, ob nicht eine solche Initiative - im Moment wenigstens - diesen Prozeß unter Umständen sogar beeinträchtigen könnte. Wir alle hier in diesem Saal wissen, daß - bei aller guten nachbarschaftlichen Zusammenarbeit mit dem Maghreb, die wir wollen, bei aller Bereitschaft unsererseits, diesen uns seit langem freundschaftlich verbundenen Staaten auch weiter zu helfen - natürlich auch - das kann man nicht übersehen - die wirtschaftliche und innere Entwicklung dieser Staaten eine Rolle spielt. Herr Kollege Richter hat auf Mauretanien hingewiesen. Wir wissen, daß auch aus Marokko über Spanien große Flüchtlingsströme zu uns dringen und die Migrationsproblematik immer größer wird. Wir müssen uns auch aus unserem eigenen Interesse heraus sehr bemühen, daß die sozialen Gründe für diese Flucht durch Zusammenarbeit mit diesen Staaten beseitigt werden. Ich glaube, das sollten wir bei unseren Diskussionen immer wieder berücksichtigen. Zum Schluß darf ich vielleicht polemisch noch folgendes sagen: Jemand - ich glaube es war Herr Richter - hat vorhin gesagt, man müsse schon die französische Presse lesen, um die Entwicklung im Maghreb gut verfolgen zu können. Ich möchte gern heute einmal sagen: Sie müssen vielfach überhaupt ausländische Presse lesen, um über außenpolitische Vorgänge, die nicht gerade mit Somalia und vielleicht noch mit Bosnien-Herzegowina zu tun haben, etwas Näheres zu erfahren. ({0}) - Dann müssen Sie auch noch darauf achtgeben, was Sie beim Lesen, Herr Verheugen, wirklich erfahren. Leider reicht es nicht, allein unsere Medien zu berücksichtigen, bedauerlicherweise. Das sollte man hier bei dieser Gelegenheit einmal vermerken dürfen. Vielen Dank. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Ulrich Briefs.

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemand kann im Grunde etwas gegen eine Initiative zur Verbesserung der Beziehungen zu anderen Teilen der Welt haben. Das gilt auch und vielleicht sogar besonders für den arabischen Maghreb. Und doch muß der vorliegende Antrag Fragen aufwerfen, z. B. die Frage, ob analog zur Regelung mit Tschechien und Polen im Maghreb ein Cordon sanitaire gegen eine weitere Zuwanderung von Menschen, diesmal aus dem Süden, geschaffen werden soll, z. B. die Frage, ob politische und wirtschaftliche Einflußsphären für Deutschland geschaffen oder gesichert werden sollen, z. B. die Frage, ob allen Berufungen auf UN-Resolutionen zum Trotz nicht auf eine Stabilisierung der zum Teil autoritären Verhältnisse in den drei arabischen Ländern des engeren Maghreb hingearbeitet wird oder gar werden soll. Dagegen taucht nicht, zumindest explizit nicht, im Antrag die Frage auf, wie der Ausbreitung des islamischen Fundamentalismus im Maghreb entgegengewirkt werden kann. Es wird nicht die Tatsache angesprochen, daß der Westen mit seiner Politik gegenüber den Arabern, insbesondere gegenüber den Palästinensern, die Bevölkerungen der arabischen Länder, die sich traditionell mit allen arabischen Brudervölkern, und zwar anders als wir, ohne Ansprüche imperialer Einheit, verbunden fühlen, dem Fundamentalismus in die Arme treibt, jenem Fundamentalismus oder Integrismus, wie ihn Herr Köhler genannt hat, der die Abkehr vom Westen und vom Austausch mit dem Westen fordert. Übrigens, die furchtbaren Verbrechen orthodoxer christlicher Serben und katholischer christlicher Kroaten an muslimischen Bosniern und Bosnierinnen werden in die gleiche Richtung wirken. Herr Zöpel hat das zu Recht erwähnt. Dieser Antrag wird zudem von Koalitionsparteien gestellt, die Entwicklungshilfe seit Jahren real schrumpfen lassen, die, die sich bislang weigern, die UN-Norm von 0,7 % des Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe überhaupt zu erfüllen. Diese Weigerung, an den wirklichen Ursachen für die weltweite Fluchtbewegung wirksam politisch und wirtschaftlich anzusetzen, muß doch den Verdacht verstärken, daß es um die Schaffung des Cordon sanitaire bzw. von Einflußzonen für deutsche Interessen geht. Es fehlt übrigens - das sei jetzt nur am Rande angemerkt - im Antrag insbesondere auch jeder Hinweis auf die Notwendigkeit ökologisch orientierter Hilfen, um dazu beizutragen, daß das Mittelmeer nicht vollends zur Kloake wird. Als jemand - deshalb habe ich mich zu diesem Debattenpunkt gemeldet -, der eines der arabischen Maghreb-Länder, nämlich Tunesien, im Studium und auch in der Arbeit vor Ort schätzengelernt hat, hätte ich mir eine Initiative gewünscht, die weniger von unseren Interessen und Angsten, dafür aber mehr vom Verständnis und von der Achtung für die Menschen des Maghreb, ihre stolze Geschichte und ihre reiche Kultur geprägt wäre. Herr Präsident, ich danke Ihnen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Karl Lamers.

Karl Lamers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001273, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Abgesehen von dem letzten, ein wenig ärgerlichen Beitrag, hat, finde ich, diese Debatte schon einen Teil dessen erfüllt, was wir mit unserem Antrag erreichen wollten, nämlich unser aller Aufmerksamkeit und, wie ich hoffe, auch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Nachbarn von uns zu richten, die wir bislang als Nachbarn noch gar nicht wirklich wahrnehmen. Wenn wir aber europäisch denken wollen, dann sind die Nachbarn unserer Nachbarn auch unsere Nachbarn. Wenn wir von unseren französischen und spanischen Freunden etwa erwarten, daß sie ihre Aufmerksamkeit stärker in die Richtung des Ostens Europas lenken, dann können sie doch zu Recht von uns verlangen, daß auch wir unsere Aufmerksamkeit stärker auf den Raum lenken, den wir so einfach Mittelmeerraum nennen, der aber ja doch - darauf haben der Kollege Zöpel, der Kollege Köhler und auch der Kollege Richter hingewiesen - der Raum ist, aus dem auch unsere deutsche Kultur als Teil der europäischen Kultur stammt. Es ist nicht ohne Belang, was mehrfach hier gesagt worden ist, daß die griechische Philosophie, die mindestens so sehr wie die Lehre Jesu Christi das Abendland geprägt hat, zu einem großen Teil über die Araber zu uns gekommen ist. Toledo war einmal ein geistiges Zentrum, sogar das geistige Zentrum in Europa, und das war es durch das Zusammenleben von Christen, Muslimen und Juden. Ich stelle das auch deswegen an den Anfang meiner kurzen Schlußbemerkungen, weil ich meine, daß wir uns bei der Befassung mit den Maghreb-Ländern und mit dem Islam nicht in erster Linie und jedenfalls nicht nur von irgendwelchen Bedrohungsvorstellungen leiten lassen und schon gar nicht, Herr Kollege Zöpel - das ist von allen Kollegen hier gesagt worden -, davon, daß wir ein neues Feindbild brauchten. Ob Gesellschaften ganz ohne Feindbild auskommen können, ist natürlich ein schwieriges Thema, Kollege Zöpel. Zumindest müssen wir, glaube ich, ein Feindbild in Gestalt jedweder Intoleranz erkennen. Jedwede Form von Intoleranz ist unser Feind. Insofern, als der islamische Fundamentalismus im Kern intolerant ist, kann er nicht unser Partner sein. Er will es ja auch gar nicht. Aber ich verwechsle den islamischen Fundamentalismus nicht mit dem Islam. Der islamische Fundamentalismus ist keine religiöse, sondern eine politische Protestbewegung in religiösem Gewand. Jedenfalls ist er eine Erscheinung, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, mit der sich auch die Länder auseinandersetzen müssen, über die wir hier reden, vor allen Dingen Algerien. Es ist sehr gut, daß hier so differenziert über unsere Vorstellung von Menschenrechten und Demokratie gesprochen worden ist; denn ich unterstelle schon, daß auch die algerische Staatsführung Demokratie als Ziel hat. Ob sie immer das Richtige dazu tut, darüber kann man allerdings trefflich streiten. Daß sie aber gleichzeitig auch den Gesichtspunkt der Stabilität im Auge hat und daß die Alternative, vor der sie steht, sie vielleicht auch an manchem hindert, was wir als richtig ansehen, das - meine ich - müßten wir auch sehen. Ja, es ist schon schwierig, Menschenrechtspolitik in der Praxis zu betreiben. Das Verhältnis zwischen Moral und Interesse läßt sich zwar durchaus theoretisch und allgemein auflösen, indem wir sagen: Es kann keine Stabilität geben, wenn nicht die Menschenrechte geachtet werden und wenn nicht auch die Menschen Gelegenheit haben, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Das ist wohl wahr. Theoretisch ist das wahr, und allgemein ist es richtig, sich daran zu orientieren; aber wie das nun in der Praxis zu handhaben ist, das ist eine sehr schwierige Frage. Wenn man in der Situation der Führungen der Länder ist, über die wir heute reden, dann sollten wir uns in der Tat vor jedweder Überheblichkeit auch auf dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte und Gegenwart sehr hüten. Ich finde, es war ein guter Auftakt heute - man wünscht sich manche Debatte ein wenig mehr wie diese -, da wir, dieser Deutsche Bundestag, ein Thema aufgegriffen haben, das bislang nicht die ihm zustehende Aufmerksamkeit in der Politik und in der Öffentlichkeit gefunden hat. Wir sollten uns vornehmen, gemeinsam im europäischen Rahmen diesem Thema seinen ihm zustehenden Stellenwert zukommen zu lassen. Vielen Dank. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor, so daß ich Sie bitten kann, dem Wunsch des Ältestenrates zu folgen. Er schlägt Ihnen die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/4479 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Ich nehme an, das Haus ist damit einverstanden. - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Wartenberg ({0}), Wolf-Michael Catenhusen, Rolf Schwanitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gründung einer Forschungsstelle für zeitgeschichtliche Studien - Drucksache 12/3471 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung ({1}) Innenausschuß Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß Sportausschuß Die Vereinbarung im Ältestenrat lautet: Debattenzeit eine Stunde. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen, und ich kann dem Abgeordneten Catenhusen das Wort erteilen.

Wolf Michael Catenhusen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000326, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Warum in einer Zeit voll drängender Tagesprobleme - so könnte man sich fragen -, in einer Zeit, in der sich die Koordinaten für unsere Politik dramatisch verschoben haben, nun heute eine Debatte über ein geschichtswissenschaftliches Institut? Die Geschichtswissenschaft - so formulierte der Historiker Hans-Ulrich Wehler kann ... ein ungemein breites, tiefgestaffeltes Orientierungswissen verschaffen . . ., so daß man den ,schrecklichen Vereinfachern', den utopischen Schwärmern, den unbelehrbaren Dogmatikern nicht so leicht erliegt.... Vertrautheit mit historischen Problemen ... vermittelt ein Gespür für die Härte von Konflikten, für den Egoismus von Interessen, für die Widerstandsfähigkeit von Institutionen, für die Widerspenstigkeit der Realität ... - nicht zuletzt schärft sie das Urteil, was die Verführbarkeit von Menschen, die stets gegenwärtige Gefahr der Entartung und des Verrats zivilisatorischer Gesittung angeht. Diese gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Rolle der Geschichtsschreibung, meine Damen und Herren, hat unsere besondere Beachtung verdient in einer Zeit, die von so tiefgreifenden und schnellen Umbrüchen geprägt ist, daß gleichsam historische Ereignisse hinter jeder Ecke lauern. Die umwälzenden Prozesse unserer Zeit müssen wissenschaftlich erfaßt, aufgearbeitet und eingeordnet werden können, auch wenn sich daraus nicht zwangsläufig ergibt, daß Menschen oder Völker aus der Geschichte zu lernen bereit sind, was man etwa in Jugoslawien leider feststellen muß. Gerade für das Bewußtsein der Menschen in den ostdeutschen Bundesländern, für die Herstellung der noch längst nicht erreichten inneren Einheit und für das Verständnis von Ost- und Westdeutschen füreinander ist die Erforschung und Aufarbeitung der Geschichte der DDR j etzt von allergrößter Bedeutung. Gleichzeitig stehen uns nach dem Ende der DDR Quellenmaterial und Zeitzeugen in einem Ausmaß zur Verfügung, wie sich das die Geschichtswissenschaft jahrzehntelang nicht träumen ließ. Auch deswegen brauchen wir jetzt eine zügige institutionelle Absicherung der zeitgeschichtlichen DDR-Forschung im vereinten Deutschland. In Westdeutschland haben sich seit langem Historiker und Historikerinnen an den Universitäten mit der DDR-Geschichte auseinandergesetzt. Es gibt auch Institute mit einem Forschungsschwerpunkt DDRGeschichte, vor allem die Arbeitsstelle zur Erforschung der Geschichte der ehemaligen DDR in Mannheim. Die Geschichtswissenschaft in der DDR war in besonders extremer Weise bei der Behandlung der Geschichte des eigenen Staates, der DDR, zu einer nach SED-Anweisung arbeitenden marxistisch-leninistischen Legitimationswissenschaft verkommen. Die Geschichtswissenschaft ist deshalb in den Hochschulen der neuen Bundesländer weitgehend abgewickelt und neu aufgebaut worden. Dennoch gilt dieses Urteil über die DDR-Geschichtswissenschaft nicht für jeden in der DDR tätig gewesenen Wissenschaftler in gleicher Weise. Ich denke etwa an die große Bismarck-Biographie von Engelberg, die in Westdeutschland auch vor der Wende in der DDR eine große Beachtung gefunden hat. Die Max-PlanckGesellschaft hat auf Empfehlung des Wissenschaftsrates 1991 ein Zentrum für Zeithistorische Studien in Potsdam aufgebaut, in dem unter der Leitung von Professor Kocka überwiegend Historiker aus der ehemaligen DDR tätig sind, denen nach Evaluation des Wissenschaftsrates bescheinigt worden ist, daß sie mehr geleistet haben, als marxistisch-leninistische Legitimationswissenschaft zu betreiben. Wir brauchen im vereinten Deutschland ein plurales Netzwerk von universitärer und außeruniversitärer Erforschung der DDR. Wir brauchen aber zweifellos in diesem Netzwerk auch ein eigenständiges Institut in den neuen Bundesländern selbst. Nach Auffassung der SPD-Bundestagsfraktion brauchen wir eine vom Bund und von den sechs ostdeutschen Ländern gemeinsam getragene Einrichtung als Blaue-ListeInstitut. Das heißt, daß der Bund sich mit 50 % an der Finanzierung dieser Einrichtung beteiligen muß. Dieses Institut kann und soll in vielfältiger Form mit den umliegenden Hochschulen zusammenarbeiten: etwa über gemeinsame Berufungen, über Projekte, gemeinsame Fachbibliotheken oder auch durch zeitweise Übernahme von Personal. Ein solches Institut kann mehr an Kontinuität, Spezialisierung und Zusammenschau bieten, als dies einzelne Hochschulinstitute vermöchten. Natürlich ist das Institut für Zeitgeschichte in München in vielerlei Hinsicht Vorbild für eine solche Einrichtung, die wir in den neuen Bundesländern wünschen. Die Bedeutung dieser Institution für die Aufarbeitung und das gesellschaftliche Verständnis der nationalsozialistischen Vergangenheit in Westdeutschland selbst kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Doch, meine Damen und Herren, dieses ist ein Institut, verankert in der westdeutschen Gesellschaft, auch in der westdeutschen Geschichte, und es ist nicht dazu berufen oder geschaffen, allein die Erforschung der DDR-Geschichte als außenuniversitäre Forschungseinrichtung quasi im Nebenberuf auf sich zu nehmen. Das ist auch fast allen Beteiligten bewußt, auch den Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer, die sich einhellig für die Errichtung eines Zentrums für zeithistorische Studien in Potsdam ausgesprochen haben. Dies ist dem Wissenschaftsrat bewußt, der eine Entscheidung über eine Außenstelle des Instituts für Zeitgeschichte in München - die Planungen für eine solche Außenstelle waren schon weit vorangetrieben - erst nach Klärung der Zukunft der geisteswissenschaftlichen Zentren und damit auch erst nach einer Entscheidung über die Einrichtung eines solchen Instituts für Zeitgeschichte in Potsdam getroffen sehen will. Schließlich, meine Damen und Herren, war dies auch den Ministern Enderlein aus Brandenburg und Zehetmair aus Bayern klar, die genau dieses Vorgehen, wie es der Wissenschaftsrat gewünscht hat, verabredet haben. Nur die Bundesregierung scheint die gesellschaftspolitische Bedeutung dieser Frage nicht sehen zu wollen. Sie betätigt sich in dieser Situation, als wollte sie voreilig als Totengräber einer in den neuen Bundesländern verankerten eigenen Zeitgeschichte in dieselbe eingehen. Die Strategie des Bundesforschungsministers konnte man jüngst nachlesen. Sie heißt: Überführung aller Stellen aus den geisteswissenschaftlichen Zentren der Max-Planck-Gesellschaft in die Hochschulen und Entsperrung der Mittel für die Außenstelle des IfZ München in Potsdam durch den Haushaltsausschuß. Sollten diese Pläne des BMFT verwirklicht werden, meine Damen und Herren, droht schon sehr schnell dem Plan eines vom Bund und von den ostdeutschen Ländern getragenen eigenständigen zeitgeschichtlichen Zentrums ebenso das Aus wie dem Personal der provisorischen Einrichtung, die jetzt in Potsdam arbeitet. Jeder Sachkundige, meine Damen und Herren, weiß doch, daß die Lage an den Universitäten in Ostdeutschland schwierig genug ist und schon der Versuch einer Überführung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der früheren Akademie der Wissenschaft in die Hochschulen bislang als gescheitert angesehen werden muß. Wir meinen, daß die Vorleistungen des Landes Brandenburg und der Max-Planck-Gesellschaft nicht damit beantwortet werden dürfen, daß sich der Bund aus seiner Verantwortung in dieser Frage zurückzieht. Dies, meine Damen und Herren, wäre kurzsichtig und beschämend. Die Wissenschaftsminister aller neuen Bundesländer treten dafür ein, daß das BMFT von seinem Vorhaben Abstand nimmt und sich für eine konstruktive Mitarbeit zur Errichtung eines solchen Instituts und auch für eine Mitfinanzierung einer solchen Einrichtung öffnet. Es wäre sehr schön, wenn heute in der Debatte oder in den weiteren Beratungen im Forschungsausschuß und den anderen mitberatenden Ausschüssen das Forschungsministerium seine Bereitschaft erklärt, in Kooperation mit den Beteiligten und allen betroffenen neuen Bundesländern eine leistungsfähige, hochschulnahe und sachgerechte Lösung zu finden, mit der der Bund einer im Wortsinne historischen Verantwortung gerecht werden kann. Meine Damen und Herren, wir brauchen ein eigenständiges Zentrum zur Geschichte der DDR, das in den neuen Bundesländern aufgebaut wird und im gesellschaftlichen Umfeld der neuen Bundesländer arbeitet. Schönen Dank. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Dietrich Mahlo das Wort.

Dr. Dietrich Mahlo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001408, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Herr Kollege Catenhusen, Sie haben in Ihrem allgemeinen Teil viel Richtiges gesagt, das wenig Ansatzpunkte zur Kritik gibt. Gleichwohl kann man natürlich auch dieses Vorhaben problematisieren. Ich will versuchen, das etwas zu tun. Ihr Antrag verdient, auf seine Zielsetzung und Hintergründe näher betrachtet zu werden. Die Überlegungen, die wir hier im ersten Durchgang anstellen, mögen dann in der parlamentarischen Arbeit vertieft werden. Zuzustimmen ist dem Antrag und seiner Begründung in der Darlegung der Aufgabe. Zuzustimmen ist dem Platz Potsdam als Standort für zeitgeschichtliche Studien, und zwar nicht wegen der örtlichen Nähe zu Herrn Ministerpräsident Stolpe, wie einige schon gemutmaßt haben, sondern wegen der Quellenlage, wie Sie das ja auch richtig gesagt haben, d. h. wegen der großen Bestände an Archivmaterial, die in Potsdam offenbar konzentriert sind. Zuzustimmen, Herr Catenhusen, ist Ihnen schließlich auch in dem Gedanken, daß die Aufarbeitung der Geschichte von SBZ und DDR maßgeblich auch von Wissenschaftlern durchzuführen ist, die diese selber durchlebt und durchlitten haben. Problematisch an Ihrem Antrag ist zunächst der Zeitpunkt, in dem er vorgelegt wird. Er ist nämlich in einem Teil bereits überholt und in einem anderen Teil verfrüht. Bekanntlich hat die Max-Planck-Gesellschaft am 1. Januar 1992 sieben Zentren als geisteswissenschaftliche Forschungsschwerpunkte gegründet und zunächst auch qua BMZ finanziert. Darunter war auch der Forschungsschwerpunkt zeithistorische Studien in Potsdam. Insofern ist das also erst einmal geregelt. Der Wissenschaftsrat wird aber ein Gesamtkonzept für diese Zentren frühestens in seiner Novembersitzung 1993 verabschieden, nachdem er im Januar dieses Jahres eine entsprechende Arbeitsgruppe dafür eingesetzt hat. Es liegt auf der Hand, daß wir hier, wie in allen vergleichbaren Fällen, die Empfehlung des Wissenschaftsrats zur Neuordnung der Wissenschaftslandschaft im Beitrittsgebiet abwarten und nicht dem Votum der Fachleute zuvorkommen. Dieses Votum, Herr Catenhusen, wird sich auch auf die Frage der Trägerschaftsalternativen zu erstrecken haben; denn zunächst wäre es natürlich normal, eine solche Einrichtung an der Potsdamer Universität unterzubringen, nicht aber ihr eine absolute Eigenständigkeit zu geben. Sie wissen, daß die Hochschulrektorenkonferenz der Gründung der vielen Blaue-Liste-Institute in den neuen Ländern mit Skepsis begegnet, weil sie darin natürlich zu Recht auch eine Abwertung der Hochschulen als Zentren wissenschaftlicher Forschung und Arbeit vermutet. Nun mag zwar das Land Brandenburg zur Zeit nicht in der Lage sein, die Mittel für ein solches Institut allein aufzubringen, doch könnte man dem mit einer nicht zu kurzfristig bemessenen Anschubfinanzierung abhelfen, ohne deswegen falsche Strukturen zu zementieren. Aber lassen Sie mich zu einem anderen Punkt kommen. Wer sich unter Historikern in Deutschland umhört, wird schnell den Verdacht vernehmen, der sozialdemokratische Antrag, den wir heute erörtern, sei eine Aktion „Jobs for the boys". Erlauben Sie, daß ich diesen Punkt offen anspreche. Ist es so, daß hinter diesem Antrag schon eine Phalanx festgeklopfter Stellenzusagen steht? Oder sind Offenheit und Vielfalt gewährleistet? Ich bitte die Damen und Herren der sozialdemokratischen Opposition, sich hierzu noch zu äußern. Denn sosehr ich der Ansicht bin, daß zeitgeschichtliche Forschung über die DDR nicht überwiegend von München oder überhaupt von ursprünglich westlichen Wissenschaftlern dominiert werden darf, so wenig besteht bei uns natürlich Neigung, hier Böcke zu Gärtnern zu machen. Hier liegt ein Problem, das Sie elegant übergangen haben.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Dr. Mahlo, würden Sie bereit sein, eine Frage des Abgeordneten Vosen zu beantworten?

Dr. Dietrich Mahlo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001408, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Josef Vosen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002395, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, halten Sie diese Verdächtigungen in aller Form und in aller Öffentlichkeit, es handele sich hier um eine sozialdemokratische Seilschaft, die für einen Job anstehe - so ungefähr haben Sie sich ausgedrückt - für richtig? Dies frage ich, da Sie die Bundesregierung stellen und damit Geldgeber sind. Ist es nicht im Gegenteil umgekehrt so, daß wir die Befürchtung haben müßten, daß bei einer solchen Besetzung so etwas herauskäme?

Dr. Dietrich Mahlo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001408, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich sage Ihnen ja nur, was mir auch von sozialdemokratischer Seite aus der Professorenschaft deutscher Historiker als Mutmaßung entgegengeklungen ist. Ich habe diese Frage sozusagen an Sie weitergegeben. Ich bin nicht der Mann, der das mit letzter Sicherheit übersehen kann. Das ist mein Problem.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Sind Sie auch bereit, eine weitere Frage des Abgeordneten Catenhusen zu beantworten?

Dr. Dietrich Mahlo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001408, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte, Herr Catenhusen.

Wolf Michael Catenhusen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000326, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Mahlo, Zwischenfragen können der Klärung dienen. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Intention des Antrags, wie dies auch aus dem Text hervorgeht, ist, eine solche Institution zu schaffen, daß damit keinerlei Vorabsichten in bezug auf die Besetzung der Personen verbunden sind, sondern daß wir nur der Meinung sind, daß das einhellige Begehren aller Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer auch vom Parlament hier unterstützt werden sollte?

Dr. Dietrich Mahlo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001408, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin bereit, Herr Kollege Catenhusen, das zur Kenntnis zu nehmen. Aber ich sage Ihnen auch, daß wir auf dem Gebiet der Zeitgeschichte in der Bundesrepublik einige Erfahrungen haben. Wir hatten den Fall, daß ein namhafter Historiker, der in einer wichtigen Frage eine Minderheitsmeinung vertrat, lange Zeit wegen dieser Meinung keinen Verlag fand. ({0}) - Der war nicht Sozialdemokrat. ({1}) Wir erinnern uns an den Kampf - um zu den Sozialdemokraten zu kommen - der Sozialdemokraten gegen das Historische Museum in Berlin, weil die Annahme bestand, daß dieses Institut eine jahrelang faktisch bestehende Monopolisierung für die Interpretation deutscher Nachkriegsgeschichte bei bestimmten Leuten beenden könnte, weil die Gefahr bestand, daß ein solches Institut dieses Monopol brechen könnte. Wir erinnern uns an den Versuch, die Erfassungsstelle in Salzgitter auszuhungern, und daran, wie ein Buch darüber am Erscheinen gehindert werden sollte. Damals jedenfalls war es nicht das Anliegen der SPD, Geschichte aufzuarbeiten, sondern ihr Anliegen war es, sie zu unterdrücken. Wir haben das nicht vergessen: Erst hieß es - das ist jetzt nicht eine Spezialität der Sozialdemokraten, sondern der zeitgeschichtlichen Nachkriegsforschung in Deutschland überhaupt -, man müsse in der Forschung vom primitiven Antikommunismus wegkommen. Dann war der Antikommunismus plötzlich selbst primitiv. Es hieß - ich zitiere verkürzt aus einem Artikel von Wolfgang Schuller in der FAZ -, man dürfe, um die DDR wirklich zu verstehen, nicht die eigenen westlichen Maßstäbe anlegen; sie seien ungeeignet, seien Ausdruck von Hochmut, ja, von Aggression. Man müsse vom Selbstverständnis der DDR ausgehen, sie nach ihren eigenen Maßstäben beurteilen. Aus Verstehenwollen wurde Verständnisinnigkeit, und schließlich war die so groß, daß man vergaß, den Tatbestand der Repression überhaupt noch wahrzunehmen. ({2}) Um noch einmal Schuller zu zitieren: „Desinteresse oder Beschönigung, Herunterspielen oder Wahrnehmungshemmungen. " So also war das mit der DDRForschung in der alten Bundesrepublik. ({3}) Wie immer ein zukünftiges Institut für Zeitgeschichte in Potsdam schließlich aussehen wird, wenn der Wind jemals wieder aus dieser Ecke wehen sollte: ohne uns! ({4}) Wir haben für Potsdam den Anspruch auf Pluralität und Qualität und, soweit das für Historiker menschenmöglich ist, auf Objektivität. Wir erwarten Wissenschaftler, die die Vergangenheit nicht aus ihrer Gesinnung, sondern aus den Quellen interpretieren. Ich denke immer noch, daß wir insoweit mit dem ganzen Hause übereinstimmen. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dirk Hansen.

Dirk Hansen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000804, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! ({0}) - Sie wissen, Herr Vosen, das ist sowieso das Grundanliegen aller Liberalen, übrigens auch die Komptenz, weil wir genau in der Mitte stehen. Ich betone jetzt auch persönlich - dabei schaue ich auf Herrn Meckel als Mitglied der Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte der SED-Diktatur und deren Folgen -, wie richtig und wie wichtig es ist, auch über die vom Deutschen Bundestag beschlossene historisch-moralische Aufarbeitung von Geschichte hinaus sich auch künftig der Aufgabe zu stellen, also unabhängig davon, was der Bundestag ab 1994 machen wird. Wir wissen alle aus Erfahrung, daß Geschichte nie bewältigt, gewissermaßen abgehakt werden kann, sondern daß die Zukunft und die Gegenwart bedingt sind durch die Vergangenheit. Die Aufgabe bleibt daher ständig, und es ist notwendig, sich im Bereich von Geschichte und Politik dieser Aufgabe immer wieder neu zu stellen. Insofern ist es auch voll zu unterstützen, daß gerade in den neuen Bundesländern - aber ich betone: bitte keineswegs nur dort; denn das würde denn doch unseren Blick verengen und verkürzen - diese politische und wissenschaftliche Arbeit begriffen und auch wahrgenommen wird. Es ist daher zu unterstützen, daß es eine gesamtstaatliche Aufgabe von allen Seiten her ist. ({1}) Nun gibt es, wie wir wissen - und darum geht es -, seit 1992 den damals gegründeten Forschungsschwerpunkt zeithistorische Studien, der unter der kommissarischen Leitung von Jürgen Kocka in Potsdam angefangen hat zu arbeiten und in seinem Jahresbericht zum Forschungsprogramm, zum personellen und institutionellen Rahmen, zu den laufenden Projekten und zu den Veranstaltungen und Tätigkei12598 ten berichtet hat. Es ist vernünftig und unterstützenswert, daß gerade dort auch Wissenschaftler aus und in den neuen Bundesländern sich dieser Aufgabe stellen, dies auch mit besonderem Blick darauf - Herr Mahlo hat darauf verwiesen -, daß es natürlicherweise dort geschieht, weil die Unterlagen, die Archive usw. ganz überwiegend dort vorhanden sind und Forschung dort gewissermaßen vor Ort betrieben wird und wahrgenommen werden kann. Ich möchte die Aufgabenstellung aus dem Jahresbericht sehr unterstreichen, daß vergleichende Untersuchungen gewissermaßen in horizontaler und vertikaler Weise vorgenommen werden, also Vergleiche zwischen der DDR und den übrigen kommunistischen Systemen im Osten wie aber auch vertikale Vergleiche zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus. Der Begriff des Totalitarismus, dem sich Kocka - wenn es denn Kocka bliebe - oder jemand anderes und seine Mitarbeiter zu stellen hätten, spielt meines Erachtens eine wesentliche Rolle. Gerade weil dit ser Begriff am Ende der 60er Jahre verpönt und fast zum wissenschaftlichen Tabu erklärt worden ist, stellt ,ich nun nach dem Zusammenbruch des Kommunismus erneut heraus, wie wichtig und richtig die strukturellen Untersuchungen der Systeme sind, unter denen Menschen zu leiden haben. ({2}) Für ganz wesentlich halte ich von daher auch den interdisziplinären Ansatz dieser zeithistorischen Studien. Gleichwohl ist nicht zu unterschlagen, daß die Geschichte der SBZ und DDR natürlich auch im Westen - es ist darauf hingewiesen worden - intensivst untersucht worden ist. München und Mannheim sind zu Recht genannt worden, zwei Institute, die renommiert sind, deren Ruf unwiderleglich ist. ({3}) Aber man muß auch zugeben, daß sich die ursprüngliche Aufgabenstellung beispielsweise des IFZ in München in der Praxis in den vergangenen Jahren durchaus schon gewandelt hat. Der ursprüngliche Auftrag, die Geschichte der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus zu untersuchen, wird durch Untersuchungen der Zeit nach 1945 ergänzt - ich will noch nicht sagen: schon abgelöst, aber doch in erheblichem Maße ergänzt - und, inzwischen auch nachlesbar, durch die Geschichte der DDR selber. Im weiteren möchte ich großes Verständnis dafür äußern, daß das Land Brandenburg den Forschungsschwerpunkt zeithistorische Studien im eigenen Lande behalten möchte. Der Aufbau der wissenschaftlichen Bibliothek, inzwischen auch der Ankauf von Archiv- und Bibliotheksbeständen aus anderen Län-dem unterstreicht das Interesse. Aber zum vorliegenden SPD-Antrag muß man eben doch sagen - ich schließe mich da Herrn Mahlo ganz an und variiere das, indem ich folgendes sage -: Wer einerseits mit einem Antrag zu spät kommt, aber andererseits auch zu früh kommt, kann bestraft werden. ({4}) Wenn aber der Antragsteller nicht bestraft würde, dann könnte die Aufgabenstellung gefährdet werden. Insofern, denke ich, ist der Antrag nicht dem aktuellen Stand der Diskussion angemessen. Der Wunsch nach Einrichtung einer Blauen Liste, so wie er in dem Antrag steht, könnte die momentanen Vereinbarungen gefährden. Wir sollten in der Ausschußberatung - ich bin im mitberatenden Ausschuß tätig - sorgfältig darauf achten, wie das hoffentlich von allen Seiten unterstützte grundsätzliche Vorhaben, die Geschichte der DDR und der SBZ wissenschaftlich fundiert zu untersuchen, in unparteiischer Weise, nicht von speziellen Interessen geleitet, möglich gemacht wird. ({5}) Hierbei ist sehr auf die Empfehlungen des Wissenschaftsrats zu achten, und Entscheidungen sollten nicht vor Abschluß der Beratungen über Struktur und Konzeption aller sieben geisteswissenschaftlichen Schwerpunkte gefällt werden. Insofern ist der Antrag verfrüht. Die momentane Betreuung durch die Max-PlanckGesellschaft erscheint richtig und notwendig, ohne daß damit festgeschrieben würde, welchen organisatorischen und vor allen Dingen finanziellen Rahmen dieses Zentrum erhalten würde. Gerade angesichts späterer Fragen der Refinanzierung stehen Abstimmungen in der Bund-Länder-Kommission noch aus. Es muß Klarheit geschaffen werden, inwieweit diese Zentren außenuniversitäre Institute werden. Grundsätzlich sollte unseres Erachtens Sorge getragen werden, daß die Forschung nicht immer mehr aus den Universitäten herauswandert und sich in Elfenbeintürmen etabliert. So großartig manche Solitäre sind, so sehr sollten sie aber auch verstärkt darauf achten, daß Forschung und Lehre weiterhin oder wieder verstärkt eine Einheit bilden. ({6}) Die SBZ- und DDR-Erfahrung Akademie der Wissenschaften war ja wahrhaftig nicht erfreulich. Die Gefahr der immer weitergehenden Verlängerung der Blauen Liste ist doch gar nicht zu übersehen. Auch die neuen Länder sollten nicht mit dem kurzen Blick auf die Finanzen auf Grund der Bundesbeteiligung bei diesen Instituten die Perspektive der Bildungs- und Forschungsstrukturen insgesamt aus dem Auge verlieren. Hierauf sollten die Ausschußberatungen meines Erachtens sorgfältig achten. Der interdisziplinäre und pluralistische Ansatz ist richtig. Der Zeitpunkt jetzt ist falsch. Wir sollten nichts vorwegnehmen und jetzt nicht durch Entsperrung im Bundeshaushalt einerseits oder durch den SPDAntrag andererseits Verunklarung besorgen.Verunklarung heißt letztlich die Aufgabenstellung grundsätzlich gefährden. Insofern stimmen wir der Überweisung an die Ausschüsse natürlich zu. ({7})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Dietmar Keller.

Dr. Dietmar Keller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001077, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Gegensatz zu meinem Kollegen Herrn Hansen glaube ich schon, daß der Antrag der SPD zeitgemäß ist, was nicht ausschließt - da stimme ich Ihnen zu -, daß man in den Ausschüssen noch eine Reihe von Fragen und Problemen zu klären hat. Ich sage zeitgemäß deshalb, weil wir uns bestimmt darüber einig sind, daß wissenschaftliche Institutionen und Einrichtungen zu konstituieren im Gegensatz zu anderen Bereichen kein organisatorischer Akt, sondern ein komplizierter inhaltlicher Akt ist, der sich nicht nur über mehrere Monate, sondern über mehrere Jahre vollzieht, bis wissenschaftliche Ergebnisse und wissenschaftliche Forschungsleistungen vorliegen. Zeitgemäß ist er für mich auch deshalb, weil mir scheint, daß das Problem der geistigen Einheit nach der Wiedervereinigung eines der kompliziertesten und schwierigsten ist, und ich glaube, daß zeitgenössische Forschung zur DDR-Geschichte, ihrer Vorgeschichte und ihrer unmittelbaren Geschichte dazu einen Beitrag leisten könnte.Denn ich bin überzeugt, daß die Enquete-Kommission, die vom Deutschen Bundestag gebildet worden ist, nur eine zeitweilige Aufgabe erfüllen kann und sie vor allem einen politischen und keinen wissenschaftlichen Auftrag hat. Natürlich gibt es eine Reihe von Fragen und Problemen, über die man nachdenken muß. Dazu würde für mich gehören, daß mit den Institutionen in München, Mannheim und mit der Konstituierung an der Freien Universität Berlin schon drei interessante wissenschaftliche Institutionen, die sich mit DDR-Geschichte befassen, existieren. Es müßte exakt festgelegt werden, wie zwischen diesen Institutionen auch eine Aufgabenverteilung erfolgen könnte. Für Potsdam spricht natürlich, daß die zeitliche und örtliche Nähe so gering wie möglich ist. In Berlin und Potsdam liegen die Archive, und vor allen Dingen dort sind die Arbeiten zu machen. Ich denke - das spricht wiederum für den Vorschlag Potsdam -, daß die Kombination von Wissenschaftlern aus der DDR und der Bundesrepublik eine interessante und vernünftige Mischung sein könnte, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt so natürlich weder in München noch in Mannheim gegeben ist. Überlegen sollte man auch, ob es eine außeruniversitäre Institution wird oder ob diese Institution auch Ausbildungs- und Lehraufgaben bekommen. ({0}) - Ich will das nicht so schnell aussprechen. - Ich möchte aber zumindest die Frage aufwerfen, daß von der Ausprägung des Geschichtsbildes und des Geschichtsbewußtseins in sehr, sehr starkem Maße abhängt, wie wir die Aufgaben von morgen und übermorgen bewältigen werden. Durch die Veränderungen an den Universitäten und Hochschulen in der DDR ist es, denke ich, dringend notwendig, dort Historiker auszubilden, die sich mit deutscher Geschichte und DDR-Geschichte konkret beschäftigen. Problematisch wäre für mich auch, die Entscheidung zu treffen, wann das sein könnte. Ich könnte mir durchaus vorstellen, daß im ersten Zeitraum, um überhaupt Schulen zu bilden, eine Konzentration ausschließlich auf die Forschung vorgenommen würde und daß zu einem bestimmten Zeitpunkt, wenn sich so eine Institution konstituiert und sich ein Profil erarbeitet hat, die übergreifenden Aufgaben angegangen werden. ({1}) Letztlich würde ich im Ausschuß auch gem darüber beraten, welche Rolle langfristig - wissenschaftliche Institutionen werden nicht für 10 oder 20 Jahre konstituiert - nicht nur die DDR-Geschichte, sondern die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts im weitesten Sinne spielen soll. Denn die historische Betrachtungsweise, die wir jetzt haben, wird nicht mehr die historische Betrachtungsweise sein, mit der man deutsche Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vielleicht in 20 oder 30 Jahren betrachtet. Ich unterstütze den vorgelegten Vorschlag. Ich werde mich an der Diskussion im Ausschuß engagiert beteiligen. Ich bin überzeugt, daß die PDS/Linke Liste diesem Vorschlag zustimmen wird. Danke.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Josef Vosen das Wort. ({0}) Das ermöglicht es mir, dem Parlamentarischen Staatssekretär Bernd Neumann das Wort zu geben.

Bernd Neumann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001593

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die zeitgeschichtliche Forschung steht angesichts der Prozesse in Deutschland und in Europa, die uns die Einheit zurückgebracht haben, vor einer großen Herausforderung, aber auch in großer Verantwortung. Es ist richtig, die Einheit Deutschlands kann nur vollendet werden, wenn zur äußeren die innere Einheit hinzukommt. Hierzu ist - wir erleben das fast täglich in Debatten, in leidvollen Debatten - eine intensive Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Vergangenheit notwendig. Der Bundestag hat durch die Einsetzung der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" diese Aufgabe ebenfalls aufgegriffen. Diese Aufarbeitung kann jetzt auch die Aufarbeitung der bislang nicht frei zugänglichen Akten und Archive der früheren DDR und ihrer Institutionen einschließen. Dies ist ein wissenschaftlicher Fundus, der besondere neue Überlegungen auch bei der Organisation und Förderung der entsprechenden Forschung notwendig macht. Insoweit, Herr Kollege Catenhusen, sind wir uns, glaube ich, in der Einschätzung der Bedeutung des Sachverhalts einig. Die Frage ist: Wie soll diese wichtige Aufgabe angegangen werden? Wir dürfen sie zumindest nach dem Wissenschaftsverständnis unseres Grundgesetzes auf keinen Fall als eine nur administrativ-politi12600 sehe Institutionengründung verstehen, wie das bei Ihrem Antrag, meine Damen und Herren, weil Sie sich sofort auf die Blaue Liste festlegen wollen, im Vordergrund zu stehen scheint. ({0}) Vielmehr handelt es sich um eine Aufgabe unter Beratung und Mitwirkung der Wissenschaft selbst. Deshalb ist mir der SED-Antrag - Entschuldigung, der SPD-Antrag - ({1}) - Verehrter Herr Kollege, das brauche ich nicht zurückzunehmen, weil das so absurd ist, daß das jeden Kommentar erübrigt. Meine Damen und Herren, ich halte es für selbstverständlich und begrüßenswert, wenn sich die Forschungsinstitute, die bislang und mit hohem wissenschaftlichen Ansehen die Zeitgeschichte der Bundesrepublik Deutschland erforscht und, wie Sie gesagt haben, Herr Kollege Hansen, was das Institut für Zeitgeschichte in München angeht, sich auch schon mit den Entwicklungen der damaligen DDR befaßt haben, nun nicht abgrenzen, sondern sich für die Aspekte öffnen, die auf Grund der neuen Quellenlage anders und intensiver als früher untersucht werden können. Von daher unterstützt die Bundesregierung auch die Initiative des Instituts für Zeitgeschichte in München, in Potsdam eine Außenstelle zu errichten. Damit erhält das Institut die Möglichkeit, vor Ort den Zugang zu den Quellen zu nutzen, die bislang für die Forschung gefehlt haben. Es entspricht weder unserem Wissenschaftsverständnis noch ist es rein faktisch zu schaffen, daß diese Forschungsaufgabe mit diesem Material von einer Institution allein bewältigt werden kann. ({2}) Deshalb verweisen Sie in der Begründung Ihres Antrags darauf, daß der Wissenschaftsrat selbst gesagt hat: Alle sind aufgerufen, möglichst komplementär im Westen wie im Osten an dieser Aufgabe mitzuwirken. Im übrigen ergibt sich für Potsdam, wenn sich das abzeichnet, was uns vorschwebt, die große Chance, eine Art Zentrum der zeithistorischen Forschung zu werden. Diese Forschung ist aus meiner Sicht am richtigen Ort; denn genauso wie es unbestreitbar ist, daß der Blick der Forschung über die Institutionen der DDR hinausgehen muß, genauso wenig kann umstritten sein, daß bei der Erforschung der DDR-Geschichte auch das Potential der neuen Bundesländer in den historischen Wissenschaften beteiligt sein muß. Dies ist bereits angelegt. Ich freue mich, daß Sie zustimmend nicken, meine Damen und Herren von der SPD. Der Vorschlag, den jetzt Ihre Initiative aufgreift, ist deshalb gar nicht neu. ({3}) Der Antrag selber weist die Quelle aus: die Empfehlung des Wissenschaftsrates, den wir um die Evaluation der Forschungseinrichtungen der früheren Akademie der Wissenschaften gebeten hatten. Dabei hat der Wissenschaftsrat ein ganz besonderes Handikap gerade der politiknahen geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung in der früheren DDR gesehen, war diese doch nach dem kommunistischen Selbstverständnis „unmittelbar mit den politischen, ideologischen und weltanschaulichen Forderungen verschiedener Klassenkräfte, also auch mit dem politischen Parteienkampf", verbunden; dies darf nicht verschwiegen werden. Das konnte in der damaligen zeitgeschichtlichen Forschung der DDR auch die politische Korrumpierung bedeuten und damit wissenschaftliche Dequalifikation eines Teils der Geschichtswissenschaftler. Das ist ein Grund dafür, weswegen ein beträchtlicher Teil dieser Wissenschaftler nicht übernommen werden konnte. In dieser Situation, die anders war als die Situation bei den Natur- und Ingenieurwissenschaften, hat sich der Wissenschaftsrat zu einem Weg entschlossen, der im Vergleich zu den von mir genannten Wissenschaften außergewöhnlich war. Er empfahl die Schließung im wesentlichen aller früheren DDR-Akademieeinrichtungen auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften und zugleich die Einrichtung, wie Sie wissen, von sieben geisteswissenschaftlichen Zentren, von denen eines das Zentrum für Zeithistorische Studien in Potsdam sein soll oder ist. Diese Zentren sollen auf Grund der soeben von mir dargestellten politischen Implikationen zunächst einem Teil der Wissenschaftler aus den ehemaligen Instituten der Akademie der Wissenschaften durch Anstellung in diesen Zentren die Chance einer Erneuerung und Bewährung eröffnen, ohne bereits Strukturentscheidungen festzulegen. Ich halte diese Entscheidung auch im nachhinein für gut begründet und logisch. Das unterscheidet uns zumindest in diesem Punkt von dem Kollegen Catenhusen, der sagt: Sofort strukturelle Entscheidungen treffen, und diese Phase nicht abwarten. Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates zu den Geisteswissenschaften wurden im Fall der geisteswissenschaftlichen Zentren - und damit bezogen auf das Zentrum für Zeithistorische Studien in Potsdam - von uns in der Form aufgegriffen, daß die Zentren zur Anfangsbetreuung bei der Max-Planck-Gesellschaft angesiedelt wurden. Die Max-Planck-Gesellschaft hat hierfür eine Trägergesellschaft eingerichtet. Ich glaube, daß die Zentren damit - ich denke, das ist allgemeine Auffassung - zunächst bis Ende 1994 in guten Händen sind. ({4}) Speziell für das Forschungszentrum für Zeithistorische Studien in Potsdam bedeutet dies, daß ein angesehener Wissenschaftler, Professor Kocka, als kommissarischer Leiter eingesetzt ist, daß das Zentrum bislang 18 Stellen zugewiesen bekommen hat und daß die Finanzierung über die MPG-Trägergesellschaft bis Ende 1994 gesichert ist. Das Land Brandenburg hat sich bereits im Vorgriff auf die noch ausstehenden Entscheidungen der Präsidentenkommission der Max-Planck-Gesellschaft und des Wissenschaftsrats für die Unterbringung in Potsdam einParl. Staatssekretär Bernd Neumann gesetzt. Das im Aufbau begriffene Zentrum konnte bereits neue Räumlichkeiten beziehen. Das heißt, auch hier tut sich im Rahmen der abgesprochenen Maßnahmen etwas. Allerdings - dies haben die Bundesregierung und die beteiligten Länder zu respektieren - sind die Empfehlungen für die endgültige Ausgestaltung der Zentren noch nicht reif und verabschiedet. ({5}) Zwischen dem Bund und den Ländern besteht Einigkeit, daß hierzu eine Kommission der Max-PlanckGesellschaft Vorschläge vorlegen wird; der Kollege Dr. Mahlo hat darauf hingewiesen. Diese Empfehlungen sollen dann Grundlage der Entscheidung des Bundes und der beteiligten Sitzländer über die endgültige Gestalt der Zentren werden. Ich will das, was Dr. Mahlo gesagt hat, nicht wiederholen. Diese Empfehlungen liegen noch nicht vor. Wenn sie, begutachtet durch den Wissenschaftsrat, vorliegen, werden wir, uns daran ausrichtend, Entscheidungen zu treffen haben. Aber diese können wir nicht jetzt treffen, verehrter Herr Kollege Catenhusen. ({6}) Ich will für die Bundesregierung nicht vor der Frage kneifen, welche Alternativen in Frage kommen. Eine der Alternativen ist die zukünftige Struktur der Zentren als außeruniversitäre Institute nahe bei den Partneruniversitäten. Dies würde eine Bund-LänderFinanzierung von 50:50, entsprechend der BlaueListe-Finanzierung, bedeuten. Das ist das, was Ihnen vorschwebt. Eine andere Alternative will die Institute wenigstens mittel- bis langfristig in den Universitäten sehen. Auch dafür spricht einiges; denn im Normalfall ist das keine außeruniversitäre, sondern eine durchaus mit Universitäten zusammenhängende Aufgabe. Dies würde bedeuten, daß die Länder die Institute über den Hochschuletat finanzieren. Daß diese sich alle einig sind, besser ein Blaue-Liste-Institut zu gründen, ist nicht neu. Am liebsten würden sie eine Großforschungseinrichtung gründen, bei der der Bund 90 % zahlt. Aber dies kann nicht das einzige Kriterium dafür sein, ob wir es tun. ({7}) - Lassen Sie mich noch den Satz zu Ende führen. Vielleicht ist Ihre Frage damit beantwortet. Der BMFT, Herr Kollege Catenhusen, hat im Augenblick im Rahmen dieser Diskussion eine Präferenz für die auch von namhaften Vertretern der Wissenschaft gestützte zweite Alternative. Aber auch hier wollen wir uns nicht drücken: Sollten wir zur zweiten Alternative - also: kein Blaue-Liste-Institut - kommen, ist der BMFT bereit, sich für eine übergangsweise Anschubfinanzierung des Bundes einzusetzen. Aber - ich fasse jetzt zusammen -: Die Diskussion ist nicht zu Ende. Wir erwarten den Vorschlag der Max-Planck-Gesellschaft und das Votum des Wissenschaftsrates. Dann werden wir gemeinsam zu einer Entscheidung kommen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte schön, Herr Abgeordneter.

Josef Vosen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002395, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß es sich bei der Aufarbeitung der Geschichte der DDR vorrangig um eine gesamtstaatliche Aufgabe handelt und nicht um eine reine Länderangelegenheit? Es kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein, wenn Sie sagen, das sei eine Angelegenheit allein der neuen deutschen Länder.

Bernd Neumann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001593

Ich lehne ohnehin die Tendenz ab, die wir im Augenblick in der aktuellen verteilungspolitischen Diskussion haben, daß wir, wenn wir von „gesamtstaatlich" sprechen, immer nur den Bund meinen und permanent separieren. Bund wie Länder sind der Gesamtstaat. ({0}) Ich halte es für verfehlt, bei der Diskussion, die jetzt über das Föderale Konsolidierungsprogramm stattfindet, zu meinen, „gesamtstaatlich" sei immer nur der Bund. Solche Diskussionen gibt es immer dann, wenn es ums Geld geht. Wenn es um Entscheidungen geht, handelt es sich meist um Aufgaben, über die die Länder zu befinden haben. Ich bin der Auffassung, „gesamtstaatliche Aufgabe" heißt, daß Bund und Länder gemeinsam überlegen, was zu tun ist. Der Bund will ja etwas tun - er tut auch etwas -, aber die Länder sind genauso einbezogen. Herr Kollege Vosen, ich habe doch deutlich gemacht: Selbst wenn es kein Blaue-Liste-Institut wird, sind wir bereit, im Rahmen einer Anschubfinanzierung unseren Beitrag zu leisten. Lassen Sie mich zum Abschluß sagen: Es ist schon heute klar - ich finde, das ist für die Kollegen der neuen Bundesländer erfreulich -, daß es zu einem Schwerpunkt der Forschung über die DDRGeschichte in Potsdam kommen wird. Wir sind uns darin mit dem Land Brandenburg im übrigen einig. Dieser Schwerpunkt in Brandenburg wird nicht monostrukturell sein, sondern es wird ein breites Spektrum von Themen und Ansätzen geben, wie das unserer Verfassung und unserem gemeinsamen Verständnis von Wissenschaftsfreiheit entspricht. Außerdem - das möchte ich noch einmal betonen -: Es werden Fachleute aus dem Bereich der neuen Bundesländer an dieser Forschung maßgeblich beteiligt sein. Im übrigen wollen wir uns dafür einsetzen, daß auch für die Außenstelle, das Münchener Institut, eine Durchmischung stattfindet. Das heißt, wir wollen dort nicht nur westdeutsche, sondern auch ebenso qualifizierte ostdeutsche Wissenschaftler haben. Die Bundesregierung begrüßt, daß es in dieser Frage eine Abstimmung zwischen den beiden Ländern Brandenburg und Bayern gibt und daß Brandenburg einen solchen essentiellen Beitrag zu einem großen zeitgeschichtlichen Forschungsschwerpunkt in Potsdam grundsätzlich befürwortet. Ich begrüße es, daß es inzwischen zwischen den beiden wissenschaftlichen Leitern der hier zitierten Einrichtungen Gespräche mit konkreten Ergebnissen über die Abgrenzung gibt. Das heißt, beide tun nicht dasselbe, sondern man verständigt sich darauf, wer welche Themen schwerpunktmäßig bearbeitet. Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Bundesregierung hat die Umsetzung der Empfehlungen des Wissenschaftsrats zu den geisteswissenschaftlichen Zentren nach dem bisherigen Empfehlungsstand unterstützt. Die Entscheidungen über die Weiterentwicklung stehen erst an, sobald die verabredeten Empfehlungen des Wissenschaftsrates vorliegen. Die Bundesregierung versteht die Aufgabe der zeitgeschichtlichen Forschung darüber hinaus dezidiert als Aufgabe der gesamten zeitgeschichtlichen Forschung in den Hochschulen, in den bestehenden außeruniversitären zeitgeschichtlichen Institutionen wie auch in eventuellen institutionellen Ergänzungen, sei es durch Verstärkung an den Universitäten oder auch durch die Einrichtung außeruniversitärer Forschungszentren. Meine Damen und Herren, ich gebe dem Kollegen Vosen, was die Tendenz seiner Frage betrifft, ausdrücklich recht: Dies ist eine gesamtdeutsche Aufgabe, die nur unter Beteiligung von Wissenschaftlern aus dem Westen wie aus dem Osten getragen werden kann und die natürlich, was die finanziellen Möglichkeiten betrifft, unter Beteiligung aller bewältigt werden muß. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile dem Abgeordneten Markus Meckel das Wort.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Der letzte Satz, sehr geehrter Herr Staatssekretär, macht Hoffnung, daß hier eine wirkliche Lösung gefunden werden kann. Ich will sehr grundsätzlich auf die Frage der historischen Aufarbeitung der DDR-Geschichte eingehen. Wir haben 40 Jahre DDR und ihre Vorgeschichte hinter uns, die uns - nicht nur uns aus dem Osten - geprägt haben. Uns allen ist klar, daß die Geschichte der Bundesrepublik nicht ohne die Geschichte der DDR zu verstehen ist. Diese Geschichte hat Folgen. Wir haben uns hier im Bundestag sehr oft mit diesen Folgen befaßt, und zwar in verschiedenen Richtungen, etwa mit der Rehabilitation und der Entschädigung und wir haben das Stasi-Unterlagengesetz verabschiedet, das auch im Vergleich mit anderen ehemals kommunistischen Ländern einzigartig und insgesamt als ganz wichtig hervorzuheben ist. Wir müssen insgesamt sogar feststellen, daß sehr viele Gesetze, die wir hier verabschieden, nicht mehr ohne Blick auf diese Geschichte verabschiedet werden können; denn diese 45 Jahre haben die Verhältnisse eines Teiles Deutschlands tief geprägt. Vom Rentenrecht bis zu Eigentumsfragen und vielen anderen Bereichen müssen sehr viele Gesetze in diesem Haus diese Geschichte konkret berücksichtigen. Dies kann nicht anders sein; denn das ist einfach die logische Folge der Tatsache, die noch nicht in allen Köpfen angekommen ist, daß Deutschland heute nicht nur die Fortsetzung der alten Bundesrepublik ist, sondern im letzten halben Jahrhundert eine zwar eng aufeinander bezogene, aber so getrennte Geschichte hatte, beide Geschichten aber die Geschichte des heutigen geeinten Deutschlands ausmachen, mit allen Chancen und Errungenschaften, die mehr im Westen liegen, aber auch mit allen Schwierigkeiten und Problemen, die nicht nur im Osten liegen. Deutschland ist ein neues Deutschland auf den Grundlagen der alten Bundesrepublik geworden. Die damit verbundene Herausforderung begreifen wir alle wahrscheinlich erst nach und nach. Dazu gehört die Analyse der Situation heute genauso wie die Bestimmung dessen, was Deutschland künftig sowohl innerhalb unseres Landes als auch in Europa sein will. Dazu gehört, daß wir diese Geschichte ernst nehmen und zum Thema machen. Morgen ist es ein Jahr her - darauf ist schon hingewiesen worden -, daß die Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte eingesetzt worden ist. Diese Enquete-Kommission hat Empfehlungen u machen. Sie hat den Auftrag, sich um den Erhalt, die Sicherung und Öffnung der einschlägigen Archive zu bemühen. - Dies ist hier nicht Thema. Aber es soll hier nicht nur um die Archive im Osten, sondern auch um die im Westen gehen. Da ist noch manches zu tun. Es geht uns dann als Enquete-Kommission aber auch darum, die Voraussetzungen für die wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Geschichte zu verbessern. Wir Deutschen sind in Europa wohl das Volk, das sich am wenigsten kennt. Die unterschiedliche Geschichte in Ost und West hat uns geprägt, unser Denken und Verhalten, unser Wahrnehmen und Verdrängen. Wir wissen noch viel zuwenig voneinander und haben allzuoft bei unterschiedlichen Erfahrungen miteinander sehr vorschnelle Erklärungsmuster. Die Aufarbeitung der Vergangenheit - darüber sind wir uns einig - ist dringend erforderlich und nicht nur Sache des Bundestags, sondern ein breiter gesellschaftlicher Prozeß. ({0}) Auseinandersetzung mit Geschichte hat etwas mit Identität zu tun. Ich habe den Eindruck, da gibt es für uns alle noch viel zu tun und auch zu streiten. Ich glaube jedenfalls, daß wir uns unabhängig von der Parteizugehörigkeit keineswegs darin einig sind, wie wir als Deutsche und als Demokraten unsere nationale Identität im Europa unserer Tage und der Zukunft beschreiben wollen. Um sich unserer als geteilten gemeinsamen Geschichte wirklich zu stellen, sind Regierung, Parlament und andere, die breite Öffentlichkeit, Schriftsteller und Justiz, gefordert. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit der Geschichte und - soviel ist klar Markus Meckel auch mit der Geschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte. In der Vergangenheit war die Betrachtung der Geschichte nicht so möglich, wie sie heute möglich ist. Im Osten gab es dafür strukturelle Gründe: Wir hatten da eine Geschichtsschreibung sehr weitgehend als Hofberichterstattung und Geschichtsklitterung à la George Orwells „ 1984 " und im Sinn des dortigen Geschichtsministeriums. Aber auch im Westen kümmerten sich nur wenige um diese Geschichte. Die Mannheimer Arbeitsstelle ist schon erwähnt worden. Sie hat übrigens, Herr Kollege Mahlo, nicht alles befürwortet, was in der DDR stattfand. Dafür war Mannheim bekannt. Wir haben heute eine Fülle von neuen Akten, die bewältigt werden müssen. Generationen von Historikern haben ihre Arbeit daran. Wir wollen, daß diese Arbeit gezielt und plural geschieht. Wir diskutieren heute über die Frage, ob dafür ein eigenständiges Institut notwendig ist. Bei allem, was ich gesagt habe, habe ich im Grunde genommen die Ausführungen von Herrn Vosen noch einmal aufgegriffen: Das, was hier zu tun ist, ist eine nationale Aufgabe, die etwas mit unserer nationalen Identität zu tun hat. Deshalb begrüßen wir es sehr, daß Sie, Herr Staatssekretär, sagen, dies sei schon für die Gespräche eine Voraussetzung und der Bund entziehe sich hier nicht seiner Verantwortung und finanziellen Verpflichtung. Doch halten wir es für wichtig, daß einer solchen allgemeinen Voraussetzung Strukturen folgen und daß nicht nur eine Anschubfinanzierung geleistet wird. Wir haben Erfahrungen mit dem Institut für Zeitgeschichte in München. Wir alle sind uns einig, daß dieses „Blaue-Liste-Institut" bei der Aufarbeitung des Nationalsozialismus eine hervorragende Rolle gespielt hat, daß sein Beitrag kaum überschätzt werden kann und daß es keinen Zentralismus und kein Monopol gab, auf Grund dessen so etwas nur dort gemacht worden wäre. Uns erscheint es wichtig, daß es ein eigenständiges Institut für Zeitgeschichte mit einer ähnlichen Struktur gibt, das dann in ähnlicher Weise natürlich mit den Universitäten und anderen Stellen zusammenarbeitet. Aber wir haben hier eine spezifische Fragestellung. Daher wäre es nicht gut, das Institut nur im Sinn einer Außenstelle von München aus zu betreiben, weil es zwar bestimmt viele Beziehungen und manche Ähnlichkeiten zwischen den Diktaturen gibt, diese aber grundlegend anderer Natur sind und sehr unterschiedlich die deutsche Situation im 20. Jahrhundert geprägt haben. ({1}) Deshalb braucht es eine eigene Methodik, ein eigenes Herangehen und darum auch einen eigenen Ort. ({2}) Potsdam war aus den hier schon genannten Gründen unbestritten. Ich will das nicht weiter ausführen. Nach meiner Ansicht ist es aber auch besonders wichtig, deutlich zu machen, daß es natürlich nicht um ein Monopol geht, sondern daß im Interesse der Wissenschaftslandschaft in den östlichen Ländern, die ja nun ziemlich ausgeräumt ist, ein ganz wichtiger Akzent gesetzt werden muß, der etwas mit der Geschichte zu tun hat, die die Menschen in diesem Teil Deutschlands in besonderer Weise zu Betroffenen gemacht hat. Die Forschungsstelle soll interdisziplinär arbeiten. Damit sind wir bei einer besonderen Eigenart, die jedenfalls unserer Vorstellung entspricht und die auch jetzt schon in der Forschungsstelle unter der Ägide der Max-Planck-Gesellschaft praktiziert wird. Es ist ebenso wichtig, daß Menschen aus Ost und West hier zusammenarbeiten, ganz gewiß nicht die Baalspriester des alten Systems, die alles gutgeredet haben, sondern solche Wissenschaftler, die in der Vergangenheit meinetwegen auch in Instituten gearbeitet haben, aber sich nichts in dem Sinne haben zuschulden kommen lassen, daß sie - für mich haben Geschichte und Wissenschaft immer noch etwas mit Wahrheit zu tun - einfach nur nach dem Munde der Herrschenden redeten. Hier sollen Menschen aus Ost und West zusammenarbeiten und einen Ort der gemeinsamen Beschäftigung mit der unsere Identität entfaltenden und ausmachenden Geschichte finden. Deshalb hoffen wir, daß wir im Sinne dieses Antrags zu einem Ergebnis kommen, mit dem wir alle nicht nur gut leben können, sondern das auch wirklich Perspektiven eröffnet. Vielen Dank. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor, so daß ich Sie bitten kann, dem Vorschlag des Ältestenrats auf Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 12/3471 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu folgen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Ich darf das als beschlossen feststellen. Ich rufe den Punkt 10a und b der Tagesordnung auf: a) Erste Beratung des von der Abgeordneten Ingrid Köppe und der Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung der Geheimdienstgesetze - Drucksache 12/4402 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({0}) Verteidigungsausschuß Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid Köppe und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Maßnahmen zur Auflösung des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Militärischen Abschirmdienstes und des Bundesnachrichtendienstes - Drucksache 12/4403 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({1}) Verteidigungsausschuß Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine 10-MinutenRunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Es ist so beschlossen. Ich eröffne die Debatte und erteile der Abgeordneten Frau Köppe das Wort.

Ingrid Köppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001159, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Redezeit, die mir zur Verfügung steht, würde wahrscheinlich nicht ausreichen, all die Skandale der deutschen Geheimdienste aufzuzählen. Deswegen möchte ich beispielhaft nur an einiges aus der jüngsten Zeit ab 1990 erinnern, als die westdeutschen Geheimdienste ja eine Zuständigkeit auch für Ostdeutschland erhielten. In diesem Zeitraum organisierte der Bundesnachrichtendienst u. a. den sogenannten LandmaschinenExport und schützte und betreute auch den StasiOberst Schalck-Golodkowski alias Gutmann. Der Verfassungsschutz machte seit 1990 u. a. durch Intrigen gegen einen mißliebigen Datenschützer in Brandenburg, durch diskriminierende Personalüberprüfungen in Firmen, durch Bekanntgabe von 1,5 Millionen Personendatenspeicherungen in den Ämtern und durch das offenbar werdende Versagen seiner Geheimschutzabteilungen gegenüber den Stasi-Spionen - nicht nur im eigenen Haus - auf sich aufmerksam. Vom Militärischen Abschirmdienst wurde kürzlich bekannt, wie freigebig er seine Großtaten über Jahre hin einem Stasi-Autor in dessen angebliches Buchmanuskript diktiert hatte. Die Leistungsbilanz der deutschen Geheimdienste insgesamt stellt sich sehr düster dar. Der BND hat wesentliche politische Entwicklungen wie z. B. die Krise in Polen 1981 oder den Putschversuch in der UdSSR 1991 nicht erkannt. Wenn Erkenntnisse - z. B. 1988 über deutsche Exporte nach Rabta - an die Regierung vermeldet wurden, blieb dies ohne Folgen, weil es politisch nicht paßte, wie übrigens in vielen anderen Fällen. Der BND hatte angeblich nicht bemerkt, daß RAF-Angehörige auf Fahndungsplakaten längst im DDR-Exil waren, auch wenn wir an dieser Version erhebliche Zweifel haben. Die Anstrengungen des Militärischen Abschirmdienstes haben die Bundeswehr nicht von Spionage freihalten oder vor angeblich extremistischer Beeinflussung durch die Friedensbewegung bewahren können. Die Wehrmüdigkeit hat zu- und die Identifizierung mit dem Militär abgenommen. Auch der Verfassungsschutz ist nicht effektiver. Die Leistungen des Geheimschutzes etwa sind eine einzige „Satire", meint selbst der Bremer Verfassungsschutz-Chef. Das Aufkommen des Terrorismus und den Fortbestand der RAF hat der Verfassungsschutz nicht verhindert, geschweige denn ein einziges Attentat. Nach den offiziellen Staatsschutzstatistiken von 1975 bis 1985 hat der Verfassungsschutz in höchstens 1,3 % der Ermittlungsverfahren überhaupt mit Hinweisen dienen können. Den sogenannten Linksextremismus hat nicht der Verfassungsschutz, sondern vor allem das Ende des Realsozialismus in die heutige politische Bedeutungslosigkeit getrieben. Das Aufkommen von Rechtsextremismus und Neonazis hat der Verfassungsschutz in der Vergangenheit nicht erkannt, heruntergespielt, jedenfalls nicht verhindern können oder wollen. Vielfach wurden sogar neonazistische Aktivitäten durch V-Leute des Verfassungsschutzes gefördert oder erst angeschoben. Fragen nach der Effektivität, denen sich jedes Wirtschaftsunternehmen mit einer Jahresbilanz stellen muß, werden von den Geheimdiensten gern mit dem Einwand abgewimmelt, die richtig großen Erfolge könne man aus Gründen des Quellenschutzes leider nicht bekanntgeben. Wenn nun ernstlich Bereitschaft bestünde, die Arbeit der Dienste nüchtern zu resümieren, kann man eigentlich nur zu dem von uns gezogenen Schluß kommen und sagen: Auflösen, abwickeln! Dies wird ja derzeit im Stahlbereich angesichts der dortigen Konjunkturkrise wie selbstverständlich exerziert. Für die weit größere und ebenso internationale Krise der Geheimdienste sollte nichts anderes gelten. Zur Abwicklung stehen beim Bundesnachrichtendienst, beim Militärischen Abschirmdienst und beim Bundesamt für Verfassungsschutz rund 12 000 Bedienstete und jährliche Aufwendungen von -- offen ausgewiesenen - 480 Millionen DM zur Verfügung; einschließlich weiterer Zuwendungen ist es rund 1 Milliarde DM. Dies ist ein Topf, der bei der heute begonnenen Klausursitzung im Kanzleramt unbedingt bedacht werden sollte, bevor man bei der Arbeitslosen- oder der Sozialhilfe kürzt. Was machen die Dienste zur Zeit? Die Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz tingeln zu diversen Tagungen und Kongressen und beschwören die Wichtigkeit der Geheimdienste, besonders gegen Neonazis, Mafia und Organisierte Kriminalität. Eine Wanderausstellung durch die neuen Länder soll glauben machen, der Name Verfassungsschutz stehe für die primäre Aufgabe und die eigentliche Zielsetzung des Verfassungsschutzes, nämlich der „Schutz der Staatssicherheit", sei vergessen. Das Landesamt des Verfassungsschutzes in Mecklenburg-Vorpommern präsentiert sogar per Comic und Knittelvers einen Skinhead Leo und eine attraktive Verfassungsschützerin namens Conni Controletti. Eine kleine Leseprobe: Und sie strahlt wie Sonnenschein bis in Leos Herz hinein. Diese Dame kann ihm nützen und noch die Verfassung schützen. Der Comic endet mit der Aufforderung, Denunzianten mögen im Innenministerium unter dem Stichwort „Conni Controletti" anrufen. Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes fordern in den Bundestagsausschüssen und auf Tagungen von Wirtschaftsverbänden neue Aufgaben und Befugnisse, denn die Parlamentarische Kontrollkommission hat jetzt bestätigt: Die angemaßten Aktivitäten des BND im Bereich des internationalen Drogen-, Nuklear- und Waffenhandels sind nicht vom BNDGesetz gedeckt, also rechtswidrig. Daraus sollten Konsequenzen gezogen werden, statt nun das BND-Gesetz womöglich zu erweitern. Positives ist von diesen Arbeitsbeschaffungsaktivitäten des BND kaum zu erwarten. Zunächst ist daran zu erinnern, daß für beide Bereiche die nationalen und internationalen Strafverfolgungsbehörden zuständig sind, von Interpol über das BKA und die Landeskriminalämter bis hin zum Zollkriminalinstitut. Im Bereich des Waffenhandels erschien der BND in der Vergangenheit eher als Beteiligter denn als geeigneter Überwacher. Ich nenne nur die Stichworte Dobbertin, Merex, Pamir, Cerberus. ({0}) Auch als Überwacher des Nuklearhandels aus der GUS hat sich der BND ins Gespräch gebracht, u. a. durch die kürzlich vereinbarte Kooperation mit dem „gelifteten" KGB-Nachfolgedienst. Ohne das Problem Atomexport verharmlosen zu wollen, ist der Bedarf an BND-Aktivitäten doch sehr in Frage zu stellen. Es ist daran zu erinnern, daß z. B. der neue CIA-Direktor vor gerade zwei Wochen im Kongreß erklärte, es gebe „keinerlei zuverlässige Berichte" über den Export von Nuklearwaffen oder Unterlagen zu deren Herstellung aus der GUS. Auch wenn der BND nun die Befugnis zum Abhören und Auswerten von Inlandstelefonaten beansprucht, ist der Bedarf sehr zu bezweifeln - von der Kritik an erneuten Grundrechtsverkürzungen für solche Lauschangriffe einmal ganz abgesehen. Dem Zollkriminalinstitut sind gerade im letzten Jahr sehr weitreichende präventive Abhörbefugnisse eingeräumt worden - die Verfassungsklage dagegen läuft noch -; jedenfalls ist das mehr als genug. Fazit: In der Übertragung neuer Aufgaben auf die Dienste, im Aufpolieren ihres Images liegt keine Perspektive für die Geheimdienste. Ebensowenig ist es mit bloßen Reförmchen wie der Novelle des Gesetzes über die Parlamentarische Kontrollkommission im letzten Jahr getan. Die Rolle dieser Kontrollkommission wird treffender beschrieben mit „Vertrauensmännergremium", dem Begriff, unter dem der BNDGründer Gehlen diese Parlamentarische Kontrollkommission einst initiiert hatte. Effektive Kontrolle durchs Parlament oder gar Öffentlichkeit und geheim arbeitende Dienste stehen in unauflöslichem Gegensatz zueinander. Daher fordert die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nach intensiver, über ein Jahr währender interner Diskussion sowie Abwägung aller Für und Wider, die Geheimdienstgesetze aufzuheben und die Behörden möglichst sozialverträglich abzuwickeln. Die Mitarbeiter sollten sukzessive in andere Bereiche überführt werden. Wir halten dies für ein großzügiges Angebot, denn wenn die Einschätzung des Bremer Verfassungsschutzchefs zutrifft, bei ihrer heutigen Struktur hätten die Dienste „keine Chance, die Jahrtausendwende zu überleben", kann es auch für die Mitarbeiter nur schlechter kommen. Unsere Initiative verlangt ferner die Sicherung dagegen, daß die Aufgaben der Dienste nach deren Abwicklung auf andere Behörden übertragen werden, vor allem auf die Polizei. Die Informationssammlungen der Dienste sollen gegen Vernichtung geschützt und nach den grundsätzlich bewährten Regelungen des Stasi-Unterlagengesetzes den Betroffenen sowie der historischen Forschung zur Einsicht und Auswertung zur Verfügung gestellt werden. Ich bitte Sie um vorbehaltloses Nachdenken über unsere Initiative und danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Als nächster hat der Kollege Dr. Rolf Olderog das Wort.

Dr. Rolf Olderog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sicher, Geheimdienste sind in einer Demokratie, die auf Transparenz und Offenheit auch im staatlichen Handeln angelegt ist, gleichsam Ausnahmeerscheinungen. Daß sie von daher gelegentlich mit Mißtrauen beobachtet werden, daß sie die Phantasie beschäftigen und manchen Journalisten manchmal zu abenteuerlichen Grusel- und Spekulationsgeschichten verführen, ist wohl unvermeidbar. Aber eine so tiefgreifende Verkennung und Fehleinschätzung unserer Geheimdienste, wie sie sich in der Rede von Frau Kollegin Köppe und in den Begründungen ihrer Fraktion zum Antrag widerspiegeln, kann ich nur damit erklären, daß Frau Köppe als ostdeutsche Kollegin weitgehend ihre bitteren Erfahrungen mit dem Staatssicherheitsdienst des SEDUnrechtsregimes auf unsere Dienste überträgt. ({0}) Aber zwischen der Stasi in der früheren DDR und den Geheimdiensten der Bundesrepublik gibt es - abgesehen vom Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel - keinerlei Gemeinsamkeiten. Im Gegenteil, sie unterscheiden sich fundamental: wie Feuer und Wasser, wie Tag und Nacht, wie Recht und Unrecht. Die Stasi war das Instrument einer menschenverachtenden Diktatur zur Unterdrückung, zur Einschüchterung und Korrumpierung ihrer Bürger, ja zur physischen Vernichtung ihrer Gegner und Kritiker bis hin zum brutalen Mord.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Kollege Olderog, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Köppe?

Dr. Rolf Olderog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Noch einen Satz. Das Bundesamt für Verfassungsschutz, der Bundesnachrichtendienst und der Militärische Abschirmdienst sind die von einem freiheitlich gewählten Parlament zum Schutze des demokratischen Staates und seiner freiheitlichen Ordnung vorgesehenen Institutionen, verankert in Recht und Gesetz und auf diese auch verpflichtet, kontrolliert durch das gesamte Parlament und durch spezielle Parlamentarische Kontrollkommissionen im besonderen wie auch durch innerdienstliche Vorkehrungen innerhalb der Regierung.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Frau Kollegin Köppe, bitte.

Ingrid Köppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001159, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich entgegen Ihrer Feststellung nicht meine Erfahrungen mit dem MfS auf westdeutsche Geheimdienste übertrage, sondern hingegen seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ausreichend Zeit hatte, mich sachkundig zu machen, sehr viel über die Tätigkeit der westdeutschen Geheimdienste gelesen habe, mehrere Anfragen zu dem Thema gestellt habe, intensiv in Ausschüssen des Bundestages mitarbeite, in denen u. a. auch die westdeutschen Geheimdienste ein Thema sind, so z. B. auch im 1. Untersuchungsausschuß, der sich mit den Machenschaften des Bereiches Kommerzielle Koordinierung beschäftigt und u. a. auch die Beziehungen von westdeutschen Geheimdiensten zu diesem Bereich untersucht?

Dr. Rolf Olderog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Köppe, ich kann verstehen, daß Sie dieser Meinung sind. Als Mitglied der PKK weiß ich aber, daß Sie sich irren. ({0}) Meine Damen und Herren, natürlich hat sich die Welt in den letzten Jahren grundlegend verändert. Aber leben wir wirklich in einer Zeit, in der wir die Nachrichtendienste abschaffen könnten? Ist die Sicherheit unserer Bürger und unseres Staates heute nicht mehr von innen und außen bedroht? Jeder sieht und weiß, daß davon überhaupt keine Rede sein kann. Ja, fast scheint es, als seien die Risiken für unsere Sicherheit nicht Meiner, sondern sogar größer, vielfältiger und unübersichtlicher als in den Jahren vor dem Umbruch geworden. Auch nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme sind daher die bewährten Instrumente unserer Sicherheit unverzichtbar - und dazu zählen das Bundesamt für Verfassungsschutz, der Militärische Abschirmdienst und der Bundesnachrichtendienst. Dem Verfassungsschutz obliegt es, Entwicklungen rechtzeitig zu erkennen, die zu einer Aushöhlung der freiheitlichen Grundprinzipien unserer Verfassung führen. Es geht vor allem um die Abwehr und die Bekämpfung ihrer extremistischen Gegner, sei es von rechts oder von links. Er ist eine Art Frühwarnsystem. Schon im Vorfeld des polizeilichen Gefahrenbereichs oder der Strafbarkeit soll er verfassungsfeindliche Bestrebungen, ihre Stärke, ihre Entwicklung, ihr Gewaltpotential erkennen. Er soll darüber Regierung, Parlament und Öffentlichkeit informieren, die Gefährdungen bekannt und bewußt machen. Auch unter veränderten Bedingungen sind die Aufgaben des BfV keineswegs entfallen, und zwar die Aufklärung extremistischer Bestrebungen, insbesondere wenn Gewalttätigkeiten damit verbunden sind, sicherheitsgefährdender und extremistischer Bestrebungen von Ausländern, gegnerischer Spionage. Auch hier haben sich natürlich die Akzente und Schwerpunkte verschoben, woraus im übrigen schon Konsequenzen in der Zahl und der Struktur der Dienste gezogen worden sind. Wir alle wissen, daß die Mitgliederzahlen rechtsradikaler Organisationen gestiegen sind, ebenso die Zahl der Gewalttaten mit rechts- und linksextremistischem Hintergrund. Wir wissen, daß in der neonazistischen Szene rassisch motivierter Fremdenhaß und militanter völkischer Nationalismus zu brutalen Gewalttätigkeiten führen und daß sich die Auseinandersetzungen zwischen links- und rechtsextremistischen Gruppen - ich erinnere an die Antifa-Bewegung der Autonomen - verschärfen. Die Eskalation an Militanz und Gewalttätigkeit ist nicht zu übersehen. Insbesondere auch die Gewalttätigkeiten international operierender extremistischer Ausländervereinigungen haben zugenommen. Was die Spionageabwehr angeht, so ist zwar mit den DDR-Diensten der langjährige Hauptgegner weggefallen, aber selbst die neuen östlichen Demokratien bauen solche Nachrichtendienste auf, und im Westen ist es nach wie vor eine Selbstverständlichkeit, daß diese Dienste dort vorhanden sind. Es wäre blauäugig, zu meinen, daß die Spionage jetzt aus unserer Welt verschwunden wäre. Sie ist, statt auf ideologische Maximen ausgerichtet zu sein, jetzt vorwiegend auf nationale und wirtschaftliche Interessen ausgerichtet. Meine Damen und Herren, der Bundesnachrichtendienst klärt weltweit Entwicklungen auf, die für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik von Bedeutung sind. Dieser Grundauftrag ist auch nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme unverändert, auch wenn sich Akzente und Schwerpunkte im Blick auf neue Risiken für die Sicherheit unseres Landes verlagert haben. ({1}) Ich habe schon gesagt, daß die Weltlage komplexer und differenzierter geworden ist, also nicht einfacher. Auch wenn demokratische Entwicklungen aus alten Gegnern zunehmend Partner machen und gegenseitiges Mißtrauen allmählich abgebaut wird und einer größeren Offenheit weicht, ist für eine realistische Einschätzung der Situation weiterhin eine nachrichtendienstliche Informationsgewinnung unerläßlich. In der heutigen Situation sind z. B. Informationen des BND unverzichtbar: über die schwer kalkulierbare Entwicklung in den osteuropäischen Staaten, über die krisengeschüttelten Regionen in Nah- und Mittelost mit ihren besorgniserregenden Aufrüstungsbestrebungen und einem wachsenden Einfluß des islamischen Fundamentalismus, über den internationalen Terrorismus, von dem New York gerade eine „Kostprobe" erfahren hat, und über den illegalen Technologietransfer. Uns beunruhigt die Proliferation von ABC-Waffen und Trägersystemen, die unserer Rüstungskontrollpolitik zuwiderlaufen und schwere außenpolitische Schäden verursachen können. Der Militärische Abschirmdienst - dazu aus Zeitgründen nur ein Stichwort - nimmt ähnliche Aufgaben im militärischen Bereich wahr wie sonst der Verfassungsschutz. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich etwas zu den angeblich fortwährenden „Skandalen" bei den Nachrichtendiensten sagen. Natürlich: Wo Menschen arbeiten, da kommt es auch zu Fehlern. Das ist bei Nachrichtendiensten nicht anders als bei anderen Verwaltungen. Im Unterschied zu anderen Behörden aber wird bei den Nachrichtendiensten, deren Tätigkeit notwendigerweise weniger öffentlich und transparent sein kann, jedes Fehlverhalten sogleich als riesiger Skandal hochgezogen und in die Öffentlichkeit hinausposaunt. Die Erfolge der Dienste bleiben leider meist unbemerkt, oft kann auch nicht darüber geredet werden. Sie machen jedenfalls nur selten Schlagzeilen. Meine persönlichen Erfahrungen als Mitglied der PKK besagen: Bei den so oft behaupteten „Skandalen" der Dienste spielt tatsächlich nur bei einem kleinen Teil menschliches Fehlverhalten eine Rolle. Meist haben wir in der PKK bei genauerer Untersuchung feststellen können, daß es sich um geringfügige Fehler gehandelt hat oder gar jeder Vorwurf unbegründet war. Nun greife ich den angeblichen Superskandal auf, den auch Sie angesprochen haben, als die Medien glaubten, den BND beim illegalen Waffenhandel erwischt zu haben. Sie erinnern sich der als „Landmaschinen" etwas urprofihaft auf den Weg nach Israel gebrachten Waffen. Nachprüfungen haben ergeben, daß die zuständigen Stellen korrekt die dafür notwendigen Sachentscheidungen getroffen haben. Offen bleibt leider bis heute die von der Staatsanwaltschaft noch nicht abschließend geklärte Frage, ob der BND eine Transportgenehmigung hätte einholen müssen. Diese wäre unproblematisch erteilt worden. Schlimmstenfalls, wenn die Staatsanwaltschaft das so beurteilen sollte, bleibt also ein geringfügiger formeller Rechtsverstoß. Es ist nicht untypisch, daß über die den BND vollständig oder fast vollständig entlastende Aufklärung so gut wie nichts in der Presse zu lesen stand, ja daß es gar keinen mehr interessiert. Mein Eindruck ist, daß sich nicht nur die Bundesregierung, die Chefs und die Leitungen der Dienste peinlich um rechtsstaatliches Verhalten bemühen, sondern daß dies durchweg auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Dienste gilt. Ja, ich möchte sogar sagen, daß die gegenüber den Diensten besonders mißtrauische und kritische Sicht der Medien, bestimmter Abgeordneter und der Öffentlichkeit gelegentlich zu einer übertriebenen Zurückhaltung und zu Handlungsverzicht der Dienste auch dort führt, wo Recht und Gesetz einwandfrei Handlungsermächtigungen bieten. Andere Dienste im Ausland haben mehr Selbstsicherheit und können damit erfolgreicher arbeiten. Ich akzeptiere so auch nicht den Vorwurf der Ineffizienz unserer Dienste. Auch wenn ich selbst gelegentliche Schwächephasen nicht übersehen kann, so können die Dienste doch auf eine Reihe von Erfolgen verweisen. Ich kann dies leider aus zeitlichen Gründen nicht mehr darstellen. Ich persönlich habe Vertrauen zu unseren Diensten und danke allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihren oft unter sehr schwierigen Bedingungen zu leistenden und mit persönlichem Verzicht verbundenen Dienst. ({2}) -- Es hätten noch ein paar mehr klatschen können.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Sie sind am Ende Ihrer Redezeit.

Dr. Rolf Olderog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Noch ein Wort zu den behaupteten Spannungen, die es zwischen den Mitgliedern der PKK einerseits und dem Koordinator für die Nachrichtendienste und den Chefs der Dienste andererseits gegeben haben soll. Es hat tatsächlich in zurückliegender Zeit eine erhebliche Belastung des Klimas in der PKK gegeben, nicht zuletzt auch ausgelöst durch gelegentliche Indiskretionen. Das ist seit längerem anders. Die Informationswünsche - Herr Hirsch, ich denke, ich kann das sagen - der Abgeordneten in der PKK werden erfüllt. Die Dienste suchen gelegentlich auch schon im Vorfeld schwieriger Entscheidungen den Meinungsaustausch mit der PKK: Es gibt keine Indiskretionen.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Kollege Olderog, ich bin im Moment sehr großzügig. Gelangen Sie dann bitte zum Ende?

Dr. Rolf Olderog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann schließe ich, Frau Präsidentin. Zusammenfassend darf ich sagen: Die Nachrichtendienste sind nach meiner Auffassung keine störenden Fremdkörper im freiheitlichen Rechtsstaat. Sie sind notwendiger Bestandteil unserer rechtsstaatlichen Ordnung. Die CDU/CSU-Fraktion gibt den Nachrichtendiensten ihren vollen Rückhalt, Vielen Dank. ({0})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Als nächster hat das Wort der Kollege Günter Graf.

Günter Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000719, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung den Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Thema „Aufhebung der Geheimdienstgesetze" und zu den „Maßnahmen zur Auflösung des Bundesamtes für den Verfassungsschutz, des Militärischen Abschirmdienstes und des Bundesnachrichtendienstes". Lassen Sie mich vorweg grundsätzlich folgendes bemerken: Beide hier heute zur Debatte stehenden Vorlagen sind inhaltsgleich und bieten keine neuen Erkenntnisse gegenüber den Anträgen, die die GRÜNEN auf der Bundestagsdrucksache 11/6249 am 17. Januar 1990 eingebracht haben. Diese Anträge sind in diesem Haus am 31. Mai 1990 beraten worden. Dennoch, verehrte Kolleginnen und Kollegen, denke ich, daß es Aufgabe der Politik ist und sein muß, sich den veränderten Verhältnissen stets anzunehmen und Überlegungen anzustellen, ob die dafür vorgesehenen Instrumente noch zeitgemäß sind. Festzustellen ist - insofern stimmen wir sicherlich, was die Begründung der heute zu beratenden Vorlagen angeht, in diesem Hause in einem Punkte überein -: Die dramatischen Veränderungen in den Staaten, die wir in der Vergangenheit als unsere potentiellen Gegner betrachtet haben, haben es notwendig gemacht, unser klassisches Feindbild zu revidieren und den neuen Realitäten auch bei der Formulierung der Aufträge für die Nachrichtendienste Rechnung zu tragen. Dies ist teilweise schon geschehen bzw. wurde in den vergangenen Jahren bereits geplant. So wurden bzw. werden unter dem Gesichtspunkt der völlig veränderten weltpolitischen Lage erhebliche organisatorische Umstrukturierungen vorgenommen und Planstellen bei den Behörden abgebaut. So wird z. B. künftig der Bundesnachrichtendienst auf ca. 700 und das Bundesamt für Verfassungsschutz auf ca. 400 Mitarbeiter verzichten müssen. Im übrigen - da besteht sicherlich noch erheblicher Nachholbedarf - hat die SPD-Fraktion in der Vergangenheit immer wieder darauf hingewiesen, daß eine Verbesserung der parlamentarischen Kontrolle sowie die Beseitigung der rechtlichen Grauzonen notwendig ist. Darüber werden wir uns, denke ich, sehr intensiv in den entsprechenden Ausschußberatungen unterhalten müssen. Lassen Sie mich noch eine kurze Bemerkung zum Verfassungsschutz machen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat den Auftrag, Bestrebungen gegen die freiheitlich- demokratische Grundordnung unseres Staatswesens sowie gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Spionagetätigkeit zu beobachten, Informationen zur Bekämpfung des inländischen und ausländischen Terrorismus zu sammeln sowie Erkenntnisse über die Tätigkeiten von gewalttätigen extremistischen Gruppen zu registrieren. Mit der Erfüllung dieser Aufgabe leisten die Geheimdienste, insbesondere der Verfassungsschutz, einen ganz wesentlichen Beitrag zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit in unserem Land. Ich habe eingangs auf die dramatischen Veränderungen hingewiesen. Diese Veränderungen werden auch an dem Wiedererstarken des Rechtsextremismus, was wir gerade in den letzten Monaten in ganz bedrohlicher Weise feststellen mußten, sehr deutlich. Damit hier kein falscher Eindruck entsteht: Geheimdienstliche Tätigkeit ist letztlich kein geeignetes Mittel, um einzig und ausschließlich extremistischen Bestrebungen in diesem Lande Einhalt zu gebieten. Vielmehr ist es notwendig, daß die Politik die gewonnenen Erkenntnisse der Geheimdienste aufnimmt und daraus die entsprechenden Konsequenzen zieht. Dies - das will ich an dieser Stelle ganz deutlich sagen - scheint mir in den vergangenen Jahren nicht immer so gewesen zu sein. - Ein Teil der Kritik, die Sie, Frau Köppe, hier angebracht haben, ist sicherlich richtig; das will ich gar nicht verhehlen. - Dies mag daran deutlich werden, daß es eine Fehleinschätzung wäre, wenn wir heute so tun, als habe uns die Entwicklung des Rechtsextremismus, sein Wiedererstarken völlig überrascht. - Da bin ich anderer Auffassung als Sie; Sie haben das anders dargestellt. - Dies konnte gar nicht der Fall sein, wenn wir an die vielfältigen Berichte - dabei erinnere ich nicht zuletzt an die Berichterstattung des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz im Innenausschuß des Deutschen Bundestages im November 1991 - denken. Er hat damals sehr eindringlich und nachhaltig auf das Wiedererstarken des Rechtsextremismus in diesem Lande hingewiesen. Nur sind die Konsequenzen und Lehren daraus nicht gezogen worden. Die verantwortliche Regierungskoalition hat diese Erkenntnisse nicht entsprechend aufgenommen und nicht in praktische Politik umgesetzt. Das ist der eigentliche Skandal in dieser Angelegenheit. ({0}) Dies hat sicherlich in erheblichem Maße dazu beigetragen, daß sich die Situation in diesem Lande so entwickelt hat, wie sie sich heute darstellt. Dies bedeutet für die SPD-Bundestagsfraktion ganz eindeutig, daß es notwendig ist, die gewonnenen Erkenntnisse der Geheimdienste dazu zu nutzen, die Entstehung des Nährbodens für extremistische Tätigkeiten zu erkennen und daraus Schlußfolgerungen zu ziehen, eine Politik zu betreiben, die die Sorgen und Nöte der Menschen aufnimmt und sie nicht dazu bringt - aus welchen Gründen auch immer: sei es aus Überzeugung, sei es aus Protest -, den Zulauf zu rechtsextremistischen Organisationen oder Parteien zu verstärken. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, dies muß uns bei den Beratungen ganz nachhaltig beschäftigen, wenn wir wollen, daß auch die breite Öffentlichkeit hinter der Arbeit der verschiedenen Geheimdienste steht. Wenn wir die Erkenntnisse der Geheimdienste ignorieren, sie nicht auswerten und uns in der politischen Arbeit nicht zu eigen machen, dann, Frau Köppe, müßte man allerdings wirklich ernsthaft darüber nachdenken, ob die Geheimdienste eine Berechtigung haben. Ich möchte eine weitere Anmerkung machen; darauf hat die SPD-Fraktion schon in der Vergangenheit stets und beständig hingewiesen. Es darf in unserem Lande nicht geschehen, daß es zu einer Vermischung geheimdienstlicher und polizeilicher Tätigkeit kommt. Das strikte Trennungsgebot ist einzuhalten. Wenn es überhaupt im Bereich des Informationsaustausches Verzahnungen gibt, dann darf dies nur im Rahmen der klaren rechtlichen - insbesondere datenschutzrechtlichen - Voraussetzungen geschehen. ({1}) Insofern warne ich für die SPD-Fraktion davor, diesen bisher von allen demokratischen Parteien in diesem Hause immer wieder betonten Grundsatz ({2}) in Frage zu stellen und möglicherweise daran zu denken, eine solche Vermischung vor dem HinterGünter Graf grund der vielen Probleme, die in diesem Lande sicherlich nicht zu leugnen sind, herbeizuführen. Eine Vermischung nachrichtendienstlicher und polizeilicher Tätigkeit muß bei dem mündigen Bürger den Eindruck entstehen lassen, als wäre die Politik nicht mehr in der Lage, mit den sich darstellenden Problemen fertigzuwerden. Es muß uns gemeinsam darauf ankommen, in der Öffentlichkeit sehr deutlich zu machen, daß wir vor dem Hintergrund der nicht zu leugnenden Probleme nicht alle bisher gültigen rechtsstaatlichen Grundsätze über Bord werfen. ({3}) In diesem Sinne, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten wir dem Vorschlag des Ältestenrats folgen und die hier zur Debatte stehenden Vorlagen der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in die zuständigen Ausschüsse überweisen, damit sie dort sorgfältig beraten werden können. ({4}) - Das ist völlig klar. Ich denke, die grundsätzliche Haltung der SPD-Fraktion habe ich bereits eingangs deutlich gemacht. Daran lasse ich auch gar keinen Zweifel. ({5})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Als nächste hat die Kollegin Jelpke das Wort.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Geheimdienste sind durchaus mit der Berliner Freiwilligen Polizeireserve zu vergleichen; aus- und aufgerichtet zu Zeiten des Kalten Krieges, haben sie noch jeden Wandel der Zeiten überstanden. Die Mischung aus Kriminellen, Neonazis, Law-and-order-Bewußtsein wurde problemlos auf den jeweiligen Hauptfeind gelenkt: Kommunismus, Terrorismus, Aussteiger, Ausländer und Ausländerinnen, organisierte Kriminalität. Ihre Resistenz gegen jegliche ernsthafte Reform-, d. h. Abschaffungsbemühung, bewiesen sie nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus. Da zeigte es sich, daß der Kalte Krieg eben auch nur ein Vorwand für den Aufbau der Dienste gewesen ist. Offensichtlich war diese Legitimation weggefallen; der Gegner war den Westdeutschen abhanden gekommen. Der Zerfall des realen Sozialismus hat vor allem auch schonungslos die Untauglichkeit der Geheimdienste als Analyse- und Repressionsinstrumente für die Herrschenden - und das in Ost und West - aufgedeckt. Tatsächlich: Es gab zarte, sehr zaghafte Stellungnahmen auch aus den hier vertretenen Fraktionen, die eine drastische Abspeckung bis hin zur Auflösung der Dienste forderten. Aber dies blieb leider nur eine Episode. Schnell setzte sich der Trend durch, verlorene Feindbilder durch neue zu ersetzen. Was dem einen die organisierte Kriminalität war, war dem anderen der Kampf gegen den Rauschgifthandel und den Waffenexport. So reklamiert der BND für sich den internationalen Waffenhandel und die internationale Wirtschaftskriminalität. Der Verfassungsschutz tut desgleichen in dem Bereich der organisierten Kriminalität. Ausgerechnet der BND! Schon in der Vergangenheit hat er ohne gesetzliche Grundlage, durch bloße Absprache in einer der unzähligen Kanzlerrunden, seine Fäden im internationalen Waffengeschäft gezogen. Dadurch ist überhaupt seine Tätigkeit in den letzten Jahren ans Licht gekommen. Gerade der BND war es, der illegalen Waffengeschäften den Weg bereitet hat, sei es unter der Bezeichnung „landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge", sei es mit anderen Bezeichnungen. Dabei schreckte er auch nicht davor zurück, gerade Regime wie das im Irak durch Waffenlieferungen oder gar durch Lieferung ganzer Waffenfabriken zu unterstützen. Meine Damen und Herren, der Verfassungsschutz ist ein mindestens ebensogutes Beispiel dafür, wie eine durch und durch überflüssige Behörde den aufkeimenden Neofaschismus und Rassismus als Strohhalm benutzt, um ihre Existenzberechtigung nachzuweisen. Dies unter zwei Gesichspunkten: Erstens. Es ist hier oft gesagt worden: 80 % der Tätigkeit des Verfassungsschutzes besteht in der Auswertung öffentlich zugänglichen Materials. - Jede antifaschistische Initiative, die ohne einen Pfennig öffentlicher Gelder arbeiten muß, trägt meines Erachtens wesentlich mehr zur Aufklärung über Neofaschismus und Rassismus bei als die ganze Abteilung „Rechtsextremismus" des Verfassungsschutzes. Noch schlimmer wird es, wenn man die VS-Tätigkeit im Zusammenhang mit den politischen Vorgaben der Bundesregierung und des Innenministeriums betrachtet. Man muß sich hier nur die kläglichen und blamablen Antworten der Bundesregierung auf die Anfragen zum Thema Neofaschismus vor Augen halten. Fast stereotyp erhält man die Antwort - ich zitiere -: „Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse vor." Wer angesichts dieser Aufklärungsverhinderungstätigkeit behauptet, Aufklärung sei heute so unverzichtbar wie nie zuvor, der muß sich schon fragen lassen, welche Ziele er mit dieser Politik verfolgt. Zweitens. Die restlichen 20 % der Tätigkeit des VS bestehen darin, in neofaschistischen Organisationen als Bombenlieferanten, Schulungsleiter oder Scharfmacher zu agieren. Über Niedersachsen z. B. kann man sagen - so erklärt der VS auch selbst -, daß hier praktisch keine Neonazi-Organisation existierte, die nicht vom VS durchsetzt war. Im übrigen frage ich, wie es, wenn so gut gearbeitet wird, überhaupt zu diesen massenhaften Übergriffen auf Ausländer und Ausländerinnen und auf Heime kommen konnte. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, daß der Anschlag von Mölln trotz intensiver Beobachtung der Täter sowohl durch den Verfassungsschutz als auch durch verdeckte Ermittler der Polizei durchgeführt werden konnte. Geradezu unter ihren Augen fand er statt. Kein kritisches Wort dazu wurde bisher, auch heute nicht, geäußert. Im Gegenteil: Wir müssen heute feststellen, daß auch die Arbeitsweise der verdeckten Ermittler der Polizei einer öffentlichen und parlamentarischen Kontrolle entzogen ist. Meine Damen und Herren, bei aller gern geschürten Empörung über die Zusammenarbeit von Neonazis und dem MfS - in jedem Einzelfall war es doch auch eine Zusammenarbeit bundesdeutscher Geheimdienste mit diesen Neofaschisten. Egal, ob Udo Albrecht, Hepp oder Kexel: Diese Neonazis waren vorher durch die Schule der bundesdeutschen Nachrichtendienste gegangen, eingesetzt unter Legenden in diversen Operationen wie der „Operation Neuland". Erst vor kurzem ist in dem ANS-Nachf olgeprozeß durch Stasi-Akten ans Licht gekommen, daß in unmittelbarer Nähe Kühnens beide Dienst plaziert waren. Mir ist nicht bekannt, daß der Verfassungsschutz mehr über Kühnens Aktivitäten aufgeklärt oder öffentlich gemacht hätte als jede beliebige Antifa-Initiative, die aktiv war. Auch wenn ich dem Ziel des Antrages des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN folge, halte ich doch eines für falsch: Das Stasi-Unterlagengesetz und die GauckBehörde als Modelle für den Umgang mit Geheimdienstunterlagen und -einrichtungen zu nehmen führt meines Erachtens vollständig in die Irre. Wenn es gelingen würde, mit diesen Anträgen tatsächlich auch die Siegergeheimdienste aufzulösen, dann müßte auch die Siegeraufklärung durch Gauck-Behörde und Stasi-Unterlagengesetz beendet werden. Eine allgemeine Amnestie könnte dann die Voraussetzung dafür schaffen, zu einer wirklichen Aufklärung und Aufarbeitung zu kommen. Leider sind wir von dieser Situation weit entfernt. Der penetrante Verweis auf die Unverzichtbarkeit der Dienste und die demokratische Wirkung der angeblichen parlamentarischen Kontrolle zeigen, wie hartnäckig an diesen undemokratischen Instrumenten festgehalten wird. In der Begründung des Gesetzentwurfs wird ein Paradebeispiel für die Effektivität parlamentarischer Kontrolle genannt. Jahrelang hüteten die Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission ihr Wissen um die gesetzwidrige Zusammenarbeit von GSG 9, Verfassungsschutz und Politik beim sogenannten Celler Loch. Diesem parlamentarischen Schutz illegaler Geheimdienstpraktiken ist es auch zu verdanken, daß eine ganze Reihe weiterer sogenannter Skandale nicht als Alltagsarbeit geheimer Dienste aufgedeckt und abgestellt werden konnten. Parlamentarische Kontrolleure ähneln deswegen meines Erachtens eher Verschwörern: Ob sie wollen oder nicht, sie folgen der Logik, die die geheime Ausspähung und Bespitzelung der Bevölkerung zum unverzichtbaren Bestandteil staatlicher Tätigkeit erklärt.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat nun der Kollege Burkhard Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist eine schöne Vorstellung: Wenn ein Staat keine Feinde hätte, dann bräuchte er keine Armee. Wenn die Menschen keine Straftaten begingen, bräuchte man keine Polizei. Wenn es keinen Terrorismus mehr gäbe, keine Spionage und niemanden, der unsere Verfassung lädieren wollte, dann bräuchte man keinen Verfassungsschutz. Wenn es keine Geheimnisse mehr aufzudecken gälte, wenn uns das, was in anderen Ländern passiert, egalsein könnte, dann bräuchten wir auch keinen Bundesnachrichtendienst. Das Geld, das wir für solche Einrichtungen aufwenden, könnten wir anderso besser verwenden. Leider ist aber die Welt nicht so. Es gibt Terrorismus und Spionage, und es gibt Extremisten, die unsere Verfassung beseitigen möchten. Es gibt Entwicklungen in anderen Ländern dieser Erde, die uns lebhaft interessieren müssen. Es interessiert uns, welche Waffensysteme andere Länder aufbauen, wann sie in den Besitz sogenannter Massenvernichtungsmittel kommen und ob ihnen deutsche Unternehmen dabei helfen. Es interessiert uns, welche innenpolitischen Entwicklungen, die sich auf uns auswirken können, sich in anderen Ländern abspielen. Wenn man den Verfassungsschutz und den Bundesnachrichtendienst beseitigt, dann beseitigt man zwar die Probleme, die sie uns gelegentlich bereiten, nicht aber die Probleme, bei deren Bewältigung sie uns helfen sollen. Es ist richtig, daß sich Nachrichtendienste tendenziell der Kontrolle entziehen wollen. Es gibt demokratische Staaten wie z. B. Großbritannien, in denen sie praktisch überhaupt nicht kontrolliert werden. In der Bundesrepublik ist das nicht so. Es gibt nicht nur die Dienstaufsicht; es gibt auch den Haushaltsausschuß, die Gremien nach dem G-10-Gesetz und die Parlamentarische Kontrollkommission. Es hat trotzdem erhebliche Fehlleistungen gegeben. Ich nenne der Einfachheit halber als Beispiel im Bereich des Verfassungsschutzes eines Landes die von einem Untersuchungsausschuß aufgedeckten Versuche des Berliner Verfassungsschutzes, im Mordfall Schmücker den mutmaßlichen Täter und die Tatwaffe vor dem Zugriff von Polizei und Staatsanwaltschaft zu schützen. Es ist auch richtig, daß wir veranlaßt worden sind, die gesetzlichen Möglichkeiten der Kontrolle durch die Parlamentarische Kontrollkommission zu verbessern. Aber die Behauptung, es fände keine Kontrolle statt oder sie wäre nicht möglich, ist nicht richtig. Man kann den Antragstellern nicht bestreiten, daß die Leistungen der Dienste nicht immer unseren Erwartungen entsprochen haben. Aber ihre Arbeit ist nicht leicht, und ihre Fehler werden bekannter als ihre Erfolge, die nicht immer an die große Glocke gehängt werden können und dürfen. ({0}) Wir denken, daß es eine ernsthafte Debatte über die Abschaffung des Bundesnachrichtendienstes nicht geben kann. Der Zusammenbruch des Ostblocks verändert die Aufgabenstellung. Man kann aber nicht einmal sagen, daß die Entwicklungen im früheren Ostblock nicht sorgfältig beobachtet werden müßten. Die Frage, ob der Bundesnachrichtendienst zusätzlich zu seinen traditionellen Aufgaben der Informationsermittlung im außenpolitischen Bereich weitere Aufgaben im Zusammenhang mit bestimmten Formen der internationalen Kriminalität übernehmen sollte, hängt für uns auch entscheidend davon ab, ob eine klare Abgrenzung zur polizeilichen Tätigkeit möglich ist. ({1}) Wir werden weder beim Bundesnachrichtendienst noch beim Verfassungsschutz eine Vermischung von Nachrichtendienst und Polizei akzeptieren. ({2}) Auch beimVerfassungsschutz gibt es natürlich seit langem eine Diskussion darüber, welche Aufgabenveränderungen sich für ihn aus dem Ende des Kalten Krieges ergeben. Sein personeller Bestand ist in einer Reihe von Bundesländern erheblich stärker reduziert worden als im Bund. Aber es gibt auch weiterhin eine gegen die Bundesrepublik gerichtete Spionagetätigkeit, und die Entwicklungen im rechtsextremistischen Bereich können keinesfalls vernachlässigt werden. Ich möchte in diesem Zusammenhang wiederholen, was wir bei früherer Gelegenheit schon einmal vorgetragen haben: Wir denken, daß die Tätigkeit des Verfassungsschutzes weit mehr von Geheimniskrämerei befreit werden könnte, als es bisher der Fall ist. Es läge in seinem eigenen wohlverstandenen Interesse. Manche Landesbehörden geben erheblich mehr Auskünfte an Einzelpersonen, als der Bund es tut. Es ist auch nicht zu bezweifeln, daß der Bund den Umfang seiner eigenen Tätigkeit, die Zahl der Speicherungen oder die Zahl der überwachten Telefonanschlüsse ohne jede Gefährdung der inneren Sicherheit weit mehr darstellen könnte, als er es tut. Es dient der Demokratie in unserem Land, wenn durch mehr Publizität für jedermann erkennbar wird, daß sich der Verfassungsschutz auf seine eigentlichen Aufgaben konzentriert und kein allgemeines Überwachungsinstrument ist, wie das immer wieder behauptet wird. Es sollte auch ohne Vorbehalte endlich ernsthaft geprüft werden, ob es nicht vernünftiger und rationeller ist, den Verfassungsschutz und den MAD miteinander zu verschmelzen. Die Verkleinerung der Bundeswehr zwingt ja geradezu zu einer solchen Überlegung, die frei von jedem Prestigedenken angestellt werden sollte. ({3}) - Sehr gut; das werden wir dann im Laufe des Jahres einmal näher erörtern. Lassen Sie mich zusammenfassend feststellen: Wir glauben, daß unsere Dienste eine wertvolle Arbeit leisten, die im Interesse unseres Staates und unserer Bürger liegt. Es ist eine Arbeit, die wir anerkennen. Die Schwerpunkte dieser Arbeit unterliegen einer ständigen Überprüfung, die dem Wandel der politischen Verhältnisse entspricht. Wir werden unter allen Umständen sorgfältig darauf achten, daß die Trennung zwischen Polizei und Geheimdiensten weder offen noch über eine Hintertür durchbrochen wird und daß es dabei bleibt, daß die Kriminalitätsbekämpfung grundsätzlich Aufgabe der Polizei ist. Wir sind der Überzeugung, daß die Publizität über den Umfang der Tätigkeit des Verfassungsschutzes verbessert werden kann und muß und daß ihn das nicht behindern, sondern seiner Tätigkeit nützen würde. Die Anträge auf Auflösung der Dienste werden wir natürlich, wenn das gewünscht wird, im Ausschuß erörtern. ({4}) Ich denke aber, daß wir bisher keine Argumente gehört haben, die uns dazu veranlassen könnten, Ihren Anträgen zuzustimmen. ({5})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/4402 und 12/4403 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir sind damit am Ende unserer heutigen Tagesordnung angekommen. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend und berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 12. März 1993, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.