Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/5/1993

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 und den Zusatzpunkt 4 auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahreswirtschaftsbericht 1993 der Bundesregierung - Drucksache 12/4330 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({0}) Finanzausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuß b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresgutachten 1992/93 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - Drucksache 12/3774 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({1}) Finanzausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Gesundheit Haushaltsausschuß c) Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Fritz Schumann ({2}) und der Gruppe der PDS/Linke Liste Beteiligung der Betroffenen am Konzept zum Erhalt industrieller Kerne - Drucksache 12/4429 Überweisungsvorschlag: Ausschuß Treuhandanstalt ({3}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung d) Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Fritz Schumann ({4}) und der Gruppe der PDS/Linke Liste Vorlage des Konzepts zum Erhalt industrieller Kerne - Drucksache 12/4430 Überweisungsvorschlag: Ausschuß Treuhandanstalt ({5}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Roth, Hans Berger, Dr. Ulrich Böhme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Eine sich selbst verstärkende Rezession durch kompetente Wirtschaftspolitik abwenden - Drucksache 12/4453 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({6}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß Zum Jahreswirtschaftsbericht liegt ein Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/4462 vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache vier Stunden vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister für Wirtschaft, Herrn Rexrodt, das Wort.

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte als erstes über die Wirtschaftslage sprechen. Sie ist gekennzeichnet durch die Tatsache, daß fast zehn Jahre stetigen und spannungsfreien Wirtschaftswachstums zu Ende gegangen sind. Im Verlaufe dieser Aufwärtsentwicklung hat sich in Westdeutschland das Bruttoinlandsprodukt um mehr als ein Drittel erhöht, sind die Anlageinvestitionen um fast 90 % gestiegen und gibt es über 3,5 Millionen Erwerbstätige mehr. Auch im Jahre 1992 hat es Wachstum gegeben. Es lag bei 1,5 %. Ab Sommer 1991 hat sich die wirtschaftliche Lage, hat sich die Konjunktur dann stark verschlechtert, und diese Entwicklung hält gegenwärtig noch an. Für dieses Jahr gehen wir in der Jahresprojektion für die alten Bundesländer von einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von bis zu 1 % aus. Für die neuen Länder erwarten wir ein Wachstum zwischen 5 % und 7 %, dies allerdings auf niedrigem Niveau. Die westdeutsche Wirtschaft befindet sich in einem zyklischen Abschwung, dessen Ende noch nicht abzusehen ist. Auch die Entwicklung am Arbeitsmarkt spiegelt das wider. Die Zahlen, die heute zu veröffentlichen sind, werden das ebenfalls widerspiegeln. Die Bundesregierung erwartet - wie die Wirtschaftsforschungsinstitute -, daß die Rezession in der zweiten Hälfte zumindest gebremst werden kann, möglicherweise auch ausläuft, und daß es im nächsten Jahr wieder zu einem Aufschwung, zu einer Aufwärtsentwicklung kommt. Zu den Ursachen der Rezession ist zu sagen, daß es keine monokausale Erklärung für die gegenwärtigen Schwierigkeiten gibt. Die Ursachen liegen zum Teil im wirtschaftlichen Umfeld; zum Teil liegen sie bei uns selbst. Zu den außenwirtschaftlichen Gründen ist zu sagen, daß sich ein Land wie die Bundesrepublik, das zu einem Drittel vom Export lebt, nicht auf Dauer von einer schwachen Weltkonjunktur abkoppeln kann. Diese schwache Weltkonjunktur hält nun schon seit fast drei Jahren an. Der Einigungsboom hat das Überschwappen auf Deutschland um etwa zwei Jahre verzögert. Außerdem, meine Damen und Herren, steht ein erfolgreicher Abschluß der GATT-Verhandlungen immer noch aus. Dies wirkt lähmend, weil gerade die deutsche Wirtschaft auf offene Märkte angewiesen ist. Hinzu kommt die desolate Lage in Osteuropa, die vor allem den Aufschwung in den neuen Bundesländern bremst. Binnenwirtschaftliche Gründe gibt es. Hohe Lohnstückkosten beeinträchtigen die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Die ausufernde Diskussion über die Kosten der deutschen Einheit und vor allem über die Verteilung dieser Kosten hat bei der Bevölkerung und auch bei den Unternehmen zu erheblichem Vertrauensschwund geführt. Besonders schädlich sind dabei die immer wieder vorgebrachten Forderungen nach einer sofortigen Erhöhung der direkten Steuern. ({0}) Aus dieser Situation sind Folgerungen für die Wirtschaftspolitik zu ziehen. Erstens. Wir sind in keiner Katastrophensituation. Deutschland steht im internationalen Vergleich keineswegs schlecht da. Wir können auf unseren Stärken aufbauen. Wir sind ein Land mit einer starken Wirtschaft mit überwiegend guten Strukturen; ich komme auf diese Frage noch zurück. Zweitens ist zu sagen - auch das ist nichts Neues -, daß in schwierigen Zeiten regelmäßig der Ruf nach mehr Staat laut wird. Ich möchte hier ausdrücklich davor warnen, solchen Rufen leichtfertig nachzugeben. Unsere Grundlage bleibt nach wie vor die soziale Marktwirtschaft, die uns Wachstum, die uns Wohlstand, die uns Arbeitsplätze gebracht hat. Das heißt aber nicht, daß ein verantwortungsbewußtes Handeln des Staates in dieser schwierigen und ernsten Situation nicht angebracht sei - als ob wir nicht wüßten, meine Damen und Herren, welch starke Stellung, welch immenses Gewicht der Staat in einer Wirtschaft hat, in der es eine Abgabenquote von 47 % und eine Staatsquote von mehr als 50 % gibt. Mit Fiskalpolitik, mit Steuerpolitik, mit Subventionspolitik, mit Außenwirtschaftspolitik sowie als Nachfrager und Anbieter von Gütern und Dienstleistungen hat der Staat nun einmal eine starke Stellung inne, und diese Instrumente setzt er ein. Diese Instrumente wird auch die gegenwärtige Bundesregierung einsetzen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jens?

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Wenn Sie mir das freundlicherweise nicht auf meine Redzeit anrechnen, sehr gern. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das ist immer so; die Uhr wird angehalten.

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister Rexrodt, ich gehe einmal davon aus, daß Sie § 1 des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes kennen. Glauben Sie nicht, daß das Ziel der hohen Beschäftigung, das dort fixiert ist, jetzt, bei - gelinde gerechnet - 6 Millionen Arbeitslosen in Ost und West, eklatant verfehlt worden ist, und meinen Sie nicht, daß Sie auf Grund dieses Paragraphen, den Sie hoffentlich kennen, verpflichtet sind, jetzt aktiv etwas zu tun?

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Ich hatte gerade den Ansatz gemacht, darüber zu reden, was die Bundesregierung zu tun gedenkt. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich noch anhörten. Im folgenden werde ich dazu eine, wie ich hoffe, befriedigende Antwort geben können. ({0}) Meine Damen und Herren, ich sprach davon, daß wir uns durchaus bewußt sind, daß es in einem Staat, der zu mehr als 50 % umverteilt, erhebliche und wichtige Instrumente gibt, um staatliche Wirtschaftspolitik zu betreiben. Dies wollen wir auch tun. Ich möchte aber mit gleichem Nachdruck darauf hinweisen, daß es andererseits ein Übermaß an Staat gibt, einen Staat, der lähmt, der bremst, der erstickt. Daß der Staat nicht alles kann, daß er vieles falsch macht, zeigt nicht zuletzt der Zusammenbruch der sozialistischen Planwirtschaft. ({1}) Unternehmertum, Eigenverantwortung, private Initiative und Tarifautonomie müssen gerade in der Krise ihre Bewährung durchmachen. Ohne sie - neben einem sinnvoll und abgewogen handelnden Staat - geht es nicht. Auch die Schaffung von wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen ist - das möchte ich betonen - in erster Linie eine Aufgabe der Unternehmen selbst. Wir haben in Deutschland viel Arbeit. Wir haben genügend Arbeit. Wir haben Arbeit im Westen, und wir haben Arbeit im Osten. Wir brauchen nur durch dieses Land zu fahren, um zu sehen, wieviel Arbeit wir haben. Wir haben aber immer mehr Schwierigkeiten, meine Damen und Herren, diese vorhandene und diese notwendige Arbeit produktiv zu organisieren; denn die damit verbundenen Kosten sind zu hoch, die Abgaben sind zu hoch, und das belastet uns. ({2}) - Wir hatten immer etwas damit zu tun, gerade ich. Es kommt jetzt darauf an, meine Damen und Herren, erstens die Kräfte zu konzentrieren, um die Rezession zu überwinden, zweitens den Aufholprozeß in den neuen Bundesländern zu beschleunigen und drittens die Zukunftsaussichten des Standorts Deutschland langfristig zu sichern. Zur konjunkturellen Belebung im Westen und zur Stärkung der Aufwärtsentwicklung im Osten brauchen wir den Solidarpakt. Der Staat - Bund, Länder und Gemeinden -, aber auch die Tarifparteien und die Unternehmen müssen zu ihrer Verantwortung stehen. Gerade jetzt können wir uns einen lähmenden Verteilungssstreit in Staat und Gesellschaft nicht leisten. ({3}) Denn er droht das zu zerstören, was wir in der Vergangenheit als Fundament für die Zukunft gelegt haben. Für Wachstumsorientierung, gegen lähmenden Verteilungsstreit - das ist das Leitmotiv des Jahresgutachtens des Sachverständigenrates. Ich möchte an dieser Stelle, meine Damen und Herren, dem Sachverständigenrat ausdrücklich für seine fundierte Arbeit danken. Wir können uns glücklich schätzen, über eine solche Institution mit einer unabhängigen Urteilsbildung zu verfügen. ({4}) Der Solidarpakt muß ein Pakt sein für mehr Wachstum und mehr Leistung. Er muß möglichst bald stehen, damit das Vertrauen bei Unternehmen und Konsumenten wieder wächst. ({5}) Wir brauchen den Solidarpakt als ein Zeichen dafür, daß in Deutschland die großen gesellschaftlichen Gruppen in einer schwierigen Zeit in der Lage sind, einen Konsens zu finden, um die richtigen Zeichen, um die richtigen Signale zu geben, damit wir privates Kapital auch wieder mobilisieren können; denn dieses Kapital ist reichlich vorhanden, und es sucht Investitionsmöglichkeiten. ({6}) Mit dem Föderalen Konsolidierungsprogramm hat die Bundesregierung ihr Konzept für eine Konsolidierung der öffentlichen Haushalte vorgelegt. Die Begrenzung der Ausgaben auf 3 % muß unbedingt eingehalten werden. Nur bei substantiellen Einsparungen auf allen staatlichen Ebenen lassen sich die finanziellen Lasten für Ostdeutschland schultern, die erheblichen Transferleistungen für den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern finanzieren und das notwendige Wachstum in der deutschen Wirtschaft in Gang setzen. Die Bundesregierung ist für jeden seriösen Vorschlag dankbar, mit dem eine Bresche in den über Jahrzehnte gewachsenen Dschungel aus Subventionen und Steuervergünstigungen geschlagen oder sonstige Einsparungen vorgenommen werden können. Leider fehlen solche Vorschläge. ({7}) Es ist unredlich, meine Damen und Herren, der Bundesregierung eine zu hohe Verschuldung vorzuwerfen und gleichzeitig eine noch wesentlich höhere Staatsverschuldung vorzuschlagen, wie es ein Programm ausweist, das als ein Aliud gedacht war. Wer uns heutige Defizite vorwirft, der sollte zwei Dinge nicht vergessen. Erstens. Die Konsolidierungspolitik, die diese Bundesregierung zum Abbau der ihr von ihren Vorgängerinnen hinterlassenen hohen Defizite konsequent zwischen 1982 und 1989 betrieben hat ({8}) - so war es doch -, ({9}) macht die hohen Transfers, die wir heute nach Ostdeutschland vorzunehmen haben, überhaupt erst möglich. ({10}) Zweitens. Diese Transfers sind wesentlich höher als das gesamte öffentliche Defizit. Das heißt, wir verzeichnen in Westdeutschland auf Grund unserer soliden Finanzpolitik Überschüsse. Wir transferieren mehr in den Osten, als es Defizite im Westen gibt. Ich bitte, dies nicht zu übersehen. ({11}) Zum jetzigen Zeitpunkt würde eine zusätzliche Nettokreditaufnahme die Handlungsspielräume der Politik, auch der Wirtschaftspolitik, unverantwortlich einengen. Eine Erhöhung der direkten Steuern wäre Gift für die Konjunktur. ({12}) Ich bin ganz fair und gebe zu, meine Damen und Herren, daß auch indirekte Steuern und Abgaben nicht gut für die Konjunktur sind. Wir befinden uns in einem Dilemma, wie jeder sieht: Wir haben nicht genügend Mittel, und wenn jemand nicht genügend Mittel hat, dann muß er die knappen Mittel so verteilen, daß das Übel am geringsten wird. Das haben wir mit unseren Vorschlägen zur Steuer- und Abgabenerhöhung getan. Lassen Sie mich noch eines in Richtung Opposition sagen. Wer mit Blick auf die Steuererhöhungsvorschläge des neuen amerikanischen Präsidenten ähnliches bei uns verlangt, muß wissen, daß die Abgabenquote in den USA bei 30,7 % liegt und daß sie bei uns fast 44 % ausmacht. ({13}) „Hände weg von der Steuerschraube" - besser als Helmut Schmidt in der neuesten Ausgabe der „Zeit" kann es niemand formulieren. ({14}) Ich habe einen, wie ich meine, sehr wohlfundierten Unterschied zwischen direkten und indirekten Steuern gemacht. Daß wir in einem Dilemma sind, ist zuzugeben; das ist gar keine Frage. Warum soll man damit hinterm Berg halten? Wir befinden uns mit unserer Auffassung im übrigen auch in Übereinstimmung mit dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut des Deutschen Gewerkschaftsbundes, mit dem früheren Wirtschaftsminister Professor Schiller und nicht zuletzt mit Ihnen, Herr Roth, wenn ich das sagen darf. ({15}) Wichtig ist vielmehr eine rasche Verabschiedung des Standortsicherungsgesetzes mit der Senkung der Körperschaftsteuersätze und des Spitzensteuersatzes für die Einkommensteuer. Die Anhörungen in dieser Woche haben allerdings gezeigt, daß die Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen konjunkturell schädlich wäre. Wir müssen daher nach Mitteln und Wegen suchen - ich weiß nicht, ob wir sie finden, aber wir werden den Versuch machen -, wie wir dies gesamtwirtschaftlich verträglich gestalten können. Das Föderale Konsolidierungsprogramm geht unseres Erachtens mit einer gerechten Verteilung der Lasten zwischen Bund und Ländern einerseits und zwischen den neuen und den alten Ländern andererseits einher. ({16}) Die Vorschläge der Länder vom letzten Wochenende in Potsdam sind von einer akzeptablen Balance unseres Erachtens weit entfernt. ({17}) Hier haben sich die Länder - ich hoffe: zunächst - einseitig zu Lasten des Bundes geeinigt. Niemand, der sich hier im Hohen Hause für regierungsfähig hält, kann wollen, daß durch die von den Ministerpräsidenten angestrebte immense Verschuldung des Bundes die Handlungsfähigkeit einer Bundesregierung über viele Legislaturperioden stranguliert wird. Die Diskussion über die angebliche Gerechtigkeitslücke wird nach meinem Eindruck zum Vorwand genommen, um sich eigener Verantwortung zu entziehen. ({18}) Das Föderale Konsolidierungsprogramm ist sozial vor allem deshalb ausgewogen - das nur als ein Beispiel; ich könnte viele Beispiele nennen -, weil die oberen 50 % der Einkommensbezieher ab 1995 75 % der Belastungen zu tragen haben. Zum Solidarpakt gehört auch der Beitrag der Wirtschaft. Ich begrüße die bereits angekündigten Initiativen und Selbstverpflichtungen der Wirtschaft für ein verstärktes Engagement in Ostdeutschland bei Ausbildung, bei Investitionen und beim Einkauf. Die Wirtschaft sollte aber ihre eigenen Leistungen nicht kaputtreden, indem sie diese pauschal an Vorleistungen des Staates bindet. Die Wirtschaft ist aufgefordert, ihren Beitrag bei Investitionen, beim Einkauf und im Ausbildungsbereich und darüber hinaus möglichst bald zu leisten. Ohne tarifpolitische Vernunft kann der Solidarpakt seine Ziele nicht erfüllen. Die Tarifpartner sind aufgefordert, mit moderaten Lohnabschlüssen ihren Beitrag zum Solidarpakt zu leisten. ({19}) Die Lohnpolitik muß in Ost- wie in Westdeutschland einen Kurs nehmen in Richtung auf mehr Beschäftigung, einen Kurs, der auch mittelfristig Bestand hat. In einer schrumpfenden Wirtschaft gibt es nichts Zusätzliches zu verteilen. Der Abschluß im öffentlichen Dienst und für die Banken in Westdeutschland sowie der Kompromiß in der chemischen Industrie in Ostdeutschland haben erste Signale wachsender Rücksichtnahme auf gesamtwirtschaftliche Erfordernisse gezeigt - gute Signale. ({20}) Schlecht für alle Beteiligten wäre ein Konfrontationskurs, wie er sich derzeit in der Metallindustrie in Ostdeutschland abzeichnet. Wer von der Bundesregierung fordert, daß sie sich für die Erhaltung und die Erneuerung der industriellen Kerne einsetzt, muß auch bereit sein, eigene Entscheidungen zu revidieren, wenn diese sich für die Sicherung von Arbeitsplätzen als negativ erweisen. ({21}) Allerdings gibt es nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch in Westdeutschland erhebliche Strukturprobleme. Ich nenne die Stahl- und die Automobilindustrie, Teile der Textilindustrie und Teile des Maschinenbaues. ({22}) - Nicht die Banken. Es hat in diesen Branchen Versäumnisse gegeben. Gute Zeiten wurden nicht ausreichend genutzt, um strukturelle Anpassungen vorzunehmen. Die Unternehmen kommen nunmehr nicht umhin, ihre Rationalisierungspotentiale voll auszunutzen. Sie tun es auch. Die Strukturanpassung wirkt zusätzlich dämpfend, wirkt zusätzlich negativ auf die Konjunktur. Nur bei konsequenter Rationalisierung können wir im übrigen auch in Brüssel die Interessen der deutschen Stahlproduzenten effizient vertreten. Das haben wir vor. Nur so können wir im übrigen auch die Interessen der Stahlverbraucher angemessen berücksichtigen. Das tun wir ebenfalls. Strukturkonservierung kann es weder im Osten noch im Westen geben. ({23}) Eine gesunde Wirtschaftsstruktur braucht einen leistungsfähigen Mittelstand. Er trägt mit seiner großen Innovationsfähigkeit und seiner Flexibilität maßgeblich zur Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft bei. Die Bundesregierung wird sicherstellen, daß die kleinen und mittleren Unternehmen sowie die freien Berufe ihre Chance im Europäischen Binnenmarkt haben. Gerade in den neuen Bundesländern ist der Aufbau des Mittelstands besonders wichtig, nicht zuletzt im industriellen Bereich. Es stimmt hoffnungsvoll, daß gerade bei den Existenzgründungen, daß gerade beim Mittelstand im Osten Deutschlands vieles in positiver Richtung in Gang gekommen ist. ({24}) Ich komme zum zweiten Hauptpunkt der Wirtschaftspolitik, der Beschleunigung des Aufholprozesses im Osten Deutschlands. In den neuen Bundesländern zeichnet sich trotz vieler hoffnungsvoller Ansätze - das habe ich bereits erwähnt - beim Mittelstand sowie bei anderen Dienstleistungen und differenziert auch im Bau ein sich selbst tragender Aufschwung noch nicht ab. Im Gegenteil, 1992 ist die Lücke zwischen Produktion und Verbrauch um mehr als 20 Milliarden DM gestiegen, nämlich von 172 Milliarden DM auf 195 Milliarden DM. Das heißt, nur gut die Hälfte der in den neuen Bundesländern in Anspruch genommenen Güter und Dienstleistungen wird dort selbst erwirtschaftet. Diese Schere darf sich nicht weiter öffnen; denn die Transferleistungen lassen sich nicht weiter steigern, ohne die Gesamtwirtschaft zu schädigen. Eine Schlüsselrolle zur Beschleunigung des strukturellen Wandels spielt nach wie vor die private Investitionstätigkeit. Die Anlageinvestitionen in Ostdeutschland erreichten je Erwerbstätigen 1992 erst 75 % des Westniveaus. Bei der Infrastruktur waren es allerdings auf Grund der erheblichen öffentlichen Transfers bereits 113 %. Wir müssen noch mehr privates Kapital mobilisieren. Dazu brauchen wir den Konsens, über den ich vorhin schon gesprochen habe. ({25}) Die Bundesregierung verstärkt die Förderung der privaten Investitionen und als Voraussetzung dafür der wirtschaftsnahen Infrastruktur. Mit dem Nachtragshaushalt 1993 werden die finanzwirksamen Maßnahmen des Bundes für die neuen Länder nochmals erhöht. 1993 werden zusätzlich zu den bereits im Entwurf des Bundeshaushalts vorgesehenen 92 Milliarden DM mehr als 15 Milliarden DM bereitgestellt werden. Zu diesem wachstumsorientierten Konzept gibt es keine Alternative. So sagt es auch der Sachverständigenrat. Die Bundesregierung bekennt sich zur Politik der Erhaltung und Erneuerung industrieller Kerne in Ostdeutschland. Dies sollte auch von der PDS zur Kenntnis genommen werden. Das Bundeswirtschaftsministerium hat das Konzept zum Erhalt industrieller Kerne bereits am 14. Dezember vorigen Jahres vorgestellt. Wir wollen den Industrieregionen im Osten Deutschlands eine Perspektive geben. Die Treuhandanstalt wird deshalb ihre Anstrengungen zur Sanierung von sanierungsfähigen und sanierungswürdigen Unternehmen weiter verstärken. ({26}) Unternehmen, so meinen wir, sollen nicht deshalb aus dem Markt ausscheiden, weil sie noch nicht privatisiert sind und weil konjunkturelle Einflüsse ihre gegenwärtige Entwicklung beeinträchtigen. Unternehmen mit tragfähigen Unternehmenskonzepten erhalten Zeit und Geld. Sie erhalten eine Bewährungsphase mit relativer Ruhe von mindestens einem Jahr, um in die Marktwirtschaft hineinwachsen zu können. Dies ist eine große Chance. Dies ist eine große wirtschaftspolitische Hilfe. Es ist allerdings - das sage ich mit Nachdruck - keine Bestandsgarantie, keine Konservierung. Es gibt auch in dieser Phase kein Verbot der Privatisierung. ({27}) Die Unternehmen werden Ruhe haben, sie werden Geld haben, und sie werden Zeit haben, ihr Unternehmenskonzept zu verwirklichen. Wenn dies gelingt - das hoffen wir -, soll es gut sein, wenn nicht, können Konsequenzen nicht ausbleiben. Ich komme zum dritten Hauptziel, zur Sicherung des Standorts Deutschland.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Bundesminister, gestatten Sie mir nur den Hinweis: Die vereinbarte Redezeit ist inzwischen abgelaufen. ({0})

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Ich bin in drei Minuten fertig. Mir liegt daran, noch auf folgendes hinzuweisen: Fast wichtiger als die Lösung der aktuellen politischen Fragen in der Rezession und im Aufholprozeß im Osten - so wichtig dies auch ist; das brennt uns auf den Nägeln - ist die langfristige Sicherung des Standorts Deutschland. ({0}) Ich sagte am Anfang: Wir sind nach wie vor ein starkes Land, mit einigen Strukturschwächen. ({1}) Aber wir verspielen die Chance, weiterhin im internationalen Kontext wettbewerbsfähig zu bleiben. Deshalb müssen wir uns den Fragen zuwenden, die in der letzten Zeit nicht ausreichend beachtet worden sind. Wir haben Probleme in der demographischen Struktur. Wir haben Probleme, weil der Arbeitsmarkt nicht flexibel genug ist. Wir haben Probleme im Gleichgewicht zwischen beruflicher und akademischer Ausbildung. Wir müssen die Privatisierung voranbringen, wir müssen die Deregulierung voranbringen. Wie Mehltau legt sich auf die Wirtschaft und auf die Menschen, was allenthalben vom Gesetzgeber beschlossen wird, und von der Administration angewendet werden muß. ({2}) Meine Damen und Herren, Sie wissen das ganz genau. Die Abgabenquote ist zu hoch. Die Unternehmen, diejenigen, die etwas leisten wollen, werden zu hoch besteuert. ({3}) Das ist der Grund dafür, daß wir in Deutschland so viel Arbeit haben, diese Arbeit aber nicht mehr leisten können. Es ist zu teuer geworden! ({4}) Diese Bundesregierung wird sich diesen Fragen zuwenden, und diese Bundesregierung wird diese Probleme lösen! Ich danke Ihnen. ({5})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Ministerpräsident des Saarlandes, Oskar Lafontaine. ({0}) Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({1}): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir befinden uns in der Rezession. Eigentlich hätte jeder damit rechnen müssen. Die Finanzpolitik des Staates hätte entsprechend Vorsorge treffen müssen. ({2}) Zu lange aber hielt sich bei den Anhängern der Angebotsökonomie und bei den Monetaristen die Parole: Der Zyklus ist tot. ({3}) - Sie müssen ja sehr nervös sein, meine Damen und Herren, daß sie ständig dazwischenrufen. Sie haben auch allen Grund dazu. ({4}) Nach dem Scheitern der Reaganomics in Amerika und der Widerlegung des Thatcherismus in England ({5}) ist die konservative Wirtschaftspolitik jetzt auch in Deutschland am Ende. ({6}) Jetzt werden wir, meine Damen und Herren, von den Irrtümern und Fehlleistungen der Regierung Kohl auf dramatische Weise eingeholt. Die düsteren ökonomischen Daten und Fakten belegen: Diese Bundesregierung hat die soziale, die innere Einheit Deutschlands in den Sand gesetzt. ({7}) Sie ist unfähig, unsere Wirtschaft auf einen sicheren und ökologischen Wachstumspfad zu bringen. Die jetzige Rezession, meine Damen und Herren, findet unter noch nie dagewesenen Bedingungen statt. Die ostdeutsche Industrie gibt es praktisch nicht mehr. Von einem Tag auf den anderen schutzlos der freien Konkurrenz des Weltmarktes ausgesetzt, mußte sie zusammenbrechen. ({8}) Die unsolide Schuldenpolitik der Bundesregierung hat den Staat konjunkturpolitisch weitgehend handlungsunfähig gemacht. ({9}) In den zehn Jahren der Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. ist die Staatsverschuldung um eine Billion DM gestiegen. ({10}) Auf Grund dieser Schuldenpolitik der öffentlichen Haushalte sind - und das ist das Dramatische - die staatlichen Möglichkeiten, über klassisches Deficit-spending jetzt die Konjunktur wieder anzukurbeln, praktisch nicht mehr vorhanden. ({11}) Hier liegt Ihr Versagen, meine Damen und Herren. ({12}) Der kreditfinanzierte Einheitsboom ließ viele übersehen, daß die deutsche Wirtschaft auch strukturelle Probleme hat. Diese Strukturprobleme treffen uns jetzt in der Rezession um so härter. Nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch des Kommunismus ist der europäische Markt grundsätzlich verändert. Billige Arbeitskräfte und Waren - Waren, die mit niedrigen Lohnkosten produziert werden - drängen in immer stärkerem Maße auf die Märkte der Europäischen Gemeinschaft. Die Bundesbank verschärft mit ihrer Zinspolitik die Rezession. Der Abwertungswettlauf in der Europäischen Gemeinschaft verschlechtert die Marktposition unserer Exportindustrie auf beachtliche Weise. Durch ihre Politik der sozialen Ungerechtigkeit hat die Bundesregierung die für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft so wichtige soziale Stabilität schwer beschädigt. ({13}) Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({14}) Das Tohuwabohu der Steuerpolitik der letzten Jahre ist rezessionsverschärfend. Es führt zu einer starken Verunsicherung der Investoren und Verbraucher. Diese Bundesregierung ist - dies zeigte wiederum die letzte Woche - offensichtlich unfähig, für Bürger und Wirtschaft berechenbare und verläßliche Rahmendaten zu setzen. ({15}) Wir müssen verhindern, daß sich die Rezession in Westdeutschland zu einer handfesten Wirtschaftkrise auswächst. Wir müssen alles unternehmen, damit der dramatische Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie endlich gestoppt wird. ({16}) Wir müssen trotz der schwierigen Rahmenbedingungen dafür sorgen, daß die Staatsfinanzen längerfristig wieder in Ordnung kommen. Deshalb führt an einer grundlegenden Kurskorrektur in der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik kein Weg vorbei. ({17}) Wir müssen jetzt die Entscheidungen treffen, die für die soziale Stabilität und das ökologische Wachstum in unserem Lande notwendig sind. ({18}) Daß die Menschen sich von dieser Bundesregierung betrogen fühlen, ist nicht mehr zu bestreiten. Die einen verlieren ihre Arbeitsplätze, die anderen müssen Wohlstandsverluste in Kauf nehmen. Festgesetzt hat sich in der gesamten Bevölkerung das Urteil, daß es in unserem Staate nicht mehr gerecht zugeht. ({19}) Deshalb ist in unserer Gesellschaft die Bereitschaft geschwunden, die große solidarische Anstrengung zur Überwindung der Rezession und zum Aufbau im Osten auf sich zu nehmen. ({20}) Diese Bundesregierung hat die Chance der deutschen Einheit 1990 nicht genutzt, durch rechtzeitige Einnahmeverbesserungen die notwendigen Mittel für den Aufbau Ost bereitzustellen. Dieses Versäumnis ist ein historischer Fehler, für den die Menschen in unserem Lande heute bitter büßen müssen, ({21}) mit Arbeitslosigkeit, die vermeidbar gewesen wäre, mit Steuer- und Abgabenbelastungen, die jetzt größer ausfallen werden, als es hätte sein müssen. ({22}) Die soziale Stabilität in unserem Lande muß wiederhergestellt werden. Dazu muß die bestehende soziale Schieflage bei der Finanzierung der deutschen Einheit endlich beseitigt werden. ({23}) Da bisher die einkommensstarken Schichten zu wenig zur Finanzierung der Einheit herangezogen wurden, schlagen wir die Einführung einer Ergänzungsabgabe für Höherverdienende zum 1. Juli vor. Das ist wirtschaftspolitisch nicht nur vertretbar, son-dem auch konjunkturell geboten. Im Gegensatz zur Ergänzungsabgabe der Bundesregierung ohne Einkommensgrenzen bleibt bei der von uns vorgesehenen Ergänzungsabgabe für Höherverdienende die Mehrheit der Steuerzahler und damit auch deren Nachfrage unberührt. Auch bei den von der Ergänzungsabgabe betroffenen höheren Einkommen ändert sich das Konsumverhalten praktisch nicht, son-dem im wesentlichen nur die Sparquote. Für die konjunkturelle Wirkung ist ganz entscheidend, daß wir die Mittel aus der Ergänzungsabgabe voll und ganz für mehr Investitionen und mehr Beschäftigung einsetzen wollen. Wenn man die Dinge nicht ideologisch betrachtet, ({24}) kann man feststellen: Nichts zu tun für mehr Investitionen und Beschäftigung, das wäre jetzt Gift für die Konjunktur und für die soziale Stabilität in unserem Lande. ({25}) Unser Konzept ist ein gesamtdeutsches Konjunktur- und Aufbauprogramm. ({26}) Die einseitige Finanzierung der Einheit über die Beitragszahler der Sozialversicherung ist ungerecht und nach meiner Auffassung ordnungspolitisch völlig verfehlt; sie ist nach meiner Auffassung verfassungswidrig. ({27}) Dieser unhaltbare Zustand muß dringend korrigiert werden. Zur Beseitigung der sozialen Schieflage bei der Finanzierung der Einheit ist die Einführung einer Arbeitsmarktabgabe für Beamte, Selbständige, Abgeordnete und Minister ({28}) notwendig. Das ist eine strukturelle Reform. Gleichzeitig ist der Tarifabschluß im öffentlichen Dienst voll auf den Beamtenbereich zu übertragen. Statt der Beschäftigungskrise in Deutschland mit einer offensiven Arbeitsmarktpolitik zu begegnen, verschärft die Bundesregierung die Massenarbeitslosigkeit in leichtfertiger Weise durch das Zusammenstreichen der Mittel für die Bundesanstalt für Arbeit. ({29}) Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({30}) - Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei Ihren dauernden Zwischenrufen will ich Sie auf folgendes hinweisen: Es ist leicht, hier zu reden, aber viel schwerer, draußen die Folgen einer verfehlten Politik zu ertragen. Arbeitslosigkeit ist ein Schicksal, das Sie ernst nehmen sollten. ({31}) Damit verschärfen Sie die soziale Krise. Für die Sicherung der sozialen Stabilität in unserem Lande ist die Wiederaufstockung der Mittel für eine aktive Arbeitsmarktpolitik unerläßlich. ({32}) Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind besser als bezahltes Nichtstun. Aus- und Fortbildung sind Investitionen in die Zukunft. Durch die von der Bundesregierung geplanten drastischen Einschnitte im sozialen Bereich würde die bestehende Gerechtigkeitslücke bei der Finanzierung der Einheit noch weiter aufgerissen werden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Ramsauer? Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({0}): Bitte sehr.

Dr. Peter Ramsauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001772, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Ministerpräsident, könnten Sie uns vielleicht einmal vorrechnen, wo die Mittel der Bundesanstalt für Arbeit zusammengestrichen worden sind? ({0}) Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({1}): Herr Kollege, wenn Ihnen das bisher entgangen ist, dann muß ich wirklich die Frage aufwerfen, wo Sie in den letzten Wochen gewesen sind, nachdem die gesamte deutsche Öffentlichkeit darüber spricht. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Erlauben Sie Herrn Dr. Ramsauer eine weitere Zusatzfrage? Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({0}): Ich fahre jetzt fort in meinem Text. ({1}) Die unsozialen Kürzungen bei Sozialhilfe, Wohngeld, Arbeitslosenhilfe und Arbeitslosengeld, BAföG und Erziehungsgeld und die Streichung von sozialen Maßnahmen bei wehrpflichtigen Soldaten und Zivildienstleistenden lehnen wir entschieden ab. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Ministerpräsident, der Kollege Laumann möchte gern eine Frage stellen. ({0}) Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({1}): Ich lasse noch eine Frage zu, aber dann bitte ich Sie um Verständnis, daß ich gerne im Zusammenhang vortragen möchte.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Ministerpräsident, könnten Sie mir vielleicht bestätigen, daß im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit im Jahre 1992 9,4 Milliarden DM für ABM vorgesehen waren und daß in den Haushalt 1993 9,9 Milliarden DM für ABM eingestellt worden sind? ({0}) Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({1}): Ich kann Ihnen sagen, daß wir bei der letzten Runde im Bundesrat bis in den Vermittlungssausschuß hinein über die Streichung der ABM-Mittel verhandelt haben und daß wir uns ihr widersetzt haben. Offensichtlich sind wir immer auf unterschiedlichen Veranstaltungen. ({2}) Wenn Sie hier ernsthaft behaupten wollen, die Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik seien nicht zusammengestrichen worden, dann irren Sie sich; dann müssen Sie noch einmal nachlesen, was in den letzten Wochen hier an Vorlagen gekommen ist. ({3}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, um die Einheit solide zu finanzieren, kommt es darauf an, den Mut zu Einsparungen aufzubringen. ({4}) Die SPD hat konkrete Vorschläge für den Abbau von Steuersubventionen vorgelegt, die wesentlich weiter gehen als das, was die Bundesregierung bisher vorsieht. Während die Regierung 1 Milliarde DM einsparen will, will die SPD in den kommenden Jahren die steuerlichen Subventionen um durchschnittlich 11 Milliarden DM pro Jahr kürzen. ({5}) - Da Sie offensichtlich nichts lesen, hat es keinen Sinn, Ihnen die Vorlagen zuzuleiten. ({6}) Insgesamt enthält unser 20-Punkte-Katalog bis 1996 ein Einspar-und Subventionsabbauvolumen von rund 54 Milliarden DM. Nur wenn wir ernst machen beim Einsparen und Umschichten, werden Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({7}) die Menschen es auch akzeptieren, wenn wir von ihnen Solidaropfer verlangen. Die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung mit ihrer einseitigen ideologischen Fixierung auf den Markt ist gescheitert. ({8}) Wir müssen erkennen, daß eine moderne Volkswirtschaft, die im harten internationalen Wettbewerb bestehen will, auf ein sinnvolles Zusammenspiel von Markt und Staat angewiesen ist. ({9}) - Meine sehr geehrten Damen und Herren, angesichts Ihrer ständigen Zwischenrufe will ich Sie noch einmal daran erinnern, was Sie im Jahre 1990 hier alles verkündet haben: die falsche Bodenpolitik, die zwingend geboten sei angesichts unserer Eigentumsordnung; keine Steuererhöhungen, um Wachstum und Investitionen nicht zu bremsen; keine marktwirtschaftspolitische Politik für den Erhalt industrieller Kerne - und was Sie hier noch alles erzählt haben. Sie mußten alle Ihre Worte fressen. Insofern ist Ihre Überheblichkeit hier völlig deplaciert. Sie haben schwere Fehler gemacht und die Arbeitslosigkeit in unserem Lande dramatisch gesteigert. ({10}) Ich wiederhole: Wir müssen erkennen, daß eine moderne Volkswirtschaft, die im harten internationalen Wettbewerb bestehen will, auf ein sinnvolles Zusammenspiel von Markt und Staat angewiesen ist. ({11}) In den anderen Ländern ist das mittlerweile wieder erkannt worden. Deswegen bezog ich mich auf Reaganomics und Thatcherismus. Wenn Sie es nicht erkennen, wird es immer weiter bergab gehen mit unserer Wirtschaft in Deutschland. ({12}) Deshalb brauchen wir eine marktwirtschaftliche Industriepolitik. Ich dachte eigentlich, wir hätten Sie zwischenzeitlich überzeugt von einer marktwirtschaftlichen Industriepolitik, oder gilt schon nicht mehr, was vor 14 Tagen erzählt worden ist? - Wir brauchen eine marktwirtschatliche Industriepolitik, bei der die Eigendynamik und die Kraft der Unternehmen mit den Möglichkeiten des Staates zu einer offensiven Wirtschaftsstrategie zusammengeführt werden. ({13}) Ich will das an drei Beispielen deutlich machen: Erstens. Das Wegbrechen der Industrie in Ostdeutschland muß endlich gestoppt werden. Die mittelfristig wettbewerbsfähigen Industriekerne in den neuen Ländern müssen so schnell wie möglich saniert werden. Es ist schon viel zuviel Zeit vergangen. Dabei muß den Betrieben ein fester Sanierungszeitraum von drei bis fünf Jahren zugesichert werden. ({14}) Während des Sanierungszeitraums sind den Unternehmen die notwendigen Finanzmittel für die Aufrechterhaltung des Betriebes, für eine gezielte betriebliche Qualifizierung und Umschulung, für Modernisierungsinvestitionen, für die Qualifizierung von Management und Personal und für ökologisch orientierte Produktinnovationen und Markterschließungen zur Verfügung zu stellen. Die Belegschaft, die für die Erreichung des mittelfristigen Sanierungsziels erforderlich ist, muß eine sichere Beschäftigungsperspektive erhalten. Die Sanierungsmittel sind degressiv, d. h. im Zeitverlauf abnehmend zu gestalten. Wir dürfen nicht länger tatenlos zusehen, wie der industrielle Zusammenbruch in Ostdeutschland Hunderttausende von Arbeitsplätzen vernichtet. ({15}) Zweitens: Der Steinkohlenbergbau braucht endlich verläßliche Rahmenbedingungen. Es ist nicht akzeptabel, daß die Bundesregierung die Vereinbarung des Jahres 1991 finanziell noch nicht umgesetzt hat. ({16}) Bei der letzten Kohlerunde wurde von der Bundesregierung, den betroffenen Länderregierungen und der Gewerkschaft gemeinsam die Rückführung der Förderung um 20 % vereinbart. Das bedeutet einen Abbau von rund 30 000 Arbeitsplätzen in Nordrhein-Westfalen und an der Saar. Mit dem vereinbarten Kapazitätsabbau wurde auch der Weg für einen Subventionsabbau um real rund 2 Milliarden DM freigemacht. Die bei der Kohlerunde vereinbarte Anschlußregelung für die Verstromung deutscher Kohle für die Zeit nach 1995 muß jetzt umgesetzt werden. Drittens. Wir brauchen eine wirksame Stahlpolitik, die den Montanstandort Deutschland sichert, einen fairen Leistungswettbewerb garantiert und die notwendigen Kapazitätsanpassungen sozial flankiert. Dafür, daß in der deutschen Stahlindustrie rund 40 000 Arbeitsplätze akut gefährdet sind, ist auch die Bundesregierung verantwortlich. ({17}) Sie ist nicht energisch dagegen vorgegangen, daß in den anderen Staaten der EG nun schon über zehn Jahre mit enormen Subventionen Überkapazitäten gegen den Markt konserviert wurden und ein gerechter Wettbewerb verhindert worden ist. ({18}) Sie ist nicht konsequent aktiv geworden, um zu verhindern, daß die Vereinigten Staaten ihren Markt gegenüber dem europäischen Stahl weitgehend abgeschottet haben, und sie sah bisher tatenlos zu, wie Billigimporte aus den osteuropäischen Staaten die Preise ruinieren. Diese Probleme sind nicht mit dem Satz zu bewältigen: Was in der Wirtschaft geschieht, das entscheidet die Wirtschaft. - Hier geht es um politische Entscheidungen, für die Sie verantwortlich sind. Sie haben es bisher versäumt, Rahmenbedingungen für die Stahlindustrie zu schaffen. ({19}) Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({20}) Die Bundesregierung muß unverzüglich dafür sorgen, daß die deutschen Stahlunternehmen und ihre Belegschaften die Chance erhalten, im fairen Wettbewerb ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Gleichzeitig dürfen die von der Stahlkrise betroffenen Regionen nicht alleingelassen werden. Es kommt darauf an, unter Nutzung des gesamten industrie- und strukturpolitischen Instrumentariums wettbewerbsfähige Ersatzarbeitsplätze zu schaffen, um den Betroffenen eine neue Zukunftsperspektive zu öffnen. ({21}) Meine Damen und Herren, für das Überleben der Menschheit ist eine ökologische Erneuerung der Industriegesellschaft nach wie vor die zentrale politische Aufgabe. Die bisherigen Rahmensetzungen des Staates - und dies verantworten wir alle - tragen dieser Herausforderung in keiner Weise Rechnung. Zur Förderung des ökologischen Wachstums ist eine ökologische Neuorientierung von Produktion und Infrastruktur unverzichtbar. Dies ist auch ein Gebot der ökonomischen Vernunft. Die ökologische Erneuerung ist die Chance, in den neuen Ländern international wettbewerbsfähige Arbeitsplätze zu schaffen und der gesamten deutschen Wirtschaft eine neue Zukunftsperspektive zu eröffnen. Wir dürfen hier den Anschluß nicht verpassen. Andere sind schon weiter voran. Wir müssen jetzt beginnen, den Standort Deutschland auch hier zu sichern. ({22}) Meine Damen und Herren von der Bundesregierung und von der Koalition, durch den Aufwertungsschock des Jahres 1990 haben Sie die ostdeutsche Wirtschaft in eine fast ausweglose Situation manövriert. ({23}) Die östlichen Nachbarn haben niedrige Lohnkosten. Im Westen ist die Infrastruktur ausgebaut und die Produktivität sehr hoch. Der einzige Ausweg, der noch bleibt, ist, dem Aufbau Ost eine neue Richtung zu geben. Dort muß eine Infrastruktur und eine Produktion aufgebaut werden, die es im Osten - bei den Niedriglohnländem - und im Westen - im Bereich der hohen Produktivität - noch nicht gibt. Dies ist eine ökologisch ausgerichtete Infrastruktur und Produktion. ({24}) Eine so strukturierte Wirtschaft hätte international eindeutige Wettbewerbsvorteile. Ihr würden die Märkte der Zukunft gehören. Deshalb müssen wir alle Anstrengungen auf die ökologische Erneuerung richten und die dafür notwendigen Rahmenbedingungen setzen. Meine Damen und Herren, da von der Tarifpolitik die Rede war: Herr Bundeswirtschaftsminister, vielleicht haben Sie nicht mehr so genau in Erinnerung, daß wir über die Folgen des Aufwertungsschocks hier an dieser Stelle vor drei Jahren geredet haben. Aber es war ja kein Einsehen. Es gab eben Fehlprognosen. Es gab die Prognose, daß in drei Jahren alles blühen werde. Es gab das fatale Plakat der CDU: „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit." Wer sich so sehr geirrt hat, wer die Tarifparteien so sehr auf eine falsche Fährte gelockt hat, der hat das Recht verwirkt, die Tarifpartner anzuklagen und insbesondere das Versagen den Gewerkschaften anzulasten. ({25}) Meine Damen und Herren, wir brauchen jetzt eine ökologische Steuerreform. Der Grundgedanke heißt: Einerseits muß die Arbeit bei der Lohn- und Einkommensteuer entlastet, andererseits muß der umweltschädliche Energieverbrauch höher belastet werden. Das ist der Weg, um die Kräfte des Marktes in den Dienst des Umweltschutzes zu stellen. Wir dürfen nicht immer nur von marktwirtschaftlichem Umweltschutz reden, sondern müssen ihn endlich auch in die Tat umsetzen. Um in ganz Deutschland Impulse für Wachstum und Beschäftigung zu geben, muß für die neuen Lander mit sofortigem Beginn ein auf zehn jahre angelegtes Zukunftsinvestitionsprogramm mit einem Volumen von mindestens zehn Milliarden DM pro Jahr durchgeführt werden. ({26}) Diese Mittel sind zu Beginn so weit wie nötig als kommunale Investitionspauschale zu gewähren. Ich höre hier gerade, das sei Planwirtschaft. Die Kollegen im Osten, insbesondere der Kollege Biedenkopf, werden sich über solch qualifzierte Zwischenrufe freuen. ({27}) Merken Sie sich eines, meine Damen und Herren von der F.D.P.: Grundvoraussetzung für eine florierende Wirtschaft ist eine funktionierende öffentliche Infrastruktur. ({28}) Eine funktionierende öffentliche Infrastruktur verlangt Steuern und Abgaben. ({29}) Das ganze Gejammere über die Steuer- und Abgabenquote und der Vergleich zu anderen Ländern ist etwas spaßig, meine Damen und Herren. ({30}) Er ist deshalb etwas spaßig, weil die anderen Länder nicht in der Ausnahmesituation sind, die deutsche Einheit bewältigen zu müssen. Glauben Sie denn, das Wort vom Teilen würde sich in der Abgabenquote nicht niederschlagen? Oder hatten Sie sich den Transfer als private Hilfsleistung an Ostdeutschland vorgestellt? ({31}) Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({32}) Meine Damen und Herren, die Länder im Osten brauchen dringend dieses Zukunftsinvestitionsprogramm. ({33}) Es ist ein entscheidender Schritt für den Aufbau einer leistungsfähigen und ökologisch ausgerichteten Infrastruktur. Es ist auch wichtig, um den Investitionsstandort Ostdeutschland zu stärken. In ganz Deutschland müssen ökologische Investitionen erleichtert und beschleunigt werden. Es ist ein unhaltbarer Zustand, daß der Genehmigungszeitraum für Abfallbeseitigungsanlagen 10 bis 15 Jahre dauert. ({34}) Es ist ebenso unvernünftig, daß viele industrielle Anlagen, die Altanlagen ersetzen und daher eine geringere Belastung der Umwelt zur Folge haben, unverhältnismäßig lange Genehmigungszeiten haben. ({35}) Meine Damen und Herren, nach unserer Auffassung ist auch ein Energiekonsens notwendig. ({36}) Notwendig ist dabei ein Konsens darüber, daß nicht der Kernenergie, sondern der Energieeinsparung und den regenerativen Energien die Zukunft gehört. ({37}) Ein solcher Energiekonsens, der auf dezentrale Energieversorgung setzt, würde Investitionen freisetzen, und er wäre ein wirklicher Durchbruch zur ökologischen Erneuerung unserer Industriegesellschaft. Für Gesamtdeutschland gilt - und gegen diese Vorschrift verstößt die Bundesregierung in sträflicher Weise -: Gerade jetzt dürfen die Investitionen der öffentlichen Hand nicht zurückgehen. Im besonderen bietet sich doch der Wohnungsbau an, wenn es darum geht, mit staatlichen Maßnahmen die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu steigern. Wir fordern mit sofortigem Beginn ein gesamtdeutsches Wohnungsbauprogramm. Ziel ist, in den nächsten Jahren das Bauvolumen um jährlich 150 000 Wohnungen zu erhöhen. ({38}) Auch bei der Förderung des Wohnungsbaus muß der ökologische Kompaß beachtet werden. Dies gilt für die Wärmedämmung ebenso wie für den verstärkten Einsatz von Solaranlagen. Mit einem umfassenden Programm für bezahlbare Mieten und für Wohnungsneubau wollen wir endlich Ernst machen im Kampf gegen die Wohnungsnot in Deutschland. Allzu lange haben Sie trotz der Wanderungsbewegungen darauf gesetzt, der Markt würde eine gerechte Versorgung mit Wohnungen schon ermöglichen. Diese Politik ist gescheitert. Kehren Sie endlich um, und folgen Sie unseren Vorschlägen! ({39}) Wir müssen den Wirtschaftsstandort Deutschland stärken. Deshalb fordern wir seit langem eine aufkommensneutrale Unternehmensteuerreform für mehr Investitionen und für mehr Arbeitsplätze. Das Standortsicherungsgesetz der Bundesregierung, für das der Wirtschaftsminister wieder plädiert hat, würde aber zu einer Schwächung der deutschen Wirtschaft führen. ({40}) Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, dieses verkorkste Standortsicherungsgesetz zurückzuziehen. ({41}) Es ist ja begrüßenswert, daß die von uns seit langem geforderte steuerfreie Investitionsrücklage für kleine und mittlere Unternehmen jetzt endlich aufgegriffen wird. Jahrelang haben Sie deren Notwendigkeit bestritten. Es ist ebenso begrüßenswert, daß Sie angesichts der sozialen und finanziellen Lage die Unternehmensteuerreform aufkommensneutral gestalten wollen. Meine Damen und Herren, in der jetzigen Situation aber die Abschreibungsbedingungen verschlechtern zu wollen - dies paßt nun zur konjunkturellen Lage wie die Faust aufs Auge. ({42}) Dieses Standortsicherungsgesetz ist in Wirklichkeit ein Investitionsverhinderungsgesetz, und das kann sich unser Land im Moment am allerwenigsten leisten. ({43}) Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten wollen einen Solidarpakt, der diesen Namen verdient. Für diesen Solidarpakt stellen wir drei Hauptforderungen. Erstens: mehr Investitionen und mehr Beschäftigung für den Aufbau Ost und für den Aufschwung in ganz Deutschland. ({44}) Zweitens: mehr soziale Gerechtigkeit bei der Finanzierung der deutschen Einheit. ({45}) Drittens: keine weiteren Kürzungen zu Lasten der sozial Schwächsten. - Meine Damen und Herren, hier kommen ständig Zwischenrufe: „Mehr Steuern!" Sind Sie denn noch ganz bei Trost? Das muß ich Sie wirklich fragen. ({46}) Sind Sie wirklich noch ganz bei Trost? Nach all den Steuererhöhungsrunden, die Sie in der letzten Zeit durchgeführt haben, nach dem gigantischsten Steuer12384 Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({47}) erhöhungsprogramm der letzten Jahrzehnte, nachdem Sie jeden Tag eine neue Steuer erfinden, nachdem Sie sich kloppen, ob Sie erst die Mineralölsteuer erhöhen oder die Autobahnvignette einführen, ({48}) schreien Sie hier dazwischen: „Steuererhöhungen!" Gehen Sie doch einmal in sich, und kehren Sie endlich zu einer vernünftigen Diskussion zurück. ({49}) Ich bedaure es außerordentlich, daß die Bundesregierung mit ihren gestrigen Beschlüssen in diesen drei Punkten keine Kompromißbereitschaft gezeigt hat. Damit ist die Bundesregierung nicht nur gegenüber der SPD, sondern gegenüber allen Ländern auf Konfrontationskurs gegangen. ({50}) Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß diese Entscheidung der Bundesregierung für die in der nächsten Woche geplanten Solidarpaktgespräche eine Belastung darstellt. Wir müssen jetzt alle Anstrengungen unternehmen, damit in Deutschland Investitionen und Beschäftigung nicht weiter einbrechen. Nur wenn die Rezession im Westen gestoppt wird, kann der Aufbau Ost zügig vorankommen. Nur wenn der Aufbau Ost gelingt, kann die wirtschaftliche und soziale Stabilität in ganz Deutschland erhalten werden, eine soziale Stabilität, die auch Grundlage einer funktionierenden demokratischen Gesellschaft ist. Die große Anstrengung, die vor uns liegt, verlangt es, daß der Grundakkord deutlich wird. Er heißt: Soziale Stabilität und ökologisches Wachstum. Helmut Kohl sagte einmal zu dem sozialdemokratischen

Not found (Kanzler:in)

Das beste Konjunkturprogramm ist ein Regierungswechsel. Diese Worte holen ihn jetzt ein. In dieser Koalition läuft praktisch nichts mehr. ({0}) Die Bürger und die Wirtschaft haben das Vertrauen in die Regierung Kohl verloren. Ein Neubeginn in der deutschen Politik ist fällig. Es ist Zeit, daß Sie den Weg dafür endlich freimachen. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile dem Bundesminister der Finanzen, Dr. Theodor Waigel, das Wort. ({0})

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Rexrodt hat eine hervorragende Rede gehalten: ({0}) frisch und lebendig. Ich gratuliere ihm dazu. Sie wissen, es gibt eine sehr gute Zusammenarbeit zwischen dem Wirtschaftsminister und dem Finanzminister. Die Rede war frisch. Ihre Rede, Herr Ministerpräsident, war gequält; ({1}) denn Sie werden mit Ihrer Vergangenheit nicht fertig, ({2}) daß Sie im Jahre 1990 die Wiedervereinigung im Grunde nicht wollten und die falschen Rezepte hatten. Mit diesem Trauma werden Sie nicht fertig. Das ist Ihr Problem. ({3}) Sagen Sie uns doch noch einmal, Herr Lafontaine, wie Sie es denn 1990 gemacht hätten: gemach, gemach, in Stufen. Wer hätte denn damals die Kraft, die Zeit und den Mut für Stufen gehabt? Schon bei der zweiten Stufe hätte uns die Geschichte eingeholt, und wir hätten die Chance nicht mehr verwirklichen können, die Helmut Kohl und diese Regierung Gott sei Dank erfolgreich genutzt haben. ({4}) Wer uns Irrtümer vorhält, der soll an seine Irrtümer denken. Wer die DDR noch damals als einen fabelhaften Investitionsstandort bezeichnet hat, ({5}) der sollte wirklich nicht über die Irrtümer anderer Menschen reden. ({6}) Vor einem Jahr, kann ich mich erinnern, Herr Ministerpräsident, haben wir uns über das damalige Finanzpaket unterhalten. Sie haben damals nicht ohne Berechtigung darauf hingewiesen, daß eine Mehrwertsteuererhöhung und auch eine damals von der SPD geplante oder in Erwägung gezogene Ergänzungsabgabe problematische Auswirkungen auf die Konjunktur hätten. Ich konnte Ihnen damals nicht so ohne weiteres widersprechen. ({7}) Wir brauchten den einen Punkt Mehrwertsteuer, Herr Kollege, weil wir ihn als Ganzes den jungen Bundesländern für den Fonds Deutsche Einheit zur Verfügung gestellt haben. Nur, wenn Bedenken gegen Steuererhöhungen wegen der Wachstumsproblematik Anfang 1992 galten, dann müßte man jedenfalls bei allen Vorschlägen, die die Ertragsteuer betreffen, um so vorsichtiger Anfang 1993 sein. Darum widersprechen Sie sich permanent. Aber das ist nicht neu bei Ihnen, Herr Ministerpräsident. ({8}) Wenn Sie schon Ihrem eigenen Sachverstand nicht folgen, dann sollten Sie sich vielleicht wenigstens daran erinnern, was durchaus erfolgreiche und anerkannte Damen und Herren Ihrer Partei zu diesem Thema sagen. Professor Schiller warnt seit langem vor dem Drehen an der Steuerschraube. Helmut Schmidt hat als Finanzminister und als Bundeskanzler vieles falsch gemacht, und er hat uns ein verdammt schwieriges Finanzerbe hinterlassen. Aber er hat recht, wenn er jetzt schreibt: Hände weg von der Steuerschraube! ({9}) Übrigens betragen die Einsparungen, die wir bis 1995 vornehmen, etwa 9 Milliarden DM. Wenn man die steuerlichen Maßnahmen, die vor allem steuerlicher Subventionsabbau sind, und maßvolle Anhebungen in den Bereichen, die die Konjunktur nicht unmittelbar betreffen, berücksichtigt, dann sind das 18 Milliarden DM. Ich fordere die Sozialdemokraten so wie die Sozialdemokraten in Holland, in Dänemark, in Schweden und in Spanien, ob sie nun Finanzminister oder ob sie in der Opposition sind, auf, sich endlich verantwortungsvoll mit an Einsparungen, die unumgänglich sind, zu beteiligen. Es wird höchste Zeit, daß Sie sich von Wim Kok, von Carlos Solchaga und anderen einmal sagen lassen, was los ist und was wir in Europa miteinander brauchen, und sich nicht so aus der europäischen und weltwirtschaftlichen Verantwortung stehlen, wie Sie es im Augenblick tun. ({10}) Das Standortsicherungsgesetz, Herr Ministerpräsident Lafontaine, wird von der Wirtschaft begrüßt. ({11}) - Ja; selbstverständlich. Auch Sie können doch lesen. ({12}) Natürlich wäre es der Wirtschaft, mir und dem Kollegen Rexrodt lieber, wenn wir das ohne Gegenfinanzierung machen könnten. Das ist doch gar keine Frage. ({13}) Es ist nur so: Wie soll ich denn die Einnahmelücke auf einmal decken? Das ist doch die Problematik, auf einen Schlag die Nettokreditaufnahme nochmals zu erhöhen. Das ist nicht ohne Probleme. Das Entscheidende im Augenblick ist - das unterscheidet die Steuersatzdiskussion bei uns und in Amerika -: In den USA gibt es einen relativ niedrigen Steuersatz im Bereich der direkten Einkommensteuer. Dort besteht ein gewisser Spielraum, nach oben zu gehen, während wir mit dem höchsten Körperschaftsteuersatz, mit dem höchsten Spitzensteuersatz und mit Gewerbesteuer insgesamt eine Kumulierung der Steuerlast bekommen. ({14}) Übrigens liegen wir mit den Abschreibungen durchaus im europäischen Schnitt und sogar noch etwas besser als im Durchschnitt früherer Jahrzehnte. Nun haben Sie, Herr Ministerpräsident Lafontaine, von der Konfrontation gesprochen. Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar, wenn Sie im Kreis der Ministerpräsidenten dafür sorgen würden, daß wir miteinander zu einer Linie kommen, die allen Ebenen zuzumuten ist. ({15}) Wir sind zu einem fairen Ausgleich bereit. Ihr eigener Finanzminister hat bei einer Finanzministerkonferenz gerade das, was wir im Zusammenhang mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorschlagen, als einen fairen Einstieg in die Problematik bezeichnet. Ich weiß, daß das Saarland und Bremen wegen der Notsituation ihrer Haushalte frühere Zeitpunkte wünschen. Wenn alle anderen Länder bereit sind, bei der Aufstockung des Fonds Deutsche Einheit in 1993 und 1994 ihren Beitrag zu leisten, und dies nicht nur dem Bund zuschieben, könnte auch das möglich werden. Nur, eines, Herr Ministerpräsident, geht mit letzter Sicherheit nicht: daß von den Lasten der deutschen Einheit oder von dem, was wir ab 1995 zu schultern haben, 90 % beim Bund bleiben und nur 10 % bei den Ländern angesiedelt sind. ({16}) Übrigens befinden wir uns hier in guter Gesellschaft. Der anerkannte wirtschaftspolitische Sprecher der SPD, Wolfgang Roth ({17}) - doch, doch -, erklärte in einem Interview in der in Hannover erscheinenden „Neuen Presse", die Länderposition sei überspitzt, sie „könnte auch eine SPD-Regierung nicht erfüllen". ({18}) Bereits nach dem Bundesvorschlag übernimmt der Bund eine überproportionale Last. Die Kreditfinanzierungsquote 1995 würde beim Bund 11,4 % betragen, bei den alten Ländern und Gemeinden 6,3 %; bei den neuen Ländern wären es 7,6 %. Nach dem Vorschlag der Länder hätte der Bund nach Finanzierung und Umschichtung 74,5 Milliarden DM des Betrags von insgesamt 82 Milliarden DM zu tragen. Die Kreditfinanzierungsquote des Bundes würde sich 1995 auf 17,5 % erhöhen; die der alten Bundesminister Dr. Theodor Walgel Länder und Gemeinden würde weit unter 5 % betragen. Herr Ministerpräsident Lafontaine, es kann doch wohl nicht wahr sein, daß ein solches Ergebnis von Ihnen angestrebt wird! ({19}) - Ach Gott, wissen Sie, wenn wir soviel Beratungsbedarf hätten wie Sie, dann wäre es für uns noch schwieriger, zu Entscheidungen zu kommen! ({20}) Lassen Sie mich nur ganz kurz in einer Zeile zusammenfassen, wie der Vergleich aussieht. Haushaltsdefizite nach unserem Konzept in 1995: beim Bund 56 Milliarden DM, bei den alten Bundesländern unter Einschluß der Kommunen 35 Milliarden DM und bei den neuen Bundesländern 14 Milliarden DM. Haushaltsdefizite nach Ihrem Konzept: beim Bund 88 Milliarden DM, bei den alten Bundesländern 5 Milliarden DM und bei den neuen Bundesländern 12 Milliarden DM. Das kann doch wohl nicht wahr sein! Das ist doch keine faire Lastenteilung! Das sind doch keine seriösen Vorschläge, über die dann in dieser Form eine Einigung möglich wäre! ({21}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Jahreswirtschaftsbericht 1993 ist eine Projektion. Was als erzielbares gesamtwirtschaftliches Ergebnis in dieser Projektion erscheint - allenfalls Nullwachstum, bezogen auf ganz Deutschland -, ist wenig genug. Aber selbst dieses magere Ergebnis steht unter der strikten Bedingung optimaler finanzpolitischer Entscheidungen, ganz abgesehen von den wirtschafts- und währungspolitischen Voraussetzungen. Wir haben alle Anstrengungen unternommen, um ein Abgleiten in eine stärkere Rezession zu vermeiden und die Grundlagen für dauerhaftes Wachstum zu stärken. Kein anderes Industrieland hat nun wie wir zehn Jahre hintereinander unaufhörlich steigendes Wachstum erzielen können. ({22}) Nun müssen wir allerdings korrigieren, was in den letzten Jahren im Lohn- und Einkommensbereich und auch im Bereich von Transfermaßnahmen zu stark gelaufen war. Es führt kein Weg daran vorbei. Das Bruttosozialprodukt pro Einwohner hätte ohne die Wiedervereinigung 44 000 DM betragen, und das Bruttosozialprodukt mit Wiedervereinigung, die wir - nicht gerade mit Ihrer starken Unterstützung, Herr Lafontaine - Gott sei Dank herbeigeführt haben, beträgt nur 38 000 DM. ({23}) Es führt kein Weg daran vorbei; diese Anpassung muß auf allen Ebenen - im Bereich der Wirtschaft, der Tarife, aber auch der Ausgaben des Staates - herbeigeführt werden. ({24}) Und darum bemühen wir uns. Wir haben - darauf ist ja Kollege Rexrodt eingegangen - massive Investitionsanreize im ordentlichen Haushalt und jetzt nochmals im Nachtragshaushalt auf den Weg gebracht. Wir finanzieren dies durch erhebliche Einsparungen, wobei allerdings die Einsparungen auch im Sozialbereich in Deutschland nicht über das hinausgehen und eher noch unter dem bleiben, was z. B. in Holland, in Frankreich, in England, in Dänemark, in Schweden und in anderen Ländern erfolgt. Die Behauptung, dies sei ein Anschlag auf den Sozialstaat, ist eine völlige Fehldarstellung und dient nur dem Opportunismus in der Politik, um Wählerstimmen da oder dort für sich zu vereinnahmen. ({25})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Reuschenbach?

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Ja.

Peter W. Reuschenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001827, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Finanzminister, wollen Sie damit zum Ausdruck bringen, daß die Erklärung der deutschen katholischen Bischöfe und die Erklärung der Evangelischen Kirche in Deutschland sozusagen Stammtischparolen und opportunistische Verhaltensweisen sind? ({0})

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Die katholischen Bischöfe und die Evangelische Kirche haben ihre Kritik und ihre Darstellung in sachlicher Form vorgebracht. Ich halte sie aber in der Sache nicht für begründet. ({0}) Meine Damen und Herren, es führt kein Weg daran vorbei, daß der Anstieg der Steuern- und Abgabenlast auf das unvermeidliche Ausmaß begrenzt werden muß. Wir wissen, daß wir das Volumen, das zum 1. 1. 1995 zu schultern ist, allein durch Einsparungen nicht zusammenbringen und darum die schwere Entscheidung auch maßvoller Einnahmeverbesserungen in einer Zeit zu verantworten haben, in der man eigentlich Steuersenkungen durchführen müßte; denn wir können nicht von jetzt bis 1995 eine unsichere, unklare Situation haben, sondern müssen heute bereits für diesen Zeitpunkt Entscheidungen treffen. Aber unser Konzept bezieht alle Sonderfinanzierungsinstrumente ein und ist insgesamt darauf ausgerichtet, daß der Kapitalmarkt entlastet wird, weil wir ja vor allem Probleme der Sanierung der Bahn und der Reichsbahn einbeziehen und auch die ungeklärten Finanzierungen der letzten Jahrzehnte nun auf eine sichere Grundlage stellen wollen. Schon die Ankündigung des Föderalen Konsolidierungsprogramms hat zu einem erheblichen Vertrauensgewinn auf den nationalen und internationalen Märkten geführt. Daß wir heute bei den langfristigen Zinsen den niedrigsten Satz seit vier Jahren haben, zeigt das Vertrauen in die Deutsche Mark, in die deutsche Geldwertstabilität, aber auch das Vertrauen in unsere Möglichkeit und in unsere Kraft, die finanzBundesminister Dr. Theodor Waigel politischen Probleme zu schultern. Dieses Vertrauen dürfen wir nicht enttäuschen. ({1}) Wir können an die Stelle von Einsparungen nicht einfach Steuererhöhungen setzen. Wir brauchen ein faires Konzept zwischen Bund und Ländern. Dazu sind wir bereit. Natürlich hat der Staat in der Rezession seine spezifische Verantwortung. Wir sind bereit, diese Verantwortung zu tragen. Wenn wir, wie geboten, die steuerbedingten Mindereinnahmen und die konjunkturbedingten Mehrausgaben jetzt über eine Erhöhung der Nettokreditaufnahme finanzieren, dann ist dies geboten und notwendig und auch vertretbar.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Bundesminister, ich weiß, wie unsympathisch Ihnen das rote Licht ist, aber es blinkt schon seit einer Weile. ({0})

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Herr Präsident, ich verstehe zwar nicht, warum Sie es angestellt haben, ({0}) aber auch ich habe es gesehen,

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Weil nicht so viel Redezeit angemeldet ist.

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

- und ich komme auch zum Schluß. ({0}) Herr Präsident, wir sind Partner in der Verantwortung für Deutschland. Wir brauchen den Konsens und die Übereinstimmung der Interessen, und dazu sind wir auch im Gespräch mit den Ministerpräsidenten nächste Woche bereit. In diesem Bewußtsein müssen wir auch die Lösung der Wiedervereinigungsaufgaben und den Solidarpakt angehen. Nur dann kann das wiedervereinigte Deutschland bestehen - als ökonomisches Vorbild, als gleichberechtigter Partner in der Welt, als solidarischer Helfer in der Not und als Nation, die dem Erbe und der Verantwortung der Geschichte gerecht wird. Ich danke Ihnen. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! ({0}) - Ihr Stöhnen kann ich in Anbetracht der Lage, in die sich die Koalition im Laufe der letzten drei Jahre selber gebracht hat, verstehen. Die Situation wird schlimmer. Die Stimmung in diesem Land ist durch eine tiefgreifende Verunsicherung weiter Teile der Bevölkerung gekennzeichnet. Viele Menschen spüren, daß diese Republik im dritten Jahr ihrer Existenz nicht einfach Westdeutschland plus angeschlossener DDR bedeutet. Die Prognose Hans-Dietrich Genschers, daß sich mit dem Anschluß der DDR das gesamte Deutschland gravierend verändert, scheint sich zu bewahrheiten. Uns steht nach der deutschen Einheit eine weitere Zäsur bevor. Mit dem Ende der Nachkriegsordnung steht in diesem Lande auch das Ende des bisherigen gesellschaftlichen Konsenses, seiner Spielregeln und Normen, bevor. Das Lebensgefühl der Menschen wird durch die eingetretene wirtschaftliche Rezession im Westen und die sich daraus potenzierenden Folgeprobleme im Osten verstärkt. Bei den Menschen, die im untersten Viertel dieser Gesellschaft in Armut leben oder denen Armut droht, machen sich Ängste breit, daß die sozialen Netze immer größere Löcher aufweisen werden. Die Ankündigungen der Bundesregierung, die Sozialhilfe, die Arbeitslosenhilfe, das Arbeitslosengeld, das Erziehungsgeld und das Wohngeld zu kürzen, nimmt diesen Menschen jede Zukunftsperspektive. Es fehlt ja auch die notwendige Scham, die es in der Politik geben müßte. Ich gehöre nicht zu denen, die jeden Tag über die Höhe der Diäten der Bundestagsabgeordneten herziehen. Das macht sich auch nicht besonders glaubwürdig, wenn man sie selber bezieht. Aber ich muß schon sagen, daß es ein starkes Stück ist, daß wir uns selber Anfang Januar die Diäten erhöhen und anschließend die Sozialhilfe einfrieren und den Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern erklären, daß sie in dieser Gesellschaft zu üppig leben. Ich finde, sie haben nicht auch noch den Spott durch dieses Haus verdient, was hier schon mehrmals geschehen ist. ({1}) Wie sieht die Situation konkret aus? Mindestens 30 000 Arbeitsplätze in der Stahlindustrie und 10 000 in der Kohleindustrie werden beseitigt werden; so ist zumindest die Planung. In der Automobilindustrie und ihren Zulieferbetrieben stehen mittelfristig ca. 100 000 bis 200 000 der insgesamt 1,7 Millionen Arbeitsplätze zur Disposition, und zwar konjunkturunabhängig. Daimler, VW, Audi, Opel und Ford haben bereits die ersten Massenentlassungen angekündigt. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit sind durch einen Bewilligungsstopp praktisch beseitigt worden, zumindest was neue betrifft. Allein in Berlin werden voraussichtlich 70 % der bisherigen 35 000 ABM-Stellen wegfallen. So prekär diese ABM-Programme auch sind: Wer hier die Axt anlegt, vernichtet nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch Bestandteile einer sozialen Infrastruktur, die häufig nicht zu ersetzen sind. ({2}) Aber es geht um mehr. Diese Bundesregierung ist dabei, den gesellschaftlichen Nachkriegskonsens in der westlichen Republik, der in gewisser Hinsicht auch immer ein Maßstab für die Ostdeutschen war, nachhaltig zu beschädigen, wenn nicht zu zerstören. Dieser Konsens basierte - erstens - darauf, daß die breite Mehrheit der Bevölkerung vom gesamtwirtschaftlichen Wachstum irgendwie profitierte. ({3}) Leistung lohnte sich in gewissem Sinne, allerdings für die einen sehr viel mehr als für die anderen. Aber nunmehr verkündet der vorliegende Jahreswirtschaftsbericht, daß es damit vorbei ist. Die Löhne sollen künftig nur noch unterhalb des Produktivitätswachstums steigen, d. h. also real sinken. Die Botschaft lautet allenthalben: Es gibt nichts mehr zu verteilen! Dazu erklingt politische Begleitmusik. Der Bundeskanzler, sichtlich angetan von den niedrigen Löhnen und den langen Arbeitszeiten in Japan und Südkorea, erklärt landauf, landab, daß es mit den immerwährenden Zuwächsen vorbei ist und die Deutschen wieder arbeiten lernen müßten. Zweitens gab es im Westen doch eine große Identifikation der Menschen mit dem deklarierten Sozialstaat und einer demokratischen Kultur. Wenn jedoch Sozialstaatliches nunmehr Schritt für Schritt von der Bundesregierung beseitigt wird, wenn bei 3,5 Millionen Arbeitslosen und über 4 Millionen Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern gespart wird - die Folgen der Gesundheitsreform kommen hinzu -, dann schwinden nicht nur das Vertrauen in eine gewisse soziale Sicherheit, sondern auch das Vertrauen in die demokratischen Spielregeln und Normen. Die allseits konstatierte Staats- und Politikverdrossenheit hängt unmittelbar mit der Aufkündigung des sozialen Kompromisses in dieser Gesellschaft zusammen. Drittens beruhte die gesellschaftliche Nachkriegsordnung auch auf der Tarifautonomie, auf den lange eingeübten Spielregeln zwischen Unternehmen und ihren Verbänden auf der einen und den Gewerkschaften auf der anderen Seite. Beide Seiten waren sowohl konflikt- als auch kompromißfähig. Auch diese Spielregel wird seitens der Bundesregierung in Frage gestellt. Für die ostdeutschen Industrien fordert sie Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen. Die dortigen Metallarbeitgeber haben erstmals in der Nachkriegsgeschichte Tarifvereinbarungen gekündigt. ({4}) - Ich komme gleiche darauf zurück, wofür ich der Gralshüter bin. - Sie sahen übrigens real nur eine Lohnerhöhung um 10 % vor, wenn man die gestiegenen Lebenshaltungskosten berücksichtigt; und das Ganze sollte der Angleichung an das westliche Lohnniveau dienen. Hieß es damals noch, der langfristige Tarifabschluß ermögliche den Unternehmen eine kalkulierbare Basis für ihre Investitionen, so wird heute davon Abstand genommen. Investitionsentscheidungen von Unternehmen orientieren sich an der zu erzielenden Rendite und den Marktchancen ihrer Waren und Dienstleistungen. So behauptet auch kein ernstzunehmender Unternehmer, durch niedrigere Tarifabschlüsse entstünden tatsächlich neue Arbeitsplätze. Die Tarifauseinandersetzungen in Ostdeutschland dienen der Bundesregierung jedoch dazu, die Tarifautonomie überhaupt in Frage zu stellen und die Kampfkraft der Gewerkschaften zu schwächen. Bundeswirtschaftsminister Rexrodt hat ja heute wieder Deregulierung gefordert. Das alles läuft auf das gleiche Ziel hinaus. Ihre Absicht ist es offenbar, jede Form von partieller gesellschaftlicher Gegenmacht, gerade seitens der Gewerkschaften, zu schwächen. Sie wollen das gesellschaftliche Kräfteverhältnis weiter zuungunsten der Gewerkschaften verändern. Dagegen ist meines Erachtens entschiedener Widerstand nötig. ({5}) Das, was einige Länder bereits hinter sich haben, steht dieser Gesellschaft noch bevor: eine konservative Revolution. Im Grunde genommen bedauern Sie doch heute, daß Sie den Thatcherismus nicht sofort mitgemacht haben, daß Sie auf die Reagan-Politik nicht sofort eingegangen sind. Alles, was dort schon schiefgegangen ist, versuchen Sie nachzuholen, indem Sie es kopieren, obwohl bekannt ist, welche katastrophalen sozialen Folgen das haben muß. Ich sage Ihnen auch, daß die steigende Kriminalität und vieles andere mehr, wofür Sie große Lauschangriffe, ein ausgebautes Polizeirecht und ähnliches fordern, dadurch verschlimmert werden. Das ist der eindeutig falsche Weg, und das wissen Sie. Wenn Sie die sozialen Strukturen nicht zertören, sondern aufbauen würden, wenn Sie die Wirtschaftstätigkeit wieder beleben würden, wenn Sie der Jugend eine Perspektive geben würden, statt ihr vorzuführen, wie perspektivlos Sie sind, dann würden Sie einen wirksamen Beitrag gegen Kriminalität leisten, nicht aber durch Abbau von Rechtsstaatlichkeit und Ausbau von Polizei. ({6}) Schon wenige Zahlen aus der Statistik belegen im übrigen, daß eine Entwicklung stattgefunden hat, die nicht so war, wie Sie sie hier darstellen, sondern umgekehrt. Die Bruttolohnquote, gemessen am Volkseinkommen, sank während der Amtszeit dieser Bundesregierung von rund 75 % auf 66 %. Die Zahl der Bezieher von Sozialhilfe nahm im gleichen Zeitraum um 76 % zu. Rund jeder zehnte Haushalt ist inzwischen von Armut betroffen. Umgekehrt verfügt ein Drittel aller privaten Haushalte über 57 % aller verfügbaren Haushaltseinkommen und damit über mehr, als die beiden unteren Drittel zusammen, ganz zu schweigen von den Geldvermögen der Produktionsunternehmen. Sie haben ihre Bruttoinvestitionen seit 1980 verdoppelt - das ist wahr -, aber ihr jährliches Geldvermögen in dieser Zeit vervierfacht. Bei einem Geldvermögensbestand von 1 700 Milliarden DM verfügten sie über liquide Mittel von knapp 600 Milliarden DM. Im Schnitt sind die steuerlichen Belastungen der Unternehmensgewinne seit 1980 von 38,6 % auf durchschnittlich 30 % gesunken. Im gleichen Zeitraum sind die Belastungen der Arbeitnehmereinkommen erheblich gestiegen. Sie liegen jetzt im Durchschnitt bei etwa 35 %. Das alles ist für Ostdeutschland natürlich entscheidend; denn die Veränderungen in den alten Bundesländern wirken sich dort unmittelbar aus. Dort steht die Politik der Bundesregierung vor einem Scherbenhaufen, den sie selber angerichtet hat. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Professor Hoffmann, zog in der „Frankfurter Allgemeinen" eine schonungslose Bilanz: Der hoffnungsfroh geplante Blitzdurchstieg muß heute als gescheitert betrachtet werden, und das nicht erst seit dem Wetterumsturz der gegenwärtigen Rezession. Die vielfach als Schreckgespenst an die Wand gemalte Deindustriealisierung Ostdeutschlands ist schon weitgehend vollzogen. Weiter heißt es bei ihm: Der ... sich behauptende Teil der Industrie besteht aus nur wenigen verstreuten Produktivitätsinseln. Der Produktionsanteil der verarbeitenden Industrie an der Gesamtwirtschaft befindet sich heute „strukturell auf dem Niveau von Ländern wie Tunesien, Honduras oder Sri Lanka". So Professor Hoffmann. Im Unterschied zum Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung, der den industriellen Absturz gebetsmühlenartig auf die 40 Jahre sozialistischer Mißwirtschaft zurückführt, sieht der Wirtschaftsforscher die Ursachen in der „schlagartigen Öffnung" der einst abgeschotteten DDR-Wirtschaft und dem Aufwertungseffekt der Währungsunion. Beide Faktoren haben - und ich zitiere Hoffmann wieder wörtlich - „der westdeutschen Industrie die Chance zur nahezu widerstandslosen Eroberung der ostdeutschen Märkte geboten, die sie nach den Spielregeln der Marktwirtschaft genutzt hat". Alles nachzulesen in der „Frankfurter Allgemeinen" vom 13. Februar 1993. Deshalb ist das Erblastgerede nicht nur falsch, sondern es wird auch nicht standhalten, es ist nicht glaubwürdig. Sie müssen ja wenigstens einmal Logik in Ihre Argumentation hineinbringen: Wenn die DDR- Wirtschaft so blühend gewesen wäre, dann hätte es nach der Vereinigung ja keinen Boom für die westdeutsche Wirtschaft geben können; denn der Markt im Osten wäre voll abgedeckt gewesen. Dann wäre die Rezession schon vor zwei, drei Jahren eingetreten. So gesehen hat Ihnen doch die Mißwirtschaft unheimlich genutzt. Sie hat die Rezession in der alten Bundesrepublik immerhin um einige Jahre verzögert. Deshalb versuchen Sie ständig, hier sozusagen eine Ursachenverschiebung vorzunehmen, was Ihre ständige - ({7}) - Ja, das ist aber einfach so, das müssen Sie doch einräumen. Das bestätigen Ihnen Wirtschaftsfachleute, die wirklich nicht in dem Verdacht stehen, besonders PDS-nah zu sein. Aber das zweite, das Übelste, was Sie machen: Wenn Sie nun gar nichts mehr wissen, dann schieben Sie die Schuld auf Ausländerinnen und Ausländer und erklären, daß die Asylbewerberinnen und Asylbewerber für das ganze Fiasko in diesem Staat die Verantwortung tragen. Damit schüren Sie Rassismus! Das ist übelste Politik. Und was fällt Ihnen zur Lösung des Ganzen ein? - Sozialkürzungen, und der Bundesverkehrsminister, der meint, man müsse etwas verkaufen, wofür man zuständig sei, möchte gern die Autobahn privatisieren und verkaufen. Wir können nur froh sein, daß er nicht für Städtepolitik verantwortlich ist; er würde glatt die Großstädte der Bundesrepublik Deutschland privatisieren und verscherbeln, nur um irgendwie seine Haushaltslücke zu schließen. ({8}) - Ja, jeder kann ja einen Meter Autobahn erwerben, aber ich glaube nicht, daß das irgend jemandem weiterhilft. Und das letzte, was ihnen einfällt, sind Steuererhöhungen, die Sie dann wieder bestreiten und nicht wahrhaben wollen und die Sie immer am falschen Punkt einsetzen, vor allem weil Sie vorher nie erklären, wie die Verwendung aussehen soll, ob sie wirklich wirtschaftspolitisch sinnvoll ist oder nicht. In meinem Wahlkreis, z. B. in Berlin-MarzahnHellersdorf, ist die Lage völlig trostlos geworden. ({9}) Die Firma Elektroprojekt-Anlagen zählte im Industriegebiet Marzahn im Januar 1990 immerhin noch 7 500 Beschäftigte. Das Unternehmen schrieb im letzten Jahr sogar noch schwarze Zahlen - bei einem Arbeitsplatzabbau um 68,7 % schon bis dahin! Aber nun wird dort die Zukunft wieder ausgesprochen düster. Es bestehen kaum noch Chancen, die Arbeitsplätze zu erhalten. Viele Marzahnerinnen und Marzahner nahmen und nehmen an Umschulungen und Fortbildungen teil. Durch den Bewilligungsstopp droht vielen das vorzeitige Aus, da viele Weiterbildungsträger bisher ABM-Kräfte beschäftigt haben. Gab es früher dort einen einen relativ eng verzahnten Komplex von Wohnen, Arbeiten, Leben und Kultur, so sind diese Strukturen inzwischen zerrissen, auseinandergefallen oder vernichtet worden. Es gibt natürlich Investitionshemmnisse, aber das Entscheidende ist, daß Sie nicht wagen, an die heranzutreten, die auch in den letzten Jahren und Jahrzehnten den entscheidenden Profit gemacht haben. Es gibt doch in dieser Bundesrepublik Deutschland nicht zuwenig Geld, es wird nur falsch verteilt. Bei der Interessenklientel, die Sie vertreten, sind Sie eben nicht bereit, an die Höherverdienenden heranzutreten, damit sie endlich ihren Beitrag zu den notwendigen Kosten im Rahmen der Herstellung der inneren deutschen Einheit leisten. Und ich sage Ihnen, es gibt so viele, die an dieser Einheit verdient haben, Sie selbst mit eingeschlossen. Deshalb müßten Sie auch endlich einmal lernen, einen größeren Beitrag für diese Einheit zu bezahlen und nicht immer den Armen in dieser Gesellschaft in die Tasche zu greifen, in der kaum noch etwas ist. ({10}) Lassen Sie mich als letztes sagen: Heute redet die Bundesregierung von der Erhaltung industrieller Kerne im Osten Deutschlands. Vielleicht könnten Sie einmal so ehrlich sein und zugeben, daß wir seit Juni/Juli 1990 genau das vorgeschlagen und Sie das immer abgelehnt haben, weil Sie nämlich - übrigens ähnlich wie die SED, wenn auch in umgekehrter Richtung - völlig ideologieträchtig sind und meinen, was Ihrer Ideologie der Marktwirtschaft widerspricht, dürfe nicht durchgesetzt werden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Gysi, Sie sind ein gutes Stück über Ihre Redezeit hinaus.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich sage Ihnen, diese Art ideologischer Politik hat einfach ihr Ende gefunden. Sie müssen zu einer Politik übergehen, die im Interesse der Menschen gestaltet wird, oder lassen Sie es einfach bleiben, geben Sie zu, daß Sie am Ende sind und daß Ihnen nichts mehr einfällt! ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile dem Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen, Professor Dr. Kurt Biedenkopf, das Wort. Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute steht der Jahreswirtschaftsbericht zur Debatte. Deshalb möchte ich mich auch vorrangig auf dieses Thema konzentrieren und die Behandlung der Beschlüsse des Bundes, der Regierungsfraktionen des Bundestages und der Länder zu dem Lastenausgleich zwischen Bund und Ländern im Zusmamenhang mit der deutschen Einheit nicht weiter vertiefen. ({1}) Aber ich möchte gern zwei Anmerkungen dazu machen. Die eine betrifft eine Feststellung des Wirtschaftsministers, die ich wahrscheinlich mißverstanden habe, die man aber so verstehen konnte: ({2}) daß ohne die Transferleistungen in Westdeutschland keine neuen Schulden gemacht worden wären. Ich habe mir das hier so notiert, und es wäre vielleicht gut, wenn man das aufklären könnte; denn ich kann mir nicht vorstellen, daß das so gemeint war. Das Entscheidende ist aber folgendes: Ich glaube, man sollte bei den Verhandlungen zwischen Bund und Ländern, die in der nächsten Woche anstehen, und bei dem Konflikt, der zwischen zwei Konzepten besteht, die auf dem Tisch liegen, nicht übersehen, daß es sich dabei um mehr handelt als nur um die Finanzierung der deutschen Einheit. Es handelt sich auch um ein Stück Neuordnung der bundesstaatlichen Ordnung. Es ist nämlich so, daß nur der Bund Steuern erheben kann. Der Bund ist also derjenige, der entscheiden muß, wie hoch die Steuerlast ist. Die Verhandlungen zwischen Bund und Ländern haben die Frage zum Gegenstand, wie die von den Steuerzahlern insgesamt zu tragende Steuerlast zwischen Bund und Ländern verteilt wird. Diese Verteilung zwischen Bund und Ländern geht Hand in Hand mit einer Verteilung der Aufgaben zwischen Bund und Ländern. Im Föderalen Konsolidierungsprogramm sind ja auch eine ganze Reihe Aufgabenverteilungsvorschläge bzw. Vorschläge zur Änderung der Aufgabenverteilung enthalten. ({3}) - Z. B. der Regionalverkehr. Ich glaube, daß sich die Diskussionen vorrangig mit diesen Fragen befassen werden. Daß es sich um Verfassungsfragen handelt, Fragen mit Verfassungsrang, kann man daran ablesen, daß die beiden Konzeptionen von der jeweils anderen Seite als verfassungsrechtlich problematisch bezeichnet werden: die des Bundes von den Ländern, z. B. auch vom bayerischen Finanzminister, die der Länder vom Bund. Wir haben also hier einen Konflikt, von dem ich glaube, daß er lösbar ist und auch lösbar sein muß, wenn es zu einem Solidarpakt kommen soll. Was den Jahreswirtschaftsbericht betrifft, so halte ich ihn weder für unrealistisch euphorisch noch für unzureichend, sondern - ich schließe mich da ausdrücklich Herrn Kollegen Waigel an - für einen guten Bericht. Er enthält eine realistische Einschätzung unserer Situation; die Regierung anerkennt völlig ungeschminkt die Probleme, die entstanden sind, obwohl diese Probleme zu einem wesentlichen Teil in ihrer eigenen Regierungszeit entstanden sind. Ich finde, das muß man anerkennen. Der Jahreswirtschaftsbericht macht deutlich, daß wir es in Deutschland mit konjunkturellen, aber auch mit strukturellen Problemen zu tun haben, und er macht deutlich, daß die konjunkturellen Probleme größer sind, als wir ursprünglich angenommen haben.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Roth? Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf ({0}): Wenn es mir nicht auf die Redezeit angerechnet wird.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Natürlich nicht. Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf ({0}): Bitte schön, Herr Kollege.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich stelle eine kurze Frage. Herr Professor Biedenkopf, ich bin erstaunt über diese Bewertung. Warum? In der Jahresprojektion steht, daß die Bundesregierung ein Wirtschaftswachstum in Gesamtdeutschland von plus/minus null erwartet. Ich wollte Sie fragen, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn man sich mehr orientiert hätte. Es gibt kein wichtiges Wirtschaftsinstitut in der Bundesrepublik, vom DIW über das Hamburger Institut bis Kiel und München, das plus/minus null voraussagt, sondern alle tendieren inzwischen hin zu minus zwei. Wäre es da nicht vernünftiger, eine realistische Prognose zu erstellen? Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf ({0}): Ich halte die Prognose nicht für unrealistisch. Herr Kollege Roth, Sie wissen aus vielen Diskussionen, die wir geführt haben, auch als ich die Ehre hatte, diesem Hohen Hause anzugehören: Von den Versuchen, detaillierte Wachstumsraten zu prognostizieren, habe ich nie viel gehalten. ({1}) Ich habe mich im Augenblick in erster Linie auf die Beschreibung des gegenwärtigen Zustands konzentriert. ({2}) - Verzeihen Sie, ich hoffe, daß ich Ihre Frage damit beantwortet habe. ({3}) Ich habe mich vor allen Dingen auf die Darstellung der Probleme und der Schwierigkeiten konzentriert und auf das - dazu komme ich jetzt -, was der Jahreswirtschaftsbericht leisten kann. Mir scheint, daß der Jahreswirtschaftsbericht eine ganze Reihe der Dinge, die heute zur Diskussion stehen, seiner Anlage nach nicht leisten kann. Der Jahreswirtschaftsbericht ist ein Element des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes. Er ist in einer Zeit zur Lösung von Problemen entwickelt worden, die völlig anders sind als die, die wir heute und in absehbarer Zukunft zu bewältigen haben werden. Wir müssen uns daran erinnern, daß der Jahreswirtschaftsbericht ein Instrument der Globalsteuerung war. Man wollte mit Hilfe des Jahreswirtschaftsberichts jährlich feststellen, ob die Globalsteuerung der Wirtschaft im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes auf Kurs liegt oder nicht auf Kurs liegt. Der Bericht beschreibt alles das, was seinem instrumentellen Zweck entspricht, nach meiner Auffassung richtig. Aber er kann eine Reihe der Probleme, die in der Debatte heute schon angesprochen worden sind, nicht erfassen, weil er als Instrument dafür nicht geeignet ist. Man könnte sagen: Er kann Auskunft geben und gibt Auskunft - in meinen Augen in realistischer und zutreffender Weise - über den Kurs des Schiffes Wirtschaft. Aber er kann keine Umbaupläne für die Wirtschaft liefern. Ich möchte mich zunächst auf die konjunkturellen Fragen konzentrieren - wobei konjunkturelle und strukturelle Fragen behandelt werden müssen. Wichtig ist mir die Feststellung, daß weder die konjunkturellen noch die strukturellen Mängel, die im Jahreswirtschaftsbericht angesprochen werden, direkt dem Prozeß der deutschen Einheit angelastet werden können. Ganz im Gegenteil: Der Prozeß der deutschen Einheit war in den letzten Jahren ein ausgesprochener Konjunkturmotor. Daß diese konjunkturelle Wirkung der deutschen Einheit jetzt abklingt, ist ein vollkommen normaler Vorgang; denn wir können auf die Dauer nicht in der gleichen Weise, wie wir das in den ersten zwei Jahren der Einheit gemacht haben, die Wirtschaft durch Kreditschöpfung ankurbeln. Wir haben aber in den ersten zwei Jahren wegen der Veränderungen, die mit der deutschen Einheit verbunden waren, notwendigerweise eine wesentliche Ausweitung der öffentlichen Verschuldung erfahren, also im Grunde ein großes Keynesianisches Programm. Die Wirkungen dieses Keynesianischen Programms sind in der Automobilindustrie und in vielen anderen Bereichen in Deutschland und weit über unsere Grenzen hinaus in Europa sichtbar geworden. Diese Wirkungen klingen in dem Maße ab, in dem man nun bestrebt ist, die Finanzierung der deutschen Einheit auf eine mittel- bis langfristige Grundlage zu stellen. So treten jetzt in der Tat Wirkungen stärker zutage, die sonst im Verlaufe der weltwirtschaftlichen Entwicklung schon früher zutage getreten wären. Dies gilt sowohl für die konjunkturelle wie für die strukturelle Problematik. In den nächsten Wochen wird uns vor allem die Frage beschäftigen, welche Instrumente uns zur Verfügung stehen, um die deutsche Einheit zu finanzieren, aber auch, welche konjunkturellen Instrumente uns zur Verfügung stehen. Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß sowohl die Kreditaufnahme zur Finanzierung staatlicher Aufgaben, um die Wirtschaft anzukurbeln, wie auch Steuererhöhungen zur Finanzierung staatlicher Aufgaben, um die Wirtschaft ebenfalls anzukurbeln, wie auch Einsparungen mit dem Ziel, den Kapitalmarkt zu entlasten, wenig oder gar keine konjunkturellen Wirkungen mehr haben werden, weil die Dimensionen, die dafür notwendig wären, weder im Wege der Krediterhöhungen noch im Wege der Steuererhöhungen noch im Wege der Einsparungen erreichbar sind. Wir müssen feststellen, daß in allen drei Fällen durch die verschiedenen konjunkturellen Abschwünge, die wir in den letzten 20 Jahren gehabt haben, die Wirksamkeit dieser Instrumente zurückgegangen ist. Das entscheidende Dilemma bei der Bewertung dieser Instrumente sehe ich aber darin, daß sich hier zwei Dinge miteinander vermischen: auf der einen Seite die konjunkturellen Instrumente, über die wir diskutieren, und auf der anderen Seite das Problem, die Teilung durch Teilen zu überwinden. Die Teilung durch Teilen zu überwinden heißt nichts anderes, als einen Teil der Kaufkraft, die im Westen für Konsum und Investitionen aufgewendet wird, in Anspruch zu nehmen, um die Aufgaben im Osten zu finanzieren. Darauf läuft die Sache hinaus. Da im Augenblick 93 % des Bruttosozialprodukts im Westen und nur 7 % im Osten erwirtschaftet werden, betrifft dieser Prozeß im wesentlichen die westdeutsche Teilvolkswirtschaft. Nun ist Teilung durch Teilen zu überwinden nur möglich, wenn eine Institution diesen Vorgang des Teilens in Gang setzt. Angesichts der Dimensionen kann das nur der Staat sein. Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf ({4}) Wir müssen uns jetzt dazu entschließen, die Investitionsquote in Deutschland zu erhöhen und die Konsumquote zu senken, um sie in ein Verhältnis zu bringen, wie es z. B. in den 50er und 60er Jahren bis Anfang der 70er Jahre in Westdeutschland war, nämlich gut 25 % des Bruttosozialprodukts investiv und den Rest konsumtiv zu verwenden und nicht wie vor der Einheit gut 20 % investiv und den Rest konsumtiv. Es ist ganz offensichtlich, daß sowohl im Blick auf die Erneuerungsbedürftigkeit der ostdeutschen Wirtschaft als auch im Blick auf die Erneuerungsbedürftigkeit der ostdeutschen Infrastruktur die Investitionsquote erhöht werden muß. ({5}) Die Erhöhung der Investitionsquote ist aber ohne die Mitwirkung des Staates nicht möglich. ({6}) Dieses besondere Problem müssen wir in die konjunkturellen Betrachtungsweisen einbeziehen. Wir können aber die Frage der Umlenkung der Kaufkraft - das geht nur mit staatlichen Mitteln in diesen Dimensionen - nicht nur unter konjunkturellen Gesichtspunkten sehen, wenn wir es mittelfristig tun. ({7}) Mittelfristig gesehen müssen wir in ausreichendem Umfang folgende Leistung erbringen: Erneuerung der wirtschaftlichen Basis - das bedeutet Neuschaffung bzw. Sanierung von rund 6 Millionen Arbeitsplätzen - und Erneuerung der Infrastruktur - das bedeutet nach heute unbestrittenen Schätzungen ein Investitionsvolumen über 10 bis 15 Jahre von ungefähr 300 bis 400 Milliarden DM. Wenn wir in mittelfristiger Perspektive diese Aufgaben nicht anpacken, dann werden die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgekosten einer unzureichenden Investitionstätigkeit in Ostdeutschland die westdeutsche Konjunktur weit mehr gefährden, als eine Umwandlung von konsumtiven Mitteln in investive Mittel die Konjunktur gefährden könnte. ({8}) - Genau dazu komme ich jetzt, Herr Kollege Schäuble. - Das bedeutet, daß wir Einsparungen nicht mit der Verringerung der staatlichen Ausgaben begründen können, sondern nur mit der Umschichtung. ({9}) Man kann also nicht Einsparungen damit begründen, daß man sagt, es werde jetzt vom Staat zuviel Geld ausgegeben. Vielmehr kann man das nur so begründen, daß man sagt: Das Geld wird jetzt für die falschen Aufgaben ausgegeben. ({10}) In der Tat müssen Bund, Länder und Gemeinden in einer gemeinsamen Anstrengung je nach ihrer Aufgabenstruktur Einsparungen vornehmen. Aufgabenstruktur heißt eben auch unterschiedliche Auf gaben-verteilung. Die Länder und Gemeinden, die die überwältigende Mehrheit der Verwaltungsaufgaben in der Bundesrepublik Deutschland zu leisten haben, haben eine andere Aufgabenstruktur und damit auch eine andere Ausgabenstruktur als der Bund. Wir werden in den Verhandlungen zwischen Bund und Ländern diese unterschiedlichen Aufgabenstrukturen zu berücksichtigen haben. Der zweite Punkt, um den es mir in diesem Beitrag zur Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht geht, sind die strukturellen Mängel. Wohl vor allem wegen der begrenzten Zeit konnte der Bundeswirtschaftsminister diesen Teil des Problems nur in den letzten zwei Minuten ansprechen. Ich halte ihn für den zentralen Teil unserer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik überhaupt. Wenn man sich heute mit der Entwicklung Westdeutschlands über die letzten 20 Jahre befaßt und eine ehrliche Sonde anlegt, muß man feststellen, daß eine ganze Reihe der Ursachen, die die weltwirtschaftlich hervorragende Position der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen 20 Jahren begründet haben, inzwischen Schwächezeichen aufweisen. Es ist eine ganze Reihe von z. T. langfristig angelegten Mängeln entstanden. Man kann sagen, daß diese Mängel eine lange „Inkubationszeit" haben, weil sie nicht sofort erkannt und noch weniger sofort abgestellt werden. Mängel und Probleme, die z. B. aus abnehmender Spitzenqualifikation wegen der Probleme der Universitäten oder aus abnehmender Exaktheit oder Gewissenhaftigkeit bei der Anwendung der Vorschriften in den sozialen Systemen und ähnlichem erwachsen, werden zunächst mitgeschleppt. Sie werden als unbequem empfunden, aber nicht abgestellt. Wenn wir hier vor drei oder vier Jahren den Jahreswirtschaftsbericht diskutiert hätten, dann hätten wir über die Verbürokratisierung unseres Landes gesprochen, über die langen Genehmigungszeiten, über die Mißbräuche im Sozialsystem, über die Probleme der Universitäten usw. usw. Aber die Aussage ist wahrscheinlich nicht verkehrt, daß weder eine von der CDU/CSU noch eine von der SPD geführte Regierung damals wesentlich mehr hätte bewirken können als die Identifikation dieser Probleme. Jedenfalls ist das meine Erfahrung in den letzten 20 Jahren. Was ist jetzt durch die deutsche Einheit passiert? Durch die deutsche Einheit ist unsere Wirtschaft plötzlich zusätzlich enorm belastet worden. Das, was in den vergangenen Jahren mit einer langen „Inkubationszeit" als leichte bis mittlere Beschwerde empfunden worden ist, wird plötzlich als ein gravierender Mangel sichtbar, weil wir jetzt eine sehr viel größere Last tragen müssen. Diese sehr viel größere Last macht Mängel erkennbar, die wir zwar theoretisch schon lange diskutiert haben, deren kraftvolle Überwindung aber bisher immer an den involvierten Besitzständen mehr oder weniger gescheitert ist, ({11}) Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf ({12}) In diesem Zusammenhang sehe ich eine unglaubliche Chance der deutschen Einheit gerade für Westdeutschland. ({13}) Denn diese scheinbare Last ist in Wirklichkeit ein sehr heilsamer Zwang, um eine ganze Reihe der entstandenen und immer weiter mitgeschleppten Mängel abzustellen, und zwar bei Strafe des Verlustes unseres Lebensstandards, wenn wir es nicht tun. ({14}) Damit wird ein Interesse der westdeutschen Bevölkerung am deutschen Einigungsprozeß erkennbar, das festzustellen mir besonders wichtig ist, nämlich das Interesse, aus dieser Herausforderung die Kraft zu beziehen, um die Mängel zu beseitigen, die in jedem Fall hätten beseitigt werden müssen und die in jedem Fall über unsere weltweite Wettbewerbsfähigkeit entscheiden werden. Ich will das mit Rücksicht auf die Redezeit nur an einem Beispiel deutlich machen. Es ist ein scheinbar außerökonomisches Problem, das in Wirklichkeit natürlich von höchster ökonomischer Relevanz ist. Es ist die Ausbildung der Spitzenqualifikationen in Deutschland. Der deutsche Lebensstandard wird in Zukunft nicht in erster Linie oder gar ausschließlich dadurch bestimmt werden, wie sich die Löhne entwickeln, wie sich die Krankheitskosten oder die Umweltkosten - oder vieles andere - im gegebenen System entwickeln. Der Lebensstandard wird in erster Linie davon abhängen, ob es uns gelingt, im Rhythmus unserer Lebensstandardserwartungen auch die Intelligenz der Organisation unseres volkswirtschaftlichen Gesamtgefüges zu erhöhen. Er wird im wesentlichen davon abhängen, ob es uns gelingt, mit den gegebenen Ressourcen so viel intelligenter umzugehen, daß die Wertschöfpung höher als in anderen Volkswirtschaften ist und deshalb die ganze Bevölkerung an dieser höheren Wertschöpfung teilhaben kann. ({15}) Dies setzt aber voraus, daß wir für diese außerordentlich anspruchsvolle Aufgabe über ein ausreichendes Maß von Persönlichkeiten verfügen, d. h. von Männern und Frauen, die die Qualifikation mitbringen, die man braucht, um eine Volkswirtschaft wesentlich intelligenter zu organisieren als andere. Lassen Sie mich das an einem Beispiel deutlich machen. In der Sowjetunion gibt es eine Raffinerie, die 4 Millionen t Rohöl durchsetzt. Ein deutsches Unternehmen wollte dieser Raffinerie Anlagen verkaufen. Die Raffinerie sagte: Das können wir nicht; wir können sie nicht bezahlen. Darauf hat das deutsche Unternehmen gesagt: Wir sind in der Lage, euren Rohöldurchsatz zu erhöhen, wenn ihr uns erlaubt, bei euch die Dinge anders zu organisieren. Nach langen Verhandlungen und der Übernahme entsprechender Risiken durch den deutschen Unternehmer hat man zugestimmt. Die Folge war, daß man in diese Raffinerie mit 16 000 Beschäftigten etwa 5 Millionen DM investieren mußte - im wesentlichen in Kommunikationseinrichtungen - und mit sechs Leuten, die das Know-how hatten, den Durchsatz in der Raffinerie von 4 Millionen auf 5,5 Millionen t erhöhte. Mit dem, was die Raffinerie jetzt an der Differenz verdiente, konnte sie den westdeutschen Exporteur bezahlen. Dieses Beispiel, das durchaus verallgemeinerungsfähig ist, macht deutlich, welch enorme Bedeutung die Intelligenz der Organisation für die Leistungsfähigkeit des Ganzen hat. Wir haben aber in den letzten 20 Jahren unsere Universitäten und unsere wissenschaftliche Ausbildung in der Bundesrepublik nicht unter dem Eindruck betrieben, daß wir dort über den zukünftigen Lebensstandard unseres Volkes entscheiden; sonst wären die Universitäten nicht in dem Zustand, in dem sie heute sind. ({16}) Sonst würden wir nicht heute bereits ein Viertel der akademisch ausgebildeten Berufstätigen in Deutschland in Tätigkeiten von Angelernten oder Facharbeitern oder Sachbearbeitern oder in einfachen Dienstleistungen beschäftigen, d. h. das Potential eines Viertels der akademisch Ausgebildeten in Deutschland ökonomisch vergeuden. Wir müssen auf das entschiedenste erkennen, daß nur die Beseitigung der in den letzten Jahren angewachsenen langfristigen Mängel uns in die Lage versetzen wird, eine langfristige Veränderung herbeizuführen. Und über diese Mängel muß in diesem Hohen Hause diskutiert werden. Ohne die Beseitigung dieser Mängel werden wir - mit oder ohne Einheit - nicht in der Lage sein, unseren Lebensstandard zu sichern. Aber ohne die Beseitigung dieser Mängel werden wir vor allem nicht in der Lage sein, zu vermeiden, daß die mit der deutschen Einheit verbundenen Umlenkungen von Ressourcen zu einem neuen, die Einheit gefährdenden Verteilungskonflikt werden. Denn nur dann, wenn wir die Einheit als eine gesamtstaatliche Aufgabe auch in dem Sinne verstehen, daß die Erneuerung des Landes, die damit verbunden ist, vor allem im Interesse der westdeutschen Bevölkerung ist, werden wir vermeiden, daß die Einheit zu einem Ost-West-Konflikt in Deutschland wird, der die Deutschen mehr trennt als vereint. ({17})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Dr. Otto Graf Lambsdorff.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte heute von dem üblichen Aufdruck auf den Manuskripten Gebrauch machen, die vorher zu verteilen wir uns angewöhnt haben - es heißt ja immer, man solle nicht nach vorbereiteten Manuskripten sprechen -, von dem Aufdruck nämlich „Es gilt das gesprochene Wort". Jedenfalls in stärkerem Maße als sonst. Ich denke, diese Debatte rechtfertigt es, von dem abzuweichen, was man sich vorher notiert hat. Ich will damit beginnen, daß ich dem Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern - Entschuldigung, des Freistaates Sachsen ({0}) - ja, ich weiß, die Herren sind nicht immer so befreundet; das liegt aber an der DSU, ich kann ja wirklich nichts dafür -, Herrn Professor Biedenkopf, ausdrücklich dafür danken, daß er eine Bewertung des Jahreswirtschaftsberichtes vorgenommen hat, die ich nicht besser geben könnte und der ich zustimme. ({1}) Der Bundeswirtschaftsminister hat einen zutreffenden, einen ungeschönten, aber deswegen nicht schwarzmalerischen Bericht vorgelegt. Ich stimme, Herr Roth, Herrn Biedenkopf völlig zu: Es nützt ja nichts, um 0,5 % rauf oder runter der Erwartung zu streiten. Wie oft hat man da falsch gelegen. Im übrigen: Bei dieser schnellen Entwicklung der Konjunktur - leider nach unten - sind zwischen Abfassung, Verabschiedung und heutiger Debatte Entwicklungen eingetreten, die sicherlich Anlaß zu Gedanken darüber geben, ob die damals angestellten Prognosen noch zutreffen können. Ich habe das drastischer gesehen; ich will heute im Interesse der Zeit nicht darauf zurückkommen. Herr Biedenkopf, in der Tat, der Jahreswirtschaftsbericht kann nicht die Eigenschaft eines Kochbuches, eines Rezeptbuches haben. Der Jahreswirtschaftsbericht kann die Lage schildern. Aber man muß aufpassen, daß man nicht voll in der Analyse steckenbleibt, sondern daß auch beim Jahreswirtschaftsbericht der Versuch unternommen wird, Therapievorschläge, in unserem Falle Politikvorschläge zu machen. Sie haben, Herr Biedenkopf, davon gesprochen, daß wir uns 1991 noch - bei 1992 bin ich da schon etwas zaghafter - durch die in den Osten transferierten Mittel im Westen von der wirtschaftlich abflachenden Entwicklung unserer Nachbarländer haben abkoppeln können. Sie haben das ein Keynesianisches Programm genannt. Darf ich die von mir gebrauchte Formulierung hinzufügen: ein Keynesianisches Programm in einer nicht Keynesianischen Situation. Das waren die 3,5 % Wachstum im Jahr 1991, die sich 1992 nicht wiederholen ließen und die uns 1993 ganz gewiß nicht möglich sein werden. Im übrigen glaube ich, daß Herr Rexrodt recht hat. 1992 ist die Nettokreditaufnahme der öffentlichen Hände nach dem derzeit bekannten Stand bei 119 Milliarden DM angekommen und der Nettotransfer bei 128 Milliarden DM. Es ist kein riesiger Unterschied, aber es stimmt schon - und es wird ja auch gar nicht geklagt darüber -, daß die deutsche Einheit erhebliche Überweisungen und Transfers erforderlich gemacht hat. Ich wäre nur dankbar, Herr Biedenkopf, wenn wir uns vielleicht - aber es wird wohl schwer sein -darauf verständigen könnten, die Bezeichnung „Teilen wird durch Teilen überwunden" doch endlich - am liebsten sähe ich sie ja aufgegeben - zumindest zu modifizieren. Dieser Begriff ist mir zu statisch. Das Teilen reicht nicht. Wir müssen gemeinsam Dynamik schaffen, wir müssen gemeinsam Wachstum schaffen. Darauf kommt es an. Wenn sich zwei Leute, die hungrig sind, ein Brot teilen, dann essen sie es auf. Sie müssen neues Brot backen, um zurechtzukommen. Ich nehme nicht an, daß wir hier unterschiedlicher Meinung sind. ({2}) Bei diesem Teilen allerdings und bei diesen Anstrengungen, die völlig zu Recht vom Westen gefordert werden, von Bund, Ländern und Gemeinden, muß aufgepaßt werden, daß wir nun die westliche Volkswirtschaft nicht so überfordern, daß sie am Ende ihrer Verpflichtung nicht mehr gerecht werden kann. Das wird das Thema der nächsten Wochen sein, Herr Professor Biedenkopf. Bei allem Verständnis für alle Wünsche: Es kann nicht so gehen, daß man - um es bildlich zu formulieren - die Kuh schlachtet, von der man Milch haben möchte. Wir haben keine Meinungsverschiedenheit zum Thema Einsparen. Das heißt jetzt nicht Verringerung staatlicher Ausgaben. Wir werden jetzt nicht die Nettokreditaufnahme, die staatlichen Defizite zurückfahren können. Sie sind auch im internationalen Vergleich noch hinnehmbar. Doch umgeschichtet werden muß schon. Und da geht es ja nun los. Da, Herr Professor Biedenkopf, muß ich sagen, war Ihre Analyse richtig. Da machen Sie einmal ein paar Therapievorschläge in Richtung Länder und Gemeinden, damit die es auch wirklich tun. ({3}) Dann muß man den Mut haben, Herr Lafontaine, sich zu überlegen, ob die Sozialleistungen so bleiben können, ob der Abstand zwischen Sozialhilfe, Lohnersatzleistungen und Lohn, der heute zum Teil nicht mehr besteht, wirklich so durchgehalten werden kann. Aber wenn man den Mut nicht hat, dann redet man nur in der Theorie herum. ({4}) Ich stimme Ihnen - das ist der letzte Punkt - zu, was die strukturellen Mängel anlangt. Wenn Sie den heutigen Leitartikel des „Economist" nachlesen, werden Sie dort ungefähr das lesen können, was Sie vorgetragen haben. Nicht, daß ich annehme, Sie hätten es vorher schon studiert; nein, nein. Es ist auch richtig, daß darin eine Chance für Westdeutschland liegt. Aber wird sie denn - und das muß ich uns hier fragen - in Westdeutschland wahrgenommen? Ist es denn nicht richtig, daß wir flexiblere Tarifverträge in Ostdeutschland gefordert haben und daß uns dann gesagt wurde: Um Himmels willen nicht, das könnte ja auch nach Westdeutschland kommen? Ist es denn nicht richtig, daß wir erleichterte Bauvorschriften, erleichterte Planungsvorschriften gesagt haben? Nein, um Himmels willen nicht, das könnte ja auch nach Westdeutschland zurückwirken. Das ist doch die Wahrheit! Das ist doch die Verkrustung, in der wir hier leben. ({5}) Schließlich bin ich auch sehr einverstanden, meine Damen und Herren, wenn es um die Spitzenqualifikation in der Ausbildung geht. Abgesehen davon - jetzt sage ich: Herr Professor -, daß das Landessache ist, bitte ich aber eines dabei nicht zu übersehen - mir ist das jetzt bei meinem Besuch in Washington wieder so überdeutlich klargeworden -: wie wichtig neben der Ausbildung der Spitzenqualifikationen die duale Ausbildung des deutschen Facharbeiters ist und welche Grundlage wir hier für die internationale Wettbewerbsfähigkeit und welchen Exportartikel wir hier haben. ({6}) Helmut Schmidt ist ja schon mehrfach zitiert worden. Ich weiß nicht, ob das, was er uns geraten hat - Hände weg von der Steuerschraube -, wirklich als uneigennütziger Rat gemeint war oder ob ihn die Erkenntnis getrieben hat, daß Eigennutz für seine Partei gleichbedeutend wäre mit Schaden für unser Land. Er ist übrigens immer noch Mitglied der SPD, falls das ein Zuhörer vergessen haben sollte, und Karl Schiller ist es auch. Aber der Rat beider ist ja bei den Herren Engholm und Klose und auch bei Frau Matthäus-Maier nicht gefragt, eher vielleicht, Herr Roth, bei Ihnen. ({7}) - Ja, nicht mehr lange, er hat ja so lange nach Fachleuten in der Politik gerufen, daß er jetzt als Bankfachmann zum On-the-job-training nach Luxemburg wechseln wird. ({8}) Den Hinweis haben Sie sich durch Ihre Bemerkungen verdient, Herr Roth. Die von Helmut Schmidt aufgezählten sechs Ratschläge für die Verdienst-, Einkommens- und Geldpolitik kann meine Partei, die F.D.P., fast alle unterschreiben. Kann das eigentlich auch die SPD? Herr Lafontaine, daß Sie mit Herrn Schmidt nicht gut ausgekommen sind, das wissen wir ja. Das brauchen Sie durch Kopfschütteln jetzt nicht zu bestätigen. Sie wollen ausgerechnet jetzt den ökologischen Umbau des Steuersystems. In Wirklichkeit wollen Sie - ich habe mir noch einmal Ihr Programm angesehen, lange bevor Sie es hier in gewandten Worten vorgetragen haben -, eine Erhöhung von Steuern und Abgaben in einem Ausmaß, das die Staats- und Abgabenquote in unvertretbarer und unnötiger Weise hochtreibt, ({9}) weil Sie das, Herr Lafontaine, was Ihr Nachbar Ihnen eben von dieser Stelle vorgeschlagen hat, nämlich Umschichten im Haushalt, nicht wollen und nicht können, weil Sie dazu keinen politischen Mut haben. ({10}) Frau Matthäus-Maier hat Herrn Lafontaine kritisiert. Die Vorschläge von Herrn Scharping, die sich sehr viel vernünftiger lasen, sind alle unter dem Tisch gelandet. Herr Ministerpräsident Schröder erklärt den Westen schlicht für überfordert. Herr Engholm nennt das Föderale Konsolidierungsprogramm ein Machwerk. Gestern habe ich übrigens gelesen, Herr Engholm habe gesagt, er sei kein Hoppla-hoppla-Ministerpräsident. Ich möchte ausdrücklich versichern, meine Damen und Herren, wir haben noch nie geglaubt, daß Herr Engholm eine Hoppla-hoppla-Position einnimmt. So schnell geht bei ihm nichts. ({11}) Die Finanzministerin Heide Simonis, unsere frühere Kollegin, nennt das FKP Verhandlungsgrundlage. Herr Stolpe ist gegen die Vorschläge des Bundesfinanzministers. Sein Finanzminister Kühbacher meint, man könne darüber reden. Herr Steinkühler beharrt auf 26 % Lohnanstieg, und das heißt, er beharrt auf Arbeitsplatzvernichtung. ({12}) Herr Rappe einigt sich auf 9 % Steigerung. Ich könnte die Aufzählung verlängern. Mit dieser Opposition ist leider wenig anzufangen. ({13}) - Ich kann ja nicht immer wieder sagen: Das ist keine Eintracht in Vielfalt, sondern Zwietracht in Einfalt. Dieser Spruch nutzt sich ja auch langsam ab. ({14}) - Das stimmt, nicht wahr? Sie kennen den Spruch schon. Sie nehmen ihn auch zur Kenntnis, aber Sie lassen ihn sich nicht zur Lehre dienen. Das ist das Unerfreuliche. Es hilft nichts. ({15}) - Frau Matthäus-Maier, auch wir haben im Augenblick schwierige Zeiten. Ich halte mich deswegen immer ein bißchen zurück und bin vorsichtig. Ich war zufällig bei der Verhandlung über die Mineralölsteuer in Brüssel; ich war nicht dabei. Das ändert aber nichts daran. Auch wir haben es schwer. Ich weiß das. Herr Biedenkopf, da ist auch folgendes - Herr Gysi hat es heute im übrigen angesprochen -: Die gesellschaftlichen Grundlagen des Zusammenwirkens in den westlichen parlamentarischen Demokratien - keineswegs nur in Deutschland - sind in den letzten drei Jahren mindestens mit vielen Fragezeichen versehen worden. Vieles ist ins Rutschen, ins Anzweifeln geraten. Ich weiß noch nicht, wo wir da enden werden. Ich muß auch gestehen, daß ich mit Analyse und erst recht mit Therapie keineswegs am Ende bin. Meine Herren Ministerpräsidenten, die Sie hier sind, und Herr Bundesfinanzminister, ich möchte jetzt noch eine Bemerkung zu einem anderen Thema machen. Die 16 Ministerpräsidenten haben sich in Potsdam darauf geeinigt - anders kann ich es nicht nennen -, das Fell des Bundesfinanzministers zu verteilen. ({16}) Wir hatten ja nicht erwartet, daß die Ministerpräsidenten die Vorschläge des Bundesfinanzministers akzeptieren. ({17}) Der hat beim Pokern auch nicht alle Karten auf den Tisch gelegt, auch nicht die Asse, die er im Ärmel hat. Wer macht das denn schon, wenn man anfängt? Man wird sich vermutlich auch in der bevorstehenden Klausurtagung kaum einigen können, sondern wahrscheinlich erst im Vermittlungsausschuß, aber hoffentlich nicht erst - das will ich mit Deutlichkeit sagen-mit der Hilfe des Bundesverfassungsgerichts. Das wäre schlecht. Aber nun, Herr Professor Biedenkopf, frage ich doch: Was um alles in der Welt hat Sie eigentlich zum Wortführer der Ertragsteuererhöher gemacht? Sie wissen doch auch, daß es ein kapitaler Fehler wäre, mitten in eine Rezession hinein die Steuern und Abgaben und ausgerechnet noch die Ertragsteuer zu erhöhen. ({18}) Das bestraft Investieren und Sparen, es bremst die notwendige Erholung, und es verlängert die Rezession. Es ist das Gegenteil von dem, was wir jetzt tun müssen. Leider müßte man wohl im Konjunktiv sagen: was wir tun müßten. Die Japaner senken die Ertragsteuer in dieser Rezession. Unsere europäischen Partner haben das längst schon getan. Wir können es nicht wegen der hohen Transferleistungen. Herr Biedenkopf hat den richtigen Hinweis gegeben: Umschichten ja, Einsparen unter dem Strich wird nicht gehen. Ich wünschte mir, daß heute auch der Ministerpräsident Vogel hier wäre. Der hat den Mut und die Standfestigkeit, sich trotz der finanziellen Probleme Thüringens solchen falschen Vorschlägen entgegenzustellen. In dem Zusammenhang sage ich dem Herrn Ministerpräsident Lafontaine: Es muß selbstverständlich beim Standortsicherungsgesetz bleiben. Ich weiß auch, daß es besser wäre, die Abschreibungsverschlechterungen jetzt nicht vorzunehmen. Aber es muß endlich Konstanz in die Rahmenbedingungen der Wirtschaft. Die Leute müssen wissen, wo es entlanggeht. BDI und DIHT sagen uns ja auch: Wenn es denn nicht anders geht und da wir wissen, daß ihr jetzt - wieder zitiert, Herr Biedenkopf - unter dem Strich nicht noch weniger Geld einnehmen könnt, laßt es bitte bei diesem Standortsicherungsgesetz; dann müssen wir notfalls damit leben. Das Standortsicherungsgesetz aber in der Versenkung verschwinden zu lassen, wie Sie es uns vorschlagen, das kann nicht in Betracht kommen. ({19}) Es ist hier ja schon angeführt worden - kein Argument ist zu töricht -: die Steuererhöhung in den USA. Viele in Deutschland würden diese Steuersätze gerne bezahlen, und zwar die Sätze nach der durch Herrn Clinton geplanten Steuererhöhung. Im übrigen gilt aber auch für die Vereinigten Staaten - ich habe das meinen amerikanischen Freunden mit Deutlichkeit gesagt -: Die Zeche für solche Steuererhöhungen bezahlen immer die mittleren Einkommensschichten und eben nicht die paar Spitzenverdiener, die paar Superreichen, auch nicht der SozialneidPappkamerad der SPD, der sogenannte Besserverdienende. ({20}) Die Sozialdemokraten wollen denen das Geld nehmen, die investieren und sparen. Wenn Sie, Herr Lafontaine, sagen, es gehe ja nur auf die Sparquote, dann frage ich Sie: Auf welcher Basis wird denn investiert, wenn nicht auf der Basis der Sparquote? Wollen Sie private Investitionen oder nicht? Wollen Sie die Sparquote beschädigen? ({21}) Sie wollen den deutschen Mittelstand bestrafen, der den Löwenanteil der Arbeitsplätze, der Ausbildungsplätze und der Umsätze stellt und der es im Osten schwer genug hat. Nun haben wir wenigstens gehört, daß Sie die Besoldungsanpassung nicht verschieben wollen. Bisher ging das alles ja auch noch kumulativ über die Beamten her. Ich weiß aber nicht, Herr Lafontaine, inwieweit Sie da in Ihrer eigenen Partei Zustimmung finden. Die Steuer- und Abgabenpolitik der Sozialdemokratischen Partei erklärt den Würgegriff zur Halsmassage, und damit kann man nicht leben. ({22}) Die F.D.P. ist jederzeit bereit, sinnvolle Einsparungsvorschläge zu prüfen, um zusätzliche Mittel für die neuen Bundesländer bereitstellen zu können. Da sind wir uns einig. Aber jeder Sparvorschlag wird doch bejammert und kritisiert. Bei der Behandlung von Einsparungen und Steuererhöhungen gelten nach meinem Eindruck die Erfahrungen bei der Erziehung eines Fünfjährigen. Wenn Sie dem erlauben, erst die Süßspeise zu genießen, dann wird er seinen Spinat niemals aufessen. Und wenn man der SPD Abgabenerhöhungen zugesteht, wird sie eben niemals sparen. ({23}) Zurück zu unserer konjunkturellen Situation. Ich kenne wirklich kaum noch jemanden, der den Ernst der Lage bezweifelt. Das ist nicht Schwarzmalerei, sondern das ist nüchternes Beschreiben der Realität. Schwarzmalerei führt im Zweifel nur dazu, daß die Dinge immer noch schlimmer werden. Schönfärberei und Vernebelung führen mit Sicherheit aber auch nicht zur Vertrauensstabilisierung. Im Gegenteil: Wird die Realität dann sichtbar, ist der Vertrauensschwund um so größer. Zu einem realistischen Bild unserer Wirtschaftslage gehört auch, daß unser Potential - Herr Rexrodt, da haben Sie völlig recht -, die wirtschaftliche Schwäche zu überwinden, durchaus gut ist. Es gibt eine Reihe von positiven Entwicklungen, die uns hoffen lassen, daß der Entwicklung nach unten ein Boden eingezogen ist, auch wenn der heute noch nicht sichtbar ist. Nach dem durch Stabilität geprägten zehnjährigen Aufschwung in den 80er Jahren sind die Verzerrungen in unserer Wirtschaft heute relativ gering. Recht hat der Bundeswirtschaftsminister, wenn er Ihnen sagt: Wenn wir nach 1982 nicht eine Konsolidierungspolitik durchgeführt hätten, wie wir es getan haben, dann hätten wir mit leeren Händen und leeren Taschen den Anforderungen der deutschen Einheit gegenübergestanden. Das ist die Wahrheit. Das können Sie nicht vernebeln. ({24}) Es haben sich in den letzten zwei Jahren, als die Stabilität Schaden nahm, noch keine großen inflationären Fehlsteuerungen und Strukturdefizite herausbilden können. Die Ertragslage unserer Unternehmen war gut. Jetzt ist sie schlechter geworden. Aber zehn gute Jahre haben wir den Unternehmen eine solide Bilanzstruktur verschafft. Wir werden das Potential zur wirtschaftlichen Umkehr nur dann erfolgreich nutzen, wenn keine wirtschaftspolitischen Fehler gemacht werden. Das Föderale Konsolidierungsprogramm ist darauf angelegt, die Rezession zu überwinden, das Vertrauen in die Solidität der Staatsfinanzen zurückzugewinnen, den wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Bundesländern zu fördern, den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern neu zu gestalten und die Finanzierung der Erblasten der ehemaligen DDR unter vernünftigen Bedingungen zu ermöglichen. Das ist der entscheidende Punkt dieses Programms, der entscheidende Eckpunkt des Solidarpaktes. Dabei muß jeder wissen - ich sage das gerade angesichts der heutigen trüben Nachrichten vom Arbeitsmarkt -, daß sich der Arbeitsmarkt als letzter Indikator einer wirtschaftlichen Aufwärtsbewegung bessert. Auch wenn es wieder nach oben geht, stellen die Unternehmen nur sehr zögerlich Personal ein. Das gilt für Deutschland mit seinen scharfen Kündigungsschutzbestimmungen noch stärker als für andere Länder. Meine Damen und Herren, ich halte die Kritik, die am Föderalen Konsolidierungsprogramm soziale Schieflage feststellen will, für falsch. Es gibt sie nicht. 30 % der Bevölkerung - das ist schon gesagt worden - zahlen schon jetzt 70 % der Abgaben und Steuern. Der Abbau von steuerlichen Vergünstigungen trifft nicht die unteren Einkommensschichten, sondern er trifft vor allem den Mittelstand. Die Versicherungssteuer belastet alle Bürger. Es ist richtig: Es werden auch Einschnitte im sozialen Bereich vorgenommen. Aber das ist nicht unzumutbar. Unsere Sozialstandards haben Weltniveau erreicht. Außerdem sind die Eckwerte der Sozialhilfeleistungen in den letzten Jahren - ich will Sie nicht mit den Zahlen langweilen - deutlich stärker gestiegen als die Lohnersatzleistungen und die Arbeitseinkommen. Dann gibt es eben keinen angemessenen Abstand mehr. ({25}) - Das ist so, Herr Reuschenbach. Sie können es sich ansehen. Ich stelle Ihnen die Zahlen gerne zur Verfügung. Bei einer solchen Struktur geht niemand mehr vom zweiten oder dritten Arbeitsmarkt in den ersten Arbeitsmarkt zurück. Da darf man sich nicht wundern, wenn in Thüringen eine Schokoladenfabrik eröffnet wird und bei 15 % Arbeitslosigkeit das Unternehmen keine Arbeitskräfte findet, weil die sagen: Mit Arbeitslosenunterstützung bekomme ich netto mehr Geld, als du mir auf der Basis des Tarifvertrags bezahlen kannst. Wie soll das denn gehen? ({26}) Da können wir nicht wettbewerbsfähig werden, da sind wir nicht wettbewerbsfähig. Die Konjunktur ist im Tal, und die strukturellen Probleme - sie sind angesprochen worden, auch von Herrn Lafontaine - verschärfen die Lage. Das Beispiel Stahl. Herr Lafontaine, die F.D.P. bestreitet nicht, daß nachlässige Beihilfepolitik der EG die Wettbewerbslage deutscher Unternehmen gefährdet hat. Das alles haben wir in der vorigen Stahlkrise auch schon erlebt, als Sie gerade Ministerpräsident im Saarland wurden. Aber es ist ebenso richtig, daß unsere Stahlunternehmen aus der letzten Krise nichts gelernt und keine Folgerungen gezogen haben. Sie haben danach im Aufschwung kräftig verdient, haben alle Kapazitäten weiterlaufen lassen und sie voll ausgefahren. Sie haben keine Vorsorge für Krisenfälle getroffen. Und nun rufen sie wieder nach dem Staat. Der Bundeswirtschaftsminister lehnt mit Recht eine nationale Stahlkonferenz ab. ({27}) Das einzige Ziel einer solchen Runde ist die Verlagerung der Verantwortung von Unternehmen und Gewerkschaften auf den Staat. Ich sage - und das, Herr Lafontaine, habe ich bei Ihnen vermißt -, das ist auch Verantwortung der Gewerkschaften. Alle diese Unternehmen sind montanmitbestimmt. Es wimmelt in den Aufsichtsräten von IG Metall-Funktionären, vorneweg Herr Steinkühler. Ich weiß nicht, ob Sie sehen können, was auf diesem Papier gelb ist. Das ist der Aufsichtsrat von Krupp, und die Gelben sind alles IG Metall-Vertreter, nicht die Belegschaftsvertreter. So sieht die Wirklichkeit aus. Die Arbeitsdirektoren sitzen in den Vorständen. Mitbestimmung heißt auch Mitverantwortung. Sich in die Büsche schlagen, sich in die Furche legen, das kommt nicht in Frage. ({28}) Sie gehen jetzt auf ihre Demonstrationen und beschimpfen den Staat. Sie haben alles mitgemacht. Sie haben diese ganze Entwicklung mitgetragen, die jetzt wieder zum selben Ergebnis führt. Sie haben nichts getan, um aus der vorigen Krise zu lernen. Und jetzt sind wir wieder schuld? Jetzt soll der Staat wieder antreten? Herr Lafontaine empfiehlt marktwirtschaftliche Industriepolitik. Sie kennen meine Position dazu. Diese Formulierung halte ich für einen schwarzen Schimmel, mindestens für einen Schecken. Die Irrtümer der Industriepolitik sind überall dieselben: Subventionen, Protektion, Abschottung der Märkte, staatliche Duldung oder gar Förderung von Kartellen und Monopolen und am Ende natürlich Investitionslenkung. Es kann gar nicht anders sein. Auf das japanische Beispiel wird heute mit sehr viel gedämpfterem Trommelklang verwiesen. Seit Jahr und Tag sage ich, daß die MITI-Strategie nicht sehr erfolgreich war. Man kann sich jetzt ansehen, was angerichtet worden ist. ({29}) - Nein, nein, Sie haben es heute nicht erwähnt, Herr Lafontaine. Die Vertreter der Industriepolitik behaupten - das haben sie heute auch getan - Marktversagen und leiten daraus die Berechtigung für Interventionen ab. Was sie allerdings übersehen, ist die Tatsche, daß der Staat in der Praxis keineswegs im Besitz der umfassenden Weisheit ist. Hayek hat von der „Anmaßung des Wissens in diesem Zusammenhang gesprochen. Wir sollten uns hüten, diesen falschen Weg zu gehen. ({30}) Der Staat ist im übrigen, meine Damen und Herren, jetzt nicht im Ruhrgebiet gefragt - schon gar nicht in erster Linie -, sondern wenn er gefragt ist, dann ist er bei EKO-Stahl in Eisenhüttenstadt gefragt. Es ist schon erstaunlich, daß Sie wieder vom Steinkohlenbergbau gesprochen haben, Herr Lafontaine - weil Sie den im Saarland haben - und kein Wort über den Braunkohlenbergbau in der Lausitz verloren haben, wo Zigtausende entlassen werden. Nichts! Das interessiert Sie überhaupt nicht. ({31}) Wenn in Eisenhüttenstadt ein sanierungsfähiges Unternehmen erhalten werden kann, dann muß dort geholfen werden, Herr Bundesfinanzminister, Herr Wirtschaftsminister, die Treuhandanstalt. Aber es dürfen nicht regionalpolitische Gründe für Sanierung und Erhaltung maßgeblich sein, sondern die Aussicht darauf, daß man ein solches Unternehmen wettbewerbsfähig machen kann und nach der von Ihnen gegebenen Devise dann in den Markt entlassen kann. Wenn das definiert wird, wenn das möglich ist, dann ja, auch wenn man dabei das Risiko läuft, etwas in den Sand zu setzen, auch wenn man das Risiko läuft, dabei Geld zu verlieren. Aber auf Dauer Industrieruinen zu unterhalten, die den Strukturwandel in Ostdeutschland behelligen, die verhindern, daß aus Ostdeutschland - wenn wir es denn richtig machen - ein hochwettbewerbsfähiger Teil unseres Landes wird, das darf nicht die Politik der Bundesregierung sein. ({32}) Ich sage es noch einmal: Taube Nüsse kann man nicht erhalten, aber gesunde Kerne pflegen und ausbauen und daraus etwas machen kann man sehr wohl. Es kommt jetzt darauf an, daß der Solidarpakt zum Abschluß gebracht wird. Ich bin der festen Überzeugung, daß die Perspektive für die deutsche Wirtschaft im Westen und im Osten positiv ist, wenn wir zu wirtschaftlicher Vernunft zurückkehren. Positiv wird die Perspektive vor allem dann sein, wenn wir weiter einen klaren marktwirtschaftlichen Kurs fahren, wenn Disziplin und Mäßigung das Verhalten der Akteure bestimmen, wenn es uns gelingt, gesamtwirtschaftlich wieder zum Kurs der finanzpolitischen Solidität zurückzukehren, wenn die Tarifvertragsparteien wieder ihrer beschäftigungspolitischen Verantwortung gerecht werden. Es ist ja richtig - das sage ich uns allen und auch den beiden anwesenden Ministerpräsidenten -: Es steht wirklich sehr viel auf dem Spiel. Es liegt an uns, ob wir das Spiel richtig gestalten. Aber weil die Herausforderung groß ist und weil ich hoffe, daß wir die Einsicht in die Lösungsmöglichkeiten haben und dann auch die Kraft, aus der Analyse heraus die richtigen Therapien durchzuführen, gerade deshalb, meine ich, muß es auch zu schaffen sein. Es wird zu schaffen sein. Die Fraktion der F.D.P. unterstützt die Bundesregierung bei diesen Bemühungen. Sie unterstützt vor allem, aber natürlich nicht allein, Bundeswirtschaftsminister Dr. Rexrodt. Ich danke Ihnen. ({33})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, als nächster hat unser Kollege Werner Schulz das Wort.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der nun schon mehrfach gelobten Rede des Wirtschaftsministers mit seiner Beschreibung des IstZustandes und wenig konstruktiven Ansätzen sehnt man sich fast nach Herrn Möllemann zurück. Der hatte immerhin Einfälle. Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz verlangt es: Die Bundesregierung hat, wie üblich verspätet, im Februar dem Parlament den Jahreswirtschaftsbericht vorgelegt. Nachdem nun die Bundesregierung und der Bundesrat nun zwei Stunden darüber diskutiert haben, hat jetzt die Runde der Parlamentarier begonnen. Den gesetzlichen Vorgaben wird der Jahreswirtschaftsbericht für meine Begriffe nicht gerecht. Zu lesen sind da Platitüden wie folgende: Der Sachverständigenrat betont zu Recht, daß die wirtschaftliche Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands eng miteinander verknüpft ist. Wer hätte das wohl bezweifelt? Meine Damen und Herren, glauben Sie ernsthaft, daß Sie mit solchen Flachheiten noch irgend jemanden beeindrucken können? Es wäre besser gewesen, Sie hätten sich statt mit der Pauschalaussage „Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland" etwas genauer mit dieser Frage beschäftigt. Denn wir haben trotz bzw. wegen der Wirtschafts- und Währungsunion zwei Wirtschaftsstandorte Deutschland, einen Werner Schulz ({0}) mittlerweile bedrohten im Westen und einen völlig zusammengebrochenen im Osten. Ostdeutsche konkurrieren gegen westdeutsche Standorte. Die Verteidigung der Arbeitsplätze West steht gegen die Deindustrialisierung Ost. Das ist die traurige Realität. Doch wer Strukturpolitik und vorausschauendes Handeln ablehnt, darf sich nicht wundern, wenn Attraktivität und Wirkungskraft beider Standorte nachlassen. Die Männerriege der letzten Wirtschaftsminister hat im Laufe der Amtszeit ihre Inkompetenz bewiesen. Der neue Wirtschaftsminister hat sich vorbeugend gleich nach Amtsantritt für unzuständig erklärt. „Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt", lautet seine Maxime. Ich hoffe nur, daß sie das nicht allzu wörtlich nehmen und daraus bald und nüchtern wieder herauskommen. Einer Wirtschaft, die sich selbst überlassen wird, droht die Verwahrlosung. Wohin der marktwirtschaftliche Selbstlauf führt, haben wir in den letzten beiden Jahren gesehen. Die 80er Jahre waren das Zeitalter der radikalen Marktwirtschaftsideologie, augesprägt bei Reagan in den USA oder in England bei der „Eisernen Lady". Der Weg von Helmut Kohl, der Weg der 80er Jahre - ich verkenne dies keineswegs - war etwas moderater, dennoch keine Blütezeit der sozialen Gerechtigkeit. Er war vielmehr eine Periode, in der die Ellenbogenmentalität zur neuen Tugend wurde. Die Bundesregierung hält an den überholten Konzepten der Deregulierung, der Entstaatlichung und des Sozialabbaus beharrlich fest, und das zu einer Zeit, in welcher der neue amerikanische Präsident einen mutigen Aufbruch wagt und das wirtschaftspolitische Leitbild einer ökologischen und sozialen Erneuerung beschreibt. Meine Damen und Herren, das wirtschaftspolitische Programm der Clinton-Regierung ist das Gebot der Stunde. Das gilt nicht nur für die USA, auch die Bundesrepublik braucht eine Politik der ökologischen Umorientierung, eine Politik des Schuldenabbaus, der Sparsamkeit und Haushaltskonsolidierung und eine Politik der sozialen Gerechtigkeit. Bill Clinton hat es den Amerikanern gesagt. Er verlangt Opfer von den Reichen und vom Mittelstand, doch vor allem: Er redet nicht nur, sondern er geht dem nationalen Kapital an den patriotischen Kragen. Dieser Mut fehlt dem Kanzler. Das macht ihn eben so kleinmütig. Vertrauensschwund, Herr Rexrodt, kommt nicht durch das Gerede, wie Sie gesagt haben, in der Frage gerechter Finanzierung der deutschen Einheit, sondern Vertrauensschwund kommt für meine Begriffe dadurch, daß die Politik heute dies und morgen das sagt, wenig tut und oftmals das Falsche einleitet. Herr Lambsdorff, ich glaube, diese Regierung hat sich ihre Vignette, das heillose Hickhack auf der schiefen Bahn, wirklich verdient. In der weltwirtschaftlichen Schönwetterperiode der 80er Jahre konnte das wirtschaftspolitische Dolce vita der Bundesregierung keinen allzu großen Schaden anrichten. Nun aber, nach der Wiedervereinigung, hat sich die Geschäftsgrundlage für die Wirtschaftspolitik grundlegend verändert. Jetzt werden die Folgen der wirtschaftspolitischen Ignoranz sichtbar. Der Sachverständigenrat hat auf diese Probleme schon seit Jahren hingewiesen. Die Bundesregierung hat dies routinemäßig zur Kenntnis genommen, getan hat sie nichts. Allenfalls hat sie die marktwirtschaftlich orientierte Politik des Sachverständigenrats aufgegriffen. Der Erfolg mußte ausbleiben. Die Bilanz ist allerdings erschütternd. Nach dem Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft droht der Niedergang ganzer Regionen, wandert das Humankapital ab - der letzte Standortfaktor, den die ostdeutschen Länder noch zu bieten haben - droht soziales Elend. Die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern hat die Ausmaße der Weltwirtschaftskrise erreicht. In Westdeutschland hat ebenfalls eine außerordentliche Beschäftigungskrise begonnen. Der Einigungsboom hat die weltweite zyklische Rezession nur verdeckt. Jetzt werden die Sünden der letzten Jahre und die unterlassenen Strukturanpassungen deutlich. Was im Moment boomt, sind die Konkurse. Die Zahl der Insolvenzen ist 1992 um fast 17 % angestiegen, allein in Ostdeutschland hat sich die Zahl verdreifacht. Wie vorauszusehen, hat sich für viele Existenzgründer der Aufschwung Ost mehr zur Grätsche gestaltet. Die Pannen in der Politik haben in der Wirtschaft ihr Echo gefunden. Meine Damen und Herren, die wesentliche Schlußfolgerung aber ist: Die konservative Vision zur wirtschaftlichen Entwicklung in Ostdeutschland hat sich als unbrauchbar herausgestellt. Diese Wirtschaftspolitik ist auch für die gesamte Bundesrepublik untauglich. Das Eingeständnis der Regierung im Entwurf zum Föderalen Konsolidierungsprogramm verdeutlicht das Scheitern ihrer Konzeption, sofern sie je eine hatte. Dort wird festgestellt: Mittelfristig müssen rund 5 % unseres Bruttosozialprodukts für den Aufbau im Osten bereitstehen. Das erfordert die Anpassung der Ansprüche im ursprünglichen Bundesgebiet. Ich vermute, in der Koalition haben etliche noch nicht begriffen, was das bedeutet. Bisher hat sich die Bundesregierung um diese Aussage gedrückt, obwohl schon seit 1990 klar war, daß ihre Politik zu solchen Folgen führen würde. Sie hat mit Steuerlügen, mit Versprechungen versucht, sich über die Zeit zu retten, und sie hat versucht, die Schuld auf andere abzuwälzen. Jetzt versucht die Regierung, die von ihr angekündigte Konsolidierung der Staatsfinanzen auf Kosten der Schwachen durchzusetzen. Was gestern im Kabinett verabschiedet wurde, ist kein Solidarpakt, sondern die Aufkündigung des Sozialstaats. Nach den Schuldenexzessen der vergangenen Jahre wird nun den kleinen Leuten die Rechnung präsentiert. Wir werden aber nicht hinnehmen, daß diese Regierung das Arbeitslosengeld und die Sozialhilfe kürzt, während sie gleichzeitig den Unternehmern Steuergeschenke machen will. Wir werden nicht hinnehmen, daß die Ausbildungsförderung für Studenten storniert wird, während Steuerhinterziehung in hohem Umfang toleriert wird. Die geplanten Einsparungen vertiefen die sozialen Ungerechtigkeiten und zerrütten den Sozialstaat. Das Sparprogramm der Bundesregierung ist kein Beitrag zu einem Solidarpakt, sondern erschöpft sich im Versuch zu einer klientelorientierten Konsolidierung des Bun12400 Werner Schulz ({1}) deshaushalts. Das Anliegen einer solidarischen Lastenteilung wird dadurch ins Gegenteil verkehrt. Die Lasten müssen allerdings gerechter verteilt werden. Wir verlangen deshalb einen neuen Lastenausgleich, der die Menschen in der Bundesrepublik entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit am wirtschaftlichen und sozialen Aufbau in den neuen Bundesländern beteiligt. Es müssen die ökologischen Umbauerfordernisse berücksichtigt werden. Ein neuer Lastenausgleich zielt auf eine gerechte Belastung von Einkommen und Vermögen. Bisher ist das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit weithin verletzt worden. Deshalb müssen die hohen Einkommen und Vermögen, ja, auch die Gewinner der deutschen Einheit einen höheren Beitrag als bisher für diese langfristige Aufgabe leisten. Folgende Maßnahmen sind unverzichtbar. Wir fordern eine Investitionshilfeabgabe. Das ist wahrlich nichts Neues, das hat sich schon Ludwig Erhard 1952 durch ein Investitionshilfegesetz einfallen lassen. Wir sind der Meinung, daß die Gewinner der deutschen Einheit, die zwar einen Absatzmarkt dazugewonnen haben, aber nicht bereit sind, im Osten zu investieren, zu einem Reinvestitionsgebot Ost aufgefordert werden. ({2}) - Leider gibt es solche, die dort nur abkassieren und keine müde Mark in den Aufbau Ost stecken. Ich weiß schon, wovon ich spreche. Wenn Sie mich ausreden lassen, würden Sie zudem erfahren, daß wir die, die im Osten tatsächlich investieren, hier natürlich nicht mit erfassen wollen. Wir brauchen aber auch eine Arbeitsmarktabgabe von Selbständigen und Beamten; ich will das nicht weiter ausführen. Wir brauchen auch eine Ergänzungsabgabe. Diese Einnahmen sind nötig, um die Investitionsankurbelung im Osten wirklich zustande zu bringen. Die Bundesregierung strebt einen anderen Weg an. Sie möchte die unteren Einkommen belasten, gleichzeitig will sie eine Senkung der Spitzensteuersätze für Großverdiener. Sie bleibt ökologisch blind und zerrüttet die Staatsfinanzen. Dies ist kein Solidarpakt, sondern ein Finanzpaket zur Entsolidarisierung. Die marktwirtschaftliche Rhetorik hat die Bundesregierung bisher nie daran gehindert, einen wirtschaftspolitischen Aktivismus besonderer Art zu entwickeln. Nichts war unmöglich, wenn es darum ging, besonders treue Wählerschichten - nicht nur die Sponsoren - mit kleinen Aufmerksamkeiten zu bedenken. Deshalb verwundert es nicht, daß die staatlichen Subventionen in dieser Zeit nicht gesunken sind. Nach einer Berechnung des DIW sind die Subventionen von 1980 bis heute nahezu kontinuierlich gestiegen. Trotz mehrfacher Ankündigungen gibt es keinen Kurswechsel in der Subventionspraxis. Die Kritik trifft aber nicht nur die Bundesregierung. Es ist nicht gerade glaubwürdig, wenn sich ausgerechnet sozialdemokratische Finanzpolitiker zu schärfsten Subventionskritikern gewandelt haben, nachdem sie diese Subventionen vor Jahren eingeführt haben. Ebenso merkwürdig ist, wenn die Bundespolitiker der SPD den Abbau von Finanzhilfen fordern, während in den Ländern eben diese Subventionen verteidigt werden. Meine Damen und Herren, statt klientelorientierter Sparmaßnahmen schlagen wir vor, endlich diejenigen Subventionen abzubauen, die aus sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Gründen schon bisher ungerechtfertigt waren. Durchforsten wir den Subventionsdschungel! Ich bin bereit. Die Marktwirtschaft wird es auf jeden Fall beleben. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile das Wort unserem Kollegen Rainer Haungs.

Rainer Haungs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000830, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf die Argumente und Vorwürfe einiger Oppositionsredner, wir ständen vor dem Ergebnis einer verfehlten Wirtschaftspolitik, braucht man angesichts der Zahlen, der Schaffung von über 3 Millionen neuen Arbeitsplätzen, der Tatsache, daß wir mit 29,5 Millionen Arbeitnehmern den höchsten Stand der Nachkriegszeit in den alten Bundesländern erreicht haben, eigentlich gar nicht einzugehen. Nur so - dies wurde von meinen Vorrednern gesagt - waren wir in der Lage, die bisherigen Herausforderungen, die durch die deutsche Einheit ökonomisch erwachsen sind, zu bewältigen. ({0}) Heute, im März 1993, ist die Ausgangslage, ökonomisch gesehen, unstrittig. Wir befinden uns in einem Konjunkturtal, die Wirtschaft schrumpft und Arbeitsplätze gehen verloren. Deshalb ist die Wirtschaftspolitik gefordert, sich auf ein Hauptziel zu konzentrieren und nicht alle Möglichkeiten darzulegen und die Investoren und die Konsumenten zu verwirren. Deshalb sage ich klar und deutlich und will dies in meinen Ausführungen auch an Beispielen belegen, daß alle Maßnahmen, die zur Stärkung der Investitionskraft beitragen, schnell umgesetzt werden müssen und alle vermeidbaren Belastungen, die Arbeitsplätze gefährden - davon bringt die Opposition einen ganzen bunten Strauß - jetzt nicht diskutiert werden dürfen. ({1}) Deshalb ist auch die wiederholt vorgetragene Forderung nach einer Beseitigung der sozialen Schieflage oder nach der Beseitigung der Gerechtigkeitslücke zum heutigen Zeitpunkt noch törichter als früher. Ich kann nur voll und ganz dem Titel des Sachverständigenratsgutachtens zustimmen: Eine Wirtschaftspolitik „für Wachstumsorientierung - gegen lähmenden Verteilungsstreit" - wie es darin klar und deutlich heißt - gibt uns alle Chancen, aus dem jetzigen Konjunkturtal herauszukommen. ({2}) Deshalb betone auch ich, wie dies schon einige Vorredner zu Recht getan haben, daß wir heute, in einem föderalen Bundesstaat, mit unabhängiger Bundesbank, mit Tarifautonomie, die großen Aufgaben nur gemeinsam lösen können. Ich appelliere an alle, sich nicht aus egoistischen Motiven einer schnellen Einigung zu verschließen. Niemand sollte aus der Verlängerung der ökonomischen Krise politisches Kapital schlagen. Alle, auch die Opposition, auch die Bundesländer, sollten sich ihrer Verantwortung bewußt sein. Je schneller wir das Föderale Konsolidierungsprogramm beschließen und somit allen Bürgern Klarheit über Einsparungen und Belastungen verschaffen, um so besser für die wirtschaftliche Erholung! Die Wirtschaft, meine Damen und Herren, verträgt viel. Die Ungewißheit über die Rahmenbedingungen ist aber lähmend. Sichere Planungsgrundlagen - da dürften Sie von der Opposition mir sicherlich auch zustimmen - sind für Investoren unverzichtbar. ({3}) Es steht viel auf dem Spiel - so sagen die Sachverständigen -, weil der Konjunkturabschwung wahrscheinlich länger dauern wird und tiefer gehen wird, als sie bei der Abfassung ihres Gutachtens im vergangenen Jahr angenommen haben. Deshalb sollten wir uns bei der Schaffung neuer wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze am Wirtschaftsstandort Deutschland über drei Dinge klar sein: Erstens. Die Senkung der Einkommen- und Körperschaftsteuer auf die mit Gewerbesteuer vorbelasteten Ertragsbestandteile im Standortsicherungsgesetz ist unbedingt notwendig und darf nicht verschoben werden, ({4}) Dies ist das erhoffte und erwartete Signal an alle Investoren. Ich stimme dem SPD-Wirtschaftsminister Spöri zu - wo er recht hat, da soll er recht haben -: ({5}) Wenn man noch mehr senken könnte, wäre es noch besser; aber hier etwas zu zerreden und zu verschieben wäre falsch. - Die einmalige prohibitive, weltweit einmalig hohe Unternehmensbesteuerung zu senken ist das Gebot der Stunde. Wenn hier Oppositionsredner auf Beispiele der USA hinweisen, dann kann ich nur noch einmal wiederholen: Glücklich wäre die deutsche Wirtschaft, wenn sie die Steuerbelastung hätte, die in unserem Wettbewerbsland USA herrscht. ({6}) Zweitens. Die öffentlichen Ausgaben sind strikt zu begrenzen. - Da haben die Sozialdemokraten sehr wenig gelernt; Sie hoffen oder glauben immer noch, daß eine Dynamik in einer marktwirtschaftlich orientierten Wirtschaft durch eine Erhöhung der Staatsquote zu erreichen ist. Wir haben eine Erhöhung, vereinigungsbedingt und unabweisbar; aber jetzt ist die Zeit gekommen, diese Ausgabenerhöhungen wieder zurückzuführen. Ich scheue mich nicht zu sagen, daß auch Kürzungen im sozialen Bereich kein Tabu sein dürfen. Der Finanzminister hat schon darauf hingewiesen, daß sich in allen vergleichbaren europäischen Nachbarländern, ganz gleich, wie die politischen Mehrheiten dort sind, die ökonomische Vernunft durchgesetzt hat und das Überforderungsproblem bei den Sozialleistungen in den öffentlichen Haushalten gesehen worden ist. Wir müssen verhindern, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß das Leben auf Staatskosten lohnender wird als die Suche nach einem Arbeitsplatz; denn dann wird Sozialpolitik in einem Sozialstaat keine Wohltat, sondern eine Plage. ({7}) Drittens. Eine konsequente Privatisierungspolitik, von der Deutschen Eisenbahn AG bis zu allen möglichen Infrastrukturprojekten, darunter auch das deutsche Autobahnnetz, bringt unternehmerische Dynamik in die Wirtschaft und stärkt die Nachfrage, und zwar wesentlich kräftiger, wesentlich besser, als dies jegliches staatliche Programm kann. Leider können wir von der SPD-Opposition hier nichts erwarten, wenn die finanzpolitische Sprecherin zum Thema Privatisierung am Beispiel Autobahn nichts anderes zu bemerken hatte als - ich zitiere aus einem Fernsehinterview -: Wenn es Private machen, wird es tendenziell teurer; denn bei einer Privatisierung will immer einer Gewinn machen. - Meine Damen und Herren, eine seltsame Auffassung von Marktwirtschaft! ({8}) Der Bund hat in der Vergangenheit große Bundesunternehmen privatisiert und soll auf diesem Weg energisch weitergehen. Bei den Ländern und Gemeinden - das will ich anfügen - fehlt anscheinend noch jegliche Neigung, sich von ihren mannigfaltigen Beteiligungen zu trennen. Dabei verfügen gerade die alten Bundesländer und Gemeinden über Tausende von Wirtschaftsbetrieben, die mindestens so gut und im Regelfall sogar kostengünstiger von privaten Unternehmen geführt werden können; denn eines ist sicher: Unter dem Strich ist eine staatliche oder kommunale Betätigung in der Wirtschaft eine finanzielle Belastung für die öffentlichen Haushalte, die in der Vergangenheit vielleicht hingenommen werden konnte, heute aber nicht mehr zur Lösung der Probleme beiträgt. In den letzten zehn Jahren wirtschaftlichen Wachstums - das muß man selbstkritisch sehen - hat die deutsche Wirtschaft auch an einigen Stellen etwas Fett angesetzt. ({9}) Nun, in der derzeitigen Krise, ist der richtige Zeitpunkt zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme gekommen. Die vorhandenen strukturellen Schwächen - sie wurden schon in vielfältiger Weise angesprochen - müssen bei einer immer stärkeren internationalen Arbeitsteilung durch schlanke Produktion abgestellt werden. Nur wenn wir die heutige Krise als Chance begreifen und aus ihr lernen, werden wir in der Bundesrepublik Deutschland gestärkt daraus hervorgehen. ({10}) Sicher: Schwieriger und unbequemer, als auf die flaue Konjunktur zu verweisen und auf einen Aufschwung zu hoffen, ist es, ausgetretene Pfade zu verlassen, Mängel im Unternehmen zu erkennen und zu beseitigen. Dies ist möglich, und dies ist der richtige Zeitpunkt dazu. Mit Pessimismus jedoch kann man keinen Konjunkturaufschwung bewirken. ({11}) Deshalb bin ich fest davon überzeugt, daß wir den Strukturwandel nur schaffen, wenn wir mit einem dynamischen Wettbewerb die Marktkräfte stärken. Dies gilt auch in der heutigen kritischen Situation für den Arbeitsmarkt, der ja kaum mehr den Namen „Markt" verdient. Die derzeitige Konjunkturabschwächung hat auch in diesem Punkt die Schwächen des Standorts Deutschland deutlich gemacht. Extrem hohe Arbeitskosten auf der einen und kurze Arbeitszeiten auf der anderen Seite haben eben dazu geführt, daß viele Unternehmen mit den Problemen in einem härter gewordenen weltwirtschaftlichen Wettbewerb nicht mehr fertig werden. Dies sagt auch der Jahreswirtschaftsbericht und führt hierzu aus, daß die Lösung der Arbeitsmarktprobleme in West- wie in Ostdeutschland die Rückkehr zu einer verantwortungsbewußten Tarifpolitik verlangen. Es gibt im jetzigen Augenblick positive Beispiele - auch sie wurden genannt -, es gibt aber auch viel Rechthaberei, bei der tradierte Verhaltensweisen der letzten Jahrzehnte fortgeschrieben werden. Wer mehr neue Arbeitsplätze in Deutschland will, muß, auch wenn es einem nicht gefällt, Lohnzuwächse unterhalb des Produktivitätsfortschrittes vereinbaren, bis der von allen gewünschte Beschäftigungsstand erreicht ist. Niemand, meine Damen und Herren, erweist unseren Arbeitern und Angestellten einen guten Dienst, wenn er bei Tarifverhandlungen Verbesserungen verspricht oder fordert, die ohne volkswirtschaftliche Schäden kein Betrieb, eine öffentliche Hand schon gar nicht, bezahlen kann. ({12}) Meine Damen und Herren, die Probleme von heute sind nicht mehr mit dem rituellen Verhalten von gestern zu lösen. Nehmen wir, bei voller Wahrung der Tarifautonomie, doch endlich Abschied von den Verteilungskampfmustern, die nichts anderes als politische Augenwischerei darstellen! Es gibt im Augenblick nichts zu teilen und zu verteilen - darauf hat Graf Lambsdorff hingewiesen -, sondern es geht darum, mehr zu produzieren. Mit einer halb karitativen Samariterhaltung können Sie in Familien und kleinen Kreisen, auch bei Kirchen sehr wohl Erfolge erreichen; eine dynamische Volkswirtschaft kann die Probleme nicht lösen, wenn sie in den Vordergrund der Politik stellt, Vorhandenes zu verteilen. ({13}) Ein Detail dazu. - Die Arbeitsvermittlung muß auch durch die Zulassung privater Arbeitsvermittler zusätzlich und im Wettbewerb zu den Arbeitsämtern, die ja tatsächlich keine optimalen Leistungen erbringen, ihren Beitrag liefern. ({14}) Ich bin froh darüber, daß uns dies nach der Kündigung des ILO-Abkommens möglich ist. Ich fordere alle Regierungsmitglieder auf, daran mitzuwirken, daß wir auch diese Komponente der Verbesserung des Arbeitsmarkts in die Tat umsetzen. ({15}) Wenn wir diese Debatte zum Anlaß nehmen, über den Tag hinaus zu denken, können wir unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit, über die wir uns zu Recht Sorge machen, nur durch einige Maßnahmen verändern, die ich kurz darlegen will. Dabei ist die wirtschaftliche Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands eng miteinander verknüpft. Wir müssen auch im ökonomischen jetzt gemeinsam denken, nachdem wir die politische Wiedervereinigung erreicht haben. Denn viele Unternehmen in Ost wie in West stehen vor den gleichen Problemen. Keine Lösung, um dies am Anfang zu sagen, darf es auch in Zukunft sein, sich abzuschotten oder auf bequeme Art auf Einfuhrbeschränkungen zu hoffen. Für ein Land, das wie die Bundesrepublik Deutschland vom Export lebt und durch den Export Arbeitsplätze sichert und zu Wohlstand gekommen ist, dürfen wir nicht den einfachen, bequemen Weg nehmen. Genausowenig kann es eine Lösung sein, und auch dies gilt für Ost wie für West, alte Produktionsanlagen mit Subventionen der Steuerzahler zu erhalten. Hierbei müssen wir doch klar sehen: Jede Mark, die jetzt und in Zukunft für alte Strukturen ausgegeben wird, wird uns bei der Entwicklung neuer, zukunftsträchtiger Strukturen fehlen. Die Krise vieler Branchen zeigt es doch deutlich: Der Preis und die Beschaffenheit mancher Produkte - so einfach ist dies - sind auf dem internationalen Markt kaum noch wettbewerbsfähig. Dabei fließen in den Preis viele Komponenten ein, doch ein wichtiger - und man kann nicht darüber hinwegsehen - sind die Personalkosten, und da sind wir Spitze. Bei Spitzenprodukten stellt sich dieses Problem nicht, wohl aber bei der Vielzahl von Allerweltsprodukten, die bei uns nicht mehr produzierbar, weil nicht mehr kalkulierbar sind. Unsere Unternehmen sagen doch klipp und klar, warum sie im Ausland investieren. Bei der Globalisierung der Märkte ist dies zwar auch ein Zeichen von Marktstrategie, aber täuschen wir uns doch darüber nicht, es sind vor allem, gerade für viele mittelständische Unternehmen, die Kosten, die die deutschen Unternehmen ins Ausland abwandern und dort investieren lassen. So läßt - ein gutes Beispiel - eine große deutsche Autofirma ihre Motoren in Steyr ({16}) produzieren anstatt in München, da dort die Steuern um 20 Prozentpunkte niedriger liegen. Ich frage Sie: Wo wird denn in Zukunft dann eine Erweiterung deutscher Unternehmen stattfinden? Ich glaube, dies liegt auf der Hand. Wenn die Produktion in dem neuen BMW-Werk - ich mache keine Werbung - in den USA um ein Drittel preiswerter ist, als sie in Deutschland durchgeführt werden kann, was wollen wir denn dann mit den Arbeitnehmern machen, die durch Auslandsinvestitionen freigesetzt werden? Da sind Sie schnell am Ende mit Ihrem Latein, Herr Lafontaine - er ist nicht mehr da -, wenn Sie von einer offensiven Arbeitsmarktpolitik sprechen. Sie glauben doch im Ernst nicht daran, daß wir mit den ABM- Mitteln, die gewachsen und nicht geschrumpft sind, selbst wenn wir 10 Milliarden DM investieren, eine Möglichkeit haben, dauerhafte Arbeitsplätze zu schaffen. Dies ist es selbstverständlich nicht, sondern es ist eine sozialpolitische Flankierung, eine arbeitsmarktpolitische Aktion, die dringend notwendig ist. Wir müssen sie aber in ihrer politischen Bedeutung richtig sehen. Die Schaffung von Rahmenbedingungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, in Deutschland, die es den Unternehmen erlauben, bei uns zu investieren und trotzdem auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig zu sein, das ist die Aufgabe der Stunde, das sind die besten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. ({17}) Uns haben doch die Ereignisse der letzten Tage, sei es die Stahlkrise in Nordrhein-Westfalen oder in Brandenburg oder die Kündigung der Tarifverträge in den neuen Bundesländern bei Metall, deutlich vor Augen geführt, wie anfällig der Standort Deutschland in einer Zeit ist, in der eine immer größer werdende Abhängigkeit zwischen den Märkten auftritt. Es darf nicht sein, daß die deutsche Wirtschaft gezwungen ist - und viele Unternehmen sind dazu gezwungen -, ihre betriebswirtschaftlichen Probleme zu Lasten der Volkswirtschaft zu lösen. Unbestreitbar hat der Standort Deutschland nach wie vor viele Vorteile, aber wir sollten diese Dinge, die ich kurz angesprochen habe, ändern, damit nicht am Ende die Summe der Nachteile die Summe der Vorteile übersteigt. Ich fasse zusammen. Wir stehen heute vor der dreifachen Herausforderung: erstens, in den neuen Bundesländern auf allen Gebieten den Aufbau zu schaffen, zweitens, den konjunkturellen Abschwung zu überwinden, drittens, die Strukturschwäche zu beseitigen, um bei besserer Weltkonjunktur mit mehr konkurrenzfähigen Produkten voll im Wettbewerb dabeizusein. Dabei behaupte ich, daß unser Konzept schlüssig ist und auch die Strategie nachvollziehbar. Was die Opposition anbietet, ist widersprüchlich. Ich brauche es nicht zu wiederholen, es wird dadurch nicht besser. Es führt zu mehr Abgaben und zu Steuererhöhungen. Somit ist der SPD wieder einmal nicht mehr eingefallen als eine Steuererhöhung für einen Teil der Bürger, und - ich will es noch einmal wiederholen, weil es von so primitiver ökonomischer Logik ist - man glaubt, wenn man nur den besserverdienenden Teil der Mitbürger mit einer Ergänzungsabgabe belegt, was man mit dem primitiven Argument verbindet, dadurch ändere sich nur die Sparquote und sonst nichts, daß man dadurch einen Beitrag zur Lösung des Hauptproblems, mehr Investitionen, liefert. Wenn in den USA das Hauptproblem gerade darin besteht, daß die Sparquote wesentlich zu gering ist, dann sollten wir zumindest auf dem Gebiet, auf dem wir noch gute Zahlen vorweisen können, nicht auch noch einen Fehler machen zu all den Fehlern, die die SPD bei ihren anderen Vorschlägen bringt. ({18}) Ministerpräsident Lafontaine war so gewissenhaft, zu überprüfen, was alles verfassungsmäßig ist von dem, was von uns vorgeschlagen wird. Er hatte dann aber überhaupt keine Probleme, eine Arbeitsmarktabgabe vorzuschlagen, die mit Sicherheit verfassungsmäßige Probleme mit sich bringt. ({19}) Ich bin aber auch aus einem ganz anderen Grund dagegen. Denn zum heutigen Zeitpunkt eine Arbeitsmarktabgabe von Selbständigen zu fordern, soll dies die Selbständigen, von denen wir jetzt mehr Dynamik, mehr Risiko und mehr Engagement erwarten, ermutigen, neue Risiken einzugehen? Soll gerade diese Gruppe der Gesellschaft, die Arbeitsplätze schafft, eine Bestrafungsabgabe bezahlen? Das kann doch wohl nicht wahr sein. ({20}) Wenn wir noch ökonomisch sinnvolle Maßnahmen, die doch der Motivation der Entscheidungsträger dienen, durchführen, dann dürfen wir doch nicht diese Leistungsträger als maßgebliche Träger der Konjunktur mit einer Steuer bestrafen, von der sie überhaupt nichts haben und für die es überhaupt keine sachliche Logik gibt. Denn das Arbeitsplatzrisiko des Selbständigen, gerade des kleinen Selbständigen, ist nicht versicherbar. Es läßt sich nicht versichern, es soll auch nicht versichert werden. Es ist der Kern der Wettbewerbswirtschaft bei uns in der Marktwirtschaft. Lassen Sie mich abschließend einen Gedanken äußern, der für mich noch wesentlich zentraler ist als die Defizite in den Haushalten. Wir haben nicht nur Haushaltsdefizite, die können wir durch energisches Handeln, durch Kürzung von Ansprüchen an den Staat beheben. Wir haben leider in unserer Gesellschaft eine sehr empfindliche Unternehmerlücke. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten brauchen wir mehr Menschen, die bereit sind, gegen den Strom zu schwimmen, mehr zu arbeiten, mehr zu riskieren, kurz gesagt: unternehmerisch tätig zu sein. Diesen Personenkreis mit unbegründeten Abgaben zu belasten bedeutet, ihn in die Flucht zu schlagen, bedeutet, mit ihm Arbeitsplätze auswandern zu lassen. ({21}) Dies jedoch kann nicht unser Ziel sein, sondern unser Ziel soll sein - und damit darf ich schließen - ein klares Bekenntnis zu Wohlstand, zu Sicherheit und zu wirtschaftlichem Wachstum im vereinten Deutschland. Vielen Dank. ({22})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren! Ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Wolfgang Roth.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hätte mich gern mit den Argumenten der beiden Ministerpräsidenten auseinandergesetzt, die heute früh das verfassungsmäßig begründete Recht wahrgenommen haben, hier im Deutschen Bundestag zu reden, Herr Biedenkopf und Herr Lafontaine. Aber ich muß feststellen, daß sie jetzt dringendere Aufgaben haben, als dem Wirschaftssprecher der CDU/CSU-Fraktion und dem Wirt12404 schaftssprecher der SPD-Fraktion zuzuhören. Ich bin der Auffassung, Herr Präsident - Sie werden das zu würdigen wissen -, daß das auch wenigstens eine Diskussion im Ältestenrat wert wäre, daß diese Art von Verhaltensweisen von uns jedenfalls nicht akzeptiert wird. ({0}) - Dieser Zwischenruf, Herr Hinsken, sie würden nichts versäumen, ist eine Charakterisierung der Rede meines Vorredners, die er nicht verdient hat. Ich fand sie ganz bemerkenswert. ({1}) Die Bundesrepublik Deutschland ist; wie Sie alle wissen, unvermittelt in die tiefste Wirtschaftskrise der Bundesrepublik seit dem Zweiten Weltkrieg gerutscht. Die Rezession ist tiefer und ausgeprägter als diejenige der Jahre 1973 bis 75 bzw. der Jahre 1980 bis 82. Ich habe schon in der Haushaltsdebatte auf die beginnende Rezession hingewiesen, was mit Zwischenrufen von Ihnen begleitet wurde. Sie haben damals gesagt, das sei Schwarzmalerei. Ich muß nun gestehen, daß ich in jener Rede den Rückschlag unterschätzt habe. Ich habe da nämlich das Wort Rezession nicht benutzt, sondern gesagt, wir sind in der Gefahr, daß dem nicht erfolgten Aufschwung im Osten nun ein Abschwung im Westen folgen würde. Ich konnte da gar nicht ausreden. Inzwischen hat sich herausgestellt, daß die Rezession sehr viel tiefer ist. Ich muß mich also korrigieren. Allerdings habe ich eine Begründung für die Notwendigkeit meiner Korrektur. Ich habe mir nicht vorstellen können, wieviel wirtschaftspolitische Fehler seit September 1992 in der Bundesrepublik durch die Bundesregierung gemacht würden. ({2}) Fehler Nr. 1: Da wird die Solidaritätsabgabe abgeschafft und gleichzeitig die Mehrwertsteuer erhöht. Das heißt, man führt eine Steuer ein, die preistreibend ist, und schafft eine ab, die in der Wirkung auf die Volkswirtschaft relativ gemildert ist. Das Ergebnis ist - das ist der zweite wirtschaftspolitische Fehler -, daß wir eine Steigerung der Inflation von 3,5 % im Dezember auf 4,4 % im Januar hatten. Der dritte Fehler, der damit verbunden ist, ist folgender: Jetzt reagiert die Bundesbank nicht, wie es in der Rezession notwendig gewesen wäre, mit schneller Zinssenkung, sondern sie versucht erneut, diese Inflation zu bekämpfen und verschärft damit die Rezession. Diese Fehler, die in wenigen Wochen gemacht wurden, sind meines Erachtens völlig indiskutabel. ({3}) Der vierte Fehler, Herr Faltlhauser - da nehme ich Bezug auf den gestrigen Abend -, ist folgender: Seit Monaten gibt es in der Bundesrepublik eine Steuerdiskussion. Es geht hin und her und zurück, und es kommt wieder ein neuer Vorschlag und wieder eine Aufhebung. Dadurch wird die Wirtschaft verunsichert. Die Wirtschaft hat hinsichtlich der Investitionstätigkeit auf Abwarten gestellt. Das ist der vierte entscheidende Fehler, den Sie zu verantworten haben. ({4}) Ich sage ja nicht, daß diese Rezession völlig vermeidbar war. In den USA haben wir sie seit zweieinhalb Jahren, und es war logisch, daß sie auch bei uns kam. Aber der entscheidende Punkt ist doch, daß die Bundesregierung die Rezession seit Monaten ständig verschärft, statt sie zu bekämpfen und wirklich anzugehen. Das ist der entscheidende Punkt. ({5}) - Herr Hinsken, wenn Sie die Papiere zur Anhörung zum Standortsicherungsgesetz im Finanzausschuß nachlesen, merken Sie, daß mitten in der Rezession ein weiterer Fehler gemacht wird. Sie verschlechtern die Abschreibungsbedingungen. Sie verschlechtern die Situation derjenigen Unternehmen, die investitionswillig sind, und machen pauschale Steuersenkungen, die im Schnitt gerade denen am meisten helfen, die nicht Unternehmer sind, die nicht investieren und die nicht aktiv sind. ({6}) Lesen Sie beispielsweise den Text des DIW nach, der heute veröffentlicht worden ist. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung weist an Hand von Beispielrechnungen schlagend nach, daß gerade die Unternehmen geschädigt werden, die Investitionspläne haben, die nach vorn wollen, die also die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit im Vordergrund sehen. ({7}) Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch einige Worte zum Jahreswirtschaftsbericht und zur Funktion des Bundeswirtschaftsministeriums sagen. Ich bin auch da, wie ich glaube, gerecht. Seit 1949 hatte es das Wirtschaftsministerium schon immer schwer - heute wird das immer verklärt mit den Namen Erhard und Schiller -, seine Position gegen andere Ressorts zu vertreten und das wirtschaftlich Vernünftige auch wirklich umzusetzen. Aber ich habe, solange ich im Bundestag bin - das sind jetzt 17 Jahre -, noch keine Situation erlebt, in der das Bundeswirtschaftsministerium einen derartigen Funktionsverlust erlitten hat. Daß Sie beispielsweise diese chaotische verkehrspolitische Diskussion in den letzten Tagen ohne öffentlichen Kommentar zugelassen haben, bedeutet einen weiteren Funktionsverlust für das Wirtschaftsministerium. Das nimmt keiner mehr ernst. ({8}) An Sie gerichtet möchte ich sagen: Jetzt waren Sie wenigstens ein Trippelschrittchen in Richtung einer ökologischen Steuerreform gegangen. Ich halte es insgesamt für eine richtige Orientierung, zu sagen: Wir kommen um eine Mineralölsteuererhöhung nicht herum; das ist auch im Hinblick auf Einsparungen und angesichts der Verkehrssituation das Richtige. - Das gilt dann zwei Tage, aber nach zwei Tagen fängt in der CDU/CSU-Fraktion die Lastwagendiskussion an, und jetzt gilt für mehrere Wochen wieder gar nichts mehr. Es werden die Minister nach Brüssel geschickt, sie sollen doch bitte schön die Holländer überzeugen, daß sie beim Thema Lastwagen einmal vernünftig werden. Das hätten wir doch schon in den letzten zehn Jahren machen können, wenn das so einfach gewesen wäre. ({9}) Lassen Sie mich nur noch einige Worte, weil ich da eine Zwischenfrage an Herrn Biedenkopf gestellt habe, zur Prognose sagen. Sie sagen: plus minus null. Das ist eine Jahresprojektion. Ich sage, es wird bedeutend kritischer. Meine Bitte an Sie wäre, jetzt einfach den Text Ihres eigenen Berichts zu vergessen und sich mit wirtschaftspolitischen Instrumenten und Entscheidungen auf minus zwei einzustellen und auf einen Zuwachs der Arbeitslosigkeit um mindestens 500 000, vielleicht sogar 600 000. Wenn Sie die Zahlen von heute betrachten, die gerade in Nürnberg veröffentlicht worden sind, dann sehen Sie bereits im Jahresvergleich einen Zuwachs von über 400 000. Das ist eine bedrohliche, eine dramatische Entwicklung. Ich glaube, wir alle haben Grund - ich schaue auch in die Richtung - zu überlegen, welche wirtschaftspolitischen Instrumente jetzt richtig sind. Ich würde Ihnen, Herr Bundeswirtschaftsminister Rexrodt, empfehlen - das haben wir in der Vergangenheit schon einmal praktiziert -, daß Sie einen Auftrag an den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Situation geben. Er soll in wenigen Wochen - er hat das einmal in 14 Tagen gemacht - ein Gutachten zur Wirtschaftsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland erstellen. Warum dränge ich zur Eile, Graf Lambsdorff? Die Überlegung ist, daß wir mit einem seriösen neuen Gutachten des Sachverständigenrats - Sie selbst haben ja gesagt, die Zahlen sind auf Grund der gegenwärtigen Situation veraltet - die Chance haben, vielleicht auch die Verhandlungen zwischen Bund und Ländern und beiden großen Parteien unter Einschluß der F.D.P. als Partner der anderen großen Fraktionsgemeinschaft beeinflussen können. Meine Meinung ist, daß wir uns alle noch nicht bewußt sind, wie stark der Rückschlag in der Konjunktur ist. In einer derartigen Situation mag das Wachstums- und Stabilitätsgesetz, wie Professor Biedenkopf gesagt hat, in Details durchaus überholt sein. In dieser Frage aber ist es überhaupt nicht überholt; denn wir haben im Wachstums- und Stabilitätsgesetz das Instrument der Begutachtung als Schnellgutachten durchaus vorgesehen, und es könnte jetzt sehr hilfreich sein. Vielleicht könnte es die Folge haben, daß manche aus den Schützengräben herauskommen, in die sie sich jetzt bei den Verhandlungen, was den Solidaritätspakt betrifft, bewegt haben. Als Beispiel nenne ich die Arbeitsmarktpolitik. Es kann doch wohl nicht wahr sein, daß die Bundesregierung in einer Situation, in der die Arbeitslosigkeit explodiert, weiterhin Arbeitsmarktpolitik einschränkt. Das kann doch nicht wahr sein! ({10}) Sie müssen sich von seiten der CDU/CSU in dieser Frage korrigieren. ({11}) - Entschuldigen Sie, wenn ich einen Zulauf von 600 000 mehr Arbeitslosen im Laufe des Jahres habe, wie wir jetzt gemeinsam vermuten - dazu haben Sie ja nichts dazwischengerufen, Herr Faltlhauser -, ist doch diese geringe Steigerungsrate der Ausgaben, die Sie da künstlich errechnen, faktisch eine Abnahme der aktiven Arbeitsmarktpolitik, eine Verschlechterung der Situation der Arbeitslosen. Das ist doch schlichte Logik, meine Damen und Herren. ({12}) Es ist doch nicht schlimm, wenn man Fehler korrigiert. Schlimm ist, wenn man mit Fehlern dauernd vor dieselbe Wand läuft. ({13}) Meine Damen und Herren, ich möchte ein Wort zur Geldpolitik in Deutschland sagen. Dabei bin ich in einem gewissen Dilemma, ob ich es überhaupt tun sollte, aber ich möchte es doch tun. Das Dilemma besteht darin, daß ich dabei die Kritik ein Stück von der Bundesregierung ablenke. Ich habe bis Januar, Februar, März letzten Jahres die Geldpolitik der Deutschen Bundesbank insgesamt für richtig gehalten. Ich war auch der Auffassung, daß ihre Mahnungen im Hinblick auf die Defizitpolitik der Bundesregierung richtig waren. Und ich glaube, es war auch manches Wort im Hinblick auf die Tarifpartner richtig. Aber seit dem Juli 1992 kann ich diese Geldpolitik nicht mehr akzeptieren. Ich halte sie für einen schweren Fehler. Mitten in einer kritischen Situation des europäischen Währungssystems erhöht man im Juli 1992 bei sich abschwächender Konjunktur noch einmal die Zinsen. Man muß sich dann schon im September in einem Schritt korrigieren. Und das geht jetzt so weiter, aber ohne klares Zinssignal, wie es die Japaner gemacht haben, ohne klares Zinssignal, wie es vor zweieinhalb Jahren Herr Greenspan gemacht hat, der drastisch und sofort auf die Abschwächung der Konjunktur reagiert hat Wir alle wissen, daß hohe Zinsen auch am kurzen Ende eine verheerende Wirkung auf die Wirtschaft haben können. Die Behauptung - übrigens von Keynesianern genauso wie von den Chicagoboys -, die Zinsen am kurzen Ende seien eigentlich völlig irrelevant, übersehen doch einen Mechanismus, den man heute in den Bilanzen und in der Finanzstrategie der großen Konzerne beobachten kann. In der Alternative, Geld zu halten oder real zu investieren, werden große Unternehmen in der rezessiven Phase sofort auf Vorsicht schalten und Geld halten, vor allem dann, wenn die Zinsen am kurzen Ende so extrem hoch sind. Wir wissen, daß die deutsche Wirtschaft - das ist nicht meine Zahl, sondern die der Bundesbank - 600 Milliarden DM Liquidität hat; ich wiederhole: 600 Milliarden DM Liquidität, und zwar erhebliche Teile davon kurzfristig angelegt. Wir erzielen heute für höhere Summen immer noch nahezu 8 % Rendite. Meine Damen und Herren, können Sie sich irgendein Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland in der industriellen Wirtschaft oder, noch drastischer zugespitzt, in der Industrie in Ostdeutschland vorstellen, das vergleichbare Renditen erwirtschaften würde? Das heißt, das Stottern, das Trippelschrittchenmachen der Bundesbank, ist natürlich eine Aktivität, die zum Abwarten und Geldhalten führen wird. Und das wird weiter so sein. Ich kann - dazu habe ich auch die Unbefangenheit - die Bundesbank nur dringend bitten - das hat nichts mit Autonomie zu tun -, einen Kurswechsel vorzunehmen. Und ich kann Herrn Schlesinger nur dringend bitten, z. B. mit dem Chef der Zentralbank in Japan oder mit Herrn Greenspan zu diskutieren, ob diese Argumente nicht zutreffen. Ich glaube, auch für die gesamte europäische Entwicklung wird das immer mehr zur Schlüsselfrage. ({14}) In dem Zusammenhang, meine Damen und Herren, noch ein Wort zu Europa. Wenn wir eine derartige Abschwächung der Konjunktur in Deutschland haben, ziehen wir natürlich alle unsere Nachbarn in die Rezession noch tiefer und tiefer hinein. Das bedeutet dann chaotische Situationen des europäischen Währungssystems. Ich befürchte sogar, daß wir Maastricht vergessen können, wenn die Rezession in der Bundesrepublik lange anhält und gleichzeitig die Hochzinspolitik stattfindet. Wer will das eigentlich durchhalten in Frankreich? Wer will das durchhalten in anderen Ländern, die sich ja bisher ungewöhnlich loyal verhalten haben, was die Finanzierung der deutschen Einheit anbetrifft? Die Deutschen könnten sich an der Stelle ein bißchen bedanken. Ich habe oft den Eindruck gehabt, unsere europäischen Nachbarn haben mehr für die seriöse Finanzierung der deutschen Einheit getan als die Bundesregierung selbst. ({15}) Aber, meine Damen und Herren, wir müssen jetzt eine Konjunkturpolitik betreiben, die auch unseren Nachbarn hilft, damit wir uns selber helfen. Wo ist das eigentliche Problem? Es liegt darin, daß die Nachbarn unruhig werden, was deutsche Exporte anbetrifft. Was wir in den drei Wochen durch öffentliche Äußerungen der französischen Regierung erlebt haben - ich hätte mir gewünscht, daß der Herr Bundeswirtschaftsminister dazu etwas gesagt hätte -, ist ja ein schlimmer Vorbote für falsche Handelspolitik. ({16}) - Meine Damen und Herren, da ruft einer: Die Regierung wird nicht mehr lange da sein. ({17}) - Ja, Vorsicht! Hier auch; aber das ist eine andere Sache. ({18}) Der entscheidende Punkt, Sie kühner Hoffer auf Wandlung in Frankreich, ist doch der, daß die Gaullisten keine offenere Handelspolitik betreiben werden, sondern noch enger beispielsweise mit den Interessen der französischen Agrarindustrie verflochten sind. ({19}) Ich habe die große Befürchtung, daß wir dann, wenn wir nicht bald etwas für die europäische Konjunktur tun, Reaktionen von den Partnern bekommen werden. Daß in Amerika, was diese Frage anbetrifft, auch nicht nur Heilige sitzen, hat die Rede von Präsident Clinton in Seattle gezeigt. Also ich dachte, wir hätten die Geschichte mit dem Airbus endgültig verhandelt und geklärt - jedenfalls hatten wir das so vereinbart -, aber plötzlich kommen 27 Jahre Subventionsgeschichte für den Airbus hoch, um die handelspolitische Diskussion neu zu beleben. Was der Handelsrepräsentant Kantor in einer anderen Rede - nahezu am selben Tag - gesagt hat, war auch nicht gerade verheißend. Das heißt, für den Weltwirtschaftsgipfel im Sommer in Japan und für die gesamte Handelsdiskussion in der Welt ist ganz entscheidend, wie schnell die Bundesrepublik Deutschland als „Lokomotivland" in Europa diese Wirtschaftskrise überwinden wird. Das ist die entscheidende Frage und Aufgabe. Da hilft es nichts schönzufärben, da hilft es nichts, nur zu sagen, so schlimm sei das alles nicht. Ich bin der Auffassung, man muß sehr realistisch an das Problem herangehen und sich z. B. überlegen, daß wir beginnen, im Hinblick auf mehr Investitionen im Haushalt erneut umzuschichten. Wir brauchen mehr Investitionsanstöße vom staatlichen Bereich. Aber da wird heute gesagt, dieses Gerede sei nun I wieder alter staatswirtschaftlicher Käse. Schauen Sie doch einmal, was jetzt in Amerika gemacht wird. Herr Clinton reagiert mit einem Programm, das wirklich direkt aus dem Sofortprogramm von unserem Parteitag im letzten Herbst entnommen sein könnte. ({20}) Es ist in vielen Aspekten fast wortgleich. ({21}) - Mit einer Ausnahme, da haben Sie recht: Beim freien Handel sind wir weiter als Präsident Clinton. Ich will noch ein Wort zu der aktuellen Privatisierungsdiskussion sagen, weil ich glaube, daß da auch aus wirtschaftspolitischer Sicht eine Klarstellung notwendig ist. Daß wir in Bereichen privatisieren, in denen Unternehmen beim Staat geblieben sind, die aber im Wettbewerb stehen, halte ich für pragmatisch und vernünftig. Warum soll man sich damit belasten? Ich konnte mich nicht erregen, als Salzgitter damals privatisiert worden ist, weil eine privatisierte StahlunWolfgang Roth ternehmung - das ist ja jetzt mit der Integration bei Preussag weitergegangen - vielleicht eine bessere Zukunft für die Arbeitnehmer bietet, als wenn sie der Staat behält. Dort funktioniert Wettbewerb. Aber, meine Damen und Herren, es ist weiß Gott ein Stück aus dem Tollhaus, wenn der Verkehrsminister der Bundesrepublik Deutschland vorschlägt, vom Steuerzahler finanzierte Autobahnen zu privatisieren, Privaten zu übereignen. Ich kann Ihnen schon sagen, wer sich bewirbt. ({22}) - Herr Jens hat schon eine Option auf das Kamener Kreuz. Ich weiß nicht, ob der Herr Jens die entsprechende Masse hat, um es zu bezahlen. Das ist eine andere Frage. Aber es ist doch völlig klar, daß die großen Kapitalsammelstellen in der Wirtschaft - von der Allianz bis zu unseren Energieversorgern, die ja auf Grund i serer Rückstellungsgesetze Kapitalsammelstellen geworden sind - in dieses Monopolgeschäft einsteigen. ({23}) Das heißt: Es wird dann so sein, daß Monopolisten auf ihren Märkten ein neues Monopol, und zwar ein natürliches Monopol, erwerben. Ich könnte auch sagen: Wir können ja gleich ins Gesetz schreiben, daß Private, daß Allianz und RWE das Recht bekommen, Geld zu drucken. Darm bräuchte man nicht den Umweg der Privatisierung der Autobahn zu gehen. ({24}) Seit hundert Jahren weiß jeder, daß es natürlich Monopole gibt, die keinerlei Konkurrenz haben, außer Konkurrenz, die völlig schädlich ist, nämlich die Bundesstraßen und die Stadtstraßen. Darauf würde man ausweichen, wenn das die einzige Konkurrenz wäre. Ein derartiger Vorschlag wird im Wirtschaftsministerium nicht unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten diskutiert. Ich habe das mit großem Staunen verfolgt und bin der Auffassung, daß Sie sich endlich mit diesem Thema beschäftigen müßten. Lassen Sie mich zum Schluß ein paar Bemerkungen zur wirtschaftlichen Situation in Ostdeutschland machen. Ich mache das sehr kurz vor dem Hintergrund der Tatsache, daß anschließend Christian Müller, der in einer der schwierigsten Regionen Ostdeutschlands, im Raum Zittau-Görlitz, Abgeordneter ist, ebenfalls zu diesem Thema Stellung nehmen wird. Ich habe vor zwei Jahren, unmittelbar nach der Währungsunion, die ich heute - im Unterschied zu anderen Rednern - unterstützt habe, ({25}) gesagt, diese Aufwertung bedeute für die ostdeutsche Industrie, daß in kurzer Zeit Deindustrialisierung, Entindustrialisierung die Folge sein werde, wenn man nicht andere Maßnahmen - quasi als Wechselkursersatz - trifft. Dann haben Sie immer dazwischengerufen: „Kassandra!" Ich habe mir das inzwischen mehrfach überlegt: Der Zwischenruf „Kassandra!" war natürlich richtig, denn die Kassandra hatte ja leider recht, was die Geschichte in Troja anbetraf. Aber, meine Damen und Herren, die Entindustrialisierung ist jetzt so weit fortgeschritten, daß wir gerade noch 800 000 gewerbliche Arbeitsplätze im Osten haben und daß wir am Ende des Jahres vielleicht nur noch 600 000 Arbeitsplätze haben werden. - Schütteln Sie nicht das Haupt; bei einem Minister muß ich ja „Haupt" und nicht „Kopf" sagen. Meine Prognosen waren, was Ostdeutschland anbetrifft, nicht so schlecht. Einen theoretischen Streit darüber anzufangen, ob man die Industrie im Kern erhalten soll oder nicht, ist doch absurd. Der eigentlich notwendige Streit liegt auf einer ganz anderen Ebene. Das Wort „im Kern erhalten" nehme ich sehr ungern in den Mund, denn damit tut man so, als könnte man von Heckert bis Sket, vom Waggonbau bis zu den Werften, alles so erhalten, wie es einmal war. Das ist natürlich grober Unfug. Was wir machen müssen, ist, diese Kerne zu modernisieren, zu erneuern. Genau an der Stelle haben die Bundesregierung und die Treuhand seit Jahren versagt. ({26}) Ich rede nicht als Theoretiker. Ich war zwar nicht so weit oben in der Treuhand wie Sie; ich war als Aufsichtsrat in zwei Maschinenbauunternehmen mehr Opfer. Unsere Situation war immer dieselbe: Wir haben Geld bekommen zum Überleben, zum Durchhalten, gerade so viel, daß Nase und Mund über Wasser waren. Aber wir haben kein Geld für Neuinvestitionen und zur Erschließung neuer Märkte bekommen. Ich glaube, jetzt gibt es eine leichte Veränderung der Politik. Sie müssen jetzt auch Frau Breuel zwingen. Sie haben ja die Kompetenz. Sie müssen zwar immer noch ein bißchen mit den Bayern reden, aber Sie haben eine Kompetenz, um zu erreichen, daß jetzt dem verbliebenen Rest der ostdeutschen Industrieunternehmen grünes Licht für Neuinvestitionen, für die Erschließung neuer Märkte gegeben wird. Das ist nach meiner Überzeugung die beste Arbeitsmarktpolitik im Osten. Dem könnte man noch eine ökologische Dimension hinzufügen, indem man in einem gewissen Sinne überholt, ohne einzuholen. Das wäre möglich. Nur, diese Vorgaben und Hilfen brauchen wir. Sie hatten früher ja engere Verbindungen zum Herrn Bundeskanzler, der jetzt keine Zeit hat. Sagen Sie ihm, er sollte nicht immer davon reden: „im Kern erhalten" ! Sagen Sie ihm, es gelte, den Kern, der noch verblieben ist, schnell mit Investitionsmitteln, mit Innovationsmitteln zu erneuern. ({27}) Dazu gehört übrigens auch das Thema der Forschungspotentiale in den Industriebetrieben Ostdeutschlands. Es ist ein Gerücht, wenn behauptet wird, sie seien so schlecht gewesen, sie seien technologisch am Ende gewesen. Sie waren vielmehr durch eine verrückte Politik der SED am Ende, die das Entstehen von Investitions- und Innovationspotentialen systematisch zugunsten einer opportunistischen Politik verhindert hat, die darauf hinauslief, den Konsumstandard hochzuziehen, ohne daß die Investitionen gefördert wurden. Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck - seien Sie mir nicht böse -, daß Sie aus dieser Lektüre nicht genügend gelernt haben. Wir müssen umsteuern, wir müssen unsere Förderung auf die Industrie, auf gewerbliche Arbeitsplätze konzentrieren. ({28}) Wir müssen meines Erachtens aufhören, in der Breite zu subventionieren. Es war Quatsch, daß die Deutsche Bank, wenn sie in Erfurt ein Bankgebäude baut, 60 % der Kosten vom Staat bekommt oder daß auch Aldi, wenn es das x-te Zentrum baut, eine derartige Subvention erhält. Das wäre automatisch gekommen. Aber diese verrotteten Industrien in Ostdeutschland zu modernisieren, dazu wären Subventionen notwendig gewesen. Ich sage Ihnen eines - damit will ich enden -: Wir haben in Ostdeutschland qualifizierte Arbeitskräfte. Wir haben qualifizierte Ingenieure. Wir hatten in unseren Bereichen dauernd Abwerbungen von guten Leuten, was auch eine ziemlich schnöde Geschichte ist, und zwar bis in die jüngsten Tage hinein. Auf dieser Basis kann man eine neue Industrie aufbauen, wenn man ihr unternehmerischen Raum läßt. Auch die Manager drüben, die jetzt übriggeblieben sind - da ist ja ausgesiebt worden -, sind keine Schwachmatiker, die dauernd Belehrungen aus dem Westen verlangen. Meine Meinung ist: Wir haben hier eine Chance. Wir sollten sie ergreifen. Meine Damen und Herren, ich bedanke mich für das Zuhören. Es tut mir leid, daß es für Sie das letzte Mal ist. Ich hätte Ihnen das noch öfters gegönnt. Vielen Dank. ({29})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Zu einer Kurzintervention gemäß § 27 unserer Geschäftsordnung erteile ich unserem Kollegen Dr. Otto Graf Lambsdorff das Wort.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Herr Roth, Sie haben zum Schluß selber gesagt, es sei das letzte Mal gewesen, daß Sie uns hier mit einer Ihrer Reden beglückt haben. Wir hatten es auch andersherum erfahren. Ich will mich bedanken für nunmehr 16 oder 17 Jahre manchmal kontroverser, manchmal übereinstimmender, aber immer fairer und freundschaftlicher Diskussion. Sie haben mich auch nicht mehr - wie vor 1976 - als den Oberarzt dieser Zahnärztepartei bezeichnet, und ich habe Ihnen Ihre Juso-Vergangenheit auch vergeben. Wir wünschen Ihnen alles Gute für Ihre Zukunft. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich erteile jetzt unserem Kollegen Kurt Faltlhauser das Wort.

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000517, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf mich den Worten des Dankes und den Glückwünschen des F.D.P.-Parteivorsitzenden und Kollegen Graf Lambsdorff anschließen. Herr Kollege Roth, wir sehen Sie mit einem lachenden und einem weinenden Auge in eine gewichtige und verantwortungsvolle Position gehen. Ich habe Ihren politischen Weg über viele Jahre verfolgt und begleitet. Ich kenne Sie ja bereits aus unserem gemeinsamen Kampf an den Universitäten, beginnend an der FU Berlin. Wir haben uns dann später immer wieder getroffen. ({0}) Wir haben uns immer in scharfer Debatte geübt. Das geschah Ihrerseits aber letztlich nie so verletzend, daß man gesagt hätte: Mit dem will man nichts mehr zu tun haben! Ich glaube, das hat auch Ihre Arbeit hier in diesem Hause geprägt. Auch von unserer Fraktion: Alles Glück und alles Gute für Ihre Arbeit in Luxemburg! ({1}) Jetzt hören die Freundlichkeiten aber auf. ({2}) Herr Kollege Roth, Sie haben gesagt, daß die Bundesregierung die Rezession dadurch verschärft, daß sie Entscheidungen verschleppt und dadurch die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft weniger berechenbar macht. In der Analyse ist es richtig, daß, wenn Entscheidungen nicht klar und präzise getroffen werden, für die Investierenden mehr Unsicherheit entsteht. Aber: Letztlich kann das doch nicht eine Sache des Vorwurfs gegenüber dieser Bundesregierung sein, sondern das kann doch nur als Appell gegenüber der Mehrheit im Bundesrat formuliert werden, gegenüber den mehrheitlich von der SPD regierten Ländern, die im Rahmen des Solidarpakts jetzt, in der nächsten Woche, dem zustimmen müssen, was wir als „Föderales Konsolidierungskonzept" vorgelegt haben, und dem, was im Solidarpakt jetzt notwendig ist. ({3}) Ich warne vor einer weiteren Verzögerung notwendiger politischer Entscheidungen! Ich fürchte, daß gerade die Mehrheit im Bundesrat, die Mehrheit der Ministerpräsidenten, die ja in rudimentären Bestandteilen heute hier gesessen haben, nein sagen und unerträgliche und nicht zu akzeptierende Forderungen weiter aufrechterhalten wird. Das ist der Punkt, der uns aktuell interessiert. Herr Kollege „Kassandra Roth": Sie haben gesagt, sie hätten in der Vergangenheit recht gehabt. Dem haben Sie jetzt obendrein eins draufgesetzt: 2 % minus wird das Wirtschaftswachstum sein. Ich warne davor, daß wir in einen Wettbewerb des Pessimismus hineinkommen. Das gilt für die Kommentatoren in den Tageszeitungen ebenso, wie für Sie, der Sie das jetzt aufgegriffen haben. Wirtschaft hat viel mit Zutrauen und Zuversicht zu tun. Diese Zuversicht dürfen wir nicht unnötig verschütten. Wir müssen aufpassen, daß wir die Konjunktur gegenwärtig nicht leichtfertig zusätzlich zu den strukturellen und konjunkturellen Problemen herunterreden. Ich glaube, daß es gerade in schwierigen Zeiten, meine Damen und Herren, wichtig ist, daß wir Mut machen. Mut machen wir aber nicht dadurch, daß wir auf andere Länder verweisen, denen es noch schlechter geht. Ich glaube, das ist nicht unbedingt stärkend. Mut machen aber viele positive wirtschaftspolitische Zeichen in den neuen Bundesländern, über die wir, wie ich meine, mehr reden sollten - nicht zuletzt um den hart arbeitenden Menschen in den neuen Bundesländern für ihre Aufbauleistung Beifall zu zollen. Reden wir deshalb von den - netto gerechnet -500 000 Gewerbeanmeldungen in den neuen Bundesländern und von den alleine 90 000 bestandsfesten Gründungen mittelständischer Existenzen, die wir alleine durch das Eigenkapitalhilfeprogramm zustande gebracht haben. Es ist doch besonders wichtig - wie Herr Kollege Haungs gesagt hat -, daß wir Unternehmer in dieser Gesellschaft haben. Wenn wir 10 000 zusätzliche Unternehmer haben, haben wir im nächsten Jahr 100 000 Arbeitsplätze, und übermorgen haben wir 1/2 Million. Es geht um die Leute, die Risiko übernehmen. Reden wir davon, daß dort ein guter Weg bereits beschritten wurde. ({4}) Reden wir von den großen Erfolgen im Dienstleistungsbereich und im Handwerk in den neuen Bundesländern, Handwerk, das es früher dort kaum gab. Reden wir auch - das hätte ich gern Herrn Biedenkopf gesagt - von den dortigen Bruttoanlageinvestitionen. Der Ministerpräsident hat natürlich recht, daß die Investitionen drüben zu niedrig sind. Aber daß der Anstieg 1992 bereits 22,3 % - zugegeben: bei einem entsprechenden Basiseffekt - betrug, ist doch auch beifallswert. Ich glaube, daß wir nicht ständig - auch gegenüber potentiellen Investoren aus dem Ausland - so reden sollten, als würde in den neuen Bundesländern gar nichts laufen. Wer in Abständen immer wieder in die neuen Bundesländer geht, kann das doch auch verfolgen, nicht zuletzt auch bei der Infrastruktur, bei Telefonnetzen usw. Die osteuropäischen Staaten, Polen oder die Tschechoslowakei, nicht zu reden von den GUS-Staaten, könnten sich nur die Augen reiben, wenn sie innerhalb von zwei Jahren eine derartige zusätzliche neue Infrastruktur in ihren Ländern feststellen könnten. ({5}) Also: Machen wir den potentiellen Investoren und den Leuten in den neuen Bundesländern mehr Mut, und reden wir jetzt nicht nur pessimistisch. Der ehemalige italienische Botschafter in Bonn - viele kennen ihn noch -, Graf Ferraris, hat sein Buch über die Deutschen betitelt: „Wenn schon, denn schon - aber ohne Hysterie". Auch in der jetzigen wirtschaftspolitischen Situation haben wir die Aufgabe, die kritischen Punkte zwar zu erkennen und zu nennen - da liegt der Jahreswirtschaftsbericht, den der Wirtschaftsminister vorgelegt hat, richtig; er nennt auch die Defizite -, aber bitte schön: ohne Hysterie. Graf Lambsdorff hat gesagt, der Jahreswirtschaftsbericht kann kein Rezeptbuch sein. Allerdings: Ich glaube, daß gerade gegenwärtig in der wirtschaftspolitischen Abschwungbewegung in der Debatte zunehmend Rezepte gefordert werden. Diese Rezepte verbergen sich auch hinter Begriffen, wie sie von Ministerpräsident Lafontaine vorgetragen wurden: „Marktwirtschaftliche Industriepolitik" hat er gefordert. Man muß sehr genau hinschauen, was diese Dampfblase eigentlich bedeutet. Ich glaube, daß dirigistische Instrumente gerade jetzt besonders Konjunktur haben, wie immer, wenn wachsende Arbeitslosenzahlen, zurückgehende Investitionen und stagnierendes Wachstum festzustellen sind. Ludwig Erhard hat vor ziemlich genau drei Jahrzehnten gesagt: „Es geht darum, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grundlagen unserer Lebensordnung nicht in einem täglich auswechselbaren Instrumentarium der Politik zu überantworten." Der Marktprozeß braucht Zeit. Staatliches Handeln suggeriert dagegen schnelle Heilung - und bringt im übrigen auch denjenigen, die vorschlagen, am nächsten Tag die Überschrift in den Zeitungen. Das ist eine der Hauptkrankheiten, an denen wir auch in der Wirtschaftspolitik leiden. Ordnungspolitik in der Marktwirtschaft ist keine Novitätenschau und kein Ideenwettbewerb, sondern die Notwendigkeit, beste und berechenbare Rahmenbedingungen zu schaffen. Dazu brauchen wir auch Geduld. Geduld heißt nicht nur, die beschlossenen Maßnahmen auch tatsächlich beharrlich durchzusetzen, sondern auch, daß man beobachtet, wie beschlossene Förderungsmaßnahmen tatsächlich wirken. Wir können nicht ständig - das ist vielleicht auch ein Stück Anmahnung an uns selber, liebe Kollegen - neue Förderungsmaßnahmen zu Zeitpunkten beschließen, in denen die vorangegangenen noch nicht einmal administrativ angelaufen sind, geschweige denn, daß wir verläßlich beobachten können, wie sie tatsächlich wirken. ({6}) Neue leistungsfähige Betriebe lassen sich nicht einfach durch den politischen Prozeß herbeizaubern, sondern brauchen Zeit, bis sich ihre Produktionswirksamkeit voll entfaltet. Ich habe das Gefühl, daß wir bei manchen steuerpolitischen Entscheidungen, auch bei der Investitionszulage, zu wenig beobachtet haben, wie die Maßnahmen wirken. Ich fordere deshalb dringend dazu auf, daß wir unser Instrumentarium einmal insgesamt wirklich kritisch überprüfen, um eine Optimierung knapper staatlicher Mittel zu erreichen. Weiteres Draufsatteln, weiteres ständiges Diskutieren über neue Maßnahmen, das wirkt doch nicht investitionsfördernd, sondern führt auch zu Attentismus, weil man darauf wartet: Vielleicht wird es übermorgen besser. Bei der Investitionszulage war es sicher so. Eines der Stichworte, die uns gegenwärtig in der politischen Debatte bewegen, sind die sogenannten industriellen Kerne. Ich glaube, daß wir hier kühlen Kopf bewahren und nicht vorschnelle Erwartungen wecken sollten, die wir nach meiner Ansicht unter keinen Umständen befriedigen können. Ich habe den Eindruck, daß unter industriellen Kernen, teilweise wenigstens, verstanden wird, was die einzelnen Landesregierungen an Wünschbarem zusammentragen: lange Listen von Unternehmen, die man doch, bitte schön, staatlicherseits subventionieren sollte. Was müßte das Ergebnis einer derartigen Auflistung sein? Die Unternehmen würden sich zurücklehnen und versuchen, möglichst auf eine derartige Liste zu kommen, anstatt konsequent an Unternehmenskonzepten zu arbeiten, mit denen sie sich den Herausforderungen des Wettbewerbs im europäischen Binnenmarkt und in der westlichen Welt stellen können. Natürlich müssen wir aufpassen, daß die Kenntnisse der Facharbeiter ganzer Regionen nicht unwiderbringlich verlorengehen. Aber tun wir doch nicht so, als ob hier bisher nichts geschehen wäre. Die Treuhandanstalt steht mit ihrem Sanierungsauftrag in keiner Weise tatenlos herum, sondern griff mit Sanierungsausgaben von 170 Milliarden DM zwischen 91 und 93 gefährdeten Unternehmen massiv unter die Arme. Eine Vergeudung knapper öffentlicher Mittel können wir dann verhindern, wenn die Treuhandanstalt betriebsindividuell prüft, Herr Wirtschaftsminister, ob sich ein Unternehmen innerhalb eines begrenzten Zeithorizonts - und nicht eines ewigen Zeithorizonts, wie es hier von Herrn Lafontaine angedeutet wurde -, mit einem schlüssigen Unternehmenskonzept dem Wettbewerb stellen kann. Mit aller Entschiedenheit müssen wir uns der Tendenz widersetzen, durch eine Politik der staatlichen Subventionierung Fehler des Managements oder vor allem auch Fehler der Tarifpolitik zu kompensieren. ({7}) Gerade die Tarifpartner müssen durch eine Orientierung an der Produktivitätsentwicklung und der individuellen Leistungskraft der Betriebe ihren Beitrag zur Erhaltung industrieller Kerne liefern. Lassen Sie mich bei den ganzen Maßnahmen, die viele Milliarden verschlingen, wie ich gerade mit den 170 Milliarden DM angedeutet habe, noch eine Bemerkung zu der Belastbarkeit der Bürger machen. Die Ministerpräsidenten der Länder haben sich mit ihren jüngsten Beschlüssen in Potsdam ihre Aufgabe wirklich zu leicht gemacht. Sie haben im übrigen in einem Saal debattiert, in dem 1945 die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges die Teilung Deutschlands besiegelt haben. ({8}) Ich hoffe doch wohl, daß die Ministerpräsidenten, so wie sie diese Beschlüsse gefaßt haben, nicht eine neue Teilung in diesem Lande zementieren wollen, nämlich die, daß der Bund alle Lasten trägt - wie vom Finanzminister vorgetragen, 9 :1 - und sich die Länder zumindest weitgehend von der Finanzierung dieser Zukunftsaufgaben in den neuen Bundesländern verabschieden. Natürlich geht es hier, wie Biedenkopf sagte, letztlich um die Neuordnung bundesstaatlicher Ordnung. Aber diese Neuordnung kann nicht so aussehen, daß man auf der einen Seite zusätzliche Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte in dem Prozeß, etwa bei der Diskussion um Art. 23, erringt und daß man sich auf der anderen Seite aus der Finanzierung verabschieden will. ({9}) Zur bundesstaatlichen Ordnung gehört auch die Mitfinanzierung. Dabei muß gesehen werden, daß wir wirklich schon an der obersten Grenze der Steuerbelastung sind. Wir haben - gestehen wir uns das doch ein - bereits seit 1991 dauerhaft 28 Milliarden DM zusätzlich an neuen Steuerlasten beschlossen. Die heimlichen Steuererhöhungen betragen nach Angaben des Ifo-Instituts noch einmal 38 Milliarden DM. Wir sind damit mit der Steuer- und Abgabenquote in einer Größenordnung, bei der Träume von weiteren Steuerbelastungen, wie sie von der SPD geträumt werden, 1993 und 1994 nicht vertretbar sind, wobei wir natürlich unsere geplanten Verkehrsbelastungen auch einbeziehen müssen. Meine Damen und Herren, ich will am Schluß etwas zu dem Standortsicherungsgesetz sagen, gerade nach der Anhörung, die in dieser Woche stattgefunden hat. ({10}) Ich glaube, daß es der größte Fehler wäre, wenn, wie hier vorgetragen, das Standortsicherungsgesetz zurückgezogen werden würde. Gerade im Hinblick auf die Verläßlichkeit der politischen Vorgabe wäre es für die Investoren das Zeichen: Auf die kann man sich nicht verlassen! Ich glaube, dieses Signal nach draußen im internationalen Wettbewerb und auch gegenüber den eigenen Investoren muß sein. Die Gegenfinanzierung über die Abschreibungen ist - das wird gar nicht bestritten, weder von den Fachleuten noch in unseren eigenen Reihen - nicht die idealste im Hinblick auf die konjunkturelle Situation. Aber es sind bei den beweglichen Anlagegütern 6 Milliarden DM. Ich frage: Wo sind die Alternativen? Können wir das aus Neuverschuldung in Höhe von 6 Milliarden DM finanzieren? ({11}) - Aus der Schublade von Herrn Jansen vielleicht; vielleicht hat er noch eine. ({12}) Damit würden wir gerade im Hinblick auf die Politik, die wir notwendigerweise für die Stabilität betreiben, das Kontraproduktive tun. ({13}) Ich meine, daß wir im Rahmen der Beratungen, Herr Kollege Jens, sehr wohl eine Abmilderung dieser Gegenfinanzierung diskutieren können. Es gibt entsprechende Instrumente. Ich glaube, es ist jetzt Aufgabe des Bundestags, die notwendigen und möglichen Korrekturen zu diskutieren. Die wichtigste aktuelle Frage ist wohl die, daß wir die Investoren durch Konstanz, Verläßlichkeit und durch Geduld in unserem eigenen politischen Verhalten sicherer machen. Wir müssen das Vertrauen von Investoren und Bürgern zurückgewinnen. Die Verhandhingen am kommenden Wochenende sind dabei von entscheidender Bedeutung. Das ist der Appell, den wir heute, am Freitag, für die nächste Woche hinausgeben sollten: daß wir als Politiker auf Bundes- und auf Landesebene Rahmenbedingungen schaffen müssen, die sicher sind. Deshalb hoffen wir, daß der Solidarpakt in der nächsten Woche zu einem guten Abschluß geführt wird. Ich bedanke mich. ({14})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach der Kurzintervention von Otto Graf Lambsdorff und nach den Worten des Kollegen Faltlhauser, so meine ich, können wir für das ganze Haus sagen, daß wir dem Kollegen Roth für die Mitarbeit in diesem Hause über fünf Wahlperioden herzlichen Dank sagen und daß wir ihm für seinen weiteren Weg in Luxemburg alles Gute, Glück und Erfolg wünschen. ({0}) Nun erteile ich unserem Kollegen Bernd Henn das Wort.

Bernd Henn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000868, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kürze der Zeit erlaubt mir nur einige kurze Bemerkungen zu den Angriffen der Koalition und auch des Bundeswirtschaftsministers auf die Tarifpolitik der Gewerkschaften. Die Integration der sogenannten neuen Länder in die alte Bundesrepublik hat dort unmittelbar Westpreisniveau auf dem Warenmarkt und auch schon fast bei den Mieten entstehen lassen. Einzig der Preis für die Arbeitskraft blieb weit zurück. Deswegen war es nur logisch und konsequent, daß für die Bürgerinnen und Bürger im Gebiet der ehemaligen DDR Westlöhne vereinbart werden mußten. Alles andere wäre die Strategie einer zweiten Periode der besonderen Ausbeutung der Arbeitnehmer in der ehemaligen DDR gewesen. Die Gewerkschaften haben diese Anpassung 1991 mit großem Augenmaß und mit großer Verantwortung in einem vierjährigen Stufenplan vereinbart. Damit waren auch die sicheren Planungsgrundlagen für die Wirtschaft geschaffen, die Herr Kollege Haungs heute hier eingefordert und für notwendig gehalten hat. Die Gewerkschaften haben damals viel Beifall von allen Seiten bekommen und allenfalls Schelte von denjenigen, denen das alles nicht schnell genug ging. Die Gewerkschaften sind also ihrer Verantwortung gerecht geworden. Versagt haben im Prozeß der deutsch-deutschen Einigung Wirtschaft und Politik. Sie sind gleichermaßen dafür verantwortlich, wenn nach zweieinhalb Jahren Wirtschafts- und Währungsunion noch nicht in dem erforderlichen Umfang eine Transplantation moderner Westtechnologie nach Osten stattgefunden hat, wie es nach der Schockintegration der DDRWirtschaft notwendig gewesen wäre, um einen gleichwertigen Industriestandort Ost aufzubauen. Der Bundesregierung ist es eben nicht gelungen, private Industrien in genügendem Umfang zu Investitionen im produzierenden Sektor zu bewegen. Die im Rahmen des sogenannten Solidarpaktes jetzt avisierten zusätzlichen 2 Milliarden DM sind im Verhältnis zu den liquiden Mitteln, die heute hier mehrfach genannt worden sind, in der Größenordnung von 600 Milliarden DM doch ein Klacks. Sie spiegeln überhaupt nicht die Leistungs- und Finanzkraft der westdeutschen Industrie und Banken wieder, und sie sind schon gar kein Opfer, wie dargestellt worden ist. Die Treuhand selbst hat als ausführendes Organ dieser Bundesregierung nur 10 % ihrer Leistungen für aktive Modernisierungsmaßnahmen verwendet, also viel zuwenig in die Modernisierung gesteckt. Das heißt, die Entindustrialisierung Ostdeutschlands ist das Ergebnis der Politik dieser Bundesregierung. Es wird nicht gelingen, den Schwarzen Peter den Gewerkschaften zuzuschieben, obwohl es Ihnen aktuell gerade darum geht. Es geht Ihnen darum, den Arbeitnehmern und den sozial Schwachen in diesem Land die Kosten für die Einheit aufzubürden. Der neue wirtschaftspolitische Sprecher der CDU/ CSU-Fraktion, Herr Haungs, meinte am Mittwoch in der Wirtschaftsausschußsitzung, wir sollten das Thema „Gerechtigkeitslücke" jetzt nicht diskutieren, weil das nicht gut für die Wirtschaft sei, weil das Gift für die Wirtschaft sei. ({0}) Ich möchte dem Kollegen Haungs, der jetzt nicht im Saal sitzt, sagen, daß er gedanklich auf dem Kopf steht. Die Gerechtigkeitslücke selbst, die Sie jetzt noch vergrößern wollen, ist das Gift für die Wirtschaft; denn sie mindert in ganz entscheidendem Maße die prinzipiell vorhandene Bereitschaft unserer Bürgerinnen und Bürger im Westen, ihren solidarischen Beitrag für die Finanzierung der deutschen Einheit zu leisten. ({1}) Sie treiben Keile zwischen die Menschen in Ost und West, und Sie verschärfen die Auseinandersetzungen in den Betrieben und Verwaltungen. Die möglichen Streiks bei Metall und Stahl werden auf Ihr Konto gehen; denn Sie schüren den Unfrieden, und Sie heizen das Klima in diesem Lande an. Der Bundeswirtschaftsminister steht in der Tradition seiner Vorgänger. Kaum zwei Wochen im Amt, droht er mit gesetzlichen Eingriffen in die Tarifautonomie. Sie zündeln an einer Stelle, Herr Rexrodt, die für den sozialen Kompromiß in dieser Republik, wie asymmetrisch er aus meiner Sicht auch immer war und ist, eine entscheidende Grundlage darstellt. Sie glauben vielleicht, das gefahrlos tun zu können, weil der Anlaß - die Anpassung der Metall-Löhne Ost um bis zu 26 % - dem uninformierten Bürger phantastisch erscheinen muß. Deswegen möchte ich hier noch einmal sagen: Es geht um die Anpassung der Ostlöhne Metall von derzeit effektiv 50 % der Westlöhne auf künftig effektiv 60 % der Westlöhne, und das bei 100 % Westpreisen und bald schon 100 % Westmieten. Ich hoffe sehr, daß sich die Gewerkschaften keine Handbreit hinter die erreichte Linie zurückdrängen lassen. Ich denke auch, daß wir Ihnen entgegenstehen werden, wenn es darum geht, daß Sie die Tarifautonomie in diesem Land einschränken wollen. Mindestens darum werden wir in diesem Lande kämpfen. Recht schönen Dank. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, jetzt hat unser Kollege Josef Grünbeck das Wort.

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wirtschaft lebt von der Wirtschaft. - Herr Minister, ich stimme Ihnen da vollkommen zu. Allerdings wird das Klima in der Wirtschaft natürlich von außen und auch von innen her bestimmt. Nach einigen Beiträgen von heute kann ich mir nicht vorstellen, daß das einen angenehmen Einfluß auf das Klima in der Wirtschaft hat. Herr Henn, Sie reden als Gewerkschaftsfunktionär hier vom Gift, das wir in die Wirtschaft tragen. Aber Sie wollen die Mitgift haben, die die Leistungsträger erbringen, und von ihr leben. Da kann man natürlich kein Klima schaffen, das in der Wirtschaft Bedeutung gewinnt. Ich bin bitter enttäuscht von der Vorstellung, die Herr Lafontaine heute abgegeben hat. ({0}) Ich melde mich nicht nur als mittelstandspolitischer Sprecher der F.D.P.-Fraktion, sondern auch als mittelständischer Unternehmer und für meine Mitarbeiter. Mit keinem einzigen Wort hat Ihre angebliche sozialdemokratische Zukunftshoffnung hier dargelegt, daß niemand in der letzten Zeit sowohl, was die wirtschaftlichen Abläufe, als auch, was die arbeitsmarktpolitischen Auswirkungen betrifft, eine so hohe Leistung erbracht hat wie die mittelständischen Unternehmer. Kein einziger Ton darüber, nur Seifenblasen und sonst nichts. ({1}) - Lassen Sie mich bitte ausreden - es ist schwer bei einer so kurzen Redezeit, Frau Matthäus-Maier, zumal Ihre Fragen zumeist schlechter als Ihre Argumente sind. ({2}) Ich sage Ihnen das einmal in aller Härte. Herr Lafontaine hat hier beklagt, - ({3}) - Lieber Herr Kollege, ich bin gerne Mittelmaß. Wenn Sie sich als eine Meßlatte für Leistungen anlegen, muß ich Ihnen sagen, daß Sie kein Maßstab für den Deutschen Bundestag sind. Das sage ich Ihnen einmal. ({4}) Ich finde es entsetzlich, wenn Herr Lafontaine hier verfassungsrechtliche Bedenken gegen unser Haushaltsverhalten äußert. Meine Damen und Herren, wenn ich richtig orientiert bin, ist der Haushalt des saarländischen Ministerpräsidenten verfassungswidrig. ({5}) Da kehre ich erst einmal den Dreck vor meiner eigenen Tür, bevor ich Dreck vor anderen Türen ablade. ({6}) Das muß ich Ihnen einmal sagen. Die mittelständische Wirtschaft hat enorme Beiträge zur Stabilität sowohl der Wirtschaft als auch der Beschäftigung in allen Branchen geleistet: im Handwerk, im Handel, in den Dienstleistungen und in der Produktion. Wir leisten unseren Beitrag auch bei den großen Unternehmen als leistungsfähige Zulieferer. Meine Damen und Herren, die Bilanz diskutiert doch niemand weg. Die mittelständische Wirtschaft stellt heute 80 % der Steuereinnahmen, ohne jede Subvention. Wir wollen gar keine Subvention; wir wollen nur die Steuererleichterung, um unsere Aufgaben zu erfüllen. 80 % der Ausbildungsplätze und 70 % aller Arbeitsplätze stellt die mittelständische Wirtschaft, und das bei stabilen Entwicklungen. Es gibt kaum Entlassungen, und es gibt kaum Schwankungen. Ich sage Ihnen: Deshalb muß man der mittelständischen Wirtschaft mehr Bedeutung einräumen. Wodurch? - Wir brauchen dringend die Steuererleichterungen, wir brauchen aber auch dringend die Entbürokratisierung. Meine Damen und Herren, ich kann das Gejammer mancher kommunaler Finanzpolitiker nicht mehr hören, wenn man in der kommunalen Landschaft beispielsweise von der Privatisierung überhaupt nicht Gebrauch macht. ({7}) Wir investieren jährlich 80 Milliarden DM in kommunale Bauhöfe, wobei die Investitionssummen nur etwa sechs bis acht Wochen im Jahr genutzt werden. Warum löse ich denn die Bauhöfe nicht auf und beauftrage mit den Leistungen die mittelständischen ortsansässigen Betriebe, die dann anständig arbeiten und ihre Leistungen in weniger Zeit erbringen? Ich brauche kein Vorhalten von Apparaten, Maschinen und Personal, das ich dann für minderwertige Aufgaben verbrauche, damit die Leute überhaupt beschäftigt sind. Es kann doch nicht sein, daß die Kommunen hier nicht einsichtig sind. Bauhöfe, Schlachthöfe, Verkehrshöfe: Alle Höfe-Wirtschaft kann man abJosef Grünbeck schaffen, so wie man das im Mittelalter schon gemacht hat. ({8}) Wir haben eine große Leistung der freien Berufe in der Bundesrepublik Deutschland. Zum Schluß meiner kurzen Redezeit darf ich noch auf eines hinweisen. Meine Damen und Herren, es gibt tatsächlich ein Pilotprojekt „Jetzt vereinigtes Deutschland". Wo, in welchem Land, finden Sie eigentlich eine Mitte wie in unserem Land, eine Mitte, die nicht nur aus dem gewerblichen Mittelstand besteht, sondern auch aus einem soziologischen Mittelstand, angeführt von den freien Berufen, aber auch von den hochleistungsbegabten und geförderten Mitarbeitern in den Unternehmen? Die kann man doch nicht wegdiskutieren. Die gesellschaftliche Bedeutung dieser Entwicklung ist größer, als manche Leute überhaupt glauben wollen. Wir haben in den mittelständischen Betrieben eine Verbindung zwischen junger und älterer Generation. Wir haben eine großartige Integration der Frauen. Von den 450 000 neuen Arbeitsplätzen in den neuen Bundesländern sind allein ein Drittel, 150 000, Frauenarbeitsplätze, und zwar Dauerarbeitsplätze. Wir haben darüber hinaus eine Verbindung der gewerblichen Wirtschaft zu den verschiedenen sozialen Schichten unserer Gesellschaft. Ich glaube, wir haben einen Beitrag für den sozialen Frieden in diesem Land geleistet. Das sollte man nicht herunterspielen, sondern das sollte man schätzen und schützen. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, zu einer Kurzintervention gemäß § 27 der Geschäftsordnung erteile ich unserer Frau Kollegin Ingrid Matthäus-Maier das Wort.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Grünbeck, da Sie meine Zwischenfrage nicht zugelassen haben, muß ich den Weg der Kurzintervention wählen. Ich wollte Sie fragen, ob Ihnen bei Ihrer Kritik an Ministerpräsident Lafontaine, der angeblich nichts zum Mittelstand gesagt habe, entgangen ist, daß er z. B. in bezug auf das Standortsicherungsgesetz, das er ja kritisiert hat, ausdrücklich hervorgehoben hat, daß es da eine mittelstandsfreundliche Komponente gibt, nämlich die sogenannte Ansparabschreibung. Das ist das einzige, was wir rundherum begrüßen. Ist Ihnen entgangen, daß er breit dargelegt hat, daß die sogenannte steuerfreie Investitionsrücklage eine alte Forderung der SPD ist, die die Investitionstätigkeit des Mittelstandes fördert, und daß wir froh sind - nachdem die Koalition das lange abgelehnt hat -, daß Sie mit der Ansparabschreibung in eine richtige Richtung zugunsten des Mittelstandes gehen? Was ich Ihnen aber auch sagen muß: Ich warne davor, daß wir Mittelstand und Großindustrie in diesem Land gegeneinander ausspielen lassen. Die Stärke unserer Wirtschaft gegenüber den Wirtschaften fast aller anderen in der Welt ist, daß wir eben eine Kombination von starkem Mittelstand als Rückgrat der Wirtschaft dieses Landes, von einigen sehr kleinen, aber auch von einigen sehr großen Unternehmen haben. Wenn wir darauf achten müssen, daß in Deutschland eben auch, wie Herr Roth formuliert hat, industrielle Kerne saniert und vorangebracht werden, dann ist das auch Voraussetzung für einen funktionsfähigen Mittelstand. Denn große Industrie heißt auch viele kleine und mittlere Zulieferer. Deswegen sollten wir den alten Streit, ob der Mittelstand oder das andere wichtiger sind, begraben. Wir brauchen beides; beides ist wichtig. Der Mittelstand hat eine wichtige Funktion. Das hat Herr Lafontaine auch erwähnt. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, nach unserer Geschäftsordnung darf vom Vorredner geantwortet werden. Deswegen erteile ich unserem Kollegen Josef Grünbeck noch einmal das Wort.

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrte Frau Matthäus-Maier, Sie müssen mir nicht zugehört haben. Erstens habe ich schon gestern bei der Arbeitsmarktdebatte und heute wieder darauf hingewiesen, daß der Mittelstand seine Funktion als Zulieferer der Großindustrie ausgezeichnet, flexibel und leistungsstark ausfüllt. Das ist doch überhaupt nicht umstritten. Von Herrn Lafontaine habe ich ähnliches dazu nicht gehört. Das muß ich überhört haben, obwohl ich aufmerksam zugehört habe. Zweitens sagen Sie, er habe mittelstandsfreundliche Aussagen gemacht. Wenn ich mich recht entsinne, war er der federführende Ministerpräsident bei den Potsdamer Beschlüssen, bei denen den Teilnehmern nichts anderes eingefallen ist als Steuererhöhungen, Abgabenerhöhungen, nichts anderes, als Wechsel auszustellen, Schecks auszustellen, die andere einlösen sollen. Das kann doch keine mittelstandsfreundliche Politik sein. ({0}) Drittens: Klammern Sie sich nicht gar so sehr an das Heiligtum der Bevorzugung von Abschreibungen. Abschreibungen müssen erst einmal verdient werden, und wenn ich keine Erträge habe, nützen mir meine Abschreibungen gar nichts; denn dann gehe ich mit hohen Abschreibungen in die Verlustzone, und anschließend geben mir die Banken keine Kredite mehr. Das ist doch der verkehrte Weg. Ich halte es gar nicht für so wichtig, daß man übertriebene Abschreibungsmöglichkeiten schafft, zumal wir in dieser Beziehung im europäischen Vergleich - das wissen Sie - schon an der Spitze der Bewegung stehen. Ich trage als Unternehmer die neuen Gesichtspunkte für Abschreibungen durchaus mit. Zum Teil handelt es sich um die Bildung stiller Reserven, die bei Auflösung entsprechend mit Ertragsteuern belastet werden. Lassen wir doch diese kurzatmigen Argumente! Ich sage Ihnen noch einmal: Ich halte die Rede von Herrn Lafontaine für eine Diskriminierung aller Unternehmen und ihrer Mitarbeiter. Wenn ich kein einziges Wort für deren Leistung - bei der Umsetzung von Forschungsergebnissen, bei Beteiligungen im Osten, bei der Schaffung von Ausbildungskapazitäten - finde, wenn ich das alles nicht erwähne, dann habe ich aus der Sicht der deutschen Wirtschaft keine Berechtigung mehr als Spitzenfunktionär in der Politik. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, wir fahren in der Debatte fort. Als nächster Redner ist nunmehr unser Kollege Friedhelm Ost aufgerufen.

Friedhelm Ost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001659, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach den in den letzten Wochen und Monaten aus der SPD gehörten Vorschlägen zur Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik war es für mich eigentlich gar nicht so überraschend, als der Bundesgeschäftsführer der SPD, Herr Blessing, in einem Interview in der „Wochenpost" vor einer Woche auf die Frage „Wo ist die Opposition?" antwortete - ich zitiere wörtlich -: „Die klare gesellschaftliche oder politische Alternative zur Bundesregierung ist angesichts der Probleme in Deutschland eine Illusion." Ich denke, das kann man - auch nach einigen Debattenbeiträgen heute - nur unterstreichen. Wer sich die öffentlichen Reden von Engholm über Dreßler bis Lafontaine anhört, hat manchmal den Eindruck, daß es sich hier um ökonomische Geisterfahrerei handelt. Stets in die falsche Richtung unterwegs, den Problemen mehr oder weniger geschickt ausweichend, werden die Warn- und Hinweisschilder bestenfalls noch durch den Rückspiegel wahrgenommen, während man sich mit immer größer werdendem Tempo von den wichtigen Zielen entfernt. Wir haben gerade gehört, daß - natürlich bei aller Wertschätzung von Autodidakten - die Praxis in den Betrieben eben anders aussieht, als man sich das theoretisch vorstellt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke, wir sollten gerade auch bei der heutigen Debatte versuchen, zu einem Konsens und zu einer engeren Kooperation auf wichtigen Feldern der Wirtschaftspolitik zu kommen. Mit auch noch so lautem Krisengerede sind die Probleme nicht zu lösen. ({0}) Ich verstehe auch nicht, warum man etwa mit Blick auf die neuen Bundesländer, wo wir doch gute Ansätze haben, wo wir einen Zuwachs haben, wenn auch sicher noch nicht den erwünschten sich selbst tragenden Aufschwung, sagt, daß man dort untätig ist. Wenn die Treuhandanstalt 30 Milliarden DM im Jahr für die Sanierung von Unternehmen ausgibt, kann man doch nicht wie der saarländische Ministerpräsident - der vielleicht in anderen Größenordnungen denkt; das mag ja sein - sagen: Es wird nichts getan! Das halte ich einfach für falsch. Das Rezept, das er dann anbietet, enthält ganz kühne Entwürfe für Luftschlösser, obwohl das Geld kaum reicht, urn ein Grundstück im Saarland noch solide zu finanzieren. Bei der SPD geht es ein bißchen durcheinander: Engholm warnt vor einem fiskalpolitischen Kaputtsparen, Frau Matthäus-Maier beschwört jeden Tag erneut die Schuldenkrise, Lafontaine fordert gleich den ökologischen Umbau über die Steuerpolitik, und gemeinsam stellen sie immer neue Kataloge mit neuen Steuer- und Abgabenlasten auf. Wenn Sie sich jetzt so stark für den Mittelstand ins Zeug legen, schauen Sie sich einmal die Vorschläge an, die Sie vorgelegt haben, in denen Sie massiv den Mittelstand zur Kasse bitten wollen, ({1}) und das sehr stark mit Verschlechterungen der Rahmenbedingungen vor allen Dingen für die mittelständische Wirtschaft. Deshalb verstehe ich Ihre Aufregung über das Standortsicherungsgesetz überhaupt nicht. Nehmen Sie die Mahnung der letzten großen Ökonomen der Sozialdemokraten, Karl Schiller und Helmut Schmidt, sehr ernst; lesen Sie das ernsthaft nach. Auch die Überschrift in der „Zeit", nämlich „Hände weg von der Steuerschraube", ist sicherlich zu unterstreichen. ({2}) - Nein, Sie können trotz emsigen Lernens - von der Juristin zur Ökonomie ist es vielleicht doch noch ein weiter Weg - immer noch nicht begreifen, daß es direkte und indirekte Steuern gibt, Steuern, die in der Tat den Konsum treffen. Sie haben ja eben das Kolleg von Professor Biedenkopf genossen: Wir brauchen mehr Investitionen und in der Tat etwas weniger Konsum; das ist richtig, wenn Sie sich die Aggregate anschauen. ({3}) ({4}) Natürlich sind die Kosten für den Stand- und Arbeitsort Deutschland in vielen Bereichen zu hoch, und natürlich sind auch neue, kostengünstigere Standorte im europäischen Binnenmarkt, in Mittel-und Osteuropa, aber auch in Asien und anderswo hinzugekommen. Wir müssen uns darauf einrichten, daß wir hier - das ist zu Recht gesagt worden - neben der konjunkturellen Abschwächung auch Strukturbrüche haben, die wir nicht mit großen nationalen Konferenzen beseitigen. Lieber Herr Kollege Jens, da unterscheiden wir uns sicherlich: Wenn schon die nordrhein-westfälische Landesregierung - oder auch die saarländische Landesregierung - nicht einmal ein vernünftiges Konzept für die regionale Strukturpolitik hat, was wollen Sie dann mit großen nationalen Konferenzen machen? Sie wollen nur an die Bundeskasse und dort Geld herausholen. Was wollen Sie denn sonst? ({5})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Kollege Ost, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Friedhelm Ost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001659, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn dies gewünscht wird, bitte.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ja, es wird gewünscht.

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da Sie mich angesprochen haben, Herr Ost: Können Sie sich vorstellen, daß es vielleicht ganz sinnvoll ist, daß man sich zusammensetzt und diese gemeinschaftliche Meinung in Europa vertritt, insbesondere im Stahlrat der Europäischen Gemeinschaft? Falls Sie das nicht wissen sollten: Die Stahlpolitik, um die es hier geht, wird seit 1952 in Europa gemacht.

Friedhelm Ost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001659, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deswegen bin ich ja der Meinung, daß es richtig ist - das ist auch geschehen -, daß der Wirtschaftsminister sich mit den Gewerkschaften, mit den Unternehmern zusammengesetzt und die deutsche Linie abgeklärt hat, ({0}) um sie dann - ich hoffe in der Tat: noch erfolgreicher und vehementer als seine Vorgänger - in Brüssel zu vertreten. Ich gebe Ihnen recht: Wenn man in Brüssel die Weichen stellt, kann man gemeinsam - aber da müssen natürlich die zuständigen Länderregierungen klare Vorstellungen entwickeln - überlegen, wie man den Strukturwandel flankieren kann. ({1}) - Ich habe ihn von hier aus immer wieder ermuntert, in Brüssel unsere berechtigten Interessen mit Vehemenz wahrzunehmen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, mit Krisengerede kommen wir nicht weiter. Wir haben gute Chancen für eine rasche Überwindung der Konjunkturabschwächung in Westdeutschland. Die Tarifpartner haben die Weichen vernünftig gestellt, und wir sollten nicht nur in diesem Jahr, sondern auch im nächsten Jahr dabei bleiben. Die Bundesbank hat Zeichen gesetzt. Ich halte die Kritik des Kollegen Roth - selbst wenn er sie jetzt schon als würdiger Bankier vorträgt - für nicht ganz gerechtfertigt. Die Bundesbank ist der Stabilität der D-Mark verpflichtet. Natürlich soll sie auch die Wirtschaftspolitik der Regierung unterstützen. Wenn Sie sich die Zinsen gerade am kurzen Ende anschauen - etwa am Euro-Geldmarkt -: Warum liegen denn die Franzosen 3 % - oder noch mehr - höher als wir? Das hat auch mit der zunehmenden Staatsverschuldung in Frankreich zu tun. Das hat mit dem tiefen Mißtrauen in die sozialistische Regierung zu tun und weniger mit anderen Faktoren. Natürlich - das ist ein altes geflügeltes Wort - spiegelt die Stabilität einer Währung immer auch die Stabilität der Regierung und der Politik der Regierung wider, und ich denke, wir sollten alles tun, um auch hier die D-Mark deutlich stabil zu halten. Wir haben auch in der Weltkonjunktur eine positive Entwicklung, z. B. in den USA; auch in einigen anderen Ländern gibt es dafür Ansatzpunkte. Wir haben aber auch hier in Deutschland im Bausektor, im Dienstleistungsgewerbe und in Teilen des Handwerks positive Ansätze. Dies sollten wir jetzt nicht in einem großen Krisengerede untergehen lassen, sondern sehr deutlich machen, daß wir gute Chancen haben, schon Ende dieses Jahres, spätestens Anfang nächsten Jahres wieder in einen konjunkturellen Aufschwung zu kommen. Zugleich müssen wir aber auch deutlich sehen, daß wir die große Aufgabe haben, den Standort Deutschland insgesamt - das gilt für Westdeutschland und natürlich vor allem auch für Ostdeutschland - für die Zukunft auszurichten, für die Zukunft sicher zu machen als Investitions-, als Wirtschafts- und auch als Arbeitsstandort. Vielen herzlichen Dank. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Abgeordnete Christian Müller.

Christian Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Den treffenden Ausführungen meines Kollegen Wolfgang Roth zu Wirtschaftslage, Konjunktur- und Handelspolitik will ich noch einige Anmerkungen hinzufügen, die für mich - wen wird's wundern? - besonders mit dem ostdeutschen Aspekt der wirtschaftlichen Entwicklung verbunden sind. Übrigens sehe ich auch keine Alternative dazu, dies ein wenig emotionaler anzugehen; denn jeder von uns weiß ja schließlich aus eigener Erfahrung, welche Rolle Emotionen in unserem Leben spielen. Zum Beispiel kann man mit Hilfe von passenden Emotionen, wenn sie denn einmal die Massen ergriffen haben, Wahlen gewinnen. Das, meine Damen und Herren, haben wir 1990 schließlich alle miterlebt, und daran ist auch grundsätzlich nichts zu mäkeln, es sei denn, es stellte sich nach kurzer Zeit heraus, daß dies vielleicht die einzige Zielstellung war, die damit verbunden war. Aber genau dies scheint mir doch geschehen zu sein, und es ist ein Jammer, daß die Aufbruchstimmung des Jahres 1990 allein für diesen Zweck verbraten wurde. Inzwischen hat diese Regierung wohl ihre letzten Chancen vertan, allen Deutschen reinen Wein zur entstandenen gesellschaftlichen Situation einzuschenken. Die Betonung auf „gesellschaftlich" ist mir deswegen wichtig, weil es nicht allein die rein wirtschaftlichen Auswirkungen sind, die wir alle als Bürger unseres Landes täglich erleben und die unsere Zukunftsaussichten relativieren. Dabei wäre es unendlich wichtig, wenn Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, uns allen laut sagten, wie Sie sich heute einen Prozeß geistiger und politischer Erneuerung vorstellen, der nach meiner festen Überzeugung die Grundvoraussetzung dafür ist, die größte Herausforderung dieses Jahrhunderts für uns Deutsche auch wirtschaftlich erfolgreich bewältigen zu können. Dies zu wissen und die Lage der Nation vom Bundeskanzler ohne Beschönigungen klar umrissen vor sich zu haben, ist doch die eigentliche Voraussetzung dafür, um den Menschen die notwendigen Opfer abverlangen zu können. In diesen Tagen wird sehr oft und völlig zu Recht hoffnungsvoll nach Amerika geschaut, weil dort die entstandene Chance zum Wandel von Clinton und seiner Mannschaft genutzt wird. Ich sehe dies mit einem gewissen Neid, weil ich mir wünschte, daß auch wir wieder ein Stück dieser Aufbruchstimmung bei Christian Müller ({0}) uns hätten. Aber ich glaube, ohne eine andere Regierung wird dies wohl nichts werden. Eine der unerläßlichen Voraussetzungen dafür ist vor allem auch der längst fällige wirtschaftspolitische Kurswechsel für Ostdeutschland. Das gilt auch dann noch ohne Einschränkung, wenn aus sehr nachvollziehbaren Gründen der wirtschaftlichen Lage im Westen unseres Landes und in den anderen Industrienationen zu Recht die größte Aufmerksamkeit gebührt; denn die wirtschaftliche Vereinigung Deutschlands droht inzwischen zu einem Trauma für Ost und West zu werden. Das ist eigentlich auch kein Wunder; denn von Anfang an fehlte der Wirtschaftspolitik eine Konzeption ebenso wie eine Zielvorstellung für die ökonomische Entwicklung in den neuen Bundesländern. ({1}) - Ich bin schon dieser Meinung. Dazu gehört auch, daß bis zum heutigen Tage die Finanzierung des wirtschaftlichen Aufbaus im Osten Deutschlands systematisch und einseitig vor allen Dingen den Beschäftigten, den Beitragszahlern auferlegt wurde. Jedenfalls: Je stärker die Folgen der beginnenden Wirtschaftskrise, in der wir eigentlich schon mittendrin sind, auch auf Ostdeutschland durchschlagen, desto mehr nähert sich die Wirtschaft Ostdeutschlands einer wirklichen Katastrophe. Hoffentlich besteht wenigstens darin Konsens, daß ein Ostdeutschland ohne Industrie die allergrößte Gefahr für den Wirtschaftsstandort Deutschland wäre. ({2}) Denn bis heute sind dort mindestens 40 % aller Arbeitsplätze verlorengegangen, und in der Industrie sind es sogar über 70 %. Die Zahl von 3,5 Millionen Menschen, die arbeitslos sind oder von der Bundesanstalt für Arbeit leben müssen, ist bekannt. Weitere Entlassungen stehen vor der Tür, und viele Arbeitslose werden in den kommenden Monaten zu Sozialhilfeempfängern. Ich fürchte, nüchterne Worte, gesprochen in diesem Saal, reichen wohl nicht aus, um die Lage der Betroffenen wirklich zu erfassen. Genau dies muß man aber versuchen, um zu verstehen, was es heißt, die Neuauflage von AB-Maßnahmen auszusetzen. Ich finde jedenfalls, daß dies ein Akt sozialer Kälte ist. ({3}) Die ostdeutsche Bevölkerung hat in den letzten zwei Jahren Belastungen hingenommen, über deren Ausmaß im Westen nach wie vor - so glaube ich - äußerst unklare Vorstellungen existieren. Trotzdem war da immer noch der Glaube an den überlegenen Westen, nachdrücklichst befördert durch die im Jahre 1990 vom Kanzler persönlich erzeugten Illusionen. Jetzt sehen die Menschen, daß auch im Westen nur mit Wasser gekocht wird. Der deutschen Exportnation bläst auf einmal der Wind des internationalen Wettbewerbs ins Gesicht. Die Renommierbranchen Automobilbau, Maschinenbau und Chemie steuern auf eine Strukturkrise zu. Fast schon ungläubig stellen die Ostdeutschen fest, daß andere Länder wie z. B. Japan auf wichtigen Zukunftsmärkten überlegen sind. Ich jedenfalls denke, die Menschen in den neuen Bundesländern sind dabei, eine andere Denkrichtung einzuschlagen. Sie werden nicht mehr bereit sein, die jetzige Wirtschaftspolitik weiter hinzunehmen, und gleiches dürfte wohl angesichts der jüngsten Entwicklung auch für die Menschen in den alten Ländern gelten. Auf jeden Fall ergibt es aus meiner Sicht hinsichtlich der ostdeutschen Lage keinen Sinn, weiter über dieses bekannte Erblastsyndrom zu meditieren. Meine Damen und Herren, die ostdeutsche Wirtschaft hat Anspruch auf eine faire Chance - denn sie hat bisher nichts dergleichen geboten bekommen -, um sich in einem vertretbaren Zeitraum modernisieren und in der Marktwirtschaft neu orientieren zu können. Unter den seit drei Jahren geltenden Bedingungen wäre auch die alte Bundesrepublik kein starkes Industrieland geworden. Vergessen wir doch nicht, daß praktisch über Nacht die ostdeutschen Binnenmärkte an die überlegene westdeutsche Konkurrenz verlorengegangen sind. Das waren immerhin 85 % der Produktion. Dies ist für die heutige Lage also ebenso bedeutsam wie der Zusammenbruch der Ostmärkte. Hinzu kommt, daß durch die überhastete Privatisierungspolitik in den letzten zwei Jahren zusätzlich viele gewachsene wirtschaftliche Beziehungen auseinandergerissen worden sind. Dies müsse hingenommen werden, so sagt der Jahreswirtschaftsbericht. Vertraut auf die Wachstumskräfte, die wir freisetzen, so sagt auch die Regierung. Wo sind denn diese Wachstumskräfte? Ist denn nicht auch die westdeutsche Industrie in einer immer noch zunehmenden Wachstumskrise, und dies nach zehn Jahren Wirtschaftspolitik der jetzigen Regierung? Selbst in den besseren Zeiten der letzten 20 Jahre sind doch wohl im Durchschnitt nur 10 % der Arbeitsplätze in Westdeutschland durch Neuansiedlung von Betrieben entstanden. ({4}) Woher also sollten dann eigentlich die vielen Investoren für den Osten kommen? Über das Thema Entindustrialisierung fielen heute schon diverse Sätze. Sie ist inzwischen jedoch so weit fortgeschritten, daß die ganze Diskussion um die sogenannten industriellen Kerne am Ende dieses Jahres ziemlich überflüssig sein wird, wenn nicht in letzter Minute ein radikaler Kurswechsel erfolgt. Die Regierung schiebt permanent die Verantwortung auf die angeblich zu hohen Löhne, auf die unrentablen Produkte, auf fehlende neue Märkte. Aber sie selbst hat die Produktivitätskrise in Ostdeutschland auch maßgeblich mitverursacht. ({5}) Christian Müller ({6}) - Doch; denn wissenschaftliche Einrichtungen wurden abgewickelt, Wissenschaftler auf die Straße geschickt, Forschungsabteilungen wurden aus Unternehmen ausgegliedert, wodurch die Produktinnovation der Grundlage entbehren muß. ({7}) Die Treuhand gab und gibt Liquidationshilfen, statt die Restrukturierung der Unternehmen zu finanzieren. Systematisch wurde so der ostdeutschen Wirtschaft die Grundlage für eine Umstrukturierung aus eigener Kraft entzogen oder auch vorenthalten. ({8}) - Ich denke schon, daß daran etwas ist, Herr Grünbeck. Der Wiederaufbau in Ostdeutschland ist daher nicht in erster Linie nur eine Frage des Geldes oder des Solidarpaktes, der bei weniger Lohn und steigenden Steuern und Preisen lediglich ein Konzept zur Entvölkerung Ostdeutschlands wäre; er ist vielmehr eine Frage von abgestimmter Politik. Daraus folgen aus meiner Sicht vier miteinander im Zusammenhang stehende Ansätze, die umgehend verwirklicht werden müssen, um Schlimmeres zu vermeiden. Erstens. Zur Überwindung der Strukturkrise im Osten brauchen wir dringend eine neue Art von Regionalpolitik, in der alle Politikbereiche, von Wirtschaft und Finanzen über Verkehr, Arbeitsmarkt, Technologie und Bildung bis hin zur Infrastrukturpolitik, miteinander koordiniert werden, um Verzögerungen und Fehlentwicklungen, beispielsweise neue Ballungsräume und entvölkerte Regionen, zu vermeiden. Dies ist eine Aufgabe, die mit der Richtlinienkompetenz des Kanzlers zu lösen wäre. Zweitens. Ostdeutschland muß in die Lage versetzt werden, sich auf die eigenen Kräfte zu besinnen. Dazu ist ein Nachteilsausgleich erforderlich, um die Auswirkungen der verfehlten Wirtschaftspolitik der letzten zwei Jahre und die Nachteile der fehlenden Infrastruktur kompensieren zu können. Dies muß mit einer zeitlich begrenzten Wettbewerbshilfe geschehen, um neue Märkte erschließen und alte halten zu können. Diese Forderung resultiert aus der Tatsache, daß besonders bereits privatisierte Unternehmen schwer um ihre Existenz kämpfen müssen. Es muß verhindert werden, daß diese Unternehmen in den Konkurs geraten. Die Hilfe sollte nach unserer Auffassung aus einem degressiv gestalteten Überbrückungs- und Modernisierungsdarlehen in Form eines zinsverbilligten Kreditprogramms für die Jahre 1993 bis 1995 mit einer Laufzeit von zehn Jahren bestehen. ({9}) Vor allem aber muß Zeit zur Verfügung gestellt werden, um endlich die sogenannten industriellen Kerne umzustrukturieren und zu modernisieren. Der notwendige Wiederaufbau der Industrie in Ostdeutschland darf sich nicht in einer minimalen Sanierung von Treuhandunternehmen erschöpfen. Zu einem solchen Wiederaufbau gehören auch die Erschließung neuer Geschäftsfelder, die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Einbeziehung der Unternehmen in die regionale Entwicklung. Drittens. Daher muß die Hängepartie zwischen Sanierung und Privatisierung für die restlichen Treuhandunternehmen schnellstens ein Ende haben. ({10}) Betriebsnotwendige Belegschaften müssen in ihrem Bestand gesichert werden. Ich fordere deshalb bis zum Sommer folgende Not- und Übergangsmaßnahmen: eine Bestätigung der vorhandenen Sanierungskonzepte und eine Mittelzusage von der Treuhandanstalt, um mit der Umsetzung dieser Konzepte beginnen zu können. Ich fordere, daß Privatisierungen und Liquidationen nur unter dem Vorbehalt besonderer Prüfung und mit Zustimmung des Bundestagssonderausschusses erfolgen dürfen und daß die Wiedereingliederung bzw. der Neuaufbau von Forschungsabteilungen in den ostdeutschen Unternehmen vorgesehen wird. Weiterhin fordere ich den Stopp des Personalabbaus, gegebenenfalls die Aufnahme von Personal in unternehmensinterne Qualifizierungsgesellschaften. Spätestens 1994 sind diese Unternehmen in eine Dachgesellschaft zu überführen, die in erster Linie die Funktionen der Finanzierung und Kontrolle übernimmt. Eigentümer dieser Dachgesellschaft sollen der Bund, die Länder und letztendlich auch Volksaktionäre werden, damit die Privatisierung der Mehrheit dieser Unternehmen schnell ermöglicht werden kann. Arbeitnehmerbeteiligungsmodelle und Kapitalbeteiligung des Managements könnten sinnvolle Ergänzungen sein. Die Restrukturierung der Tochterunternehmen soll von deren Management eigenverantwortlich und selbständig für eine Zeit von fünf Jahren geleitet werden. Danach wäre über die Zukunft des Unternehmens zu entscheiden. Nur ein einziges Jahr - wie das schon anklang - wäre für diese notwendige Umstrukturierung viel zuwenig. Die geforderten fünf Jahre sind dafür wohl ein Minimum. Die Verbesserung bestehender und die Entwicklung neuer Produkte sowie die Erschließung neuer Märkte benötigen Zeit. Diese Anpassungszeit muß der ostdeutschen Wirtschaft wohl endlich zugestanden werden. ({11}) Viertens. Dies schließt nach meiner Überzeugung letztendlich auch neue Formen für den Osthandel ein. Nicht nur für den Übergangszeitraum dieser fünf Jahre ist dies zur Unterstützung der Umstrukturierung notwendig. Wer die osteuropäischen Märkte aufgibt, wird eines Tages feststellen müssen, daß diese inzwischen von China bedient werden. Wir haben dazu bekanntlich als einen ersten Ansatz vorgeschlagen, privatwirtschaftlich organisierte Handelsentwick12418 Christian Müller ({12}) lungsgesellschaften zu bilden, um den Osthandel über die Runden zu bringen. Es gibt weiterhin keine Alternative dazu, diese vorgeschlagenen Maßnahmen in eine Offensive des Staates für Investitionen in die Infrastruktur einzubinden, bei der der Schwerpunkt im Osten liegen muß. Was aber Sie, meine Damen und Herren von der Regierung, offenbar weiterhin tun wollen, ist, so glaube ich, nicht gut zumutbar: Sie stellen der ostdeutschen Wirtschaft Forderungen und verweigern die Mittel zu deren Erfüllung. Der Jahreswirtschaftsbericht zeigt, daß das ganze Gerede von Sanierung an sich nur ein Lippenbekenntnis ist. Hinzu kommt, daß offenbar die Belastung vorzugsweise der unteren Einkommensgruppen noch weiter extensiviert werden soll. Gerade dann, wenn viele individuelle Sanierungsansätze verfolgt werden sollen, sind übergeordnete Koordination und sozial gerechtere Finanzierung der entstehenden Lasten wohl unumgänglich. Deshalb darf sich der Bund nicht länger aus seiner Verantwortung als Eigentümer heraushalten. Der Wiederaufbau der Industrie in Ostdeutschland fordert von den Treuhandunternehmen und ihren Eigentümern mehr als nur betriebswirtschaftliches Denken. Hier muß ein Stück gesamtwirtschaftlicher Verantwortung übernommen werden, wenn das Schlagwort von der Hilfe zur Selbsthilfe für Ostdeutschland einen Sinn behalten soll. Alles, was wir fordern, ist eine faire Chance, uns selbst helfen zu können. Dazu hat meine Fraktion ein geschlossenes Paket von Maßnahmen in die Solidarpaktverhandlungen eingebracht. Wir alle werden sehen, ob diese Regierung noch zu dem erforderlichen Kurswechsel bereit und in der Lage ist. ({13})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Hermann Pohler.

Dr. Hermann Pohler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001731, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube - das kam gerade auch bei meinem Vorredner zum Ausdruck -, wir sind uns alle darüber einig, daß eine Industriebrache im Osten Deutschlands nur durch eine verstärkte und gezielte Sanierung vermieden werden kann. Dabei kann es allerdings nicht um Dauersubventionen gehen. Bei der Beurteilung der Sanierungstauglichkeit ist allerdings nicht von der derzeitigen konjunkturellen Lage auszugehen; es kommt vielmehr auf die strukturellen Aussichten an. Der Schwerpunkt der Sanierung muß daher in Zukunft nicht nur auf die Rationalisierung sowie die Verbesserung und Neuentwicklung von Produkten und Produktionsverfahren, sondern verstärkt auch auf das Erschließen neuer Märkte gelegt werden. Unter diesem Gesichtspunkt kommt natürlich einem Investor, der neben Geld und Management vor allem auch Marktanteile mitbringt, eine besondere Bedeutung zu. Es ist jedoch nicht ausreichend, auf diese Hilfe von außen zu warten oder auf Manager zu vertrauen, die einfach nur einen Job ausüben. Es gilt vielmehr, ein bodenständiges Unternehmertum zu entwickeln. Ich bin nicht nur davon überzeugt, sondern ich weiß es auch, daß es im Osten Deutschlands eine Anzahl Leute gibt, die durchaus bereit und auch in der Lage sind, mehr Verantwortung zu übernehmen, als es z. B. das doch sehr enge Korsett, in das der Geschäftsführer eines Treuhandbetriebes gesteckt ist, zuläßt. Da nach Aussagen der Präsidentin der Treuhandanstalt, Frau Breuel, bei sanierungsfähigen Unternehmen die Umsetzung des vereinbarten Konzeptes nicht an der Finanzierung scheitern wird und die Betriebe die dazu notwendige Zeit erhalten werden, sehe ich durchaus eine Chance der Entwicklung eines bodenständigen Unternehmertums. Wenn sich dabei die Treuhandanstalt die Möglichkeit offenläßt, bei gravierenden Änderungen der inner- und außerbetrieblichen Rahmenbedingungen odèr bei schwerwiegenden Fehlern im Management einzugreifen, ist in meinen Augen eine Schadensbegrenzung jederzeit möglich. Dieser Weg wird jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn ein derartiger Neuunternehmer nicht nur gefördert, sondern auch gefordert wird. Das heißt, in vertretbarem Umfang ist er sowohl am Erfolg als auch am Mißerfolg des Treuhandbetriebes zu beteiligen. Gleichzeitig muß man ihm, wenn sich das Sanierungsprogramm als tragbar erwiesen hat, die Chance einräumen, in Form eines MBO oder MBI den Betrieb zu übernehmen. Die Form des Mietkaufes, der Mietpacht oder der Kaufpreisstundung wäre für zukünftige ostdeutsche Unternehmer, die als Existenzgründer nicht über das ausreichende Kapital verfügen, eine durchaus denkbare Lösung. In diesem Zusammenhang sollte man auch nochmals über die Formen der Beteiligung der Arbeitnehmer nachdenken. Mir ist bekannt, daß viele mit ihrem Betrieb so verbunden sind, daß die Bereitschaft dazu besteht. Es ist, glaube ich, aber auch selbstverständlich, daß der Arbeitnehmer eine Sicherheit dafür erhalten muß, daß seine Anteile bei negativem Ausgang nicht verlorengehen. ({0}) Gestatten Sie mir noch einige Bemerkungen zur Lohnpolitik, die ich mit einem Beispiel verbinde. In einem Thüringer Treuhandbetrieb der Landmaschinenindustrie wird eine Arbeitsproduktivität von 50 % zum Westniveau ausgewiesen. Die Löhne liegen bei 65 % des Westniveaus. Dabei liegen die Lohnstückkosten in einem Bereich, der zur Sicherung des Absatzes keine Steigerung zuläßt. Würde man hier der Forderung der Gewerkschaft folgen und die Löhne um 26 % erhöhen, dann würden wir bei einem Lohnniveau von 90 % stehen, die roten Zahlen würden wieder Realität, und die angestrebte Privatisierung des Betriebes wäre in weite Ferne gerückt, es sei denn, Arbeitsplätze würden in größerem Umfang abgebaut; denn kein Unternehmer kann bei so einer Diskrepanz erfolgreich arbeiten. Die Auffassung, die Treuhand werde schon zahlen, erinnert doch stark an die Mentalität in den ehemaliDr. Hermann Pohler gen volkseigenen Betrieben, bei denen der Staat im Endeffekt für alles aufkam. ({1}) Interessant ist übrigens die Feststellung, daß der Zusammenhang zwischen Lohnkosten und Arbeitsplatzerhaltung in den neuen Bundesländern durchaus bekannt ist und trotz allem verständlichen Bestreben nach höheren Löhnen auch weitestgehend akzeptiert wird. Andere Diskussionen werden in der Regel von außen in die Betriebe getragen. Auch die Gewerkschaften werden aber einsehen müssen: Ohne vernünftige Lohnanpassung, d. h. Lohnanpassung im Rahmen der Produktivitätssteigerung, werden alle Mittel der Förderungen und Hilfen für die ostdeutsche Wirtschaft nicht im erforderlichen Maße greifen. Danke schön. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort erhält jetzt der Abgeordnete Dr. Briefs.

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Bundesregierung ist wahrhaftig nicht zu beneiden. Zur Jahrhundertaufgabe des Aufbaus im Osten und zur weiteren Jahrhundertaufgabe des ökologischen Umbaus von Wirtschaft und Verbrauch kommt die tiefe Konjunkturkrise dieser Jahre hinzu. Die deutsche Volkswirtschaft befindet sich nach 1975 und nach 1982 in der dritten nachhaltigen Konjunkturkrise der letzten 20 Jahre. Krisen, Konjunkturkrisen, Strukturkrisen alle Jahre wieder gehören nun einmal zur Marktwirtschaft. Doch in dieser jetzigen Krise droht in der Tat, wie der Kollege Jens sagt, die marktwirtschaftlich alle paar Jahre fällige Rezession zur Depression zu werden, zur Depression mit strukturellen Langzeitfolgen. Besondere Befürchtungen muß die Entwicklung am Arbeitsmarkt hervorrufen. Nach der Krise 1975 betrug die nicht wieder abbaubare Arbeitslosigkeit, die sogenannte Sockelarbeitslosigkeit, ca. i Million Menschen, und das trotz eines vier Jahre währenden hohen realen Wachstums von im Durchschnitt 4 % von 1976 bis 1979. Nach der Krise 1981/82 stieg diese Sockelarbeitslosigkeit auf über 2 Millionen, wenn man zu den registrierten Arbeitslosen nur einen kleinen Teil der verdeckten Arbeitslosigkeit und insbesondere der sogenannten stillen Reserve - vor allem arbeitslose Frauen - hinzunimmt, und das trotz der längsten Wachstumsphase in der Nachkriegszeit überhaupt! In der jetzigen Krise droht die Sockelarbeitslosigkeit auf über 3 Millionen Menschen zu steigen. 3 Millionen Arbeitslose heißt 10 Millionen bis 12 Millionen betroffene Menschen, heißt z. B., daß mehr als 1 Million Kinder unter den Bedingungen der Arbeitslosigkeit eines Elternteils oder beider Eltern aufwachsen müssen. 3 Millionen Dauerarbeitslose heißt insbesondere im Osten Dauerdepressionszonen mit Dauerarbeitslosigkeitsraten von 20 %, 25 % und mehr. Aus den Erfahrungen der Wirtschaftskrisen seit den 70er Jahren sind deshalb entscheidende Lehren zu ziehen; und die zieht diese Bundesregierung, diese Regierungskoalition leider nicht. Eine erste Lehre muß sein: Dem Arbeitsmarkt und der Sockel- und Dauerarbeitslosigkeit muß das Hauptaugenmerk geschenkt werden. Langfristige Beschäftigung schaffende und Beschäftigung sichernde Konzepte müssen her; industriepolitische Ansätze - regional und branchenbezogen - mit entsprechenden Beschäftigungswirkungen müssen her. Die Plan- und Konzeptionslosigkeit dieser Bundesregierung - und hier, das muß man bei allem Verständnis für ihre schwierige Lage sagen, beginnt die Schuld dieser Bundesregierung - muß ein Ende haben. Sie läßt uns in eine bis heute nicht gekannte Arbeitsmarktkatastrophe hineinschlittern. Deshalb noch einmal: Der ABM-Bewilligungsstopp des Bundesarbeitsministers auf dem Höhepunkt der derzeitigen Wirtschaftskrise ist Gift auch für die Konjunktur. Er ist zudem zutiefst unsozial, ist vor allem Ausdruck des geradezu hilflosen Herumruderns dieser Bundesregierung und der Regierungskoalition, wovon ja auch das Hickhack um Mineralölsteuererhöhung und Autobahnvignetteneinführung zeugt. Alles das ist in einer depressionsnahen Situation wahrhaftig nicht ermutigend. Eine weitere Lehre muß aus den Erfahrungen der 70er und 80er Jahre gezogen werden: Wachstum und Wachstumspolitik allein schaffen es nicht, schaffen es nicht am Arbeitsmarkt, schaffen es nicht in den bedrohten Regionen, wie derzeit in den Stahlregionen. Sie schaffen es nicht im Osten. Hier ist mehr gefordert als eine Politik, die nur Rahmenbedingungen beeinflußt. Industriepolitik muß her. Industriepolitik muß heißen, die Wirtschaft in die Pflicht zu nehmen, muß heißen, ihr Zusagen für verstärkte Investitionen im Osten oder auch an den Stahlstandorten abzuverlangen, was gegebenenfalls heißt, Sanktionen zu praktizieren. Das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat hierzu zu Recht konkrete Maßnahmen genannt. Industriepolitik in dieser Situation muß heißen, alle staatlichen politischen Mittel - Infrastrukturpolitik, Steuer- und Finanzpolitik, Forschungs- und Technologiepolitik - in mittel- und langfristigen Konzepten zusammenzuführen. Industriepolitik muß heißen, in Abstimmung mit den Betroffenen, mit den Sozialpartnern, mit Bundesländern und Gemeinden, Vorgaben für die Investitionstätigkeit der Wirtschaft zu entwikkeln. Herr Rexrodt hat insofern ja recht: Das Geld dafür ist da. Die Wirtschaft schwimmt im Geld - trotz Krise, trotz Massenarbeitslosigkeit, trotz der Einbrüche im Auslandsgeschäft. Beim heutigen durchschnittlichen Kapitaleinsatz im Industriebereich, aber auch in den meisten Dienstleistungsbereichen fließen selbst bei roten Zahlen riesige Gelder als verdiente Fixkosten - das gilt selbst bei nur Teildeckung dieser Fixkosten - in die Unternehmenskassen zurück. Vom volkswirtschaftlichen Brutto-Cash-Flow werden jedoch in Deutschland nur etwa 60 % investiert. Es wird im wesentlichen deshalb nicht mehr investiert, weil es fast generell moderne und hochmoderne Überkapazitäten gibt. Ein Beispiel dafür ist die Stahlindustrie. Eben deshalb ist aber die plan- und konzeptionslose Politik dieser Bundesregierung doppelt verhängnisvoll. Sie verfährt ja auch noch insofern falsch, als sie die Rahmenbedingungen nicht einmal schlüssig gestaltet. Sie kann aber insbesondere mit dem Grundproblem der Überkapazitäten nicht fertig werden. Ihre Politik führt deshalb auch dazu, daß der arbeitsplatzzerstörende Modernisierungs- und Rationalisierungsprozeß weiter angeheizt wird. Im Osten führt sie zusätzlich dazu, daß die für die Menschen perspektivlose Absahnerei und die Ausplünderung z. B. der Gemeindekassen - dafür habe ich jüngst ganz konkrete Beispiele gehört, und das sei an die Adresse der Ideologen der Mittelstandswirtschaft gerichtet - gerade auch durch mittelständische Unternehmen weitergeht. Das ist nun einmal Fakt! Statt dessen muß ein sorgsam austariertes Gefüge von nachfrageschaffenden und produktions- und arbeitsplatzsichernden Maßnahmen her. Dieses Herangehen würde auch erlauben, die große zentrale Aufgabe der Ökologisierung der Produktion und der Wirtschaftspolitik voranzutreiben. Beim plan- und konzeptionslosen Vorgehen der Bundesregierung bleibt nämlich auch der Umweltschutz auf der Strecke, bzw. er wird systematisch abgebaut oder zurückgedrängt, wo es überhaupt Ansätze gibt, z. B. in der Verkehrspolitik, im Gewerbe- und Wohnungsbau und insbesondere im Osten. Die Ökologisierung der Produktion kann in großer Zahl Arbeitsplätze schaffen, weil viele ökologische Aufgaben mit geringem oder mittlerem Kapitaleinsatz - Wärmedämmung, Wohnumfeldverbesserung usw. - zu lösen sind. Sie könnte notleidenden Branchen helfen. Der Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs und der Neubau von Eisenbahnstrecken oder der Ausbau der Kraft-Wärme-Koppelung z. B. könnten der Stahlindustrie und dem Maschinenbau auf Jahre hinaus umfangreiche Aufträge bringen. Die Ökologisierung der Produktion könnte durch die Schaffung und Förderung ökologisch ausgerichteter regionaler Produktionskerne im Osten den Menschen helfen. Voraussetzung ist allerdings ein Paradigmenwechsel in der staatlichen Wirtschaftspolitik. Beschäftigungssicherung und ökologischer Umbau müssen mit an erster Stelle Ziele der Wirtschaftpolitik werden. Sie dürfen nicht, wie das diese Bundesregierung tut, der Konjunkturpolitik bzw. der Behebung der derzeitigen Wirtschaftskrise durch Wirtschaftswachstum auf Gedeih und Verderb geopfert werden. Schönrederei und Verharmlosung sowie grundloser Optimismus, wie der Jahreswirtschaftsbericht sie verbreitet, sind in keinem Fall angebracht. Der geradezu ideologische Glaube an die Selbstheilungskräfte der Marktwirtschaft führt in die falsche Richtung. Das Ergebnis ist Wachstum ohne Arbeitsplätze und zu Lasten der Umwelt. Der Vorteil der Marktwirtschaft liegt ganz woanders. Er liegt darin, daß dezentral, in den Betrieben, auf die Märkte, auf die Abnehmer hin orientiert die Entscheidungen über Beschaffung, Produktion und Absatz, über Investitionen, Forschung und Entwicklung sowie Personaleinsatz getroffen werden. Die Marktwirtschaft -

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Briefs, Ihre Redezeit ist beendet. ({0})

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluß. Die Marktwirtschaft besticht durch die Flexibilität, mit der in den Betrieben auf ganz unterschiedliche Aufgaben und Bedingungen reagiert wird. Mit dieser Flexibilität wird die Marktwirtschaft auch auf die vorrangigen Aufgaben der Beschäftigungssicherung und des ökologischen Umbaus reagieren. Es ist allerdings an uns - das sage ich jetzt an die Linken in diesem Lande -, auch an uns ist es und wird es sein, dafür zu sorgen, daß insbesondere in den politischen Auseinandersetzungen und in den Wahlkämpfen der nächsten Zeit dafür gesorgt wird, daß diese Bundesregierung spätestens ab Ende 1994 das nicht mehr so plan- und konzeptionslos und nachlässig betreiben kann, wie sie es bisher getan hat. Frau Präsidentin, ich danke Ihnen.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als letzter zu diesem Tagesordnungspunkt spricht der Abgeordnete Ortwin Lowack.

Ortwin Lowack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001379, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben es seit einiger Zeit mit einem merkwürdigen, schon fast geheimnisvollen Phänomen zu tun: Obwohl die Arbeitslosigkeit in Höhen steigt, die wir uns vor kurzem noch gar nicht vorstellen konnten, obwohl wir am Anfang einer langen und schweren Rezession stehen, obwohl die Inflation zwischen 4 und 5 % liegt und damit ungefähr 140 Milliarden DM der Ersparnisse pro Jahr bereits verschlingt, obwohl die Kriminalität einen absoluten Höchststand in unserem Land erreicht hat und sich die Deutschen in einer schweren Identitätskrise befinden, haben wir das Phänomen, daß die Politik mit all dem nichts zu tun haben will - so, als ob sie auch keinerlei Verantwortung trüge. Der Bundeswirtschaftsminister hat heute beklagt - ich darf ihn zitieren -, daß die Abgaben und Steuern zu hoch seien. Aber er hat nicht die Frage beantwortet, in wessen Verantwortung die Steuern und Abgaben so hoch festgesetzt wurden, obwohl doch seine Partei seit 23 Jahren nicht nur in der Regierung ist, sondern die Verantwortung für die Wirtschaftspolitik trägt. Und die Politik treibt Deutschland in ein nebulöses Europa, das in Wirklichkeit mehr Zentralismus, unkontrollierte Verwaltung und Macht, Einengung und Störung der marktwirtschaftlichen Prozesse bedeutet. Die Politik, hierzu befragt, zuckt nur mit den Schultern - so, als ginge sie das alles nichts an. Das Schuldendesaster würgt die Zukunftshoffnungen ab. Die Ursache, daß ein Kanzler Kohl das Jahr 1990 zu einem Wahljahr gemacht und dem die deutsche Einheit untergeordnet hatte, diese Tatsache wird überhaupt nicht mehr erwähnt. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir haben erlebt, daß sich die deutsche Leistungsbilanz innerhalb eines Jahres urn über 100 Milliarden Mark verschlechtert hat, ohne daß für die Bundesregierung die Warnlampen aufgeleuchtet haben. ({0}) Der Jahreswirtschaftsbericht fordert mehr Solidarität. Woher soll aber die neue Gemeinschaft kommen, wenn die Politik selber Cliquenwirtschaft und Seilschaftsdenken vorführt? Woher soll eine gemeinsame Identität, die gerade für junge Menschen so wichtig wäre, kommen, wenn sie laufend bewußt zerstört wird? Woher soll die Rechtseinheit, die Überzeugungskraft, eine Aufbruchstimmung kommen, wenn die Politik konfus, geistig arm und perspektivlos ist? Man spricht im Jahreswirtschaftsbericht von einer Steuerpolitik, die - ich zitiere - an den gesamtwirtschaftlichen Erfordernissen ausgerichtet sein müsse, während man gleichzeitig die Steuern erhöht, obwohl sie eigentlich nach der wirtschaftlichen Situation gesenkt werden müßten. Man spricht von Haushaltskonsolidierung und legt gerade einen neuen Nachtragshaushalt mit neuen Belastungen auf. Der Bundeskanzler spricht von der Belastbarkeit des Bürgers mit Augenmaß und meint tatsächlich neue mallose Belastungen. Der Jahreswirtschaftsbericht spricht davon, daß die Arbeitsmarktpolitik effizienter zu gestalten wäre, und vergißt, daß die Betriebe seit über zehn Jahren eine derart niedrige Eigenkapitalquote, nämlich etwa 18 %, haben, daß sich jede Anhebung von Steuern katastrophal auswirken muß. Dort aber, wo man den Rechtsstaat und Einnahmen miteinander verbinden könnte und müßte, nämlich gezielt und effektiv gegen Steuersünder vorgehen müßte - ein Volumen von rund 150 Milliarden DM - tut man nichts. Man schließt „Maastricht" ab und zahlt heute schon 50 Milliarden DM an Europa, ohne daß noch irgendeine Erfolgskontrolle für diese Zahlungen stattfände. Und der Außenminister macht einen tiefen Kotau in Peking vor einem kommunistischen Regime, das keinerlei Zukunftaussichten für China bedeutet. ({1}) Meine Damen und Herren, die positiven Entwicklungen in China hängen doch nicht am kommunistischen Regime in Peking. Sie hängen daran, daß durch Joint-venture-Vereinbarungen tausendfach Kapital in den Südosten und in die Südprovinzen investiert wird und daß mehr nach westlichen oder marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten produziert werden kann. Wir aber kaprizieren uns auf das falsche Regime, ({2}) statt auf die Zukunft zu setzen und das noch damit zu verbinden, daß wir unserer deutschen Wirtschaft belebende Elemente vermitteln könnten, nicht zuletzt auch unserer deutschen Werftindustrie. ({3}) Wenn Helmut Kohl in Japan auftritt und glaubt, er könnte die Japaner dadurch überzeugen, daß er sagt „ Seid nicht so aggressiv! ", dann trägt er nur dazu bei, daß das gute Bild der Deutschen zerstört wird und wir noch restlos das Gesicht verlieren. ({4}) Wenn wir in Fernost engagiert sein wollen, dann sicher nicht dadurch. Man spricht von Investitionshemmnissen, die man abbauen möchte, und verschlechtert gleichzeitig die Abschreibungsmöglichkeiten für Investitionen, besonders der kleinen und mittleren Betriebe. Lieber Kollege Grünbeck, das hätten Sie eigentlich herausstellen müssen. Man spricht davon, den Mittelstand zu stärken, und betrügt damit wieder Hunderttausende, die immer weniger Existenzmöglichkeiten als Unternehmer sehen. Ich sage Ihnen voraus, Sie haben in fünf bis sieben Jahren 25 bis 30 % Mittelstand weniger. Er hält diese Belastung nicht mehr aus. ({5}) Ich bin selber Mittelständler, ich habe selber einen Betrieb aufgebaut; ich weiß, wovon ich rede. Man spricht davon, mit Forschungs- und Technologiepolitik die Innovationskraft stärken zu wollen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, und streicht gleichzeitig gerade im Bereich des Humankapitals das, was wir brauchen. Oder weiß niemand, was sich heute an unseren Universitäten, in unseren Bildungs- und Forschungseinrichtungen abspielt? Wir kürzen dort, wo eigentlich mehr notwendig wäre. Man spricht davon, die Europäische Gemeinschaft zu vertiefen und zu erweitern, während gleichzeitig das Europäische Währungssystem auseinanderbricht, weil es keine gemeinsame Stabilitätspolitik in Europa gibt und sich die Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft weigern, ihre nationalen Zentralbanken in die Unabhängigkeit zu entlassen, die sie für eine echte Stabilitätspolitik brauchten. Man spricht von einer Reduzierung des Preisauftriebs, während Theo Waigel in einem Interview gerade verkündet hat - Sie waren ja, so hoffe ich, Zeugen dafür -, daß dieser Preisauftrieb doch mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer in Zusammenhang stünde und deshalb nicht überbewertet werden dürfe -, so, als ob er keinerlei Verantwortung für die Anhebung gerade dieser Mehrwertsteuer hätte. Das ist in meinen Augen nichts anderes als politische Clownerie, und ich frage, wie lange wir uns das noch bieten lassen wollen. Das Chaos in dieser Regierung ist perfekt. Die ordnende Hand fehlt. Das wissen Sie auch, das spüren Sie auch. Die Identitätskrise in Deutschland zerstört die Hoffnung auf eine große - ich sage es ganz bewußt - nationale gemeinsame Anstrengung. Wenn das Elend nicht weitergehen soll, gibt es darauf nur eine Antwort: Befreien Sie unsere Menschen von dieser Politik, von Dummheit, Anmaßung, parteipolitischem Kalkül und der politischen Spielwiesenmen- talität, die weit verbreitet ist, und schaffen Sie den Weg zu Ehrlichkeit, Gemeinschaftssinn und zu der Leidenschaft, das Beste nicht für die Politik, aber für unser Volk zu tun. Ich danke.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/4330, 12/3774, 12/4429, 12/4430 und 12/4453 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag der Gruppe der PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/4462 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden wie der Jahreswirtschaftsbericht. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen, Ich rufe Punkt 11 der Tagesordnung auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Jung ({0}), Holger Bartsch, Hans Berger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ein gemeinsamer Europäischer Binnenmarkt braucht eine ökologisch verantwortbare Energieversorgung - Drucksache 12/3767 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({1}) Finanzausschuß Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit EG-Ausschuß b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Jung ({3}), Gerd Andres, Holger Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Übertragung der örtlichen Energieversorgungseinrichtungen an die ostdeutschen Kommunen - Drucksachen 12/3624, 12/4259 - Berichterstattung: Abgeordneter Heinrich Seesing Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Schon zu Beginn der Aussprache möchte ich fragen, ob Sie damit einverstanden sind, daß der Kollege Schulz vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN seine Rede zu Protokoll gibt.* ) ({4}) - Sie wollen ihn reden hören und sind nicht einverstanden? Oder stimmen Sie doch zu? ({5}) - Gut, Zustimmung. *) Anlage 2 Dann eröffne ich die Aussprache. Als erster spricht der Abgeordnete Volker Jung.

Volker Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001040, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Beschlüsse sowohl in der Europäischen Gemeinschaft wie in unserem Lande, eine sparsame, sichere und umweltschonende Energieversorgung durchzusetzen, sind kaum noch zu zählen. Die Europäische Gemeinschaft hat sich verpflichtet, die CO2-Emissionen in den nächsten Jahren zu stabilisieren. Die Bundesregierung will bis zum Jahre 2005 eine Reduzierung um mindestens 25 % erreichen. In den letzten drei Jahren ist allerdings praktisch nichts geschehen, um diese Ziele zu erreichen. Im Gegenteil: In der Europäischen Gemeinschaft ist der Energieverbrauch um 200 bis 300 Millionen Tonnen auf mehr als 1,8 Milliarden Tonnen gestiegen. Der Mehrverbrauch entspricht dem Energieverbrauch Italiens in einem Jahr. Gegenüber 1989 sind die Ölpreise um etwa 4 Dollar pro Barrel gefallen. Sie liegen heute bei 18 Dollar. Wenn man bedenkt, daß bei der kombinierten CO2Energie-Steuer mit 3 Dollar pro Barrel begonnen werden soll, dann zeigt das, daß die europäische Energiesteuer allenfalls den Preisverfall der letzten drei Jahre ausgleichen würde. Dabei nehmen die Versorgungsrisiken zu. Die Importquote der EG liegt heute bei über 50 %. Rechnet man die 100prozentige Eigenversorgung Großbritanniens ab, dann liegt die Importquote der Europäischen Gemeinschaft bereits bei über 60 %. Die unsichere politische Weltlage erhöht nicht nur die Versorgungsrisiken beim Öl, das zu mehr als 60 % aus den OPEC-Staaten kommt; kaum kalkulierbar sind auch die Versorgungsrisiken beim Gas, das wir überwiegend aus der ehemaligen Sowjetunion beziehen; und nicht zuletzt: Die CO2-Emissionen sind in Europa nicht gesunken, sondern gestiegen. Der geringe Rückgang in Deutschland ist auf den wirtschaftlichen Zusammenbruch in der ehemaligen DDR zurückzuführen, und das kann für uns keine Beruhigung sein. Angesichts der rezessiven Tendenzen in der Weltwirtschaft glaube ich nicht, daß wir in der nächsten Zeit starke Energiepreissprünge zu erwarten haben. Unter Klima- und Umweltschutzgesichtspunkten geben die fallenden Energiepreise also Signale in die verkehrte Richtung. Es gibt eben keinen Heilungsmechanismus der Marktwirtschaft zugunsten von Energieeinsparung, Klimaschutz und Umweltschutz. Deshalb ist es das Gebot der Stunde, daß die Politik gegensteuert. Davon kann aber weder in Europa noch in Deutschland die Rede sein, wenn man nach den konkreten Änderungen der Rahmenbedingungen, seien es nun solche ordnungsrechtlicher Art oder seien es solche fiskalischer Art, fragt. Die EG-Kommission in Brüssel hat energie- und umweltpolitische Vorschläge gemacht, die sich im Ergebnis alle im Dickicht unterschiedlicher Interessen der einzelnen Länder und der Wirtschaft verfangen haben. Durchgesetzt werden konnte so gut wie nichts. Ich erinnere an die Gemeinschaftsstrategie für weniVolker Jung ({0}) ger Kohlendioxidemissionen und mehr Energieeffizienz, an die Vorschläge zur Deregulierung der Gas-und Strommärkte sowie an die Richtlinie zur Einführung einer Energiesteuer. Glücklicherweise hat die Kommission auch noch keinen Erfolg bei ihrer destruktiven Antikohlepolitik gehabt, die, wenn sie durchgesetzt werden würde, nicht nur unsere Importabhängigkeit vergrößern, sondern auch die Versorgungssicherheit beeeinträchtigen würde. Die Deregulierungsabsichten hat der Ministerrat vorerst blockiert. Die Kommission muß also neue Vorschläge vorlegen, wenn sie die Unterstützung der Mitgliedstaaten bekommen will. Zu diesem Zweck hat meine Fraktion den jetzt zur Diskussion stehenden Antrag „Ein gemeinsamer Europäischer Binnenmarkt braucht eine ökologisch verantwortbare Energieversorgung" eingebracht. Dabei wenden wir uns nicht prinzipiell gegen mehr Wettbewerb. Wir sind allerdings der Ansicht, daß eine gemeinsame europäische Energieversorgung nur dann verantwortbar ist, wenn sie sich in einen einheitlichen ökologischen Ordnungsrahmen einpaßt. Verfälschungen durch nationales Umweltdumping dürfen nicht mehr möglich sein. Nach unserer Vorstellung ist ein ökologisch verantwortbarer Wettbewerb aber nur dann möglich, wenn dem Gedanken einer Dezentralisierung der Energieversorgung stärker Rechnung getragen wird. Wir verlangen keine Kommunalisierung um jeden Preis - dem haben wir im Grunde nie das Wort geredet -; aber wir wollen die Chancen einer stärkeren Dezentralisierung der Energieversorgung ausschöpfen, um den größtmöglichen Effekt beim Umweltschutz zu realisieren. Das betrifft den zukünftigen Kraftwerkspark ebenso wie Maßnahmen zur Energieeinsparung. Ohne eine massive Ausweitung der Kraft-WärmeKopplung, die am besten auf lokaler Ebene organisiert wird, ist ein wirksamer Klimaschutz nach unserer Auffassung nicht realisierbar. Darum sind wir für eine Stärkung der kommunalen Energieversorgungsunternehmen und nicht für die Herausdrängung aus dem Wettbewerb, wie ihn die Durchleitungsrichtlinien zweifellos bewirken würden. Eine reine Wettbewerbsregelung im Strombereich hätte nach unserer Auffassung zwei negative Effekte. Erstens würde am Ende statt mehr Wettbewerb eine größere Konzentration der Energieerzeugung und -versorgung durch wenige Unternehmen entstehen. Die Ergebnisse zahlreicher Deregulierungspolitiken z. B. in den USA und in England weisen darauf hin. Zweitens würde der Umweltschutz vollständig auf der Strecke bleiben, weil es ja Absicht ist, mit der Liberalisierung des Binnenmarkts eine Senkung der Energiekosten zu erreichen. Das würde mit hoher Wahrscheinlichkeit zu mehr Verbrauch von Energie und nicht zu einer effizienten und rationelleren Energienutzung führen. Aus unserer Sicht müssen deshalb die Richtlinienentwürfe völlig überarbeitet werden. Wir warten auf Vorschläge der Europäischen Kommission, mit denen wirklich eine ökologisch verträgliche Entwicklung in Gang gesetzt werden kann. Wie sieht es nun bei uns aus? Die Koalitionsvereinbarung und der Energiebericht der Bundesregierung strotzen nur so von flotten umweltpolitischen Sprüchen, von CO2-Reduktionszielen und Klimaschutz. Bislang wurde aber praktisch kein einziges Instrument zur Erreichung dieser Ziele eingesetzt. Obwohl vollmundig angekündigt, liegt bis heute kein Entwurf für ein neues Energiegesetz vor, gibt es keine Novelle der Wärmeschutzverordnung und wird an eine Wärmenutzungsordnung nicht gedacht. Die Fehlentscheidung der Bundesregierung bei den Stromverträgen, die den ostdeutschen Kommunen eigenständige Versorgungsmöglichkeiten vorenthalten und dadurch erst die Verfassungsbeschwerde heraufbeschworen hat, wirkt nach wie vor als Investitionshemmnis. Wir können nur hoffen, daß der Vergleichsvorschlag des Bundesverfassungsgerichts, der an sich schon eine Ohrfeige für die Bundesregierung war, nun doch noch von allen ostdeutschen Kommunen akzeptiert wird. ({1}) Unser Antrag zur Übertragung der örtlichen Energieversorgungseinrichtungen an die ostdeutschen Kommunen, den die Regierungsparteien im Wirtschaftsausschuß - wie ich finde, mit sehr fadenscheinigen Gründen - abgelehnt haben, obwohl wir uns in der Sache doch völlig einig waren, weist nach wie vor in die richtige Richtung. Wie wir jetzt sehen, ist er nicht überflüssig geworden. ({2}) Ich möchte daher an Sie appellieren, doch noch unserem Antrag zuzustimmen, um die Kommunen in Thüringen und Sachsen dazu zu bewegen, die Verständigungslösung anzunehmen. Ich denke, Ihre Weigerung ist ein falsches Signal für die betroffenen Kommunen. Wir müssen den Investitionsstau in der Energieversorgung der neuen Bundesländer endlich überwinden. Ebenso wie ich seinerzeit an die westdeutschen Energieversorgungsunternehmen und an die Bundesregierung appelliert habe, daß die ostdeutschen Kommunen eine gesunde wirtschaftliche Basis und dort, wo es möglich ist, eigenständige Stadtwerke brauchen, appelliere ich heute an die thüringischen Kommunen, den Verfassungsstreit zu beenden. Die ostdeutschen Kommunen haben jetzt, nicht zuletzt durch den Erfolg der Verfassungsbeschwerde - darauf muß man ausdrücklich hinweisen -, eine echte Chance, mit ihren Stadtwerken maßgeschneiderte kommunale Energieversorgungskonzepte zu realisieren. Die Energieverbundgesellschaften, die ja von den westdeutschen Stromkonzernen beherrscht werden und die noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen sind, haben die Pflicht, ihre Investitionsprogramme zu realisieren. Dies wäre ein wichtiger Baustein für einen neuen energiepolitischen Konsens, den wir ja offensichtlich gemeinsam suchen. Schönen Dank. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Abgeordnete Heinz Seesing.

Heinrich Seesing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002142, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion hat in ihrem Antrag „Ein gemeinsamer europäischer Binnenmarkt braucht eine ökologisch verantwortbare Energieversorgung" beklagt, daß mit dem europäischen Binnenmarkt keine Harmonisierung der europäischen Energiepolitiken erreicht ist. Dieses Ziel wird auch nicht zu erreichen sein, wenn die SPD auf dem beharrt, was sie zur Zeit als ihre Energiepolitik ausgibt. Ich muß allerdings eingestehen, daß ich heute auch noch keine schlüssige Antwort weiß, wie denn diese europäische Energiepolitik letzthin aussehen könnte. Es gibt tatsächlich noch zu viele Ungereimtheiten. Wenn wir uns als Deutsche einer europäischen Energiepolitik nähern wollen, dann müssen wir sicher von unseren nationalen Vorstellungen ausgehen. Und gerade die könnten Hemmnisse auf einem Weg zu einer gesamteuropäischen Energiepolitik sein. Unsere nationale Energiepolitik wird, wie man bemerkt, wenn man sie genau anschaut, von vier oder besser fünf großen K bestimmt: Klima, Kohle, Kernenergie, Kraftstoff oder Kraftverkehr und Kasse, was ich nicht unbedingt mit Abkassieren gleichsetzen will. Unsere Diskussion über Energie und Umwelt hat uns zu der Forderung nach einer Energiepolitik geführt, die als Ziel die Sicherung einer umweltgerechten Energieversorgung hat. Wirtschaftlichkeit, Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit und Ressourcenschonung sind als gleichwertig zu betrachten. Nicht alle Welt, auch nicht ganz Europa, versteht unsere Klimapolitik. Ich will gerne die Forderung der SPD-Kolleginnen und -Kollegen nach einer Stärkung des Klima- und Umweltschutzes zu auch unserer Forderung machen. Dabei muß aber deutlich werden, welche Stellung dieses K wie Klima in unserer Politik wirklich einnimmt. Über K wie Kohle werden wir uns in Europa streiten müssen. Ich wage zu bezweifeln, daß wir in allen Staaten der EG Zustimmung für unseren Wunsch erlangen, die Steinkohlenförderung in Deutschland mit hohen Subventionen aufrechtzuerhalten. Da werden wir noch gemeinsam tüchtig zu kämpfen haben, um die Beschlüsse von November 1991 durchzusetzen. ({0}) Und das K wie Braunkohle beschäftigt mich zur Zeit entschieden mehr als z. B. die Frage „Zugang Dritter zum Netz" . Wie denken eigentlich unsere europäischen Freunde über diese Braunkohle, wenn sie hören, daß ein zur Zeit noch leiser Chor von Stimmen statt einheimischer Braunkohle den Einsatz von Importsteinkohle verlangt. Das K wie Kernkraft ist Anlaß zum Streit zwischen uns. Dieser Streit wird uns sicherlich noch einige Zeit begleiten. Dennoch bin ich der Meinung, daß es des Schweißes der Edlen wert ist, wenn wir versuchen, zum sechsten K zu kommen, zum K wie Konsens. Ich will die Sache nicht zu schwer machen. Wir wollen ja nicht nur darüber reden, wie man mit Kernenergie umgehen kann und muß. Wir wollen uns ja unter Umständen auf eine zukunftgerichtete Politik festlegen. Ich sehe dafür vielleicht auch technische Lösungen. Ich habe das vierte K wie Kasse und das fünfte K wie Kraftstoffe oder auch Kraftverkehr nicht vergessen. Wir suchen ja ständig nach Geld, obwohl ich immer öfter den Eindruck habe, daß genug davon da ist und wir es nur nicht immer richtig ausgeben. Aber daß wir noch lange das Auto zum „Abkassieren" nutzen können, wage ich zu bezweifeln. Das Auto an sich haben wir in unserer Gesellschaft jetzt schon so lange verteufelt, daß immer mehr Menschen sich nur noch mit schlechtem Gewissen hinters Steuer klemmen, selbst wenn sie wirklich keine andere Verkehrsmöglichkeit haben. Noch beruhigen sie ihr schlechtes Gewissen damit, daß sie die nächsten Steuererhöhungen auf Benzin mit freudigem Herzen ertragen. Schließlich werden sie damit, wie sie hoffen, ein Schienennetz finanzieren, das nicht nur die Großstädte in Deutschland und Europa verbindet, sondern auch den ländlichen Raum erschließt. Aber daß sich die Autofahrer damit abfinden, auch noch zum Hauptzahler im Bereich CO2-Energiesteuer zu werden, wage ich zu bezweifeln. In dem hier diskutierten Antrag der SPD wird Kritik daran geübt, daß die EG-Kommission eine Beschränkung des Einsatzes subventionierter heimischer Primärenergieträger auf 20 und später auf 15 % der Stromerzeugung vorsieht. Wir müssen darauf achten, daß hier nicht immer mehr Subventionsträger entstehen. Ich halte es für eine nationale Aufgabe von hohem Rang, daß wir zunächst alles tun, damit nicht die Braunkohle zu einem Subventionsempfänger werden muß. Deswegen dürfen wir unter keinen Umständen die Braunkohle besonders in Mitteldeutschland und in der Lausitz mit Auflagen und Abgaben belasten, die die Wirtschaftlichkeit verhindern. Ich sprach schon von dem noch leisen Chor der Rufer nach Importsteinkohle statt Braunkohle. Alle finanziellen Auflagen machen die Braunkohle zu teuer gegenüber der Importkohle. Kommt es zu Energiesteuern oder -abgaben in irgendeiner Form, dann stelle ich jetzt die Frage: Ist dann der Anlaß solcher Forderungen schon wieder eine Subvention, die dann schädlich ist? Sicher ist, daß der Europäische Binnenmarkt für Energie uns zu einer Neuorientierung unserer Energiepolitik zwingt. Wir diskutieren den Richtlinienvorschlag zum EG-Binnenmarkt für Strom und Gas. Ziel ist es, europaweit den Wettbewerb in der Strom- und Gasversorgung nachhaltig zu beleben. Grundsätzlich steht die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dem Anliegen nach mehr Wettbewerb aufgeschlossen gegenüber. Über die Abschaffung von Monopolen und von Ausschließlichkeitsrechten denken wir nach, obwohl es in Deutschland keine staatlichen Lizenzen und keine Staatsmonopole wie in anderen EG-Ländern gibt. Unser nationaler OrdHeinrich Seesing nungsrahmen verfügt auf dem Energiesektor bereits heute über viele wettbewerbliche Elemente. Jedoch findet auch bei uns die Versorgung von geschlossenen Gebieten statt, die durch ein Geflecht von Demarkations- und Konzessionsverträgen rechtlich abgesichert sind. Das Bundeskartellamt hat sein Vorgehen gegen Konzessionsverträge verstärkt, durch die sich die Kommunen langfristig an Versorgungsunternehmen binden. Zur Zeit läuft ein Musterverfahren gegen einen 1971 geschlossenen Vertrag zwischen der RWE-Energie AG und der Stadt Kleve in meinem Wahlkreis. Das Kartellamt beruft sich auf Art. 85 des EWG-Vertrags. Danach soll die Ausschließlichkeitsbindung der Stadt an das RWE aus dem Vertragstext gestrichen werden; sonst droht eine Untersagung. In Kleve wie in vielen anderen Orten darf nur das RWE die öffentlichen Wege nutzen. Andere Anbieter dürfen weder das bestehende Netz in Anspruch nehmen noch ein Parallelnetz errichten. Ich gehe davon aus, daß es in Zukunft diese Ausschließlichkeitsbindung nicht mehr geben wird, zumindest nicht, wenn sie für lange Zeiträume festgelegt wird. Der Stadt Kleve wird die Möglichkeit eröffnet, eine eigene Stromversorgung aufzubauen oder Strom aus den Niederlanden ins Netz zu holen oder beides zu tun. Es stellt sich die Frage, wie sich die stromverbrauchende Wirtschaft auf diese Gegebenheiten einstellt; denn es wird ja nicht beim Fall Kleve bleiben. Man mag die Entscheidung durch Gerichtsverfahren hinauszögern können; am Ende wird sich der EWG- Vertrag durchsetzen. Ausschließlichkeitsbindungen wird es dann generell nicht mehr geben. Die Energiewirtschaft wird gut daran tun, sich darauf einzustellen. Das bedeutet aber noch lange nicht, daß man mit der großen Regelungsdichte und dem bürokratischen Aufwand der EG-Richtlinien zufrieden sein darf. Wir stimmen dem auf jeden Fall nicht zu. Der vorgesehene Netzzugang Dritter und die Entflechtung integrierter Versorgungsunternehmen greifen besonders stark in bestehende Strukturen ein. Hier liegen Risiken, die gegen die Chance abgewogen werden müssen, durch Wettbewerb um Stromabnehmer Druck auf Kosten und Preise auszuüben. Wir haben hier einen kartellrechtlichen Ansatz der Durchleitungen im Einzelfall ermöglicht. Vielleicht ist das kein schlechter Ansatz für gesamteuropäische Lösungen. Wir werden die Probleme zu beraten und zu lösen haben. Dabei sollten wir versuchen, möglichst auf einem gemeinsamen Weg zu gehen. Energieversorgung erfordert hohe Investitionen. Diese brauchen lange Zeiträume, damit sie wirtschaftlich sind. Deswegen brauchen wir eine weit in die Zukunft blickende Energiepolitik. Es ist nur im Interesse der Menschen in unserem Lande, wenn wir da das sechste K, nämlich den Konsens, anstreben. Ich danke Ihnen. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Der nächste Redner ist der Abgeordnete Klaus Beckmann.

Klaus Beckmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte den Beitrag der F.D.P.-Fraktion in der heutigen energiepolitischen Debatte mit einem dringenden Appell meiner Fraktion an die Beteiligten am Streit über die Stromversorgung in den neuen Bundesländern beginnen. Er richtet sich in erster Linie an eine Handvoll ostdeutscher Kommunen und den Städte- und Gemeindebund. Nehmen Sie den vom Bundesverfassungsgericht ausgearbeiteten Kompromiß nun an, und helfen Sie, diese unselige Diskussion zu beenden! Die Tatsache, verehrte Kolleginnen, liebe Kollegen, daß bereits 135 der ehemals 164 klagenden Gemeinden ihre Zustimmung erklärt haben, stärkt meine Fraktion in der Überzeugung, daß es sich bei dem vorgelegten Vermittlungsvorschlag um eine ausgewogene, sachgerechte und wirtschaftlich sinnvolle Lösung handelt. Ich möchte an dieser Stelle dem Bundesverfassungsgericht namens meiner Fraktion für seine Bemühungen ausdrücklich danken. Die derzeitige Situation, die durch Ungewißheit und Zögern gekennzeichnet wird, ist in vielerlei Hinsicht schädlich. Fast beängstigend nimmt sich jedoch die Höhe des durch die Unklarheit bedingten Investitionsstaus aus. Die dringend notwendigen Investitionen haben ein Volumen von mehreren Milliarden DM erreicht. Dies gefährdet eine Unzahl von Arbeitsplätzen in Ostdeutschland, insbesondere bei der ostdeutschen Braunkohle, letztlich aber auch die Sicherheit der Energieversorgung. Auch gesamtwirtschaftlich trägt der schwelende Konflikt nicht zu einer Verbesserung des Klimas bei. Er ist vielleicht auch symptomatisch für ein falsches Denken, das den Aufschwung in Ost und West behindert. Investitionen, die dringend erforderlich wären, um der Konjunktur wieder den nötigen Schwung zu verleihen, werden vielfach behindert, wenn Interessen unterschiedlichster Art jede Chance suchen und wahrnehmen, um mit einem Aufschrei und dem Ruf nach Gerichten Planungsvorhaben zu verhindern, die die Größe einer Trinkhalle übersteigen. Liebgewonnene Besitzstände werden grundsätzlich nicht zur Disposition gestellt, wenn es gilt, die gesamte Wirtschaft zu fördern. Es ist aber nach meiner Auffassung angesichts der konjunkturellen Lage im ganzen Land nun ein neues Denken gefordert, das alle am Wirtschaftsprozeß Beteiligten gemeinsam neue Initiativen ergreifen und nicht zerreden läßt. Wenn sich nämlich die Einsicht durchsetzt, daß Projekte regelmäßig zum Scheitern verurteilt sind, weil die notwendige Unterstützung durch andere gesellschaftliche Gruppen aus Prinzip verweigert wird, dann führt diese Einsicht zu einer Isolation der Wirtschaftssubjekte. Eine Gefahr, die bei der derzeitigen Lage nicht als gering eingeschätzt werden darf, wäre dann möglicherweise bald Realität, nämlich die Gefahr, daß unser Bruttosozialprodukt wieder zu steigen beginnt, die Zahl der Arbeitsplätze aber stagniert. Eine solche Entwicklung, die Abkopplung des Wirtschaftswachstums vom Beschäftigungsniveau, kann ernsthaft wohl niemand wollen. Auch aus diesem Grund ist eine Einigung im ostdeutschen Stromstreit ein notwendi12426 ges Zeichen für ein besseres Investitionsklima, das Deutschland dringend nötig hat. ({0}) Andererseits besteht die nicht unberechtigte Hoffnung, daß sich bald auch die bislang noch nicht kompromißbereiten Kommunen der richtigen Einsicht der Mehrheit anschließen werden. Wahrscheinlich ist die Analyse des Vertreters der klagenden Kommunen in diesem Verfahren richtig, daß die verbliebenen Vorbehalte auf Informationslücken beruhen, die ausgeräumt werden können. Dies zu erreichen fühlt sich auch die Bundesregierung verpflichtet, deren entschiedenes Eintreten für den Kompromiß von meiner Fraktion unterstützt wird. Insofern ist dem Antrag der SPD inzwischen bereits Rechnung getragen. ({1}) Die Bundesregierung ist zwar nicht der Adressat des Vorschlags des Bundesverfassungsgerichts, Herr Kollege Jung, dennoch, denke ich, ist ihr Engagement in dieser Angelegenheit zu begrüßen. Meine verehrten Kolleginnen, liebe Kollegen, lassen Sie mich einige Ausführungen zu den Vorschlägen für eine Elektrizitäts- und Erdgas-Binnenmarktrichtlinie der EG-Kommission machen. Um es vorwegzunehmen: Meine Fraktion teilt nicht die Auffassung der SPD, der Richtlinienentwurf sei grundsätzlich abzulehnen. Das Ziel, den Binnenmarkt auch im Energiebereich zu verwirklichen, Wettbewerb zuzulassen und tatsächlich zu ermöglichen, muß im Gegenteil begrüßt werden. Wettbewerb führt auch im Energiesektor zu Effizienzsteigerung, die mit einer rationelleren Nutzung der Ressourcen einhergeht. Am Ende steht auch eine ökologisch sinnvolle bessere Versorgung der Verbraucher. Ein dem Wettbewerb verpflichteter dynamischer Markt bietet Spielraum für einen dynamischen Umweltschutz und ein an den Bedürfnissen des Verbrauchers angepaßtes Angebot. Die von der EG-Kommission angestrebte Öffnung der Märkte ist also kein Selbstzweck, sondern sinnvolle Energiepolitik. Über den Weg dorthin muß allerdings verhandelt werden. Dafür enthält der Richtlinienentwurf einige richtige Ansätze, allerdings auch einige in der Tat kritikwürdige Punkte. Als begrüßenswert ist die vorgeschlagene CO2-Energiesteuer zu bezeichnen, da sie die Internalisierung externer Kosten mit sich bringt und Anreize zum Energieeinsparen schafft. Ein wettbewerbsorientiertes Umfeld hebt diese Effekte nicht, wie dies von der SPD immer behauptet wird, auf, sondern es sorgt seinerseits für eine Effizienzsteigerung auf der Erzeugerseite. Durch diese beiden Elemente ist dem Richtlinienentwurf aktiver Umweltschutz immanent. Insoweit findet der Entwurf auch unsere Unterstützung. Ich will aber betonen: Eine Einführung in der Bundesrepublik Deutschland kann nach unserem Verständnis nur gleichzeitig mit den Partnern in der Europäischen Gemeinschaft erfolgen, besser noch, wenn sich die OECD-Staaten denselben Rahmenrichtlinien unterwerfen würden. Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft darf durch die Einführung einer CO2-Energiesteuer nur im nationalen Rahmen nicht gefährdet werden. Als problematisch sind auch die Auswirkungen auf die heimische Steinkohle zu bewerten. Die F.D.P. fühlt sich den Ergebnissen der Kohlerunde vom November 1991 verpflichtet und unterstützt die Bundesregierung in ihren Bemühungen, diese in Brüssel durchzusetzen. Dazu, Herr Staatssekretär Dr. Kolb, sage ich Ihnen namens meiner Fraktion ein kräftiges Glückauf. Auch langfristig wird die Sicherung eines Sockelanteils heimischer Kohle unser Ziel sein. Doch wenn es die SPD als umweltpolitisch dringend erforderlich erachtet, den Einsatz von Kraft-WärmeKopplungs-Anlagen auf Kohlebasis zu fördern, wobei ihr zuzustimmen ist, muß dies nicht ausschließlich auf der Basis heimischer Steinkohle geschehen, denn auf lange Sicht ist nicht nationale, sondern europäische Versorgungssicherheit der richtige Maßstab, dem durch ein europäisches Energiekonzept mit Beteiligung europäischer Steinkohle Rechnung getragen werden muß. Über den Anteil der deutschen Steinkohle hierbei können wir dann reden. Einen wichtigen Beitrag hierzu kann vielleicht die energiepolitische Konsenskommission leisten, die ihre Arbeit nun bald aufnehmen wird. Ich denke aber, man sollte auch hier die Erwartungen an sie nicht zu hoch schrauben und keine Wunder erwarten; andererseits sollte ihr auch der notwendige Spielraum gelassen werden, um zu ordentlichen Ergebnissen zu kommen. So wird zwangsläufig die Nutzung der Kernenergie zumindest in der mittelfristigen Perspektive eine wichtige Rolle spielen, wenn es gilt, ökologisch verantwortbare Konzepte und den optimalen Energiemix zu finden. Ein weiterer wesentlicher Bestandteil der jetzt vorliegenden Vorschläge aus Brüssel ist, wie wir wissen und wie auch schon erwähnt wurde, die Abschaffung nationaler Monopole. Dadurch ist Deutschland zwar nicht direkt betroffen, Auswirkungen sind aber hinsichtlich der Stellung der Kommunen zu erwarten, wenn die Abschaffung der ausschließlichen Wegebenutzungsverträge durchgesetzt würde und regionale Monopole dem Wettbewerb ausgesetzt wären. Das letzte kann aus den genannten Gründen in einigen Regionen vielleicht heilsam sein; andererseits werden sich leistungsfähige kommunale Energieunternehmen ohne Zweifel im Markt behaupten können. Bereits getätigte Investitionen müssen allerdings durch Übergangsregelungen geschützt werden. Ein weiterer positiver Effekt könnte aber auch darin gesehen werden, daß die Kommunen nicht länger - wie es häufig im Gassektor zu beobachten ist - durch Querverbände im Energie- und im defizitären Verkehrssektor den Endabnehmer mit verkehrsfremden Kosten durch überhöhte Gebühren befrachten können. Dies wäre auch ein Beitrag, dem von der SPD so sehr gelobten und in der Tat richtigen Verursacherprinzip Rechnung zu tragen. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Gestatten Sie, Herr Beckmann?

Klaus Beckmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte sehr.

Dr. Fritz Gautier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000641, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Beckmann, stimmen Sie mir darin zu, daß die Situation im Querverbund von Energiesektor und Verkehrssektor eine rein steuerliche Angelegenheit ist und daß die Frage der Preiskalkulation für Strom oder auch für Gas der behördlichen Aufsicht unterliegt und nur die Kosten einzurechnen sind, die zur Energieversorgung gehören, folgerichtig ein nicht mehr vorhandener Schaffner einer U-Bahn nicht in den Strompreis eingerechnet werden darf?

Klaus Beckmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrter Herr Kollege Dr. Gautier, aus meiner eigenen kommunalpolitischen Erfahrung weiß ich allerdings, daß die Möglichkeit, im Querverbund Kosten unterzubringen, die nichts mit dem Energiesektor an sich zu tun haben, nicht unbedingt dazu führt, daß es zu Maßnahmen der Rationalisierung in anderen Bereichen kommt, so daß der heilsame Druck, der normalerweise von einer wirtschaftlich verantwortlichen Handlungsweise ausgehen sollte, in diesen Bereichen oft fehlt. Dies noch einmal darzustellen und dem vorzubeugen war auch der Sinn meiner Ausführungen.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Klaus Beckmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte.

Dr. Fritz Gautier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000641, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Stimmen Sie mir darin zu, daß es in Ihrer kommunalen Praxis in Essen so ist, daß die Stadtwerke Essen keine Stromversorgung machen, sondern daß sie das RWE durchführt?

Klaus Beckmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrter Herr Kollege, der Hinweis auf meine kommunale Praxis bezog sich nicht so sehr auf meine Tätigkeit als Fraktionsvorsitzender im Rat der Stadt Essen in den 70er Jahren, sondern mehr auf meine Mitgliedschaft im Vorstand des Städtetags von Nordrhein-Westfalen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die darüber hinaus geplante Durchleitungspflicht zunächst nur zugunsten von Großabnehmern birgt in der' Tat die Gefahr in sich, daß Wettbewerbsverzerrungen zu befürchten sind. Es wäre möglicherweise besser, das Ziel der Überwachung des natürlichen Leitungsmonopols durch im Einzelfall anzuwendende kartellrechtliche Maßnahmen zu erreichen. Angesichts des großen Widerstands in fast allen Mitgliedstaaten ist das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen. Wir unterstützen die Bundesregierung in ihrem Bemühen, eine auch den nationalen Anforderungen gerecht werdende Lösung zu finden. Auch die mit der Durchleitungspflicht einhergehende Trennung von Erzeugungsträgern und Versorgungsträgern sollte Gegenstand weiterer Verhandlungen sein. Wir hoffen, daß das Ergebnis dieser Verhandlungen ein dem Wettbewerb verpflichtetes, ökologisch verantwortbaren sowie wirtschaftlich und energiepolitisch sinnvolles Konzept sein wird. Der vorliegende Richtlinienentwurf kann dabei die Grundlage von Verhandlungen bilden. Daher können wir die Ablehnung des Entwurfs in der von der SPD geforderten Weise nicht befürworten. Den entsprechenden neuen Vorschlägen der EG- Kommission sehen wir allerdings mit großem Interesse entgegen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort erhält der Abgeordnete Bernd Henn.

Bernd Henn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000868, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Für die EG- Kommission ist nur der Preis, nicht aber die Art und Weise, wie Energie erzeugt und gefördert wird, von Bedeutung. Dies hat zwangsläufig eine Energieverschwendung und erhebliche Umweltbelastungen zur Folge. Ein freier Markt im Energiebereich, wie er von der EG-Kommission beschworen wird, existiert allerdings nicht und ist wegen der Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit und der hohen Investitionskosten im Energiesektor kaum zu verwirklichen. Durch die Herstellung des EG-Binnenmarkts für Energie kann es mittelfristig durchaus zu einigen Änderungen in der Landschaft der bundesdeutschen Energiewirtschaft kommen. Dies betrifft weniger den Stromimport aus Frankreich, der ja heute schon möglich ist. Viel entscheidender ist die durch den EG-Binnenmarkt mögliche Gründung von Gemeinschaftsgesellschaften und die Tätigung von Gemeinschaftsinvestitionen im Energiebereich. Der von der EG-Kommission befürwortete Drittzugang für Leitungsnetze durch Einspeiser wie Abnehmer liest sich auf dem Papier ganz gut. In Großbritannien existiert so etwas ja schon. Die Folge ist jedoch, daß sich nur noch kurzfristig amortisierende Investitionen rechnen - mit verheerenden Langzeitfolgen für die Versorgungssicherheit und die Umwelt. Die herrschende EG-Energiepolitik ist von Energieverschwendung in allen Sektoren und von der Förderung von Großstrukturen und Großtechnologie - Stichwort: Euratom - gekennzeichnet. Eine weitere Konzentration der Energiewirtschaft in Europa ist dadurch möglich. Das steht der Schaffung einer umweltfreundlichen, sozialverträglichen und ressourcenschonenden Energieversorgung in regionalen und kommunalen Strukturen entgegen. Damit sind wir beim Thema Rekommunalisierung. Die leitungsgebundene Energieversorgung gehört in die Hand der Kommunen - im Osten wie im Westen. Die Durchdringung fast sämtlicher Arbeits-, Lebens- und Umweltbereiche durch das Energiesystem tritt zunehmend in Widerspruch zu dem bei den Energiekonzernen herrschenden, gesellschaftlicher Kontrolle weitgehend entzogenen betriebswirtschaftlichen Rentabilitätskalkül. Auf den berechtigten Unmut und Widerstand vieler Bürgerinnen und Bürger, z. B. gegen die Umweltzerstörung und die Tarifpolitik der öffentlichen Energiewirtschaft, wird mit Reformkonzepten unter den Schlagworten „Mehr Wettbewerb" und „Mehr Markt" auch gegen die Betätigung der öffentlichen Hände in der Energieversorgung argumentiert. Auch das vom ehemaligen Wirtschaftsminister Möllemann vorgelegte Konzept „Energiepolitik für das vereinte Deutschland" hält eine grundlegende Neuausrichtung des geltenden Ordnungsrahmens nicht für notwendig. Eine Novellierung des Energierechts kann sich die Bundesregierung offensichtlich nur in Richtung Deregulierung vorstellen, entgegen der bekannten Tatsache, daß für leitungsgebundene Energieträger durch die hohen Investitionskosten in diesem Bereich ein Wettbewerb praktisch nicht existiert und auch nur auf Kosten der Versorgungssicherheit zu realisieren ist. Solche Reformen würden aber den Rest demokratischer Kontrolle und vor allem das rasch wachsende energiepolitische Selbst- und Verantwortungsbewußtsein der Kommunen auslöschen. Nicht die öffentliche Energieversorgung gilt es zu privatisieren; die seit Jahrzehnten erzwungene faktische Privatisierung der Geschäftspolitik nur noch formal öffentlicher Unternehmen muß rückgängig gemacht werden. Wegen der inakzeptablen gesellschaftlichen Folgen verschwenderischen Energieverbrauchs muß das Geschäft mit der Ware Energie prinzipiell in Frage gestellt werden. Energieversorgung ist als gemeinschaftlich zu organisierende Daseinsvorsorge anzusehen. Dies gilt heute auch für kommunale Unternehmen, die dieses Geschäft als öffentlichen Zweck betreiben. Energie- und Umsatzexpansion auf Grund des Erwerbsprinzips, z. B. auch zum fiskalischen Zweck der Gewinn- und Konzessionsabgabenmaximierung für die Kommunalhaushalte, ist heute ökologisch und sozial weder vertretbar noch zur Substanzerhaltung und -stärkung kommunaler EnergieDienstleistungsunternehmen notwendig. Die PDS/Linke Liste fordert daher die Rekommunalisierung und Demokratisierung der Energiewirtschaft sowie die Novellierung des Energierechts im genannten Sinn. Dies ist für uns die Grundvoraussetzung für ein energiewirtschaftliches Gesamtkonzept für die Bundesrepublik Deutschland. Den Antrag der SPD zur Übertragung der örtlichen Energieversorgungsunternehmen an die ostdeutschen Kommunen halten wir für einen nicht gerechtfertigten Kompromiß. Gleiches gilt für den Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts. Es mutet merkwürdig an, daß ein Gericht unrechtmäßig durch die Stromkonzerne erworbenes Eigentum nicht eindeutig an die natürlichen und durch das Kommunalvermögensgesetz der DDR definierten Eigentümer, die Kommunen in Ostdeutschland, zurückgeben will. Was bedeutet denn der Verzicht auf Beteiligung der Kommunen an regionalen Energieversorgungsunternehmen? Bei leitungsgebundenen Energieträgern können die Vorlieferanten die Preise und damit auch die Strukturen der nachgeordneten Abnehmer erheblich beeinflussen. Das sinnvolle Konzept kommunaler Energie-Dienstleistungsunternehmen würde hierdurch auf kaltem Wege verhindert. Vorlieferanten, eben die Strom- und Gasmonopole wie RWE, PreussenElektra, Bayernwerk, BASF-Wintershall und Ruhrgas sowie ihre Beteiligungsfirmen sind an hohem Energieabsatz interessiert, weil nur dann die Dividende stimmt. Kommunale Energie-Dienstleistungsunternehmen, die mehr sind als die Inkassoorganisationen für ihre Vorlieferanten, müssen an den Kriterien einer umweltfreundlichen, sozialverträglichen und ressourcenschonenden Energieversorgung orientiert sein. Deren Interessen sind mit den Interessen der Energiemonopole unvereinbar. Der Kollege Hermann Scheer, der den SPD-Antrag mit unterzeichnet hat, sollte es eigentlich wissen: Ein auf maximalem Stromabsatz mit Großkraftwerken, insbesondere Atomkraftwerken, basierendes Energiesystem ist bestrebt, alternative Stromerzeugungstechniken wie industrielle und kommunale Heizkraftwerke, Wind-, Wasser- und Solarenergie mit allen Mitteln zu blockieren. So leid es mir tut: Als Gewerkschaftler muß ich sagen, daß sich auch die Position der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie, deren Vertreter im Aufsichtsrat z. B. bei VEBA, RWE und Ruhrkohle AG sitzen, unseres Erachtens nicht an einer umweltfreundlichen, sozialverträglichen und ressourcenschonenden Energieversorgung orientiert. Die offizielle Energiepolitik der IGBE unterscheidet sich praktisch nicht von der der Energiekonzerne und der Bundesregierung, wie auch Kritiker aus den Reihen der SPD bemerken. Andererseits erhofft sich die SPD durch die Annahme des Vergleichsvorschlages die Schaffung, wie es in Abs. 3 des Antrages heißt, „einer dem Westen Deutschlands vergleichbaren wettbewerbsverträglichen Versorgungsstruktur". Wo ist denn der Wettbewerb angesichts von Importmonopolen, Leitungsmonopolen, Gebietsmonopolen und Preisabsprachen? Und was ist das im Westen für eine Versorgungsstruktur, die es nach diesem Antrag anzustreben gilt? Da war die SPD in ihrem Gesetzentwurf für ein Energiegesetz schon weiter. Dort fordert sie nicht nur die Ablösung des Energiewirtschaftsgesetzes aus dem Jahre 1935, sondern auch ein neues Energiegesetz, das einen Ordnungsrahmen setzt, der eine sparsame und umweltverträgliche Energiedienstleistungsstruktur mit den Kommunen als Träger der Energieversorgung schafft. Wer dies ernst nimmt, darf den notwendigen Einfluß der Kommunen als Träger der gemeinschaftlichen Daseinsvorsorge nicht beschneiden und ihnen nicht die überregionalen Instrumente und Strukturen aus der Hand nehmen, ohne die sie ihre Aufgaben nicht wahrnehmen können. Dies gilt im Osten Deutschlands und gilt auch im Westen. Wir haben dies in unserem Antrag „Rekommunalisierung und Demokratisierung der Energiewirtschaft sowie Novellierung des Energierechts als Grundvoraussetzung für ein energiewirtschaftliches Gesamtkonzept für die Bundesrepublik Deutschland" ausführlich dargestellt. Die PDS/Linke Liste fordert eine Annullierung der Stromverträge durch das Bundesverfassungsgericht. Die klagenden Kommunen fordern wir auf, nicht auf halbem Wege stehenzubleiben, sondern die ihnen aus dem Kommunalvermögensgesetz der DDR vom 6. Juli 1990 zustehenden Rechte einzufordern. Dies schließt die Übernahme der ihnen zustehenden Anteile an den regionalen Energieversorgern ein. Erfreulicherweise wollen ja einige KomBernd Henn muhen jetzt doch weiter klagen, und wir begrüßen dies ausdrücklich. Einem Antrag, der die Interessen der Energiekonzerne mehr berücksichtigt als die der Kommunen, können wir leider nicht zustimmen. Schönen Dank.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Bartsch.

Holger Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000100, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten hier im Rahmen dieser Debatte u. a. die Beschlußempfehlung des Wirtschaftsausschusses zum Antrag meiner Fraktion „Übertragung der örtlichen Energieversorgungseinrichtungen an die ostdeutschen Kommunen", in dem wir die Bundesregierung auffordern, dem Vergleichsvorschlag des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Oktober 1992 bezüglich der Kommunalverfassungsbeschwerde gegen Bestimmungen des Einigungsvertrages, also gegen die sogenannten Stromverträge, zuzustimmen. In der Begründung der ablehnenden Haltung des Wirtschaftsausschusses zu unserem Antrag wird u. a. ausgeführt, daß die Bundesregierung hier gar nicht gefordert sei, da sich an sie der Vergleichsvorschlag nicht richte, und daß sie die optimistisch zu erwartende Verständigung - so der Berichterstatter, unser Kollege Seesing - entsprechend den Wünschen der SPD aktiv gefördert habe. Unser Kollege Seesing zieht daraus den Schluß, daß der politische Grund für diesen Antrag entfallen sei. Einmal abgesehen von der Tatsache, daß wir heute, fast zwei Monate nach diesem Beschluß des Wirtschaftsausschusses, noch immer keine endgültige Entscheidung haben, da einige der beteiligten Kommunen ihre Verfassungsbeschwerde bisher noch nicht zurückgezogen haben, muß ich Ihnen, verehrter Kollege Seesing, sagen: Hätten Sie formuliert „kein rechtlicher Grund" oder „kein faktischer Grund", so hätte man ja darüber reden können, aber ein politischer Grund ist für unseren Antrag allemal noch da. Er ist da, meine verehrten Damen und Herren, weil die Bundesregierung in dieser Sache meiner Ansicht nach sehr wohl beteiligt ist. Sie ist es erstens, weil sie dazu beigetragen hat, daß die Gemeinden durch die verfehlten Stromverträge von der eigenständigen Energieversorgung ausgeschlossen werden sollten. Die Bundesregierung hat also den Grund für diesen Verfassungsstreit mit gesetzt. Sie ist es zweitens direkt; denn in der vom Bundesverfassungsgericht vorgeschlagenen Vereinbarung erscheinen als in die Abstimmung einzubeziehende Verfahrensbeteiligte die Bundesministerien für Wirtschaft und für Finanzen, und die sind ja wohl Teil der Bundesregierung. Die zwischen der Regierung de Maiziére und den großen EVU abgeschlossenen Stromverträge waren ein Fehler. Das ist mittlerweile wohl unbestritten. Das Weiterbestehen dieses Fehlers ist im Einigungsvertrag von der Bundesregierung gegen den energischen Widerstand der SPD-Fraktion ausdrücklich bestätigt worden, obwohl sogar der damalige Innenminister, Ihr heutiger Fraktionsvorsitzender, Herr Schäuble, dabei Bedenken hatte. Da damit das kommunale Recht auf Eigenbeteiligung an der Energieversorgung faktisch ausgehebelt wurde, weil den Kommunen ihre Restitutionsansprüche beschnitten wurden, war die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht für die Kommunen die einzige Möglichkeit, ihr Recht zu wahren. In der Folgezeit haben die regionalen EVU im Osten, die sich ja per Stromvertrag sämtlich in der Geschäftsbesorgung der großen westdeutschen EVU befinden, alle Bemühungen der Kommunen, die Daseinsvorsorge auch auf dem Gebiet der Energieversorgung eigenverantwortlich wahrnehmen zu wollen, massiv hintertrieben. Die Bundesregierung, meine Damen und Herren von der Koalition, hat sich dabei nicht auf die Seite der Kommunen gestellt, sondern hat die westdeutschen EVU unterstützt und die Forderungen der Kommunen eher kritisch begleitet. Um so mehr begrüßt es meine Fraktion, daß sich die Bundesregierung nach dem das Selbstverwaltungsrecht endlich wiederherstellenden Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts nun dazu bequemt hat, die EVU zur Annahme dieses Vorschlags zu bewegen. Daß sich einige ostdeutsche Kommunen sehr lange gesperrt haben bzw. immer noch sperren, diesem Vergleichsvorschlag zuzustimmen, kann uns nicht verwundern. Sie sind mißtrauisch und befürchten, erneut über den Tisch gezogen zu werden, weil ja beim Abschluß der Stromverträge und beim Einigungsvertrag ihre Interessen nicht berücksichtigt wurden. Trotzdem hat sich meine Fraktion sehr vehement dafür eingesetzt, daß alle klageführenden Kommunen den Vergleichsvorschlag akzeptieren, weil wir glauben, daß dieser Vorschlag einen tragbaren Kompromiß darstellt, einen Kompromiß nämlich, der einerseits den Kommunen die Bildung von leistungsfähigen Stadtwerken - und die Betonung liegt hier auf „leistungsfähig" - ermöglicht und andererseits der ostdeutschen Braunkohle einen aus ökologischer, ökonomischer, energie- und strukturpolitischer Sicht sinnvollen und notwendigen Anteil an der gesamtdeutschen Energieversorgung sichert. Gerade aus dieser Sicht möchte ich als Lausitzer Abgeordneter auch an dieser Stelle noch einmal mit Nachdruck an die betreffenden Kommunen appellieren, dem Vergleichsvorschlag zuzustimmen, weil ich glaube, daß wir uns weitere Unsicherheit nicht leisten können. ({0}) Ein Hauptargument der Verteidiger der Stromverträge war und ist die Sicherung der Braunkohleverstromung in Ostdeutschland. Einer der Hauptverhandlungsführer auf seiten der letzten DDR-Regierung, der Herr Staatssekretär a. D. Dr. Pautz ({1}), hat mir dies kürzlich erst selbst wieder bestätigt. Nun bin ich - das hat sich vielleicht schon herumgesprochen - durchaus ein Befürworter eines angemessenen Anteils ostdeutscher Braunkohle am gesamtdeutschen Energieaufkommen und damit natürlich von Beginn an auch für eine möglichst schnelle Beendigung dieses investitionshemmenden Zustandes. Doch man darf hier nicht Ursache und Wirkung verwechseln. Ursache waren die Stromverträge, die den ostdeutschen Kommunen kommunale Rechte verweigerten, die westdeutsche Kommunen seit langem besitzen. Und die Wirkung dieser Ursache waren eben jene Verfassungsbeschwerden mit all ihren Auswirkungen auf das Investitionsgeschehen. Und ich glaube schon, daß die Bundesregierung hier ein Stück politischer Verantwortung hat. Sie hätte sehr wohl über Mittel und Wege verfügt, um diesen Zustand, wenn schon nicht zu verhindern, so doch zügig zu beenden. Eine letzte Bemerkung zum Thema Braunkohle, weil das von allen Beteiligten im Zusammenhang mit dem Stromvertrag und der Stadtwerkebildung immer wieder angeführt wird und weil es mir natürlich auch am Herzen liegt. Wenn man, wie ich vorhin gefordert habe, der ostdeutschen Braunkohle einen ökonomisch und ökologisch sinnvollen Anteil am Primärenergie-aufkommen sichern will, dann muß man z. B. auch dafür Sorge tragen, daß der Braunkohle nicht durch eine CO2-Abgabe erhebliche Belastungen auferlegt werden. Eine 50 %ige CO2-Komponente, wie sie der Richtlinienvorschlag der EG-Kommission für eine CO2-Energiesteuer vorsieht, würde den Braunkohlestrom zur Zeit mit 1,03 Pfennig/kWh zusätzlich belasten, und bis zum Jahr 2000 würde sich dieser Wert auf 3,44 Pfennig/kWh steigern. Zum Vergleich: Steinkohle würde mit 0,89 Pfennig/kWh, Erdgas mit 0,69 Pfennig/kWh und Kernenergie mit 0,42 Pfennig/ kWh zusätzlich belastet. Im Jahr 2000 würden die entsprechenden Werte lauten: Steinkohle 2,97 Pfennig/kWh, Erdgas 2,30 Pfennig/kWh und Kernenergie 1,40 Pfennig/kWh. Das heißt, der Braunkohlestrom hätte dann eine rd. 1,5fach höhere Belastung als Erdgas und rd. 2,5fach höhere Belastung als Atomstrom zu tragen. Damit wäre die Braunkohle im Jahre 2000 ökonomisch tot. Dies aber können wir uns schon aus ökologischen Gründen nicht leisten, meine Damen und Herren, weil dann die heute schon mit mehreren Milliarden angesetzte ökologische Sanierung der Reviere noch teurer würde. Ohne eine bestimmte Mindestmenge an Braunkohleförderung in der Lausitz ist, wie man jetzt gesichert weiß, z. B. die heutige Wasserführung der Spree nicht zu halten, und das geplante, wunderschöne neue Regierungsviertel am Spreebogen würde dann möglicherweise an einem mickrigen Rinnsal liegen. Ich freue mich deshalb, daß sich Kollege Seesing hier gegen die Belastung der Braunkohle mit einer CO2-Abgabe ausgesprochen hat. Ich kann nur hoffen, daß dies auch bei den nun anlaufenden Konsensgesprächen ein Konsenspunkt ist und bleibt. Recht schönen Dank. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Es spricht jetzt der Abgeordnete Ulrich Klinkert.

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich werde mich vor allem auf den Antrag der SPD „Übertragung der örtlichen Energieversorgungseinrichtungen an die ostdeutschen Kommunen" konzentrieren. Um es gleich vorwegzunehmen: Wir werden, wir können diesem Antrag nicht zustimmen. Das hat erstens juristische Gründe. Da existiert ein Rechtsstreit zwischen Parteien vor dem höchsten deutschen Gericht. In diesem schwebenden Verfahren hat dieses Gericht einen Vergleichsvorschlag unterbreitet. Da ist es nicht Aufgabe eines Parlaments oder einer Regierung, einem gerichtlichen Vergleichsvorschlag zuzustimmen oder nicht. Dies ist einzig und allein Aufgabe der streitenden Parteien. Ich hätte es verstanden, wenn Sie als SPD den klagenden Kommunen geraten hätten, die Klage erst gar nicht einzureichen, bzw. auf die Kommunen direkt zugegangen wären, um ihnen zu empfehlen, den Vergleichsvorschlag anzunehmen. - Ich komme später auf die wirtschaftlichen Auswirkungen zurück. - Doch die Meinung eines Dritten, in diesem Fall der Bundesregierung, ist hier juristisch nicht gefragt und überhaupt nicht zulässig. Ich frage mich, wenn ich die unterschiedlichen SPD-Papiere lese, was die SPD überhaupt will. Sie schreiben in Ihrem Antrag, daß Sie die Investitionsblockade zur Sanierung der ostdeutschen Energieversorgung beseitigen wollen. Andererseits lese ich in einer SPD-Presseerklärung vom 25. Februar dieses Jahres: ({0}) - Manchmal schon; manchmal ist es interessant. Die SPD-Bundestagsfraktion hat die Klagen der ostdeutschen Kommunen immer unterstützt. Aber, meine Damen und Herren, genau diese Klage ist im Moment die größte Investitionsblockade im Energiebereich der neuen Bundesländer. ({1}) Damit komme ich - zweitens - zu den wirtschaftlichen Gründen, den SPD-Antrag nicht zu unterstützen. Die Energieversorgung der neuen Bundesländer steht vor Investitionsentscheidungen, die die gesamte wirtschaftliche Situation in Ostdeutschland positiv beeinflussen könnten. Sie steht vor den größten privatwirtschaftlichen Investitionen im Osten, vor allem im Kraftwerksbereich, die insgesamt ein Investitionsvolumen von mehr als 40 Milliarden DM in einem Zeitraum von fünf bis zehn Jahren ausmachen könnten. Es gibt kein vergleichbares Investitionsprogramm auf einen so kurzen Zeitraum bezogen, weder in Ostnoch in Westdeutschland. Dies braucht natürlich eine hohe Sicherheit des Stromabsatzes über Jahrzehnte. Die Investoren brauchen nun einmal die Sicherheit, den in den Kraftwerken erzeugten Strom auch absetzen zu können. Dabei geht es insbesondere darum, dem einheimischen, subventionsfreien Energieträger Braunkohle seinen Verstromungsanteil zu sichern, und zwar nicht nur wegen der Abhängigkeit von ausländischen Primärenergieträgern, in die Deutschland sonst geraten könnte. Von Cottbus bis Zittau sind mehr als 100 000 Arbeitsplätze direkt oder indirekt von der Braunkohlenförderung und -verstromung abhängig. Ähnliche Größenordnungen gibt es in Mitteldeutschland. Es wundert mich, daß die SPD bei der Beurteilung gleicher Probleme in Ost und West unterschiedliche Maßstäbe anlegt. In ihrem heute auch zur Diskussion stehenden Papier „Ein gemeinsamer europäischer Binnenmarkt braucht eine ökologisch verantwortbare Energieversorgung" - Sie haben immer sehr prosaische Titel - schreiben Sie - wie ich meine, richtig -: Die Importabhängigkeit der Europäischen Gemeinschaft - bezogen auf Energieerzeugung liegt bei über 50 Prozent und macht die europäische Wirtschaft von Öl- und Gasimporten extrem abhängig. Bei schwindenden eigenen Energievorräten wird diese Abhängigkeit, insbesondere von der Golfregion und den GUS-Staaten, steigen - mit erheblichen Risiken für die weitere wirtschaftliche Entwicklung. Der Kollege Jung hat dies in seinen Ausführungen ebenfalls so dargelegt, geht dann aber genau den Weg weiter, der die Gefahr bestätigt und sie eigentlich noch verstärkt. Warum, so frage ich mich, sind Sie dann gegen den Stromvertrag, warum reden Sie den ostdeutschen Kommunen ein, das Glück jeder Kommune liege darin, in eigenen Stadtwerken selbst Strom zu erzeugen? Woraus soll denn in den Stadtwerken Strom erzeugt werden? Wenn Sie auch nur ein bißchen was von Energieerzeugung verstehen, werden Sie wissen, daß man in kleinen, dezentralen Kraftwerken preiswerten Strom nur aus 01 oder Gas erzeugen kann. ({2}) Das geht nun einmal zu Lasten des ausreichend vorhandenen einheimischen Energieträgers Braunkohle. Ich komme auf Ihr Zitat zurück: „ ... macht die europäische Wirtschaft von 01- und Gasimporten extrem abhängig ... mit erheblichen Risiken für die weitere wirtschaftliche Entwicklung." - Wie so oft gilt von dem, was Sie im Westen predigen, dann im Osten genau das Gegenteil. Bedenklich erscheint mir nur, daß sich auch einige ostdeutsche SPD-Politiker dazu hergeben, mit diesen Thesen zu leben. Herr Bartsch, Sie müssen wissen, wofür Sie sprechen: entweder für die Menschen in unserer gemeinsamen Heimat, für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze, oder für die sattsam bekannten SPD-Ideologien, die sich letztendlich auch in ganz erheblichem Maße auf die Energieerzeugung richten. ({3}) Um es ganz deutlich zu formulieren: Wir sind nicht gegen Stadtwerke, aber wir sind dagegen, daß der Begriff „Stadtwerke" dazu mißbraucht wird, im Osten Deutschlands die quasisozialistischen Experimente durchzuführen, an denen die SPD schon im Westen gescheitert ist. Wie ist die Situation der Energieerzeugung in den neuen Bundesländern? Die Braunkohle war vor der Wende mit einer Förderhöhe von mehr als 300 Millionen t in allen Bereichen der absolut wichtigste Primärenergieträger. Dies führte zu einseitigen Abhängigkeiten, ökologischen Verwerfungen und in einigen Bereichen auch zu einem ökonomisch völlig unsinnigen Einsatz von Braunkohle. Sinnvoll dagegen ist der Einsatz von Braunkohle in Großkraftwerken, weil dort ohne Subventionen aus einheimischen Rohstoffen - von einheimischen Arbeitnehmern gefördert - mittels deutscher Spitzentechnologien Energie erzeugt werden kann. Dieses Ziel, meine Damen und Herren von der SPD, stellen Sie in Frage, wenn Sie die ostdeutschen Kommunen in ihrer Klage gegen den Stromvertrag unterstützen. Sie können dies auch nicht mit dem Umweltschutz begründen; denn die neuen Kraftwerke, die gebaut werden, führen zu erheblichen Emissionsreduzierungen bei Staub, bei Stickoxiden, bei Schwefel. Was die CO2-Reduktion betrifft, so wird die Braunkohlenförderung in Ostdeutschland von ursprünglich mehr als 300 Millionen t auf ungefähr 100 Millionen t zurückgefahren werden. Dies ist mehr als eine Reduzierung um 25 %. Ich appelliere aber auch, wie meine Kollegen Vorredner, an die Handvoll Kommunen - egal, welcher Partei der jeweilige Bürgermeister angehört -, die sich bisher nicht entschließen konnten, den vom Bundesverfassungsgericht vorgeschlagenen Vergleich zu akzeptieren: Seien Sie sich bitte Ihrer Verantwortung bewußt und bedenken Sie die Folgen, die Ihre Entscheidung für andere Bereiche der neuen Bundesländer bringen wird! Blockieren Sie nicht weiter den wirtschaftlichen Aufschwung ganzer Regionen! Tausende von Arbeitsplätzen können durch den Bau von neuen Braunkohlekraftwerken geschaffen werden. Zeigen Sie Solidarität auch einmal innerhalb der fünf neuen Bundesländer. Diese Solidarität ist aber nicht nur von einigen kleinen Kommunen ist Ostdeutschland zu fordern. Ich erwarte sie in erster Linie von der Vier-MillionenStadt Berlin. Berlin wurde und wird in besonderer Weise unterstützt. Die Lausitz erwartet, daß Berlin seinen künftigen Strom nicht aus russischem Erdgas erzeugt oder aus Polen oder Skandinavien importiert, sondern aus den vor seinen Toren liegenden Braunkohlenkraftwerken der Lausitz. ({4}) Erste, hoffnungsvoll klingende Absichtserklärungen sollten in konkrete Verträge umgesetzt werden. Die Energieerzeuger haben sich dazu bekannt, die Dominanz der Braunkohlenverstromung in den neuen Bundesländern zu sichern. Sie wollen dies in Kraftwerken mit höchsten Wirkungsgraden und geringstmöglichen Emissionen tun. Dafür soll vor allem in den Kraftwerksneubau und in die Nachrüstung investiert werden. Der Bundeskanzler selbst legte den Grundstein für die Rauchgasentschwefelungsanlage im Kraftwerk Jänschwalde. Damit sind 3 000 Megawatt Kapazität gesichert. Weitere 1 000 Megawatt werden in Boxberg im Kreis Weißwasser nachgerüstet. Jetzt aber gibt es auch bei den Energieerzeugern ein Zögern und Zaudern, wie viele Kraftwerkskapazitäten als Ersatz für die alten, 1996 auslaufenden Dreckschleudern neu gebaut werden müssen. Vorausgesetzt, der Streit vor dem Bundesverfassungsgericht findet einen positiven Ausgang, so ist es nicht hinzunehmen, daß bereits zugesagte Investitionen um Jahre verschoben werden. Auch hier ist Solidarität gefragt. Der Kraftwerksneubau ist ein kaum zu überbietender Konjunkturmotor. Wir brauchen diese Konjunktur ganz besonders jetzt. Es ist auch schwer verständlich, daß Deutschland durch die Energieerzeugung immer noch als geteiltes Land angesehen wird. Warum, so frage ich mich, plant man an der Nordsee ein 3 000-Megawatt-Kraftwerk auf Basis von Importsteinkohle, während Tausende Arbeitnehmer in Ostdeutschland ihre Jobs verlieren? ({5}) Die wirkungsvollste Solidarität, die aus den alten für die neuen Bundesländer geleistet werden kann, ist der Bezug von Waren und Leistungen, und Strom gehört dazu. Die Bayern haben diesen Solidaritätswillen durch die Abnahme des Stromes eines neu zu bauenden Kraftwerkes im Leipziger Revier unter Beweis gestellt. Dies hilft mehr als die Zahlung von Hunderten Millionen DM Finanzausgleich. Meine Damen und Herren, bei den Gesprächen um den Energiekonsens sollten diese Aspekte mit einfließen. Wir können in Deutschland - Ost wie West - auf der Basis einheimischer Rohstoffe wettbewerbsfähig Strom erzeugen. Dies muß unter marktwirtschaftlichen Bedingungen passieren. Der Standort Deutschland steht oder fällt mit einer sicheren und preiswerten Energieversorgung. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Heinrich Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst auf den SPD-Antrag zum Binnenmarkt für Strom und Gas eingehen. Die weitere Entwicklung des europäischen Binnenmarktes wird von der Bundesregierung nachdrücklich unterstützt. Dies gilt auch für die leitungsgebundene Energieversorgung in der Gemeinschaft. Grundsätzlich begrüßt die Bundesregierung deshalb, daß die EG-Kommission Vorschläge für einen gemeinsamen Strom- und Gasmarkt vorgelegt hat, mit denen eine wesentliche Auflockerung dieser Märkte angestrebt wird. Die von der Deregulierungskommission entwikkelten Vorstellungen zielen übrigens in die gleiche Richtung. Nach Auffassung der Bundesregierung ist es auch richtig, in der leitungsgebundenen Energieversorgung möglichst viel Wettbewerb zu verwirklichen. Dies ist kein Selbstzweck, sondern dient der besseren Versorgung der Verbraucher. Richtig ist ferner, daß jede grundlegende Veränderung des Ordnungsrahmens das energiepolitische Ziel einer sicheren, preiswürdigen und umweltfreundlichen Energieversorgung nicht gefährden darf. In anderen Wirtschaftsbereichen haben wir insgesamt mit unserer Wettbewerbsordnung gute Erfahrungen gemacht - auch beim Umweltschutz. Monopolistische Strukturen führen beim Umweltschutz keineswegs zu besseren Ergebnissen. Das Gegenteil ist richtig. Das zeigen auch die Erfahrungen in Osteuropa. Mehr Wettbewerb könnte auch bei uns zu einer noch umweltverträglicheren Energieversorgung führen, etwa durch eine stärkere Gesamtoptimierung bei der Fahrweise der Kraftwerksanlagen. Die von der EG-Kommission vorgeschlagene Energie-CO2-Steuer führt auch zu einer verstärkten Einbeziehung externer Kosten in die Energiepreise. Einen Widerspruch zwischen den beiden Kommissionsvorschlägen, von dem in dem SPD-Antrag die Rede ist, sehe ich nicht. Im Gegenteil: Eine effizientere Energieversorgung schafft den ökonomischen Spielraum für eine umweltfreundliche Energieproduktion. Die Energieminister haben die Binnenmarktvorschläge der EG-Kommission in Brüssel mehrheitlich kritisch diskutiert. Mehr Wettbewerb darf aus unserer Sicht nicht zu einem Übermaß an Regulierung führen. Dies gilt insbesondere für das vorgeschlagene generelle Netzzugangsrecht Dritter. In der letzten Ministerratssitzung wurde die EG-Kommission aufgefordert, ihre Vorschläge unter Berücksichtigung der Beratungen im Rat und der noch ausstehenden Stellungnahme des Europäischen Parlaments zu überprüfen. Nun zur Verständigungsempfehlung des Bundesverfassungsgerichts zur ostdeutschen Stromversorgung: Die Bundesregierung hat sich von Anfang an dafür ausgesprochen, den Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts aufzugreifen und den Streit um die Struktur der Stromversorgung in den neuen Bundesländern und die Rolle der Kommunen durch eine außergerichtliche Einigung zu beenden. Sie hat sich deshalb besonders intensiv um das Zustandekommen einer solchen Verständigungslösung bemüht. Am 21. Dezember letzten Jahres ist es den Beteiligten nach intensiven und langen Beratungen gelungen, Einvernehmen über eine außergerichtliche Einigung auf der Basis des Vorschlags des Bundesverfassungsgerichts herbeizuführen. Die Vereinbarung sieht vor, daß diejenigen Städte und Gemeinden in den neuen Bundesländern, denen die Energieaufsicht des jeweiligen Landes die Aufnahme der Stromversorgung genehmigt, die örtlichen Versorgungsanlagen erhalten sollen. Dafür verzichten diese Kommunen auf ihren Kapitalbeteiligungsanspruch am Regionalversorger, der ihnen nach dem Kommunalvermögensgesetz zusteht. Damit werden die Voraussetzungen verbessert, um auch in den neuen Bundesländern leistungsstarke und wettbewerbsfähige Stadtwerke zu schaffen. Die Vereinbarung berücksichtigt aber auch die gesamtwirtschaftlichen Notwendigkeiten. Dazu gehört insbesondere die Sicherung der ostdeutschen Braunkohle, für die sich auch der Bundeskanzler stets persönlich mit Nachdruck eingesetzt hat, sowie die planmäßige Abwicklung der umfassenden Investitionsprogramme für Strom und Fernwärme. Die angestrebte außergerichtliche Einigung kommt nur zustande, wenn alle Beteiligten der Vereinbarung zustimmen und die beschwerdeführenden Gemeinden ihre Verfassungsbeschwerden zurücknehmen. Dazu ist die weit überwiegende Zahl bereit. Es ist zwar leider nicht gelungen, innerhalb der vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Frist bis zum 1. März die noch ausstehenden Zustimmungserklärungen zu erreichen, nach meiner Überzeugung bedeutet das jedoch nicht das Aus für die angestrebte Einigung. Ich appelliere deshalb nochmals an alle Beteiligten, jetzt die Chance für eine Beendigung des langwierigen Streits um die ostdeutsche Stromversorgung zu nutzen. Dabei geht es mir in erster Linie um die MilliardenInvestitionen im Stromsektor einschließlich der Braunkohlenkraftwerke und des Braunkohlenbergbaus. Diese Investitionen werden für eine moderne Energieversorgung und die weitere Verminderung der Umweltlasten, aber auch als Beitrag für den Aufschwung Ost insgesamt dringend gebraucht. Ihre Bedeutung gerade für die Bergbauregion ist offenkundig und wurde auch schon betont. Hier ist auch Solidarität der ostdeutschen Gemeinden untereinander gefordert. In der Öffentlichkeit würde es auf wenig Verständnis stoßen, wenn notwendige und kurzfristig mögliche Milliardeninvestitionen durch Streitigkeiten über Details des Stromkompromisses weiter verzögert würden. Auch bin ich unverändert der Auffassung, daß die jetzt ausgehandelte Vereinbarung einen ausgewogenen Kompromiß darstellt. Darüber besteht innerhalb der Bundesregierung und mit den Wirtschaftsministern der neuen Bundesländer Einvernehmen. Nur die jetzt erzielte Vereinbarung kann rasch und umfassend Rechtssicherheit schaffen. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts würde demgegenüber frühestens im Sommer ergehen. Ihr Inhalt ist im übrigen nicht vorhersehbar und würde wahrscheinlich zahlreiche Fragen des einfachen Rechts offenlassen. Deshalb liegt es gerade auch im Interesse der neuen Bundesländer, daß der langwierige Streit um die Stromversorgung durch den ausgehandelten Kompromiß endlich beendet wird. Schönen Dank. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Fritz Gautier.

Dr. Fritz Gautier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000641, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! - Frau Präsidentin, bezogen auf meinen eingangs gemachten Zwischenruf über das Zu-Protokoll-Geben einer Rede, wollte ich Sie auf § 33 der Geschäftsordnung des Bundestages aufmerksam machen, in dem es heißt: „Die Redner sprechen grundsätzlich in freiem Vortrag. " Mein Problem dabei ist, wie man einen freien Vortrag zu Protokoll geben kann. Deswegen mein Zwischenruf.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Wollen Sie über den Gegenstand einer Parlamentsreform oder die Durchsetzung des § 33 der Geschäftsordnung sprechen? ({0})

Dr. Fritz Gautier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000641, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, Frau Präsidentin. Ich wollte nur außerhalb meiner Redezeit, ({0}) wenn Sie die Uhr zurückstellen, einmal ganz kurz auf die Geschäftsordnung hinweisen, die in § 33 einigermaßen klar ist.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Aber Ihre Fraktion hat die Zustimmung gegeben.

Dr. Fritz Gautier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000641, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. Ich habe nur versucht, meinen individuellen Zwischenruf zu verteidigen. Wir haben jetzt Freitag nachmittag und somit ein bißchen mehr Zeit. ({0}) Da wir unsere Abendveranstaltungen schon alle abgesagt haben - es bleibt uns nichts anderes übrig -, können wir auch in Ruhe über ein paar Sachen diskutieren. Wenn Sie jetzt die Uhr zurückstellen, würde ich ganz gern ein paar Anmerkungen zu dem machen, was gesagt worden ist. Herr Kollege Klinkert hat gerade lang und ausführlich erklärt, wieso die SPD eine Position habe, die gegen die Braunkohleverstromung gehe. Es ist mir überhaupt völlig unverständlich, Herr Kollege Klinkert, wie Sie zu solchen Behauptungen kommen können. Sie sagen, daß man Braunkohle nur in großen Anlagen, quasi in der Grundlast, verstromen könne. Sie brauchen nur 20 Kilometer von hier weiterzugehen, nach Köln. Dort gibt es eine hervorragende Anlage in Kraft-Wärme-Kopplung, in der man Braunkohlenstaub benutzt. Das heißt: Warum sollte man z. B. nicht in Dresden Braunkohlenstaubverstromung in Kraft-Wärme-Kopplung durchführen? Dieses Argument, das Sie genannt haben, ist nicht sonderlich einleuchtend. Zweitens. In der Grundsatzverständigung, die jetzt zwischen den Kommunen und den großen Stromerzeugern erfolgen soll, ist vorgesehen, daß auch die zukünftigen kommunalen Unternehmen im Mittel 70 % ihres Stromabsatzes aus mit Braunkohle erzeugtem Strom beziehen werden. Von daher haben wir - sowohl mein Kollege Volker Jung als auch mein Kollege Holger Bartsch - deutlich gemacht, daß wir der grundsätzlichen Verständigung zustimmen. Wenn Sie denn schon in Ihren eigenen Reihen über die Frage, was man von Braunkohlestrom hält, reden wollen, dann möchte ich einmal einen Brief des Bundesministers der Finanzen, Herrn Theo Waigel, vom April 1992 zitieren, den er an die EG-Kommissarin Frau Christiane Scrivener, zuständig für Steuerpolitik, geschrieben hat. Ich habe den Brief ein halbes Jahr mit mir herumgetragen und noch nicht öffentlich verwendet, aber bei dieser Gelegenheit will ich es einmal machen. In diesem Brief schreibt der Herr Bundesfinanzminister in bezug auf die Frage, ob man bei der Energie- bzw. CO2-Besteuerung einen Mittelwert wählen sollte oder nicht: Damit - wenn man einen Mittelwert nähme ginge jedoch jeder Anreiz für den einzelnen Stromerzeuger verloren, CO2-ärmere Energieträger einzusetzen. Auch könnten die bestehenden regionalen Unterschiede innerhalb eines Mitgliedstaats nicht berücksichtigt werden. Besonders augenfällig sind diese Unterschiede in der Bundesrepublik Deutschland: In den neuen Bundesländern dominiert weiterhin der Einsatz von Braunkohle für die Stromerzeugung, während im Süden Deutschlands, wo insbesondere der Anteil von Strom aus Kernenergie relativ hoch ist, bereits in starkem Maße „saubere" Energieträger eingesetzt wurden. Ein solcher Einsatz - sprich: ein minderer Einsatz der Braunkohle erscheint daher wenig sachdienlich. Sinnvoller dürfte es sein, auch bei der Strom- und Fernwärmeerzeugung die eingesetzten Primärenergieträger zu besteuern, und zwar zu einheitlichen Sätzen je nach CO2. Das ist der Inhalt des Briefs des Bundesfinanzministers Waigel an Frau Scrivener, zuständig für Steuerfragen. Da reden Sie über den Schutz der Braunkohle in Ostdeutschland. Dies scheint mir ein kleiner Witz zu sein. Ich gebe Ihnen gerne die Kopie dieses Briefes. Man findet so etwas ja ab und zu im Papierkorb und hebt es dann entsprechend auf.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Gautier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Klinkert?

Dr. Fritz Gautier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000641, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber nur dann, wenn das nicht auf meine Redezeit angerechnet wird.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ja, das ist klar. Dr. Fritz Gautier ({0}): Ja, bitte schön.

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Gautier, ist es Ihnen entgangen, daß nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung nicht der Bundesfinanzminister für Umweltabgaben zuständig ist, ({0}) daß die vom Bundesumweltminister vorgesehene EGweite Besteuerung von Energie bzw. CO2 wirkungsgradabhängig gestaffelt werden soll und daß dann gerade die Kraftwerke in Ostdeutschland mit den hohen Wirkungsgraden von einer solchen Besteuerung freigestellt wären?

Dr. Fritz Gautier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000641, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Darf ich Sie vielleicht darauf hinweisen, daß die Frage, wie die Geschäftsordnung der Bundesregierung angewendet wird, mehr von den Koalitionsfraktionen zu klären ist. Ich möchte noch einmal aus dem Brief des Bundesfinanzministers zitieren. Der Bundesfinanzminister schreibt darin: Was die Ausgestaltung einer EG-weiten CO2- Energiesteuer angeht, so möchte ich vorsorglich auf zwei Eckpunkte hinweisen, die - das ist unterstrichen für die Bundesrepublik von grundsätzlicher Bedeutung sind. Das heißt, der Bundesfinanzminister behauptet, was die Außenbeziehungen zur EG-Kommission angeht, für sich selber offensichtlich, für die Bundesregierung sprechen zu können. Es ist Ihr Problem, es ist das Problem der Koalitionsfraktionen, wer für die Bundesregierung sprechen darf. Wir können so etwas nur zur Kenntnis nehmen. ({0}) Ich denke, in Brüssel wird man nicht unbedingt immer auf die Geschäftsordnung der Bundesregierung verweisen können; denn ich könnte mir vorstellen, daß Frau Scrivener, eine Französin, nicht unbedingt die Details innerhalb der Bundesregierung kennt. Wenn sie einen Brief des Bundesministers der Finanzen bekommt, wird sie vielmehr denken, er spreche im Namen der Bundesregierung. ({1}) - Sie ist eine kluge Frau; ich kenne sie. Trotzdem kennt sie wahrscheinlich nicht die Geschäftsordnung der Bundesregierung. ({2}) Ich möchte in meinen Ausführungen zu dem eigentlichen Thema fortfahren. Wir diskutieren heute ja u. a. über die Richtlinienentwürfe der EG-Kommission über einen Binnenmarkt für Strom und Gas. Über diese Richtlinienentwürfe sollte eigentlich viel intensiver im Bundestag diskutiert werden, weil sie sowohl das Energiewirtschaftsgesetz als auch das Kartellgesetz, d. h. das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, den Jahrhundertvertrag, das Einspeisegesetz, das Konzessionsabgabenrecht usw. berühren. Das heißt, die Kommission schlägt neue gesetzliche Regelungen vor, die tief in das in der Bundesrepublik Deutschland bestehende Rechtssystem eingreifen, was die Versorgung mit leitungsgebundener Energie angeht. Man kann sich von zwei Philosophien tragen lassen. Ich hatte heute den Eindruck, daß quer durch alle Fraktionen Einigkeit darüber besteht, daß wir in Deutschland uns von einer Philosophie leiten lassen, die besagt: Wir stellen Versorgungssicherheit, Preisgünstigkeit, Umwelt- und Ressourcenschonung in den Vordergrund und leiten davon ab, wieviel Wettbewerb wir wollen. Das haben wir bislang so gemacht. Deswegen haben wir § 103 GWB mit seinen Ausnahmeregelungen in den letzten 30, 40 Jahren unverändert gelassen. Ich erinnere auch an die §§ 4 und 5 des Energiewirtschaftsgesetzes mit den entsprechenden Kontrollmöglichkeiten der Aufsichtsbehörden usw. Die EG-Kommission und zum Teil auch die F.D.P.-Fraktion, wenn ich meinen Kollegen Beckmann richtig verstanden habe, machen genau das Gegenteil. Sie sagen: Laßt uns erst einmal Wettbewerb machen, und dann gucken wir, was am Ende dabei herauskommt; dann gucken wir, wieviel Braunkohle, wieviel Steinkohle man anschließend verstromen kann. Wettbewerb ist aber eine relativ einfache Angelegenheit. Im Wettbewerb richtet sich alles nach dem Preis. Es entspricht dem normalen Verhalten in einer wettbewerbsorientierten Gesellschaft, daß man möglichst viele Produkte zu einem möglichst günstigen Preis absetzen will, um seine Gewinne zu optimieren. Das ist doch ein selbstverständliches Verhalten. Bloß, so kann die Stromversorgung doch offensichtlich nicht funktionieren. Der Kollege Klinkert sagte soeben in seiner Rede, die Berliner sollten doch gefälligst Lausitzer Braunkohlestrom abnehmen, obwohl sie billigeren Strom aus Norwegen bekommen. Was hat es denn mit Wettbewerb zu tun, lieber Kollege Klinkert, wenn der Strom, den ich aus Norwegen beziehe, billiger ist als der Strom aus der Lausitzer Braunkohle? Das heißt, man muß sich schon entscheiden, was man eigentlich will. Wenn man eine bestimmte Primärenergiepolitik will, die ihre Grundlage in der deutschen Steinkohle oder in der deutschen Braunkohle hat - oder wo auch immer -, dann muß man sich darüber im klaren sein, daß man Wettbewerb nicht um jeden Preis auf den Endmärkten durchsetzen kann. Dann kommen Leute und sagen: Beim Bezug von Strom ist es genau dasselbe wie beim Gang zum Friseur; beides sind Dienstleistungen. Ich will Ihnen dazu etwas sagen. Ich war letztens beim Friseur. Ich habe mich dort für 15 Uhr angemeldet; es ist schon eine Zeitlang her, wie man sehen kann. Als ich dort ankam, sagte man mir: Herr Gautier, nehmen Sie sich noch eine halbe Stunde Zeit; gehen Sie noch einen Kaffee trinken, wir haben im Augenblick zuviel zu tun. Daraufhin habe ich gesagt: Es ist in Ordnung, ich gehe noch einen Kaffee trinken. Als ich um 15.30 Uhr wiederkam, mußte ich noch einmal 20 Minuten warten. Stellen Sie sich vor, daß jemand abends um 8 Uhr die „Tagesschau" anstellt und das Energieversorgungsunternehmen ihm sagt: Versuchen Sie es in einer halben Stunde noch einmal; dann können wir wieder Strom liefern. So kann man das Thema doch wirklich nicht behandeln. ({3}) Von daher sind wir auf völlig unterschiedlichen Märkten tätig. Das, was die Kommission in diesem Bereich vorschlägt, geht doch an der Realität vorbei. ({4}) - Ich muß ja schnell reden, weil ich so wenig Zeit habe. Lassen Sie mich noch ein Wort zur besonders mittelstandsfreundlichen F.D.P. sagen, die das ja immer vor sich herträgt. Die F.D.P. sagt ja immer: Wir müssen unsere mittleren Unternehmer schützen usw. Nun schlägt die EG-Kommission ja vor, daß bestimmte Unternehmen in den Genuß eines besonders günstigen Strompreises kommen sollen, nämlich dann, wenn sie mindestens 100 Gigawattstunden pro Jahr verbrauchen. Das sind schon relativ große Unternehmen. Ich kann Ihnen ein praktisches Beispiel nennen. In der Aachener Region gibt es zwei Unternehmen, die energieintensiv Glas herstellen. ({5}) - Ja, dort gibt es mehr. - Das eine Unternehmen verbraucht über 100 Gigawattstunden, das andere hingegen verbraucht vielleicht nur 90 oder 80 Gigawattstunden. Das heißt: Das kleinere Unternehmen müßte den teuren Strom beziehen, während das größere Unternehmen den billigeren Strom beziehen dürfte. Das ist doch die Philosophie der EG-Kommission. Es kann doch nicht wahr sein, daß wir Unternehmen über solche Dinge in eine Fusion hineintreiben. ({6}) - Nein, Sie wollen das auch nicht, Herr Beckmann. Bloß, Ihre Philosophie führt zu diesem Ergebnis; denn Sie wissen - wie ich auch -, daß die bestehenden Strompreisunterschiede nicht primär eine Frage des Wettbewerbs sind. Sehen Sie sich - auf Ihren Zwischenruf bezogen - z. B. einmal die Situation zwischen Deutschland und Frankreich an. In Frankreich haben wir einen Monopolisten - fürchterlich! -, die EDF. In Deutschland haben wir viele Unternehmen. Der Monopolist EDF bietet aber einen Industriestrompreis an, der 6 Pfennig unter dem deutschen Industriestrompreis liegt. Das ist aber doch nicht eine Frage des Wettbewerbs, sondern das liegt doch daran, daß wir in Deutschland - Gott sei Dank, sage ich - hervorragende Umweltauflagen haben ({7}) und daß wir auch noch heimische Energieträger verstromen usw. Dadurch läßt sich doch ganz einfach erklären, warum es Unterschiede beim Industriestrompreis gibt. Wenn man das alles nicht mehr will, dann sollte man sagen, wir machen Wettbewerb, aber dann sollte man konsequenterweise auch den Rest der Veranstaltung abschaffen. Dann sollte man sagen: Den Rest der Veranstaltung wie Jahrhundertvertrag oder Einspeisegesetz usw. wollen wir nicht mehr. Wenn wir das abgeschafft haben, dann ist alles in Ordnung, und dann kann man auch Wettbewerb machen. Bloß, Sie müssen das dann auch konsequent durchhalten. Lassen Sie mich, da meine Redezeit abläuft, nur noch eine Bemerkung zu den Richtlinien machen. Der Ministerrat sagt auf Grund seiner Beschlußlage vom 30. November letzten Jahres: Das alles ist nicht in Ordnung. Letzte Woche hat der Berichterstatter Desama im Energieausschuß des Europäischen Parlaments einen Bericht vorgelegt, in dem auch er die Meinung vertritt, daß das alles nicht in Ordnung ist. Der Bundesrat hat gesagt: So geht das nicht. Wir werden uns ja am nächsten Mittwoch im Wirtschaftsausschuß damit beschäftigen. Bloß, was passiert denn nun? Nun führt das Bundeskartellamt ein Verfahren nach Art. 85 des EWG12436 Vertrages gegen einen Konzessionsvertrag durch ich will die Städte oder die beteiligten Unternehmen jetzt nicht nennen - und versucht, das Problem, das im Augenblick auf politischem Wege schwer lösbar ist, auf juristischem und kartellrechtlichem Wege zu lösen. Das ist eine Amtsanmaßung des Bundeskartellamts. Das halte ich für unglaublich. ({8}) - Der bundesdeutsche Gesetzgeber - Sie waren doch im Deutschen Bundestag, als wir das Kartellgesetz novelliert haben - hat in Kenntnis von Art. 85 des EWG-Vertrages gesagt: Wir machen eine Ausnahmebestimmung. Das Kartellamt möge sich daran halten. Jetzt sagt das Kartellamt: Nein, das ist eine politische Diskussion im Ministerrat, im Europäischen Parlament und im Bundestag. Das interessiert uns alles nicht. Wir ziehen jetzt alles durch. Dieses Verhalten ist nicht zu akzeptieren. Deswegen fordere ich auch von dieser Stelle aus die EG- Kommission auf, das Verfahren selber an sich zu ziehen und im Zweifelsfall eine Freistellung nach Art. 85 Abs. 3 zu machen. Es ist schon unglaublich, daß die EG-Kommission kartellrechtliche Freistellungen macht, z. B. für Bierlieferverträge; ausschließliche Vertragsbeziehungen zwischen Brauereien und Gaststätten. Die Gaststätten dürfen dann nur das Bier von bestimmten Brauereien verkaufen. Dies alles soll kartellrechtlich freigestellt werden. Aber bei ausschließlichen Bezugsverträgen im Strombereich, in einem sensiblen Bereich, wird gesagt: Dies können wir nicht dulden. Dann soll sich das Kartellamt einmal um Bierlieferverträge, um Gruppenfreistellungsvereinbarungen für Automobilvertriebsysteme oder um Franchise-Systeme für McDonalds usw. kümmern. Aber in diesem Bereich versuchen sie jetzt, einen Musterprozeß zu machen, um das, was politisch umstritten ist, auf juristischem und kartellrechtlichem Wege durchzusetzen. Dies können wir auf keinen Fall akzeptieren. Abschließend möchte ich für die SPD-Fraktion sagen, daß wir das, was sich die EG-Kommission vorstellt, so nicht akzeptieren können. Wir haben in unserem Antrag eine Reihe von Alternativen deutlich gemacht. Wir sind auch für den Binnenmarkt im Bereich der leitungsgebundenen Energieversorgung. Bloß, der Binnenmarkt muß dort auf die Grundprioritäten Rücksicht nehmen, nämlich auf Versorgungssicherheit, Preisgünstigkeit sowie Umwelt- und Ressourcenschonung, nicht aber das Umgekehrte machen, das, was die Kommission im Augenblick vorsieht. Recht herzlichen Dank. ({9})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Abgeordnete Dr. Bernd Protzner.

Dr. Bernd Protzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001756, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Weil Sie, Herr Gautier, den bayerischen Finanzminister angesprochen haben, muß ich Ihnen doch versichern, daß wir in Bayern nach wie vor wirtschaftlich erfolgreich sind. Wir sind deswegen wirtschaftlich erfolgreich, weil wir durchaus auch auf Preise schauen. Trotzdem haben wir uns als erstes Bundesland der Bundesrepublik Deutschland entschieden, über unseren Stromversorger Braunkohlenstrom aus den jungen Bundesländern abzunehmen. Sie können versichert sein, daß wir uns das wirtschaftlich und finanziell sehr gut überlegt haben. Nachdem uns ja sehr enge Kontakte der Politik zur Wirtschaft nachgesagt werden und wir uns dieser Kontakte der Wirtschaft zur Politik auch nicht schämen, können Sie auch sicher sein, ({0}) daß sehr gründlich darüber diskutiert worden ist, ob sich das rechnet, lieber Herr Kollege Verheugen. Wir sind der Überzeugung, daß sich bei modernen Braunkohlekraftwerken der Bezug von Strom nach Bayern rechnet. Die bayrischen Versorgungsunternehmen - das wissen Sie, Herr Verheugen, nachdem ja auch Sie regelmäßig in Oberfranken sind und wir im gleichen Gebiet miteinander Politik betreiben - haben bereits 1 Milliarde DM ausgegeben, um eine entsprechende 380-KV-Hochspannungsleitung zu bauen. Herr Gautier, Ihre Ausführungen bestätigen mir, daß der Leitsatz Ihres Antrags so, wie er formuliert ist, kein Zufall ist. Da heißt es nämlich: „Ein gemeinsamer europäischer Binnenmarkt braucht eine ökologisch verantwortbare Energieversorgung." Sie sprechen vom europäischen Binnenmarkt. Da kann ich Ihnen noch folgen. Aber wenn es dann um die Energie geht, dann sprechen Sie nur noch von Versorgung. Da kommen Sie von der Marktwirtschaft zur Versorgungswirtschaft. Wir brauchen aber - und das setze ich Ihnen entgegen - Marktwirtschaft und keine Versorgungswirtschaft, um weiterzukommen. Wie gut Versorgungswirtschaft ist, habe ich Ihnen ja gerade gesagt. Das können wir in Oberfranken und kann auch der Kollege Verheugen an jedem zehnten Tag, den er in seinem Wahlkreisgebiet in Kulmbach und Bayreuth ist, feststellen. An jedem zehnten Tag haben wir Ostwind. Dann kriegen wir aus den Kraftwerken der neuen Bundesländer und auch aus der ehemaligen Tschechoslowakei erhebliche Schmutzfrachten seit Jahrzehnten zu uns herüber. Dort hat man Versorgungswirtschaft betrieben. Dort hat man nicht marktwirtschaftlich gedacht. Marktwirtschaft bringt Veränderung und auch besseren Umweltschutz. Es ist eben kein Gegensatz zwischen Marktwirtschaft und Umweltschutz zu konstruieren, wie Sie das immer wieder versuchen. Nur über Wettbewerb kommt der Fortschritt. Ohne Wettbewerb erlahmt die kaufmännische und technische Innovation. Warum gibt es denn, wie Sie in Ihrem Antrag beklagen, so wenige Kraftwärmekopplungen auf lokaler Ebene? Ganz einfach deshalb, weil wir hier Monopolisten, und zwar kommunale Monopolisten haben, die Sie noch zusätzlich kartellrechtlich aufrechterhalten, denen Sie Schutzzäune ziehen wollen. Deswegen sind die an dem technischen Fortschritt der Kraftwärmekopplung um Jahrzehnte vorbeigegangen. Welche Torheit ist es, hier fortsetzen zu wollen. Akzeptabel bei den Kunden sind neuere Kraftwerke, sind bessere Kraftwerke. Die lassen sich durchsetzen.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Dr. Protzner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gautier?

Dr. Bernd Protzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001756, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Dr. Fritz Gautier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000641, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Können Sie mir bitte in Bayern - für das Sie ja gerade sprechen - eine Anlage der Kraft-Wärme-Kopplung nennen - sei es in Nürnberg, Würzburg oder München -, die nicht einem kommunalen Unternehmen gehört, und können Sie mir eine Anlage nennen, die das Staatsunternehmen Bayernwerk in Form von Kraft-Wärme-Kopplung betreibt?

Dr. Bernd Protzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001756, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das Bayernwerk hat sich auf die Solarenergieforschung spezialisiert, ({0}) die ja von ihrem Vorredner, Herrn Jung, auch sosehr gescholten worden ist: Ein großer Energieversorgungsunternehmer steige in diesem Gebiet nicht in moderne Technologie ein. Hier wird das größte Projekt im Bayerischen Wald betrieben. Sie sehen also, daß auch große Versorger in Alternativen gehen. Das andere hat man einstweilen örtlichen Versorgungsunternehmen überlassen. Ich muß Ihnen aber zugestehen: Auch wir leiden in Bayern unter dem Problem, daß wir kommunale Gebietshoheiten und mangelnden Fortschritt haben und daß deswegen dort viel zu wenig solcher Anlagen stehen. Nur einige wenige Großstädte haben das bisher.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Gautier möchte eine weitere Zwischenfrage stellen.

Dr. Bernd Protzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001756, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Dr. Fritz Gautier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000641, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber Sie können mir bestätigen, daß ich noch nicht an einem Hörfehler leide, d. h. daß Sie vorhin nicht über Solaranlagen geredet haben, sondern über die Frage der Kraftwärmekopplung?

Dr. Bernd Protzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001756, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich weiß. Darum habe ich Ihnen ja auch auf die Frage nach der Kraftwärmekoppelung geantwortet. Ich kann Ihnen nur wieder sagen, daß sehr viele kommunale Versorgungsgebiete in Bayern vorhanden sind, daß wir bislang aber nur ganz wenige Kraft-Wärme-Koppelungsanlagen haben. Das ist, nachdem diese Technik länger besteht, ein Zeichen dafür, daß wir auf diesem Gebiet doch zuwenig vorankommen. Ich bin der Überzeugung, daß wir mit privatem Wettbewerb wesentlich stärker vorankommen würden, daß wir, lieber Herr Gautier, sowohl bei KraftWärme-Anlagen viel mehr Anlagen hätten als bisher als auch bei anderen alternativen Energiequellen schon viel weiter gekommen wären. Ich kann Sie von der SPD deshalb nur ermuntern, auf diesen marktwirtschaftlichen Weg einzuschwenken und dafür zu sorgen, daß sich die Unternehmen dem Wettbewerb stellen müssen. Dann kommen wir auch im Energiekonsens weiter. Ich bedanke mich. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache. Der Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3767 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu noch andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen dann zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Übertragung der örtlichen Energieversorgungseinrichtungen an die ostdeutschen Kommunen. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3624 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlußempfehlung angenommen. Damit sind wir am Ende der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 10. März 1993, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.