Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Die Sitzung ist eröffnet.
Zuerst möchte ich einigen Kollegen nachträglich zum Geburtstag gratulieren. Der Kollege Günter Schluckebier feierte am 15. Februar, der Kollege Julius Louven am 18. Februar, der Kollege Christian Lenzer am 19. Februar jeweils den 60. Geburtstag. Ich spreche Ihnen im Namen aller Kollegen und Kolleginnen die herzlichsten Glückwünsche aus.
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Aus dem Gemeinsamen Ausschuß nach Art. 53 a des Grundgesetzes scheidet Dr. Wolfgang Bötsch aus. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt als neues ordentliches Mitglied den Abgeordneten Michael Glos vor. Sind Sie damit einverstanden?
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- Nein, es gibt keine Vorstellung. Das ist nicht vorgesehen. - Damit ist der Kollege Michael Glos als ordentliches Mitglied im Gemeinsamen Ausschuß bestimmt.
Der Abgeordnete Kollege Heribert Scharrenbroich scheidet als stellvertretendes Mitglied aus der Gemeinsamen Verfassungskommission aus. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt als Nachfolgerin die Kollegin Dr. Renate Hellwig vor. Besteht damit Einverständnis? - Auch dies ist der Fall.
Ebenfalls aus der Gemeinsamen Verfassungskommission scheiden die stellvertretenden Mitglieder Dr. Christoph Zöpel und Reinhard Weis ({2}) aus. Als Nachfolger wurden auf Vorschlag der Fraktion der SPD die Abgeordneten Dorle Marx und Angelika Barbe bestimmt. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Dies ist der Fall. Dann sind, wie vorgeschlagen, die Kolleginnen Dr. Renate Hellwig, Dorle Marx und Angelika Barbe als stellvertretende Mitglieder der Gemeinsamen Verfassungskommission bestimmt.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunkteliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zum Genehmigungsstopp bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ({3}) ({4})
2. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({5}) zu dem Gesetz über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1992 ({6}) - Drucksachen 12/3629, 12/4165, 12/4387, 12/4447
3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanne Kastner, Dr. Uwe Küster, Dr. Helga Otto, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Bericht an die EG-Kommission über Sanierungspläne für Oberflächenwasser, Grundwasser und Trinkwasser in den neuen Bundesländern - Drucksache 12/4404
4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Roth, Hans Berger, Dr. Ulrich Böhme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Eine sich selbst verstärkende Rezession durch kompetente Wirtschaftspolitik abwenden - Drucksache 12/4453 Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit dies bei einzelnen Punkten der Tagesordnung erforderlich ist, abgewichen werden. Sind Sie auch damit einverstanden? - Auch hiergegen gibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Die Fraktion der SPD hat fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung zu erweitern, und zwar um die Beratung ihres Antrags auf Drucksache 12/4452 mit dem Titel „Zur Nötigung von Abgeordneten und Blockade der Verfassungsdiskussion" .
Wird zu diesem Aufsetzungsantrag das Wort gewünscht? - Dies ist der Fall. Das Wort hat der Kollege Dr. Vogel.
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Es gibt offenbar eine gedämpfte Erwartung in Erinnerung an frühere Zeiten.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gewisse Vorgänge und eine Reihe von
Stellungnahmen vor, in und nach der Sitzung der Gemeinsamen Verfassungskommission vom 11. Februar 1993 haben erhebliche Aufmerksamkeit hervorgerufen und eine öffentliche Debatte über die Verfassungsreform im allgemeinen und darüber ausgelöst, ob die Geschäftsführung einer Fraktion ein bestimmtes Abstimmungsverhalten von Mitgliedern ihrer Fraktion, von vom Bundestag gewählten Mitgliedern der Verfassungskommission, auch mit der Drohung erzwingen darf, anderenfalls werde man die widerstrebenden Mitglieder aus der Kommission entfernen.
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Wie ernst dieser Vorgang auch in Ihren eigenen Reihen genommen wurde, ergibt sich schon aus der Tatsache, daß eines der betroffenen Mitglieder, nämlich der wegen seiner sachlichen Verhandlungsführung auch von uns geschätzte Mitvorsitzende der Kommission, Herr Kollege Scholz, daraufhin erklärte, er werde wegen dieses Eingriffs seine Funktion ruhen lassen.
Auch der Umstand, daß die unter maßgebender Mitwirkung vom Kollegen Scholz in monatelangen Bemühungen gemeinsam erarbeitete Staatszielformulierung „Die natürlichen Lebensgrundlagen stehen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung unter dem Schutz des Staates" die Zweidrittelmehrheit auf Grund dieser Drohungen um zwei Stimmen verfehlte, ist zu Recht auf Unverständnis, ja auf Befremden und Bestürzung gestoßen.
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Die SPD-Bundestagsfraktion hat deshalb einen Antrag eingebracht, der sich mit diesem Problem beschäftigt. Sie will dem Bundestag dadurch Gelegenheit geben, sich in öffentlicher Sitzung und öffentlicher Debatte über den Sinn und die Tragweite des in Art. 5 des Einigungsvertrages erteilten Auftrags und darüber auseinanderzusetzen, ob es im Interesse der deutschen Einigung nicht geradezu geboten ist, in die erneuerte Bundesverfassung die verfassungspolitischen Impulse aufzunehmen, die aus den neuen Bundesländern kommen
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und die dort mit breiter Mehrheit aller Parteien in den Verfassungen der neuen Bundesländer ihren Niederschlag gefunden haben, etwa die Aufnahme von Staatszielbestimmungen, die Einführung einer unmittelbaren Bürgerbeteiligung und vor allem auch die Zulässigkeit von Frauenförderungsmaßnahmen.
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Meine Fraktion will dadurch auch erreichen, daß sich der Bundestag damit befaßt, ob die Entscheidungsfreiheit des einzelnen Abgeordneten in so massiver Weise in Frage gestellt werden darf, wie das im konkreten Fall geschehen ist.
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Beide Themen sind aktuell und gehen das Parlament unmittelbar an. Dennoch haben Sie die von uns geforderte Behandlung in der heutigen Sitzung abgelehnt.
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Namens meiner Fraktion beantrage ich, diese Fehlentscheidung zu korrigieren und unseren Antrag auf die Tagesordnung der heutigen Sitzung zu nehmen.
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Meine Damen und Herren, dem Ansehen des Parlaments würde es gerade in einer Zeit, in der die allgemeine Politikverdrossenheit auch das Parlament erfaßt,
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guttun, wenn sich das Parlament fähig zeigen würde, aus der Routine auszubrechen und aus aktuellem Anlaß eine lebendige Diskussion zu führen.
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Dann brauchten Sie das nicht mit akustisch schwer verständlichen Zurufen zu machen, sondern könnten in Rede und Gegenrede die Themen erörtern.
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Außerdem - das ist Ihnen offenbar völlig entgangen - entspricht dieses Verlangen dem, was die Geschäftsführung der Union schon vor zehn Tagen öffentlich gefordert hat. Da heißt es nämlich in der Ausgabe des CDU/CSU-Pressedienstes vom 24. Februar - ausnahmsweise empfehle ich Ihnen die Lektüre - schon in der Überschrift: „Verfassungsdebatte gehört ins Parlament."
({12})
Weiter heißt es im Text: „Die Verfassungsdebatte muß jetzt baldmöglichst dorthin verlagert werden, wo sie hingehört: in das Parlament." Da kann ich nur sagen: Sehr wahr und sehr richtig!
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Genau das, was Ihre Geschäftsführung fordert, nämlich Debatte im Parlament, kann sofort geschehen. Sie müssen nur dem Aufsetzungsantrag zustimmen.
({14})
Tun Sie das nicht, dann werden Sie sich einmal mehr den Vorwurf gefallen lassen müssen, daß Reden und Handeln bei Ihnen weit auseinanderklaffen.
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Als nächster hat der Kollege Dr. Friedrich-Adolf Jahn das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Vogel, Parlamentsdebatte fiber Grundgesetzänderungen ja, aber zur rechten Zeit.
({0})
An einem Tag, an dem zum Asylrecht Stellung genommen werden soll, wollen Sie von diesem wichtigen Thema ablenken
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und wollen im Grunde nicht zulassen, daß wir hier die nötige Zeit bekommen.
Was Sie heute morgen machen, ist ein Stück aus dem Tollhaus.
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Ist es schon Tollheit, Herr Vogel, so hat es doch Methode. Sie stellen einen Antrag unter der Überschrift „Nötigung von Abgeordneten"
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- Ja, „gegen Nötigung von Abgeordneten und Blokkade der Verfassungsdiskussion". Das ist Ihre Perspektive, die Vogel-Perspektive.
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Die Vogel-Perspektive ist immer aus weiter Distanz. Und alles, was Sie hier kritisiert haben, haben Sie nicht durch eigene Augenscheinnahme, sondern nur vom Hörensagen. Ich war einer, der an diesen Dingen teilhatte.
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Deshalb möchte ich hier Dichtung und Wahrheit unterschieden wissen.
Ihr Vorwurf „gegen Nötigung" und Ihr Vorwurf „Blockade" sind offensichtlich unbegründet.
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Deshalb fehlt die Geschäftsgrundlage, hierüber zu sprechen. Daher - das sage ich vorweg - werden wir Ihren Antrag ablehnen.
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Herr Vogel, Aufgabe aller Parlamentarischen Geschäftsführer ist es, für die Einheit der Fraktion Sorge zu tragen.
({8})
Das ist in Ihren Reihen der Fall wie bei uns. Als Sie
Vorsitzender Ihrer eigenen Fraktion waren, haben Sie
darauf den größten Wert gelegt, und das gilt auch heute noch.
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Deshalb verwahren wir uns dagegen,
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unseren Parlamentarischen Geschäftsführer Rüttgers in die Nähe der Nötigung zu rücken, wie das mit Ihrem Antrag offensichtlich verfolgt wird.
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Herr Vogel, ebenso wie Sie nicht der Oberlehrer der Nation genannt werden möchten,
({12})
verwahren wir uns dagegen, daß Sie Herrn Rüttgers als Oberkommandierenden der Verfassungskommission bezeichnen.
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Natürlich kann man über manche Wortwahl auch unterschiedlicher Meinung sein. Wir sind eine offene Fraktion.
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- Ja, vielleicht im Gegensatz zu Ihnen. Da darf jeder seine Meinung sagen. Da darf man kontrovers diskutieren. Da bekommt keiner den Maulkorb umgehängt.
({15})
Wenn man unterschiedlicher Meinung ist,
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dann geht man am Schluß wieder aufeinander zu. Wenn ich das so ausdrücken darf: Man versöhnt sich wieder.
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Das unterscheidet Sie von der Haltung in unserer Fraktion.
Herr Vogel, wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
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Sie wissen, daß Herr Scholz bereits in dieser Woche erklärt hat, daß er hochmotiviert weiter in unserer Kommission arbeitet. Ich möchte sagen, daß wir das ausdrücklich begrüßen.
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Dr. Friedrich-Adolf Jahn ({20})
Herr Vogel, wir brauchen keine Belehrungen
({21})
über die Unabhängigkeit und Freiheit des Abgeordnetenmandats.
({22})
Sie haben in Ihren Reihen genug zu tun. Ich zitiere nur von heute morgen: „Die SPD kämpft an vielen Fronten - meist gegeneinander. Und jetzt drohen die Jusos den Befürwortern des Asylkompromisses mit Gegenkandidaten in den Wahlkreisen." Das ist eine Aufgabe, die Sie zu erledigen haben.
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Auch der Vorwurf der Blockade in der Verfassungsdiskussion, Herr Vogel, geht fehl. Wir lassen uns nicht in die Ecke der Verweigerer stellen, wenn Sie von Umweltschutz sprechen.
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Es ist doch eigenartig: Wenn wir Ihren Antrag ablehnen, dann sind wir die Verweigerer, und Sie sind die Empörten.
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Wenn wir Anträge stellen, und Sie lehnen sie ab, dann dürfen diese Kriterien in keiner Weise gelten. Hier wird mit verschiedener Münze gehandelt.
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Herr Vogel, wir haben in der 11. Wahlperiode einen Antrag zum Umweltschutz gestellt, mit dem anthropozentrischen Ansatz und mit dem Gesetzesvorbehalt. Dann haben Sie als Fraktionsvorsitzender uns geschrieben: Mit dem anthropozentrischen Ansatz kann die SPD-Fraktion leben. Das gilt für Sie heute nicht mehr. Wir fragen: Warum nicht?
Wir haben einen Kompromißvorschlag zur Abstimmung gestellt. Den haben Sie abgelehnt. Dann sprechen Sie uns ab, daß wir empört sind, daß Sie unsere Anträge ablehnen.
({27})
Mit anderen Worten: Nicht die Union, sondern Sie haben die Entscheidungen blockiert.
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Herr Kollege Jahn, wir haben Redebeiträge von fünf Minuten zur Geschäftsordnung. Sie haben jetzt um eine halbe Minute überzogen. Kommen Sie zum Ende.
Frau Präsidentin, darf ich wie mein Vorredner -
Er hat 14 Sekunden weniger gehabt als Sie im Moment.
Danke schön.
Die SPD ist ein schlechter Verlierer,
({0})
wenn sie heute das Abstimmungsergebnis in der Gemeinsamen Verfassungskommission hier zur Rede stellen will. In dem Gedanken der Bewahrung der Schöpfung, Herr Vogel, sind wir einer Meinung. Wir können dies in der Präambel berücksichtigen.
Abschließend möchte ich sagen: Die Bevölkerung interessiert nicht der Druck auf Abgeordnete, den es nie gab,
({1})
sondern - schauen Sie heute in die Zeitungen - der Druck auf Engholm. Das ist der Punkt, der die Öffentlichkeit beschäftigt.
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Herr Kollege Jahn, jetzt ist aber wirklich Schluß.
Deshalb bitte ich darum, heute unvoreingenommen über das Asylrecht zu sprechen und über die anderen Fragen zu einem späteren Zeitpunkt.
({0})
Das Wort hat der Kollege Manfred Richter.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gerade Verfassungsänderungen brauchen ausreichend Gelegenheit zur gründlichen Beratung, um zu einem tragbaren Ergebnis zu kommen. Das schließt eine öffentliche Diskussion durchaus ein. Ich möchte aber vor der Einseitigkeit dieser Diskussion warnen. Gerade bei Fragen der Verfassung muß es doch möglich sein, diese Fragen nicht auch noch in parteipolitisches Sperrfeuer zu bringen.
({0})
Ich frage mich: Welche Qualität hätte wohl unser Grundgesetz gehabt, wenn die Beratungen im Parlamentarischen Rat genauso von parteipolitischem Sperrfeuer begleitet gewesen wären? Das hätte der Verfassung nicht genutzt.
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Das hätte ihr geschadet. Je mehr wir nach außen den
Eindruck erwecken, parteipolitische Kontroversen
hier in die Verfassungsdebatte einführen zu wollen,
Manfred Richter ({2})
desto mehr schwindet die Akzeptanz der Bevölkerung für das, was wir hier tun.
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Ihr Antrag, meine Damen und Herren, dient eben dem und nichts anderem. Er dient der parteipolitischen Sperrfeuerbegleitung einer Verfassungsdiskussion.
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Er lenkt von den eigentlich kontroversen Fragen ab, die ich in einer sachlichen Diskussion in der dafür zuständigen Kommission geklärt haben möchte.
Meine Damen und Herren, die dort angewendete Zweidrittelmehrheit ist ein Schutz für Minderheiten. Das ist doch ein Mechanismus, der dazu dient, daß niemand untergepflügt wird.
Es gibt auch noch ein technisches Argument gegen die Aufsetzung. Die SPD-Fraktion hat uns den endgültigen Antragstext nach Ablauf der Fraktionssitzungen am Dienstag abend zugeleitet, so daß es überhaupt nicht mehr möglich war, darüber zu beraten.
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Das ist ein Ablehnungsgrund, wenn auch nicht der einzige.
Das gewichtigste Argument ist, daß wir verhindern sollten, die Diskussion über die Verfassung, von der noch eine Generation oder mehr in unserem Land leben sollen, in ein parteipolitisches Gezänk abgleiten zu lassen.
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Aus diesem Grund wird die F.D.P.-Fraktion dem Aufsetzungsantrag der SPD nicht zustimmen.
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Als nächster spricht der Kollege Professor Uwe-Jens Heuer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Richter hat uns eben darauf aufmerksam gemacht, wie schön es doch im Parlamentarischen Rat gewesen sei. Wie Sie wissen, war der Parlamentarische Rat tatsächlich der faktische Gesetzgeber. Damit hatte er eine prinzipiell andere Stellung. Es rächt sich jetzt, daß wir keine verfassungsgebende Versammlung beschlossen haben, sondern nur eine Verfassungskommission. Zwar hat sich die Verfassungskommission bemüht, ein eigenes Klima zu schaffen. Aber dieses Klima ist offensichtlich am 11. Februar gestört worden. Die Absicht der Verfassungskommission eigenständig an einem positiven Ergebnis zu arbeiten, konnte nicht durchgesetzt werden.
Am 11. Februar ist nicht nur der Umweltschutz abgelehnt worden. Dort war auch der Antrag gestellt worden, daß der Staat zur Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen beitragen soll. Dieser Antrag erhielt 32 gegen 21 Stimmen. Es ist ein System der sozialen Sicherheit gefordert worden. Dieser Antrag
erlangte 30 gegen 20 Stimmen. Das heißt, diese Kommission hatte Positionen eingenommen, die sich den Interessen der Menschen in Ost und West nähern - leider nicht mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit.
Beim Umweltschutz war die Sache dann am spannendsten. Es wurden 41 Stimmen erreicht. Hier ist heute schon dazu gesprochen worden, wie dieses Ergebnis erlangt wurde. Ein Hauptargument der Kritiker war, daß damit die Judikative gestärkt würde. Das Interessante war nun, daß, als es um den Zugang zu Daten der vollziehenden Gewalt ging und es 29 Stimmen dafür und 22 Stimmen dagegen gab, hier das Argument kam, das Bundesverfassungsgericht habe das alles schon entschieden, warum solle dann noch der Verfassungsgesetzgeber tätig werden? Also: Je nachdem, wie man es braucht, werden Staatsziele abgelehnt.
Ich darf die dahinterstehende Position an einem Satz des bekannten Justizministers Sachsens, Heitmann, deutlich machen. Er hat gesagt, Verfassungen werden nicht gemacht, um die Rechtsentwicklung voranzutreiben - Sächsisches Verordnungsblatt 1/1993, Seite 2. Das ist eine direkte Ablehnung jeglicher verfassungsschöpferischen Tätigkeit. Dann brauchen wir überhaupt keine Debatte um eine neue Verfassung.
Herr Geis hat am 1. März erklärt, daß es eine Schwächung des Parlaments sei, wenn wir jetzt Staatsziele festlegten. Er hat weiterhin erklärt - das ist eines seiner Lieblingsargumente -, in Österreich hätten an dem Volksbegehren nur 7,5 % teilgenommen, das zeige das geringe Interesse. Diese geringe Teilnahme an dem Volksbegehren war ja ein Sieg der Kräfte gegen die Partei von Herrn Haider. Es ist also überhaupt kein Argument gegen die Wirksamkeit von Volksentscheiden. - Auch hier ist also alles abgelehnt worden.
Wie ist heute die Lage? Von den progressiven grundsätzlichen Ansätzen ist nur noch die Formulierung über die Gleichstellung der Frauen offen. Hier hatten wir einen Höhepunkt in der Verfassungskommission. Es gab eine sehr erfreuliche Anhörung, 25mal wurde Beifall geklatscht. Aber auch hier habe ich die große Befürchtung, es wird nicht zugestimmt.
Wir werden jetzt folgende Situation haben: Wir werden in der neuen Verfassung einige grundsätzliche Änderungen zur Außenpolitik haben, die ich zu einem wesentlichen Teil mißbilligen muß - es handelt sich um die Aushöhlung des Asyls und um die Erweiterung der Truppeneinsatzmöglichkeiten -; wir werden einige zum Teil sicher sinnvolle Verbesserungen am parlamentarischen System haben; aber in den grundsätzlichen Fragen der weiteren Demokratisierung wird sich nichts tun.
Es wird in diesem Hause sehr viel über Parteiverdrossenheit, über Politikverdrossenheit gesprochen, aber es gibt auf der rechten Seite dieses Hauses nicht einmal ein Nachdenken darüber, ob hier etwas geschehen müßte. Als Herr Ullmann fragte, ob nicht die Rolle des Volkes am Ende der DDR mehr Vertrauen zum Volk heute bedeuten könnte, wurde ihm bedeutet: Das galt dort, aber nicht hier. Herr Heit12280
mann hat erklärt, wir haben eine stabile Verfassung und einen stabilen Staat, die es nicht nötig haben, um Akzeptanz bei der Bevölkerung zu werben. - „Die Zukunft des Grundgesetzes", CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Seite 28. Ich meine, daß die Sieger der Ansicht sind, sie hätten es nicht nötig zu lernen. Sieger sind oft nicht lernfähig. Meine Sorge besteht darin, daß wir zwar eine neue Außenpolitik, ein mächtiges Deutschland, aber keine Veränderung des Verständnisses der Beziehung von Volk und Staat haben werden.
Meine Damen und Herren, gerade meine Damen und Herren auf der reichbesetzten rechten Seite des Hauses, denken Sie in historischen Dimensionen, seien Sie zu einer wirklichen Weiterentwicklung des Grundgesetzes bereit, die Konsens neu schafft! Herr Jahn hat eben gesagt, die SPD sei der Verlierer. Wenn Sie so entscheiden, wenn diese Verfassung so wenig Positives enthält, ist der Verlierer nicht die SPD, sondern das deutsche Volk.
Ich danke.
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Als nächster hat der Kollege Dr. Wolfgang Ullmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich unterstützte den Aufsetzungsantrag der SPD, nicht weil ich, Herr Kollege Jahn, im mindesten die Absicht hätte, Sie zu belehren - wie sollte ich das? -, sondern weil ich Fragen stellen muß, Fragen, deren Beantwortung meines Erachtens auch im Interesse Ihrer Fraktion liegt.
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Der Verlauf der Sitzung am 11. Februar war so skandalös, daß man sich als Teilnehmer dieser Veranstaltung nur schämen konnte.
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Darum frage ich die CDU/CSU-Fraktion: Was hat sie sich dabei gedacht, als sie in dieser wichtigen Abstimmungssitzung als Sperrminorität alle Abstimmungen blockiert hat? Es ging nicht nur um den ÖkologieArtikel, Herr Jahn. Die deutsche Öffentlichkeit will wissen, ob die CDU/CSU willens ist, den Auftrag, die Frage der Staatsziele zu überlegen, zu verhindern.
Nachdem das passiert war, hat Fraktionsgeschäftsführer Rüttgers den Vorgang so kommentiert, daß sich abermals Fragen stellen. Er hat gesagt, die Kommission habe eine „Eigendynamik entwickelt." Was soll denn das heißen, Herr Rüttgers?
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Sie muß das ja.
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Es gibt einen Einsetzungsbeschluß vom 28. und 29. November 1991, der festlegt, daß diese Kommission aus Mitgliedern des Bundesrates und des Bundestages - nicht nur des Bundestages - besteht, und
der die Aufgaben festlegt. Ich will für die Sitzung heute abend wissen: Auf welcher Geschäftsgrundlage verhandelt die CDU/CSU-Fraktion eigentlich?
({4})
Die nächste Frage. Sie haben gesagt, die Kommission habe lediglich eine „Materialsammlung" zusammenzustellen. Was soll denn das in aller Welt heißen? Wozu sitzen wir stundenlang in Berichterstattergesprächen, wenn es im Einsetzungsbeschluß heißt, diese Kommission habe Grundlagen - Grundlagen, Herr Rüttgers! - für Beschlüsse zu schaffen, die wir - natürlich mit Ihnen zusammen - in diesem Hause zu fassen haben.
Ich denke, schließlich und endlich muß es im Interesse der CDU/CSU-Fraktion sein, daß sie der deutschen Öffentlichkeit eine Antwort darauf gibt, ob sie überhaupt ehrlichen Herzens an der Verfassungsdebatte beteiligt ist
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ober ob sie nur zu demonstrieren gedenkt: Wenn wir die Verfassungsdebatte schon nicht verhindern konnten, dann wollen wir sie doch so lahm wie möglich legen,
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oder, was mir in jener schlimmen Sitzung am 11. Februar ein Kollege der CDU/CSU-Fraktion triumphierend zugerufen hat: Wir wollten ja immer, daß hierbei nichts herauskommt. - Kann das die Absicht sein? Ich denke doch nicht. Ich hoffe, die CDU/CSU-Fraktion stellt das baldmöglichst klar.
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Wir kommen nun zur Abstimmung. Wer stimmt für den Aufsetzungsantrag der Fraktion der SPD? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist der Aufsetzungsantrag mit knapper Mehrheit abgelehnt.
Die Gruppe PDS/Linke Liste hat angekündigt, daß sie die Absetzung der Gesetzentwürfe zum Asylrecht von der heutigen Tagesordnung beantragen will. Wird dazu das Wort gewünscht? - Das Wort zur Geschäftsordnung hat die Kollegin Frau Andrea Lederer.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Namens der Gruppe PDS/Linke Liste beantrage ich die Absetzung des Tagesordnungspunktes 4 der sogenannten Asylfolgegesetze.
Zwei Argumente zur Begründung. Wir haben gestern ca. 150 Seiten auf den Tisch des Hauses bekommen. Nach § 78 Abs. 5 der Geschäftsordnung kann eine Beratung frühestens drei Tage nach Verteilung der Drucksachen stattfinden. Erneut - den letzten Fall gab es in der letzten Sitzungswoche - wurde gegen diese Regelung verstoßen. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit für eine Ausnahme von
dieser Frist, und das ist der sogenannte Gesetzgebungsnotstand und dringliche Gesetzentwürfe der Bundesregierung. Jetzt könnte man annehmen, daß Sie, meine Damen und Herren, hier eine analoge Anwendung vorschlagen, erstens die Dringlichkeit einfach behaupten und zweitens entsprechend dem schon verkündeten Staatsnotstand einen Gesetzgebungsnotstand ausrufen wollen. Wir wissen genau, daß dies mit zu den Methoden in dieser Debatte gehört. Wir wissen aber auch genau, daß dies natürlich nicht zutrifft.
Der Kontext ist nämlich ein anderer. Seit Wochen werden diese Gesetzentwürfe zwischen den großen Fraktionen beraten.
({0})
Sie werden all denjenigen schlicht vorenthalten, die mit einer anderen Auffassung in diese Debatte hineingehen, vorenthalten deshalb, um im Vorfeld sozusagen die Zustimmung abzusichern. Das ist ein Vorgehen, das nicht nur -
Frau Kollegin, einen Moment! - Meine Damen und Herren, ich darf darum bitten, daß hier ein bißchen mehr Ruhe herrscht. Wir haben heute auch in diesem Raum, glaube ich, ein paar akustische Probleme. Es scheint etwas schwer zu verstehen zu sein. Vielleicht kann man versuchen, den Regler etwas höher zu stellen. Sie, meine Damen und Herren, bitte ich, ein bißchen ruhiger zu sein und Platz zu nehmen oder Ihre Unterhaltungen vor dem Saal zu führen. - Herzlichen Dank.
Frau Kollegin, Sie haben wieder das Wort.
Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin. - Es liegt vor allem an dem Desinteresse in diesem Raum an diesen Fragen, glaube ich, aber das ist nun leider sozusagen charakteristisch für das Herangehen an diese Probleme.
Ich komme auf meine letzten Ausführungen zurück. Es geht darum, daß die Abgeordneten, die mit einer anderen Auffassung in diese Debatte hineingehen, schlichtweg in ihren Rechten als Abgeordnete ausgeschaltet werden sollen. Wir werden prüfen - das kündige ich hiermit bereits an -, inwieweit das überhaupt verfassungsrechtlich zulässig ist.
Diesem unhaltbaren Zustand, daß wir Gesetzentwürfe, die in diesem Land gravierende Veränderungen herbeiführen werden, einen Tag vorher auf den Tisch bekommen, muß endgültig ein Ende bereitet werden, insbesondere angesichts der Tatsache, daß wir hier wirklich eine absolut dramatische Veränderung der Rechtspolitik in diesem Lande vor uns sehen.
Ich komme damit zu unserem zweiten Argument. Die Absetzung muß auch deshalb erfolgen, weil die Regierungskoalition einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, der offenkundig im Widerspruch zur geltenden Verfassungslage steht.
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Nach wie vor gilt Art. 16 Abs. 2 Satz 2: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
Dieses Individualrecht soll ausgehöhlt werden. Aber es ist nach wie vor gültig. Es kann nicht angehen, daß die Bundesregierung, daß die Koalitionsparteien und mit ihnen leider auch die SPD den Bundestag und die Ausschüsse über Wochen mit offenkundig verfassungswidrigen Gesetzentwürfen beschäftigen.
({1})
Zunächst muß die Diskussion um die Frage des Art. 16 geführt und zu Ende geführt werden. Nach wie vor ist die Entscheidung darüber, ob es zu einer solchen Änderung kommt, offen. Bevor diese Fragen nicht ausreichend diskutiert, ausreichend beraten und vor allem die Betroffenen und Fachleute angehört sind, können nicht einfache Gesetze eingebracht werden, die offenkundig im Widerspruch zum geltenden Grundgesetz stehen.
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Deshalb stellen wir den Antrag auf Absetzung dieser beiden Punkte von der heutigen Tagesordnung.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Jürgen Rüttgers.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Was wir gerade erlebt haben, ist ein weiterer Schritt in einer langen Reihe von Verhinderungs- und Verzögerungsversuchen gegenüber dem Ziel, zu einer sachgerechten Regelung der Zuwanderung von Asylanten zu kommen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird diesen Antrag ablehnen. Die Neuordnung des Asylrechts, meine Damen und Herren, ist überfällig.
({0})
Die Entscheidung ist überreif. Weitere Verzögerungen darf es nicht geben. Der Handlungsdruck ist ungebrochen groß, und nach wie vor steigen die Asylbewerberzahlen: fast 32 000 im Dezember vergangenen Jahres, mehr als 36 000 im Januar, mehr als 38 000 im Februar. Meine Damen und Herren, dieses Parlament hat die Pflicht, den gefundenen Asylkompromiß jetzt in Gesetzesform zu gießen.
({1})
Ich finde es schon sehr bemerkenswert, daß kein Argument zu dumm ist, hier vorgetragen zu werden, um eine Verhinderung zu versuchen. Frau Kollegin Lederer, es war wirklich dümmlich, hier vorzutragen, daß diese Gesetzentwürfe nicht in erster Lesung - man höre: in erster Lesung - beraten werden könnten, bloß weil wir gleichzeitig bereits die Grundgesetzänderung in den Ausschüssen gemeinsam zu vereinbaren versuchen.
({2})
Wir lehnen den Antrag ab. Wir halten es für erforderlich, dieses Gesetzgebungsverfahren jetzt schnell zu Ende zu bringen.
({3})
Wir glauben, daß wir in der folgenden dreistündigen Debatte Gelegenheit haben, noch einmal alle Argumente auszutauschen, um dann in den Ausschüssen die endgültigen Gesetzestexte zu erarbeiten und noch vor der Sommerpause sowohl die Grundgesetzänderung als auch die Asylbegleitgesetze sowie auch gleichzeitig die Veränderung des Bundessozialhilfegesetzes hier zu beschließen.
({4})
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Struck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jedermann in unserem Lande konnte nachvollziehen
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- auch jede Frau, natürlich -,
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wie schwer sich die Sozialdemokraten mit diesem Asylpaket tun. Das wird ja auch in den Debatten im Deutschen Bundestag nach wie vor deutlich, weil wir im Gegensatz zur Fraktion der CDU/CSU auch denjenigen, die mit aus ihrer Sicht vernünftigen Gründen diesem Asylkompromiß nicht folgen wollen, Gelegenheit geben, hier zu reden.
Ich muß sagen, Herr Kollege Rüttgers: Ihre Qualifizierung des Beitrags der Kollegin Lederer ist unangemessen.
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Man redet über eine Kollegin und deren Argumente nicht mit dem Adjektiv „dümmlich".
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Trotzdem muß ich für meine Fraktion erklären, daß auch wir diesem Antrag nicht zustimmen werden. Es ist in der Tat wichtig, daß wir heute in erster Lesung die Asylbegleitgesetze beraten können. Denn was soll eigentlich Grundlage für die Beratungen im Innenausschuß und vor allem für die Beratungen in der Gemeinsamen Verfassungskommission sowie auch für die Anhörung der Experten sein, wenn wir nicht hier einen Text verabschieden?
Insofern ist der Antrag der PDS/Linke Liste in der Tat nur ein taktischer Antrag. Wer diesen Asylkompromiß nicht mittragen will - es gibt j a eine Reihe von Abgeordneten, von denen wir wissen, daß sie ihn nicht mittragen wollen -, der soll ihn nicht über Geschäftsordnungsmaßnahmen zu verhindern versuchen; der soll das in der Debatte hier erklären und dann auch in der zweiten und dritten Lesung entsprechend seinen Überzeugungen abstimmen können.
Deshalb werden wir diesen Antrag ablehnen.
({4})
Als nächster hat das Wort der Kollege Manfred Richter.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Lederer sprach von offenkundig verfassungswidrigen Texten, die in die Ausschüsse gelangen würden. Ich will hier ganz klar sagen: Es ist nicht an Debattenrednern im Deutschen Bundestag, schon gar nicht an Frau Lederer ({0}), festzustellen, was verfassungskonform und was verfassungswidrig ist. Das wird durch Gerichte festgestellt, durch das Bundesverfassungsgericht. Was wir hier an Gesetzgebung machen, stellt sich der Überprüfung durch Gerichte. Wir stellen uns dieser Überprüfung; denn die Gesetzgebungsarbeit ist ordentlich.
Was hier vorgeführt wird, ist ein Spiel auf Zeitgewinn. Diejenigen, die dieses Spiel auf Zeitgewinn betreiben, müssen wissen, daß sie sich auch an den Menschen versündigen, die auf Rechtssicherheit warten.
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Die Diskussion über dieses Thema ist über viele Monate kontrovers geführt worden. Die Argumente sind ausgetauscht, die Positionen bekannt. Diese Vorlage ist wahrhaftig reif für die erste Lesung. In einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren wird mit der gebührenden Sorgfalt dann die Detailarbeit zu leisten sein, damit endlich ein drängendes Problem gelöst werden kann. Unsere Bürger haben einen Anspruch darauf.
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Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Absetzungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist dieser Absetzungsantrag abgelehnt.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung asylverfahrens-, ausländer- und staatsangehörigkeitsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 12/4450 -Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({0}) Rechtsausschuß
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Leistungen an Asylbewerber
- Drucksache 12/4451 -Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie und Senioren ({1}) Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für diese gemeinsame Aussprache drei Stunden vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht der Kollege Erwin Marschewski.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kaum ein innenpolitisches Thema zeigt deutlicher als die Asyldebatte, daß Pavese recht hatte, als er bekanntermaßen formulierte: Politik ist die Kunst des Möglichen.
Blicken wir auf unser Asylverfahrensrecht zurück, so stellen wir fest, daß es permanent Änderungen unterlag, alle mit dem Ziel der Beschleunigung der Asylverfahren. Aber dieses Ziel, meine Damen und Herren, ist niemals erreicht worden. Warum? Die nahezu unscheinbare Verfassungsaussage in Art. 16 „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" hat durch höchstrichterliche Rechtsprechung eine Bedeutung erlangt, die nicht dem entsprach, was sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes damals darunter vorgestellt hatten. Jeder Ausländer, der sich auf politische Verfolgung auch nur beruft, gleichgültig, ob diese tatsächlich vorliegt oder nicht, meine Damen und Herren, hat das Recht auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland und auf langfristige Prüfung seines Vorbringens, auch wenn es völlig aussichtslos ist.
All denen, ich meine insbesondere die SPD-Kollegen, die nicht bewußt die Augen davor verschließen, ist deutlich, daß dies zur Krise des Asylverfahrens geführt hat. Denn zunehmend haben sich Ausländer unter mißbräuchlicher Berufung auf die politische Verfolgung den Beschränkungen für die Zuwanderung nicht unterzogen. Die Zahlen sind eindeutig. Im Februar kamen mehr als 38 000 Asylbewerber nach Deutschland. Die Anerkennungsquote war so niedrig wie niemals zuvor: 1,6 % der rund 35 000 Anträge sind anerkannt worden.
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Der einfache Gesetzgeber, d. h. die parlamentarische Mehrheit von Union und F.D.P., hatte nach der Verfassungslage keine Möglichkeit, diesen Mißbrauch zu verhindern.
Nicht diese Regierung, meine Damen und Herren, nicht die von ihr gemachte Politik haben versagt. Vielmehr war uns das Notwendige nicht möglich: die Verfassung zu ändern, wozu wir die Zweidrittelmehrheit brauchen, also auch die SPD.
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Heute stehen wir vor einer völlig neuen Situation. Nach dem Parteienkompromiß zum Asyl vom 6. Dezember 1992 konnten wir Ende Januar dieses Jahres den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Asylgrundrechts in erster Lesung hier beraten, und jetzt beraten wir die notwendigen Begleitgesetze, neben dem Asylverfahrensrecht auch das Asylbewerberleistungsgesetz und vor allen Dingen auch zum Teil das Staatsangehörigkeitsrecht.
Der vorliegende Entwurf zum Asylverfahrensrecht wurde in mehrtägigen Verhandlungen zwischen den Verhandlungsführern der Fraktionen von Union,
F.D.P. und SPD abgestimmt, und weitestgehend haben wir Einvernehmen erzielen können. Wir, die Union, und sicherlich auch die F.D.P. haben so weit wie in der Sache vertretbar Rücksicht auf die SPD-Fraktion genommen, nicht zuletzt bei dem heutigen Termin zur ersten Lesung. Wir haben dies getan, um den problembewußten Politikern in den Reihen der SPD die Möglichkeit zu geben, die innerparteilichen Kräfte, die einer Änderung des Asylrechts ablehnend gegenüberstanden, von der zwingenden Notwendigkeit einer Änderung der Asylrechtsbestimmungen zu überzeugen.
Ich habe als Verhandlungsführer Verständnis für die Situation der SPD-Kollegen gehabt. Ich habe - ungeachtet abweichender Auffassungen bei einigen Detailregelungen - ihr ernsthaftes Bemühen erkannt, den Asylkompromiß vom 6. Dezember vorigen Jahres ehrlich umzusetzen. Jetzt gilt es, die Gott sei Dank wenigen offenen Punkte in den Beratungen zu klären und im übrigen das baldige Inkrafttreten des neuen Asylrechts sicherzustellen.
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Sie wissen, meine Damen und Herren, das Asylverfahrensrecht knüpft an den neuen Art. 16 a des Grundgesetzes, den wir bereits im Januar eingebracht haben, an. Dies gilt zunächst einmal für die Asylanträge von Ausländern aus sicheren Herkunftsstaaten. Dafür wollen wir verkürzte Verfahren einführen. Es gilt weiterhin für Asylanträge von Ausländern, die über sichere Drittstaaten einreisen. Das heißt, wenn Ausländer aus diesen Staaten zu uns kommen, können sie sich nicht auf das Asylgrundrecht berufen. Es gilt vor allen Dingen, meine Damen und Herren, für die europäischen Asylrechtsregelungen, an denen wir zum ersten Mal gleichberechtigt teilhaben können.
Meine Damen und Herren, vier Bausteine sind für den Entwurf des neuen Asylverfahrensrechts wesentlich. Der erste Baustein sind Regelungen, die zum Ausschluß aus dem Asylverfahren führen. Das gilt grundsätzlich für Ausländer, die aus einem sicheren Drittstaat in die Bundesrepublik Deutschland einreisen. Sie werden unabhängig von Rechtsmitteln deswegen abgeschoben, weil sie ja bereits Schutz vor politischer Verfolgung gefunden haben.
Den zweiten Baustein bilden Verfahrensverkürzungen. Für Ausländer, die aus sicheren Herkunftsländern kommen, gilt die Vermutung, daß sie nicht politisch verfolgt sind. Wenn sie nicht Tatsachen und Beweismittel angeben, aus denen sich Gegenteiliges ergibt, wird ihr Antrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Gleiches gilt für Ausländer, die gröblich ihre Mitwirkungspflichten verletzen. Ich meine, wer hier Schutz sucht, von dem muß verlangt werden, daß er einem Minimum an Mitwirkungspflichten nachkommt.
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Dies gilt natürlich auch für die Offenbarung, aus welchem Drittland man kommt. Es ist doch zumutbar, sagen zu müssen, woher und über welches Transitland man in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist.
Der dritte Baustein sind Maßnahmen zur Verhütung von Mißbrauchsfällen. Wir haben das Datensystem AFIS bereits eingeführt. Sie wissen auch, daß sehr oft Asylbewerber bedauerlicherweise mehrfach Sozialhilfe bekommen, und das muß verhindert werden. Wir wollen weitere Mißbrauchsfälle ausschalten.
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Als vierten Baustein nenne ich die „Europafähigkeit" unseres Asylrechts. Wir können - und das ist erfreulich - das erste Mal an europäischen Vereinbarungen über die Zuständigkeit für Asylverfahren vorbehaltlos und gleichberechtigt teilnehmen. Damit ist insbesondere die volle Umsetzung des Schengener Abkommens gewährleistet. Dieses Schengener Abkommen stellt genau so wie unser Asylverfahrensrecht sicher, daß politisch Verfolgte wirklich Schutz in Deutschland finden.
Deswegen, meine Damen und Herren, ist eine Anzeige falsch, in der behauptet wird, der Bonner Asylkompromiß führe in die Irre. Es ist falsch, wenn dort steht, daß der Schutz der Menschen nicht gewährleistet sei, die um Leib und Leben fürchten müssen. Deswegen haben diejenigen unrecht, die dies unterschrieben haben: Herr Engelmann, Herr Giordano, Herr Günter Gaus, Herr Walter Jens, Herr Detlev von Larcher, Herr Friedrich Schorlemmer und andere.
Nicht der Bonner Asylkompromiß führt in die Irre, sondern solche Anzeigen führen in die Irre, weil sie die Unwahrheit sagen, meine Damen und Herren, und weil sie junge Menschen auf den falschen Weg führen.
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Ich sage noch einmal: Politisch Verfolgte genießen in diesem Land wie bisher Asylrecht.
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Nicht mehr geben wird es allerdings den Anspruch auf Schutzgewährung in einem bestimmten Land, z. B. in der Bundesrepublik Deutschland. Vielmehr können nach dem neuen Recht die durch den Asylbewerberzustrom entstehenden Lasten europäisch verteilt werden. Wir wollen keine Besserstellung Deutschlands, wir wollen nur eine Gleichstellung mit unseren europäischen Partnern. Dabei ist klar, meine Damen und Herren, daß wir unsere östlichen Nachbarn, die jungen, neuen Demokratien in Polen, in der Tschechischen Republik nicht im Stich lassen werden. Das ist für uns doch selbstverständlich.
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Aber wir können diese Staaten nicht auf Dauer aus ihrer Pflicht entlassen. Wer sich der Europäischen Gemeinschaft nähert, der muß bereit sein, auch Probleme im Rahmen seiner Möglichkeiten lösen zu helfen.
Deshalb begrüße ich die neulich gemachte Äußerung des polnischen Präsidenten Walesa. Er hat folgendes gesagt:
Wir
- er meinte die Polen wollen nicht zulassen, daß Deutschland durch ein Überangebot von Flüchtlingen destabilisiert wird, wir müssen Deutschland vor Wirrwarr schützen.
Meine Damen und Herren, der polnische Präsident hat offensichtlich mehr als andere erkannt, worum es geht. „Wir müssen Deutschland vor Wirrwarr schützen" , sagte der polnische Präsident.
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Er sagte weiter: „Wir dürfen aber auch nicht zulassen, daß ... Polen destabilisiert wird". Ich habe dieser Bemerkung des Präsidenten nichts hinzuzufügen. Aber, meine Damen und Herren, ein Junktim zwischen Vereinbarungen mit Polen und dem Asylkompromiß oder zwischen Vereinbarungen mit der Tschechischen Republik und dem Asylkompromiß haben wir nicht beschlossen. Ich stelle dies noch einmal ausdrücklich fest.
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Ich stelle ein weiteres fest: Ich bedanke mich bei Bundesinnenminister Rudolf Seiters, insbesondere auch bei seinem Staatssekretär Dr. Vöcking, daß sie es - vielleicht sogar wider Erwarten - erreicht haben, daß wir mit Polen zurandekommen, daß die Polen erkennen, daß wir Probleme haben, daß sie aber auch erkennen, daß wir unserem Nachbarn helfen wollen. Gleiches wird sicherlich auch bezüglich der Tschechischen Republik und anderer Länder der Fall sein. Herzlichen Dank, Herr Bundesinnenminister.
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Meine Damen und Herren, ein Wort zu den sicheren Drittstaaten. Nach dem Entwurf gehören neben der Schweiz und Österreich auch Polen und die Tschechische Republik zu den sicheren Drittstaaten, also zu den Staaten, die politischen Flüchtlingen entsprechend den völkerrechtlichen Abkommen Schutz gewähren. Beide sollen neben Bulgarien und Rumänien sowie der Slowakischen Republik in die Liste sicherer Herkunftsstaaten aufgenommen werden, also in die Liste der Länder, die ihre eigenen Staatsangehörigen und andere nicht verfolgen. Wir werden, so meine ich - die Bitte geht auch an Sie, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion -, weiter prüfen müssen, ob wir diese Liste erweitern können.
Pressemeldungen zu diesem Bereich haben in der Vergangenheit nicht gerade zur Beruhigung beigetragen. Lassen Sie mich deswegen drei Punkte klarstellen.
Erstens. Das Gesetz wird weder eine „globale", vollständige Aufzählung der sicheren Drittstaaten vornehmen, noch wird es global alle verfolgungssicheren Herkunftsländer benennen. Dies ist, so meine ich, nicht Aufgabe des deutschen Gesetzgebers.
Zweitens. Die Einbeziehung bestimmter Länder in die Listen setzt eine umfassende Prüfung der dortigen Situation voraus. Dabei ist es richtig, daß wir uns Erkenntnisse z. B. des Hohen Flüchtlingskommissars oder der Menschenrechtsorganisation Amnesty International zu eigen machen. Ich meine, dies ist selbstverständlich.
Drittens. Nach den bisherigen Ergebnissen der Prüfung halten wir es für richtig, in die Liste der sicheren Herkunftsstaaten auch Ghana und Indien sowie gegebenenfalls Gambia und Senegal aufzunehmen. Bei der Liste der sicheren Drittländer halten wir die Einbeziehung auch der skandinavischen Länder, der Slowakischen Republik und Ungarns deswegen für angezeigt, weil dort eben keine politische Verfolgung herrscht und viele über diese Länder unbegründet in die Bundesrepublik Deutschland kommen.
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Richtig ist, daß auch auf dem Luft- und dem Seeweg aus Nichtanrainerstaaten Asylbewerber zu uns kommen, die bereits im Transitland Schutz vor Verfolgung gefunden haben. Das sollte uns, so meine ich, jedoch nicht Veranlassung geben, die Liste sicherer Drittstaaten aufzublähen.
Deswegen erscheint es mir sinnvoller, für Asylbewerber, die aus sicheren Herkunftsstaaten auf dem Luftweg zu uns kommen, dort, wo dies möglich ist, eine Unterbringung auf dem Flughafen vorzusehen, so daß ihr Antrag vor der Einreise geprüft werden kann. Das hat den Vorzug, daß diese Personen - unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und ohne besondere bilaterale Vereinbarungen - in das Land des Abflughafens zurückgeführt werden könnten, falls ihnen ausnahmsweise nicht doch Asyl zu gewähren ist. Es geht, um dies klar zu sagen, nur um sichere Drittstaaten, um Nichtverfolgerstaaten. Meine Damen und Herren, Sie wissen, daß in den Niederlanden eine ähnliche Regelung besteht. Die Niederlande sind doch wahrhaftig ein demokratischer Staat, in dem man sich sicherlich bemüht hat, auch die Asylfrage vernünftig zu regeln.
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Der Ihnen vorliegende Entwurf für ein Gesetz zur Änderung asylverfahrens-, ausländer- und staatsangehörigkeitsrechtlicher Vorschriften befaßt sich - der Name sagt es ja - nicht allein mit asylrechtlichen Bestimmungen. Im Geiste der am 6. Dezember des vergangenen Jahres getroffenen Vereinbarungen werden vielmehr alle damals als regelungsbedürftig anerkannten Elemente berücksichtigt. Wir wollen die Situation der Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge gesetzlich regeln. Ich finde es gut, daß dieses Land wegen der Not der Menschen im ehemaligen Jugoslawien so viele Bürgerkriegsflüchtlinge von dort aufgenommen hat, sehr viel mehr als andere Länder. Wir wollen diesen Menschen hier einen besonderen Status geben.
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Ich halte dies aus asylverfahrensrechtlichen Bestimmungen, insbesondere aber aus menschlichen Gründen für richtig. Hoffen wir, daß dieser furchtbare Krieg endlich sein Ende findet.
Ein weiterer Bereich muß kurz angesprochen werden, der Bereich des Staatsangehörigkeitsrechtes. Ich weiß, daß in diesem Bereich nicht alle Wünsche der Kolleginnen und Kollegen erfüllt worden sind. Ich sage Ihnen aber: Wir behandeln im Augenblick nur eine Teilnovellierung dieses Rechtsbereichs. Wir werden uns bei Gelegenheit den gesamten Bereich ansehen und sicherlich vernünftig regeln. Ich weiß genauso wie Sie, daß das Staatsangehörigkeitsrecht aus dem Jahre 1913 stammt.
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- Es gibt auch gute Gesetze aus dieser Zeit; ich denke z. B. an das Bürgerliche Gesetzbuch aus dem Jahre 1900.
Meine Damen und Herren, das permanente Nachschieben von neuen Wünschen dient nicht der Sache. Dies gilt - ich sage das ausdrücklich - für die immer undifferenzierter erhobene Forderung nach genereller Einführung der doppelten Staatsangehörigkeit.
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Minister Stoiber, meine Damen und Herren, hat das Problem plastisch so dargestellt: „Wo soll ein Kroate mit deutscher Staatsangehörigkeit seinen Wehrdienst ableisten?" Er sagte weiter: „Nicht abzusehen wären z. B. auch die außenpolitischen Konsequenzen für Deutschland, wenn im ehemaligen Jugoslawien deutsche Kroaten und deutsche Bosnier gegen deutsche Serben kämpften. "
Deswegen, meine Damen und Herren, stelle ich in Übereinstimmung mit Minister Stoiber fest: „Die Staatsangehörigkeit ist das Bekenntnis der Zugehörigkeit zu einer Nation."
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Ist, meine Damen und Herren, diese Feststellung denn wirklich eine Besonderheit?
Eine Zwischenfrage des Kollegen Wiefelspütz, danach eine Zwischenfrage des Kollegen Hirsch. Sie lassen beide zu? - Bitte, Herr Wiefelspütz.
Herr Kollege Marschewski, meinen Sie nicht wie ich, daß es dringend erforderlich ist und Sinn macht, das deutsche Staatsbürgerschafts-, das deutsche Einbürgerungsrecht durchaus auch im Interesse der deutschen Gesellschaft den gewandelten Verhältnissen in Deutschland anzupassen? Glauben Sie nicht, daß es einfach ein Gebot der Vernunft ist, hier endlich zu handeln?
Ich bedanke mich herzlich, Herr Kollege Wiefelspütz, für diese Frage. Ein Gebot der Vernunft ist es natürlich auch, Gesetze zu lesen. Ich verweise auf § 87 des Ausländergesetzes. Es ist nicht so, daß eine doppelte Staatsangehörigkeit in Deutschland nicht möglich wäre. Eine doppelte Staatsangehörigkeit ist z. B. möglich, wenn das Recht des Heimatstaates das Ausscheiden aus der bisherigen Staatsbürgerschaft nicht vorsieht, wenn dies der Heimatstaat regelmäßig verweigert, wenn er dies willkürlich versagt oder wenn die Forderung nach Entlassung aus der bisherigen Staatsangehörigkeit eine unzumutbare Härte bedeuten würde. Ich bitte, einmal das Gesetz zu lesen. Damit können wir im Augenblick zumindest alle problematischen Fälle lösen. Ich will nur nicht, daß die doppelte, die dreifache Staatsangehörigkeit zur Regel wird, meine Damen und Herren.
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Die zweite Zwischenfrage, Herr Kollege Hirsch.
Lieber Herr Kollege Marschewski, ist es nicht so, daß wir in der Bundesrepublik schätzungsweise weit über 100 000 Doppelstaatler schon deswegen haben, weil sie Eltern verschiedener Nationalität haben, und daß sie so wenig Probleme bereiten, daß wir sie statistisch nicht einmal zählen? Ist es in Wirklichkeit nicht so, daß Sie die Doppelstaatsangehörigkeit deswegen fürchten, weil Sie nicht wollen, daß diese Menschen in Deutschland ein Wahlrecht bekommen?
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Herr Kollege Dr. Hirsch, wir fürchten überhaupt nichts. Wir haben Art. 28 des Grundgesetzes geändert, weil wir wollen, daß Ausländer aus dem EG-Bereich hier wählen können. Ich möchte auch, daß Deutsche dann in den EG-Staaten wählen können. Das ist doch der Witz dabei, Herr Kollege Dr. Hirsch.
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Es gibt noch eine Bitte um eine Zwischenfrage, und zwar vom Kollegen Dr. Ullmann.
Ja, gerne.
Herr Kollege Marschewski, kann man sich trotz verschiedener Konfessionen darauf einigen, daß Bekenntnisfragen in den Bereich des Glaubens und darum der Theologie gehören, nicht in den Bereich des Staatsbürgerrechts?
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Herzlichen Dank für diese Frage. Mit dem theologischen Bereich kommen wir bestimmt zurecht. Ich glaube, daß wir beide als Protestanten und Katholiken gemeinsam einen Weg zu vernünftigen politischen Ergebnissen gehen werden. Herzlichen Dank, Herr Kollege!
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Lassen Sie mich abschließend festhalten: Die Novellierung des Asyl- und Ausländerrechts - das ist ein ganz wichtiger Punkt, vielleicht wichtiger als der Punkt, den Sie, Herr Dr. Ullmann, genannt haben; darum sollten Sie den Gesetzen eigentlich zustimmen - liegt gerade im Interesse der wirklich politisch Verfolgten.
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Weil unser jetziges Asylrecht in Hunderttausenden von Fällen mißbraucht wird, ist auch die Aufnahmebereitschaft unserer Bevölkerung gegenüber den Asylbewerbern gesunken.
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Andererseits haben die Lichterketten und die große Hilfsbereitschaft gegenüber den Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien gezeigt, daß die Deutschen ausländerfreundlich sind. In unserem Land leben mehr ausländische Mitbürger als anderswo. Wir
haben erheblich mehr Menschen als andere Nationen aus dem ehemaligen Jugoslawien aufgenommen.
Ich habe mit vielen ausländischen Mitbürgern gesprochen, vielleicht mit mehr Menschen als manche Theoretiker hier im Hause. Ich habe kaum Menschen gefunden, die sich ausdrücklich z. B. für eine doppelte Staatsangehörigkeit interessieren.
Zum Schluß, meine Damen und Herren: So, wie es uns gelingt, den Mißbrauch des Asylrechts einzudämmen, so wird sich die Einstellung unserer Bürger auch gegenüber vielen Asylbewerbern zum Positiven wenden. So wird vor allen Dingen den Rechtsextremisten der Wind aus den Segeln genommen werden, und so wird Schaden von dieser Demokratie abgewendet.
Ich bedanke mich.
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Als nächster hat der Kollege Gerd Wartenberg das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Asyldiskussion in der Bundesrepublik Deutschland ist traditionell schrill. Moralische Grundpositionen, pragmatisches Handeln, Übertreibung und Demagogie stehen häufig unvermittelt nebeneinander. Die schrillen Auseinandersetzungen sind häufig genug nicht nur auf der Ebene der Politik zu finden, sondern auch in der veröffentlichten Meinung. Diese Form der Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland hat häufig genug den Blick für die Realitäten verstellt.
Zahllose Asylverfahrensgesetzänderungen, Verwaltungsvereinbarungen, Konferenzen auf nationaler und internationaler Ebene zeugen davon, unter welchem Druck sich die Industriestaaten durch die erst jetzt beginnende große Wanderung fühlen. Hinter flammenden moralischen Appellen, Teillösungen oder angeblichen Patentlösungen schimmert doch immer nur die Ratlosigkeit durch, wie mit diesem säkularen Problem umzugehen sei. Dessen müssen wir uns bewußt sein, auch wenn wir über Teillösungen, zu denen ich stehe, streiten. Wer sich dieser Herausforderung nicht stellt, wird auch in der Vermittlung dieses Problems in der Öffentlichkeit scheitern.
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In der Bundesrepublik Deutschland haben wir immer mit einem Dilemma gelebt und dieses Dilemma verdrängt. Die eine Seite war dabei ein großartiger Verfassungsanspruch, nach dem politisch Verfolgte Asylrecht genießen. Dieser universelle individualrechtliche Anspruch für jedermann sollte die Bundesrepublik Deutschland deutlich von der Vergangenheit abheben. Auf der anderen Seite ist dieser universelle Anspruch niemals voll akzeptiert worden. Er ist immer eingegrenzt worden; nur haben wir es verdrängt. Jeder wußte: Würde der universelle Anspruch eingelöst, würde das Asylrecht nicht mehr funktionieren. Deswegen hat es immer Visumspflichten gegeben. Allein die Tatsache der Visumspflicht war immer auch
Gerd Wartenberg ({1})
ein Element des Ausschlusses von diesem Grundgesetzartikel.
Ich will auch konkretisieren, wie dies verdrängt wurde. Als Mitte der 80er Jahre in der Türkei Hunderttausende - manche sprechen von eineinhalb Millionen - iranischer Flüchtlinge festsaßen, die wegen der europäischen Visumsbestimmungen nicht mehr herauskamen, hat zwar manch einer abstrakt zugegeben, daß unsere Visumspolitik ein Problem sei, aber weder in irgendeiner Partei noch in diesem Parlament noch in einer Kirchenversammlung noch in einer Gewerkschaftsversammlung, wo auch immer man sich abstrakt für die Einhaltung des Asylrechts eingesetzt hat, ist einmal ein konkreter Antrag gestellt worden, unter diesen Bedingungen die Visumspflicht für die Türkei aufzuheben. Das Gegenteil war der Fall: Als auf Grund von europäischen Verpflichtungen die Frage aufkam, ob die Türkei wegen 25jähriger Zugehörigkeit zu den Römischen Verträgen Visumsfreiheit bekommen solle, haben alle dafür gesorgt, daß sie nicht die Visumsfreiheit bekam, und zwar unter der Erkenntnis des stillschweigenden Konsenses, daß eine ungesteuerte Wanderungsbewegung dieses Land oder auch andere Länder überfordern würde. Nur sehr wenige haben sich diesem Dilemma jemals offen gestellt.
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Das muß deswegen gesagt werden, weil die Verfassungsänderung - so problematisch sie manchen erscheinen muß - nichts weiter als ein Ausdruck dieses Dilemmas ist. Ich werde das nachher noch konkretisieren.
Herr Kollege Wartenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hirsch?
Im Moment bitte nicht, später.
Meine Damen und Herren, dieses Dilemma der Visumspflicht, dieses Dilemma des Versuchs der Begrenzung schon in den Herkunftsländern, wo es uns scheinbar nicht weh tut, wobei man sich gleichzeitig in dem Wohlgefühl sonnte, daß bei uns das Verfassungsrecht phantastisch sei, ist einer der Widersprüche, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen.
Es hat ein einziges Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eine konkrete Diskussion gegeben, dieses Dilemma aufzubrechen. Das war im letzten Jahr, als die Visumsbestimmungen gegen Bosnien eingeführt wurden. Damals ist das erste Mal konkret darüber gesprochen worden, daß es falsch wäre, bei der besonderen Situation in einem Land die Visumspflicht einzuführen.
Ich bitte alle, die sich mit vertretbaren moralischen Positionen gegen jede Änderung der Verfassung sträuben, sich darüber im klaren zu sein, daß unser Verfassungsartikel letzten Endes immer mehr versprochen hat, als er halten konnte und in Wirklichkeit halten durfte.
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Jeder war sich darüber im klaren, daß das sonst nicht funktionieren würde.
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Meine Damen und Herren, wir haben diese Form der Verdrängung der Auseinandersetzung lange betreiben können. Seit 1989 ist das nicht mehr möglich.
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Das Problem ist nicht mehr weit weg, sondern hier vor der Tür, bei unseren Nachbarstaaten. Die bequeme Situation, der manche nachtrauern, weil der wirkliche Cordon sanitaire, nämlich der Ostblock, weggefallen ist, hinter dem man sich auch in der Frage der Wanderung und des Asyls verstecken konnte, besteht nicht mehr.
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Sich diesem Dilemma nicht zu stellen und sich mit dieser Problematik nicht auseinanderzusetzen führt nicht zu einer Lösung, sondern verschärft letztendlich auf Dauer die Probleme.
Seit 1989 - das ist eben auch die Besonderheit - haben wir es mit einer europäischen Wanderung zu tun. 80 % unserer Asylbewerber sind Europäer, davon nach den letzten Zahlen ein ganz geringer Anteil bosnischer Bürgerkriegsflüchtlinge. Dieser Anteil innerhalb der europäischen Wanderungsbewegung wird immer überschätzt.
Es gibt verschiedene Versuche - ein Patentrezept gibt es überhaupt nicht -, Wege zu finden, wie eine Begrenzung der Wanderung, auch unter Berufung auf das Asylrecht, zu bewerkstelligen ist; denn eines ist ja sehr merkwürdig: Mit wem auch immer man spricht, jeder sagt, mit den Wanderungsbewegungen könne es auf Dauer so nicht weitergehen. Eine Zuwanderung von 450 000 Asylbewerbern und 600 000 anderen Zuwanderern in einem Jahr wird allgemein als auf die Dauer nicht verkraftbar empfunden. In dem Augenblick aber, in dem man konkrete Schritte anbietet und dieses Dilemma offenbaren muß, nämlich politisch Verfolgten möglichst zu helfen, gleichwohl aber die Wanderung, die sich auch darunter verbirgt, zu steuern, wird die Diskussion außerordentlich schwierig, und viele entziehen sich dann den damit verbundenen Problemen.
Nun gibt es die Drittstaatenlösung, die jetzt so offenkundig - man kann fast sagen, brutal - in der Verfassungsformulierung dieses Dilemma offenbart. Da ist nämlich Satz 1: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht", und danach kommt der Ausschluß von Asylbewerbern aus sicheren Drittstaaten. Diese Drittstaatenlösung ist letztlich nur der Versuch, einen Weg zu finden, andere Staaten mit in die Verpflichtung zu nehmen, das Problem dieser großen Wanderungsbewegung gemeinsam verantwortlich zu lösen. Es ist kein Totalausschluß vom Asylrecht, und das werde ich im einzelnen dann noch darstellen.
Lassen Sie mich zur Philosophie der Drittstaatenregelung etwas sagen. Im Schengener Bereich, unter den westeuropäischen Staaten, wurde sie aufgrund folgender Überlegungen entwickelt und durchgesetzt: Wenn die Grenzen wegfallen, ist es zwingend nötig, gemeinsame Regelungen für Asylbewerber
Gerd Wartenberg ({4})
bindend festzulegen. Eine derartige gemeinsame Verantwortlichkeit ist übrigens auch im Vorgriff auf eine spätere materiell-rechtliche Harmonisierung in Europa notwendig.
Diese Philosophie ist logisch. Sie ist nicht von vornherein, wie es häufig gesagt wird, menschenfeindlich, sondern sie ergibt sich daraus, daß Grenzen zwischen unseren westeuropäischen Staaten nicht mehr existieren und daß wir einen gemeinsamen Asylraum haben, wo jedes Land seine Zuständigkeit für Menschen, die bei ihm einreisen und Asyl suchen, auch ausfüllen muß und keiner ein Land wegen bestimmter Besonderheiten mit den Lasten des Problems allein lassen kann. - Viele stimmen dem übrigens, bezogen auf Westeuropa zu, weil sie das Gefühl haben: Na ja, Westeuropa und europäische Einigung, das ist ja wohl notwendig und sinnvoll.
Probleme gibt es - und nicht zu Unrecht - damit, daß jetzt Polen und die Tschechische Republik in diesen Drittstaatenmechanismus hineingenommen werden. Es ist ein objektives Problem, eine Regelung, für die man in Westeuropa ja immerhin fünf Jahre gebraucht hat, um sie zu erreichen - bei gleichem sozialen Standard! -, jetzt in kurzer Frist bezogen auf andere Länder durchzusetzen, deren gesellschaftlicher und sozialer Standard nicht dem im westeuropäischen Bereich entspricht.
Auch ich, der ich den Kompromiß trage, sage offen - und ich bitte auch alle, die diesen Kompromiß tragen, dies nicht zu verschleiern -, daß es ein ganz dramatisches Problem ist und daß wir uns vernünftige Regelungen überlegen und sie durchsetzen müssen, damit dieser Mangel kompensiert wird.
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An dieser Stelle muß es aber auch eine Einschätzung geben, wie denn eine solche Drittstaatenregelung wirkt. Drittstaatenregelung heißt, daß der Staat, der einen Asylbewerber abgibt, dem Staat, der aufnehmen soll, bei jedem einzelnen Fall nachweisen muß, daß dieser Staat dafür zuständig ist. Das führt zu einer automatischen Begrenzung der Wirksamkeit. Auch darüber muß sich jeder im klaren sein. Nicht verantwortbar ist, wenn manche heute davon reden, dies sei eine totale Abschottung der Bundesrepublik Deutschland. Allein schon von der faktischen Wirksamkeit eines solchen Instrumentariums her trifft das nicht zu.
Ich will das wieder konkretisieren, und zwar am Beispiel Dänemark. Dänemark hat nach der Logik der Kritiker schon lange einen Cordon sanitaire; es hat nur eine Grenze zur Bundesrepublik und eine innerstaatliche Rechtslage, nach der ohne Verfahren Asylbewerber in die Bundesrepublik zurückgeschoben werden können. Das geschieht auch. Gleichwohl haben die Dänen nach der Meinung zahlreicher dänischer Politiker zu viele Asylbewerber. Das nur zur faktischen Wirkung des angeblichen Cordon sanitaire.
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Dies hat aber auch eine andere Bedeutung in den Verhandlungen mit Nachbarstaaten, die in die Drittstaatenregelung aufgenommen werden sollen. Wenn das so wirkt, wie ich es beschrieben habe, dann muß auch jeder wissen: Wenn es nicht zu gemeinsamen Vereinbarungen kommt, wird es überhaupt nicht funktionieren, denn der Drittstaat, der nicht damit einverstanden ist, daß ein anderes Land einseitig Regelungen trifft, wird immer die Möglichkeit haben, durch Infragestellung der Zuständigkeit jeden Fall der Rücknahme hinauszuschieben und hinauszuzögern. Das sage ich denjenigen, die meinen, wir bräuchten auf Polen oder auf die Tschechische Republik wenig Rücksicht zu nehmen. Ich meine, wir müssen grundsätzlich anständig mit allen Nachbarn umgehen. Aber die, die meinen, das nicht tun zu müssen, sollten mindestens wissen, daß sie faktisch anständig mit ihnen umgehen müssen, weil sonst trotz der Regelung eine Verweigerungshaltung dieser Länder eintritt, die zu überhaupt nichts führt!
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Dann läuft eine solche Verfassungsänderung voll ins Leere. Seien Sie sich dessen bewußt!
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Deswegen sage ich - und ich weiß, daß sich viele bei Ihnen dieser Problematik bewußt sind -: Lassen Sie das Gerede vom Junktim oder Nichtjunktim! Das können Sie sich in die Haare schmieren. Fakt ist: Ohne eine gemeinsame Regelung zwischen betroffenen Ländern wird nichts funktionieren! Deswegen hat die SPD recht.
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Seien Sie sich bitte dessen bewußt, und belästigen Sie die Öffentlichkeit nicht mit diesem Schaugeschrei, und sagen Sie es insbesondere dieser institutionalen Tröte Herrn Rüttgers, der nur noch außerordentlich lästig fällt und dessen Wirksamkeit in der Öffentlichkeit nur noch begrenzt ist.
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Meine Damen und Herren, die Drittstaatenregelung, die der Kernpunkt der Kritik an diesem Paket ist, muß so gewertet werden, wie ich sie eben dargestellt habe. Deswegen geht es auch nicht, wenn in der „Süddeutschen Zeitung" in der letzten Woche ein Journalist dieses Problem mit der Überschrift „Der zweite Überfall auf Polen" beschreibt. Das ist demagogisch und beschreibt nicht die Realität!
({11})
Denn wenn die Wirkung so ist, wie ich sie beschrieben habe, und damit der Zwang zur Einigung letztlich Voraussetzung ist, werden die Verhandlungen dazu führen, daß eine gemeinsame Verantwortlichkeit in Europa für die Wanderungsbewegungen auch im Bereich des Asyls erreicht wird.
Wir Sozialdemokraten setzen viel mehr als auf bilaterale Verträge auf multilaterale Abkommen mit unseren südöstlichen Nachbarn,
({12})
und ich hoffe, daß es in 60 Tagen gelingen wird, wie
man es sich vorgenommen hat, zwischen Ungarn,
Österreich, Slowakischer Republik, Tschechischer
Gerd Wartenberg ({13})
Republik, Polen und der Bundesrepublik gemeinsame Lösungsansätze zu finden. Denn multilaterale Abkommen, gemeinsame Verantwortlichkeiten sind allemal besser als bilaterale Verträge.
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Meine Damen und Herren, ein Punkt noch zur Drittstaatenregelung: F.D.P. und SPD, aber auch der Justizminister
({15})
gehen eindeutig davon aus, daß es dann, wenn einem Asylbewerber konkret ein Drittstaat nicht zugeordnet werden kann, keine Wahlzuordnung der Verwaltung geben kann, die vom Asylrecht ausschließt. Dies würde dem Abs. 1 des neuen Art. 16a - und der besteht wirklich noch - widersprechen. Ich habe alle Sachverständigengutachten überflogen, soweit sie seit gestern vorliegen. Selbst die, die den Kompromiß unterstützen, sind in dieser Frage eindeutig: Es muß ein Asylverfahren durchgeführt werden. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, machen Sie da keine Nachhutgefechte; Sie werden dafür keine Mehrheit finden. Auch würde es die öffentliche Diskussion in vernünftige Bahnen lenken, wenn wir von vornherein sagen, daß wir so verfahren wollen, zumal diese Menschen eh niemals abgeschoben werden können, weil man dem Drittstaat die Verantwortung nicht übertragen kann. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, der auch für die Akzeptanz des Asylrechts in seiner neuen Form von Bedeutung ist.
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Ich bitte diejenigen, die berechtigte oder akzeptable Kritik an den neuen Asylgesetzen üben, sich neben ihres hohen moralischen Anspruches auch immer des Dilemmas bewußt zu sein, in dem wir uns befinden: Der individuelle Rechtsanspruch gilt universell, d. h. in Wirklichkeit für alle, aber gleichwohl besteht die Notwendigkeit einer Steuerung der Wanderungsbewegung. Dies muß zumindest problematisiert werden. Dies muß auch derjenige anerkennen, der aus grundsätzlich moralischen und ethischen Gründen sagt: Ich will überhaupt nichts ändern.
Wenn wir diese Diskussion weiterführen, dann bitte ich alle hier im Hause, drei Grundsätze zu beachten:
Erstens. Ich bitte darum, daß wir die Anhörung ernst nehmen. Wir müssen für ernsthafte Vorschläge und für Hinweise auf Widersprüche in den jetzt vorgelegten Formulierungen offen sein, und wir müssen bereit sein, dann auch Änderungen an den Gesetzentwürfen vorzunehmen.
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Es kann nicht nur - wie häufig - ein Anhörungsverfahren „just for show" sein, wobei natürlich - das sage ich auch - überspitzte Formulierungen von Sachverständigen auch zurückgewiesen werden können. Wenn ich an das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz, das wir im letzten Jahr verabschiedet haben, denke und mir, die damalige Kommentierung in der Presse und durch Sachverständige angucke, dann muß das, was wir damals verabschiedet haben, „verfassungsrechtlicher Müll" gewesen sein. Nachdem das Gesetz in Kraft getreten ist, waren es aber
häufig genau dieselben Fundamentalkritiker, die gesagt haben: Erst einmal sollte dieses neue ordentliche Instrumentarium angewandt werden, und eine Verfassungsänderung brauchen wir nicht. - Soviel zu dem immer schnell erhobenen Vorwurf, ein Vorhaben sei verfassungswidrig.
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Kollege Wartenberg, Sie haben die Redezeit sehr weit überschritten.
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Ich nenne einen zweiten Punkt, den wir beachten müssen: Unser Ausländerrecht ist antiquiert. Ein moderner Staat kann sich ein solches Ausländerrecht nicht erlauben. Einbürgerung, Doppelstaatsangehörigkeit und Ablösung des Jus sanguinis sind dringend notwendig.
Ich nenne einen dritten und letzten Punkt. Wir haben gemeinsam eine Bürgerkriegsregelung erarbeitet. Haben wir den Mut, sie auch anzuwenden!
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Bund und Länder müssen sich, wenn solche Krisenfälle vorliegen, dann auch wirklich darüber einigen, daß Leute auf Grund dieser Regelung aufgenommen werden.
Recht herzlichen Dank.
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Als nächster spricht der Kollege Jörg van Essen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die F.D.P. steht zu dem Asylkompromiß vom 6. Dezember 1992 und zu dessen schneller Umsetzung sowohl in der Verfassung als auch in den einfachen Gesetzen. Der Asylkompromiß war und ist ein Beispiel dafür, daß dringende politische Probleme in einer gemeinsamen Anstrengung vieler Demokraten einer Lösung zugeführt werden können, und er muß dies bleiben.
Teile der SPD versuchen leider immer wieder, nicht nur die notwendigen Regelungen für eine bessere Steuerung der Zuwanderung zu hintertreiben. Wir mußten es als Verhandlungsführer mehrfach erleben, daß unsere Kollegen aus der SPD nach durchgehend konstruktiven Gesprächen - ich danke Ihnen dafür ausdrücklich - und einer Einigung immer wieder Nachbesserungswünsche vortragen mußten, und das Spiel hat leider noch kein Ende. Seit Dienstag wissen wir, daß die SPD das einvernehmlich verabredete Asylbewerberleistungsgesetz nicht mit einbringen wird.
Wer sich von der im Asylkompromiß klipp und klar vereinbarten deutlichen Absenkung der bisherigen finanziellen Zuwendungen an Asylbewerber und der Umstellung auf Sachleistungen verabschieden will, trägt die Verantwortung dafür, daß die Anziehungs12290
kraft der Bundesrepublik Deutschland auf Wirtschaftsflüchtlinge unverändert hoch bleibt.
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Wie hoch sie noch immer ist, zeigt der erneute starke Anstieg der Asylbewerberzahlen; sie stiegen in den beiden ersten Monaten dieses Jahres um 20 %.
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Wer so handelt, ist ferner in der Verantwortung dafür, daß Schlepperbanden weiter ihrem einträglichen Geschäft nachgehen können und daß Menschen, die schon Opfer der wirtschaftlichen Verhältnisse in ihren Heimatländern geworden sind, ein zweites Mal zu Opfern dieser organisierten Kriminalität werden.
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Wie brutal hier vorgegangen wird, zeigen die sich steigernden Überfälle, die aus diesem Umfeld in den letzten Wochen in Deutschland gegen Landsleute - ich nenne nur das Beispiel Schwerte in Nordrhein-Westfalen - in Asylbewerberunterkünften begangen worden sind.
Niemand gebe sich der Hoffnung hin, er könne mit taktischen Spielchen und Verzögerungen die hessischen Kommunalwahlen am Wochenende positiv beeinflussen.
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Vielleicht kann er den einen oder anderen Wähler dazu bewegen, statt grün rot zu wählen. Aber fünf oder sechs andere werden dafür zur Beute der rechtsextremen politischen Rattenfänger, die nichts als Scheinlösungen zu bieten haben.
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Er behindert darüber hinaus auch die schnelle Umsetzung der für unsere ausländischen Mitbürger wichtigen und günstigen rechtlichen Regelungen.
Für mich hat dabei die Schaffung eines eigenen Status für Bürgerkriegsflüchtlinge erste Priorität. Tagtäglich erreichen uns neue Schreckensmeldungen über Greueltaten und Folterungen in den Bürgerkriegsgebieten des ehemaligen Jugoslawien. Diese Menschen werden aus für die Kommunalbehörden naheliegenden finanziellen Gründen heute noch häufig in das Asylverfahren gedrängt, in das sie nicht hineingehören. Ihre Stellung ist nun deutlich besser und sicherer als die einer Person, die Asyl beantragt. So kann z. B. die Ausübung einer Erwerbstätigkeit nicht verboten werden.
Aber auch dem Ziel einer besseren Steuerung der Zuwanderung werden die vorgesehenen Regelungen in diesem Bereich gerecht. Ob und wie viele Bürgerkriegsflüchtlinge aus welchen Gebieten aufgenommen werden, ist eine freie politische Entscheidung. Wir werden uns dabei unserer besonderen Verantwortung bewußt sein und uns dementsprechend verhalten. So haben wir etwa auch in der Vergangenheit - anders als unsere europäischen Nachbarn - besonders viele Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Balkan bei uns aufgenommen. Das unwürdige Spiel, als sich Großbritannien weigerte, selbst eine geringe Zahl von frierenden, auf einer Paßstraße wartenden alten Menschen und Kindern aufzunehmen, hat es in diesem Land nicht gegeben.
Wer die Umsetzung des Asylkompromisses verzögert, behindert auch die Verbesserung der Einbürgerungsmöglichkeiten für die hier lebenden ausländischen Mitbürger. Wer - wie ich - aus dem Ruhrgebiet kommt, weiß, wie klug und schnell unser Land die Einbürgerung und damit die Integration der polnischen Arbeitskräfte und ihrer Familien vollzogen hat, die um die Jahrhundertwende zum Aufbau der Industrie in unser Land geholt worden sind.
Neben der Schaffung eines Rechtsanspruchs auf Einbürgerung bei bestimmten Voraussetzungen ist für mich der Wegfall des Grundsatzes der Familieneinheitlichkeit besonders wichtig. Die Kinder aus der dritten Generation haben eben häufig keine oder nur noch sehr schwache Bindungen an die Heimat ihrer Eltern oder Großeltern und sind eher als diese zu einer Einbürgerung bereit. Sie können sich nun freier entscheiden, wobei die Entscheidung durch eine deutliche Absenkung der Gebühren und der Anforderungen an die sogenannte Unbescholtenheit zusätzlich erleichtert wird.
Bei der Ausfüllung des durch Art. 16a des Grundgesetzes gegebenen Rahmens haben wir eine Fülle von Einzelregelungen vorgesehen, auf die in dieser Debatte nicht vollständig eingegangen werden kann. Ansprechen möchte ich zunächst den grundsätzlichen Ausschluß vom Asylverfahren für diejenigen Ausländer, die aus einem sicheren Drittstaat einreisen oder eingereist sind. Der Asylkompromiß vom 6. Dezember 1992 hat die Schweiz, Österreich, die Tschechische Republik und Polen bereits als sichere Drittstaaten benannt. Eine Einigung mit der SPD über weitere Staaten war leider noch nicht zu erreichen. Nach meiner Auffassung sollten auch die skandinavischen Länder, die Slowakei und Ungarn dazukommen.
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Die Drittstaatenlösung - der Kollege Wartenberg ist ja darauf eingegangen - hat besondere Kritik von bestimmten Gruppen erfahren. Dabei wird übersehen, daß wir auch in Zukunft durchaus Asylbegehren zu prüfen haben werden, auch wenn der Asylbewerber aus einem sicheren Drittstaat eingereist ist. Immer dann nämlich, wenn wir nicht nachweisen können, aus welchem konkreten Drittstaat die Einreise erfolgt ist, kommen wir an einer solchen Prüfung nicht vorbei.
Im Gegensatz zu den Kollegen aus der Union sind wir mit der SPD der Auffassung, daß einer Person, die dabei als politisch verfolgte Person festgestellt wird, Asyl und nicht nur der Status nach der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt werden sollte.
Die Verhandlungen mit Polen und der Tschechischen Republik werden intensiv geführt. Ich warne alle, die nachträglich ein Junktim zwischen dem
Abschluß dieser Verträge und der Verabschiedung herstellen wollen.
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Ein solcher Zusammenhang ist bei den Verhandlungen über den Asylkompromiß ausdrücklich ausgeschlossen worden. Ich bitte nachdrücklich darum, die Verhandlungsposition der Bundesregierung bei den Verhandlungen mit unseren Nachbarstaaten nicht durch die Herstellung eines solchen Junktims zu erschweren.
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Ich bin übrigens sicher, daß die Abkommen rechtzeitig vorliegen werden. Deutschland hat sich mit dem Angebot der Hilfe an diese Nachbarstaaten korrekt und vernünftig verhalten, und ich bin sicher, daß die Verhandlungen in diesem Geiste geführt werden und rechtzeitig abgeschlossen sein werden.
Herr Kollege van Essen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wiefelspütz?
Im Augenblick nicht. Vielen Dank! - Sichere Herkunftsstaaten sind solche, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung stattfinden.
Wir haben aus gutem Grund davon abgesehen, eine vollständige Liste dieser Staaten aufzustellen. Zwei Kriterien waren für die Betrachtung und für die Aufnahme in die Liste entscheidend: auf der einen Seite eine besonders hohe Zahl von Bewerbern und auf der anderen Seite eine besonders niedrige Anerkennungsquote. Die Verhandlungsführer sehen diese Voraussetzung für Rumänien und Bulgarien als gegeben an. Weitere Staaten - auch außerhalb Europas - werden zu prüfen sein, insbesondere solche, bei deren Staatsangehörigen eine niedrige Anerkennungsquote festzustellen ist, welche aber im Bereich der schweren und schwersten Kriminalität, etwa im Drogenhandel, besonders aktiv sind.
Die Ausgestaltung des durch Art. 16a Grundgesetz in diesen Fällen ermöglichten verkürzten gerichtlichen Verfahrens hat uns in den Verhandlungen lange und intensiv beschäftigt. Wir halten an dem Ziel einer Entscheidung durch den obligatorischen Einzelrichter in einer Woche fest, ermöglichen es aber nun der Kammer des Verwaltungsgerichts, bei Vorliegen von schwerwiegenden Gründen die Entscheidungsfrist um jeweils eine Woche zu verlängern. Nur mit raschen gerichtlichen Entscheidungen kann die Voraussetzung für eine schnellere Abschiebung geschaffen werden.
Der Hinweis auf die Abschiebung macht deutlich, daß die Umsetzung des Asylkompromisses nicht nur von den hier zu verhandelnden Regelungen - wir als Bundesgesetzgeber haben unsere Arbeit sorgfältig und schnell erledigt - sondern auch von der Bereitschaft der Länder abhängt, ihren Beitrag zu leisten.
Ich werde sorgfältig beobachten, ob die erforderlichen 500 Verwaltungsrichter und etwa 1 500 nichtrichterlichen Hilfskräfte ebenso zügig eingestellt werden, wie die tatsächlichen Voraussetzungen für eine schnellere und effektivere Abschiebung geschaffen werden. Die Länder sind hier in einer besonderen Pflicht.
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Nur durch gemeinsames verantwortungsvolles Handeln aller beteiligten Parteien und Ebenen werden wir die gewünschten Wirkungen erzielen.
Die F.D.P. will und wird dazu beitragen.
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Nun spricht Frau Kollegin Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte ist meines Erachtens kein demokratischer Meinungsbildungsprozeß gewesen,
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weder parlamentarisch noch außerparlamentarisch. Erst vor knapp 20 Stunden wurde uns, den Gruppen und auch den Fraktionen, die Drucksache von über 150 Seiten auf den Tisch gelegt. In den nächsten zwei Sitzungswochen werden noch in kleinen Anhörungen Sachverständige gehört; aber durchgeplant ist bereits heute, wann und wie die Gesetze durchgepeitscht werden sollen.
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Besonders gravierend und schlimm finde ich, daß fast alle gesellschaftlichen Organisationen, angefangen von den Gewerkschaften bis hin zu kirchlichen Verbänden, immer wieder dieses Parlament und die Fraktionen, die die Grundgesetzänderung wollen, aufgefordert haben, das Grundgesetz nicht zu verändern. Dies wird meines Erachtens ganz zynisch von diesem Parlament bzw. von den Vorlegern der Gesetzentwürfe ignoriert.
Mit der vorgesehenen Gesetzesänderung und den heute eingebrachten Begleitgesetzen werden zukünftige Flüchtlinge vor den deutschen Grenzen gehalten. Betroffen sind die hier lebenden Flüchtlinge und die Ausländer und Ausländerinnen. Verändern wird sich auch das Verhältnis der Bundesrepublik vor allem zu den Nachbarn im Osten. Vor nicht allzu langer Zeit hat der Kanzler gar mit dem Staatsnotstand gedroht.
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Es geht also nicht gerade um Lappalien - das wollte ich damit deutlich machen. Und doch haben es Regierung und Fraktionsführungen nicht für nötig gehalten, auch nur den Schein des demokratischen Vorgehens zu wahren.
Wenn Sie jetzt auf monatelange öffentliche Auseinandersetzungen verweisen, kann ich nur sagen: Sie haben nicht nur Ihre Verhandlungspartner - z. B. die polnischen Vertreter und Vertreterinnen - bewußt im
unklaren über die Konsequenzen verschiedener Vereinbarungen gelassen;
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Sie haben auch die deutsche Öffentlichkeit systematisch mit Halb- und Unwahrheiten gefüttert und so Ihren Beitrag zu der Pogromstimmung in der Bundesrepublik geleistet.
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Dabei behaupten Sie weiterhin, mit dem Öl der Grundgesetzänderung das Feuer der Pogromhetzer löschen zu können.
Zur innenpolitischen Seite dieser Asylpolitik haben wir schon darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung die rechtsextremen programmatischen Vorstellungen der Republikaner zur Asylpolitik vollständig übernommen hat. Ich bin heute gezwungen, hier zu sagen, daß durch die Asylbegleitgesetze dieses Programm der Republikaner übererfüllt wird.
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Ich erkläre hier in aller Schärfe: Die vorgelegten Begleitgesetze sind, entkleidet man sie ihrer bürokratischen Formelhaftigkeit, Dokumente des Schreckens, um so mehr, als sie vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung in den letzten zwei Jahren gesehen werden müssen.
Noch nie wurden in diesem Staat in einer solchen Weise für eine spezielle Menschengruppe derartige Sondergesetze geschaffen, deren Benachteiligungsabsicht so offensichtlich ist. Jeder - das sage ich sozusagen in Klammern - täuscht sich, der glaubt, diese Benachteiligungsabsicht sei auf Flüchtlinge beschränkt.
Das Asylverfahrensgesetz auf der Grundlage der Grundgesetzänderung hat mit Asylrecht im herkömmlichen Sinne nichts mehr, aber auch gar nichts mehr zu tun. Es ist ein Reisewegüberprüfungsgesetz; es ist ein Gesetz zur Abschiebung und Einreiseverweigerung. Den fast 150 Seiten ist anzumerken, daß Bürokraten versuchen, ihren Feinden auch das allerletzte Schlupfloch zu schließen und die letzte Notlüge zu bestrafen.
Ziel ist nicht nur die Aushöhlung der Genfer Flüchtlingskonvention, sondern vor allem die Verhinderung ihrer Anwendung.
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Mit dem Dreh der sicheren Drittstaaten, von denen die BRD umgeben ist,
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und den sicheren Herkunftsländern, die durch einfaches Gesetz definiert werden, ist es der Koalition der
Asylabschaffer gelungen, den individuellen Anspruch
auf Asyl durch Reisewegkontrollverfahren zu ersetzen.
Zwei Eckpfeiler entscheiden über die Effizienz des Vorhabens: erstens die optimale Verhinderung der Einreise, zweitens die schnellstmögliche Abschiebung für Illegale und Problemfälle.
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Dabei ist die Frage der tatsächlichen Verfolgung der Flüchtlinge völlig egal geworden. Dafür sollen ja gerade die anderen zuständig sein. Für diesen Zweck wurde der Begriff „sicherer Drittstaat" erfunden.
Erfinden können ihn meines Erachtens nur Leute, die vom Grundsatz der Flüchtlingsabwehr als Verwirklichung des Grundrechts auf Asyl ausgehen. Innenminister Seiters pervertiert diesen Gedanken zusätzlich dadurch, daß er zu derartigen Staaten Länder erklärt, von denen er weiß, daß hier möglicherweise guter Wille vorhanden ist, aber alle sonstigen Voraussetzungen fehlen, z. B. Polen.
Nicht nur der Landweg wird versperrt; zugemacht wird zudem das Schlupfloch Flughafen. Flughafenbetreiber werden zur Schaffung von Unterbringungsmöglichkeiten verpflichtet, damit der Bundesgrenzschutz die Reisewege und damit die Zurückweisungsmöglichkeiten überprüfen kann, bevor ein Asylverfahren eingeleitet wird und damit ein Bleiberecht entstehen kann.
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Was alle hierlassen müssen, auch die Zurückgewiesenen, sind ihre Fingerabdrücke.
Dieser Entrechtung, Demütigung und präventiven Kriminalisierung an den Grenzen entspricht die Verschärfung der Lagerordnung in den Unterkünften. Erweitert wird die „Befugnis zur Durchsuchung des Ausländers und von Sachen". Eingeführt wird der Zwang zu einem Arbeitsdienst zur „Selbstversorgung und zur Aufrechterhaltung und Betreibung" der Sammellager. Kommunale und gemeinnützige Träger sind aufgefordert, sogenannte Arbeitsgelegenheiten für den Arbeitsdienst zu schaffen.
Nur noch als zynisch ist die Begründung für den Stundenlohn von 2 DM zu bezeichnen, der angeblich der Motivation dienen soll. Damit wird ein Asylverfahrensgesetz komplettiert, das ohnehin schon das Leben der Asylsuchenden in allen Einzelheiten reglementiert und bereits bei geringsten Verstößen mit polizeilicher Behandlung bis hin zur Ausweisung droht.
Eine zusätzliche Herabstufung bedeutet es, daß die Einzelrichtertätigkeit in Asylverfahren früher als bei anderen Verfahren von Richtern auf Probe wahrgenommen werden soll. Keineswegs vom Tisch ist nach meiner Meinung die Vorstellung der CDU, Richter mit Prämien zu dieser Tätigkeit in Asylverfahren zu Lokken.
Folgt man einen Moment der Logik der Gesetzesinitiatoren, so ist diese Lagerbehandlung in Kombination mit den Abweisungsmechanismen an den Grenzen ganz besonders entlarvend. Die Grundgesetzänderung sollte angeblich ja gerade dazu dienen, die
wirklich Verfolgten zu schützen. Die hier vorgelegte Behandlung erinnert exakt an die schikanösen Prozeduren, denen die vor den Nazis Flüchtenden nahezu weltweit ausgeliefert waren.
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Durch die Einführung des Grundrechts auf Asyl sollten nie wieder Verfolgte und Flüchtlinge an den deutschen Grenzen abgewiesen werden können.
Leider hat die SPD-Führung bewiesen, daß man mit ihr nicht nur über alles reden, sondern auch alles mit ihr machen kann. Bei dem Paket, das Herr Klose, Herr Engholm und andere schnüren wollten, durften Sie von der SPD gerade noch den Daumen auf den Knoten halten. Von Ihrem Einwanderungsgesetz ist die Ermäßigung für die Gebühr bei der Einbürgerung übriggeblieben. Bei dem Streit über das Asylbewerberleistungsgesetz dreht es sich um Fristen und um den Personenkreis. Auch hier ist das Prinzip geschluckt. Die Ausführung wird letzten Endes der CDU überlassen.
Nach dem offiziellen Ende des Kalten Krieges hat die Bundesregierung zum wesentlichen Bestandteil internationaler Konferenzen das Schachern um Flüchtlingszahlen und die Erpressung mit Destabilisierung der eh schon labilen Verhältnisse in den Nachbarstaaten gemacht. Die Äußerung einer polnischen Parlamentarierin, sie befürchte den Sturz ihrer Ministerpräsidentin, wenn die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer Politik fortfahre, steht für sehr viel weitergehende Ängste unserer Nachbarn vor dieser Politik.
„Der neue Überfall auf Polen" - von dem auch Herr Wartenberg sprach - ist die Überschrift eines Artikels des Journalisten Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung".
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- Das ist ein Zitat.
Frau Kollegin Jelpke, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
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Heribert Prantl überschrieb so seinen Bericht über die Reaktion in Polen auf die Asylpolitik der Bundesregierung und der SPD in Richtung Osten.
Ich komme zum Schluß.
Frau Kollegin Jelpke, Sie haben jetzt schon beinahe eine Minute überzogen. Sie müßten jetzt mit einem einzigen Satz zum Schluß kommen.
Meine Damen und Herren, dieses Deutschland wird sich spürbar verändern. Statt zu einer wirklichen Einwanderungspolitik führen diese Verfassungsänderung und diese Asylbegleitgesetze zur Illegalisierung und damit zur Kriminalisierung von ausländischen Mitbürgern und Mitbürgerinnen. Ich denke außerdem, daß Pogromen und Rassisten Wasser auf die Mühlen gegeben wird.
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Danke.
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Als nächster spricht der Kollege Konrad Weiß.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Änderung des Grundgesetzes, über die wir heute beraten müssen, ist nicht das zwingende Ergebnis eines tatsächlichen Notstands in unserem Land,
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sondern sie wurde herbeigeredet und herbeigezaudert. Die vorliegenden Vorschläge der CDU/CSU sowie von Teilen der F.D.P. und der SPD bedeuten die hilflose Kapitulation der beteiligten Parteien vor der Realität und offenbaren die völlige Handlungsunfähigkeit der Bundesregierung.
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Niemand wird bestreiten, daß uns die vielen Menschen, die in Deutschland Schutz vor Verfolgung und Not suchen, Probleme machen. Doch das sind Probleme, die mit gutem Willen und Entschlossenheit bewältigt werden könnten, wenn es gewollt wäre. Doch, statt zu handeln, wurde in Deutschland eine törichte und ideologisierte Debatte geführt, an deren Ende nun die faktische Zerstörung des Rechts auf Asyl zu beklagen ist.
Der Verlust dieses Grundrechts wird Deutschland verändern. Die große Asylkoalition, die diese Gesetze ausgeheckt hat, läßt für die Zukunft nichts Gutes ahnen. Wer so leichtfertig ein Menschenrecht aufgibt, untergräbt die Grundlagen unserer Demokratie. Welches Grundrecht, so fragen sich besorgt die Bürgerinnen und Bürger, muß als nächstes dran glauben?
Ganz und gar unerträglich aber ist die Art und Weise, wie versucht wird, die Abschaffung des Asylrechts in Deutschland zu verschleiern. Es ist doch reine Bauernfängerei, wenn im ersten Absatz des neuen Art. 16a der Satz unseres Grundgesetzes „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" zwar zitiert, in den nächsten Absätzen aber vollends ausgehebelt wird. Halten die Autoren des Asylkompromisses die Bevölkerung wirklich für so blöd, daß die das nicht merken würde?
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Die Gesetzentwürfe der Asylkoalition führen Deutschland in eine Sackgasse. Bedenklicher noch als die fremdenfeindlichen Ausschreitungen verführter Jugendlicher ist in meinen Augen aber, daß inzwi12294
Konrad Weiß ({3})
schen selbst schlimmste rechtsradikale und nationalistische Auslassungen fast widerstandslos hingenommen werden. Daß der Abgeordnete Rudolf Krause, der Asylheime „Räuberhöhlen" genannt und Ausländer als „Asylkriminelle" diffamiert hat, weiterhin Mitglied der CDU, der Christlich Demokratischen Union Deutschlands sein kann, ist ein wirklicher Skandal.
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Mich schaudert es, wenn ich daran denke, daß eine Mehrheit von Abgeordneten aus CDU, CSU, F.D.P. und SPD in Gemeinschaft mit diesem CDU-Mitglied das Grundgesetz ändern und das Asylrecht bis zur Unkenntlichkeit verstümmeln wird. Sie sind bei Ihrem Deal in übler Gesellschaft, meine Damen und Herren.
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Im übrigen paßt die nationale Überheblichkeit des Abgeordneten Krause bestens zur nationalen Arroganz, mit der die Asylparteien mit ihrem Entwurf in die Souveränität unserer polnischen und tschechischen Nachbarn einzugreifen versuchen. Ohne die Regierungen in Prag und Warschau auch nur zu konsultieren, wurde selbstherrlich über die Souveränität unserer Nachbarn verfügt und wurden ihnen Verhandlungen aufgezwungen.
Schon heute ist erkennbar, daß eine Realisierung des deutschen Asylkompromisses für die osteuropäischen Reformstaaten fatale Folgen haben würde. Polen und die Tschechische Republik sollen zu Asylbütteln des mächtigen Deutschlands gemacht werden.
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Was innenpolitisch in Deutschland nicht durchzusetzen ist, soll nun an die polnische und die tschechische Ostgrenze verlagert werden. Auf Dauer würden die Polen und Tschechen nicht umhinkönnen, ihre Ostgrenzen abzuriegeln, mindestens aber die Visumpflicht für Weißrussen, Ukrainer, Litauer und Letten wieder einzuführen.
Zu Recht wird in Prag und Warschau befürchtet - wir sind in der vergangenen Woche in Warschau gewesen und haben mit den polnischen Politikern, angefangen bei Präsident Walesa, beraten -, daß das gefährlich destabilisierend wirken könnte.
Länder, in denen erst soeben das Menschenrecht auf Freizügigkeit verwirklicht wurde, werden nun vom mächtigen Deutschland erpreßt, dieses Recht wieder einzuschränken.
Werden das die Regierungen in Prag und Warschau überhaupt überstehen? Welche ökonomischen Konsequenzen wird die Abriegelung der Wirtschaftsräume jenseits der polnischen und der tschechischen Ostgrenze haben? Wie wird diese Abschottung auf die politische und die wirtschaftliche Entwicklung in den baltischen Staaten, in Weißrußland, in der Ukraine, in Ungarn und in der Slowakei wirken? Es läßt sich doch vorhersehen, daß eine politische und wirtschaftliche
Destabilisierung der osteuropäischen Reformstaaten neue Flüchtlingsströme auslösen wird.
Auch innenpolitisch wird die angestrebte Grundgesetzänderung nichts Gutes bewirken. Diejenigen, die wieder „Deutschland den Deutschen" brüllen, werden in ihrem Wahn bestärkt. Die Ausländerfeindlichkeit wird zunehmen, denn sie hängt eben nicht ursächlich von der Anzahl der Asylbewerber und Flüchtlinge ab, wie immer - auch heute hier wieder - behauptet wird, sondern vom politischen Klima. Das wird durch den Asylkompromiß vergiftet.
Nicht nur die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist aufs tiefste besorgt über den Weg, den die Asylkoalition beschreiten will. Auch zahlreiche Verfassungsrechtler und Menschenrechtsorganisationen äußern schwerwiegende Bedenken. Der Hohe Flüchtlingskommissar, das Deutsche Rote Kreuz, die Caritas, amnesty international, die Kirchen, Pax Christi und Pro Asyl, um nur einige zu nennen, sind mit uns der Auffassung, daß mit der beabsichtigten Grundgesetzänderung das Recht auf Asyl künftig in Deutschland nicht mehr gewährleistet ist.
Verpflichtungen, die uns aus dem Grundgesetz, aus der Menschenrechtskonvention und aus der Antifolterkonvention erwachsen, werden nicht mehr erfüllt. Auch gegen internationales Flüchtlingsrecht wird verstoßen. Ich erinnere daran, daß Deutschland dem Beschluß Nr. 15 ({7}) des Exekutivkomitees des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen zugestimmt hat. Danach darf Asyl nicht allein aus dem Grund verweigert werden, weil der Flüchtling in einem anderen Staat hätte Asyl beantragen können. Doch genau das ist vorgesehen.
Die vorgesehene Einführung einer Länderliste sogenannter verfolgungsfreier Staaten würde den Art. 16 Abs. 2 nach dem Motto pervertieren: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht - aber nicht in Deutschland.
Die Absicht, Angehörige bestimmter Staaten von vornherein vom Asylverfahren auszunehmen, stellt einen unzulässigen Eingriff in das Recht auf Asyl dar und ist mit dem Mindeststandard des internationalen Flüchtlingsrechts, das eine individuelle Überprüfung eines jeden Asylbegehrens vorsieht, nicht vereinbar.
Schon jetzt geben die bekanntgewordenen Länderlisten Anlaß zu erheblichen Bedenken. So sollen Rumänien, Bulgarien, Indien und Ghana den Ritterschlag als sichere Herkunftsstaaten erhalten, in denen weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfinden.
Tatsächlich aber berichtet amnesty international über staatlich gebilligte Angriffe auf Leben und Eigentum und unberechtigte Verhaftung von Roma in Rumänien, über Repressionen und Mißhandlungen durch Sicherheitskräfte in Bulgarien, über willkürliche Festnahmen und Folterungen von Oppositionellen in Ghana sowie über Folter und Mißhandlungen als täglicher Verhörpraxis in Indien. Offensichtlich leiden die Autoren des Asylkompromisses unter einem Realitätsverlust, der für die abgewiesenen
Konrad Weiß ({8})
Verfolgten aber die schlimmsten Konsequenzen haben wird.
Schließlich ist beabsichtigt, mit einem Gesetz zur Neuregelung der Leistungen an Asylbewerber Flüchtlinge aus dem Bundessozialhilfegesetz auszugliedern und die Sozialleistungen zu senken. Nach der Definition des Bundessozialhilfegesetzes ist es Zweck der Sozialhilfe, „dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht".
Schon heute wird die Sozialhilfe für Asylsuchende oftmals um 15 bis 20 % gekürzt, weil ein sogenannter geringerer Ernährungsbedarf angenommen wird oder weil die Regelsätze der Sozialhilfe um den Anteil für kulturelle und kommunikative Zwecke herabgesetzt werden. Die Auffassung, daß Ausländer für ein menschenwürdiges Leben weniger brauchen als Deutsche, ist schlimmster Rassismus.
Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnt daher dieses Gesetz entschieden ab. Wir halten daran fest, daß allein die Menschenrechte der angemessene Orientierungsrahmen für eine humane Flüchtlings- und Einwanderungspolitik sein können.
Die Bekämpfung von Fluchtursachen in den Herkunftsländern begründet sich ausschließlich in der Würde eines jeden Menschen, zu der wir uns vorbehaltlos bekennen. Eine Politik, die nur aus der Abwehr resultiert, ist unwürdig und schafft neues Unrecht.
Unsere Erfahrung als Bürgerrechtler ist, daß eine nach außen geschlossene Gesellschaft immer auch im Inneren eine starre Ordnung schaffen muß. Deshalb ist unser hartnäckiger Kampf für die Bewahrung des Asylrechts auch ein Kampf um die Bewahrung von Menschenrechten und Demokratie für die Deutschen in Deutschland.
Ich danke Ihnen.
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Als nächster hat das Wort der Herr Bundesminister des Innern, Dr. Rudolf Seiters.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als Herbert Wehner im Februar 1982 seine Warnung aussprach, wenn wir uns weiterhin der Steuerung des Asylproblems versagen würden, würden wir eines Tages von den Wählern, auch von unseren eigenen, weggefegt, kamen über das ganze Jahr 1982 37 000 Ausländer, die bei uns Asyl beantragten. Im Februar 1993 waren es 38 000.
Seit dem Asylkompromiß vom 6. Dezember 1992 sind über 100 000 Asylbewerber in unser Land gekommen, über 17 000 allein aus Rumänien und Bulgarien, die wir auf die Liste der sicheren Herkunftsländer setzen wollen. Die Anerkennungsquote lag im Januar bei 2,4 %, im Februar bei 1,6 %. Ich kann nur beschwörend sagen: Es wird allerhöchste Zeit, daß wir ohne jede Verzögerung jetzt ganz schnell zu den
Beratungen übergehen und diese Gesetze ganz schnell verabschieden.
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Ich nenne eine andere Zahl. Im ersten Monat dieses Jahres sind insgesamt 6 413 illegal eingereiste Ausländer ermittelt worden. Dies ist gegenüber dem Dezember 1992 eine Steigerung um mehr als 24 %, gegenüber dem Januar 1992 sogar um 140 %. Die Dunkelziffer liegt bei dem Vier- bzw. Fünffachen; wir müssen also davon ausgehen, daß fünfmal so viele illegal in unser Land gekommen sind. Die Februarzahl ist weiter gestiegen.
Ich will ganz ruhig sagen, daß ich fest entschlossen bin, die Grenzüberwachung an den erkannten Grenzbrennpunkten entlang der deutsch-polnischen und der deutsch-tschechischen Grenze personell wie auch durch technische Ausrüstung zu verstärken - im übrigen voll in Übereinstimmung auch mit unseren Nachbarn.
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Auf der Budapester Konferenz zur Bewältigung unkontrollierter Wanderbewegungen am 15. und 16. Februar haben 33 Staaten - die Herkunftsländer, die Transitländer und die Zielländer - festgestellt, daß die illegale Einwanderung in diesem Ausmaß eine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und Stabilität darstellt. Sie haben die Schleusertätigkeit als eine besonders verwerfliche Form der Kriminalität verurteilt und die Verantwortung aller Staaten für die Verhinderung illegaler Wanderbewegungen bekräftigt.
Deswegen erwarte ich und bitte ich darum, daß meine Maßnahmen zur stärkeren Grenzkontrolle von niemandem als Versuch verunglimpft werden, eine neue Mauer aufzubauen, sondern als notwendige Maßnahmen gegen illegale Zuwanderung, gegen Schleuser und für die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit unseres Landes verstanden werden.
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Bei Einreisen aus einem sicheren Drittstaat kann die Zurückweisung an der Grenze und ebenso die Zurückführung ohne Prüfung der Asylgründe erfolgen, wenn dies auf Grund völkerrechtlicher Verträge möglich ist. Ich lege Wert auf die Feststellung, daß bei der Liste dieser Staaten gewährleistet ist, daß Ausländer, die sich auf ihre Flüchtlingseigenschaft berufen, dort nicht politisch verfolgt werden, keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sind, nicht den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention zuwider in einen Verfolgerstaat abgeschoben werden und die Möglichkeit haben, sich an der Grenze oder im Hoheitsgebiet des betreffenden Staates mit einem Schutzersuchen an die dortigen Behörden zu wenden.
Das sind exakt die Kriterien, auf die sich die EG-Mitgliedstaaten verständigt haben und die verdeutlichen: Der politisch Verfolgte muß Schutz finden können. Aber weder das Asylrecht noch die Genfer Flüchtlingskonvention noch die Europäische Menschenrechtskonvention geben dem Flüchtling das
Recht auf freie Wahl des Zufluchtslands. Und dabei soll es bleiben.
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Der Parteienkompromiß sieht vor, daß begleitend zu den Gesetzgebungsmaßnahmen von Deutschland mit Polen und der Tschechischen Republik Gespräche aufgenommen werden, in denen diesen Staaten auf dem Gebiet des Asylrechts Zusammenarbeit und Unterstützung angeboten werden, und zwar im Hinblick auf administrative und finanzielle Hilfe zur Bewältigung der Flüchtlingsprobleme, Regelungen zur Lastenverteilung bei der Aufnahme von Flüchtlingen in besonderen Situationen und die Festlegung von Zuständigkeitsregelungen entsprechend dem Dubliner Abkommen.
Ich habe schon vor dem Asylkompromiß vom 6. Dezember erklärt, daß wir in Deutschland nicht beabsichtigen, unsere Probleme einseitig auf andere Staaten zu verlagern. Ich bekräftige dies auch heute. Wir wollen in Deutschland mit den Wanderungsproblemen nicht alleingelassen werden. Aber wir wollen auch Polen und die Tschechische Republik mit den Problemen der Asylpolitik und der illegalen Zuwanderung nicht alleinlassen.
Ich habe unmittelbar nach dem Asylkompromiß die Botschafter informiert. Die Gespräche mit Polen und der Tschechischen Republik laufen. Mit meinem polnischen Amtskollegen Milczanowski habe ich partnerschaftliche und sehr konstruktive Gespräche geführt; mit seinem Stellvertreter Czymowski und mit dem tschechischen Innenminister Ruml bin ich mehrmals zusammengekommen, zuletzt in Budapest.
Ich bedanke mich beim Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Hans-Ulrich Klose, der in einem öffentlichen Interview Kritik am Bundesinnenminister ausdrücklich zurückgewiesen und erklärt hat: Deutschland geht gerade mit Polen und der Tschechischen Republik in besonders fairer Weise um.
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Ähnlich hat sich - ich bedanke ich dafür - auch der brandenburgische Innenminister Ziel geäußert. Und wenn man nachgelesen hat, was der polnische Staatspräsident Walesa, was die Ministerpräsidenten und was Innenminister Milczanowski in öffentlichen Erklärungen geäußert haben, kann man doch wohl davon ausgehen, daß wir fest entschlossen sind, diese Gepräche in einer fairen Weise zu führen, und daß ich alles tue, damit es zu Vereinbarungen kommt - im Wissen, daß wir mit Polen eine rechtsgültige Vereinbarung haben, aber bereit sind, hinter diese Vereinbarung zurückzugehen, weil wir nicht wollen, daß Polen jetzt mit diesen Problemen überfrachtet wird.
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Aber ich habe die ganz herzliche, dringende Bitte an andere Sprecher der Sozialdemokratie aus Bund und Ländern - es ist doch nicht so, daß diese Diskussion nur in Deutschland geführt und nur in Deutschland zur Kenntnis genommen wird; wir müssen uns auch einmal fragen, ob wir nicht möglicherweise auch anderen Gesprächspartnern von uns das Geschäft und die Möglichkeiten der Verständigung erschweren -, meine Verhandlungsposition nicht dadurch zu erschweren, daß damit gedroht wird, der Asylkompromiß werde keine Mehrheit finden ohne das Vorliegen entsprechender Verträge. Ich sage noch einmal: Wer meine Verhandlungen und meine Bemühungen objektiv verfolgt, muß wissen, daß ich schnelle, vertretbare und faire Vereinbarungen anstrebe. Aber ich muß nachdrücklich bitten, die deutsche Position in diesen Verhandlungen nicht zu stören, nicht zu erschweren, nicht zu unterlaufen und nicht zu sabotieren.
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Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, einer der Kernpunkte des Asylkompromisses vom 6. Dezember war, bei Asylsuchenden, die aus einem sicheren Drittstaat eingereist sind, die Rückführung in den sicheren Drittstaat ohne vorherige gerichtliche Überprüfung im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes zu ermöglichen. Dies war der gemeinsame Wille aller derjenigen, die an dem Asylkompromiß mitgewirkt haben. Im Rahmen der Erörterungen des vorliegenden Gesetzentwurfs, der diesen gemeinsamen Willen umsetzen soll, ist die Frage aufgetaucht, ob dies durch den vorgesehenen Art. 16a Abs. 2 Satz 3 des Grundgesetzes in Verbindung mit der Regelung des § 34a Abs. 2 des Asylverfahrensgesetzes verfassungsrechtlich bedenkenfrei erreicht wird. Wer dies bezweifelt, möge eine andere Formulierung vorschlagen. Jedenfalls darf das Ergebnis, das für mich von entscheidender Bedeutung ist, in den anstehenden Gesetzesberatungen zur Grundgesetzänderung und zur Änderung des Asylverfahrensrechts nicht in Frage gestellt werden. In der Möglichkeit der sofortigen Abschiebung liegt ein entscheidender Schlüssel zur Lösung des Problems. Das muß auch hier noch einmal ganz klar festgestellt werden.
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Was das System der sicheren Herkunftsstaaten anbetrifft, so ist festzustellen, daß dieses System nicht neu ist. Die Schweiz praktiziert dieses System. Die EG-Einwanderungsminister haben Grundsätze für ein solches System entwickelt. Bei der Einstufung eines Staates als sicherer Herkunftsstaat ist ein umfangreicher Kriterienkatalog zugrunde gelegt worden, der sich wesentlich an dem Schweizer Katalog und den Schlußfolgerungen der EG-Einwanderungsminister orientiert: Höhe der Anerkennungsquote in den vergangenen Jahren, allgemeine politische Lage, Achtung der Menschenrechte, Bereitschaft, unabhängigen internationalen Organisationen zur Überwachung der Menschenrechtslage den Zutritt zu seinem Gebiet zu gewähren, und die Stabilität des Landes. Diese Kriterien sind unter Heranziehung der von den Behörden des Bundes gewonnenen Erkenntnisse von Rechtsprechung sowie Materialien des UNHCR und internationaler Menschenrechtsorganisationen untersucht worden.
Es gilt auch für die Liste der sicheren Herkunftsstaaten, daß sie nicht vollständig und abschließend sein soll. Ich bin allerdings nachdrücklich der Auffassung, daß neben den vorgesehenen Ländern Bulgarien, Rumänien, Polen, der Slowakischen Republik, der
Teschischen Republik und Ungarn auch die Aufnahme anderer Staaten, z. B. Ghana, Anerkennungsquote bei uns im Jahre 1992 0,3 %, Indien, Anerkennungsquote 0,06 %, Gambia, Anerkennungsquote 0,0 %, und Senegal, Anerkennungsquote 0,0 %, geprüft werden sollte.
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Es war der Wille der am Asylkompromiß beteiligten Parteien, daß die Regelung über sichere Herkunftsstaaten außereuropäische Lander einschließen sollte.
({9})
Ich muß mit allem Nachdruck darauf hinweisen, daß bei einem Ausschluß außereuropäischer Staaten die Neuregelung von Absatz 3 des Art. 16a des Grundgesetzes nicht die Wirkung erzielen wird, die sie nach dem Willen der am Asylkompromiß Beteiligten haben sollte.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann auch nicht erkennen, warum Hauptherkunftsländer aus der Dritten Welt, bei denen die Anerkennungsquote deutlich unter 1 % liegt, von der Liste dieser sicheren Herkunftsstaaten ausgeschlossen werden sollten. Dies wäre - ich sage dies warnend - der deutschen Öffentlichkeit nicht vermittelbar, die ja nicht nur will, daß wir hier irgendein Asylgesetz verabschieden, sondern die auch möchte, daß dieses Gesetz effektiv ist und daß es dazu beiträgt, das drängende Problem in Deutschland zu mildern. Deswegen will ich rechtzeitig auf die Bedeutung dieser Frage aufmerksam gemacht haben. Ich werbe eindringlich dafür, in dem jetzt laufenden Gesetzgebungsverfahren nicht hinter die Intention des Asylkompromisses vom Dezember zurückzugehen.
({10})
Ich will für die Ausschußberatungen auch auf folgende Probleme noch einmal rechtzeitig hinweisen. Das sind keine Nachbesserungswünsche, sondern sie haben schon in den bisherigen Verhandlungen eine Rolle gespielt. Ich habe immer wieder darauf hingewiesen und möchte auch an dieser Stelle meine Position in aller Ruhe verdeutlichen.
({11})
Ich stelle mit Sorge fest, daß bisher keine Verfahrensbeschleunigung bei der Situation an Flughäfen erreicht werden konnte. Ich habe immer wieder auf die Gefahr hingewiesen, daß sich die Ströme der illegalen Zuwanderung verändern, ja, daß der Versuch unternommen wird, in verstärktem Umfang wegen der Drittstaatenregelung nicht mehr über Landgrenzen, sondern ohne die gesetzlich vorgeschriebenen Einreisesichtvermerke über Flughäfen einzureisen, insbesondere über Frankfurt.
Schlepperorganisationen haben bereits in der Vergangenheit bewiesen, daß sie jede sich abzeichnende Lücke schnell ausnutzen. Ich plädiere deshalb dafür, daß bei Ausländern aus einem sicheren Herkunftsstaat, die über einen Flughafen einreisen wollen und dort bei der Grenzbehörde um Asyl nachsuchen, das Asylverfahren vor der Entscheidung über die Einreise durchgeführt wird, wenn die Unterbringung auf dem Flughafengelände während des Verfahrens möglich ist.
({12})
Ich habe die auf Erfahrung gestützte Sorge, daß viele Ausländer, wenn sie eingereist sind, untertauchen, der Einladung zu Anhörungen nicht folgen und damit das Asylverfahren und gegebenfalls später die Abschiebung erheblich erschweren. Das Bundesamt hat jetzt die Erfahrungen der Asylentscheidungszentren, die wir gemeinsam eingerichtet haben, mitgeteilt. Nur 15 % der Rumänen und nur 40 % der Bulgaren sind überhaupt der Einladung zu diesen Anhörungen gefolgt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das können wir nicht hinnehmen;
({13})
denn wenn wir bereit sind, auch künftig in großzügiger Weise unter Abwägung der Fakten Asyl zu gewähren, Heimstatt und Zuflucht zu gewähren, dann ist doch das mindeste, was wir erwarten können müssen, daß diejenigen, die bei uns als politisch Verfolgte um Asyl nachsuchen, ihre Mitwirkungspflichten nicht verletzen, sondern über die Gründe, warum sie Asyl in Deutschland begehren, Auskunft geben. Das müssen wir erwarten können.
({14})
Deshalb mein dringender Wunsch, daß in diesen Fällen der Asylbewerber im Transitbereich verbleibt und dort eine Überprüfung seines Asylbegehrens durch das Bundesamt vorgenommen wird. Bei negativem Entscheid und endgültiger Einreiseverweigerung kann er innerhalb eines Zeitraums von 48 Stunden einstweiligen Rechtsschutz beim Verwaltungsgericht beantragen. Im Falle der rechtzeitigen Antragstellung wird die Einreiseverweigerung nicht vor Ablauf von sieben Tagen vollzogen. Der Asylbewerber hätte ein faires Verfahren und die Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung.
({15})
Meine Damen und Herren, ich kann also nicht erkennen, warum wir in Deutschland nicht vergleichbare Regelungen wie Frankreich und die Niederlande einführen können. Nachdem wir ohnehin gegenüber den ersten Entwürfen im Wege von Kompromissen, ohne die eine Zustimmung der SPD nicht erreichbar gewesen wäre, Fristen haben verlängern müssen, die wiederum ganz notgedrungen zu einer Verlängerung der Verfahren führen, bin ich besorgt, daß wir ohne eine solche Flughafenregelung bei diesem Gesetz zu kurz greifen.
({16})
Mitte Februar hat das Grenzschutzamt Frankfurt einen deutlichen Anstieg von Flüchtlingen auf dem Rhein-Main-Flughafen verzeichnet. Allein im Januar dieses Jahres waren es bereits rund 20 % mehr als im Vergleichsmonat des Vorjahres. Ich stelle mir die Situation vor - ich hoffe nicht, daß es dazu kommt -,
daß es nach Verabschiedung dieser Gesetze eine Veränderung der Wanderungsströme über unsere Flughäfen gibt. Was wird wohl die Bevölkerung zu uns sagen, wenn wir uns dafür nicht gewappnet haben?
({17})
Ich appelliere eindringlich an Sie, diesen Vorschlag zu akzeptieren, auch angesichts nicht auszuschließender Veränderungen der Wanderungsströme aus sicheren Herkunftsstaaten.
({18})
Meine Damen und Herren, einem Ausländer - und das ist ein zweites Problem; ich spreche es nur ganz vorsichtig an - sollte aber nach meiner Meinung an der Grenze die Einreise zur Antragstellung auch dann verweigert werden können, wenn er unter Vortäuschung einer falschen Identität oder Staatsangehörigkeit einzureisen versucht und auf ausdrückliches Befragen keine Rechtfertigungsgründe darlegt und auch seine wahre Identität oder Staatsangehörigkeit nicht angibt.
Eine solche Vorschrift erfaßt möglicherweise nur wenige Fälle. Darüber bin ich mir im klaren. Aber es könnten gerade die Fälle sein, die sich dazu eignen, in der Öffentlichkeit hochgespielt zu werden und Asylbewerber generell zu diskriminieren.
({19})
Ich erinnere an den Fall der Schwarzafrikaner, die sich mit Phantasienamen wie Welcome Germany oder Johnny Walker meldeten. Das sind nicht viele Fälle, aber sie eignen sich dafür, das ganze Thema Asyl oder andere Asylbewerber zu diskriminieren. Deswegen sage ich hier aus grundsätzlicher Überzeugung: Politische Verfolgung bedeutet Verfolgung einer ganz bestimmten Person. Wer nicht bereit ist, seine Identität zu offenbaren, damit die Frage einer Verfolgung überhaupt geprüft werden kann, der kann doch eigentlich nicht behaupten, politisch verfolgt zu sein. Deshalb möchte ich, daß dieses Problem im Gesetzgebungsverfahren erneut aufgegriffen wird.
({20})
Ich unterstreiche, meine Damen und Herren, die Verständigung, die wir über die Änderungen des Ausländer- und des Staatsangehörigkeitsrechts erzielt haben. In das Ausländergesetz wird eine eigenständige Aufnahmeregelung für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen, und ich stimme all denen zu, die gesagt haben, daß wir sie auch praktizieren müssen. Wir haben es ja doch auch schon in der Vergangenheit durch eine ganz großzügige Regelung gemacht, zu der ich mich auch innerlich voll bekenne. Ich möchte, daß wir für die Geschundenen und Gemarterten dadurch mehr tun können, daß wir uns den Spielraum verschaffen. Diese eigenständige Aufnahmeregelung wird jetzt in das Ausländergesetz aufgenommen. Ich unterstreiche das.
({21})
Im Staatsangehörigkeitsrecht wird die Einbürgerung junger Ausländer bzw. die Einbürgerung von Ausländern mit langem Aufenthalt erleichert.
Ich bitte aber herzlich darum, daß wir die Gesetzesberatungen zu diesen Fragen, die wir Ende April abschließen wollen, jetzt nicht mit Grundsatzfragen anderer Art befrachten, wie das beim Thema der doppelten Staatsangehörigkeit versucht wird.
({22})
Meine Damen und Herren, am 6. Dezember haben wir dieses Thema angesichts unterschiedlicher Meinungen der Fraktionen ausdrücklich zurückgestellt. Auch andere Fragen der Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts sind vom Asylkompromiß des 6. Dezember nicht erfaßt und werden in einem anderen Zusammenhang weiter zu diskutieren sein.
Ich appelliere jedenfalls an uns alle, die vorliegenden Gesetzentwürfe zügig und ohne jede Verzögerung zu beraten. Die Zahl der Asylsuchenden ist - auf einer dramatischen Höhe - immer noch ansteigend. Die Bevölkerung erwartet ein rasches Handeln des Gesetzgebers. Dieser Erwartung dürfen sich demokratische Parteien und darf sich ein handlungsfähiger Staat nicht länger verschließen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({23})
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Wolfgang Zeitlmann.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist hier vieles gesagt worden, was ich nicht zu wiederholen beabsichtige. Ich möchte nur eines vorausschicken.
Der Minister hat darauf hingewiesen, daß wir im Zuge dieses Kompromisses dringend eine Verstärkung unserer Kontrollkräfte an den Grenzen brauchen. Dies ist wohl eine der entscheidenen Voraussetzungen. Ich bin froh, Herr Minister, daß Sie dies hier so klar und deutlich angesprochen haben.
Meine Damen und Herren, am späten Abend des 6. Dezember 1992 erklärten die Spitzen der im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen, man habe sich bei den Streitfragen zu Asyl und Zuwanderung geeinigt, und stellten die Ergebnisse der Verhandlungen, die viele Stunden gedauert hatten, vor. Seitdem betrachten die Leute das Problem als soweit wie irgend möglich gelöst und rechnen mit einer baldigen Verbesserung der Situation.
({0})
Nachdem Ende Januar die dazu erforderliche Änderung des Grundgesetzes in erster Lesung behandelt worden ist, folgt heute mit der Änderung des Asylverfahrensrechts, des Ausländerrechts, des Staatsangehörigkeitsrechts und dem Gesetzentwurf zur Neuregelung der Leistungen an Asylbewerber der zweite Schritt zur Umsetzung des damals Vereinbarten.
Konnte man im Herbst letzten Jahres keine Veranstaltung mehr abhalten, ohne nach wenigen Minuten beim Thema Asyl zu sein, stoßen heute auch wieder andere Themen auf das Interesse der Menschen. Sie
wissen, daß die Umsetzung des Vereinbarten eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt, und bringen uns das Vertrauen entgegen, daß wir schnell und wirksam handeln. Dieses Vertrauen dürfen wir hier nicht enttäuschen.
Die Fragen, die sich bei der Regelung des Asylverfahrens stellen, sind zwar in vielen Fällen schwierig, keineswegs aber neu, so daß es uns möglich sein müßte, die heute eingebrachten Entwürfe sehr zügig zu beraten und zu verabschieden. Wir dürfen schließlich nicht vergessen, daß nicht nur der Schritt von der Einigung zwischen den Parteien zum Gesetz, sondern auch der Schritt vom Gesetz zur praktischen Wirksamkeit vor Ort gewisse Zeit in Anspruch nehmen wird. Wollen wir das Vertrauen der Bürger nicht erschüttern, müssen wir ein Asylverfahren schaffen, das die am 6. Dezember 1992 gewollten Verbesserungen auch wirklich erreicht.
Es bestand damals Einigkeit, daß nur eine Vereinbarung getroffen werden sollte, die wirklich Erfolg bringt, das muß auch heute für alle Beteiligten gelten. Verwässerungen sind mit der CDU/CSU nicht zu machen. Von seiten der Gegner des Kompromisses wird seit Wochen geharnischte Kritik an den vorgesehenen Regelungen geübt.
({1})
- Verwässerungen, habe ich gesagt, Verwässerungen. - Betrachtet man die Zugangszahlen, die Anerkennungsquote, die Situation beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, bei den Gerichten, in den Aufnahmestellen und in den Kommunen, so ist der Handlungsbedarf doch für jeden offenkundig. Die Inhalte und die Intention der vorgelegten Regelungen wurden bereits dargestellt. Wer sie ablehnt, soll doch bitte einen besseren Vorschlag machen!
({2})
Immer wieder wird behauptet, das Asylrecht sei in Wirklichkeit abgeschafft. - Diese Behauptung fand sich auch in einigen Reden, z. B. in denen der Kollegen Weiß und Jelpke. - Übrig sei nur noch eine leere Hülse, denn kaum ein Verfolgter könne es noch in Anspruch nehmen.
({3})
Wer diese Ansicht vertritt, bescheinigt sich nur selbst, daß er von den praktischen Problemen des Asylrechts keine Ahnung hat.
({4})
Diejenigen, die nachweislich über einen sicheren Drittstaat eingereist sind und dorthin auch zurückgeschoben werden können, können dort Asyl beantragen. Diejenigen, die nichts über ihren Reiseweg sagen, erhalten ein vereinfachtes Verfahren, da von jemandem, der auf diese Weise seine Mitwirkungspflicht verletzt, vermutet wird, daß sein Asylbegehren offensichtlich unbegründet ist.
Herr Kollege Zeitlmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß?
Selbstverständlich.
Bitte sehr, Herr Kollege Weiß.
Vielen Dank. - Herr Kollege Zeitlmeier, können Sie mir erklären, wie die gegenwärtigen Rechtsgrundlagen für das Asylbegehren in der Tschechischen Republik oder in Polen aussehen, auf die Sie sich berufen? Dort sollen Asylbewerber nach Ihrer Meinung das in Deutschland nicht in Anspruch zu nehmende Recht ja wahrnehmen können.
Entschuldigen Sie die Replik, Herr Kollege Schwarz.
({0})
- Ich weiß; ich wollte Ihnen nur beibringen, daß Sie sich auch meines Namens richtig annehmen.
Aber, Herr Kollege Weiß, Spaß beiseite: Sie wollen doch hier nicht im Ernst behaupten, daß wieder irgendwo am deutschen Asylrecht die Welt genesen soll. Unser Maßstab muß nicht unbedingt der Maßstab anderer Länder sein.
({1})
Die Genfer Flüchtlingskonvention ist ohne Zweifel in unseren Nachbarstaaten beachtet und kann Basis auch der Verhandlungen über einzelne Asylverfahren in diesen Ländern sein.
({2})
Meine Damen und Herren, unser Ziel hier in Deutschland ist eine europäische Lastenteilung, eine Zuständigkeitsregelung und eine Harmonisierung auch des materiellen Asylrechts. Weshalb soll Deutschland es denn hinnehmen, daß der ganz überwiegende Teil der Asylbewerber gerade zu uns kommt? Wir können die Verantwortung für Flüchtlinge nicht allein tragen; ein Asylrecht à la carte darf es nicht geben.
Nicht zu vertreten ist deshalb auch, den Abschluß von entsprechenden Verträgen mit Polen und der Tschechischen Republik zur Voraussetzung für die Änderung unseres Asylrechts zu machen. Niemand will diese Länder überfordern. Das zeigt auch schon der Kompromiß. Völlig aus der Verantwortung können wir sie jedoch nicht entlassen. Das hätte zur Folge, daß jedem Asylbewerber, der nach Polen oder in die Tschechische Republik kommt, dort lediglich der Weg zur deutschen Grenze gezeigt werden müßte.
Der Abschluß dieser Verträge war schon gar nicht Geschäftsgrundlage, wie dies oft behauptet wird. Ganz im Gegenteil wurde ausdrücklich vereinbart, daß entsprechende Verhandlungen aufgenommen und unseren Nachbarn faire Angebote unterbreitet werden müssen. Ob es zu einem Abschluß von Verträgen kommt, hängt nicht allein von uns ab, so daß
wir uns mit einem Junktim völlig in die Hände unserer Verhandlungspartner begeben würden. Das kann doch wohl im Ernst niemand wollen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß zwei Sätze zu der Diskussion hier in diesem Hause sagen: Solange wir uns auf der Basis der jetzigen Entwicklung in Europa, der Situation in unseren Nachbarländern bewegen, mögen wir mit diesem Gesetz das Richtige tun; nur eines befürchte ich, nämlich eine Verschlechterung der politischen Entwicklung im Osten und damit eine wesentliche Steigerung der Zahlen, was uns Gott ersparen möge. Nur, wenn das eintritt, glaube ich, daß wir die vom Innenminister hier geforderten zusätzlichen Maßnahmen an Flughäfen, auch die zusätzlichen Maßnahmen im Bereich der Verwaltung, sprich: Verstärkung der Grenzkräfte, dringend brauchen.
Meine Damen und Herren, ich appelliere an Sie, daß wir beweglich bleiben und uns nicht wieder einmauern, daß wir der Entwicklung entsprechend handeln und jeweils eine vernünftige Antwort auf künftige Entwicklungen finden, um dem deutschen Volk zu zeigen, daß diese Demokratie handlungsfähig und ein Problem zu meistern in der Lage ist.
Herzlichen Dank.
({3})
Der nächste Redner ist unser Kollege Dieter Wiefelspütz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte um Zuwanderung und Asyl in Deutschland hat einen Stellenwert wie andere bedeutende Debatten in der Geschichte unserer Republik. Ich erinnere an die Auseinandersetzungen um die Landesverteidigung, um die Notstandsverfassung, um die Ostverträge, um die Reform des § 218, um den richtigen Weg im Einigungsprozeß und an die Debatte um die Hauptstadtfrage, um nur einige Beispiele zu nennen.
Wie stets führen wir die Debatte sehr grundsätzlich, sehr abstrakt, vielfach theoretisch, sehr leidenschaftlich, manchmal sehr deutsch. Wie könnte das anders sein?
Es hat in Deutschland leider auch nicht an haßerfüllten Beiträgen gefehlt. Es gab und gibt Brandstifter, in Einzelfällen auch gemeine Totschläger, aber auch viele - ich denke, eine deutliche Mehrheit -, die in unserem Lande mit Flüchtlingen leben wollen.
Die Vereinbarung der Parteien in Sachen Zuwanderung und Asyl vom 6. Dezember 1992 stellt sich nach meiner Auffassung nicht als ein strahlender Abschluß einer schwierigen Diskussion dar. Es handelt sich durchaus um einen Kompromiß. Es fällt nicht schwer, bei diesem Kompromiß Widersprüchlichkeiten, Halbherzigkeiten, Unvollständigkeiten aufzuzeigen. Gleichwohl hebt der Asylkompromiß eine Handlungs- und Gestaltungsblockade in Deutschland auf, die die demokratische und die zivile Kultur in unserem Lande dauerhaft zu beschädigen drohte.
Die SPD-Bundestagsfraktion ist der Auffassung, daß es in diesem Lande keine Probleme mit politisch Verfolgten gibt. In diesem Jahr mögen von der
Verwaltung und von den unabhängigen Gerichten 20 000, vielleicht 25 000 Menschen als politisch Verfolgte anerkannt werden. Wir könnten durchaus mehr politisch Verfolgte in Deutschland unterbringen. Hier liegt nicht unser Problem. Ohne uns überheben zu wollen, stellt sich hier sogar die Frage, ob es denn richtig ist, daß wir uns nahezu ausschließlich um diejenigen politisch Verfolgten kümmern, die die Kraft, das Geld, das Glück hatten, die Bundesrepublik Deutschland zu erreichen. Könnte es nicht, Frau Ministerin, Herr Minister, ein unverzichtbarer Bestandteil deutscher Außen- und Menschenrechtspolitik sein, Verfolgte aus Gefängnissen und Konzentrationslagern zu befreien, um ihnen hier in unserem Lande Schutz und Zuflucht zu gewähren?
({0})
Ich denke, einige unserer Möglichkeiten in diesem Bereich sind längst noch nicht ausgeschöpft.
Nein, die politisch Verfolgten sind erkennbar nicht das Problem in Deutschland. Das Problem ist die ungesteuerte, gegenwärtig zu massive Einwanderung nach Deutschland. Es ist nicht nur das Recht der Politik, es ist die Pflicht der Politik, die Zuwanderung nach Deutschland zu reduzieren, sie steuerbar zu machen und dabei die - durchaus beachtliche - Aufnahme- und Integrationskraft der deutschen Gesellschaft nicht zu überschätzen.
({1})
Im Bereich der Zuwanderung befinden sich die Bundesregierung und die Koalition leider noch nicht auf der Höhe des Problems. In den kommenden Jahren werden jährlich 200 000 Spätaussiedler und mehr als 100 000 Menschen im Wege der Familienzusammenführung zu uns kommen. Diese Menschen sind Einwanderer. Gleichwohl behauptet die Bundesregierung, unser Land sei kein Einwanderungsland. Ich will gar nicht bestreiten, daß wir kein Einwanderungsland wie Australien oder die Vereinigten Staaten sind, aber wir waren in der Vergangenheit ein Einwanderungsland, und wir werden es in der Zukunft bleiben.
({2})
Indes, es stellt sich die Frage: Sind wir eigentlich mit unserem politischen Handlungsinstrumentarium ehrlich genug, aufgeschlossen genug, um diesen Gegebenheiten zu begegnen, um sie aufzugreifen und zu gestalten? Sagen wir eigentlich unserer Bevölkerung in hinreichender Deutlichkeit, daß das so ist, daß sich das in der Zukunft nicht ändern wird und daß wir auch gar nicht wünschen sollten, daß es sich ändert?
Ich bin der Überzeugung, daß wir angesichts der gegenwärtigen Probleme in unserem Lande über die angesprochenen Gruppen und die vereinbarten Quoten hinaus vorläufig kaum weitere Einwanderungen in Deutschland aufnehmen können. Dies wird sich in einigen Jahren wieder ändern. In 10, 15 Jahren werden wir es vermutlich gemeinsam begrüßen, wenn
sich wieder vermehrt Ausländer dauerhaft in Deutschland niederlassen wollen. Heute gilt: Der politisch Verfolgte aus der Türkei, aus dem Iran, aus dem Irak, um nur Beispiele zu nennen, wird in Deutschland weiterhin Schutz und Zuflucht finden; den türkischen, rumänischen oder bulgarischen Bürger, der heute zu uns kommt, um einzuwandern, werden wir jetzt und in den kommenden Jahren in seine Heimat zurückschikken müssen. Wir benötigen in diesem schwierigen Bereich mehr Klartext.
Die SPD-Fraktion wird in der kommenden Woche - ohne draufsatteln zu wollen, Herr Minister - ihre Vorstellungen zum erleichterten Erwerb der doppelten Staatsbürgerschaft und zur erleichterten Einbürgerung einbringen. Hoffentlich werden wir sie dann auch diskutieren können. Ich denke, wir als SPD werden noch im Frühsommer dieses Jahres den Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes einbringen. Wir haben sehr wohl die Aufgabe, uns dieser schwierigen Problematik zu stellen. Die Probleme in diesem Bereich sind auch in unserer Partei noch längst nicht alle gelöst. Aber durch Nichtstun wird es ja nicht leichter. Wir werden uns also dieser Aufgabe zu stellen haben, und wir werden dieses Gesetz, denke ich, noch im Frühsommer dieses Jahres einbringen.
Dieser Entwurf wird allerdings von Realismus geprägt sein und für einen mittleren Zeitraum eher den Charakter eines Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes haben. In fünf oder zehn Jahren mag die Situation wieder anders sein.
Die Änderung des Art. 16 Grundgesetz und die dazu heute eingebrachten Begleitgesetze sind erforderlich geworden, weil der Art. 16 Grundgesetz angesichts zunehmender Reisefreiheit und der erheblichen sozialen Verwerfungen vor allem in Ost- und Südosteuropa mehr und mehr als Instrument zur Einwanderung nach Deutschland benutzt wurde.
Viele, insbesondere viele in der SPD, glauben, mit der Neufassung des Grundrechts auf Asyl sei der Grundrechtsschutz bis zur Unkenntlichkeit deformiert worden. Diese Befürchtungen nehme ich ernst, sie sind aber nach meiner festen Überzeugung nicht begründet.
Wenn gegenwärtig Flüchtlinge nach Deutschland kommen, werden sie gleichmäßig auf unsere Bundesländer verteilt jedes Bundesland bemüht sich wiederum landesintern um eine gerechte Verteilung. Niemand wird bestreiten, daß dies Sinn macht und vernünftig ist. Es darf in Zukunft, liebe Kolleginnen und Kollegen, in der gleichen Weise keinen Unterschied machen, ob ein Flüchtling in Frankreich, in den Niederlanden oder in Deutschland erstmals das Gebiet der Europäischen Gemeinschaft erreicht.
Die Zuständigkeitsregelungen von Schengen und Dublin sind ein erster wichtiger Schritt zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Flüchtlingsraumes. Leider fehlt noch eine gerechte innereuropäische Verteilungsregelung für Flüchtlinge. Eine solche EG-interne Verteilungsregelung, Herr Minister, ist eine unserer vorrangigen Aufgaben, die wir auf der europäischen Ebene in Zukunft bewältigen müssen. Ich hoffe sehr, daß die Bundesregierung Initiativen ergreift. Sie werden auf diesem Sektor unsere nachhaltige Unterstützung finden.
({3})
Wir haben bereits heute den Kern eines materiell einheitlichen europäischen Flüchtlingsrechts in Gestalt der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention. Wir haben als Deutsche keine Veranlassung, keine Berechtigung zu anmaßender Besserwisserei, zu Hochmut und zu Herablassung. Wir haben aber das Recht, auf die Einhaltung und Anwendung der Konventionen zu bestehen. Auch bei unseren östlichen Nachbarn darf in Menschenrechtsfragen nicht gewackelt werden. Bitte keine faulen Zugeständnisse in irgendeine Richtung.
Hingegen ist uns eine faire Lastenverteilung mit den östlichen Nachbarn, insbesondere mit Polen und der Tschechischen Republik, nicht nur wichtig, sondern unverzichtbare Voraussetzung für die Verabschiedung des Asylkompromisses, für das gesamte Gesetzespaket. Über die Ernsthaftigkeit dieser Aussage, Herr Minister, sollte sich niemand in diesem Hause Illusionen machen.
({4})
Ich sehe, daß die Zeit dahinrinnt. Ich will noch kurz auf zwei, drei Argumente eingehen, die Sie, Herr Minister Seiters, angesprochen haben. Wir haben von seiten der SPD-Fraktion kein Interesse an taktischen Mätzchen. Ich darf, ohne nachkarten zu wollen, allerdings darauf hinweisen, daß wir von seiten der SPD-Fraktion in den durchaus fair geführten Beratungen der letzten Wochen und Monate einige Mühe hatten, eine Reihe von Vorschlägen aus dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf herauszufiltern, die nicht von dem Kompromiß vom 6. Dezember 1992 gedeckt waren.
Man kann über manches diskutieren, was in der Zukunft vielleicht noch einmal angesprochen werden muß. Aber ich sage ganz deutlich, auch für die kommenden, nicht ganz einfachen Beratungen, die noch vor uns stehen: Draufsatteln wird mit der SPD nicht möglich sein, auf keiner Seite. Wir werden das nicht tun. Bitte muten Sie uns das nicht zu, wenn Sie nicht das ganze Paket zum Scheitern bringen wollen.
Damit sind insbesondere auch Sonderverfahren für Flughäfen gemeint. Wir sind gerne bereit, im Rahmen der bestehenden Gesetze praxisnah organisatorische Regelungen zu schaffen, die einige der von Ihnen angesprochenen Probleme lösen helfen. Aber bitte kein Sonderverfahren; das ist nicht vereinbart. Wir werden auf der europäischen Ebene diskutieren müssen, ob wir nicht gemeinsame Regelungen für Flughäfen finden. Das wird für die Zukunft abzuarbeiten sein. Aber im gegenwärtigen Verfahren wird dieser Punkt keine Chance haben, wie auch einige andere, die Sie angesprochen haben.
({5})
Lassen Sie mich noch eine vorsichtige Prognose machen, was dieses Ganze bringen wird. Wir werden ja gefragt: Was bringt das eigentlich? Die Befürchtun12302
gen sind sehr groß, manchmal sind auch die Hoffnungen sehr groß. Ich sage ganz deutlich: Mit deutschen Gesetzen, mit Gesetzen, die dieses Haus, der Deutsche Bundestag, beschließt, beseitigen wir keine Ursachen für säkulare Wanderungsbewegungen. Das wissen wir alle, und wir müssen es auch den Menschen im Lande immer wieder deutlich sagen.
Wir schaffen uns - das ist ja etwas - einige Möglichkeiten mit durchaus begrenzter Wirkung, die Zuwanderung zu steuern. Wir schaffen die Voraussetzungen für eine solidarische europäische Flüchtlingspolitik. Das ist nicht alles, aber doch einiges. Das, was möglich ist, haben wir zu lösen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden unsere Traditionen in Deutschland in Sachen Flüchtlinge nicht aufgeben. Wir leben mit Flüchtlingen, und wir wollen weiterhin mit Flüchtlingen leben - um der Flüchtlinge willen und um unserer selbst willen.
Herzlichen Dank.
({6})
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserer Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Fraktionskollege Jörg van Essen hat die Grundsatzposition der F.D.P. dargelegt, auch was die Grundgesetzänderung betrifft. Ich bin weit davon entfernt, irgend jemandem in diesem Hause die Ernsthaftigkeit bei der Beschäftigung mit diesem schwierigen und wirklich viele Leute bewegenden Thema abzusprechen. Ich will aber nicht verschweigen, daß ich zu einer Minderheit in meiner Fraktion gehöre. Mich bedrückt, daß künftig nach unserem Recht offenbar der Fluchtweg viel entscheidender sein soll als das Gewicht der Fluchtgründe.
({0})
Italien hat ein ganz anderes Asylrecht als wir. Aber man hat dort Schwierigkeiten. Man spricht von einem Zuwanderungsproblem. Es gibt dort eine Million Illegale. Das Problem liegt doch in Wahrheit in der Tatsache, daß sich so viele Menschen auf den Weg in andere Länder und Regionen gemacht haben. Das ist heute schon gesagt worden.
Wir diskutieren heute zum erstenmal über die Begleitgesetze zum Asylkompromiß. Daß es sie gibt, das habe ich nachhaltig begrüßt. Das halte ich für einen Erfolg für alle diejenigen, die immer wieder ein Gesamtkonzept für Zuwanderung und Integration gefordert haben.
({1})
Das wird hier immerhin in Umrissen sichtbar, allerdings nach meinem Dafürhalten in wichtigen Bereichen ein bißchen zu zaghaft. Ich erinnere an Zuwanderungsregelungen, die nur einmal so als Duftmarke genannt worden sind, und vor allen Dingen an die Einbürgerungsmodalitäten.
Vielleicht war es unter dem Druck der Verhandlungen und in der Kürze der Zeit nicht möglich, hier weitere Ausformungen zu finden. Aber das enthebt uns nicht der Aufgabe, hier weiterzugehen. Wir müssen deutlicher werden, wir müssen mutiger werden, wir müssen klarer werden. Niemand kann doch im Ernst glauben, daß wir uns jetzt nach dem Kompromiß zurücklehnen, die Hände in den Schoß legen und der Meinung sein können, wir hätten unsere Schulaufgaben gemacht.
In einem Punkt übrigens muß es, finde ich, ganz rasch eine Regelung geben, und zwar bevor der Entwurf Gesetz wird: Die Vertragsarbeitnehmer der ehemaligen DDR müssen endlich erfahren, woran sie sind.
({2})
Die humanitäre Lösung darf nicht eine vage Absichtserklärung bleiben. Hier ist Eile geboten.
Die Regierungskoalition hat zu Beginn dieser Legislaturperiode eine umfassende Reform des Reichs- und Staatsangehörigkeitsrechts verabredet. Das ist wahrlich notwendig. Die vorgesehenen Änderungen im Ausländergesetz in den §§ 85 und 86 und im Reichs-und Staatsangehörigenrecht sind, wie man so sagt, Schritte in die richtige Richtung. Aber wenn das alles gewesen sein sollte, dann wäre das kärglich. Das entspricht eben nicht der Verabredung in der Koalition, und das entspricht im übrigen nicht den Vorstellungen der Freien Demokraten. Es wird den Gegebenheiten, denen wir uns gegenübersehen, in keiner Weise gerecht.
Wenn das Wort vom Kollegen Marschewski so gemeint sein sollte, daß man hier bei Gelegenheit weitergehen könnte, dann klingt das in meinen Ohren zu sehr nach dem Sankt-Nimmerleins-Tag. Das geht nicht.
Ich habe unlängst einen Gesetzentwurf vorgestellt, in dem umrissen wird, in welcher Weise das Einbürgerungsrecht neu gefaßt werden sollte oder könnte. Ich habe viel Zustimmung dafür erhalten.
({3})
- Quer durch die Parteien und darüber hinaus, lieber Herr Kollege.
Zu meinen Vorschlägen gehört, die Gewährung der deutschen Staatsbürgerschaft nicht länger an die Aufgabe der ursprünglichen Staatsangehörigkeit zu knüpfen.
({4})
Die Forderung nach der Ermöglichung der Doppelstaatsbürgerschaft ist nun wirklich nicht mehr so neu. Tatsächlich nimmt die Zahl der Doppelstaatler in unserem Land ständig zu. Da sind die Kinder aus binationalen Ehen. In der Regel haben sie die Staatsbürgerschaft des deutschen Elternteils wie des ausländischen Elternteils. Da gibt es die Menschen, die nach Art. 116 des Grundgesetzes eingebürgert werden und
die die alte Staatsbürgerschaft behalten können. Da gibt es die Regelungen, die als Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts gelten, in denen ebenfalls die Doppelstaatsbürgerschaft in Kauf genommen wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen vom Koalitionspartner, ich frage Sie: Haben Sie je wirklich ernsthaft von Schwierigkeiten gehört? Diese Schwierigkeiten entstehen in Amtsstuben und in Amtsköpfen, aber nicht in der Lebenswirklichkeit.
({5})
Kaum ein anderer Begriff ist derart mit Vor- und Fehlurteilen belastet wie der der Doppelstaatsbürger-schaft. Ich wünsche mir hier mehr Sachlichkeit und Nüchternheit.
Da Sie so unruhig werden, möchte ich Ihnen auch noch folgendes sagen. Der bayerische Innenminister trägt natürlich mehr zur Verwirrung als zur Verklarung bei.
({6})
Worum geht es denn? Der Grundsatz der einfachen Staatsbürgerschaft ist längst nicht mehr zwingend. Wer ständig darauf verweist, daß Mehrstaatlichkeit nun einmal nicht erwünscht sei, der muß sich sagen lassen, daß es eben Aufgabe der Politik ist, ein als überholt erkanntes Recht neu zu fassen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wiefelspütz?
Ja, gerne.
Bitte, Herr Kollege Wiefelspütz.
Frau Kollegin Schmalz-Jacobsen, sehen Sie denn eine gewisse Chance dafür, daß sich Ihre Fraktion, die F.D.P.-Fraktion, Ihre sehr vernünftigen Auffassungen zu eigen macht?
Wir werden darüber beraten, Herr Kollege. Ich hoffe natürlich, daß sie sich die zu eigen macht. Im übrigen ist das in weiten Teilen schon geschehen.
Meine Kolleginnen und Kollegen, die Entwicklung zu einer offenen, nicht mehr allein nationalen Gesellschaft ist in meinen Augen unaufhaltsam. Das ist doch auch kein Schreckgespenst, dem man sich entgegenstemmen müßte.
Das angebliche Problem der Rechtsunsicherheit stellt sich nur theoretisch - ich wiederhole das -, und vieles, wie etwa die Frage der Wehrpflicht, läßt sich zwischenstaatlich regeln. Zum Beispiel zieht die Türkei einen deutsch-türkischen Doppelstaatler nicht mehr ein. Die Loyalitätskonflikte sind sehr konstruiert und kaum real. Das Beispiel, das heute noch einmal genannt worden ist - der „ deutsche Bosnier" und der „deutsche Serbe" treffen im ehemaligen Jugoslawien
aufeinander -, halte ich für Polemik. Der „deutsche Bosnier" und der „deutsche Serbe" mögen Probleme miteinander in Deutschland haben, sie mögen da Schwierigkeiten haben, wo sie leben. Aber ihre Heimat ist die Bundesrepublik. Sie müssen auch nicht in den Krieg ins ehemalige Jugoslawien. Das Land, dessen Staatsbürgerschaft man erworben hat, ist doch das ausschlaggebende und damit dasjenige, das sie schützt.
({0})
Mein Ziel ist die erleichterte Einbürgerung. Ich möchte nicht, daß hier einmal eine Nachnachfolgerin steht und über die zehnte Ausländergeneration in der Bundesrepublik redet.
({1})
Das erste Haupthemmnis für die Einbürgerung sind die Verfahren - das wird jetzt hoffentlich leichter werden -, und das zweite Haupthemmnis ist die Aufgabe der ursprünglichen Staatsbürgerschaft.
({2})
Das ist die Brücke für Einbürgerung, die in unser aller Interesse ist.
Ich möchte den Asylkompromiß nicht verzögern. Das wäre unredlich. Aber wir, das Parlament, müssen doch die Möglichkeit haben, im Laufe der Beratungen Klarstellungen anzubringen, Änderungen vorzunehmen und uns auf ein Verfahren zu einigen. Das wünsche ich mir.
Danke.
({3})
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Jochen Welt das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit dem Zweiten Weltkrieg haben wir mehr als 170 Kriege und Bürgerkriege auf dieser Erde gehabt, den weitaus größten Teil davon in den Regionen der Dritten Welt. Seit einigen Jahren gibt es allerdings neue Konfliktherde in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Nach dem Auseinanderfallen osteuropäischer Machtstrukturen versuchen viele Völker, ihre Unabhängigkeit zu erreichen. Gerade am Krieg im ehemaligen Jugoslawien wird deutlich, daß oft jahrhundertealte ethnische und religiöse Konflikte mit ungeheurer Wucht wieder aufbrechen. Riesige Flüchtlingsbewegungen werden in Gang gesetzt.
Wir Sozialdemokraten fordern seit langem die Herauslösung der Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Asylverfahren. Wir wollen eine schnelle, praktikable und wirksame Hilfe für Flüchtlinge finden. Wir wollen verhindern, daß Anträge von Bürgerkriegsflüchtlingen die ohnehin überlasteten Asylverfahren weiter verstopfen.
({0})
Deshalb unsere Forderung: Den Flüchtlingen muß schneller und den Gemeinden besser geholfen werden.
({1})
Wir brauchen einen Sonderstatus für Bürgerkriegsflüchtlinge. Dieser neue Status hat zum Inhalt, den Betroffenen einen befristeten Aufenthalt bei uns für die Zeit der Kriegswirren in ihrem Heimatland zu gewähren. Dabei gehen wir davon aus, daß die Mehrzahl der Flüchtlinge nach Beendigung des Konflikts wieder in ihre Heimat zurückkehren wird.
Die neue Regelung ist notwendig, weil wir wegen der sich zuspitzenden Konfliktlagen in Osteuropa und auf dem Balkan in den nächsten Jahren durchaus mit weiteren Flüchtlingswellen rechnen müssen.
Es ist gut, daß die Koalitionsfraktionen mit uns vor diesem Hintergrund zu einem gemeinsamen Vorschlag gekommen sind. Nicht hinnehmbar ist allerdings der Vorstoß, die Menschen mit dem Bürgerkriegsstatus auf Dauer aus dem Asylverfahren herauszuhalten. Gerade bei ungeklärten politischen Lagen im Anschluß an Bürgerkriege dürfen wir niemanden daran hindern, auch bei uns Schutz vor politischer Verfolgung zu suchen.
({2})
Ein vorübergehender Ausschluß während der Zeit, in der jemand schon bei uns Schutz genießt, steht allerdings dem neuen Art. 16 Abs. 1 Grundgesetz nicht entgegen. Aber ein Anschlußasylantrag muß möglich sein.
Ich denke, daß wir mit dem jetzigen Weg eine praktische und auch sachgerechte Lösung gefunden haben. Aber nicht nur der Schutz vor Verfolgung für die Flüchtenden selbst war für uns bei den Verhandlungen von großer Bedeutung. Für meine Fraktion war es außerdem unabdingbar, daß in den neuen gesetzlichen Bestimmungen auch die Verantwortung des Bundes für die Bürgerkriegsflüchtlinge festgeschrieben wird.
({3})
Die Gemeinden und die hilfsbereiten Bürger dürfen nicht weiter alleine die Hauptlast dieser Entwicklung tragen.
({4})
Die Verantwortlichkeit des Bundes bezieht sich auf die Möglichkeit, Gebiete als Bürgerkriegsgebiete zu deklarieren. Sie bezieht sich darauf, eine gewisse Anzahl von Menschen aus diesen Gebieten als Flüchtlinge mit einem Sonderstatus aufzunehmen. Diese Verantwortung des Bundes bedeutet für mich als Bürgermeister einer Ruhrgebietsstadt allerdings auch, daß sich der Bund nicht weiter einer finanziellen Lastenteilung entziehen darf.
({5})
In diesem Zusammenhang weise ich auf die große Zahl von Familien in der Bundesrepublik hin, die Flüchtlinge aufgenommen haben. Sie sind sicherlich in der Lage, für eine gewisse Zeit Unterkunft und
Verpflegung zu sichern. Die Bereitschaft dazu ist ungebrochen. Allerdings sind die damit verbundenen Lasten den Familien nur bedingt und für eine gewisse Zeit zuzumuten. Hier müssen wir den Bürgerinnen und Bürgern Rechtssicherheit und Entlastung anbieten.
Die Gemeinden allein sind bei der finanziellen Absicherung schlichtweg überfordert. Wenn wir die Hilfsbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger erhalten und ausbauen wollen, dann müssen Bund, Länder und Gemeinden in diesem Punkt eine unbürokratische und finanziell tragbare Lösung finden.
Aber nicht nur der Bund, die Länder und die Gemeinden sind gefordert, sondern auch Europa muß mehr Verantwortung für die Menschen aus den Bürgerkriegsgebieten übernehmen. Kriegsverhütung und Konfliktbegrenzung dürfen nicht Schlagworte bleiben. Die Ohnmacht muß dem funktionierenden Krisenmanagement weichen.
Insbesondere bei der Übernahme von Verantwortung für Flüchtlinge muß ein gesamteuropäisches Konzept gefunden werden. Es darf nicht wie beim Krieg im ehemaligen Jugoslawien so sein, daß sich einzelne Staaten ihrer Mitverantwortung entziehen und nur wenige oder gar keine Flüchtlinge aufnehmen. Die Uneinigkeit der Politiker bei der Regelung der Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen auf der Konferenz der Innenminister in Lissabon im letzten Juni bleibt für mich ein europäisches Trauma der Inhumanität.
({6})
Das vereinte Europa wird nur dann seinen Zielen gerecht, wenn es mehr ist als ein ökonomischer Zweckverband. Europa muß auch Sozial-, Not- und Hilfsgemeinschaft sein. Die Bundesregierung ist aufgefordert, diesen Standpunkt noch deutlicher als bisher auf europäischer Ebene zu beziehen.
({7})
Abschließend will ich betonen, daß die Klärung des Flüchtlingsstatus ein wichtiger Teil eines Gesamtpaketes ist. Allerdings lösen wir mit den heute einzubringenden wichtigen Teilaspekten noch keinesfalls die zukünftigen Probleme der Zuwanderung und der Wanderungsbewegungen insgesamt. Wir haben hier große weitere Aufgaben der staatsbürgerschaftlichen Regelung, der weiteren Klärung von wichtigen Fragen. Wir werden an diesem Gesamtpaket noch weiter zu arbeiten haben.
({8})
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Norbert Geis das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man muß sich noch einmal die dramatische Entwicklung vor Augen halten. Wir haben in den ersten beiden Monaten dieses Jahres insgesamt 75 000 Asylbewerber, die zu
uns gekommen sind und bei uns Bleiberecht suchen. Das sind 20 Prozent mehr als in den beiden ersten Monaten des Vorjahres. Das bedeutet, daß wir monatlich Menschen in der Größenordnung einer mittleren Stadt bei uns aufnehmen, die zu uns kommen und bei uns Bleiberecht suchen. Das muß - das kann man sich ganz leicht ausrechnen - zur Katastrophe führen, wenn wir es nicht schaffen, dem einen Riegel vorzuschieben.
Das führt in der Bevölkerung zu Angst. Das müssen wir doch sehen und erkennen. Die Menschen haben Angst vor den Problemen, die ein solcher Flüchtlingsstrom, der unkontrolliert auf uns zukommt, mit sich bringt. Sie haben Angst davor, daß die vielen Flüchtlinge nicht mehr untergebracht werden können. In Baden-Württemberg ist zwischen 60 Gemeinden und der Landesregierung ein Rechtsstreit ausgebrochen, weil sie sich gegen die Zuteilung von Asylbewerbern wehren müssen; denn sie sind überhaupt nicht mehr in der Lage, sie unterzubringen.
({0})
Wir wissen doch, daß die Kriminalität in unserem Land dramatisch ansteigt. Und wir wissen doch auch, wie hoch die Beteiligung von Ausländern dabei ist. Man darf doch die Augen davor nicht verschließen.
({1})
Dies ist das Agitationsfeld der Rechtsradikalen. Wir machen es doch den Rechtsradikalen leicht. Sie agitieren, und diese Agitation führt doch nur noch zu mehr Angst und zu mehr Hysterie. Das müssen wir erkennen.
({2})
Es wäre völlig verkehrt, davor die Augen zu verschließen.
Deswegen haben sich die Parteien zusammengefunden und einen Kompromiß zustande gebracht, der sich doch sehen lassen kann. Es geht jetzt darum, diesen Kompromiß auch wirklich in Gesetze umzusetzen.
({3})
Eine zweite Überlegung: Durch den unkontrollierten Zustrom von Flüchtlingen wird das Grundrecht auf Asyl täglich und dauernd massenhaft mißbraucht. Wenn Sie sich einmal die Anerkennungsquoten betrachten, dann werden Sie mir recht geben. Im Februar hat das Bundesamt über 34 000 Fälle entschieden. Die Anerkennungsquote lag bei 1,6 %; verschwindend gering. Dies bedeutet tatsächlich einen massenhaften Mißbrauch des Rechtes auf Asyl, so wie wir es im Grundgesetz niedergelegt haben.
({4})
Und wir schauen diesem massenhaften täglichen und
andauernden Mißbrauch tatenlos zu. Der Vorwurf an
uns wäre doch berechtigt, daß das nichts anderes als ein Verfassungsbruch ist, den wir täglich hinnehmen. Wir machen uns doch an diesem Verfassungsbruch mitschuldig, wenn wir nicht eine Regelung finden, um diesem Verfassungsbruch entgegenzutreten.
Auch deswegen haben sich die Parteien zusammengefunden. Und es ist gut, daß sie sich zusammengefunden haben. Wir dürfen nur diesen Kompromiß jetzt nicht verwässern.
Ein Drittes. Unser Asylrecht, so wie es im Grundgesetz niedergelegt ist, ist als Freiheitsrecht ausgebildet. Aber wenn man es tatsächlich einmal durchleuchtet, so wie es bei uns angewandt wird, dann bedeutet dies zwar ein Freiheitsrecht gegenüber dem Verfolgerstaat. Aber bei uns hat sich doch dieses Recht als ein soziales Teilhaberecht ausgestaltet; denn wir, der Staat, gewähren ihnen Hilfe, Unterstützung, gewähren ihnen Unterkunft und Unterhalt.
({5})
- Ich möchte jetzt keine Zwischenfragen zulassen.
Es ist also ein soziales Teilhaberecht. Jedes soziale Teilhaberecht - das wissen wir doch - steht unter dem Vorbehalt der Leistungsfähigkeit des jeweiligen Gemeinwesens. Wenn wir aber nicht Regelungen finden, die den unkontrollierten Zustrom von Flüchtlingen stoppen, können wir doch ganz leicht ausrechnen, wann wir an die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit gestoßen sind. Kein Staat auf dieser Welt aber hat das Recht, seine Bürger in dieser Weise zu überfordern.
({6})
Deshalb sind nicht diejenigen, die für eine Änderung des Grundgesetzes eintreten, die, denen man vorwerfen muß, sie würden das Asylrecht und damit das Grundgesetz mit Füßen treten. Vielmehr sind diejenigen, die sich hinstellen und als große Hüter der Verfassung auftreten, in Wirklichkeit die, denen man den Vorwurf machen muß, daß sie sich des Verfassungsbruches schuldig machen.
({7})
Sie sind diejenigen, die sich nicht dem Grundgesetz gemäß verhalten.
({8}) Das muß doch einmal gesagt werden.
Wir widersetzen uns dem Vorwurf, daß wir diejenigen seien, die das Recht, so wie wir es im Grundgesetz niedergelegt haben, verletzen. Wir, die Politiker, haben den Auftrag, das Grundgesetz zu wahren und dafür zu sorgen, daß es eine Akzeptanz in der Bevölkerung hat. Diejenigen, die das tun, sind doch nicht diejenigen, die die Verfassung brechen.
({9})
- Richtig, Herr Hirsch. Ich gebe Ihnen in diesem Fall ausnahmsweise Recht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Kernstück des Kompromisses ist die Drittstaatenregelung.
({10})
- Ein Kernstück, habe ich gesagt. Sie brauchen mir keine falschen Zungenschläge hereinzubringen.
Wir müssen aber doch erkennen, daß der Vorwurf, den man uns deswegen macht - wir würden auf diese Weise unsere Last Drittstaaten aufbürden -,
({11})
falsch ist. Und zwar warum? Er ist deshalb falsch, Herr Weiß, weil sich die Drittstaaten ihrer Verantwortung bislang nicht bewußt waren.
({12})
Was ist denn geschehen? Die Flüchtlinge sind gekommen, die Drittstaaten haben Spalier gestanden und haben sie alle in die Bundesrepublik weitergeschickt, obwohl die Flüchtlinge in der Lage gewesen wären, in diesen Drittstaaten Aufnahme und Schutz vor Verfolgung zu finden.
({13})
Deswegen ist es nicht mehr als recht und billig, daß wir die Drittstaaten an ihre Verantwortung erinnern.
({14})
Herr Abgeordneter, ich habe den Redner so verstanden, daß er grundsätzlich keine Zwischenfragen zulassen will.
Nein, ich möchte keine Zwischenfragen zulassen.
Ich wäre dankbar, wenn Sie das respektieren würden.
Ein weiterer Gedanke in diesem Zusammenhang. Wir weisen den Vorwurf zurück, wir würden fremden Staaten Lasten aufbürden, weil es richtig ist, daß wir die Drittstaaten an ihre Verantwortung erinnern. Das Flüchtlingsproblem ist aber nicht nur ein deutsches Problem, es ist ein europäisches Problem. Die Flüchtlinge, die zu uns kommen, wollen in den sicheren Westen. Deswegen ist es nicht mehr als recht und billig, daß wir dies auch europäisch geltend machen.
Wenn wir aber, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, von vornherein die Zustimmung zu dieser Drittstaatenregelung, so wie sie jetzt in den Ausführungsgesetzen ausgestaltet ist, davon abhängig machen, wie es uns gelingt, mit den Polen und mit anderen Drittstaaten Vereinbarungen zu treffen, schwächen wir doch die Verhandlungsposition der Bundesregierung.
({0})
Es ist doch richtig, daß wir mit denen Vereinbarungen
treffen. Aber wir dürfen doch, innerstaatlich gesehen,
die Position unserer Verhandlungsführer, wenn sie mit den Polen, wenn sie mit den Drittstaaten sprechen, nicht dadurch schwächen, daß wir sagen: Wir stimmen dem nicht zu, wenn nicht erst eine vernünftige Regelung erfolgt.
({1})
Diese Position ist auch unter dem Gesichtspunkt falsch, daß, wie ich vorhin gesagt habe, dieses Problem ein europäisches Problem ist. Deshalb müssen wir auch an die europäische Solidarität appellieren. Aber wir machen es doch den anderen Europäern ziemlich leicht, wenn wir die Last dieser Unterstützung der Drittstaaten allein auf uns nehmen und im übrigen die Europäer beiseite stehen lassen. Deswegen ist es auch aus diesem Grunde falsch, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, die grundsätzliche Zustimmung zu diesen Ausführungsgesetzen davon abhängig zu machen, wie wir unsere Regelungen mit den Drittstaaten gestalten. Das ist eine falsche Überlegung. Das ist von der Taktik her falsch, nicht von der Grundüberlegung her. Deswegen lehnen wir es ab.
({2})
Lassen Sie mich noch einen weiteren Gesichtspunkt anfügen. Das ist das Problem des Zustroms von Flüchtlingen über die Flughäfen. Der Herr Innenminister hat dies bereits gesagt. Ich meine, wir können nicht umhin, auch für die Flughäfen Regelungen zu treffen, die es ermöglichen, den Asylbewerbern dort ein Verfahren anzubieten, bevor sie einreisen. Wenn sie eingereist sind, haben wir so leicht nicht mehr die Möglichkeit, sie dann, wenn wir festgestellt haben, sie sind in Wirklichkeit keine Asylbewerber, wieder in ihr Herkunftsland zurückzuschicken. Wir müssen in den parlamentarischen Beratungen hierauf achten.
Es ist auch zu überlegen, wie wir mit der Abkürzung des Rechtswegs zu Rande kommen. Wenn wir es schaffen, daß die Asylbewerber in den jeweils dafür vorgesehenen Unterkünften untergebracht werden, dann muß es doch möglich sein, die Fristen des Rechtswegs zu verkürzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Parteien, die F.D.P., die CDU/CSU und die SPD, haben in einer gewaltigen Kraftanstrengung am 6. Dezember 1992 einen, wie ich meine, guten Kompromiß gefunden. Wir sind den Verhandlungsführern, dem Fraktionsvorsitzenden, dem Innenminister und denen, die dabeigewesen sind, zu größtem Dank verpflichtet. Es geht jetzt darum, daß wir diesen Kompromiß umsetzen, und es geht darum, daß wir möglichst nah an diesem Kompromiß bleiben und ihn nicht verwässern. Deswegen dürfen wir ihn nicht mit anderen Überlegungen befrachten, beispielsweise mit denen der Staatsangehörigkeit. Wir müssen aufpassen, daß wir die Linie jetzt auch durchhalten. Wir müssen der Bevölkerung draußen sagen, daß, wenn wir im Parlament beraten, dies auch seine Zeit braucht. Wenn hier um Formulierungen gerungen wird, ist dies nicht ein Zeichen von Entscheidungsschwäche, vielmehr müssen wir um Formulierungen ringen. Aber wir dürfen nicht die Schwäche haben, eine Regelung zu finden, die am Schluß nichts bringt.
Davor müssen wir uns hüten. Dies würde zu einer großen Enttäuschung in der Bevölkerung führen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({3})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Konrad Weiß das Wort.
Herr Kollege Geis, Sie haben den Vorwurf des Mißbrauchs des Asylrechts zum ich weiß nicht wievielten Male wiederholt und haben sich dabei auch auf Zahlen bezogen. Etwa 36 000 Asylbewerber sind im Februar nach Deutschland gekommen. Sie haben auch die Zahl derjenigen genannt, die anerkannt worden sind: 1,6 %. Ich denke, die intellektuelle Redlichkeit verlangt es, daß das auch einmal in abstrakten Zahlen ausgedrückt wird. Das sind 552 Asylbewerber, die im Februar 1993 in Deutschland anerkannt worden sind und ein Recht auf Asyl wahrgenommen haben.
({0})
Das Zweite. Sie haben den Drittstaaten vorgeworfen, ihre Verantwortung nicht wahrzunehmen. Ich denke, auch da verlangt es die intellektuelle Redlichkeit, zu fragen: Wie soll denn die polnische Republik, wie soll denn die Tschechische Republik ihre Verantwortung angesichts der fatalen Situation in diesen Ländern wahrnehmen? Was verlangen Sie denn von unseren Nachbarn im Osten, wenn Sie mit Ihrer Konstruktion erreichen wollen, daß sie alle Asylbewerber, alle Flüchtlinge, die wir nicht aufnehmen wollen, obwohl wir unendlich viel besser gestellt sind als Polen und Tschechen, aufnehmen sollen? Ich denke, diese Frage muß mit allem Nachdruck, mit allem Ernst gestellt werden. Wenn wir bei den Asylregelungen unsere östlichen Nachbarn außer acht lassen und auch weiter nicht über die polnische und tschechische Grenze hinaus denken, wird uns das, was wir jetzt versuchen wegzuschieben, in wenigen Jahren massiert auf die Füße fallen.
({1})
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Barbara Höll das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte ist grundgesetzwidrig, nicht nur, weil hier und jetzt über Folgegesetze eines veränderten Art. 16 des Grundgesetzes debattiert wird, obwohl Art. 16 noch in der alten Form gilt - an den Gesprächen dazu sind ja immer nur bestimmte Parteien beteiligt -, sondern weil in den vorgelegten Entwürfen Art. 1, 2 und 3 des Grundgesetzes in Geist und Inhalt außer Kraft gesetzt werden. Ich möchte dies am Beispiel des sogenannten Gesetzes zur Neuregelung der Leistungen an Asylbewerber nachweisen.
Das vorgelegte Gesetz verfolgt als vorrangiges Ziel eine deutliche Absenkung der bisherigen Leistungen mit der Begründung, daß in den letzten Jahren die Zahlen von Ausländern, insbesondere Asylsuchenden, und solchen Ausländern, denen vor allem aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen ein gewisses Bleiberecht zu gewähren ist, erheblich gestiegen sei. Nicht nur, daß wissentlich falsche Zahlen in der Öffentlichkeit verwandt werden, u. a. indem man nur die Zahl der Asylbewerber nennt und nicht die Zahl der Menschen, die das Land monatlich verlassen.
Es ist Realität, daß sich die etablierten Parteien in der BRD in beschämender Einmütigkeit ermächtigt fühlen, die Würde des Menschen zu verletzen und den Grundsatz, daß alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, aufzuheben. Nach dem vorgelegten Entwurf erfolgt eine generelle Kürzung der Leistungen auf ein Viertel des durchschnittlichen Sozialhilferegelsatzes von 501 DM auf 360 DM, die generelle Streichung eines Mehrbedarfszuschlags z. B. für ältere Menschen, Menschen mit Behinderung, werdende Mütter, die generelle Priorität der Ausgabe und Leistung in Form von Sachleistungen oder bestenfalls von Wertgutscheinen und nur in Ausnahmefällen von Bargeld, die Reduzierung des für einen Erwachsenen frei verfügbaren Bargeldes auf 80 DM monatlich, d. h. auf 16 % des durchschnittlichen Sozialhilfesatzes, und das reicht im gegebenen Fall nicht einmal mehr für einige Schachteln Zigaretten und vielleicht noch für Porto, um einen Rechtshilfebeistand zu beantragen, oder mögliche Fahrtkosten, die entstehen.
({0}) - Genauso ist die Realität.
Weitere Ziele sind eine grundsätzliche Absage an die Grundintention des Bundessozialhilfegesetzes in § 3 Abs. 1, daß sich Art und Form der Sozialhilfe „nach der Besonderheit des Einzelfalls, vor allem nach der Person des Hilfeempfängers, der Art seines Bedarfs und der örtlichen Verhältnisse" richtet, und eine Einführung des allgemeinen Arbeitsdienstes gegen ein lächerliches Entgelt von 2 DM pro Stunde. Ein solches will die Familienministerin nach Möglichkeit nun auch für alle anderen Sozialhilfeempfänger einführen.
Diese angestrebten gesetzlichen Regelungen definieren somit einen neuen Minimalstandard des notwendigen Existenzminimums. Die Grundaufgabe der Sozialhilfe, „dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht", wird damit auf eklatante Weise über Bord geworfen. Diese Unterteilung der Würde des Menschen auf materiallem Niveau hat bisher nur oder hauptsächlich zwischen Erster und Dritter Welt stattgefunden. Jetzt wird es innerhalb Deutschlands verwirklicht. Es gibt dann die Würde von Deutschen, deutschen Aussiedlern und Menschen, denen man ein Bleiberecht ermöglicht, und es gibt ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger, die sich auf Grund ihrer Rasse, politischen oder religiösen Überzeugung in ihren Heimatländern in ihrem Leben bedroht fühlen und deshalb eben hier um Asyl nachsuchen. Diesen Menschen wird von vornherein ein
geringerer Anspruch auf ein Existenzminimum untergeschoben.
Politisch und medienmäßig vorbereitet ist das die Umsetzung nationalistischer Biertischparolen. Suggeriert wird den Bürgern mit diesem Gesetz, daß Asylbewerber grundsätzlich Menschen sind, die es eigentlich ausschließlich auf unsere sozialen Leistungen abgesehen haben und deshalb abgeschreckt werden müssen. Zur Verbindlichkeit wird erhoben, daß diese Menschen geringere Bedürfnisse haben, weil sie aus ärmeren Ländern kommen. Abzulesen ist gleichfalls, daß Flüchtlinge, da ungebildet, keinen Bildungsbedarf haben. Das ist nichts anderes als Ausdruck von Rassismus, und der Gesetzentwurf ist die Verwirklichung dieses strukturellen Rassismus.
Ich möchte hier noch einmal Art. 3 des Grundgesetzes zitieren, daß niemand „wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden darf". Bitte erklären Sie mir, wieso das, was Sie hier auf Grund der Heimat und der Herkunft verwirklichen, keine Benachteiligung ist!
({1})
Es ist bitter, daß führende Teile der deutschen Sozialdemokratie mit der grundsätzlichen Billigung der Senkung der Leistungen an Asylbewerber im sogenannten Asylkompromiß im Dezember vergangenen Jahres diesen strukturellen Rassismus unterstützen. Es ist der Einstieg in ein Zweiklassenrecht der Sozialhilfe. Es ist jetzt schon offensichtlich, daß dieser Einstieg in den Ausstieg aus der Sozialhilfe, wie es Pro Asyl treffend kennzeichnet, die Tür zum Abbau des Rechts auf individuelle Sozialhilfe für alle Menschen, die in Deutschland leben, öffnet.
({2})
Ich will doch eine Bemerkung machen. Ich glaube, daß ich in diesem Saal niemanden kenne, der in dieses Parlament gewählt ist, der Rassismus betreiben will.
({0})
Ich möchte eine zweite Feststellung treffen. Ich glaube, daß niemand im Saal ist, der gegen das Grundgesetz verstoßen will.
({1})
Nun erteile ich das Wort unserem Kollegen Dr. Wolfgang Ullmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war von vornherein meine Absicht, nur zu Art. 3 des vorliegenden Gesetzentwurfs zu sprechen. Nach den Darlegungen des Herrn Bundesinnenministers habe ich dazu einen sachlichen Grund mehr; denn er hat ja nun dargelegt, daß dieser sogenannte Asylkompromiß in Wirklichkeit ein Abschiebekompromiß ist. Dem habe ich in der Tat nichts hinzuzufügen - außer der einen verwunderten Anmerkung, Herr Bundesinnenminister, daß Ihnen die Flugplätze jetzt einfallen. Wenn man so merkwürdige Verfassungsänderungen vorhat und Reisewege in die Verfassung schreiben will, dann muß man schon auch den Luft- und den Seeweg einbeziehen. Das ist freilich nicht mein Problem, sondern das Problem derjenigen, die solche bizarren Grundgesetzänderungen vorhaben.
Die zweite Bemerkung. Meine Herren Kollegen - ich denke vor allem an Herrn Geis -, die Staatsbürgerschaftfrage, Herr Geis, hängt eben mit dieser Sache zusammen. Sie reden in Ihrem Gesetzentwurf ja auch darüber. Das ist, finde ich, ein echter Fortschritt. Darum will ich mich jetzt diesem Art. 3 zuwenden.
Die Frau Ausländerbeauftragte hat auch recht, glaube ich. Hier gibt es unter uns ein allgemeines Problembewußtsein. Wir müssen dieses Staatsbürgerschaftsrecht ändern. Wir haben ja schließlich 4,6 Millionen Bürger in unserem Lande, die keine deutsche Staatsbürgerschaft haben und darum von politischen Rechten ausgeschlossen sind.
({0})
Es darf niemanden verwundern, daß unter solchen Bedingungen die Entfremdung zwischen Staat und Gesellschaft immer größer werden muß.
({1})
Wie soll das aber auch anders sein, wenn man ein Staatsbürgerschaftsrecht hat, das aus dem Jahre 1913 stammt, also aus der Zeit vor den großen rassistischen und ethnischen Krisen des Zweiten Weltkriegs und der Migrationsbewegung, der Einwanderung der 60er Jahre?
In welche Richtung müssen die Änderungen gehen? - Das ist schon angedeutet worden. Erstens müssen wir wegkommen vom Abstammungsprinzip, dem lus sanguinis, und hinkommen zum Territorialprinzip, dem ius soli.
({2})
Das zweite ist auch von der Frau Ausländerbeauftragten mit Recht eingefordert worden.
({3})
Wir müssen uns vom Prinzip einer negativen Bewertung der Mehrfachstaatsbürgerschaft abkehren. Die Argumente werden meist mit dem Europaratsvertrag vom 6. Mai 1963 begründet und sind in der Tat meist von der Wehrpflicht hergeholt. Das ist einfach nicht
mehr aktuell unter den Bedingungen, die der Vertrag von Maastricht geschaffen hat, in dem wir auf eine Europabürgerschaft zugehen. In diese Richtung muß es also gehen.
Am konsequentesten, denke ich, ist diese neue Richtung eingeschlagen in den Gesetzentwürfen der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, in unseren Vorschlägen zu einer rechtlichen Gleichstellung der ausländischen Wohnbevölkerung, in unseren Vorschlägen für die Doppelstaatsbürgerschaft und in unserem Entwurf zu einer Neufassung des Art. 116.
Ein Lichtblick in der trüben Landschaft der deutschen Staatsbürgerschafts- und Ausländergesetzgebung ist natürlich der Gesetzentwurf der Frau Ausländerbeauftragten. Ich hoffe nur, daß sich in diesem Haus so viel Vernunft in allen Fraktionen findet, daß wir uns der Arbeit daran bald zuwenden können.
({4})
Ihr Art. 3, meine Damen und Herren von der CDU/CSU-F.D.P.-Koalition, geht ja auch in diese Richtung. Ich kann nur hoffen, Frau Schmalz-Jacobsen, daß Ihre pessimistische Deutung der Äußerung von Herrn Marschewski nicht zutrifft,
({5})
sondern daß wir uns bald zur Arbeit an Ihrem neuen Entwurf gemeinsam finden.
Danke.
({6})
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort der Bundesministerin für Justiz, Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Herr Präsident Meine Kolleginnen und Kollegen! Vor genau sechs Wochen haben wir in erster Lesung den Gesetzentwurf behandelt, der mit seinem Vorschlag für einen neuen Art. 16a unserer Verfassung die Grundlage für eine Neuregelung des Asylrechts bilden soll. Wir haben bei den Beratungen über die Entwürfe der heute vorliegenden einfachgesetzlichen Regelungen in den vergangenen Wochen - ich möchte das betonen - eine sehr sachliche Diskussion und Auseinandersetzung geführt.
({0})
Was vielleicht zum Teil die Diskussion im letzten Jahr beherrscht hat, die schrillen Töne, haben wir abgelegt. Dabei sollte es auch bleiben, weil wir gemeinsam einen vernünftigen Kompromiß finden wollen, der in
der tatsächlichen Umsetzung letztlich das bringt, was sich viele davon erwarten,
({1})
und der das erfüllt, was an Erwartungshaltung in der Öffentlichkeit erzeugt worden ist.
Dazu gehört auch, daß wir auf der einen Seite die Situation natürlich so darstellen, wie sie tatsächlich ist. Wir sollten nichs verharmlosen, auch nichts überdramatisieren, gerade wenn wir mit Zahlen arbeiten müssen. Wir alle sehen realistisch, wie sich die Zahlen der Asylbewerber in den ersten zwei Monaten des Jahres 1993 entwickelt haben. Wir sehen, wie die Flüchtlingsprobleme insgesamt in den osteuropäischen Ländern ansteigen und der Druck stärker wird. Wir sehen damit auch, daß es letztlich einmal um die Fragen des Asylrechts geht, das aber nur ein Aspekt in einem Gesamtkonzept ist, das wir in dem Kompromiß am 6. Dezember letzten Jahres angedacht haben, in dem wir eben neben den Asylrechtsregelungen auch Regelungen über die Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung angesprochen und eingefordert haben. Das wird unter Berücksichtigung der steigenden Zahlen mit Sicherheit eher ein Schwergewicht bei den Beratungen und den Diskussionen sein, die wir politisch natürlich notwendigerweise führen müsen.
({2})
Als dritter Punkt gehört auch die Befassung mit Regelungen zum Staatsangehörigkeitsrecht dazu. Ich möchte hier ganz deutlich folgendes sagen: Uns geht es überhaupt nicht darum, bei diesen Fragen den Asylkompromiß neu zur Diskussion zu stellen; wir möchten bei diesem Punkt der anstehenden notwendigen Beratungen einer Reform unseres Staatsangehörigkeitsrechts deutlich machen, daß wir die politische Diskussion beginnen müssen.
Es ist sehr gut, finde ich, daß es konkrete Vorschläge dazu gibt, die die Probleme aufzeigen, und daß wir uns mit Fragen der doppelten Staatsangehörigkeit auseinandersetzen müssen. So wie wir es bei der Asyldiskussion gemacht haben, sollten wir auch in diesem Punkt nicht nur Argumente austauschen, sondern auch zuhören und überlegen, wieweit wir uns vielleicht auch von Auffassungen, die wir bisher noch nicht teilen, überzeugen lassen können.
({3})
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Marschewski? - Bitte, Kollege Marschewski.
Frau Ministerin, ist Ihnen bekannt, daß die CDU/CSU-Fraktion bereits im letzten Jahre den Herrn Bundesinnenminister aufgefordert hat, Neuregelungen zum Staatsangehörigkeitsrecht vorzulegen, daß der Bundesinnenminister sofort gehandelt hat, daß er eine Arbeitsgruppe von Bund und Ländern eingerichtet hat, die sich mit der sehr schwierigen Materie befaßt, und daß weder Sie noch die Frau Ausländerbeauftragte die ersten sind, die dieses Problem aktuell angefaßt haben?
({0})
Herr Marschewski, ich finde es sehr gut, daß Sie das so ansprechen, weil ich daraus Ihre Bereitschaft entnehme, jetzt in eine offene Diskussion zu diesen Fragen einzutreten.
({0})
Da können neue Vorschläge, die hinzukommen, nur eine Bereicherung sein.
({1})
Von daher haben wir in diesem Punkt auch keinen Dissens. Genau wie wir uns über die einfachgesetzlichen Asylregelungen unterhalten haben, werden wir das auch in diesem Punkt tun. Wenn wir das wirklich in der gebotenen Sachlichkeit und Nüchternheit machen, dann sind wir da auch auf einem guten Wege.
({2})
Aber ich möchte hier klarstellen. Es geht nicht darum, etwas draufzusatteln oder damit die Verabschiedung dieses Kompromisses und die Umsetzung des Kompromisses zu behindern oder hinauszuzögern.
({3})
- Etwas anderes ist nie, auch nicht von denen, die Vorschläge vorgelegt haben, behauptet worden oder damit verbunden worden.
Ich möchte jetzt nicht noch einmal in die grundsätzliche Diskussion einsteigen - viele Dinge sind heute ja schon genannt worden -, sondern nur noch einen Punkt ansprechen, der die Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens betrifft. Ich möchte hier klar sagen: Alle diejenigen, die zu Recht eine Beschleunigung der Verwaltungsverfahren fordern, müssen dann natürlich auch eine Beschleunigung und Verkürzung der gerichtlichen Verfahren mittragen. Das war nicht immer leicht in den Beratungen, als das Justizministerium dazu Vorschläge vorgelegt hat.
Ich bin froh, daß wir uns jetzt auf eine Linie geeinigt haben, die zum Inhalt hat, daß wir in offensichtlich unbegründeten Fällen und dann, wenn ein Asylbewerber aus einem sogenannten sicheren Herkunftsland kommt, einen einstweiligen Rechtsschutz im Inland vorsehen und, wie ich meine, damit die richtige Entscheidung getroffen haben in der Abwägung einmal des Rechtes desjenigen, der eine politische Verfolgung behauptet, sie auch darlegen und dann in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren überprüfen lassen zu können, und auf der anderen Seite der Anforderungen, die wir nach unserer Verfassung haben, nämlich des Art. 19 Abs. 4. Ich stehe hinter den Fristen, die wir jetzt in dem Gesetzentwurf festzuschreiben versucht haben, und möchte ganz klar sagen, daß es uns nicht darum geht, daß hier Richter mit Fristen gegängelt werden. Wir sind der Meinung, daß eingearbeitete Verwaltungsrichter für einen Asylantrag, der offensichtlich unbegründet ist, nicht eine Woche lang zur Entscheidung brauchen. Wenn es zu starken Überlastungen kommen sollte, haben wir die Möglichkeit vorgesehen, daß Fristverlängerungen beantragt werden können. Ich glaube, damit haben wir die Grundlagen geschaffen, daß es tatsächlich dann zu einem effektiven und auch einem schnellen Gerichtsverfahren im einstweiligen Rechtsschutz kommen kann.
Aber ganz wichtig ist - das ist auch schon in den Gesprächen zu dem Kompromiß am 6. Dezember deutlich geworden -: Wir müssen hier auch die Länder, die ja durch einige Ministerpräsidenten bei den Beratungen zu diesem Kompromiß vertreten waren, mit in die Pflicht nehmen; denn sie müssen die personellen und sachlichen Voraussetzungen für die Einhaltung dieser Fristen und dieses Verfahrens schaffen. Ich bin nicht bereit hinzunehmen und finde es auch unannehmbar, daß wir die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 allein deshalb weiter einschränken müßten, weil die Arbeitsvoraussetzungen in den Gerichten eine fristgerechte und sorgfältige Durchführung von Asylverfahren nicht gewährleisten.
({4})
Ich glaube, die Verantwortlichkeiten bei der Umsetzung des Kompromisses sind klar. Es ist der Bund, der zum Teil mehr Kompetenzen bekommt. Es sind die Länder, die natürlich eine ganz entscheidende Aufgabe auch bei der Durchführung der Abschiebung haben. Ich glaube, da wäre es interessant, in den nächsten Wochen einmal die Zahlen zu sehen, wie sich tatsächlich die Abschiebung entwikkelt hat, unabhängig von den Regelungen, die wir jetzt hier beraten und von denen ich hoffe, daß wir sie so, wie ich zu Anfang schon gesagt habe, in einer sehr sachlichen, vernünftigen Atmosphäre beraten werden, auch wenn es noch einige Punkte geben wird, über die bisher keine Einigkeit erzielt werden konnte.
Ich möchte gerade, was die sicheren Herkunftsländer betrifft, doch darum bitten, daß wir bei den Beratungen über die Aufnahme der sicheren Herkunftsländer auch die außenpolitischen Implikationen und Verwicklungen mit berücksichtigen und dort, wie es auch das Anliegen ist und in den Beratungen zu Anfang zum Ausdruck kam, sehr behutsam und sehr vorsichtig vorgehen. Denn das ist genau das, was wir auch in einigen anderen europäischen Ländern sehen müssen: daß man sehr vorsichtig und zurückhaltend mit den Listen über die sogenannten sicheren Herkunftsländer umgeht.
Frau Ministerin, Sie gestatten noch eine Zusatzfrage des Kollegen Wiefelspütz? - Bitte, Kollege Wiefelspütz.
Frau Ministerin, ich möchte Sie bitten, aus dieser Debatte mitzunehmen, daß wir als SPD-Fraktion die Hoffnung haben, daß Sie in den Gesetzesberatungen das rechtsstaatliche Gewissen dieser Bundesregierung sind.
({0})
Herr Wiefelspütz, wir waren ja teilweise zusammen bei den Gesprächen dabei, und ich habe hier ganz deutlich unterstrichen, daß wir gerade in den Punkten, wo wir, was den gerichtlichen Teil betrifft, zu einer Einigung gekommen sind, wirklich sehr gute und konstruktive Gespräche geführt haben. Ich habe schon zu Anfang gesagt: Dafür bedanke ich mich bei allen aus allen Fraktionen, die daran mitgewirkt haben.
({0})
Ich möchte zum Schluß nur noch ein Wort anmerken. Wir haben große Schwierigkeiten gehabt, auch eine Regelung für die Bürgerkriegs- und Kriegsflüchtlinge zu finden. Ich meine, wir haben eine auch aus verfassungsrechtlicher Sicht vernünftige Lösung gefunden, die einen besonderen Aufenthaltsstatus gewährleistet und nicht ermöglicht, während dieses Status' einen Asylantrag zu stellen, um in das Asylverfahren umwechseln zu können, sondern wir haben vernünftig zu Beginn eines Verfahrens, eines Asylverfahrens oder eines Verfahrens zur Anerkennung als Bürgerkriegsflüchtling, und zum Schluß des Verfahrens diese Entscheidungsmöglichkeiten aufgezeigt. Ich glaube, daß wir auch da nach den Beratungen und den sehr unterschiedlichen vorliegenden Konzeptionen einen vernünftigen Weg gegangen sind. Die künftige Debatte sollte davon leben, daß wir gemeinsam schrille Töne vermeiden.
Vielen Dank.
({1})
Nächste Rednerin ist jetzt Frau Kollegin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf in Ergänzung meines Kollegen Wiefelspütz noch sagen, daß nicht nur die Justizministerin das rechtsstaatliche Gewissen bei den Beratungen sein wird, sondern selbstverständlich die gesamte SPD-Fraktion diesen Anspruch für sich reklamiert.
({0})
Meine Kolleginnen und Kollegen! Seit wir über eine neue Asyl- und Zuwanderungspolitik reden, hat sich die Diskussion immer wieder auf die Frage nach einer Grundgesetzänderung vor allem im Zusammenhang mit dem Art. 16 zu sehr verengt. Immer wieder haben wir Sozialdemokraten darauf gedrängt, die gesamte Problematik so umfassend zu behandeln, wie sie es verdient. Denn die Zuwanderung zu steuern und zu begrenzen ist ein wesentlicher Aspekt, aber eben nur einer.
Die zahlreichen Aktionen gegen Fremdenhaß in unserem Land, Lichterketten, Runde Tische, Appelle, Unterschriftensammlungen, waren gut und unglaublich wichtig. Aber wir dürfen es nicht bei Solidaritätsadressen und Gesprächen bewenden lassen. Gerade in dieser schwierigen Auseinandersetzung um die Neuregelung, in der wir uns befinden, steht es uns gut an, liebe Kollegen und Kolleginnen, mit sehr konkreten Schritten den Ausländerinnen und Ausländern zu zeigen, daß wir gern mit ihnen leben und endlich etwas tun wollen, um ihre Rechtsstellung, ihren Status zu verbessern.
({1})
Eine Möglichkeit besteht darin, die Einbürgerung zu erleichtern und die doppelte Staatsangehörigkeit generell zuzulassen. Es ist ja kein Zufall, daß heute morgen dieser Aspekt eine erhebliche Rolle spielt, wie man eben auch noch einmal aus dem Beitrag der Justizministerin entnehmen konnte.
Meine Damen und Herren, 6,5 Millionen Menschen aus anderen Ländern leben inzwischen in der Bundesrepublik, weit über die Hälfte länger als ein Jahrzehnt. Viele Jüngere und Kinder können inzwischen auf schwäbisch besser fluchen als ihre Eltern in ihrer Heimatsprache, und türkische Jugendliche sprechen den in Hamburg-Wilhelmsburg gängigen Tonfall. Aber dreißig Jahre faktischer Einwanderung nach Deutschland haben dennoch nicht verhindern können, daß sich viele Ausländer oder, nennen wir sie besser, Inländer ohne den vollen Status der Deutschen bei uns immer noch als Menschen der zweiten Kategorie fühlen müssen. Sie haben eigentlich längst Anspruch auf volle Rechte, Chancen und Entfaltung in einem Land, das sie seit Jahren durch ihr Hiersein und ihre Leistungen materiell und kulturell bereichern.
({2})
Aber verstaubte Vorstellungen davon, wer Deutscher sein darf oder nicht, antiquierte Paragraphen, bürokratische Hürden oder hohe Einbürgerungskosten verhindern das bisher. Herr Kollege Marschewski, auch wenn Sie es eben so treuherzig gesagt haben, die bestehenden Gesetze regeln eben nicht jeden Problemfall, wie Sie es behauptet haben. Die Reform ist überfällig. Die SPD hat sie in den vergangenen Jahren mehrfach gefordert, zuletzt auf dem Parteitag vom 16. November vergangenen Jahres. Und wenn es noch eines Anstoßes bedurft hätte, dann ist es das zur Zeit laufende sehr erfolgreiche sogenannte Referendum „Doppelte Staatsbürgerschaft", das wir hier ausdrücklich begrüßen, ebenso wie das eindeutige Votum des Bundespräsidenten in seiner Weihnachtsansprache für eine Reform des Einbürgerungsrechts.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, wann, wenn nicht jetzt, sollen und müssen wir ein klares Signal geben für unsere Bereitschaft, die Menschen, die zu uns gekommen sind, als gleichberechtigte Bürger zu achten und ihnen die Integration zu erleichtern, und wann, wenn nicht jetzt, sind eindeutige Zeichen auch dieser Art gegen Fremdenhaß, Intoleranz und Terror von rechts nötig?
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Deswegen noch einmal an Ihre Adresse, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU: Ich verstehe es nicht, warum weiterhin von Ihnen so massiver Widerstand gegen die Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit und gegen die erleichterte Einbürgerung kam und noch kommt. Wir jedenfalls haben die parlamentarische Initiative vorbereitet und
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
werden aller Voraussicht nach die Gesetzentwürfe bereits in der kommenden Woche vorlegen. Wir setzen dabei auch auf die bessere Einsicht, die sich inzwischen ja bei Abgeordneten aus Ihren Reihen, den Reihen der Union, bemerkbar macht und die - so hoffe ich jedenfalls - wohltuend ansteckend wirken wird.
Ich appelliere an die Koalition insgesamt, sich unseren Argumenten zu öffnen und damit auch dem Bemühen der Ausländerbeauftragten um die erleichterte Einbürgerung mehr Unterstützung zu geben, als es bislang der Fall war.
Unser Vorschlag wird darauf abzielen, den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Geburt zu ermöglichen, den Ausländern, die seit einer Reihe von Jahren bei uns leben, die Einbürgerung zu erleichtern bzw. ihnen unter bestimmten Voraussetzungen auch einen Anspruch darauf zu geben und endlich die Modalitäten zur Einbürgerung von Ehepartnern zu verbessern. Außerdem soll, wer hier auf Dauer lebt, dennoch nicht gezwungen sein, die bisherige Staatsangehörigkeit aufzugeben. Dafür gibt es nun einmal einleuchtende Gründe, die aus unserer aktuellen Situation entstehen. Anders als die Auswanderer von früher, die meistens sämtliche Brücken hinter sich abbrachen, wollen die Migranten von heute ihre Bindungen zum Herkunftsland halten. Sie bleiben in Kontakt mit Familienangehörigen und Freunden. Sie erfahren aus den Medien, was sich in ihrem Land abspielt, sie fürchten auch - erinnern Sie sich bitte daran -, Rechte im Heimatland einzubüßen. Kurz: Sie wollen ihre Wurzeln nicht verlieren. Welche deutsche Arroganz, welche Hoffart steckt darin, ihnen diesen Wunsch streitig zu machen?
({4})
Was viele nicht wissen, ist folgendes: Das Europaratsabkommen über die Vermeidung der Mehrstaatigkeit hindert die Bundesrepublik nicht, Entsprechendes zu tun.
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- Hören Sie bitte zu; Sie können vielleicht noch etwas lernen. Die meisten Teilnehmerstaaten dieses Abkommens haben inzwischen Möglichkeiten zum Erwerb der doppelten Staatsangehörigkeit geschaffen, die praktisch auf die Mehrstaatigkeit hinauslaufen. Wir dürfen durchaus bei anderen europäischen Ländern in Sachen Liberalität und Fortschrittlichkeit im Umgang mit Ausländern in dieser Frage Nachhilfeunterricht nehmen.
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- Herr Geis, zum Schluß ein Zitat, das man öfter hört: „Ich bin Berliner, aber in meinem Paß steht, daß ich Türke bin." Das sagen viele Jugendliche. Es sollte doch möglich sein, ihnen diese bittere Feststellung in Zukunft zu ersparen.
Danke schön.
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Kollege Dr. Ulrich Briefs, ich erteile Ihnen jetzt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für das, was heute hier in diesem - insofern ganz und gar nicht Hohen - Hause geschieht, die faktische fast vollständige Beseitigung des Asylrechts, kann man sich nur schämen. Schämen kann man sich auch nur für den Geist oder besser Ungeist, der seit der deutschen Wiedervereinigung dieses Land durchzieht und der inzwischen in diesem hochentwickelten Land zu Tausenden von Menschenrechtsverletzungen, zu getöteten, verletzten oder verstümmelten Kindern, Frauen und Männern - die meisten von ihnen Asylbewerber - geführt hat. Darauf wird jetzt mit dem Abbau des Asylrechts geantwortet. Wenn das deutsch ist, möchte man eigentlich gar nicht mehr richtig Deutscher sein.
({0})
- Das war besonders dumm, Herr Kollege.
Bei allem Respekt vor den Initiatoren, Organisatoren und Teilnehmern der Lichterketten - diese sind notwendig, beileibe aber nicht hinreichend. Wo bleibt das Eintreten für Bedrohte und Angegriffene in der Öffentlichkeit? Wo bleibt die konsequente gesellschaftliche Achtung des rassistischen, antisemitischen, völkerverhetzenden Ungeistes? Wo bleibt das konsequente praktische Eintreten für Menschlichkeit gegenüber Ausländern und Ausländerinnen, insbesondere auch gegenüber Kindern, die zumeist aus bitterer Not hierher geflüchtet sind? Wo bleibt die Gegenwehr gegen die alltägliche rassistische Praxis im Kleinen wie im Großen in diesem neuen Deutschland?
Das, was hier heute geschehen soll, ist keine Maßnahme gegen Rassismus, gegen Antisemitismus, gegen Ausländerfeindlichkeit, sondern leistet ihnen und leistet den Rassisten, den Antisemiten und den Völkerverhetzern Vorschub. Es gewährt ihnen einen einzigartigen politischen Triumph und stärkt sie damit für die Zukunft.
Dieses angeblich so humane, demokratische Nachkriegsdeutschland weicht zurück gegenüber rassistischer und ausländerfeindlicher Gewalt. Dieses Land wendet nicht, wie andere europäische Länder, rechtliche und politische Mittel gegen die Täter, gegen die Mörder, die Verletzer, die Verstümmler, die Brandschätzer, die massenhaften Verletzer von Menschenrechten an, nein, dieses Land wendet sich gegen die Opfer, gegen die Asylbewerber. Weder die Lehren aus dem dutzendjährigen Reich noch die Dankbarkeit für die Asylgewährung gegenüber deutschen NS- Verfolgten können offensichtlich verhindern, daß, wie es ein Leserbrief in der „Frankfurter Rundschau" sagte, durch die Ergänzung des Art. 16 GG die Lüge Verfassungsrang erhält.
Abs. 1 des Artikels sichert künftig das Asylrecht. Die hinzugefügten Abs. 2 und 3 sorgen aber dafür, daß es kaum jemand in Anspruch nehmen kann. Das ist das Verlogene daran. Das geschieht an der Stelle der Verfassung, an der in besonders nachhaltiger Form Lehren aus dem furchtbaren Versagen der Deutschen in der jüngeren Geschichte gezogen worden sind. Zu
Recht kritisieren DGB und Pro Asyl gemeinsam, daß vom Asylrecht nur eine Rechtsruine übrigbleibt. Die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG wird auf kaltem Wege beseitigt. Mit den Änderungen des Asylverfahrensgesetzes wird dafür gesorgt, daß von einem rechtsstaatlichen Asylverfahren kaum mehr die Rede sein kann. Eines Tages wird man vielleicht sogar sagen müssen, daß mit der Beseitigung des Asylrechts und der Autoritarisierung des Asylverfahrens der Anfang vom Ende des halbwegs liberalen Rechtssystems der Bundesrepublik Deutschland kam.
Mit dieser faktischen Asylrechtsbeseitigung geht die Phase der halbwegs liberalen deutschen Nachkriegsgeschichte zu Ende, in der dieses Land - eingedenk der historischen Schuld Deutschlands - seine Verantwortung zumindest in dieser Form des uneingeschränkten Asylrechts auf sich genommen hat. Durch die Beseitigung des uneingeschränkten Asylrechts kommen - das ist erklärtes Ziel - nur noch ganz wenige Asylbewerber in dieses Land. Nun könnte man meinen, wer durchkommt, der wird dann aber auch voll und ganz akzeptiert. Mit dem Asylbewerberleistungsgesetz wird jedoch sofort vielfältig weiter diskriminiert. Wer nach Überwindung der vielfältigen Hürden als Asylbewerber hier leben kann, soll künftig auf Schritt und Tritt - wie die anderen Ausländer, wie Türken, Italiener, Spanier und andere, die als Arbeiter und Arbeiterinnen zu uns kamen - spüren, daß er eben nicht zu den Deutschen zählt. Die Herrenvolkvorstellungen von dereinst lassen im Hintergrund grüßen.
({1})
Das ist das Schlimmste mit an diesem Vorhaben der wohl leider überwiegenden Mehrheit in diesem Hause: Es wird systematisch verfassungsrechtlich und gesetzlich eine weitere Mauer zwischen Deutschen und Ausländern aufgebaut.
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Es wird den dumpfen rassistischen und ausländerfeindlichen Instinkten in weiten Bereichen der deutschen Bevölkerung nachgegeben, statt sie zu bekämpfen und zu ächten.
({3})
Allerdings - das vergessen Sie hier auf der Rechten Seite immer wieder - wird sich diese Politik gegen uns richten. Dieses Land ist nicht mehr in der Situation der 20er und 30er Jahre. Deutschland ist in wichtigen Bereichen international geworden. Es ist multikulturell geworden, ob die Ewiggestrigen das nun wahrhaben wollen oder nicht.
Zu begrüßen ist, daß die UN-Menschenrechtskommission und andere internationale Organisationen Deutschland künftig wegen der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen gegenüber Ausländern und Ausländerinnen beobachten werden. Die entscheidenden Fragen haben wir uns jedoch selbst zu stellen: Wie ist es möglich, daß in diesem hochmodernen Land, international tätig wie kaum ein anderes großes
Industrieland, Rassismus, Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit und Völkerverhetzung wieder als Massenphänomene auftauchen? Wie ist es möglich, daß neonazistische Organisationen wieder zum offiziell geduldeten politischen Faktor geworden sind und hier und heute einen politischen Sieg auf dem Silbertablett gereicht bekommen? Wie ist es möglich, daß unsere angeblich so gefestigte Demokratie so nach rechts driftet und unter dem Druck von Pogromen und Menschenrechtsverletzungen das Asylrecht beseitigt und zu uns aus Not geflohene Menschen aus anderen Ländern weiter diskriminiert und stigmatisiert? Warum diskriminiert und stigmatisiert man nicht die rechtsradikalen Täter und ihre ideologischen Fellowtravellers, die ja bekanntlich in Ausläufern bis in dieses Haus reichen?
Deutschland ist im Jahre 3 seiner wiedervereinigten Geschichte gepackt von einer Welle des Rassismus, jenes Rassismus, der wohl wesentlich entsteht und bedingt wird im Zusammenhang mit dem kalten Leistungs- und Überlebenskampf in der hochmodernen Wirtschaft, z. B. in Betrieben, in denen Individualisierung und Vereinzelung Tatsache und die Solidarität der Arbeitenden untereinander zunehmend Mangelware sind.
Rassismus hat auch mit Marktwirtschaft zu tun, in der jeder sich selbst der Nächste ist, in der es auf Gedeih und Verderb ums Überleben geht. Er hat z. B. auch zu tun mit einer marktwirtschaftlichen Medienlandschaft, in der Nervenkitzel systematisch mit Brutalo- und Sexsendungen bewirkt wird, um die Einschaltquoten zu erhöhen, usw. usf.
({4})
Die UN-Menschenrechtskommission ist auf dem richtigen Wege. Es gibt neue Formen des Rassismus
- ich nenne sie industriellen Rassismus -, die in hochentwickelten Ländern, gerade auch bei uns, grassieren. Hier werden zunehmend Menschen ausgegrenzt und in ihren Menschenrechten verletzt, die sich den hochgeputschten Leistungsnormen dieser Industriegesellschaft nicht fügen können oder wollen
- Ausländer, Behinderte, Frauen und Mädchen, Marginale.
Rassismus ist die derzeit brutalste Variante der systematischen Ausgrenzung und Diskriminierung, auf der unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in wesentlichen Bereichen vielfältig beruht.
Auch insofern ist die Asylrechtsbeseitigung, die heute hier eingeleitet wird, eine völlig falsche Maßnahme. Statt den gesellschaftlichen Ursachen für den Rassismus gegenzusteuern, wird den Rechtsradikalen nachgegeben. Statt die komplexen Ursachen im politischen Diskurs zu klären, werden falsche Erklärungen kultiviert und deshalb das Asylrecht praktisch beseitigt. Statt einen gesellschaftlichen Umdenkungs-
und Erziehungsprozeß gegen Rechts in Gang zu setzen, wird mit dieser Asylrechtsbeseitigung einer weiteren Rechtsentwicklung Tür und Tor geöffnet. Das ist gemeinsam mit dem Leid, das Menschen in Not damit zusätzlich zugefügt wird, das besonders Gefährliche an dieser Grundrechtsänderung, die in
Wirklichkeit die Beseitigung eines Menschenrechts ist.
Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, nächste Rednerin ist unsere Frau Kollegin Ursula Männle.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Recht auf Asyl ist ein Recht für politisch Verfolgte.
Seit 1989 ist die Zahl der Asylbewerber sprunghaft angestiegen. 1992 kamen rund 439 000 Asylsuchende nach Deutschland, doppelt so viel wie 1990. Die Anerkennungsquote des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge bewegte sich zwischen 4 und 8 %. Sicherlich lassen diese Zahlen nicht den Rückschluß zu, daß mehr als 90 % der Anträge mißbräuchlich gestellt werden oder wurden. Aber sie zeigen ganz deutlich die Diskrepanz zwischen der ursprünglichen Intention des Asylrechts und der heutigen Praxis.
Eine der Ursachen dieser Entwicklung liegt in der wirtschaftlichen und sozialen Situation der Herkunftsländer. Die finanziellen Leistungen an Asylbewerber und die wirtschaftlichen Möglichkeiten in Deutschland führten dazu, daß 60 % der nach Westeuropa kommenden Asylbewerber sich die Bundesrepublik Deutschland als Asylland gewählt haben. Diese Vermutung darf als gesichert gelten. Natürlich ist nachvollziehbar, daß der Lebensstandard bei uns einen Anreiz darstellt. Alle wollen an diesem Wohlstand teilhaben, aber das Recht auf Asyl ist hierfür nicht der richtige Weg.
({0})
Wir können nicht alle sozialen und wirtschaftlichen Probleme dieser Welt bei uns in Deutschland lösen.
Wir müssen durch den richtigen Einsatz unserer Mittel der Entwicklungspolitik die Ursachen in den Herkunftsländern selbst bekämpfen. Um es in einem häufig benutzten Bild zu sagen: Die Welt ist ein Haus, aber nicht nur ein kleiner Teil der Zimmer darf bewohnbar sein. Die, die es können, müssen helfen, auch die anderen Zimmer bewohnbar zu machen. Die Bundesrepublik Deutschland leistet deshalb auch weiterhin ihren Beitrag, um Hunger und Elend in der Welt beseitigen zu helfen und Armutswanderungen zu stoppen.
Der Schutz politisch Verfolgter muß nun wieder in den Vordergrund treten. Deshalb wurde der Asylkompromiß der Parteien geschlossen. Er enthält auch Bestimmungen über die Leistungen an Asylbewerber. Sie sollen nun in einem eigenen Gesetz zu deutlichen Absenkungen der bisherigen Leistungen führen, bei Aufenthalten in zentralen Anlaufstellen oder Gemeinschaftsunterkünften grundsätzlich Sachleistungen gewähren, bei Aufenthalten außerhalb dieser Gemeinschaftsunterkünfte einen Vorrang für Sachleistungen sicherstellen und erst nach einer positiven Entscheidung im Verwaltungsverfahren oder einem positiven Entscheid über ein Bleiberecht Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz gewähren. Soweit der Wortlaut der Einigung zwischen den Parteien.
Damit sollte dem neu vereinbarten und verkürzten Verfahren Rechnung getragen und der Spielraum für vielfältigen Mißbrauch eingegrenzt werden.
Nicht zuletzt zum Schutz der Asylbewerber sollten die Anreize vermindert und das Abkassieren durch Schlepperbanden ausgeschaltet werden.
Dieser Konsens wurde in langen und zähen Verhandlungen zwischen CDU/CSU, SPD und F.D.P. in einen Gesetzentwurf umgesetzt. Von diesem hat sich nun die SPD verabschiedet und damit, wie ich meine, auch vom Kompromiß der Parteien vom 6. Dezember 1992.
({1})
Wir, die Koalitionsfraktionen, stehen zu unserem Wort. Wir bringen den Entwurf eines Asylbewerberleistungsgesetzes dennoch so ein, wie er mit der SPD verabredet war.
({2})
Lassen Sie mich kurz auf die Schwerpunkte des Gesetzentwurfs über die Leistungen an Asylbewerber eingehen. Die notwendige Versorgung mit Nahrungsmitteln, Wohnung, Heizung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflegeartikeln sowie Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts wird gewährleistet. Grundsätzlich sollen bei Aufenthalten in zentralen Anlaufstellen oder Gemeinschaftsunterkünften Sachleistungen erfolgen. Dies gilt ebenso bei Aufenthalt außerhalb von zentralen Anlaufstellen. Sind Sachleistungen nicht möglich, treten an deren Stelle Leistungen in Form von Wertgutscheinen oder anderen vergleichbaren unbaren Abrechnungen. Nur in Ausnahmefällen wird eine Geldleistung gewährt. Diese soll dem Berechtigten persönlich ausgehändigt werden, um den Mißbrauch, wie z. B. Doppelbezug, zu verhindern.
Im Falle von Geldleistungen liegen diese gegenüber dem Regelsatz der Sozialhilfe für den Haushaltsvorstand um ca. 20 % niedriger. Alle Bezieher unbarer Leistungen erhalten für den persönlichen Bedarf einen Barbetrag.
Ich bin überzeugt, daß diejenigen, die politisch verfolgt sind, mit dem Standard, den Asylbewerber in der Bundesrepublik Deutschland vorfinden, zufrieden sind oder sein können. Sie sind in Sicherheit und Freiheit. Sie haben das, was für den Lebensunterhalt unerläßlich ist, sowie Geldmittel zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse. Ein menschenwürdiges Leben ist gewährleistet. Ich verwahre mich mit Entschiedenheit gegen Äußerungen, dies sei durch die nun vorgeschlagenen Regelungen nicht der Fall.
({3})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
Die vorrangig zu gewährende Sachleistung vermindert den Anreiz, aus wirtschaftlichen Gründen einen Asylantrag zu stellen.
({0})
- Ich kann schon frei antworten; diese Bemerkung hätten Sie wirklich nicht zu machen brauchen.
({1})
Langfristig werden dadurch Spareffekte erzielt. Durch Kombination von Sachleistungen und geringerem Barbetrag wird dem Abkassieren der Schlepper der Boden entzogen. Dazu bekenne ich mich - ich sage es sehr deutlich, und damit erübrigen sich sicherlich auch die Zwischenfragen - ohne jeden Vorbehalt. Es ist sogar bezweckt.
({2})
Der Gesetzentwurf enthält darüber hinaus weitere wichtige Regelungen. Auch diese dienen dazu, daß Mißbrauchsmöglichkeiten - Sie kennen die vielen Vorwürfe hinsichtlich des Mißbrauchs unseres Gesundheitswesens - ausgeschlossen werden. Leistungen im Krankheitsfall sind nur in akuten Fällen möglich, freie Arztwahl wird eingeschränkt.
Einkommen und Vermögen der Leistungsberechtigten und ihrer Familienangehörigen sind vor Inanspruchnahme von Leistungen aufzubrauchen.
({3})
- Das haben Ihre Kollegen alle mitentschieden; dies sagt auch der Kompromiß.
({4})
In den Einrichtungen werden Arbeitsgelegenheiten geschaffen, zu deren Wahrnehmung die Leistungsberechtigten verpflichtet sind.
Ich sagte es bereits: Alle diese Punkte waren Ergebnisse gemeinsamer Beratungen. Selbstverständlich wären einige Formulierungen anders ausgefallen, wenn wir sie allein zu erarbeiten gehabt hätten.
({5})
- Ja, dazu stehe ich. Wir stehen aber auch zu diesem Kompromiß. Leider trägt die SPD-Fraktion diesen nun nicht mit. „Leider" sage ich deshalb, weil wir alle wissen, daß zwischen den Sozialdemokraten vor Ort
- den Bürgermeistern, den Sozialdezernenten, selbst Landesministern vor Ort, aber vor allen Dingen auch den SPD-Mitgliedern vor Ort und SPD-Wählern - und den Sozialdemokraten in Bonn erhebliche Differenzen hinsichtlich der Problemeinschätzung bestehen.
({6})
Wir hoffen alle, daß die SPD-Fraktion zum Asylkompromiß bei den Leistungen an Asylbewerber zurückfindet. Warum verweigert sie sich? Nicht wegen der Punkte, die ich gerade genannt habe. Sie möchte die Dauer der Leistungen nach diesem Gesetz auf sechs oder zwölf Monate beschränken. Ich sage: ein kontraproduktiver Vorschlag.
({7})
Erreicht würde ein Anreiz, die Asylverfahren und damit die Abschiebung bei offensichtlich unbegründeten Anträgen zu verzögern.
({8})
Genau dies wollen wir verhindern. Dies weicht vom Asylkompromiß ab, höhlt ihn sogar aus.
Als zweites wollen Sie diesen Kompromiß nicht auf die Altfälle ausdehnen. Ich frage Sie: Warum hier nicht, bei dem Gesetzentwurf zur Änderung asylverfahrensrechtlicher Vorschriften aber doch?
Der letzte Punkt. Die Einigung enthält nur den Begriff „Asylbewerber" und umfaßt damit nicht diejenigen, die z. B. bewußt keinen Asylantrag stellen, aber dennoch vollziehbar zur Ausreise verpflichtet sind. Nehmen wir diese Gruppe aus, kommt es zu ungleicher Behandlung vergleichbarer Gruppen. Neue Schlupflöcher und neue Mibßbrauchsmöglichkeiten werden damit aufgetan. Dies kann doch allen Ernstes von Ihnen nicht gewollt sein.
Lassen Sie uns über die Kontroverspunkte diskutieren. Wir sind dazu bereit. Geben Sie Ihre Verweigerungshaltung gegenüber diesem Gesetz auf, und stehen Sie zu Ihrer Verantwortung, die Sie einmal gesehen haben! Treten Sie diesem Vorschlag, den wir gemeinsam erarbeitet hatten, bei! Er leistet in Umsetzung unserer Einigung einen wichtigen Beitrag zur Lösung des Asylproblems. Die Bevölkerung, das wissen wir alle, erwartet dies von uns.
({9})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich erteile jetzt das Wort unserer Frau Kollegin Christel Hanewinckel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Flüchtlinge. „Moderne Völkerwanderung" sagen manche Leute. Was sich dahinter versteckt, sind Gewalt, Elend, Krieg, unendliches menschliches Leid und ungeheure Katastrophen für Natur und Umwelt. Die Menschen im Norden bangen um ihren Wohlstand, um ihre soziale Sicherheit, die Menschen im Süden und Osten bangen um ihr nacktes Leben.
Die Politik hat bisher versagt. Statt sich um ihr ureigenstes Geschäft zu kümmern, betreibt sie Flickschusterei. Lösungsversuche greifen nicht, weil sie kleinmütig und den Problemen nicht angemessen sind.
({0})
Die alten Themen des konziliaren Prozesses, der maßgeblich auch aus der DDR mit angestoßen war, die Themen Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung sind aktueller und brennender denn je. Nur wenn nach Lösungen gemeinsam weltweit gesucht wird, gibt es Chancen für ein Überleben der einen Welt.
Welche Rolle spielt dabei das geeinte Deutschland? Welche Rolle wollen wir einnehmen? - Nach meinem Eindruck sind wir eher dabei, auf Besitzstandswahrung zu achten, statt bereit zu sein, wirklich verantwortlich mitzugestalten.
({1})
Frau Männle, Sie sprechen vom Helfen. Deutschland ist mitverantwortlich. Entwicklungshilfe oder helfen für Asylbewerber hier im Lande ist genau das, was ich mit Flickschusterei bezeichne. Es ist wirklich eine Entwicklungspolitik weltweit angesagt, und ich
denke, das geeinte Deutschland hat hier eine ganz entscheidende Vorreiterrolle zu spielen, aber nicht so, wie es sich z. B. in dem Asylbewerberleistungsgesetz ausdrückt.
({2})
- Ja, darüber können wir reden.
Wir debattieren heute über die Gesetze zur Regelung des Asyls in Deutschland.
({3})
Die großen Parteien dieses Landes haben die Hoffnung, mit der Änderung des Grundrechts auf politisches Asyl, durch veränderte Verfahren und Beschränkung von Sozialleistungen ein Instrumentarium zu schaffen, das Flüchtlings- und Einwanderungsströme lenken kann. Das wird nicht funktionieren, denn diese Verfahren sind untauglich zur Regelung von sozialen, ökonomischen und ökologischen weltweiten Bevölkerungsumschichtungen.
({4})
Die Verfahren, die wir heute debattieren, werden eine Sortierung und Klassifizierung von Menschen festschreiben und die Lasten anderen aufbürden. Ein Begleitgesetz für die Änderung des Artikels 16 Abs. 2 des Grundgesetzes ist das Asylbewerberleistungsgesetz. Dieses Gesetz soll eigenständig, außerhalb des Bundessozialhilfegesetzes, regeln, auf welche Sach-
und Geldleistungen Asylbewerber in Deutschland Anspruch haben. Jetzt bekommen Asylbewerberinnen und Asylbewerber entsprechende Leistungen nach den Regeln der Sozialhilfe.
Rahmenbedingungen für dieses Gesetz legt der Asylkompromiß der Parteien vom 6. Dezember 1992 fest. Die Vereinbarung besagt, daß eine deutliche Absenkung der bisherigen Leistungen erfolgen soll, daß bei Aufenthalten in zentralen Anlaufstellen der Gemeinschaftsunterkünfte grundsätzlich Sachleistungen gewährt werden sollen und bei Aufenthalten außerhalb von zentralen Anlaufstellen und Gemeinschaftsunterkünften ein Vorrang für Sachleistungen gelten soll.
In den Verhandlungen mit der Koalition konnte in drei wesentlichen Punkten keine Klärung erzielt werden.
Frau Männle, es ist nicht richtig, wenn Sie sagen, daß wir dieses Gesetz, so wie es jetzt vorliegt, mit Ihnen ausgehandelt haben. Wir haben die Verhandlungen abgebrochen, weil wir in den entscheidenden Punkten, die ich jetzt benenne, keine Einigung erzielen konnten und weil Sie außerdem, entgegen von Absprachen, dieses Gesetz mit einer Begründung, die mit uns nicht ausgehandelt worden ist, in Ihre Fraktion eingebracht haben.
({5})
Verhandlungen danach waren nicht mehr möglich. Rein formal, müssen wir sagen, war es schon nicht möglich, mit auf diesen Gesetzentwurf zu gehen, von den inhaltlichen Punkten ganz zu schweigen. Das
heißt, davon will ich nicht reden. Wir sind ausgestiegen.
({6})
Eigentlich sind Sie ausgestiegen - das ist richtig -, weil Sie sich an die Vereinbarung, die wir getroffen hatten, nicht gehalten haben.
({7})
Sie steigen nie aus, fragt sich bloß, an welchen Stellen.
({8})
Zu den einzelnen Punkten des Dissenses bezüglich des Gesetzes.
Erstens der Empfängerkreis. Es war nicht möglich, sich in den Verhandlungen darüber zu einigen, wie der Empfängerkreis so eingegrenzt werden kann, daß in der Tat Asylbewerber damit gemeint sind und nicht andere Ausländergruppen. Die Koalition sieht eine Ausweitung des Personenkreises auf alle vollziehbar zur Ausreise Verpflichteten vor. Hier wäre es sicherlich möglich gewesen, mit entsprechenden Formulierungen einen Schritt weiterzukommen, aber in der Verhandlung zeigte sich immer wieder, daß offenbar andere Absichten mit eine Rolle spielen, die von Ihnen nicht deutlich genug benannt und auf den Tisch gelegt wurden.
Zweitens. Ausländer, die geduldet werden, sollen nach Entscheidung ihres Verfahrens zusätzlich sechs Monate gekürzte Leistungen bekommen. Das entspricht nicht den Vereinbarungen des Parteienkompromisses. Deshalb fordert die SPD die Streichung dieser Frist, da es sich um eine Gruppe handelt, deren Verfahren bereits abgeschlossen ist.
Ein dritter Punkt. Nach der Vorstellung der Koalition soll das Gesetz auch auf bereits in der Bundesrepublik lebende Asylbewerber unmittelbar angewendet werden. Also alle sogenannten Altfälle sollen von heute auf morgen auf die verminderten Leistungen umgestellt werden. Dies wird von uns abgelehnt. Wir wollen, daß das Gesetz nur für diejenigen Gültigkeit hat, die nach Inkrafttreten des Asylbewerberleistungsgesetzes in die Bundesrepublik Deutschland kommen.
({9})
- Ich denke, ja. Es ist doch nicht möglich, daß wir das Rechtsstaatsprinzip der Besitzstandswahrung nur für uns in Anspruch nehmen.
({10})
Für Ausländer gilt das offenbar nicht. Ich denke, sie haben angesichts der Länge der Verfahren schon gezeigt, daß sie offensichtlich Gründe dargelegt haben, die ein Bleiben hier rechtfertigen.
({11})
Die SPD ist der Meinung, daß Menschen in diesem Land - unter unseren Bedingungen - das zum Leben Unerläßliche benötigen, unabhängig davon, welcher Hautfarbe, welchen Geschlechts sie sind und welcher Nationalität oder welcher Gesellschaft sie angehören.
({12})
Die Beschränkung auf diese deutlich abgesenkten Leistungssätze ist sozialpolitisch nur dann vertretbar, wenn erstens der Zeitraum des Leistungsbezuges eng begrenzt ist, zweitens der Personenkreis auf Asylbewerber begrenzt ist und drittens die Unterbringung in zentralen Aufnahmestellen erfolgt. Nur unter diesen drei Gesichtspunkten ist auch das Sachleistungsprinzip vertretbar.
({13})
Alle diese Punkte gilt es in den Ausschußverhandlungen nach Anhörung von Sachverständigen noch zu klären. Kriterien können für die SPD nur sozialpolitische und dem Grundgesetz gemäße sein, nicht aber ein Kriterium, das vom Geist der Abschreckung ausgeht.
({14})
Dazu gehört auch die Beantwortung der Frage, ob das vorgelegte Gesetz überhaupt praktikabel ist. Praktikabel ist das, was uns vorliegt, zu einem großen Teil noch nicht.
Nicht nur mir, sondern auch dem DGB, den Wohlfahrtsverbänden, den Flüchtlingsorganisationen sowie Juristinnen und Juristen ist fraglich, ob dieses Leistungsgesetz den Werten des Grundgesetzes verpflichtet ist. Professor Manfred Zuleeg sagt in einem Kurzgutachten zu dem vorliegenden Gesetzentwurf:
Hinter der Kürzung der sozialen Hilfeleistung . . . steckt der Gedanke der Abschreckung, der Menschen zu Instrumenten der Politik macht und daher mit der Würde des Menschen nicht vereinbar ist.
Die Caritas in Hessen sagte am 25. Februar 1993:
Die Absicht der Bundesregierung, die Leistungen für Asylbewerber deutlich unter den Sozialhilferegelsatz abzusenken und dann schwerpunktmäßig in Sachleistungen umzuwandeln, lehnt die Konferenz der Caritasverbände in Hessen ab. Aufgabe der Sozialhilfe ist, ein menschenwürdiges Leben zu sichern, sie stellt lediglich die soziale Grundsicherung dar und will den Sturz in völlige Armut verhindern.
Der Art. 1 unseres Grundgesetzes bindet uns und unsere Gesetzgebung auch an die Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Die Gesetze, die heute - einschließlich der Änderung des Art. 16 - eingebracht werden, werden dieser Überprüfung standhalten müssen.
({15})
Die Präambel unseres Grundgesetzes beginnt mit dem Satz:
Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, .. .
Wir wollen die Präambel des Grundgesetzes ernst nehmen. Wir sind schon jetzt gut beraten, wenn wir uns nicht von Kategorien der Abschreckung, sondern von Kategorien der Verantwortung und der Menschlichkeit leiten lassen.
Ich möchte alle, die sich dem christlichen Glauben verpflichtet fühlen, und besonders die, die das „Christlich" in ihrem Parteinamen deutlich machen, an die Stellung von Flüchtlingen in der hebräischen Bibel erinnern. Im 2. Buch Mose steht der Satz:
Ein und dasselbe Gesetz gelte für den Einheimischen und den Fremdling, der unter euch wohnt.
({16})
Im 3. Buch Mose steht:
Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Land, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer, und du sollst ihn lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr, euer Gott.
({17})
Diese dreitausendjährige Erfahrung leitet uns hoffentlich auch bei unseren weiteren Beratungen zum Asylbewerberleistungsgesetz.
({18})
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Hans Engelhard das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein eigenständiges Asylbewerberleistungsgesetz mit reduzierten, nach dem Sachleistungsprinzip gewährten Leistungen ist die logische, die notwendige, ja die zwingende Folge und Flankierung der Neuregelung des Asylrechts. Wir wissen, daß die explosive Zunahme der Zahl politisch nicht verfolgter Asylbewerber vor allem auf die Verlockungen unserer Sozialhilfe zurückzuführen ist. Man kann das herunterspielen, wie die Frau Kollegin Hanewinckel es soeben getan hat. Aber es ist ein Tatbestand, daß für die Armen in Osteuropa, in Südosteuropa, und in den Entwicklungsländern unsere Sozialhilfe viel, viel Geld ist.
({0})
Es ist selbst dann noch viel Geld, wenn aus dieser Quelle die Schlepperorganisationen gespeist werden.
Wer zur strikten zeitlichen Verkürzung der Verfahren ja sagt - ich weiß nicht, Frau Kollegin Hanewinkkel, ob ich feststellen kann, daß Sie ja dazu sagen; ich weiß es wirklich nicht -, aber dann zum Leistungsgesetz nein sagt, der schöpft nicht nur im Übermaß aus fast schon leeren Kassen in die falsche Richtung, sondern bewirkt leider auch, daß heuer nochmals mehr Verfahren bewältigt werden müssen. Die Logik
eines solchen Verhaltens nun einmal erläutert zu bekommen, das erwarten die Öffentlichkeit und wir mit Spannung. Nun muß ich sagen: Hier wird es nicht mehr passieren, denn nach der Rednerliste wird die Frau Ministerin nach mir das Wort nehmen, und von der Opposition wird niemand mehr Gelegenheit haben zu sprechen.
Frau Kollegin Hanewinckel, Sie haben viel Nachdenkenswertes, Ernstes gesagt. Aber aufzuklären, für uns einsehbar klarzumachen, worin eigentlich Ihre gravierenden Bedenken bestehen, das ist Ihnen - mit Verlaub - nun wirklich nicht gelungen.
({1})
Sozialhilfe garantiert den Betroffenen nach dem Bundessozialhilfegesetz nicht nur die Unterkunft, die Kleidung, die Ernährung; Sozialhilfe hat sich grundsätzlich an den Bedürfnissen des einzelnen zu orientieren. Der Bedürftige soll am Leben der Gesellschaft teilnehmen können. Er soll durch Hilfe zur Selbsthilfe befähigt werden, wieder eigenständig in der Gemeinschaft zu leben. All dies steht so im Gesetz, aber ich sage Ihnen: Für den Asylbewerber in einem gekürzten, zeitlich zusammengedrängten Verfahren passen diese Grundsätze nicht.
({2})
Ihm ist Versorgung zu gewähren, ihm ist mit Anstand zu begegnen. Dies alles ist ganz selbstverständlich. Aber den Versuch zu unternehmen, ihn vor einer Anerkennung bei uns zu integrieren, all dies hat keinen Platz und kann nicht richtig sein.
Nun haben wir in dem Entwurf vorgesehen, daß die ärztliche Behandlung akuter Erkrankungen und von Schmerzzuständen selbstverständlich gewährleistet werden muß, ja wir haben ausdrücklich festgelegt, daß werdenden Müttern und Wöchnerinnen jede, aber auch jede ärztliche Hilfe und Betreuung in vollem Umfange dessen, was bei uns üblich ist, zugute kommen muß.
Ein ganz zentraler und wichtiger Bestandteil in diesem Zusammenhange ist das Sachleistungsprinzip. Das ist von Frau Kollegin Männle bereits ausgeführt worden; ich brauche dies daher nicht zu wiederholen. Es ist ein zentraler Baustein des Entwurfs, weil alles andere sonst in die falsche Richtung geht. Es ist einem Menschen zuzumuten, für eine Reihe von Monaten mit kaum barem Geld auszukommen, wenn er ansonsten versorgt wird.
({3})
Was Sie bemängelt haben, Frau Kollegin Hanewinckel: Einsehbar, das sagte ich, ist es nicht. Wir können nicht hinnehmen, daß, wer keinen Asylantrag stellt und sich als Ausländer hier befindet, materiell besser gestellt wird als ein Asylbewerber.
({4})
Wir können auch keine Fristen von sechs oder von zwölf Monaten hinnehmen. Wir wollen ein Verfahren, das schnell geht. Wenn das im Einzelfall nicht gelingt, dann können wir unsererseits daraus nicht die Konsequenz ziehen, mit auslegungsbedürftiger Unklarheit daranzugehen, zur Sozialhilfe zurückzukehren.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß die SPD bei den Beratungen mitmachen wird.
({5})
Es liegt an ihr, sich nun zu entscheiden, ob sie auf halbem Wege stehenbleibt und neben den Gegnern nun auch noch die Befürworter eines geänderten Asylrechts gleichermaßen vor den Kopf stößt.
({6})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Grafen von Schönburg-Glauchau das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein kurzes Wort von einem, dessen Mutter eine Polin war und dessen ganze Verwandtschaft aus Russen und Ungarn und Litauern besteht.
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- Lauter alte, vertrottelte politische Flüchtlinge. - Seit ich zehn Jahre alt bin, seit dem Jahre 1939, hat das Thema Ausländerbehörde, Aufenthaltsgenehmigung, Arbeitsgenehmigung, Dauervisum, NansenPaß zu meinem täglichen Brot gehört. Deswegen, so meine ich, habe ich ein bißchen Legitimation, für politische Flüchtlinge zu sprechen. Deswegen würde ich alle die, die jetzt noch ernste Bedenken gegen diesen Asylkompromiß haben, im Namen der politischen Flüchtlinge bitten, diese Bedenken zurückzustellen.
Gerade die echten politischen Flüchtlinge brauchen eine neue Regelung, eine, die eben nicht die Kanäle und auch nicht die Herzen der Menschen verstopft. Die echten politischen Flüchtlinge sind bös dran. In ihrem Interesse möchte ich Sie bitten, diesem Asylkompromiß, auch wenn Sie Bedenken haben, zuzustimmen.
({1})
Ich erteile nunmehr der Ministerin für Familie und Senioren, Frau Hannelore Rönsch, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD! Auch ich möchte noch einmal den Versuch machen, Sie zu der bereits gefundenen Kompromißlösung zurückzuführen. Ich möchte den Versuch machen, Sie wieder zu den Beratungen einzuladen; denn ich denke, wir brauchen gerade für die Männer und Frauen in der ganzen Welt, die aus religiösen, aus rassischen oder aus politsichen Gründen verfolgt werden und bei uns in der Bundesrepublik Deutschland Aufnahme finden sollen, jetzt und in der Zukunft die neue Regelung, über die wir heute hier diskutieren.
Wir stehen dazu, daß das Grundrecht auf Asyl aus den eben von mir genannten Gründen weiterhin in
unserer Verfassung festgeschrieben ist. Aber um das gerade für diesen Personenkreis auch weiterhin gewährleisten zu können, müssen wir sicherstellen, daß all diejenigen - die Zahlen sind heute schon genannt worden -, die aus ökonomischen Gründen als Asylsuchende in die Bundesrepublik Deutschland kommen, zurückgewiesen werden.
Die Verfahren - wir haben heute morgen darüber diskutiert - werden beschleunigt. Zudem bin ich überzeugt, daß die Regelung, die wir Ihnen jetzt vorgeschlagen haben, auch der Menschenwürde voll und ganz entspricht.
Ich habe großes Verständnis dafür, daß Asylbewerber in der Bundesrepublik Deutschland einen Ausweg aus der Armut zu Hause suchen. Sie versprechen sich bei uns im Land ein Leben ohne den täglichen materiellen Überlebenskampf. Wir alle müssen Verständnis dafür haben.
Dennoch brächte ein weiterer ungebremster Zuzug von Armuts- bzw. Wirtschaftflüchtlingen unser Gemeinwesen komplett aus dem Gleichgewicht. Wir können die Armutsprobleme dieser Welt nicht allein bei uns in der Bundesrepublik Deutschland lösen. Ich denke, daß es wichtiger ist, daß wir die Anstrengungen verstärken, damit diese Menschen in ihren Heimatländern unter guten Bedingungen leben können.
Frau Kollegin Hanewinckel, wir sind mit Ihnen einer Meinung, daß wir in der Entwicklungspolitik der Bundesrepublik Deutschland noch verstärkt Ansatzpunkte finden müssen. Ich würde mir aber auch wünschen, daß Sie einmal in den Haushalt schauen und auch die anderen europäischen Länder zum Vergleich heranziehen. Sie wollen, daß die Bundesrepublik Deutschland - so haben Sie es wörtlich gesagt - bei der Entwicklungspolitik eine Vorreiterrolle einnimmt. Schauen Sie sich um, und Sie werden sehen: Wir nehmen diese Vorreiterrolle momentan schon ein!
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In der Struktur ist sicher noch viel zu verändern. Aber schauen Sie sich die Beträge an. Ich kann die anderen Lander in Europa einfach nur einladen, sich an der Bundesrepublik ein Beispiel zu nehmen.
Der Mißbrauch unseres Asylrechts muß verhindert und die Zuwanderung nach Deutschland in vernünftiger Weise begrenzt werden. In diesem Punkt besteht Einigkeit zwischen dem Bund und den Ländern sowie mit den Kommunen.
Die Parteien der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD haben am 6. Dezember darüber einen Konsens erzielt. Entsprechend diesen Verhandlungsergebnissen zur künftigen Regelung von Asyl und Zuwanderung sieht der vorliegende Gesetzentwurf nun eine eigenständige Regelung für den Unterhalt von Asylbewerbern vor.
Gegenüber der bisherigen Regelung im BSHG sollen künftig nur noch begrenzte Leistungen - darüber ist heute schon gesprochen worden - zur Dekkung der Grundbedürfnisse während des in aller Regel nur kurzen Aufenthaltes gewährt werden. Wir haben dazu im Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen eine ganze Reihe von konkreten Maßnahmen ausgearbeitet, die hier schon vorgetragen wurden.
Ich möchte trotzdem noch auf das eine oder andere kurz eingehen und noch einmal betonen, daß wir an die Stelle der Geldleistungen jetzt Sachleistungen setzen wollen. Ich will auch noch einmal begründen, warum, weil ich mich noch sehr gut an die Debatte im November erinnern kann.
({1})
Ich darf mich an dieser Stelle sehr herzlich bedanken: Sie sind, wohl auch durch Ihre Bürgermeister in den Kommunen und Ihre Landräte getrieben, uns und unseren Vorstellungen jetzt ein ganzes Stück entgegengekommen. Ich kann mich noch erinnern, daß ich als inhuman - das war noch das Humanste, was Sie an Vokabeln gebraucht haben - bezeichnet wurde, als ich für Sachleistungen plädiert habe. Ich stehe und ich bekenne mich voll zu diesen Sachleistungen. Ich freue mich, daß Ihre Bürgermeister nun auch Sie in der SPD-Fraktion in diese Richtung bewegt haben. Ich denke, daß wir nur mit der Sachleistung sicherstellen können, daß die Versorgung für alle Familienmitglieder, nämlich auch für die Kinder und für die Frauen in größeren Familienverbänden, sichergestellt ist. Wir haben Erkenntnisse darüber, daß wenn Bargeld ausgezahlt wurde, dieses Geld in den Familien an Kindern und Frauen vorbei zu den schon angesprochenen Schlepperorganisationen transferiert wurde. Mit Sachleistung ist sichergestellt, daß Essen, daß Nahrungsmittel an Kinder und Familienangehörige ausgegeben werden. Darauf muß es uns ankommen. Wir wollen, können und dürfen Schlepperorganisationen nicht mitfinanzieren.
({2})
- Lieber Herr Kollege, ich freue mich, daß die Türen mittlerweile meilenweit offen sind. Nur habe ich die Debatte aus dem November noch sehr gut in Erinnerung. Ich sagte es schon: „Inhuman" war die mildeste Vokabel. Ich freue mich, daß wir Sie bekehren konnten, daß Sie jetzt auf dem richtigen Weg sind.
Ich will auch noch eines betonen, nämlich daß Asylbewerber, wenn sie außerhalb zentraler Aufnahmeeinrichtungen untergebracht sind, mit Wertgutscheinen anstelle von Geldleistung versorgt werden sollen, um eine mißbräuchliche Verwendung auszuschließen. Deshalb wollen wir auch, daß diese Wertgutscheine persönlich ausgehändigt werden.
Es ist schon darüber gesprochen worden, daß die medizinisch notwendigen Hilfen bei Krankheit, Schwangerschaft und bei Geburten geleistet werden. Niemand soll im Falle einer Erkrankung oder bei Schmerzen leiden bzw. ohne ärztliche Versorgung bleiben. Aber - ich denke, auch das muß betont werden - es muß niemand eine umfängliche und kostenintensive Zahnbehandlung erfahren, wenn sie nicht während des Zeitraums seines Aufenthalts in der
Bundesrepublik Deutschland unaufschiebbar erforderlich ist.
({3})
Sie sind bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Selbstverständlich.
Bitte sehr, Frau Dr. Höll.
Frau Ministerin, mich würde interessieren, ob Sie sich vorstellen können, was es für die einzelnen Menschen bedeutet, wenn sie mit Wertgutscheinen einkaufen gehen müssen.
({0})
Sollte man das vielleicht einmal selber ausprobieren? Können Sie sich vorstellen, wie lange man mit 80 DM Bargeld auskommt? Sie haben einiges aufgeführt, was davon noch alles bestritten werden muß.
Liebe Frau Dr. Höll, da ich aus einer Generation komme, die den Krieg und die Nachkriegszeit erlebt hat, habe ich das sogar noch selber praktiziert. Deshalb weiß ich, daß dies möglich ist. Ich weiß auch, daß dies unter gar keinen Umständen eine Diskriminierung darstellen muß. Es kommt natürlich darauf an, wie man die Gesellschaft darauf vorbereitet. Ich möchte Sie deshalb bitten und auffordern, daß Sie die Diffamierung, der Leistung von Wertgutscheinen, endlich unterlassen, damit sich Asylbewerber, die diese Wertgutscheine haben, nicht diskriminiert fühlen müssen.
({0})
Denn nur durch diese Diskussion, die wir hier führen, kann überhaupt erst der Eindruck einer Diskriminierung entstehen.
({1})
- Aber klar.
Es ist sicher nur ein Punkt, es ist nicht der Hauptpunkt dieses Gesetzes. Aber ich glaube, auch mit Ihrem historischen Bezug liegen Sie außerhalb der Realität dieses Landes, in dem es eben nicht mehr dem allgemeinen Zustand entspricht, daß man mit Wergutscheinen einkaufen gehen muß. Hier erfolgt die Stigmatisierung einer bestimmten Gruppe von Menschen, die dazu gezwungen wird.
({0})
Das war wohl mehr eine Feststellung als eine Frage. Ich bitte doch ein bißchen auf die Form zu achten.
({0})
Frau Dr. Höll, ich gehe sehr gern auf Ihre Feststellung ein. Ich meine schon, daß man den Menschen, die bei uns Aufnahme finden, zumuten können darf, daß sie für die Zeit ihrer Aufnahme hier mit einem Wertgutschein die Leistungen, die sie brauchen, in einem Warenhaus oder wo auch immer sonst in Empfang nehmen. Wir haben über viele Jahre und in vielen Kommunen, auch heute noch unseren Sozialhilfeempfängern zugemutet, mit einem Bezugsschein z. B. Kohlen bei einem Kohlenhändler zu bestellen. Dadurch haben sie sich als Sozialhilfeempfänger ausgewiesen. Sie aber implizieren, daß bereits der Empfang von Sozialhilfe oder der Empfang einer Leistung als Asylbewerber eine Diskriminierung darstellen würde. Das ist nicht der Fall. Dagegen verwahren wir uns auf das Schärfste.
({0})
Die Abgeordnete Frau Würfel möchte auch noch eine Frage stellen. Gestatten Sie dies, Frau Ministerin?
Aber selbstverständlich.
Frau Ministerin Rönsch, haben Sie Kenntnis davon, daß es bislang in Sammelunterkünften nicht üblich ist, daß die dort wohnenden Asylbewerber ihre Räumlichkeiten selber sauberhalten - d. h. auf gut deutsch: ihre Toiletten selber putzen - und beispielsweise bei der Essenszubereitung helfen oder auch nur den Tisch decken oder abfragen? Wenn dem so ist und Sie davon Kenntnis haben: Wie wollen Sie in Zukunft sicherstellen, daß diejenigen, die bei uns hier doch erhebliche Einkünfte beziehen und Möglichkeiten haben, wenigstens durch ihre Arbeitsleistung einen Teil dazu beitragen?
Herzlichen Dank, Frau Kollegin Würfel, für die Frage. Ich wollte eigentlich aus Zeitgründen gerade diesen Passus kurz überschlagen. Aber ich mache jetzt gerne, nachdem Sie die Frage gestellt haben, noch einmal darauf aufmerksam, daß unser Gesetzentwurf vorsieht, daß Asylsuchende für die Dauer des Verfahrens gehalten sind, ihre Arbeitskraft zur Selbstversorgung, also auch in ihren Unterkünften, aber auch für gemeinnützige Zwecke, einzusetzen. Ich meine, das ist eine Selbstverständlichkeit. Ich selber habe die Erfahrung gemacht, daß z. B. Reinigungskolonnen in Asylbewerberunterkünfte gekommen sind, die Häuser reinigen mußten und die Häuser nach einer halben Stunde, nach dem Ende meines Besuchs, wieder so aussahen wie am Anfang. Ich muß das so sagen, weil ich es genau so erlebt habe.
Ich denke, daß wir gerade auch mit diesem Passus in unserem Gesetzentwurf, nämlich mit der ArbeitsverBundesministerin Hannelore Rönsch
pflichtung, dann auch zur Selbstversorgung in den Häusern bzw. in den Unterkünften auf dem richtigen Weg sind.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will noch einige Gedanken darauf verwenden, wie der Würde der Menschen, die sich dann in der Bundesrepublik Deutschland als Asylsuchende aufhalten, Rechnung getragen wird. Ich bin überzeugt, daß unser Gesetzentwurf auch die Würde der Menschen, die sich zu Unrecht auf Art. 16 des Grundgesetzes berufen, ganz genau berücksichtigt. Die Grundbedürfnisse Wohnung, Essen und Bekleidung werden gesichert. Andererseits, denke ich, muß klar sein, daß diejenigen, die eine solche Rundumversorgung erfahren, in einem überschaubaren Zeitraum für sonstige Dinge des täglichen Lebens nur noch wenig Bargeld benötigen. In diesem Sinne soll jedenfalls das Gesetz den wirtschaftlichen Anreiz verringern - Kollege Engelhard ist darauf schon eingegangen -, unter Berufung auf das Asylrecht offensichtlich unbegründet in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen.
Die Einsparungen betragen zwei Milliarden DM. Diese Einsparungen erfolgen - dabei muß man in Klammern sagen: der Bundesgesetzgeber macht nur die Gesetze - bei den Kommunen, in den Landkreisen, bei den einzelnen Bundesländern. Wir sind ja nun gerade auch von Ihren Kolleginnen und Kollegen aus den Kommunen, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, aufgefordert worden, endlich in dieser Richtung tätig zu werden. Deshalb habe ich Ihre Einlassungen weder im November noch heute ganz verstanden. Die Einsparungen erfahren die Kommunen. Das enthebt natürlich schon den Stadtkämmerer der einen oder anderen Stadt bzw. Gemeinde mancher ernsthafter und teilweise sogar sehr dramatischer Sorgen.
Ich muß Ihnen sagen, daß auch in meinem Heimatland Hessen - darauf sollten Sie vielleicht doch bei allem wahltaktischen Denken ein wenig Rücksicht nehmen - die sozialdemokratischen Sozialdezernenten und Bürgermeister genau den Weg, den wir jetzt in der Gesetzesvorlage eingeschlagen haben, von uns, aber auch von Ihnen fordern.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Asylbewerberleistungsgesetz hebt sich bewußt vom Bundessozialhilfegesetz ab. Die Sozialhilfe, die vom Grundsatz einer individuell abgestimmten Leistung ausgeht, soll dem Leistungsberechtigten neben dem existentiell gesicherten Leben auch die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Der Aufenthalt während eines künftig nur noch kurzen Asylverfahrens läßt eine soziale Eingewöhnung der Asylbewerber in Deutschland aber erst gar nicht zu. Ich denke, es ist auch human, daß wir so verfahren.
Herr Kollege Engelhard hat vorhin schon darüber gesprochen, daß der sogenannte soziokulturelle Anteil, der in der Sozialhilfe für alle anderen Sozialhilfeempfänger enthalten ist, jetzt reduziert wird. Ich glaube, wir dürfen es einem Asylsuchenden für die
Dauer seines Asylverfahrens gar nicht zumuten, daß er sich fest in die Gesellschaft integriert;
({0})
denn die Reintegration in sein Heimatland wird dann für ihn mit Sicherheit um so schwerer, sollte sein Asylersuchen abgelehnt werden.
Ich glaube, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß auch diese Debatte zeigt, daß die Neuregelung der Leistungen an Asylbewerber nur einen Teilbeitrag zur Lösung der Asylproblematik insgesamt leisten kann. Er ist aber in jedem Fall zwingend notwendig, wollen wir die Politik der Zuwanderung EG-weit und darüber hinaus europaweit mitgestalten. Hierzu gehören auch die angestrebten Vereinbarungen mit Polen und mit der Tschechischen Republik. Wir gehen davon aus, daß die derzeit laufenden Verhandlungen bald zu einem positiven Abschluß gebracht werden können.
Ich persönlich erwarte weiterführende Perspektiven auch von den Ergebnissen der europäischen Bevölkerungskonferenz, die in diesem Monat in Genf zur Vorbereitung der Weltbevölkerungskonferenz 1994 stattfindet. Es muß uns in Europa darum gehen, daß mit einer abgestimmten Wanderungspolitik die Zuwanderung nach berechenbaren Maßstäben gesteuert werden kann, ohne das eigene Land und unsere soziale Ordnung zu überfordern und das Gemeinwohl unserer Gesellschaft zu gefährden. Ich glaube, es muß Aufgabe auch der Parlamentarier im Bundestag sein, gerade den letzten Gedanken ganz intensiv zu überlegen und zu verfolgen; denn sie sind den Bürgern verpflichtet. Sie müssen unseren Bundesbürgern gegenüber ihr Verhalten rechtfertigen und dazu Stellung nehmen.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein Teil dieses Gesamtpaketes und muß im Rahmen einer umfassenden Positionsbestimmung gegenüber dem Migrationsproblem neu gesehen werden. Unbegrenzte und ungesteuerte massenhafte Zuwanderung kann mit Rücksicht auf die sozialen Folgen weder bei uns noch für die Herkunftsländer das Ziel der Politik sein. Umso dringlicher ist das Überdenken von bisherigen eigenen Positionen. Ich wünsche mir, daß Sie zu den Beratungen zurückfinden. Sie haben sich schon ein ganzes Stück auf den Weg gemacht, uns entgegenzukommen; wir sind Ihnen auch entgegengekommen. Lassen Sie uns für die Asylsuchenden, aber auch für die Bürger in unserem Lande zu einem Kompromiß kommen.
({1})
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Aussprache. Bevor ich über die Überweisung der heute diskutierten Vorlagen abstimmen lasse, möchte ich Sie über die Geschäftslage unterrichten.
Wir werden, wie gesagt, jetzt über die Überweisungsvorschläge abstimmen. Ich lasse dann noch über verschiedene Vorlagen ohne Aussprache abstimmen. Anschließend beginnt die Fragestunde. Sie wird in vollem Umfang abgewickelt, d. h. während der Fraktionssitzungen der CDU/CSU und der F.D.P. wird
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
entsprechend einer Vereinbarung mit den Geschäftsführern die Fragestunde weiterlaufen.
Ich lasse nunmehr über den Vorschlag des Ältestenrates abstimmen, die Drucksachen 12/4450 und 12/4451 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Gesetzentwurf der CDU/CSU und der F.D.P. zur Neuregelung der Leistungen an Asylbewerber soll zusätzlich an den Ausschuß für Gesundheit überwiesen werden. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 2 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1992 ({1})
- Drucksachen 12/3629, 12/4165, 12/4387, 12/4447 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Hans-Joachim Hacker
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann lasse ich darüber abstimmen. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 12/4447? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltungen der PDS/Linke Liste und des Abgeordneten Briefs ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf: Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 21. April 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Rumänien über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa
- Drucksache 12/4273 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({2})
Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europa-Abkommen vom 16. Dezember 1991 zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften sowie ihren Mitgliedstaaten und der Republik Ungarn
- Drucksache 12/4274 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({3})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Post und Telekommunikation EG-Ausschuß
Finanzausschuß
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europa-Abkommen vom 16. Dezember 1991 zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften sowie ihren Mitgliedstaaten und der Republik Polen
- Drucksache 12/4275 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({4})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Post und Telekommunikation
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau EG-Ausschuß
Finanzausschuß
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung der Tarife im Güterverkehr ({5})
- Drucksache 12/4231 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr ({6})
Innenausschuß
Rechtausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Verbesserung des Mietrechts und zur Begrenzung des Mietanstiegs sowie zur Regelung von Ingenieur- und Architektenleistungen, des Wohnungsbindungsgesetzes und des Belegungsrechtsgesetzes
- Drucksache 12/4276 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordung, Bauwesen und Städtebau ({7})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R. Werner Schuster, Dr. Ingomar Hauchler, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Dauerhafter Zielerreichung ({8}) in der Entwicklungszusammenarbeit
- Drucksache 12/4269 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christoph Matschie, Hans Martin Bury, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Umstrukturierung des Fahrdienstes des Deutschen Bundestages nach Kriterien der Umweltverträglichkeit
- Drucksache 12/4266 Überweisungsvorschlag:
Ältestenrat ({9})
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Verkehr
Haushaltsausschuß
h) Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Fritz Schumann ({10}) und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Erarbeiten einer DM-Eröffnungsbilanz des Vermögens der DDR
- Drucksache 12/4205 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß Treuhandanstalt ({11}) Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/4274 und 12/4275 sollen zusätzlich an den Finanzausschuß überwiesen werden. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann darf ich das als beschlossen feststellen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung von in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik zwischen den öffentlichen Haushalten und volkseigenen Unternehmen, Genossenschaften sowie Gewerbetreibenden begründeten Finanzbeziehungen
({12})
- Drucksache 12/3345 ({13})
Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({14})
- Drucksache 12/4173 Berichterstattung:
Abgeordnete Arnulf Kriedner
Helmut Wieczorek ({15})
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({16}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Zustimmungsbedürftige Zweiundzwanzigste Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes
({17})
- Drucksachen 12/4204, 12/4365 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Paziorek Dietmar Schütz
Dr. Jürgen Starnick
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({18}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 79/112/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür
- Drucksachen 12/3240 Nr. 3.18, 12/4278 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Siegfried Hornung
d) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({19}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 02 Titel 682 01 - Erstattung von Fahrgeldausfällen - - Drucksachen 12/3712, 12/4287 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Diller Hans-Gerd Strube
Ina Albowitz
e) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({20}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Außerplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 06 02
- Allgemeine Bewilligungen - ({21}) Titel 684 15 - Einmalige Zuwendung an eine zentrale Organisation zur Unterstützung von Staatsangehörigen des ehemaligen Jugoslawien, die die Bundesrepublik Deutschland vorübergehend aus humanitären Gründen aufgenommen hat
- Drucksachen 12/4060, 12/4288 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Deres
Ina Albowitz
Rudolf Purps
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({22}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 Titel 681 01 - Arbeitslosenhilfe -
- Drucksachen 12/4070, 12/4289 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Diller Dr. Gero Pfennig
Ina Albowitz
g) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({23}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13 Titel 681 02 - Aufwendungen des Bundes für die gesetzliche Unfallversicherung -- Drucksachen 12/4029, 12/4290 -Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Diller Hans-Gerd Strube
Ina Albowitz
h) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({24}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 09 02 Titel 683 91 - Zahlungen aus der Wechselkurssicherung beim Airbusprogramm -- Drucksachen 12/4030, 12/4291 Berichterstattung:
Abgeordnete Kurt Rossmanith Dr. Sigrid Hoth
Helmut Wieczorek ({25})
i) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({26}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 05 02 Titel 686 30 - Beitrag an die Vereinten Nationen - - Drucksachen 12/4061, 12/4292 Berichterstattung:
Abgeordnete Adolf Roth ({27}) Dr. Sigrid Hoth
Helmut Wieczorek ({28})
j) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({29}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1992 bei Kapitel 10 02 Titel 656 58 - Zuschüsse zur Förderung der Einstellung der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit ({30})
- Drucksachen 12/3556, 12/4300 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Bartholomäus Kalb Dr. Sigrid Hoth
Ernst Kastning
k) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 89 zu Petitionen
- Drucksache 12/4322 -
l) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({32}) Sammelübersicht 90 zu Petitionen
- Drucksache 12/4323 Zu Tagesordnungspunkt 3a empfiehlt der Haushaltsausschuß auf Drucksache 12/4173, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.-Damit erübrigen sich die weiteren Fragen. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Zu Tagesordnungspunkt 3 b liegen Ihnen die Drucksachen 12/4204 und 12/4365 vor. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit? - Gegenstimmen? - Wer enthält sich? - Bei Enthaltung des Abgeordneten Briefs einstimmig angenommen.
Zu Tagesordnungspunkt 3 c liegen Ihnen die Drucksachen 12/3240 und 12/4278 vor. Wer stimmt der
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung des Abgeordneten Briefs ist die Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 3d bis 3j. Es handelt sich um sieben Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschuses zu über- und außerplanmäßigen Ausgaben im Haushaltsjahr 1992. Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über die sieben Beschlußempfehlungen gemeinsam abstimmen. Ist das Haus damit einverstanden? - Nein; dann lasse ich einzeln abstimmen.
Zuvor stimmen wir über den Tagesordnungspunkt 3k und 31 ab. Wer den Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 12/4322 und 12/4323 zustimmt, den bitte ich urn sein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen.
Wir kommen nunmehr zu den genannten sieben Beschlußempfehlungen.
Zu Tagesordnungspunkt 3d liegen Ihnen die Drucksachen 12/3712 und 12/4287 vor. Wer der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen.
Zu Tagesordnungspunkt 3e liegen Ihnen die Drucksachen 12/4060 und 12/4288 vor. Wer stimmt der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen.
Zu Tagesordnungspunkt 3 f liegen Ihnen die Drucksachen 12/4070 und 12/4289 vor. Wer stimmt der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu?
- Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Einstimmige Annahme.
Zu Tagesordnungspunkt 3 g liegen Ihnen die Drucksachen 12/4029 und 12/4290 vor. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses?
- Einstimmig angenommen.
Zu Tagesordnungspunkt 3h liegen Ihnen die Drucksachen 12/4030 und 12/4291 vor. Wer stimmt der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der Gruppe PDS/Linke Liste angenommen.
Zu Tagesordnungspunkt 3 i liegen Ihnen die Drucksachen 12/4061 und 12/4292 vor. Wer der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von PDS/Linke Liste ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Zu Tagesordnungspunkt 3 j liegen Ihnen die Drucksachen 12/3556 und 12/4300 vor. Wer wünscht der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zuzustimmen? - Einstimmig angenommen.
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Ich rufe jetzt Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde
- Drucksache 12/4433 Ich rufe zunächst den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Horst Günther zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 19 des Abgeordneten Dieter Maaß aus Herne auf:
Trifft es zu, daß im Bereich des Arbeitsamtes Bochum, zu dem auch mein Wahlkreis lierne gehört, in diesem Jahr die Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen um 90 % und die Mittel für die berufliche Qualifizierung von Arbeitslosen um 25 % gekürzt werden?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Verehrter Kollege Maaß, im von der Bundesregierung genehmigten Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit standen 1992 für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen 9,4 Milliarden DM zur Verfügung, zuzüglich 3 Milliarden DM aus dem auslaufenden Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost. Im genehmigten Haushalt 1993 beträgt diese Zahl 9,9 Milliarden DM, wovon nach den Haushaltsvorgaben mehr als 3 Milliarden DM für Neubewilligungen vorgesehen sind.
Für die Förderung der beruflichen Fortbildung, Umschulung und Einarbeitung stehen im Haushalt der Bundesanstalt für 1993 rund 14,7 Milliarden DM zur Verfügung. Die einzelnen Dienststellen der Bundesanstalt können, wie bisher, Bewilligungen aussprechen, wenn die Teilnahme arbeitsmarktpolitisch notwendig und sinnvoll ist. Die Zahl der Neueintritte in berufliche Weiterbildungsmaßnahmen -1991 und 1992 mit jeweils über 1,4 Millionen Teilnehmern - hat jedoch eine Größenordnung erreicht, die im Hinblick auf die Haushaltslage der Bundesanstalt und des Bundes eine am Maßnahmeziel und an den Erfordernissen des Arbeitsmarktes orientierte Abgrenzung erfordert.
Mit einem sogenannten Planungserlaß vom 29. Januar 1993 hat der Präsident der Bundesanstalt entsprechende Weisungen erteilt. Dabei hat er die Landesarbeitsämter angewiesen, ihren Planungen die um 25 % reduzierten Ausgaben des Vorjahres zugrunde zu legen.
Um zu vermeiden, daß die Haushaltsansätze erneut überschritten werden, wie dies 1992 in beträchtlichem Umfang geschehen ist, halte ich diese Vorgabe für berechtigt. Dabei ist zu berücksichtigen, daß schon durch die mit dem AFG-Änderungsgesetz vom 18. Dezember 1992 getroffenen Neuregelungen, nämlich die Streichung der Förderung von Maßnahmen nach § 41 a AFG, den Ausschluß qualitativ ungenügender Bildungsmaßnahmen, die Beratungspflicht für die Teilnehmer sowie die Einschränkungen bei der Förderung durch Einarbeitungszuschüsse, ein erheblicher Einspareffekt erzielt werden kann.
Zusatzfrage, bitte schön.
Ich möchte sozusagen außerhalb des Protokolls fragen: War das die Antwort auf beide Fragen?
Nein, das war die Antwort auf Ihre erste Frage, Herr Kollege Maaß.
Bei einigen Maßnahmen gab es einen Bewilligungszeitraum von zwei Jahren. Jetzt fehlen die Mittel für die Weiterführung dieser Maßnahmen. Wie sieht es mit der rechtlichen Stellung der Anspruchsberechtigten aus?
Herr Kollege Maaß, bewilligte Maßnahmen der Bundesanstalt sind grundsätzlich zeitlich begrenzt. Wenn Sie einen ZweiJahres-Zeitraum ansprechen, meinen Sie vermutlich Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, deren Bewilligung für zwei Jahre früher möglich war, die aber schon seit Mitte vorigen Jahres für nur noch ein Jahr bewilligt werden können. Wenn diese Mittel gebunden sind, können sie natürlich kein zweites Mal ausgegeben werden. Aber im Rahmen frei werdender Mittel, wenn Maßnahmen auslaufen, können Neubewilligungen ausgesprochen werden.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter, bitte.
Es ist nicht so, daß die Mittel für laufende Maßnahmen nicht mehr zur Verfügung stehen?
Alle laufenden und rechtmäßig genehmigten Maßnahmen werden finanziert.
Wir kommen zur Frage 20 des Abgeordneten Dieter Maaß:
Wie stellt sich die Bundesregierung eine aktive Arbeitsmarktpolitik in Herne angesichts der gravierenden strukturellen und konjunkturellen Probleme, insbesondere der Stahlunternehmen, des metallverarbeitenden Gewerbes, der Autoindustrie einschließlich der Zulieferfirmen und des Bergbaus, einer Herner Arbeitslosenquote von zur Zeit 13,5 % ({0}) mit einem hohen Anteil Langzeitarbeitsloser, einem angekündigten Arbeitsplatzabbau von mehreren tausend Stellen in Herne und in der Region, der sozialen und finanziellen Folgen von Arbeitslosigkeit für die Betroffenen und die Stadt Herne vor?
Herr Kollege Maaß, die Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung kann nicht speziell auf einzelne Städte wie etwa Herne ausgerichtet sein. Das Arbeitsförderungsgesetz enthält jedoch eine breite Palette von arbeitsmarktpolitischen Instrumenten, die die Arbeitsämter unter Berücksichtigung regionaler Verhältnisse flexibel einsetzen können. Die Hauptstelle der Bundesanstalt für Arbeit und die Landesarbeitsämter berücksichtigen bei der Zuteilung von Mitteln an die Arbeitsämter auch die regionalen Unterschiede wie etwa Arbeitslosenquote, Anteil an Langzeitarbeitslosen und besondere strukturelle Probleme in den einzelnen Arbeitsamtsbezirken.
Die Frage nach den Hilfen insbesondere in strukturpolitischen Problemlagen darf jedoch nicht auf die Arbeitsmarktpolitik verengt werden. Hier sind die Wirtschafts- und die Strukturpolitik der EG, des Bundes und insbesondere auch der zuständigen Länder
gefordert. Die Arbeitsmarktpolitik kann die Maßnahmen dieser Politikbereiche nur flankieren. Das Kurzarbeitergeld kann Entlassungen bei vorübergehendem Auftragsmangel verhindern, und durch Maßnahmen der Fortbildung und Umschulung können Qualifikationen der Arbeitnehmer an veränderte Arbeitsmarktbedingungen angepaßt werden.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Maaß, bitte schön.
In diesem Zusammenhang, Herr Staatssekretär: Hat die Bundesregierung eine ungefähre Vorstellung, wieviel hauptamtliche Stellen bei den Trägern dieser Maßnahmen in Zukunft gestrichen werden müssen?
Das ist der Bundesregierung zur Zeit nicht bekannt. Die laufenden Maßnahmen - das hatte ich schon gesagt - werden bezahlt. Im Rahmen der Haushaltslage - für 1993 stehen für ABM im gesamten Bundesgebiet 9,9 Milliarden DM und für Fortbildung und Umschlungsmaßnahmen 14,7 Milliarden DM zur Verfügung - kann die Bewirtschaftung weiter erfolgen. Ob einzelne Träger dadurch ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen können, kommt auf die regionalen Gesichtspunkte und auf die Bewilligungen an, die in den einzelnen Arbeitsamtsbezirken ausgesprochen werden können.
Weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, müssen nicht einige Träger, wenn die Mittel jetzt zurückgenommen werden, ihre Maßnahmen ganz einstellen, und wird dadurch nicht die Infrastruktur für solche Maßnahmen völlig zerstört?
Wir haben die Mittelansätze, Herr Kollege Maaß, bei ABM in 1993 noch erhöht, bei Fortbildung und Umschulung allerdings - das ist richtig - gekürzt. Wenn man beide Zahlen zusammen sieht und alles flexibel gestaltet werden kann, kann es eigentlich keinen Zusammenbruch von Förderstrukturen geben, es sei denn, die Bewilligungen gehen in andere Bereiche und die aufgebauten Strukturen werden nicht mehr bedient. Das ist aber eine Sache der regionalen Verhältnisse und der regionalen Bewilligung in den einzelnen Arbeitsamtsbezirken.
Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, in meinem Arbeitsamtsbereich Hagen standen im vergangenen Jahr über 17 Millionen DM für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur Verfügung. In diesem Jahr sind es 860 000 DM, also ein minimaler Betrag. Sind Sie nicht auch meiner Meinung, daß dadurch die Trägerstrukturen, die z. B. bei der Caritas, bei der Arbeiterwohlfahrt oder auch bei den Städten vorhanden sind, zusammenbrechen müssen?
Kollege Ostertag, ich glaube, daß es sich hier um zusätzliche Mittel handelt, die neu bewilligt werden können. Die Maßnahmen, die bereits laufen, werden ja aus dem gesamten Haushalt finanziert. Wenn Trägerstrukturen zusammenbrechen, dann werden in diese Bereiche hinein keine Bewilligungen mehr zu erfolgen haben. Man muß örtlich untersuchen, warum gewisse Maßnahmen gefördert und andere nicht gefördert werden.
Bitte sehr, Frau Abgeordnete Steen.
Herr Staatssekretär, könnten Sie in diesem Zusammenhang Auskunft geben, wie die Durchführung der, ich sage einmal: angedrohten Meldepflicht organisiert werden und für diejenigen, die ihr nachkommen sollen, ablaufen soll?
Der Bundesarbeitsminister hat sich zusammen mit der Selbstverwaltung und der Verwaltung der Bundesanstalt für Arbeit darauf verständigt, daß in den alten Bundesländern 50 % und in den neuen Bundesländern 33 % der Leistungsbezieher dieser Meldepflicht unterzogen werden. Diese Meldepflicht ist übrigens nichts Neues; sie steht bereits im Gesetz. Wir wollen die Pflicht, sich alle drei Monate zu melden, für die genannten Personenkreise auf einen Monat verkürzen. Dies wird in den Arbeitsämtern zur Zeit nach einem Erlaß des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit organisiert.
Ich möchte die Damen und Herren bitten, den Zusammenhang mit der usprünglichen Frage nicht ganz außer acht zu lassen. Das hatte nicht unbedingt etwas mit der Situation in Herne zu tun. Nichtsdestotrotz war es von allgemeinem Interesse, und deswegen habe ich die Frage zugelassen.
Ich rufe nunmehr die Frage 21 des Abgeordneten Dr. Hans-Hinrich Knaape auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß Altersrenten der Jahrgänge 1932 Geborene aus den neuen Bundesländern trotz fristgemäßer Einreichung ihrer Unterlagen von den Rentenberechnungsstellen der Landesversicherungsanstalten ab Januar 1992 erst einen vorläufigen Bescheid über die Höhe ihrer Rentenzahlungen erhalten haben und nun in der Ungewißheit leben müssen, welche Rentenhöhe ihnen endgültig zur Gestaltung des finanziellen Spielraumes zur Verfügung steht, und was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um den die Lebensqualität mindernden und Unmut erzeugenden Zustand der psychischen Befindlichkeit, der als Diskriminierung erlebt wird, abzuhelfen?
Herr Kollege Knaape, der Bundesregierung sind die Probleme, die sich aus der derzeitigen längeren Bearbeitungszeit bei Rentenanträgen aus den neuen Bundesländern ergeben, bekannt. Die Gründe für die längere Bearbeitungsdauer der Rentenanträge in den neuen Bundesländern liegen darin, daß der Gesetzgeber - das wurde von allen großen Parteien getragen - eine möglichst gerechte Regelung angestrebt hat.
Die Übertragung der Vergünstigungen des westdeutschen Rentenrechts, insbesondere durch die Einführung vorgezogener Altersgrenzen für bestimmte
Personengruppen, die günstigeren Voraussetzungen für Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und das günstigere Hinterbliebenenrentenrecht schon zum 1. Januar 1992 haben dazu geführt, daß 1992 rund 600 000 Rentenanträge in den neuen Bundesländern gegenüber normalerweise 240 000 Rentenanträgen gestellt worden sind. Das bedeutet eine Erhöhung auf das Zweieinhalbfache. Eine Erhöhung der Anzahl der Rentenanträge auf das Zweieinhalbfache können auch die westdeutschen Rentenversicherungsträger nicht ohne eine spürbare Verlängerung der Bearbeitungszeit der Rentenanträge bewältigen.
Bei den Rentenversicherungsträgern in den neuen Bundesländern kommt jedoch noch dazu, daß sie erstens in jedem Einzelfall erst einmal ein Versicherungskonto aufbauen müssen, weil man hier anders als im Westen nicht auf einen entsprechenden Bestand zurückgreifen kann, und daß sie zweitens weitgehend nur mit verkürzt ausgebildetem und damit noch nicht umfassend einsatzfähigem Personal arbeiten müssen, weil die Rentenversicherungsträger in den neuen Bundesländern nach der deutschen Einigung in kürzester Zeit aufgebaut werden mußten.
Um die Bearbeitung von Rentenanträgen in den neuen Bundesländern zu beschleunigen, haben die Rentenversicherungsträger im Rahmen des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger bereits Wege eröffnet, wie die westdeutschen Landesversicherungsanstalten den Landesversicherungsanstalten in den neuen Bundesländern solidarische Hilfe leisten, insbesondere z. B. einen Großteil der Rentenanträge aus den neuen Bundesländern im Westen bearbeiten können. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und andere bundesweit tätige Rentenversicherungsträger haben intern bereits entsprechende Regelungen getroffen. Dadurch werden sich allerdings auch die Bearbeitungszeiten der Rentenanträge im Westen verlängern.
Die Bundesregierung unterstützt darüber hinaus nachdrücklich Überlegungen der Rentenversicherungsträger und der Koalitionsfraktionen, die Rentenberechnungen nach dem Renten-Überleitungsgesetz zu vereinfachen und damit zu beschleunigen. Ein entsprechender Gesetzentwurf soll so bald wie möglich eingebracht werden. Es ist zu hoffen, daß sich auf Grund dieser administrativen und legislativen Maßnahmen die Situation bald verbessern wird.
Eine Zusatzfrage, Dr. Knaape, bitte schön.
Herr Staatssekretär, Sie haben hier ein sehr düsteres Bild gemalt. Sieht die Bundesregierung denn, wann sich dieser Zustand, zeitlich gesehen, verändern wird?
Herr Kollege Knaape, ich habe eigentlich kein düsteres Bild gemalt, sondern ein realistisches, wie es den Tatsachen im Augenblick entspricht.
Die Rentenversicherungsträger geben sich schon seit langem große Mühe, den Antragsstau zu bewältigen, aber es ist beim besten Willen nicht schneller hinzubekommen. Deshalb wollen wir ja jetzt einen neuen Weg gehen. Vereinfachungen werden zur Zeit diskutiert, und ich gehe davon aus, daß in absehbarer Zeit die entsprechenden Maßnahmen wirken werden. Ich kann Ihnen nicht genau sagen, wann der gesamte Rentenantragsstau aufgearbeitet sein wird. Das ist nicht möglich.
Wir kennen ja auch das Instrument der Vorschußzahlungen. Davon sollten alle Gebrauch machen, die noch nicht im Besitz ihres Rentenbescheides sind.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, welche Argumentation empfehlen Sie denn gegenüber den aufgebrachten älteren Damen und Herren, die jetzt auf ihre Rente warten und mit dieser Ihrer Erklärung vorlieb nehmen müssen?
Die Argumentation ist die, die ich eben vorgetragen habe. Ich kann Ihnen das gern schriftlich zur Verfügung stellen, damit Sie dann daraus argumentieren können.
Andere Argumente gibt es nicht; es ist die Realität, daß mit dem bei den Rentenversicherungsträgern vorhandenen Personal einschließlich des Einsatzes moderner Techniken eben nicht schneller zu arbeiten ist. Es geht beim besten Willen nicht. Das ist eine solche Flut von Anträgen, die wir natürlich insoweit selbst verursacht haben, als wir das Rentengesetz schon ein Jahr früher, als wir es ursprünglich vorgesehen hatten, in Kraft treten ließen, um den Menschen die Vergünstigungen schneller zukommen zu lassen. Das hat natürlich zur Folge, daß die Bearbeitungszeiten etwas länger sind, und die Bearbeitung muß auch gründlicher erfolgen, damit nichts verlorengeht.
Deshalb verweise ich noch einmal - auch das können Sie ja den Bürgerinnen und Bürgern bitte weitergeben - auf das Instrument der Vorschußzahlungen. Die Rentenversicherungsträger sind bemüht, diese Vorschußzahlungen so dicht wie möglich an der voraussichtlichen Rente, soweit das überschaubar ist, auszurichten.
Da weitere Fragen zur Frage 21 nicht vorliegen, rufe ich die Frage 22 des Abgeordneten Adolf Ostertag auf:
In welcher Weise will die Bundesregierung die Arbeitsämter personell ausstatten, damit professionell betriebener Mißbrauch der durch die Bundesanstalt für Arbeit gewährten Leistungen ({0}) verhindert wird, und welche Summe schätzt die Bundesregierung dadurch pro Jahr netto ({1}) einsparen zu können?
Herr Kollege Ostertag, die Verhinderung von mißbräuchlichem Leistungsbezug sowie die Aufdeckung und Verfolgung desselben gehören ebenso wie die Bekämpfung der illegalen Beschäftigung zu den traditionellen Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit. Die derzeitige personelle Ausstattung der Dienststellen der Bundesanstalt für Arbeit trägt dieser Tatsache bereits Rechnung.
In diesem Zusammenhang sei ein Hinweis auf die in den letzten zehn Jahren erfolgten Stellenmehrungen bei der Bundesanstalt erlaubt. Gegenüber dem Jahre
1982 ist die Zahl der Beschäftigten trotz verbesserten EDV-Einsatzes im Gebiet der alten Bundesländer um über 11 000 gestiegen. Derzeit kann die Bundesanstalt über 70 000 Mitarbeiter bei den Dienststellen im bisherigen Bundesgebiet beschäftigen. Hinzu kommen über 27 000 Personen in den neuen Bundesländern.
Die im Föderalen Konsolidierungsprogramm von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. beschlossene Kürzung der Lohnersatzleistungen nach dem AFG um einen Prozentpunkt für Arbeitslose mit Familienpflichten, also mit mindestens einem Kind, oder um drei Prozentpunkte für die übrigen Leistungsbezieher steht unter dem Vorbehalt, daß diese Leistungsabsenkungen nicht durchgeführt werden, wenn durch die Intensivierung der Bekämpfung von Mißbrauch und Leistungsmitnahme ein entsprechendes Einsparvolumen erbracht wird. Die bisherigen Einschätzungen lassen ein Einsparvolumen in Milliardenhöhe erwarten.
Zusatzfrage, bitte schön.
Mit Verlaub, Herr Präsident, aber ich glaube, die Antwort geht an meiner Frage vorbei. Ich fragte nämlich ausdrücklich nach dem professionell betriebenen Mißbrauch. Auch dem Arbeitsministerium und dem Staatssekretär müßte bekannt sein, daß es gerade in ostdeutschen Bereichen im Zusammenhang mit AB-Gesellschaften einen professionell betriebenen Mißbrauch gibt und zu dessen Bekämpfung das Personal nicht zur Verfügung steht.
Aber ich habe trotzdem zwei Zusatzfragen, und die sind auch so allgemein, wie auf meine speziellere Frage geantwortet wurde. Wie soll denn die Arbeitsverwaltung, die in diesem Jahr 1 600 Stellen einsparen soll, mit den gewachsenen Problemen fertigwerden? Wir haben nicht nur mehr Personal bei den Arbeitsämtern, sondern wir haben vor allem eine Fülle zusätzlicher Zahlen und eine Fülle von zusätzlichen Programmen, die ja kontrolliert werden müssen, um einen Mißbrauch zu verhindern.
1 600 Stellen sollen gestrichen werden, und wir haben gemeinsam im Ausschuß beraten, daß weitere 180 Stellen, die die Arbeitsämter gerade in diesem Bereich haben wollten, nicht bewilligt werden. Das stimmt mit dem, was Sie eben gesagt haben, nicht überein.
Kollege Ostertag, 1 600 Stellen sollen nicht gestrichen, sondern von den alten in die neuen Bundesländer verlagert werden. Es werden also keine Stellen gestrichen.
Hinzu kommt, daß bereits seit geraumer Zeit von den freiwerdenden Mitarbeitern des Zolls 450 Personen der Arbeitsverwaltung zusätzlich zur Bekämpfung von Mißbrauch und illegaler Beschäftigung zur Verfügung stehen. Bis Ende März werden es weitere 350 sein, so daß in diesem Umfang eine Personalaufstockung vorgesehen ist.
Sind Sie der Meinung, daß mit dieser Personalaufstockung wirklich das Problem der
Mißbrauchsbekämpfung im individuellen Bereich gelöst werden kann?
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: In Köln, einer Stadt mit 40 000 Leistungsempfängern, wird die Hälfte dieser Leistungsempfänger künftig monatlich im Arbeitsamt erscheinen müssen. Bei 20 Arbeitstagen im Monat sind das täglich 1 000. Sind Sie nicht auch der Meinung, daß wir ein großes Zelt vor dem Arbeitsamt in Köln aufstellen müssen, um das bewältigen zu können, und daß dadurch dort die notwendige Bewältigung der Aufgaben durch die Beamten nicht mehr möglich ist?
Nein, dieser Auffassung bin ich nicht, schon gar nicht der, daß ein Zelt aufgestellt werden muß, Kollege Ostertag, zumal die Arbeitsverwaltung dies ganz anders organisieren wird.
Wir haben - das habe ich eben schon in Beantwortung einer Frage gesagt - mit der Selbstverwaltung und der Verwaltung der Bundesanstalt mehrere Gespräche geführt und sind übereingekommen, und die Arbeitsverwaltung sieht sich dazu auch imstande, mit der jetzt vorhandenen Personalausstattung das, was gefordert wird, zu bewältigen.
Weitere Fragen, Herr Staatssekretär, liegen nicht vor. Dann bedanke ich mich sehr herzlich bei Ihnen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Frauen und Jugend auf. Hier steht uns zur Beantwortung die Parlamentarische Staatssekretärin Cornelia Yzer zur Verfügung. Ich rufe zunächst die Frage 23 des Abgeordneten Rudolf Meinl auf:
In welchen Bundesländern ist nach den Erkenntnissen der Bundesregierung die Bestimmung des Artikels 5 ({0}) des sog. Schwangeren- und Familienhilfegesetzes bereits in die Tat umgesetzt worden, wonach für jedes Kind vom vollendeten dritten Lebensjahr an bis zum Schuleintritt ein Platz im Kindergarten zur Verfügung steht, und in welchen Bundesländern wird dies bis Ende 1993 der Fall sein?
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Meinl, gegenwärtig steht - statistisch gesehen - für jedes Kind vom vollendeten dritten Lebensjahr bis zum Schuleintritt in den neuen Bundesländern ein Platz im Kindergarten zur Verfügung. Örtliche und regionale Engpässe sind dabei jedoch nicht auszuschließen,
In den alten Bundesländern dagegen ist die Bestimmung des Art. 5 des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes noch nicht umgesetzt. Bis zum Ende des Jahres 1993 ist mit einer Umsetzung im Bundesland Rheinland-Pfalz zu rechnen, nachdem dort eine dem Schwangeren- und Familienhilfegesetz entsprechende landesgesetzliche Regelung am 1. August 1993 in Kraft treten wird.
Zusatzfrage, bitte sehr, Herr Abgeordneter Meinl,
Frau Staatssekretärin, wird die Bundesregierung mit den zuständigen MiRudolf Meinl
nisterien in den Ländern, in denen dies noch fehlt oder noch nicht abgesichert ist, Gespräche zur Erfüllung dieses gesetzlichen Anspruches führen? In welchem Zeitraum wird das erfolgen?
Es hat Gespräche mit den Vertretern der kommunalen Spitzenverbände gegeben. Diese werden auch fortgeführt. Im übrigen ist die Umsetzung eine gesetzliche Verpflichtung der Länder und Kommunen.
Weitere Zusatzfrage? - Dann der Abgeordnete Jäger. Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Frau Staatssekretärin, wie erklären Sie es sich, daß - wie Sie ausgeführt haben - erst ein einziges Bundesland der alten Bundesrepublik in der Lage ist, Vollzugsmeldung zu erstatten? Welche Erfahrungen gibt es denn darüber, ob in den anderen Bundesländern überhaupt bereits Initiativen in dieser Richtung ergriffen worden sind?
Noch einmal zur Klarstellung: Es ist unter den alten Bundesländern das Land Rheinland-Pfalz, das den Rechtsanspruch in einer landesgesetzlichen Regelung verankert hat. In den neuen Bundesländern gibt es ebenfalls einen gesetzlichen Rechtsanspruch.
Darüber hinaus: Die Umsetzung hat nach dem Schwangeren- und Familienhilfegesetz im Jahre 1996 zu erfolgen. Wir schreiben das Jahr 1993. Die Initiativen der Länder sind abzuwarten.
Die Frage 24 des Abgeordneten Herbert Werner ({0}) wird auf dessen Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
So kann ich jetzt die Frage 25 des Abgeordneten Graf von Schönburg-Glauchau aufrufen:
In welchen Bundesländern ist nach Kenntnis der Bundesregierung die Bestimmung des Artikels 5 des sog. Schwangeren- und Familienhilfegesetzes ({1}), wonach ein bedarfsgerechtes Angebot an Ganztagesplätzen vorgehalten werden muß, bereits in die Tat umgesetzt worden, und in welchen Bundesländern wird dies bis Ende 1993 erreicht sein?
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.
Cornelia Yzer, Parl Staatssekretärin: Herr Kollege von Schönburg-Glauchau, die Verpflichtung zur Vorhaltung von Ganztagsplätzen im § 24 Abs. 2 Nr. 3 des Achten Buches Sozialgesetzbuch bezieht sich ihrem Sinne nach auf das Kindergartenalter, also auf die Förderung von Kindern im Alter vom vollendeten dritten Lebensjahr bis zum Schuleintritt.
Der Begriff „bedarfsgerechtes Angebot" ist allerdings unterschiedlichen Interpretationen zugänglich. Deshalb wird die Bestimmung in den einzelnen Ländern und kommunalen Gebietskörperschaften auch unterschiedlich umgesetzt.
Ungeachtet der Interpretationsunterschiede haben darüber hinaus Faktoren wie etwa die Zahl alleinerziehender Elternteile im jeweiligen Einzugsbereich Einfluß auf den Bedarf. Deshalb läßt sich ein allgemeingültiger Maßstab für die notwendige Bedarfsdeckung kaum aufstellen.
In der Kostenschätzung, die das Bundesministerium für Frauen und Jugend zusammen mit den kommunalen Spitzenverbänden im Auftrag des Sonderausschusses „Schutz des ungeborenen Lebens” erarbeitet hat, ist angenommen worden, daß 30 % der Plätze im Kindergartenalter als Ganztagsplätze vorzuhalten sind. Neuere statistische Daten über die Zahl der Ganztagsplätze liegen nicht vor, da die Jugendhilfestatistik nur die Gesamtzahl aller verfügbaren Plätze ausweist, nicht jedoch nach Ganztagsplätzen und Halbtagsplätzen - Vor- oder Nachmittagsplätzen - unterscheidet.
Nach einer nicht veröffentlichten Untersuchung im Auftrag des Bundesministeriums für Frauen und Jugend, der eine Befragung von Jugendämtern in den alten Bundesländern in den Jahren 1989 und 1990 zugrunde liegt, waren zum damaligen Zeitpunkt 14 % aller Kindergartenplätze Ganztagsplätze. Angesichts der starken örtlichen Schwankungen differenziert die Untersuchung nicht nach Ländern, sondern nach Jugendamtstypen, also nach kreisfreien Städten, kreisangehörigen Städten und Landkreisen. Folgender Anteil der Plätze steht danach als Ganztagsplatz zur Verfügung: in kreisfreien Städten 33,85 % der Kindergartenplätze, in kreisangehörigen Städten 11,4 %, in Landkreisen 4,85 %. Dabei ist darauf zu verweisen, daß die Kindergartenplätze im Land Berlin fast ausschließlich als Ganztagsplätze ausgestattet sind, und daß in Hamburg die überwiegende Zahl als Ganztagsplatz angeboten wird.
Es kann davon ausgegangen werden, daß seit dem Erhebungsstichtag die Zahl der Ganztagsplätze bundesweit zugenommen hat, daß sich aber die Betreuungsquoten im Hinblick auf die Geburtenentwicklung und den Zuzug nur unwesentlich verändert haben.
Die Plätze für Kinder dieser Altersgruppe in den neuen Bundesländern werden dagegen generell als Ganztagsplätze vorgehalten.
Zusatzfrage, bitte schön, Graf von Schönburg-Glauchau.
Frau Staatssekretärin, Ihrer sehr langen, gründlichen, guten Antwort war zu entnehmen, daß besonders auf dem Land knapp 5 % Ganztagsplätze vorhanden sind. Das ist ein erbärmlicher Zustand. Sehe ich das richtig?
Es ist richtig, 4,85 % sind es in den Landkreisen im Schnitt.
Würden Sie mit mir darin übereinstimmen, daß die wichtige Funktion der Ganztagsplätze als flankierende Maßnahme zum Schutz ungeborener Kinder - weil sie die Mütter ermutigen könnte, ihr Kind auszutragen - jedenfalls auf dem Lande doch höchst ungenügend erfüllt ist?
Ich unterstreiche, daß Ganztagsangebote ein wertvolles Hilfsange12330
bot für die Mutter in der Entscheidungssituation für das ungeborene Leben sein können. Das gilt für Landkreise wie für Großstädte. Das Angebot reicht bislang im allgemeinen nicht aus, aber wir müssen immer das Stichwort „bedarfsgerecht", das Sie ja selbst hinterfragt haben, hinzuziehen und dann im einzelnen die Situation im Landkreis, in der Großstadt, in der kreisangehörigen Stadt betrachten, um beurteilen zu können, ob eine bedarfsgerechte Ausstattung erfolgt oder nicht.
Zusatzfrage des Abgeordneten Jäger.
Frau Staatssekretärin, da es sich hier wohl im wesentlichen um einen Bedarf von alleinerziehenden Müttern handelt, die auf Ganztagsplätze angewiesen sind, möchte ich Sie fragen: Wie hoch schätzt denn die Bundesregierung den bisher noch nicht gedeckten Bedarf - weil ja im Gesetz Bedarfsdeckung verlangt wird - vor allem bei dieser Personengruppe?
Wie ich bereits ausführte, Herr Kollege Jäger, sind wir als Bundesregierung davon ausgegangen, daß 30 % der Kindergartenplätze als Ganztagsplätze vorgehalten werden sollten. Dabei möchte ich auch noch einmal deutlich hervorheben, daß es keinesfalls nur um alleinerziehende Mütter geht, sondern darüber hinaus auch um Familien, die auf Grund einer schwierigen Situation der Unterstützung durch Ganztagsbetreuung bedürfen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Meinl.
Frau Staatssekretärin, wie hoch liegt der Prozentsatz der bereits bestehenden Kindergärten, die Ganztagesplätze anbieten?
Im Durchschnitt 14 %. Ich hatte bereits vorgetragen, daß dabei nach kreisfreien Städten, Landkreisen und kreisangehörigen Städten zu differenzieren ist.
Danke schön. Weitere Fragen liegen nicht vor. Frau Staatssekretärin, ich bedanke mich bei Ihnen und rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit auf. Hier steht uns zur Beantwortung die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Dr. Sabine Bergmann-Pohl zur Verfügung.
Zunächst rufe ich die Frage 26 der Abgeordneten Frau Antje-Marie Steen auf:
Vor dem Hintergrund, daß - wie mir durch den Bund Deutscher Hebammen e. V. ({0}) bekannt wurde - das Einkommen bei Hebammen in Ostdeutschland weiterhin bei 60 % der Gebührenverordnung stagniert und daß das ohnehin in Gesundheitsberufen bekannte Phänomen der Berufsflucht dadurch in Ostdeutschland dramatisch zunimmt, frage ich die Bundesregierung, in welchem Zeitraum mit einer Angleichung der Gebührenverordnung analog der ostdeutschen Ärzte ({1}) zu rechnen ist und mit welchem Nachdruck dieses von der Bundesregierung verfolgt wird, um einer drohenden Verschlechterung bei Mutterschaftsvor- und -nachsorge sowie bei Geburten entgegenzuwirken?
Frau Kollegin Steen, die Bundesregierung beabsichtigt, im Rahmen einer 2. Gebührenanpassungsverordnung die Vergütungen für Leistungen der Hebammenhilfe in den neuen Bundesländern zum 1. Juni 1993 auf 75 v. H. der in den alten Bundesländern geltenden Vergütungssätze anzuheben.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete.
Frau Staatssekretärin, ist damit auch eine allgemeine Anhebung der Gebühren für alle Hebammen in der Bundesrepublik verbunden, die ja seit drei bzw. sieben Jahren keine Erhöhung erfahren haben?
({0})
Frau Kollegin Steen, wir haben die Gebühren der Hebammen in den alten Bundesländern gegenüber denen in anderen medizinischen Fachbereichen schneller angehoben. Es wäre zu überprüfen, inwieweit die Entlohnung der Hebammen gegenüber der in anderen medizinischen Fachberufen in den alten Bundesländern ungerechtfertigt ist.
Die zweite Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Frau Staatssekretärin, ich glaube, Sie unterliegen einem Irrtum. Es liegt bereits seit dem 1. Juli 1992 ein Antrag vor, diese Gebühren anzuheben. Bis heute ist darüber keine Entscheidung gefallen. Ich sage Ihnen auch, daß es um bestimmte Pauschalen geht. Es geht z. B. um die Geburtshilfe, aber auch um die Geburtsvorbereitung und um die Kilometerpauschalen. Ein entsprechender Antrag der Standesvertretung der Hebammen liegt Ihnen seit 1992 vor. Diese Pauschalen sind seit drei bzw. sieben Jahren nicht angehoben worden.
Frau Kollegin Steen, ich bin gern bereit, mich in meinem Haus darüber sachkundig zu machen. Da Sie Ihre Frage aber ausschließlich auf die neuen Bundesländer abgestellt haben, kann ich diese Frage jetzt nicht beantworten.
Weitere Zusatzfragen zu dieser Frage liegen nicht vor. Dann kommen wir zur Frage 27 der Frau Kollegin Steen:
Bezug nehmend auf eine Meldung des BGA, daß die Häufigkeit der Vergiftungsfälle im Kleinkindalter mit Lampenöl weiter zunehme, frage ich die Bundesregierung, inwieweit sie eine Rücknahme-Aktion für Lampenölbehälter, die bislang noch ohne kindersicheren Verschluß im Handel sind, für dringlich erachtet und veranlaßt hat und inwieweit sie darüber hinaus Sorge trägt, daß auch bei anderen gesundheitsgefährdenden Substanzen wie z. B. Putzmitteln, Waschmitteln, Medikamenten, Desinfektionsmitteln etc. kindersichere Verschlüsse zur Auflage gemacht sind?
Lampenöle bestimmter Zusammensetzung dürfen nach den Bestimmungen der EG-Richtlinie vom 23. Juli 1991 nur in Behältnissen mit kindergesicherten Verschlüssen an Verbraucher abgegeben werden. Diese Vorschrift wird zur Zeit im Rahmen einer
Verordnung zur Novellierung der Gefahrstoffverordnung in deutsches Recht umgesetzt; doch werden Lampenöle in Deutschland bereits in Packungen mit kindergesicherten Verschlüssen angeboten. Eine Rücknahmeaktion für möglicherweise einige wenige noch nicht derart ausgestattete Lampenölpackungen hält die Bundesregierung daher nicht für dringend erforderlich. Dies gilt insbesondere auch deswegen, weil sich die in der letzten Zeit beobachteten Vergiftungsfälle zumeist dadurch ereigneten, daß Kleinkinder Lampenöle direkt aus Öllampen tranken.
Um solche Unfälle künftig nach Möglichkeit zu verhindern, hat das Bundesministerium für Gesundheit eine Verordnung vorbereitet, mit der Lampenöle, die bestimmte Kohlenwasserstoffe enthalten und die gefärbt oder mit Riechstoffen versehen sind, verboten werden sollen. Nicht nur Lampenöle, sondern auch Putzmittel, Waschmittel und andere Erzeugnisse, die für jedermann erhältlich sind und die auf Grund ihrer Eigenschaften als sehr giftig, giftig oder ätzend zu kennzeichnen sind, werden nach Einschätzung des Bundesministeriums für Gesundheit bereits jetzt fast ausnahmslos in Behältnissen mit kindergesicherten Verschlüssen angeboten, da das Gemeinschaftsrecht dies vorsieht. Für bestimmte Arzneimittel, die bei Kindern durch mißbräuchliche Verwendung Vergiftungen befürchten lassen, z. B. Schmerz-, Schlaf- und Beruhigungsmittel, hat das Bundesgesundheitsamt im Wege der Auflage nach § 28 Abs. 2 Nr. 5 des Arzneimittelgesetzes bereits 1979 kindergesicherte Verschlüsse angeordnet.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Steen.
Frau Staatssekretärin, ich danke Ihnen für die Mitteilung, daß es überwiegend schon kindergesicherte Verschlüsse z. B. für Medikamente gibt. Das gilt aber nicht für Putzmittel. Es stehen in unseren Putzmittelschränken überall Putzmittel, die nicht kindergesichert sind, die ganz leicht zugänglich sind.
In diesem Zusammenhang möchte ich Sie fragen: Wenn denn schon das Trinken aus diesen sogenannten Lampenölflaschen oder nur das Saugen am Docht dieser Lichter gefährlich und gesundheitsbeeinträchtigend ist, können Sie dann darüber Auskunft geben, ob es nicht auch Umweltbelastungen bei der Verbrennung dieser Lampenöle gibt und in welchem Umfang das gesundheitsgefährdend ist? Sehen Sie da nicht einen Handlungsbedarf, die Herstellung und den Vertrieb dieser Lampenöle insgesamt zu verbieten?
Frau Kollegin Steen, ich kann jetzt natürlich keinen direkten Zusammenhang zwischen der Vergiftung von Kindern durch das Trinken von Lampenölen und der Umweltbelastung erkennen. Mir ist nicht bekannt, daß eine Umweltbelastung durch das Verbrennen von Lampenölen vorhanden ist. Uns ist auch gar nicht bekannt, wie viele Menschen zu Hause Lampenöle im Gebrauch haben,
Zweite Zusatzfrage, Frau Kollegin Steen.
Frau Staatssekretärin, darf ich Sie dann bitten, mir auf diese Frage eine schriftliche Antwort zu geben? Ich gestehe ein, daß das eine Erweiterung meiner Fragestellung war. Aber ich würde Sie ganz herzlich um eine schriftliche Auskunft über die Umweltbelastungen und die Schädlichkeit durch diesen Verbrennungsprozeß bitten.
Frau Kollegin Steen, wenn uns Erkenntnisse darüber vorliegen, bin ich gerne bereit, Ihnen das zu beantworten.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Die Fragen 28 und 29 der Kollegin Lieselott Blunck werden schriftlich beantwortet, ebenso die Frage 30 des Kollegen Jürgen Augustinowitz. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs angelangt. Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Alle Fragen, nämlich die Fragen 34 und 35 des Kollegen Klaus Harries und die Fragen 36 und 37 des Kollegen Dr. Klaus Kübler, werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Joachim Günther zur Verfügung.
Die Frage 38 des Kollegen Josef Grünbeck und die Frage 39 des Kollegen Gerhart Rudolf Baum werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen damit zur Frage 40 des Kollegen Claus Jäger:
Werden die Bestimmungen der Artikel 9 bis 11 des sog. Schwangeren- und Familienhilfegesetzes über die Bevorzugung schwangerer Frauen im sozialen Wohnungsbau bereits in allen Bundesländern in der Praxis angewandt, und wenn nein, in welchen Ländern gibt es noch Defizite?
Herr Kollege Jäger, in den Art. 9 bis 11 des genannten Gesetzes sind, jeweils zugeschnitten auf die bestehenden unterschiedlichen gesetzlichen oder vertraglichen Bindungen von Sozialwohnungen, besondere Vorrangregelungen für die Vermittlung schwangerer Frauen geschaffen worden. Die Vorrangregelungen gelten in den alten Ländern für die öffentlich geförderten und in den neuen Ländern für die ehemals volkseigenen Wohnungsbestände.
Es handelt sich dabei um gesetzliche Vorschriften, an deren Umsetzung die Länder bzw. deren für den Verwaltungsvollzug zuständige Stellen seit Inkrafttreten der einschlägigen Bestimmungen unmittelbar gebunden sind.
Dessenungeachtet hat die Bundesbauministerin bereits mit Schreiben vom 13. August 1992, also unmittelbar im Anschluß an die Entscheidung des
Parl. Staatssekretär Joachim Günther Bundesverfassungsgerichts über die Gültigkeit der genannten Vorschriften, ihre Länderkollegen gebeten, sicherzustellen, daß die neuen wohnungsrechtlichen Regelungen sofort in die Praxis vor Ort umgesetzt werden und entsprechende Hinweise für den Verwaltungsvollzug gegeben werden. Soweit mir bekannt ist, haben einige Bundesländer, z. B. Bayern, Baden-Württemberg, Brandenburg und Schleswig-Holstein, eigene, den Vollzug fördernde Durchführungsvorschriften erlassen.
Bisher liegen flächendeckende Erfahrungen über Defizite in der Anwendung nicht vor.
Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger.
Herr Staatssekretär, wird die Bundesregierung bzw. Ihr Haus nach einem gewissen Zeitraum solche Erkenntnisse anfordern, sobald man erwarten kann, daß diese Bestimmungen in den Bundesländern in die Tat umgesetzt worden sind?
Ich gehe mit Sicherheit davon aus, daß es nach einem solchen Zeitraum diese Anforderungen gibt. Bisher ist ein halbes Jahr verstrichen. Deshalb können Aussagen über die Länder noch nicht vollständig vorliegen.
Zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger.
Herr Staatssekretär, sind auch die anderen Bundesländer, die Sie vorhin nicht erwähnt haben, wenigstens grundsätzlich bereit, ebenso wie die vier, die Sie eben genannt haben, entsprechende landeseigene Vorschriften zu erlassen, oder sagen diese Länder, es bedürfe keiner ergänzenden landesrechtlichen Vorschriften?
Außer aus Nordrhein-Westfalen liegen von den anderen Ländern keine Stellungnahmen vor, so daß man davon ausgehen kann, daß sie diese Vorschriften anerkennen.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Wir kommen damit zu Frage 41 des Kollegen Dr. Hans-Hinrich Knaape:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß in den neuen Bundesländern ab 1. März 1993 in den öffentlich geförderten Neubauwohnungen eine durchschnittliche Miete von 6 DM/qm monatlich bewilligt wurde, um die fälligen Kredite der Investitionsbanken zu bedienen, hierdurch aber Mieter, die bei den jetzigen Mieten von 2,31 DM/qm monatlich schon zu 60 % Wohngeld beziehen, jetzt die Wohnungen räumen müssen, da sie die Mieten durch ihre Einkünfte nicht aufbringen können, und welche Schritte empfiehlt die Bundesregierung zur Lösung dieses Sozialproblems, da auch Behinderte hiervon betroffen sind?
Herr Kollege Dr. Knaape, Ihre Frage bezieht sich offenbar auf vor dem 3. Oktober 1990 begonnene Mietwohnungsbauvorhaben, also auf Vorhaben des ehemals komplexen Wohnungsbaus, deren Fertigstellung u. a. über durch vom Bund verbürgte Kredite und Zuschüsse gesichert wurde.
Nach den Regelungen des Einigungsvertrages unterliegen diese Wohnungen grundsätzlich der Mietpreisbindung nach übergeleitetem Preisrecht der ehemaligen DDR.
Ausnahmen von dieser Bindung gelten für den Fall, daß es an öffentlicher Förderung fehlt und es sich damit um freifinanzierten Wohnungsbau handelt bzw. Mittel des sozialen Wohnungsbaus zur Verfügung gestellt wurden.
Über die Gestaltung der Förderung und damit auch die Mietpreisbindung haben allein die Lander entschieden. Der Bund konnte darauf keinen Einfluß nehmen. Die getroffenen Entscheidungen liegen in der Verantwortung des jeweiligen Landes.
Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, ist sich der Bund bewußt, welcher soziale Sprengstoff in dieser Maßnahme liegt, und ist der Bund bereit, den Ländern eine Hilfe, eine finanzielle Unterstützung zu geben, damit diese Kredite bedient werden können?
Es kommt jetzt wirklich darauf an, welche Kredite Sie meinen; das geht aus Ihrer Frage nicht eindeutig hervor. Sie haben in Ihrer Frage von durchschnittlichen Kaltmieten von 6 DM/qm gesprochen, die angehoben wurden, um die fälligen Kredite der Investitionsbanken zu bedienen. Diese Kredite, wenn sie nicht durch die vorhin genannten Mittel finanziert wurden, geben keine Berechtigung, zusätzliche Mieterhöhungen vorzunehmen. Das zu regeln ist klar eine Sache des Landes. Hier muß also praktisch mit dem Land eine Regelung getroffen werden.
Zweite Zusatzfrage.
Die Zuständigkeit des Bundes ist in keinem Fall gegeben?
In diesem Fall nicht; das ist Landeshoheit.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs angekommen. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Eduard Lintner zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 46 des Kollegen Horst Kubatschka auf:
Auf welcher Rechtsgrundlage ist der Bundesgrenzschutz bei der Aschermittwochveranstaltung der CSU in Passau bei der Festnahme von fünf jungen Demonstranten tätig geworden, und sieht die Bundesregierung hier den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt?
Herr Kollege Kubatschka, darf ich die Fragen 46 und 47 gemeinsam beantworten? - Danke schön.
Dann rufe ich auch die Frage 47 auf:
Bei welchen der parteipolitischen Aschermittwochveranstaltungen am 24. Februar 1993 war Bundesgrenzschutz im Einsatz?
Zu beiden Fragen lautet die Antwort wie folgt: Beamte des Bundesgrenzschutzes waren weder bei der Aschermittwochveranstaltung der CSU in Passau noch aus Anlaß einer anderen parteipolitischen Aschermittwochveranstaltung am 24. Februar 1993 eingesetzt.
Zusatzfrage, Herr Kollege Kubatschka.
Herr Staatssekretär, damit ist die Pressemeldung in der „Süddeutschen Zeitung" nicht zutreffend, sprich: Die Reporter konnten nicht unterscheiden, ob es sich um den Bundesgrenzschutz oder um bayerische Polizeikräfte handelte?
({0})
Möglicherweise, Herr Kollege.
Weitere Zusatzfrage.
Ist es verboten, Herr Staatssekretär, auf einer politischen Veranstaltung - es handelt sich immerhin um eine Aschermittwochveranstaltung - sein Mißfallen durch Pfeifen auszudrücken, und ist dies strafrechtlich relevant?
Da bin ich überfragt. Für den Strafrechtsvollzug sind wir ohnehin nicht zuständig. Da darf ich Sie an die zuständige bayerische Staatsanwaltschaft verweisen.
Im übrigen gibt es viele Formen des Ausdrucks des Mißfallens, u. a. auch Pfeifen.
Weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Kubatschka.
Wie schätzt dann die Bundesregierung ein, daß die Demonstranten nach der Veranstaltung im Foyer des Veranstaltungsortes festgenommen wurden?
Herr Kollege Kubatschka, die Bundesregierung hat keinen Anlaß, Einschätzungen zu solchen Sachverhalten bekanntzugeben; das ist auch nicht üblich.
Die letzte Zusatzfrage, Herr Kollege Kubatschka.
Wie würde es die Bundesregierung beurteilen, wenn die Festgenommenen fotografiert werden? Ist das ein erkennungsdienstliches Erfassen der Personen, ja oder nein?
Wir haben auf hypothetische Fragen eigentlich nie geantwortet. Deswegen bitte ich Sie, mir das auch jetzt zu erlassen.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Hirsch.
Herr Staatssekretär, Sie haben sich hier auf formale Antworten beschränkt. Können Sie sich denn dazu hinreißen lassen, einmal politisch zu antworten, ob Sie den Vorgang für angemessen halten?
Herr Kollege Hirsch, auch das ist nicht üblich. Wir kommentieren solche Dinge nicht.
({0})
Gibt es weitere Zusatzfragen? - Dann gibt es zu diesen beiden Fragen keine Zusatzfragen mehr.
Wir kommen zur Frage 48 und zur Frage 49 der Kollegin Erika Simm:
Ist es üblich, daß Bundesgrenzschutz zum Schutz von Parteiveranstaltungen herangezogen wird ({0})?
Was ist gegebenenfalls die Rechtsgrundlage für derartige Einsätze?
Frau Kollegin Simm, die Antworten lauten: Beamte des Bundesgrenzschutzes waren weder bei der in dem Zeitungsartikel in Rede stehenden Aschermittwochveranstaltung der CSU in Passau noch aus Anlaß einer anderen parteipolitischen Aschermittwochveranstaltung am 24. Februar 1993 eingesetzt.
Ich bedanke mich.
Zusatzfrage? - Keine.
Die Fragen 50 und 51 der Kollegen Horst Peter und Norbert Gansel werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen dann zur Frage 52 des Kollegen Dr. Günther Müller:
Welche politischen Gründe veranlassen die Bundesregierung, zwar die Republikaner, nicht aber die PDS durch den Verfassungsschutz überwachen zu lassen?
Herr Kollege Dr. Müller, die Antwort lautet: Die Sammlung und Auswertung von Informationen - der Ausdruck „Überwachen" ist mißverständlich - richtet sich nach den §§ 3 und 4 des Bundesverfassungsschutzgesetzes. Voraussetzung ist das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte. Die diesbezügliche Prüfung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Landesbehörden für Verfassungsschutz ist noch nicht abgeschlossen. Auf die Antwort der Bundesregierung in der Fragestunde am 20. Januar 1993 - Sitzungsprotokoll S. 11571 - und auf die schriftliche Antwort vom 13. Januar 1993 weise ich in dem Zusammenhang hin.
Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, kann ich Ihre Antwort so verstehen, daß zumindest
zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder die PDS noch die Republikaner vom Verfassungsschutz überwacht oder kontrolliert werden?
Nein, es besteht schon ein gewisser Unterschied. Die Republikaner werden in der Tat beobachtet. Bei der PDS ist der Sachverhalt etwas komplizierter. Hier sind wir noch nicht in diesem Stadium.
Die zweite Zusatzfrage, Herr Kollege.
Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, daß z. B. bei der Neuwahl des Fraktionsvorstands der PDS im Berliner Abgeordnetenhaus ausschließlich ehemalige hohe Funktionäre der SED neu gewählt wurden, und ist das kein Anlaß, danach zu sehen, ob die zur demokratischen Grundordnung stehen?
Herr Kollege Müller, ganz konkret reicht es nicht aus, denn es ist ja immer auch auf das abzustellen, was tatsächlich von sich gegeben oder vertreten wird. Hier haben wir im übrigen den Sachverhalt, daß es innerhalb der PDS zwar eine Gruppierung mit dem Namen „Kommunistische Plattform" gibt, die Anlaß beispielsweise zu genauerer Beobachtung gibt, daß aber die PDS insgesamt noch in einem Umbruch begriffen ist, der es eben noch nicht möglich macht, eine Überwachung rechtlich zu begründen.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Auch liegen weitere Fragen zu dieser Fragestunde nicht vor. Damit sind wir am Ende der Fragestunde.
Ich unterbreche jetzt die Sitzung. Die Sitzung wird um 18 Uhr fortgesetzt.
({0})
Meine Damen und Herren, wir setzen die unterbrochene Sitzung fort.
Ich würde gerne zu Beginn der Sitzung das Plenum bitten, zuzustimmen, daß für die nachfolgenden Tagesordnungspunkte Reden zu Protokoll gegeben werden können, weil wir durch die Entwicklung doch arg in zeitlichen Rückstand geraten sind. - Ich kann feststellen, daß das Plenum damit einverstanden ist.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung ({0}) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.
Beratungskapazität „Technikfolgenabschätzung" beim Deutschen Bundestag
- Drucksachen 12/3499, 12/4193 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Hans-Peter Voigt ({1})
Dr. Karl-Hans Laermann
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung ({2}) gemäß § 56a der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zur Technikfolgenabschätzung ({3})
hier: Raumtransportsystem SANGER - Drucksache 12/4277 Berichterstattung:
Abgeordnete Christian Lenzer Lothar Fischer ({4})
Dr. Karl-Hans Laermann
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? - Auch das ist offensichtlich der Fall, so daß wir die Aussprache eröffnen können.
Als erster Redner hat der Abgeordnete Voigt ({5}) das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich würde gerne meinen Beitrag zu Protokoll geben, aber da ich nur Stichworte habe, ist das etwas schwierig. Ich verspreche Ihnen aber, daß ich versuche, es so kurz wie möglich zu machen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben seit etwa drei Jahren einen Modellversuch über Technikfolgenabschätzung am Deutschen Bundestag, ein Büro, das in meinen Augen sehr erfolgreich gearbeitet hat. Es geht heute darum, daß wir eine Beschlußfassung darüber herbeiführen, daß dieses Büro in der vorgegebenen Form auch weiter am Bundestag angesiedelt und mithin institutionalisiert wird,
Die CDU/CSU begrüßt es ausdrücklich, daß wir die Möglichkeit haben, diesen Auftrag, der in den vergangenen Jahren so erfolgreich ausgeführt worden ist, weiterzuführen. Ich glaube, daß die Politik Beratung auf dem Gebiet der Abschätzung von Folgen und Technik nötig hat und daß es sinnvoll ist, auch die Konstruktion so zu führen, wie wir es durch die Arbeit in den letzten Jahren erlebt haben.
Wir hatten zu entscheiden, in welcher Form dieses Büro die ihm aufgegebenen Aufträge und Themen bearbeitet. Wir haben den Weg einer engen Kooperation zwischen dem Büro und dem federführenden Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung gewählt und aus den jeweiligen Fraktionen Berichterstatter benannt. Ich denke, daß wir das in diesem Sinne weiterführen sollten, uns dann aber zu Beginn der nächsten Wahlperiode Gedanken darüber machen sollten, ob wir nicht doch einen eigenen begleitenden Unterausschuß dafür wählen. Aber das ist ein Thema, über das wir später diskutieren.
Lassen Sie mich zum Schluß drei Bemerkungen zu der zukünftigen Arbeit innerhalb dieses Büros bzw. zu der Arbeit zwischen dem federführenden Ausschuß und dem Büro machen.
Dr. Hans-Peter Voigt ({0})
Die Themenauswahl muß in manchen Punkten anders vorgenommen werden. Wir haben das auch schon besprochen. Wir wollen kürzere Themenaufträge. Wir möchten eine höhere Aktualisierung, und wir wollen verhindern, daß Themen im Büro bearbeitet werden, die unmittelbar in die Entscheidung des Bundestages hineinreichen, so wie wir es z. B. bei der Frage der biologischen Sicherheit der Gentechnik hatten.
In diesem Sinne möchte ich meine kurzen Bemerkungen schließen, indem ich mich bei den Mitarbeitern und dem Leiter des Büros, Herrn Professor Paschen, sehr herzlich dafür bedanke, daß er uns, die wir als Abgeordnete Neuland betreten mußten, beraten hat, daß wir zu einer guten Kooperation gefunden haben und daß wir auf diese Art und Weise diese sehr wichtige, zukunftsweisende Einrichtung am Deutschen Bundestag so positiv erfahren konnten. Vielen Dank dafür!
({1})
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Edelgard Bulmahn das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wissenschaft und Technik bestimmen in einer immer grundlegenderen Art und Weise unser Leben. Entscheidungen über Technikentwicklung, über Anwendung oder auch Nichtanwendung wissenschaftlich-technischer Erkenntnisse und Möglichkeiten sind damit auch immer stärker Wertentscheidungen, Entscheidungen über die Qualität von Leben, Arbeiten und Wohnen, Entscheidungen über unseren Umgang mit der Natur, Entscheidungen über die Lebenschancen jetziger und künftiger Generationen.
Unserer parlamentarischen Pflicht zur Kontrolle der Regierung, zur Schadensvorsorge, zur sozial- und umweltverträglichen Gestaltung der technologischen Entwicklung und zur Ausgestaltung von Rahmenbedingungen, die zur Entfaltung der Chancenpotentiale moderner Technologien führen, können wir nur dann gerecht werden, wenn wir auch im Deutschen Bundestag die wissenschaftlich-technische Entwicklung sorgfältig und beständig beobachten, eigene Initiativen entfalten und für die Setzung der entsprechenden Rahmenbedingungen Sorge tragen.
Verantwortungsbewußte Entscheidungen sind aber nur dann möglich, wenn man ein gesichertes Fundament von Kenntnissen besitzt. Verantworten kann ich zudem nur etwas, wenn ich die Folgen meiner Entscheidungen abschätzen kann und über Alternativen verfüge. Erfolgreiche politische Einflußnahme auf die wissenschaftlich-technische Entwicklung setzt Prognosen über den Nutzen, die ökonomischen Chancen, die ökologischen und sozialen Folgewirkungen voraus.
Mit der Technikfolgenabschätzung verfügen wir über ein hervorragendes Instrument zur Gewinnung und handlungsorientierten Aufbereitung des verfügbaren Wissens. 17 Jahre hat der Deutsche Bundestag darum gerungen, ob und in welcher Weise er dieses Instrument nutzen will, und insbesondere darum, ob er eine eigene Beratungskapazität zur Stärkung seiner Handlungskompetenz in technologiepolitischen Fragen benötigt. Am Ende der vergangenen Legislaturperiode bestand unter allen Fraktionen des Deutschen Bundestages Einigkeit darüber, daß der Deutsche Bundestag künftig das Instrument der Technikfolgenabschätzung nutzen und auch auf eine eigene Beratungskapazität Zugriff haben sollte. Die Frage der Form der Institutionalisierung blieb allerdings umstritten. Zu mehr als einem auf drei Jahre befristeten Modellversuch vermochte sich die Mehrheit der Koalitionsfraktionen in diesem Hause nicht durchzuringen.
Wir stehen jetzt vor der Frage: Wie soll es nach dem Auslaufen des Modellversuchs weitergehen? Wollen wir das Instrument der Technikfolgenabschätzung weiter nutzen? Soll der Bundestag auch künftig auf eine eigenständige Beratungskapazität zurückgreifen können? Die Antwort ist eindeutig ja.
Wohl nichts unterstreicht den erfolgreichen Verlauf des Modellversuchs eindeutiger und deutlicher als die Tatsache, daß sich die im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen in einem gemeinsamen Antrag für die Überführung des TAB in eine ständige Einrichtung des Deutschen Bundestages ausgesprochen haben. Der federführende FTTA-Ausschuß hat inzwischen einstimmig beschlossen, dem Deutschen Bundestag die Annahme dieses Antrages zu empfehlen.
Die übereinstimmend positive Einschätzung des TAB ist nicht zuletzt auch ein Verdienst der hervorragenden Arbeit, die Professor Dr. Paschen und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den vergangenen Jahren trotz der nicht immer günstigen Bedingungen geleistet haben. Hierfür möchte ich ihnen ausdrücklich danken.
({0})
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des TAB haben mit der wissenschaftlichen Qualität ihrer Arbeit überzeugt und dem TAB Reputation und Anerkennung verschafft. Sie haben wesentlich dazu beigetragen, daß sich die Möglichkeiten des Deutschen Bundestages, eigenständige Beiträge zur Gestaltung und Schaffung der Rahmenbedingungen für technologierelevante Entwicklungen zu leisten, in den vergangenen Jahren erheblich verbessert haben.
Wenn über den Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung hinaus in wachsendem Umfang auch Mitglieder dieses Hauses das TAB genutzt haben, um sich über die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse und Analysen zu technologiepolitisch relevanten Themen zu informieren, wenn zahlreiche Ausschüsse inzwischen Interesse bekunden, ihre Arbeit durch TA-Untersuchungen unterstützen zu lassen, so unterstreicht dies, daß dem Bundestag mit dem TAB eine unverzichtbare Einrichtung zur qualifizierten Beratung bei komplexen technologiepolitischen Entscheidungsprozessen zugewachsen ist.
Bereits mit dem ersten vorgelegten Endbericht, der in dieser Debatte gleichfalls zur Diskussion steht, der TA-Studie zum Raumtransportsystem Sänger, landete
das TAB, wie „Die Zeit" zu Recht feststellte, „einen Treffer". Der Bericht stellt in überzeugender Weise den Wert derartiger Studien für den politischen Entscheidungsprozeß unter Beweis. Er zeigt die Stärken und Schwächen des Förderkonzepts auf und ermöglicht so eine intensive und detaillierte Auseinandersetzung mit dem Programm. Der Bericht stellt klar und deutlich die Alternativen und Handlungsspielräume bei der Entscheidung über die Fortführung bzw. Nichtfortführung des Programms dar. Er nimmt dem Parlament aber nicht die politische Entscheidung ab, er ermöglicht erst eine qualifizierte Entscheidung.
Das 1988 eingeleitete Förderprogramm „Hyperschalltechnologie" sollte zur Entwicklung einer neuen Generation von wiederverwendbaren Raumfahrtsystemen beitragen, an die Bundesregierung und Raumfahrtindustrie große Hoffnungen knüpften: Senkung der Transportkosten um ca. 80 bis 90 %, deutliche Steigerung der Zuverlässigkeit in der Raumfahrt, Einführung eines flugzeugähnlichen Betriebes unter Nutzung herkömmlicher europäischer Flugplätze, Unabhängigkeit von außereuropäischen, äquatornahen Startorten, Verbesserung der Umweltverträglichkeit der Raumfahrt, Stärkung der Positionen der deutschen Raumfahrtindustrie, Erarbeitung der technologischen Grundlagen für ein Hyperschallflugzeug und damit Auslösung eines Technologieschubs in der klassischen Luftfahrt.
Das waren die formulierten Ziele. Von diesen vollmundigen Versprechungen, liebe Kolleginnen und Kollegen - dies haben die vom TAB vergebenen Studien eindringlich deutlich gemacht -, ist wenig übrig geblieben.
Eine drastische Senkung der Transportkosten wird sich mit dem Raumtransportsystem Sänger nicht erreichen lassen. Hierzu tragen vor allem die immens gewachsenen Entwicklungskosten bei, die inzwischen, nachdem sie 1987 noch auf rd. 27 Milliarden DM veranschlagt wurden, auf 45 bis 80 Milliarden DM geschätzt werden. Sie liegen damit bei dem Fünf- bis Siebenfachen einer konventionellen Trägerrakete vom Typ Ariane 5.
Wiederverwendbare Raumfahrtsysteme wie Sänger amortisieren sich deshalb erst bei Überschreiten einer Mindestzahl von Starts. Den im Auftrag des TAB durchgeführten Berechnungen zufolge sind mindestens 20 Starts pro Jahr erforderlich. Die tatsächliche Nachfrage dürfte allerdings bei nicht mehr als 8 bis 15 Starts pro Jahr liegen. Ein System Sänger wäre also nicht, wie angepeilt, um Größenordnungen kostengünstiger, sondern erheblich teurer als herkömmliche Transportsysteme.
Anders würde sich die Situation nur darstellen, wenn wir nach der Jahrtausendwende zielstrebig den Aufbau einer permanenten Infrastruktur auf dem Mond, auf dem Mars und Produktions- und Energieumwandlungsanlagen im Weltraum in Angriff nehmen würden.
({1})
Aber ich denke, angesichts der gegenwärtigen Finanzprobleme entbehren derartige Szenarien nun wirklich jeglicher Realität.
Keine Chancen dürften auch Überlegungen besitzen, die Entwicklungskosten von Sänger dadurch zu senken, daß mit der Entwicklung der Unterstufe zugleich ein Hyperschallflugzeug entwickelt wird, wie das ursprünglich geplant war. Wie eine im vorletzten Jahr für das BMFT fertiggestellte Umweltverträglichkeitsstudie zu Sänger unmißverständlich feststellt, würde ein Hyperschallflugverkehr zu einem derartigen Ozonabbau führen, daß der bloße Gedanke daran ad acta gelegt werden sollte. Damit besteht kein realisierbares Szenario, das die Entwicklung eines Hperschallfuggeräts wie Sänger in absehbarer Zeit wirtschaftlich sinnvoll erscheinen läßt.
Eine Unabhängigkeit von außereuropäischen, äquatornahen Startorten läßt sich mit dem Raumtransportsystem ebenfalls nicht erreichen, weil entgegen den leichtfertigen Versprechungen von BMFT und MBB die Nutzung herkömmlicher Flugplätze auf Grund des Start- und Landelärms wie auch auf Grund der mit dem Wasserstoffantrieb zusammenhängenden Sicherheitsprobleme durch Sänger grundsätzlich auszuschließen ist.
Unter umweltpolitischen Gesichtspunkten ist Sänder zweifellos ein Schritt in die falsche Richtung. Der Energieaufwand für eine Nutzlasteinheit bei Sänger liegt erheblich über derjenigen von Raketensystemen. Verglichen mit einer möglichen Ariane-X-Familie, bei der die jetzigen umweltschädlichen Feststoffbooster durch einen Wasserstoff/Sauerstoffantrieb ersetzt werden würden, sieht die Energiebilanz von Sänger nach Berechnungen des Münchener Raumfahrttechnikers Hornik um den Faktor 2 bis 10 schlechter aus. Hinzu kommt, daß bei Sänger der zur Verbrennung notwendige Sauerstoff der Umgebungsluft entnommen wird, so daß - anders als bei der Ariane X zugleich mit einem erheblichen Stickoxidausstoß zu rechnen ist.
Schließlich trägt das Förderkonzept mit seiner einseitigen Ausrichtung auf das Leitkonzept Sänger nicht dazu bei, die Position der deutschen Industrie bei der Entwicklung und dem Bau künftiger Trägertechnologien zu verbessern. Im Gegenteil, es birgt die Gefahr in sich, die Entwicklung in eine falsche Richtung, in eine Sackgasse zu lenken. Das Förderkonzept konzentriert sich vor allem auf die Unterstufe von Sänger und dort insbesondere auf die Antriebstechnologie.
({2})
Der Bereich der Werkstoffe und der Integration der Komponenten werden hingegen nur unzureichend oder gar nicht bearbeitet. - Sie sind aber nach wie vor die Schwerpunkte in dem Förderkonzept. - Dies ist vor allem deshalb problematisch, weil die Antriebstechnologie sehr konzeptspezifisch ist, während die Werkstoff- und Bauweisenproblematik für alle wiederverwendbaren Raumtransportsysteme ähnlich ist.
Meine Damen und Herren, der Bericht des Büros für TA hat das Förderkonzept Hyperschalltechnologie - anders als die Bundesregierung immer wieder
glauben machen will - nicht bestätigt. Er hat diesem vielmehr eine schallende Ohrfeige versetzt.
({3})
Er unterstreicht, daß die alleinige Ausrichtung auf das Leitkonzept Sänger als Raumtransportsystem der nächsten Generation hochgradig spekulativ war und deutlich über das hinausgeht, was sachlich begründbar und politisch verantwortbar ist.
Meines Erachtens spricht für den Wert von TA-Studien und die Qualität dieser Studie im besonderen, daß am Ende der Empfehlungen nicht ein einfacher Schlagabtausch zwischen Opposition und Regierungsparteien steht nach dem allzu schlichten Muster: Die einen lehnen ab, und die anderen stellen sich vorbehaltlos hinter die Empfehlung ihrer Regierung. Vielmehr hat die vorliegende Studie zu einer deutlichen Stärkung der technologiepolitischen Kompetenz dieses Hauses beigetragen,
({4})
wie Ihnen die vorliegende, einstimmig gefaßte Beschlußempfehlung des FTTA-Ausschusses zeigt. Wir machen mit der vorliegenden Beschlußempfehlung endlich einmal von unserer Gestaltungskompetenz Gebrauch. Wir fordern die Bundesregierung auf, die spezifischen Technologiearbeiten für das Sänger-Konzept drastisch zu reduzieren und statt dessen wichtige, allgemeine Entwicklungsarbeiten zu kritischen Schlüsseltechnologien für ein HSF-Transportsystem in den Mittelpunkt zu stellen.
Erlauben Sie mir abschließend noch eine Berner-kung an die Adresse der Bundesregierung. Wir erwarten, daß Sie den einstimmig gefaßten Beschluß des FTTA-Ausschusses auch umsetzen und nicht unter neuem Etikett einfach so weitermachen wie bisher. Sie können sicher sein, daß wir die künftige Ausgestaltung des Förderprogramms Hyperschalltechnologie sehr sorgfältig beobachten werden und gegebenenfalls auch von unserem Recht auf Sperrung oder Streichung der Mittel Gebrauch machen werden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und bitte Sie im Namen meiner Fraktion um die Zustimmung zu den beiden vorliegenden Beschlußempfehlungen.
({5})
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Professor Dr. Karl-Heinz Laermann das Wort.
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Über den Wolken wird die Freiheit wohl grenzenlos sein - Frau Kollegin, wir brauchen das Projekt Sänger nicht mehr. Sie haben schon ganz rasant abgehoben.
({0})
Ich will hier und heute wirklich nicht mehr eingehen auf die schon als historisch zu bezeichnenden, sich über fast 20 Jahre hinziehenden Diskussionen in diesem Hohen Hause über Technikfolgenabschätzung und über Notwendigkeit und Sinn einer unabhängigen Beratungskapazität für den Deutschen Bundestag. Mit Beschlüssen vom November 1989 und Oktober 1990 hat der Bundestag endlich einen definitiven Beschluß zum Aufbau einer solchen Beratungskapazität gefaßt und den Bundestagsausschuß für Forschung, Technologie mit dem Zusatz „und Technikfolgenabschätzung" versehen und sozusagen mit der Geschäftsführung beauftragt.
({1})
Ende August 1990 wurde dann mit dem Aufbau eines Büros für Technikfolgenabschätzung für parlamentsbezogene Beratung des Deutschen Bundestages begonnen. Ich betone hier ausdrücklich, weil es mir sehr darauf ankommt, das herauszustellen: des Deutschen Bundestages, also für alle Politikbereiche und nicht nur für den Bereich Forschung und Technologie.
Zunächst sollten in einem dreijährigen Modellversuch Struktur und Arbeitsweise, das Zusammenwirken zwischen Parlament und den beauftragten wissenschaftlichen Institutionen erprobt werden. Es sollten Erfahrungen gesammelt und ausgewertet werden. Diese Phase steht jetzt vor dem Abschluß.
Die positiven Erfahrungen im Modellversuch haben zu dem heute zur Abstimmung stehenden Antrag geführt, der - wie die Kollegin schon richtig bemerkt hat - interfraktionell eingebracht worden ist - wir waren uns da doch alle sehr einig -, nämlich die Beratungskapazität nunmehr als ständige Einrichtung weiterzuführen.
In der vorliegenden Beschlußempfehlung und dem Bericht des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung - „FTTA" geht mir so schlecht über die Lippen; das hört sich so an, als ob ich stotterte - wird über den Ablauf des Modellversuchs, über die bisherigen Erfahrungen und Ergebnisse ausführlich berichtet. Ich kann mir deshalb hier weitere Darlegungen ersparen und möchte nur ergänzend zu drei Aspekten Stellung nehmen.
Vom Büro für Technikfolgenabschätzung wird ausdrücklich und ausschließlich sachliche Objektivität gefordert. Es soll eben nicht populistischen Strömungen oder politischen Meinungen folgen, die gerade auf der Tagesordnung stehen. Es wäre gut, wenn sich Fraktionen oder Gruppen und Gruppierungen sehr zurückhalten würden, die Beratungskapazität sozusagen auf ihren jeweiligen Kurs lenken zu wollen.
({2})
Das TAB wird und soll nicht wohlgefällig einzelne Meinungen aufgreifen. Die Aufgabe des Büros besteht vielmehr darin - ich betone dies nachdrücklich -, wissenschaftliche Fakten zu sammeln, zu korrelieren, nationale und internationale Trends in technischen Entwicklungen zu verfolgen, auf Folgewirkungen hinzuweisen und politische Handlungsnotwendigkeiten, Handlungsoptionen und auch Handlungsalternativen aufzuzeigen, wie es gerade
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann
exemplarisch in vorzüglicher Weise bei der TA-Studie Sänger der Fall gewesen ist.
Ich möchte auch darauf hinweisen, daß Technikfolgenabschätzung und -bewertung eine politische Querschnittsaufgabe ist. Sie soll Folgewirkungen technischer Entwicklung und neuer Technologien und daraus abzuleitende Handlungserfordernisse in allen Politikfeldern aufzeigen. Die Beratungskapazität steht deshalb allen Bundestagsausschüssen zur Verfügung. Nicht der Forschungsausschuß allein bestimmt Aufgaben und Themen für die Arbeit des TAB; dieser Ausschuß nimmt sozusagen die Fachaufsicht und Koordinierungsaufgaben wahr. Unter Berücksichtigung der vorhandenen Kapazitäten des TAB - so die einhellige Meinung der Berichterstatter; ich hoffe, ich sage hier nichts Falsches - stellt der Forschungsausschuß seine Wünsche zurück, wenn aus anderen Ausschüssen wichtige Fragestellungen eingebracht werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den nahezu drei Jahren des Modellversuchs haben alle Beteiligten einen Lernprozeß durchgemacht: die Mitarbeiter des TAB, das begleitende Sekretariat, die Berichterstatter und die Kollegen aus dem Ausschuß. Natürlich, wer wollte das leugnen, gab es dabei manchmal auch Reibungen, Irritationen, gelegentlich auch Verstimmungen. Soweit ich der Verursacher war,
({3})
bitte ich dafür um Verständnis, wie ich auch für andere Verursacher Verständnis habe.
({4})
Inzwischen haben wir aber zu einer konstruktiven, fruchtbaren Zusammenarbeit gefunden, im Dienste der Aufgabe, die wir uns gestellt haben und der wir uns stellen.
({5})
Dafür möchte ich ausnahmslos allen an den TA-Prozessen bisher Beteiligten ganz herzlich danken.
Im übrigen verweise ich - in anmaßender Selbsteinschätzung - auf meine vielfältigen, richtungweisenden früheren Ausführungen zu dem Thema Technikfolgenabschätzung.
({6})
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Martin Mayer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt heute insofern einen Zusammenhang zwischen Tagesordnungspunkt 5 a und 5 b, als der Bundestag zum erstenmal einen Beschluß auf Grund einer Empfehlung des Büros für Technikfolgenabschätzung faßt. Es geht heute um die Weiterführung dieses Büros als ständige Einrichtung und um die Weiterführung des Hyperschall-Technologie-Programms, aufbauend auf dem Leitkonzept Sanger, das nun ein zweistufiges, horizontal startendes, wiederverwertbares - also rück-kehrbares - Raumfahrzeug vorgesehen hat.
Zunächst einmal zur Hyperschall-Technologie. Unstrittig ist insgesamt, daß die Raumfahrt auch in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird. Wann, wo und wie neue Bereiche der Raumfahrt wirtschaftlich werden, das ist sehr schwer abzuschätzen; insofern sind Ihre Berechnungen, Frau Bulmahn, meiner Meinung nach sehr weit im Bereich der Spekulation.
({0})
Eines ist für mich jedoch sicher: Eine entscheidende Rolle für die künftige Entwicklung der Raumfahrt insgesamt spielen die Raumtransportsysteme. Da gibt es eine Wechselwirkung: Je besser und preiswerter die Transportsysteme werden, um so eher wird der Bedarf steigen, um so eher wird es zusätzliche Anwendungen geben.
({1})
- Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, daß es auch einen wirtschaftlichen Bedarf gibt.
Andererseits: Je mehr die Leistungen der Raumfahrt nachgefragt werden, um so eher macht sich das Geld bezahlt, das wir in bessere und leistungsfähigere Transportsysteme stecken. Das ist ein allgemeiner Grundsatz, und ich meine, den sollten wir hier auch immer beachten,
Die Raumtransportsysteme sind in der Tat verbesserungsbedürftig und verbesserungsfähig: Sie müssen mehr Rücksicht auf die Umwelt nehmen - das wird um so bedeutender, je mehr es sind -, sie müssen wiederverwendbar werden, die Sicherheit verbessern und auch die Kosten senken.
Als führende Industrienation muß Deutschland auf diesem strategisch wichtigen Feld dabeisein, genauso wie ich der Meinung bin, daß Deutschland bei der Kernfusionsforschung dabeisein muß, auch wenn wir nicht wissen, ob und wann sie nutzbar sein wird und wie sie im Ergebnis aussehen wird.
({2})
Es geht hier auch nicht darum, mit der HyperschallTechnologie das Rad neu zu erfinden, sondern es geht darum, daß Deutschland die Fähigkeit nachweist, in diesem wichtigen Bereich einen mitbestimmenden Beitrag zur internationalen Zusammenarbeit zu leisten, und daß Deutschland mit dabei ist.
({3})
Auf die beabsichtigte internationale Zusammenarbeit im Bereich der Hyperschall-Technologie zielt Punkt I der Beschlußvorlage ab. Dieser Punkt besagt, daß das Technologieprogramm verbreitert wird. Er legt sich nicht mehr auf den Sänger fest, sondern es soll eine Öffnung für das, was in späteren Jahren und - wahrscheinlich - Jahrzehnten an Konzeptionen
Dr. Martin Mayer ({4})
für neue Raumfahrtzeuge entwickelt wird, erreicht werden.
Ich möchte hier aber doch sagen, daß die deutschen Arbeiten auf diesem Gebiet bereits europaweit Anerkennung finden und daß es deshalb wichtig ist, daß wir dieses Programm trotz finanzieller Schwierigkeiten in dem vorgesehenen Umfang in den nächsten drei Jahren durchführen; ich halte das für ganz wichtig.
Ich möchte noch ein paar Sätze zum TAB - zum Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag - sagen, weil diese Studie die Grundlage für die Entscheidung war. Es ist die Aufgabe des Büros - wie bei der Sänger-Studie -, schwierige wissenschaftliche und technische Fachinformationen zusammenzutragen und aufzubereiten. Das ist wichtig für uns Parlamentarier für eine optimale Vorbereitung von Entscheidungen.
Da sich TAB-Studien überwiegend oder fast ausschließlich mit neuen Techniken befassen, darf sich das TAB nicht nur auf die Auswertung von Literatur beschränken, sondern es muß mit denen intensiv Kontakt, Erfahrungs- und Informationsaustausch pflegen, die an diesen technischen Vorhaben arbeiten. Ich halte das für ganz wichtig, denn nur so kommen wir zu den aktuellen Informationen, die für uns unverzichtbar sind.
Etwas ganz Wichtiges möchte ich hier noch zum Abschluß sagen: Das TAB sollte keine Wertungen in seine Studien einarbeiten. Die Wertung und die dann folgende Entscheidung sind ureigene Aufgaben von uns Politikern - dafür sind wir gewählt worden, und dafür müssen wir uns verantworten.
Das TAB soll sich auf Sammlung und Aufbereitung von Informationen beschränken. Es soll Entscheidungshilfen liefern, indem es beispielsweise Optionen aufzeigt, wie es das bei der Sänger-Studie getan hat. Ich meine, das ist hier gut geschehen. Deshalb möchte ich auch von dieser Stelle aus dem Büro meine Anerkennung und meinen Dank aussprechen.
Sie bitte ich, den beiden Beschlußempfehlungen zuzustimmen.
({5})
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Ingeborg Philipp das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich sagen, daß ich mich darüber freue, daß eine Beratungskapazität zur Technikfolgenabschätzung als ständige Einrichtung zur Qualifizierung unserer Arbeit zur Verfügung stehen wird, die klar auf die Nützlichkeit ihrer Arbeit orientiert wird. Das wird uns helfen, die anstehenden Probleme besser lösen zu können. Dazu gehören auch die Probleme der Menschen, die in der Technik arbeiten. Damit komme ich ganz hart auf unsere Erde zurück.
In der gegenwärtigen Situation ist die Stahlkrise auch unser Problem. Ich sehe den schrittweisen
Abbau der Arbeitslosigkeit als vorrangige Aufgabe für das Parlament und die Regierung an.
Viele Menschen in den neuen Bundesländern sind und werden psychisch und auch physisch krank, weil sie die Probleme des Nicht-mehr-gebraucht-Werdens nicht verarbeiten können. In den alten Bundesländern ist die gleiche Angst vor Arbeitslosigkeit ständig und unterschwellig da. Freude am Leben wird selten. Bedrückende Gedanken prägen vielerorts die Familienatmosphäre.
In dieser Situation ist politisches Handeln angesagt und vonnöten. Die Forderung „Arbeit statt Arbeitslosigkeit" ist legitim. Wir sind herausgefordert, politisch realisierbare Lösungsvorschläge zu unterbreiten.
Da ich viele Jahre in den Stahlwerken Hennigsdorf und Brandenburg gearbeitet habe, kenne ich die Schwere der Arbeit mit Hitze, Lärm und Staub und weiß um die Gefahren und Belastungssituationen, mit denen die Stahlwerker fertigwerden müssen. Wenn sie sich entschließen, auf die Straße zu gehen, dann stehen nicht nur mir, sondern vielen Tausenden Stahlwerkerfrauen und -familien sowie anderen Menschen überstandene Gefahrensituationen vor Augen. Im Technikfolgenausschuß haben wir eine Vorstellung davon. Sie sind unser Hinterkopfwissen für das politisch notwendige Handeln.
Stahlwerker reden konkret miteinander. Für Allgemeinplätze haben sie wenig übrig. Auch deshalb gehen sie auf die Straße. Sie fordern Lösungen der sozialen Probleme auch von uns.
Im Hennigsdorfer Stahlwerk haben wir in den 60er Jahren davon geträumt, daß wir irgendwann einmal einen Sechs-Stunden-Tag für Mütter und nach Möglichkeit auch für Väter einführen könnten. Daraus ist nichts geworden. Aber ich habe mich jetzt noch einmal hingesetzt und einen Schichtplanvorschlag für den durchgehenden Schichtbetrieb erarbeitet. Ich kann ihn zeigen; er sieht so aus. Der funktioniert und ist durchführbar.
Bei einem Sechs-Stunden-Tag und einer Arbeitszeit von durchschnittlich 28 Stunden pro Woche können sechs Arbeitskräfte auf einem Arbeitsplatz beschäftigt werden. Statt Abbau von Arbeitskräften ist eine Weiterbeschäftigung möglich. Die Männer kommen bei diesem Zeitrhythmus nicht mehr erschöpft nach Hause, sie können im Familienleben einen Platz einnehmen und dort ebenso nützlich sein wie im Betrieb. Das würde gesellschaftlichen Fortschritt bewirken und gute Gefühle bei den Stahlwerkern und ihren Frauen aktivieren, bei vielen anderen Menschen gleichfalls.
Arbeitslosigkeit ist auch Technikfolge. Zu ausschließlich ist allein Wissenschaft und Technik bedacht worden. Zu sehr sind die Menschen als Rädchen im großen Getriebe der Technik angesehen worden. Sie sind aber mehr. Jeder hat besondere Fähigkeiten und eine ihm eigene Würde. Es ist Zeit, daß Wirtschaftler, Wissenschaftler, Ingenieure und auch wir Politiker auf die Bedürfnisse der Menschen Antwort geben, die uns gewählt haben. Es ist unsere Aufgabe, ein Finanzierungsmodell gemeinsam mit Gewerkschaften und Industrie zu erarbeiten, damit eine rasche Lösung dieses Problems zustande kommt.
Die Steuerzahler müssen das Gefühl bekommen, daß von der Regierung nicht nur Zahlungen eingefordert, sondern auch soziale Probleme gelöst werden. Hier muß die Regierung handeln.
Das TAB sollte vordringlich ein Untersuchungsprogramm zur Einführung der Sechs-Stunden-Woche erarbeiten und in einem Workshop vorstellen. Es könnte die Arbeit an einem politisch interessanten Thema anfangen, das einen großen Einfluß auf das Denken der Bevölkerung hat.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Trudi Schmidt ({0}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu den Aufgaben des Büros für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages gehört die Beobachtung aktueller und zukunftsweisender Tendenzen in Wissenschaft und Technik.
Die durch eine im November 1990 durchgeführte Meinungsumfrage ermittelte Akzeptanz der deutschen Bevölkerung für den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt stellt uns die Aufgabe, die aus neuen Technologien erwachsenden Risiken zu erkennen und gegenseitig abzuwägen. Auch hierbei kommt der Technikfolgenabschätzung eine wichtige Funktion zu.
Als Beispiel möchte ich auf die TAB-Studie „Neue Werkstoffe" eingehen. Betrachtet man die klassischen Werkstoffe wie z. B. Stahl, so ist offensichtlich, daß diese immer an das gewünschte Eigenschaftsprofil angepaßt wurden. Neue Werkstoffe, zu denen Hochtemperaturkeramiken und Verbundwerkstoffe zählen, eröffnen dagegen völlig neue Anwendungsgebiete.
Technologische Fortschritte in sehr vielen Bereichen, wie z. B. in der Luft- und Raumfahrt, der Mikro- und Optoelektronik oder in der Umwelt- und Energietechnik, machen den Einsatz solcher Werkstoffe notwendig, ja sie ermöglichen ihn erst. Steigende Anforderungen an Produkte und Produktionsverfahren lassen sich nicht mehr durch klassische Materialien erreichen, sie erfordern maßgeschneiderte Werkstoffe. Damit folgt dem Einsatz neuer Werkstoffe ein Strukturwandel, der die gesamte Bandbreite der Produktion und Dienstleistungen erfaßt.
Die Bundesrepublik muß diesen Wandel mitgestalten und regionalpolitisch umsetzen. Neue Materialtechnologien sind auf Grund ihrer Wirkungspotentiale von gleicher Relevanz wie die Informations- und Kommunikationstechnologien oder die Biotechnologien, erscheinen in der Öffentlichkeit jedoch weniger spektakulär und werden in ihrer Tragweite unterschätzt.
Dabei ist klar, daß neue Werkstoffe eine der Schlüsseltechnologien der 90er Jahre sind, die ein sehr großes Marktpotential besitzen. Die Entwicklung und Produktion neuer Materialien trägt entscheidend zur Qualität eines Wirtschaftsstandortes bei.
Das Büro für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages soll in dieser laufenden Studie, ausgehend von einer Analyse des Innovationspotentials neuer Werkstoffe, forschungs- und technologiepolitische Konzeptionen in den führenden Industrienationen vergleichen. Im Rahmen eines integrierten Ansatzes werden technologische, ökonomische, soziale und ökologische Aspekte betrachtet. Hierzu gehören auch Fragen der Sicherheit und Gesundheit oder Aspekte wie Rezyklierung, Verwertung und Entsorgung.
Neben den angesprochenen Gesichtspunkten berücksichtigt die Studie auch die sozialen Aspekte neuer Produktionsverfahren und Produkte, die eine direkte Folge der Entwicklung neuer Werkstoffe darstellen. Die Auswirkungen neuer Technologien auf die Arbeitswelt sind nicht zu unterschätzen, denn sie wirken sich auch auf andere Bereiche der gesellschaftlichen Struktur aus. Einige klassische Beispiele wie die Etablierung der Eisenbahn zur Zeit der industriellen Revolution oder die Erfindung des Fließbandes im Bereich der industriellen Produktion haben die Gesellschaft und die Arbeitswelt in ihrer Struktur verändert.
Die Entwicklung der Mikroelektronik hat ebenso wie die Kommunikationstechnik zu einer immensen Verbreitung und Akzeptanz von technischen Geräten in den Haushalten geführt. Hier stellt sich nun die Frage nach der Geschwindigkeit von technischem Fortschritt und gesellschaftlichen Veränderungen.
Gerade in unserer komplizierten und vernetzten Gesellschaft sind z. B. Produktionsprozesse nicht mehr für jedermann durchschaubar. Trotzdem werden technische Produkte in der Gesellschaft konsumiert und akzeptiert, die Herstellung dieser Produkte - weil nicht nachvollziehbar - jedoch oft negativ bewertet. Diese Aspekte abzuschätzen und zu erfassen, sehe ich als eine wichtige Aufgabe des Büros für Technikfolgenabschätzung.
Welche Auswirkungen auf die Arbeitswelt könnten nun die neuen Werkstoffe haben? Neue Werkstoffe beinhalten einen hohen Anteil an geistiger Arbeit. Materialien und Produkte werden vornehmlich in wissenschaftbasierten Industrien produziert. Immer speziellere Anforderungsprofile erfordern für Materialverarbeiter z. B. die Umstellung von Massen- in Kleinserienproduktionen. Durch die geringere Fertigungstiefe dieser Werkstoffe wird es zu einer Verlagerung der klassischen Facharbeitertätigkeiten hin zu Wartungs-, Überwachungs- und Steuerungsfunktionen kommen.
Der Wandel der Arbeitsanforderungen hat natürlich auch eine Veränderung der Aus- und Weiterbildungskonzepte zur Folge. Die Veränderung klassischer Berufsprofile gilt nicht nur für Facharbeiter, sondern auch für Ingenieure und erfaßt somit einen großen sozialen Bereich.
Erste Auswirkungen zeigen sich bereits in der Ingenieurausbildung. Die Kammer der Technik, ein ingenieurtechnischer Berufsverband, der hauptsächlich in den neuen Ländern tätig ist, hat eine Kommission „Technikfolgenabschätzung" als Beratungsorgan eingesetzt. Ziel ist es, die Technikfolgenabschätzung in die Aus- und Weiterbildung zu integrieren
Trudi Schmidt ({0})
sowie Empfehlungen zur Ingenieurausbildung zu erarbeiten.
Die Konsequenzen dieser Änderungen auf die Beschäftigung ist allerdings umstritten. Neben einer Sogwirkung auf die wirtschaftliche Entwicklung werden auch arbeitssparende Rationalisierungseffekte erwartet.
Ein anderer Aspekt der neuen Werkstoffe ist der Arbeitsschutz. Vorschriften, Normen und Bedienungsanweisungen für gefährliche Stoffe, Maschinen und Anlagen müssen angeglichen oder verändert werden. Diese Umstellung in der Arbeitswelt wie im Bereich der Arbeitsmedizin fordert die Berufsgenossenschaft und den Gesetzgeber. TAB weist ausdrücklich darauf hin, daß diese Problematik unter Einbeziehung aller Beteiligten vertiefend erörtert werden sollte.
Die ökologische Bewertung neuer Materialien darf in der heutigen Zeit nicht vernachlässigt werden. Hier ist es wichtig, den gesamten Stoffkreislauf der Werkstoffe und ihrer Produkte zu betrachten, besonders unter dem Gesichtspunkt des Rezyklierens und der Abfallbehandlung. Es ergeben sich unter Umständen ganz neue Probleme, z. B. verursacht durch die hohe thermische Stabilität, die eine Verbrennung nicht zuläßt oder durch die Entstehung von giftigen Gasen sehr problematisch macht. Der Weg sollte und muß auch hier zu emissionsärmeren, ressourcenschonenden, energiesparenden und wiederverwertbaren Materialien gehen - mit allen Konsequenzen für bestehende Primär- und Sekundärstoffkreisläufe.
Diese Ausführungen zeigen, wie komplex sich die Wirkungszusammenhänge darstellen und welche Bereiche unserer Gesellschaft betroffen sind.
Zum Schluß noch ein kurzer Hinweis auf eine Vorabstudie zum Thema Verkehr, die das TAB im Auftrag der Regierungskoalition erstellt. Diese Studie umfaßt im wesentlichen die folgenden Punkte: Einleitung eines TA-Prozesses über Verkehrsvermeidung und -verlagerung in allen Bereichen des Verkehrswesens unter Berücksichtigung schon existierender Ausarbeitungen. Hier soll aufgezeigt werden, wo zusätzliche Analysen nötig sind und wo nicht. Eine große Bedeutung kommt der Beantwortung der Fragen, warum bestehende Konzepte keinen Einfluß auf politisches Handeln nehmen, sowie der Erstellung eines Verkehrskonzepts unter Berücksichtigung von ökologischen Gesichtspunkten zu. Das TA-Büro ist somit ausgelastet.
Vielen Dank.
({1})
Nun erteile ich dem Abgeordneten Lothar Fischer das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich feststellen: Wir alle, die Mitglieder des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung, freuen uns, daß in dieser wichtigen Frage ein Konsens dahin gehend besteht - ich sage das, damit bei den Zuhörern keine Verwirrung entsteht -, daß die Arbeit des TAB zu würdigen ist und daß wir der Bundesregierung - sprich: dem BMFT - Vorgaben machen konnten, wie die Entscheidung in drei Jahren aussehen soll. Deshalb möchte ich wiederholen, was meine Vorredner gesagt haben: Ich spreche dem Büro für Technikfolgenabschätzung für seine hervorragende Arbeit meine Hochachtung aus.
({0})
Es war nicht immer so, daß man im Vorfeld davon
ausgehen konnte, daß es auch so kommen könnte. Das
TAB hat damit unsere Erwartungen mehr als erfüllt.
Der Bericht bietet uns eine gute Entscheidungsgrundlage, indem er die möglichen Optionen aufzeigt und ihre jeweiligen Folgewirkungen skizziert. Er enthält zugleich Ansätze, von denen ich mir wünschen würde, daß der BMFT den einen oder anderen - vielleicht auch etwas modifiziert - aufgreift.
Hierzu nur ein Beispiel. Das Hyperschalltechnologie-Programm wurde zu einer Zeit initiiert, in der noch gar nicht feststand, wohin sich die deutsche Weltraumpolitik bewegen wird. Ich halte die Anregung des TAB, eine politische Grundsatzentscheidung zur Rolle Deutschlands bei der Weltraumnutzung herbeizuführen, für unumgänglich. Bereits anläßlich der in diesem Jahr zu erwartenden Debatte über das fünfte deutsche Weltraumprogramm - ich hoffe, daß diese Debatte überhaupt stattfinden wird - besteht eine solche Möglichkeit. Nutzen Sie die Chance! Herr Staatssekretär Neumann, Sie sind ja schon länger in diesem Geschäft als der neue Minister. Nutzen Sie bitte gemeinsam mit uns die Chance, diese Fragen im Ausschuß oder auch hier zu diskutieren.
Die bisherige einseitige Ausrichtung der deutschen Weltraumpolitik führte doch zu einer Akzeptanzkrise für die deutsche Raumfahrtpolitik.
({1})
Diese Politik spaltete die Deutsche Forschungsgemeinschaft und verunsicherte bewährte Forschungsinstitutionen. Ich brauche sie gar nicht im einzelnen aufzuführen. Ich nenne beispielsweise nur die Deutsche Physikalische Gesellschaft, das Fraunhofer-Institut. Wir wissen doch, was da alles gelaufen ist.
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- Ja, die Diskussion kennen wir doch. Wir alle wissen doch: Jeder kämpft für seinen eigenen Bereich, aber wir haben auch Schwerpunkte und Prioritäten zu setzen. Das ist unsere Aufgabe.
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Herr Staatssekretär, dies müßte für Sie doch Anlaß genug sein, die bisherige Position Ihres Hauses zu überdenken. Ich würde es für einen Verdienst halten,
Lothar Fischer ({4})
wenn der neue Forschungsminister mit Ihrer Unterstützung eine breite gesellschaftliche Debatte über die zukünftige Ausrichtung der deutschen Raumfahrt initiieren würde.
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In Zeiten knapper Haushalte ist das unbedingt erforderlich, und zwar nicht nur bei uns, sondern auch in anderen ESA-Staaten; denn dort hat man die gleichen Probleme.
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- Herr Gallus, rufen Sie doch einmal in Frankreich, in Spanien, in Italien, in Großbritannien oder in den USA bei Clinton an! Er hat jetzt schon wieder das Freedom-Programm abgespeckt, und er nennt das „redesign".
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- Da müssen Sie Herrn Gallus fragen, der als ehemals zuständiger Staatssekretär in vielen Bereichen bekannt ist; dann wird er auch in den USA bekannt sein. Er soll Präsident Clinton einmal anrufen.
Was wir brauchen, sind verläßlichere Rahmendaten. Im übrigen braucht auch die Raumfahrtindustrie verläßlichere Rahmendaten - das gilt also nicht nur für uns als Politiker, sondern auch für die Raumfahrtindustrie -, und sie verlangt sie auch. Viel zu lange ließ sich die Raumfahrtpolitik der Bundesregierung mit wenigen Schlagworten umreißen: abenteuerliche Gigantonomie, europäische Autonomie - das ist von der ESA immer so gesagt worden -, einseitige Förderung der bemannten Raumfahrt und - zum Teil dadurch bedingt - eine Plan- und Konzeptionslosigkeit sowie fehlende Flexibilität.
Ein Beispiel hierfür liefert doch bereits das Herunterfahren des nationalen Programms. Das wird uns noch beschäftigen. Es wird noch schlimmer kommen, als wir es vermutet haben. Gerade die D-2-Mission
- der Start ist, wie ich heute gehört habe, zum zweitenmal verschoben worden - zeigt doch die Probleme der bemannten Raumfahrt auf.
Sicherlich ist der Mensch in einigen Fällen noch nicht aus dem Weltraum wegzudenken. Angesichts des Forschungsbedarfs z. B. im Bereich der Mikrogravitation oder in der Materialforschung ist jedoch die Frage erlaubt, ob der BMFT immer die richtigen Prioritäten gesetzt hat. Es wäre doch wohl sinnvoller gewesen, zunächst einmal die Forschung mit unbemannten Kapseln voranzutreiben oder aber die Möglichkeiten auszuloten, wie man das auf der Erde machen kann. Ich nenne nur zwei Stichworte: Fallturm und Fallschacht, der eine in Bremen. Der Fallschacht ist ja gestrichen worden.
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- Es waren ja wohl drei Länder beim Fallschacht, die sich darum beworben haben, nämlich das Saarland, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Diese Projekte sind gestrichen worden. Fragen Sie einmal bei Herrn Staatssekretär Neumann nach. Er muß Ihnen das bestätigen, oder mir ist etwas Falsches gesagt worden. Jedenfalls hat das Saarland einen Antrag
gestellt. Dies wäre billiger gewesen und hätte den Forschern auch einen schnelleren Zugriff ermöglicht.
Wenn wundert es noch, daß die Politik der Bundesregierung -jetzt komme ich auf das Thema zurück - in Sachen Sänger
({9})
- ja, das andere war die Forschungspolitik - nahezu spiegelbildlich verlief? Ohne Rücksicht auf Kosten-Nutzen-Analysen wurde dieses Leitmodell - mit „t"! - ins Leben gerufen. Voller Optimismus wurde eine deutsche Systemführerschaft angestrebt, obwohl jedem klar sein mußte, daß dieses Projekt allenfalls global zu finanzieren ist und auch nur global einen Sinn macht. Es wurden Auslegungskriterien festgesetzt, die nicht mehr zeitgemäß sind.
Sänger sollte einen Beitrag zur europäischen Autonomie leisten, d. h. Starts und Landungen von Westeuropa aus ermöglichen. Es war ja auch die Rede davon, daß Sänger von jedem größeren Flughafen starten könnte. Es hat sich gezeigt, daß dieses Kriterium nicht mehr zeitgemäß ist. Es widerspricht den Kooperationsbemühungen und erhöht die technologischen Anforderungen.
Die SPD unterstützt den Antrag, weil es unserer Auffassung nach Sinn macht, rechtzeitig Know-how für neue Trägertechnologien zu erwerben. So war auch das Ergebnis der Berichterstattergespräche. Grundlagenforschung in diesem Bereich sichert uns die erforderliche internationale Partnerschaftsfähigkeit.
Insofern begrüßen wir es, daß sich die Bundesregierung nunmehr auch von dem Leitmodell verabschiedet hat. Ob wir einmal Hyperschalltransporter benötigen, hängt neben der Machbarkeit für mich und meine Fraktion letztendlich von drei Bedingungen ab, über deren Vorhandensein nach Beendigung der Phase 1 zu befinden sein wird. Diese Voraussetzungen lauten: erstens eine globale Kooperation; denn nur dann wird ein solcher Transporter finanzierbar sein und sich rechnen. Zweitens. Ein entsprechender Bedarf muß nachgewiesen sein. Die TAB-Studie weist eindrucksvoll nach, daß ein Hyperschalltransporter nur unter Berücksichtigung ganz bestimmter Szenarien wirtschaftlich sinnvoll ist.
Dritter Punkt: Angesichts der zu erwartenden Kosten dieses Projekts muß sichergestellt sein, daß seine Finanzierung andere wichtige Aufgaben nicht erdrückt.
({10})
Diese Voraussetzungen sind erst einmal abzuklären. Welchen Stellenwert soll die bemannte Raumfahrt erhalten? Darüber muß man bei uns auch diskutieren.
({11})
Welche Raumfahrtprojekte dürften, vom Zeithorizont
eines Hyperschalltransporters her gesehen, realistisch
Lothar Fischer ({12})
sein? Hierüber müssen wir alle, im Ausschuß und im Parlament, einmal diskutieren.
Wenn sich deutsche und europäische Raumfahrt weiterhin vor allem mit der Mission „Erde" befaßt, also z. B. mit der Erdbeobachtung oder der Telekommunikation, ist es dann nicht sinnvoller, sich verstärkt mit der Verbesserung und der Weiterentwicklung bestehender Transportsysteme zu befassen? Denn das stellt die Fachstudie ebenfalls in aller Deutlichkeit heraus: Für den Steuerzahler dürfte dieser Weg kostengünstiger und mit weniger Risiken behaftet sein.
Ich halte es deshalb für unabdingbar, daß sich die Bundesregierung auch mit anderen Trägertechnologien befaßt - sie sind ja auch in der TAB-Studie aufgeführt -; denn eines wissen wir wohl alle: Die heutigen Wegwerfraketen sind nicht nur ökologisch bedenklich, sondern sie potenzieren ein Problem, welches letztendlich die Raumfahrt selbst gefährdet, nämlich den sogenannten Weltraumschrott.
Ich komme jetzt zum Schluß. Vor dem Hintergrund der derzeitigen Finanzierungskrise in der europäischen Raumfahrt besteht die Möglichkeit, daß der TAB-Bericht wesentlich mehr bewirkt, als es sich seine Initiatoren einmal gedacht haben mögen. Lassen Sie uns diese Chance ergreifen.
Schönen Dank.
({13})
Nunmehr spricht der Abgeordnete Jürgen Timm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich waren wir nur angetreten, um eine gewisse Arbeit zu bewerten, die ein von uns beauftragtes Büro geleistet hat, an einem bestimmten Fallbeispiel daraus Konsequenzen zu ziehen und dann den einmütig beschlossenen Antrag auf der einen und auf der anderen Seite zustimmend zur Kenntnis zu nehmen. Aber aus einem so kleinen Punkt kann man offensichtlich auch wieder eine Raumfahrtdebatte machen, die gar nicht auf der Tagesordnung steht.
Es reizt mich, dazu ein Wort vorab zu sagen, nämlich daß bei den Debattenbeiträgen heute abend deutlich geworden ist, daß von der ganzen Spannbreite - Arbeitsmarktsituation, Forschungsbereich und Ideologie - eines übriggebliebenen ist, nämlich daß auch die Raumfahrt- und Luftfahrtforschung und ihre Technologie ihren Platz in der Forschungslandschaft behalten werden, trotz oder gerade weil Frau Bulmahn heute so eine abgehobene Gegenposition dargestellt hat.
Das ist einigermaßen beruhigend, Frau Kollegin; denn eines haben wir in der Ausschußberatung allgemein, wie ich meine, sehr wohl verstanden: daß wir uns vor dem Hintergrund schwieriger Haushaltslagen auf bestimmte Forschungsbereiche und auf Kostenreduzierung konzentrieren müssen. Wir haben aus diesem Grunde das Technikfolgenabschätzungsbüro mit der Aufgabe beauftragt, am Fallbeispiel des Hyperschalltransportersystems Sanger ein Konzept zu analysieren. Wir sind mit dem Ergebnis, so glaube ich, einmütig einverstanden gewesen, daß nämlich bestimmte Dinge aus forschungspolitischen, aber auch aus Kostengründen zunächst einmal in den Hintergrund geschoben werden müssen.
Dieses Transportsystem, das untersucht worden ist, ist eigentlich ein Doppelsystem: Es ist ein luftfahrttechnisches System und ein raumfahrttechnisches System in einem. Die Studie des TAB kommt zu dem Ergebnis, daß wir im Bereich der Luftfahrtforschung einen Schwerpunkt setzen, uns auf die Schlüsseltechnologie Hyperschalltechnologie konzentrieren und diese Hyperschalltechnologie weiterverfolgen sollten.
Ich meine, das ist logisch; es macht Sinn, gleichgültig, was man damit erreichen will. Hohe Geschwindigkeit, große Flughöhe, umweltschonende Treibstoffe sind einfach Kriterien, die es lohnen, daß man darüber nachdenkt, wie sie genutzt werden können.
Um auf den Eingang zurückzukommen: Arbeitsmarktpolitik hängt natürlich auch damit zusammen, daß wir Ergebnisse aus Wissenschaft und Forschung auch einmal im internationalen Bereich umsetzen können und nicht alles anderen überlassen.
Diese Schlüsseltechnologie ist ein Teil dessen, was vorher einmal konzipiert war. Die Änderung, die wir meinen haushaltstechnisch und forschungspolitisch durchführen zu müssen, ermöglicht es uns, mit den vorhandenen Mitteln ein breiteres Spektrum abzudecken. Sie bietet ausreichende Möglichkeiten für spätere internationale Entscheidungen, an denen wir beteiligt sind. Sie bietet mehr Möglichkeiten auch für verstärkte internationale Kooperation.
Bis zum Jahre 1995 - das ist noch etwas unterhalb des Jahres 2000 - müssen wir eine politische Grundsatzentscheidung darüber treffen, wie wir zukünftig Weltraumpolitik, Weltraumforschung und Weltraumnutzung mit unseren Ideen und mit unseren Grundkonzepten in Einklang bringen wollen. Sie sollen sinnfällig sein; sie müssen finanzierbar sein.
Die Studie hat uns sehr geholfen, die vorher beschriebene Entscheidung im Forschungsausschuß einmütig zu treffen. Ich glaube, wenn wir in der Arbeit der Technikfolgenabschätzung, der Bewertung und der Entscheidungen daraus weiter so verfahren, dann haben wir eine gute Arbeit geleistet.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Ulrich Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um es vorweg klar zu sagen: Mit der Verwirklichung der Beschlußempfehlung des Bundestagsausschusses für Forschung, Technologie und Technologiefolgenabschätzung - meine Güte, was für ein Wort! -, der wir heute zustimmen werden, hinken wir international im Hinblick auf die Probleme neuer Technologien auf dem Feld der Technologiefolgenabschätzung immer noch hinterher. Die Technologiefolgenabschätzung für das deut12344
sche Parlament, das Parlament eines der technologisch führenden, großen Industrieländer, droht zum Dauerprovisorium zu werden, und das auch noch auf einer Minibasis. Daran ändert weder die Vergabe eines Beratungsauftrages an die Abteilung für Angewandte Systemanalyse des KfK auf fünf Jahre etwas noch die Dotierung mit 4 Millionen DM im Jahr.
Trotz der verdienstvollen Bemühungen der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des TAB: Deutschland ist unter den technologisch führenden Ländern auf dem Gebiet der Technologiefolgenabschätzung „substandard", unter dem notwendigen Niveau. Schuld sind wir. Schuld ist die Mehrheit dieses Parlaments. Schuld sind Sie auf der Rechten insbesondere.
({0})
Das OTA, das Office for Technology Assessment des US-Kongresses, existiert nicht nur schon sehr viel länger, nämlich inzwischen über 20 Jahre, es hat auch mehr als 15mal so viele Mitarbeiter. Mitarbeiterzahl, Budget und wohl auch Einwirkungsmöglichkeiten des OTA übersteigen die zusammengefaßten Kapazitäten aller europäischen TA-Institute einschließlich der EG um ein Vielfaches! Von 26 in Frage kommenden parlamentarischen Demokratien in Europa haben ohnehin nur 6 eine TA-Einrichtung. Nur 6 von 26!
Unsere Technologiefolgenabschätzung führt nach wie vor ein Kümmerdasein, obwohl wir nicht weniger, sondern mehr, frühzeitigere und umfassendere Abschätzungen der Folgen neuer Technologien benötigen, wie u. a. die jüngsten Atomreaktorschäden und der Chemieunfall in Frankfurt oder wie auch die Ausführungen des TAB-Arbeitsberichts zu möglichen ökologischen Schäden des Sänger-Projekts zeigen.
Vergessen wir auch nicht: Mit der Beschlußempfehlung erreichen wir nicht einmal jetzt - sechs Jahre später - das Niveau, das die erste Enquete-Kommission in der 10. Legislaturperiode bereits für notwendig erachtet hatte. Die Mehrheit im Hause hatte der Technologiefolgenabschätzung eine Beerdigung erster Klasse bereitet, weil ihr offensichtlich die Industrie auf den Füßen stand, die nach den Erfahrungen mit der Anti-AKW-Bewegung zu viel Sand in ihrem forschungspolitischen Getriebe befürchtete.
({1})
Bei der deutschen Technologiefolgenabschätzungskonzeption fehlt insbesondere aber das, was in kleineren Ländern wie Dänemark und den Niederlanden
({2})
- allerdings mit relativ sehr viel höherem Aufwand -betrieben wird, nämlich ein technologiepolitischer Dialog mit der Öffentlichkeit und den bereits oder in Zukunft von neuen Technologien Betroffenen.
({3})
Es bleibt daher für uns in Zukunft die Aufgabe, sowohl den Umfang als auch das Niveau der Technologiefolgenabschätzung in Deutschland, insbesondere was die Einbeziehung der Betroffenen betrifft, auf den diesem Land und seinem technologischen Entwicklungsstand angemessenen Stand zu bringen. Das wird eine der großen Aufgaben der Zukunft sein. Ich fürchte, dazu sind allerdings sehr viel weitergehende politische Veränderungen in den nächsten Jahren erforderlich; denn mit dieser konservativen Mehrheit in diesem Hause kriegen wir das nicht zustande.
Herr Präsident, ich danke Ihnen.
({4})
Damit kann ich die Aussprache schließen.
Wir kommen zur Abstimmung und zwar zunächst über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. zur Beratungskapazität Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 12/4193. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen worden.
Wir stimmen jetzt ab über die Beschlußempfehlung in bezug auf das Raumtransportsystem Sanger auf Drucksache 12/4277. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der PDS/Linke Liste und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr Punkt 6 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes fiber das Inverkehrbringen und die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet
- Drucksache 12/4124 - ({0})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({1})
- Drucksache 12/4367 Berichterstattung: Abgeordnete Gudrun Weyel
Zu diesem Tagesordnungspunkt liegen ein Entschließungsantrag und ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. vor. Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von 45 Minuten vor. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Debatte und erteile zunächst dem Abgeordneten Hans-Ulrich Köhler das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Laut Einigungsvertrag besteht nach dem 31. Dezember 1992 für rund 3 500 t der bis zum 3. Oktober 1990
Hans-Ulrich Köhler ({0})
im Beitrittsgebiet zugelassenen Pflanzenschutzmittel ein Anwendungs- und Inverkehrbringungsverbot. Das heißt: Sie müssen als Sondermüll entsorgt werden.
Der Gesetzentwurf Thüringens sieht eine Verlängerung von Auslauffristen des Einigungsvertrages um zwei Jahre für jene Pflanzenschutzmittel vor, die nach ihrer Zusammensetzung, nach ihren Wirkstoffen und deren Abbauverhalten mit zugelassenen Pflanzenschutzmitteln aus den alten Bundesländern vergleichbar sind bzw. diese Wirkstoffe enthalten. Ihre Weiterverwendung erfolgt in Abstimmung mit der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft Braunschweig unter Beachtung der für ganz Deutschland zulässigen Höchstmengen und unter Wahrung der Belange des Gesundheits- und Umweltschutzes.
Wir haben den Gesetzentwurf eingebracht, weil es eine Übermaßregelung darstellt und sinnwidrig ist, daß Pflanzenschutzmittel mit gleichen bzw. vergleichbaren Wirkstoffen in den neuen Bundesländern als Sondermüll gelten sollen. Ein Teil der Wirkstoffe stammt ohnehin aus den alten Bundesländern und wird heute noch dort angewendet.
Laut Erhebung des amtlichen Pflanzenschutzdienstes vom 10. November 1992 betrifft die Fristenverlängerung in den neuen Bundesländern ca. 3 500 t Pflanzenschutzmittel, die sich in den neuen Bundesländern wie folgt aufteilen: Freistaat Sachsen 860 t; Brandenburg 836 t; Sachsen-Anhalt 800 t; Mecklenburg-Vorpommern 670 t und Thüringen 275 t.
({1})
Die Gesamtmenge ergibt 3 441 t.
Das von Thüringen eingebrachte Gesetz soll dazu dienen, die durch Inkrafttreten des Art. 3 des Einigungsvertrages entstandene Situation zu entschärfen. Es ist vorgesehen, nur solche Pflanzenschutzmittel, deren Wirkstoffe mit denen der Altbundesländer vergleichbar sind, noch bis zum 31. Dezember 1994 weiter anzuwenden, Bei der Beurteilung der weiteren Anwendbarkeit zog die Biologische Bundesanstalt Braunschweig auch vorhandene DDR-Prüfunterlagen heran.
Von den in der ehemaligen DDR zugelassenen 430 Pflanzenschutzmitteln dürfen 57 Mittel laut Anlage 1 weder angewandt noch in Verkehr gebracht werden. Hierzu gehören auch die Pflanzenschutzmittel mit Wirkstoffen, deren Übergangsregelungen für Höchstmengen abgelaufen sind.
Anlage 2 enthält weitere 79 Pflanzenschutzmittel, die nicht mehr in den Verkehr gebracht, d. h. nicht mehr gehandelt werden dürfen, weil sie erstens Wirkstoffe enthalten, deren Anwendung aus Gründen des Gesundheitsschutzes oder des Schutzes des Naturhaushalts nicht vertretbar sind, so daß ihre Anwendung bereits durch die Pflanzenschutzanwendungsverordnung verboten wurde, weil sie zweitens, falls ein Antrag auf Zulassung gestellt würde, nach dem derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der Technik keine Aussicht auf eine Zulassung oder erneute Zulassung nach dem Pflanzenschutzgesetz hätten und weil drittens in Folge zu langer Lagerung mit erheblichen Wirkungsverlusten zu rechnen ist.
Demzufolge sind von 430 Pflanzenschutzmitteln, die vor dem 3. Oktober 1990 produziert, verpackt und gekennzeichnet wurden, lediglich 303 ohne jegliche Einschränkung für weitere zwei Jahre einsetzbar. Sollten sich neue Erkenntnisse gegen die Anwendung weiterer Mittel ergeben, dann ermöglicht das Gesetz, die Verbotsliste kurzfristig zu erweitern.
Die Biologische Bundesanstalt Braunschweig wird ein entsprechendes Pflanzenschutzmittelverzeichnis speziell für das Beitrittsgebiet bis Ende April herausgeben.
Die landwirtschaftlichen Betriebe in den neuen Bundesländern und die Mitarbeiter des amtlichen Pflanzenschutzdienstes haben die Gesetzesinitiative zur Verlängerung der Einsatzmöglichkeiten sehr begrüßt. Die notwendige Bereitschaft ist vorhanden, die noch anwendbaren Mittel im Sinne eines integrierten Pflanzenschutzes einzusetzen.
Gegen den Gesetzentwurf gab es allerdings von verschiedenen Seiten erhebliche Bedenken bis zur grundsätzlichen Ablehnung.
Bei Kritik von fachlich kompetenter Seite war eine sachlich argumentative Auseinandersetzung möglich und führte letztlich auch zum Konsens. Es gab Bedenken, daß einige ehemalige DDR-Präparate widerrechtlich von Betrieben im Altbundesgebiet beschafft und dort eingesetzt werden. In dem vorliegenden Gesetz wurde dem jedoch Rechnung getragen, da die Anwendung der betreffenden Präparate in den Altbundesländern eine Ordnungswidrigkeit darstellt und entsprechend geahndet werden muß.
Weiterhin gilt es, die Behauptung zu widerlegen, daß durch die sachgemäße Anwendung bestimmter Pflanzenschutzmittel mit DDR-Zulassung die Umwelt gefährdet wird. Die Gegner des chemischen Pflanzenschutzes müssen heute erkennen, daß die Bundesrepublik Deutschland vergleichsweise sehr strenge Vorschriften für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln hat.
Auch wenn die Pflanzenschutzmittelzulassung in der ehemaligen DDR nicht nach den gleichen Anforderungen erfolgte, heißt das nicht, daß verantwortungslos gehandelt wurde.
Läßt man bestimmte wirtschaftspolitische Aspekte außer acht, so ist festzustellen, daß Pflanzenschutzmittel in der ehemaligen DDR nach ähnlichen Verfahren zugelassen wurden wie in der Bundesrepublik Deutschland. Auch die Mittelaufwandmengen und die Anwendungsbeschränkungen haben sich nur wenig von bundesdeutschen Zulassungen unterschieden.
({2})
Was die im Mittelpunkt des Interesses und der Kritik stehenden möglichen negativen Auswirkungen auf die Umwelt, insbesondere auf Oberflächen-, Grund- und Trinkwasser anlangt, bitte ich folgendes zu bedenken: Bisher erfolgte der Einsatz entsprechend
Hans-Ulrich Köhler ({3})
dem Pflanzenschutzmittelverzeichnis 1991/92 der Biologischen Bundesanstalt Braunschweig.
Herr Abgeordneter Köhler, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Feige zu beantworten?
Ja, bitte.
Bitte sehr, Herr Feige.
({0})
Wenn das mit dem verantwortungsvollen Einsatz so stimmt, dann möchte ich Sie fragen, warum sich denn der Umweltausschuß insbesondere mit den hohen Pestizidanteilen im Grundwasser in den neuen Bundesländern beschäftigen mußte, obwohl Sie dort keine Gefahrenquelle und auch keine mißbräuchliche Nutzung in den neuen Ländern gesehen haben.
Herr Abgeordneter Feige, die Pflanzenschutzmittel mit Pestiziden sind aus dem Verkehr gezogen, sind nicht zugelassen. Die Pflanzenschutzmittel, die das verursachen, sind auf der Liste derer, die aus dem Verkehr gezogen worden sind. Sie müßten in den Ausschuß kommen, dann können Sie das feststellen.
({0})
Fahren Sie bitte fort.
Demzufolge kommen nur Mittel ohne W-Auflage in Wasserschutzgebieten zum Einsatz.
Da mir keine anderen Untersuchungsergebnisse vorliegen, kann die Belastung des Trinkwassers mit Pflanzenschutzmitteln nur aus Thüringer Sicht beurteilt werden. Die folgenden Untersuchungsergebnisse zeigen, daß die gemessenen Werte durchaus mit denen der Altbundesländer vergleichbar sind. Die Verfeinerung der Analysemethoden hat in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht, so daß man heute Nachweise im Ultraspurenbereich führen kann. Es werden zulässige Höchstmengen, z. B. für Trinkwasser in Mikrogramm = ein Millionstel Gramm je Liter, angegeben.
Nach der deutschen Trinkwasserverordnung und der EG-Richtlinie 80/778/EWG darf in einem Liter Wasser nicht mehr als 0,1 Mikrogramm eines Pflanzenschutzwirkstoffes enthalten sein. Bei gleichzeitigem Auftreten mehrerer Wirkstoffe gilt der Summengrenzwert von 0,5 Mikrogramm. WHO-Grenzwerte liegen um ein Mehrfaches höher. Fachleute wissen, daß der EG-Trinkwassergrenzwert ein politischer Pauschalwert, jedoch nicht ein fachlich untermauerter Grenzwert ist.
({0})
In den in Thüringen seit 1991 untersuchten 1 278 Rein- bzw. Trinkwasserproben wurden nach Angaben des Thüringer Ministeriums für Umwelt und Landesplanung vom Dezember 1992 lediglich bei ca. 5 % der Proben zeitweilig Pflanzenschutzmittelwirkstoffe, meist Atrazin, knapp über dem Pauschalwert von 0,1 Mikrogramm pro Liter festgestellt. Von einer Gefährdung durch Pflanzenschutzmittel kann demzufolge keine Rede sein.
({1})
Da im Rahmen des Bienenschutzes die Einstufungskriterien der ehemaligen DDR im wesentlichen mit denen der Bundesbienenschutzverordnung übereinstimmten, ist bei sachgemäßer Anwendung eine Bienengefährdung ebenfalls nicht zu erwarten.
Bei abschließender Betrachtung der genannten Argumente zeigt sich, daß eine Einstufung aller ehemaligen DDR-Pflanzenschutzmittel als Sondermüll eine sinnwidrige und wirtschaftlich nicht vertretbare Maßnahme darstellen würde.
({2})
Bei ordnungsgemäßer Anwendung der durch die Fristenverlängerung bis Ende 1994 noch anwendbaren Präparate bestehen keine Gefahren für Mensch, Tier und Umwelt.
Ich bitte Sie, im Interesse der Landwirtschaft der neuen Bundesländer dem vorliegenden Gesetzentwurf zuzustimmen.
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Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Gudrun Weyel das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dem, was Herr Köhler ausgeführt hat, müssen wir uns fragen, warum eigentlich beim Einigungsvertrag nicht absehbar war, daß in den zwei Jahren die Mittel nicht verbraucht werden können.
({0})
Das hat mit Sicherheit unterschiedliche Gründe. Erstens war der Bestand nicht vollständig erfaßt, denn offensichtlich haben viele Landwirte in der DDR aus langer Übung geheime Vorräte für alle Fälle gehabt. Zweitens wurde durch Flächenstillegung in den letzten Jahren weniger gebraucht. Der trockene Sommer 1992 hat dazu beigetragen, daß weniger gespritzt wurde. Manche Betriebe haben auch gemeint, die Westmittel seien besser, und sie haben neue gekauft. Im übrigen besteht der Verdacht, daß einige Hersteller sich gar nicht an die Bestimmungen des Einigungsvertrages gehalten haben und noch weiter produziert und verpackt haben, was sehr schwer nachzukontrollieren ist.
Es ist ein ganzes Bündel, was da zusammenkommt und uns veranlaßt, diese Verlängerung ins Auge zu fassen, wobei wir heute gar nicht mehr über den Antrag des Bundesrates sprechen, weil ja der 31. Dezember 1992 abgelaufen ist, sondern eine Neuformulierung der Bundesregierung haben. Die ganze Geschichte ist schon recht durcheinander.
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Von den Mitteln, die im Einigungsvertrag standen, haben wir verschiedene Kategorien. Ein Teil ist ordnungsgemäß über die BBA zugelassen - Kategorie 1. Ein zweiter Teil befindet sich im Zulassungsverfahren. Ein dritter Teil ist durch die PflanzenschutzAnwendungsverordnung ohnehin bereits in der Anwendung verboten. Das sind die Fälle, die eindeutig sind. Viertens kommen die Mittel, die jetzt durch die Anlage 1 sowohl im Vertrieb wie in der Anwendung verboten werden. Dann kommen die Mittel, bei denen das In-Verkehr-Bringen verboten wird, die Anwendung aber erlaubt ist. Wenn wir die Anlage 2 aber anschauen, sind unter ihnen wieder welche, die in der Anwendung verboten sind, damit es möglichst kompliziert wird. Diese gehören eigentlich in die Kategorie 3. Schließlich bleiben die Mittel übrig, die weiter erlaubt sein sollen.
Deswegen war eigentlich unser Anliegen zu sagen: Machen wir nicht soviel Verbotslisten, sondern einfach eine Liste der Mittel, die dann jetzt noch in der Anwendung erlaubt sein sollen. Das wäre einfacher gewesen. Die Bundesregierung hat aber gemeint, eine solche Liste könnte die Leute zu der irrtümlichen Annahme verführen, dieses seien Mittel, die nach den Kriterien des bundesdeutschen Pflanzenschutzgesetzes zugelassen sind.
Es geht jetzt einfach darum, eine vernünftige Regelung zu finden. Dies ist leider mit der Positivliste nicht gelungen. In den Ausschußberatungen kamen sehr unterschiedliche Meinungen zum Ausdruck. Es hat sich eigentlich niemand ganz wohl gefühlt. Deswegen haben wir vereinbart, daß wir die beiden Anlagen noch ergänzen, so daß außer den Mitteln auch die Wirkstoffe angegeben sind. In Anlage 2, in der die Mittel enthalten sind, die noch angewendet werden dürfen, haben wir durch entsprechende Fußnoten deutlich gemacht, welche von ihnen eigentlich bereits verboten sind und welche insbesondere in bezug auf den Wasserschutz besonderer Sorgfalt bedürfen.
Das ist zwar sicher nicht hundertprozentig befriedigend, aber wenigstens ein Versuch, den notwendigen Gewässerschutz in den neuen Bundesländern ins Bewußtsein zu bringen und Mittel zu vermeiden, die dem nicht entsprechen. Die Fraktionen haben sich geeinigt, daß sie den Änderungsantrag gemeinsam einbringen, Herr Präsident. Ich denke, wir können dem zustimmen, obwohl wir insbesondere im Bereich des Umweltschutzes Bedenken haben.
Wir haben versucht, einen gangbaren Weg zwischen den zwei Prinzipien zu finden. Wir wollten zum einen eine vernünftige wirtschaftliche Entscheidung treffen, daß man nämlich nicht Dinge entsorgen muß, die man noch verwenden kann, soweit dies noch vertretbar ist. Auf der anderen Seite wollen wir deutlich machen, daß wir dem Umweltschutz, insbesondere dem Gewässerschutz, eine hohe Bedeutung zumessen. Sicher stimmt das, was Herr Köhler eben über die Qualität des Trinkwassers in den neuen Ländern gesagt hat, nicht durchweg. Es gibt mit Sicherheit einige Gewässer, die der europäischen Richtlinie heute nicht entsprechen.
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Wir wollen versuchen, das abzubauen. Aber, Herr Feige, wir müssen auch sehen, daß es nicht nur um die Erhöhung der Erträge geht, sondern auch darum, Krankheiten der Pflanzen durch entsprechende Mittel in sachgemäßer Anwendung zu verhindern.
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Frau Abgeordnete, diese Ihre Bemerkung hat den Abgeordneten Köhler veranlaßt, eine Zwischenfrage zu stellen.
Frau Kollegin Weyel, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß ich in bezug auf die Trinkwasserwerte nur über das Land Thüringen gesprochen habe.
Dann wollen wir hoffen, daß Herr Köhler recht hat und das Land Thüringen sich von allen anderen neuen Bundesländern absolut unterscheidet. Ich nehme das zur Kenntnis, kann es aber nicht nachvollziehen.
Wir haben darüber hinaus, damit dem Umweltschutzgedanken Rechnung getragen wird, dem Gedanken der vernünftigen und verantwortungsvollen Entsorgung der Mittel, die ja noch vorhanden sind, aber nicht mehr benutzt werden dürfen, dies in einem Entschließungsantrag zusammengefaßt. Wir hoffen, daß das auch praktiziert werden kann. Wir richten uns damit zwar an die Bundesregierung, aber es ist uns klar, daß es im Grunde genommen in der Hand der neuen Länder liegt, die Erfassung und Entsorgung vernünftig durchzuführen. Wir haben uns geeinigt, daß wir diesem Entschließungsantrag, der bei der dritten Lesung beraten wird, gemeinsam zustimmen wollen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Georg Gallus das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Die Überschrift des Gesetzesentwurfs ist mir zu hochtrabend, um das einmal deutlich zu sagen. Im Grunde geht es einzig und allein darum, die Pflanzenschutzmittel, die nach den entsprechenden Richtlinien der BBA angewendet werden können, auch weiterhin anwenden zu dürfen. Bei der ganzen Angelegenheit, Herr Köhler, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als ob einige Leute in den neuen Bundesländern die ganze Sache in den letzten zwei Jahren nicht ernst genug genommen hätten, sonst hätten sie nämlich mit der Menge fertig werden müssen. Machen wir uns da einmal gar nichts vor!
Wir fassen einen Entschließungsantrag ab, in den wir hineinschreiben: Es muß bei den Genossenschaften, bei den Nachfolgeorganisationen und wie sie alle heißen festgestellt werden, welche Menge vorhanden ist. Von dem, was über die Mengen im Protokoll des Bundesrates steht, glaube ich nur die Hälfte.
Ich sage nicht, daß die Freien Demokraten dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Aber deutlich an die Adresse der Betroffenen gewandt, möchte ich eines sagen: Ein Jahr hätte voll genügt, um mit dem Problem fertig zu werden. Wir verwenden 30 000 t Pflanzenschutzmittel in der Bundesrepublik einschließlich neue Bundesländer, weil die Produktion in den letzten Jahren zurückgegangen ist. In den neuen Bundesländern beträgt der Anteil an dieser Gesamtsumme 10 000 t. Wenn die Zahl von 3 000 t stimmt, dann hätte man in einem Jahr mit dem Problem fertig werden müssen.
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In dieser Angelegenheit hat man sich wieder einmal richtig balbieren lassen, weil es Probleme gibt; das sehe ich ein. Aber das ist das letzte Mal. Für die F.D.P. kommt eine weitere Verlängerung nicht in Frage.
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Das, was in der Entschließung darüber hinaus steht, bitte ich sehr ernst zu nehmen, nämlich, daß es nur um die Pflanzenschutzmittel gehen kann, die schon vor dem entsprechenden Zeitraum, vor 1990, abgepackt wurden. Wir haben schon so manches erlebt:
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mit dem Rubelumtauschen und dem ganzen Zeugs. Die Gefahr, daß sie das Ganze weiter formulieren, Pflanzenschutzmittel nach Polen schleusen und am Ende dieser zwei Jahre mehr haben als heute, ist ganz groß.
Meine Damen und Herren, ich will hier einmal ganz nüchtern sagen: Die Menschen in den neuen Bundesländern sollen nicht glauben, daß sie bei so schwerwiegenden Fragen auch in Zukunft auf unsere Gutmütigkeit bauen können.
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Außerdem - auch das möchte ich noch sagen -: Ein paar Dummheiten sind sowieso passiert. Wenn jeder, der hier gesprochen hat, das Protokoll der Sitzung des Bundesrats-Gesundheitsausschusses nachgelesen hat, wird der feststellen: So etwas Dummes hat er noch nicht gesehen. Dort wurde nämlich der Eindruck erweckt, als ob man die Pflanzenschutzmittel tatsächlich dadurch entsorgen könnte, daß sie angewendet werden dürfen. Darum kann es überhaupt nicht gehen.
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Es ist bei der Geschichte von Anfang an ein falscher Zungenschlag hineingekommen; das muß man sehen.
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- Ich habe gar nicht geschaut, wer im Bundesrat alles geredet hat.
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- Auf gar keinen Fall, Herr Kollege. Sie werden mir doch zugestehen, daß für die F.D.P. gilt: Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen. Und wir gehören dazu.
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Zum Schluß kann ich nur eines sagen, meine lieben Kollegen: Die Freien Demokraten stimmen zu unter der Maßgabe, daß die Betroffenen diese Geschichten in Zukunft ernst genug nehmen und daß die Angelegenheiten zum Abschluß geführt werden können.
Danke schön.
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Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Feige.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! So lustig kann ich das nicht sehen. Angesichts der Erfahrung vieler ostdeutscher Natur- und Umweltschutzaktivisten mit dem Pestizideinsatz in der DDR kann ich die heute zur Abstimmung stehenden Vorlagen aus umweltpolitischer Sicht nur als zynisch bezeichnen. Die Übergangsregelung für das Inverkehrbringen und die Anwendung von den in der früheren DDR zugelassenen Pflanzenschutzmitteln soll um weitere zwei Jahre verlängert werden. Nicht nur, daß hier ein weiterer Gesetzgebungsakt erfolgen soll, der das Zweiklassenrecht zwischen Ost- und Westdeutschland erneut festschreibt - wir haben genug Gesetze, die das so machen -, es geht Ihnen auch darum, daß hochgiftige Sonderabfälle - um nichts anderes handelt es sich hierbei ganz konkret - großflächig auf landwirtschaftliche Flächen in Ostdeutschland - und nur dort - ausgebracht werden.
Wenn das so harmlos und friedlich ist, wie Sie es immer darstellen, dann frage ich Sie: Bitte, warum lassen Sie das dann nicht auch in den alten Ländern zu? Wenn das alles so gleichwertig ist, Herr Kollege Köhler, wie Sie sagen, warum dann nicht auch in den alten Ländern zulassen? Den Aufschrei hier in den westlichen Ländern möchte ich hören, wenn Sie mit diesem Ansatz gekommen wären.
Ich glaube, Sie haben recht - es steht in den Vorlagen -: Die Alternative ist und bleibt die restlose und äußerst kostspielige Beseitigung dieser Stoffe als Sondermüll. Es ist schon ein beispielloser Vorgang, wenn landwirtschaftliche Anbaugebiete in Ostdeutschland als großflächige Sonderabfalldeponien scheinbar zum Nulltarif genutzt werden sollen.
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- Genau das ist der Ansatz. Ihr Motto: Heute wird gespart. Selbst in Ihrer Argumentation spielt das Finanzielle eine ganz entscheidende Rolle.
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Ich glaube, daß dies auf Kosten der Gesundheit der Menschen geht.
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- Genauso wird es sein. Bezahlt wird von irgendwem später, nur nicht gegenwärtig.
In den ostdeutschen Bundesländern soll offenbar ein unsäglicher Pestizid-Großversuch fortgesetzt werden, der die Menschen in diesem Land noch weit teurer zu stehen kommen wird als seine ordnungsgemäße Beseitigung.
Ich bin entsetzt, wenn ich lese, was der großen Koalition im Umweltausschuß am 10. Februar hierzu eingefallen ist. Im gemeinsamen Entschließungsantrag heißt es nämlich, daß die Bundesregierung aufgefordert wird, mitzuhelfen, daß das GrundwasserMonitoring in den neuen Bundesländern fortgesetzt wird, um insbesondere die Gefährdung des Grundwassers durch Pflanzenschutzmittel besser abschätzen zu können und die eingetretenen Grundwasserbelastungen sanieren zu helfen.
Meine Damen und Herren von der SPD, haben Sie die Antwort der Bundesregierung auf Ihre eigene Kleine Anfrage zu den Umweltkosten in der Landwirtschaft vergessen? Da steht, daß die Kosten der Entfernung von Pflanzenschutzmittelkontaminationen bei der Trinkwasseraufbereitung bis zu 1,50 DM je m3 betragen könne. Dann ist die Kostenbilanz eine ganz andere.
Das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen: Von oben werden hochtoxische Pflanzenschutzmittel eingesetzt. Danach wird das Grundwasser beobachtet und später möglicherweise saniert. Das ist absurd, das ist von der Gesamtkostenbilanz her absurd.
Herr Abgeordneter Dr. Feige, das veranlaßt die Abgeordnete Weyel zu einer Zwischenfrage. Bitte schön.
Herr Feige, ist Ihnen bekannt, daß toxische Mittel natürlich nicht zugelassen werden dürfen?
Wissen Sie, über die Bewertung all dessen, was als Pflanzenschutzmittel in der Bundesrepublik insgesamt zugelassen wird und was sich als Reststoffe über Nahrungsketten oder in Sammelwirkungen heute anreichert, glaube ich, werden wir in diesem Haus noch sehr oft diskutieren müssen. All das, was in den alten Ländern zugelassen ist, ist meines Erachtens dennoch ein erheblich belastender Anteil für unsere gesamte Umwelt. Ökosysteme brechen nicht von alleine zusammen, wenn das alles nicht toxisch ist.
Sie können es ja einfach einmal probieren. Auch in verdünnter Form haben diese Stoffe eine Langzeitwirkung. Ich glaube, das ist das Entscheidende bei der gesamten Strategie des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln: Wir benutzen diese Pflanzenschutzmittel doch nur, um hochgezüchtete Arten, die gegen Krankheiten gar nicht mehr resistent sind, ganz einfach überhaupt noch am Leben zu erhalten und Höchsterträge zu bekommen. Da liegt, glaube ich, der grundsätzlich falsche Ansatz in der Strategie einer Landwirtschaft.
Das veranlaßt den Abgeordneten Gallus zu einer Zwischenfrage.
Bitte schön.
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Herr Kollege, wie erklären Sie sich eigentlich, daß die Menschen in Deutschland, obwohl wir bei uns Pflanzenschutzmittel im Vergleich zur übrigen Welt am restriktivsten anwenden und obwohl wir die Pflanzenschutzmittel anwenden müssen, immer älter werden? Wie erklären Sie sich das eigentlich, wenn das alles total giftig ist? Wie erklären Sie sich denn das?
Herr Gallus, ich weiß, daß Sie das schon in Ihrem Beitrag sehr lustig aufbereitet haben. Aber ich weiß, wie teuer das Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland ist und wie teuer es ist, das alles, was wir über Nahrungsketten oder sonst etwas tatsächlich zu uns nehmen, zu kompensieren. Ich denke, daß wir auf diesem Gebiet in erheblichem Maße einsparen könnten. Die Menschen werden übrigens auch in anderen Ländern älter.
Dennoch, glaube ich, kann keiner hier bestreiten, daß die Produkte, die aus einem ökologischen Anbau kommen, für die Gesundheit der Menschen tatsächlich wesentlich günstiger sind als das, was wir an Reststoffen und Präparaten teilweise zu uns nehmen.
Sind Sie bereit, eine weitere Frage des Abgeordneten Gallus zu beantworten?
Gerne.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter Gallus.
Herr Kollege, können Sie bestätigen, daß fast jahrzehntelange Untersuchungen erbracht haben, daß die alternativ produzierten Nahrungsmittel keineswegs weniger Rückstände als die mit herkömmlichen Pflanzenschutzmitteln behandelten haben?
In welcher Relation stufen Sie hier eigentlich das Rauchen ein, wenn Sie schon bei den Pflanzenschutzmitteln so große Vorbehalte haben? Sind Sie dafür, daß Rauchen bundesweit verboten wird?
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Ich glaube, wir dürfen das Problen nicht ins Lächerliche ziehen. Es geht tatsächlich um eine sehr ernsthafte und gewissenhafte Sache, die uns in den kommenden Jahren noch sehr intensiv beschäftigen muß.
Aber eben gerade, in der vorhergehenden Debatte - Sie waren dabei -, haben wir uns mit dem ständig wachsenden Standard der wissenschaftlich-technischen Forschung beschäftigen müssen. Auch in dieser Hinsicht sind wir in unserem Erkenntnisstand nicht stehengeblieben.
Ich sage Ihnen: Nicht nur die Meßmethoden haben sich verfeinert, sondern auch das Wissen über die Zusammenhänge, insbesondere auch über die Querbeziehungen und die Wirkungsweise von Verbindungen auf den menschlichen Organismus.
Das, was in den letzten Jahren in der wissenschaftlichen Literatur - das ist leicht nachzuvollziehen - an neuen Erkenntnissen auch hinsichtlich der Wirkungsweise bisher scheinbar schadloser Verbindungen auf den menschlichen Organismus dazugekommen ist, sollte uns hier vorsichtiger machen und nicht dazu bringen, zu sagen: Es wird schon alles nicht so schlimm sein.
Herr Gallus, Sie selbst haben in Ihrem Beitrag eigentlich genau in unserem Sinne davor gewarnt, das dann nach 1994 nicht noch einmal zu verlängern. Das machen Sie doch auch nicht von ungefähr, denn auch Sie wissen, wie verunreinigt die eigentlichen Verbindungen sein müssen.
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Ich glaube, daß das Gefahrenpotential tatsächlich insbesondere im Grundwasserbereich liegt, wenn auch in Thüringen viele Gewässer sehr gut sind. Aber es gibt Bundesländer, insbesondere auch Mecklenburg-Vorpommern, wo es in großen Regionen zu erheblichen Belastungen mit Pflanzenschutzmitteln in den Gewässern gekommen ist.
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Kennen Sie denn ein Verfahren, mit dem man Grundwasser reinigen kann? Selbst wenn wir das Grundwasser später sauber bekommen, schaffen wir uns eine Zeitbombe auf viel längere Jahre. Das ist das, was in der gesamtwirtschaftlichen Konsequenz nicht gerechtfertigt ist.
Damit nicht genug! Hatten wir bei der abschließenden Beratung des Investitionserleichterungsgesetzes vor Tagen schon das zweifelhafte Vergnügen, daß ein Ministerium ermächtigt wurde, den Wortlaut eines Bundestagsbeschlusses zu korrigieren, so erleben wir heute, daß ein Gesetz sogar rückwirkend in Kraft treten soll. Das hat mit Rechtssicherheit nichts zu tun.
Zum Schluß noch ein Wort an die Kollegen der SPD. Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, wie eine Partei, die sich in Wahlkampfreden dem ökologischen Umbau verpflichtet, eine solche Umweltsauerei mitmachen kann. Oder hat Oskar Lafontaine in seinem
Interview mit der „Tageszeitung" mit den Worten - ich zitiere ihn Aber ich will auch nicht bestreiten, daß quer durch alle Parteien viele die Ökologie zwar verbal hochhalten, daß sie diese Versprechen bei praktischen Entscheidungen aber nicht immer einlösen
vielleicht ein bißchen auch die SPD-Fraktion gemeint?
Ich bitte Sie daher eindringlich, Ihr Votum noch einmal zu überdenken und gemeinsam mit uns den Antrag und die Beschlußempfehlung abzulehnen.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Meine Damen und Herren, ich möchte das Haus darüber informieren, daß die Abgeordnete Frau Ulrike Mehl ihre Rede zu Protokoll gegeben hat.*)
Darm erteile ich dem Abgeordneten Jungharms das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte das nicht ganz so stehenlassen, was jetzt durch Herrn Feige in den Raum gestellt worden ist.
Gemeinsam liegt uns hier daran, Rahmenbedingungen für die Landwirtschaft landauf, landab zu schaffen, die Raum für fleißige und lohnende Arbeit geben. Ich bin der Auffassung wie Sie, Herr Dr. Feige, daß wir mit diesem Thema natürlich in dieser Frage einen sehr sensiblen Bereich diskutieren.
Es geht schlechthin um Vertrauen, um das wichtige Bindeglied Vertrauen der Gesellschaft gegenüber dem, was die Bauern tagtäglich auf den Tisch bringen und wofür die Bauern tagtäglich die Verantwortung tragen. Das ist für mich etwas, was man wie seinen Augapfel hüten muß. Da ist es ganz einfach aberwitzig und so einfach nicht hinnehmbar, daß Sie uns, die wir natürlich auch für den Ruf der Bauern Verantwortung tragen, an dieser Stelle ausgesprochen oder unausgesprochen unterstellen wollen, wir ließen diese wichtige Frage außer acht.
Uns unterscheidet im Grunde genommen nur eines. Sie sagen, das, was an Umweltbelastungen festgestellt würde, sei ein Grund dafür, von vornherein alles abzulehnen. Wir sagen: Natürlich sehen auch wir diese Probleme, die mit der Umweltbelastung verbunden sind; aber bei uns beginnt im Grunde genommen die Verantwortung für das, was die Bauern in der Gesellschaft leisten, damit, daß wir für das Vertrauen auf die Bauern eintreten.
Aus dieser Sicht bitte ich ganz einfach darum, das nicht so in Bausch und Bogen abzutun und in den Raum zu stellen, als würden wir eine riesengroße Sauerei begehen. Wir haben es uns in dieser Beziehung nicht leichtgemacht. Auch aus den Unterlagen ist das zu erkennen.
*) Anlage 2
Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten, Herr Junghanns?
Selbstverständlich, für Herrn Feige bin ich das.
Bitte schön, Herr Abgeordneter Feige.
Herr Junghanns, nehmen Sie mir ab, daß ich nicht mißtrauisch gegenüber den Bauern in den neuen Bundesländern bin,
({0})
sondern gegen diese Verbindungen, die damals in der DDR unter teilweise sehr mysteriösen und merkwürdigen Bedingungen in ihrer Zusammensetzung hergestellt wurden, und daß es auch dort erhebliche Qualitätsunterschiede in den Chargen einer und derselben Verbindung hinsichtlich der Nebenstoffe geben kann?
Ihre Frage verstehe ich. Ich kann Ihnen sagen, daß hinsichtlich der Mittel, die heute hier zur Disposition stehen, Überprüfungen durchgeführt werden - natürlich mit dem Hinweis darauf, daß sie entsprechend verpackt sind, daß auch ordnungsrechtliche Regelungen damit verbunden werden und so jene Rahmenbedingungen gegeben sind, die die normalen Umstände dafür darstellen, mit Pflanzenschutzmitteln sachgerecht umzugehen. Das möchte ich hier ganz einfach - vielleicht auch aus unterschiedlicher Position heraus - betonen.
Ich bin der Meinung - damit möchte ich meinen Wortbeitrag schließen -, daß diese Unterlagen, diese Entscheidungen unsere Zustimmung aus dreierlei Gründen verdienen.
Zum ersten sind es wirklich nur unbedenkliche Mittel, die heute eine Anwendungsverlängerung erfahren. Verbotene, verfallene oder auslaufende Präparate sind ausgeschlossen.
Zum zweiten. Weil wir - da bin ich für den Hinweis von Frau Weyel sehr dankbar - eine sehr spezielle Situation des Übergangs haben, haben wir diese Regelungen mit Auflagen verbunden, die die Entsorgung verbotener Mittel regeln, ganz einfach um sicherzustellen, daß wir über das normale Maß hinaus immer aus einer Gesamtsicht diesen Risiken begegnen.
Zum dritten wollen wir eben auch nicht den Unsinn begehen, daß entsprechend vergleichbare Pflanzenschutzmittel einerseits vernichtet werden und andererseits von demselben Bauern wieder gekauft werden müssen.
Ich möchte, auch an Ihre Adresse gerichtet, noch einmal mit aller Deutlichkeit feststellen: Wenn ansteht, über die Vernichtung eines vergleichsweise unbedenklichen Präparates zu befinden, dann ist es auch legitim, ja, notwendig, in einer Gegenüberstellung die damit verbundenen Kosten und Belastungen - besonders die Umweltbelastungen der Entsorgung des dann Sondermüll Gewordenen - als ein Entscheidungskriterium mit zu Rate zu ziehen. Nichts anderes haben wir getan.
Ich meine, Gründlichkeit und Vernunft haben die Entscheidungsvorbereitung insbesondere im Bundestag bestimmt; Gründlichkeit und Vernunft sind auch das, was wir als nachdrückliche Erwartung an die Landesämter und Bauern bei der Handhabung dieser helfenden Regelung richten.
Danke schön.
({0})
Meine Damen und Herren, nun können wir zur Abstimmung kommen, nämlich zu den Einzelberatungen über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf über das Inverkehrbringen und die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln in den neuen Bundesländern. Das alles liegt Ihnen auf den Drucksachen 12/4124 und 12/4367 vor.
Zunächst lasse ich über einen Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P., der Ihnen auf der Drucksache 12/4456 vorliegt, abstimmen. Wer für diesen Änderungsantrag der drei Fraktionen ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Gegen die Stimme von Herrn Dr. Feige und bei Enthaltung der PDS/Linke Liste ist dieser Änderungsantrag angenommen.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Gesetzentwurf in der Ausschußfassung mit der soeben beschlossenen Änderung. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist dies in der zweiten Lesung mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie der Änderungsantrag angenommen.
Meine Damen und Herren, es wurde fristgerecht beantragt, unmittelbar in die dritte Beratung zu gehen. Ich frage noch einmal, ob das Haus damit einverstanden ist. - Auch das ist offensichtlich der Fall. Dann kommen wir zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünschen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist mit derselben Mehrheit wie in der zweiten Lesung der Gesetzentwurf angenommen worden.
Der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Ausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung von Dr. Feige und PDS/Linke Liste ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P., der Ihnen auf Drucksache 12/4466 vorliegt. Wer stimmt diesem Entschließungsantrag zu? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der PDS/Linke Liste und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ist dieser Entschließungsantrag angenommen.
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Meine Damen und Herren, damit rufe ich den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Petra Bläss, Dr. Fritz Schumann ({1}), Dr. Ilja Seifert, Jutta Braband und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Sicherung des Weiterbetriebs der Zeche SOPHIA-JACOBA durch finanzielle Sonderhilfen des Bundes - perspektivisch eine volkswirtschaftlich und energiepolitisch sinnvolle Maßnahme für die Zukunft
- Drucksachen 12/1623, 12/4147 Berichterstattung:
Abgeordneter Volker Jung ({2})
Der Ältestenrat empfiehlt Ihnen eine Fünfminutenrunde. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann erteile ich zunächst der Abgeordneten Dagmar Enkelmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst daran erinnern, daß der Antrag, über den wir jetzt sprechen, im November 1991 in den Bundestag eingebracht wurde, also doch ziemlich lange Zeit im Parlament verweilte.
In einer Presseerklärung vom 2. August 1992 fragte der SPD-Kollege Niggemeier: „Im Jahr 2000 deutsche Kohle nur noch eimerweise?", und 1989, vor einer der letzten Kohlerunden, erklärte der damalige VEBA- Vorstandsvorsitzende Bennigsen-Foerder, der gleichzeitig Aufsichtsratsvorsitzender der Ruhrkohle AG war: „Wir müssen dafür sorgen, daß uns die deutsche Steinkohle nicht unter den Händen wegstirbt." Diese Worte können nur jemanden beeindrucken, der nicht weiß, daß die Preußen-Elektra, ebenfalls zum VEBA- Konzern gehörend, einen Atomstromanteil von 70 % hat. Darüber hinaus ist die VEBA auch im Mineralöl-, Erdgas- und Importkohlehandel tätig.
Scheinheiligkeit ist symptomatisch für die Diskussion um die heimische Steinkohle. Immerhin jedes 1 300-Megawatt-Atomkraftwerk ersetzt die Jahresförderung einer Schachtanlage.
Die Salamitaktik, nach der der Steinkohlebergbau abgewickelt wird, hat System. Die Ruhrkohle AG, mehrheitlich im Besitz von VEBA und VEW, ist mittlerweile zur „Treuhandanstalt des Steinkohlenbergbaus" verkommen. Abwickeln und Dichtmachen ist ihre Aufgabe. Aktuell sollen nun Haus Aden und Monopol in Bergkamen dran glauben. Die großen Energiekonzerne achten peinlich darauf, daß es in der Bundesrepublik keine eigenständige Steinkohlepolitik gibt. Dies wäre ja auch „nur" im Interesse der Menschen in den Revieren und gesamtgesellschaftlich sinnvoll, verdirbt aber den großen Energiekonzernen die Import- und Atomenergiegewinnbilanzen.
Natürlich ist die heimische Steinkohle teuer. Der hohe Preis spiegelt allerdings noch am ehesten die realen gesamtgesellschaftlichen Kosten der Energienutzung wider. Bekanntlich ist Energie viel zu billig. Wer zur billigen Nicht-EG-Kohle ja sagt, sollte auch ganz klar sagen, warum diese zur Zeit so billig ist: auf Kosten von Menschen und Umwelt, mit über 10 000 Toten pro Jahr durch Arbeitsunfälle weltweit und weiträumigen Landschaftszerstörungen beispielsweise in den USA. Wer ja zum billigen Öl und nein zur teuren heimischen Steinkohle sagt, muß auch ja sagen zu Tankerunfällen und militärischer Ölversorgungssicherung am Golf.
Die letzte ESSO-Energieprognose sagt eine Steigerung des Heizöleinsatzes in den fünf neuen Bundesländern von 1 % im Jahre 1990 auf 27 % im Jahre 2010 voraus. Gerade im Osten könnte die niederflüchtige Steinkohle von der Sophia Jacoba in schnell installierbaren Heizzentralen und Einzelfeuerungen für eine schnelle Reduzierung der Umweltbelastung, auch von CO2 sorgen, wenn dies politisch nur gewollt wird.
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Stattdessen wird auf 01 und Erdgas gesetzt, weil damit mehr zu verdienen ist. Erdgas wird immer teurer und knapper, der Hauptlieferant Rußland hat zunehmend mit technischen und politischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Risiken der Atomenergie sind bekannt und hier mehrfach debattiert worden.
Wer dies alles billigend in Kauf nimmt oder ausblendet, der kann, wie im Wirtschaftsausschuß geschehen, in großer Koalition gegen die Sophia Jacoba stimmen. Mit einer umweltfreundlichen, sozialverträglichen und ressourcenschonenden Energiepolitik hat dies allerdings nichts zu tun. Mit wirtschaftlichem Weitblick auch nicht. Der Welthandelspreis für Steinkohle wird außerdem durch Dumping künstlich niedrig gehalten - von Südafrika und den vier großen im Weltsteinkohlehandel tätigen Mineralölmultis. Importkohle würde sofort teurer, wenn große Teile des EG-Steinkohlebergbaus stillgelegt würden, wie die britische Bergarbeitergewerkschaft nachgewiesen hat.
In modernen, umweltfreundlichen Heizkraftwerken mit Kraft-Wärme-Koppelung muß auch die heimische Steinkohle ihren Platz haben. So eingesetzt, kann sie Atomstrom preislich unterbieten.
Energieversorger, Stadtwerke und Industrie in den neuen Bundesländern müssen umgehend Zugang zu verbilligter Steinkohle aus dem Jahrhundertvertrag erhalten. Die großen westdeutschen Elektrizitätsunternehmen müssen ihren Verpflichtungen aus der Verstromung heimischer Steinkohle auch im Osten nachkommen. Es kann nicht angehen, daß ein durch den Jahrhundertvertragspartner Preußen-Elektra in Rostock errichtetes Heizkraftwerk mit Importkohle betrieben wird und die Menschen der Region Heinsberg auf der Strecke bleiben.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Karl Fell das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag, Frau Kollegin Enkelmann, war und ist ein Schauantrag.
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Er hat in der Sache überhaupt nichts bewirkt. Das hat sich am deutlichsten darin ausgedrückt, daß im federführenden Wirtschaftsausschuß über den Antrag bei Abwesenheit der Vertreter Ihrer Gruppe beraten wurde. Sie haben sich überhaupt nicht für die Sachauseinandersetzung interessiert. Wenn ich die in der ersten Lesung mit viel Engagement vorgetragene Rede Ihres Kollegen Briefs noch im Ohr habe, dann bin ich geneigt, zu sagen: Das war „Briefs tönende Wochenschau". Aber das hatte nichts mit den Sachproblemen zu tun.
In der Sache haben wir in der Zwischenzeit dreierlei festzustellen:
Erstens. Es ist intellektuell unredlich, den Menschen in der Region Heinsberg bei Sophia Jacoba eine Chance auf Fortbestand vorzugaukeln, wenn feststeht, daß die Fördermengen bei der Steinkohle wegen der Einbindung in die EG abgebaut werden müssen, und wenn man weiß - und das wissen auch Sie -, daß gerade bei Sophia Jacoba nun einmal die höchsten Förderkosten für Steinkohle ausgelöst werden können.
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- Ja, gut, das ist niederflüchtige Kohle, sie ist sehr wertvoll, Sie können sie nur nicht nach Belieben irgendwo einsetzen.
Wir haben zweitens in der Zwischenzeit erreicht, daß Sophia Jacoba bis 1997 fortbestehen wird. Das war nach den EG-Rahmenbedingungen nicht sichergestellt. Wir haben es erreicht, und damit haben wir die Zeit gewonnen, die wir für die Umstrukturierung brauchen. Die Umstrukturierung, Frau Kollegin Enkelmann, eine Perspektive für die Menschen, aber nicht ein leeres Versprechen, das keiner von uns zu vernünftigen Bedingungen einzuhalten in der Lage ist.
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Das dritte. Wir haben in den zurückliegenden Monaten an der Umstrukturierung entscheidend gearbeitet. Wir haben nämlich einmal - ich sage: dankenswerterweise - gemeinsam mit der Landesregierung Nordrhein-Westfalen erreicht, daß die A 46, die Autobahn, die die Verkehrsinfrastruktur für die Region Heinsberg wesentlich verbessern wird und damit Marktchancen und Standortchancen für Investitionen eröffnet, schneller und wirksamer, weil vierspurig, weitergebaut wird.
({3})
Wir haben zweitens in den Diskussionen des Wirtschaftsausschusses mit dem Ministerium erreicht, daß der Bescheid des Ministeriums für die Stillegung 1997, für die Strukturhilfen, die dazu gegeben wurden, in einem entscheidenden Punkt verbessert worden ist. Sophia Jacoba war nämlich ursprünglich verboten worden, sich mit ihren Möglichkeiten aktiv an der
Umstrukturierung zu beteiligen. Wir haben das jetzt dahin verändert, daß Sophia Jacoba mit ihren Möglichkeiten am Umbau in der Region mitwirken kann.
Wir von der CDU/CSU-Fraktion bleiben bei der Ablehnung dieses Antrages, weil wir für eine ökonomisch, volkswirtschaftlich und energiepolitisch vernünftige Lösung sind und gerade diese Perspektive aus Gründen der Wahrhaftigkeit für richtig halten.
({4})
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Christoph Zöpel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Debatte um die Vergangenheit und Zukunft eines konkreten Steinkohlebergwerks mit hervorragender Anthrazitkohle - damit Sie, Herr Kollege Dr. Weng, aus dieser Debatte etwas mitnehmen - betrachten wir jetzt unter dem Gesichtspunkt: Wie glaubwürdig sind Anträge? Ich will das erweitern: Wie glaubwürdig sind politische Aussagen?
Ich kann Herrn Kollegen Fell nicht ganz widersprechen, daß der Realitätsbezug dieses Antrags nicht sehr groß ist.
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Wir alle sollten uns vornehmen, unsere Anträge mit einem gewissen Realitätsbezug zu versehen. Sonst könnte die Vertrauenskrise, die es derzeit im Zusammenhang mit politischem Handeln gibt, verschärft werden.
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Aber dieser Maßstab, Herr Kollege Fell, ist, glaube ich, an alles anzulegen, was in diesem Zusammenhang geschehen ist.
Als der Antrag eingebracht wurde, habe ich einige kritische Bemerkungen über die verbalen Ausführungen des damaligen Bundeswirtschaftsministers gemacht, die weder glaubwürdig, noch realitätsbezogen, noch verantwortungsvoll waren.
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- Da wäre ich sehr vorsichtig, mir in diesem Zusammenhang zu unterstellen, daß ich jemals etwas gesagt hätte, wo Sie mir jetzt vorführen könnten, daß das keinen Realitätsbezug hätte.
Wir haben um jedes Jahr des Überlebens von Sophia Jacoba gekämpft; der Zeitraum bis 1997 ist kurz. Wir wollten das Auslaufen flankieren und die Voraussetzung dafür schaffen, daß das Fortbestehen bis 1997 erreicht werden kann. Nur wenn die Ankündigungen in Übereinstimmung mit dem sind, was nachher passiert, kann ein Vertrauen in politisches Reden und Handeln zurückgewonnen werden.
Ich will das nicht allein den Parteien zuordnen. Wenn Sie, Herr Kollege Fell - dem ist hier nicht zu widersprechen - den Ende Dezember ergangenen
Zuwendungsbescheid an Sophia Jacoba als einen Erfolg des Parlaments darstellen, ist das richtig. Dennoch bleibt die Frage offen, warum Administrationen, von wem auch immer geleitet, so lange brauchen, um einen Zuwendungsbescheid zu erteilen, nachdem ihr Minister vorher die betroffene Zeche aufgefordert hat, aktiv am Umstrukturierungsprozeß mitzuwirken.
({3})
- Da sehen Sie einmal, wie vorsichtig ich heute bin. Ich frage mich, egal, welcher Partei der Minister angehört, warum Administrationen so lange brauchen.
({4})
Ich sage das auch deshalb, weil zu denen, die aus der derzeitigen Kritik am öffentlichen Handeln weitgehend ausgeschlossen sind, eigenartigerweise die Bürokratien gehören. Die Frage, ob es hier nicht ein eigenartiges Bündnis von Presse und Bürokratien gegen gewählte Politiker gibt, läßt sich auch am Fall Sophia Jacoba exemplifizieren.
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- Was meinen Sie, warum ich so rede?
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Ich habe doch Herrn Kollegen Möllemann nur wegen seiner Reden im Kreis Heinsberg kritisiert und nicht deswegen.
Nächster Punkt. Es ist angekündigt worden, daß die EG-rechtliche Absicherung der Vereinbarung, der Ergebnisse der Kohlerunde vom November 1991, schnell eingeholt werden sollte; das ist bis heute nicht gelungen.
Wir fragen uns zur Zeit: Wer ist für diese EGVerdrossenheit verantwortlich, die Mitglieder des Ministerrats, also die nationalen Regierungen, oder die Kommission? Ich sage an dieser Stelle deutlich: Die bürgerfernen Kommissare, die ihre Zustimmung verweigern, werden zunehmend zu einem Demokratierisiko für Europa. Das läßt sich auch an diesem Beispiel exemplifizieren.
Allerdings - es tut mir leid - muß auch die Bundesregierung angesprochen werden. Sie hat in Ziffer 8 der Kohlevereinbarung zwei Dinge angesprochen:
Erstens. Sie wollte zusätzliche Haushaltsmittel für die Gemeinschaftsaufgabe einstellen. Sie hat es getan.
Sie hat aber als zweites zugesagt, sie würde im Bereich der Verkehrspolitik, der Forschungs- und Technologiepolitik und der Stadtentwicklung stützend tätig werden. Es bleibt festzuhalten: Auf diesen Gebieten ist bisher nichts passiert. Im Gegenteil: Die Städtebauförderung ist eingestellt und damit diese Zusage aufgehoben worden. Die Möglichkeit, den öffentlichen Nahverkehr in der Region zu verbessern, ist zumindest durch das Konzept des Bundesfinanzministers über das Föderale Konsolidierungsprogramm mit der Ankündigung des Rückzugs des Bundes aus dem öffentlichen Nahverkehr mehr als gefährdet worden. In der Forschungs- und Technologiepolitik ist ebenfalls nichts geschehen.
Also, in der Gemeinsamkeit, in der das Parlament hier die Glaubwürdigkeit staatlichen Handelns wiederherstellen möchte, wäre es für alle Kohleregionen sinnvoll, wenn die Bundesregierung nun sehr schnell diese Zusagen in Ziffer 8 der Kohlevereinbarung einlösen würde. Die SPD-Fraktion wird in einer entsprechenden Anfrage die Bundesregierung zusätzlich zu dem, was ich hier sage, in höflicher Form daran erinnern.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Klaus Beckmann das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Angesichts der Tatsache, daß die Gruppe PDS/Linke Liste der Verfolgung ihres Antrages in der parlamentarischen Behandlung desselben bisher kaum Aufmerksamkeit schenkt, erlaube ich mir, mich kurzzufassen, Frau Dr. Enkelmann.
Ganz offensichtig handelt es sich hierbei nämlich um eine Schaufensterveranstaltung, die ausschließlich dazu geeignet ist, dem Deutschen Bundestag und seinen Mitgliedern hier die Zeit zu stehlen. Die Kumpels von Sophia Jacoba, ihre Angehörigen und die Menschen in der Region Hückelhoven/Heinsberg müssen wissen, daß es die PDS/Linke Liste weder bei den Beratungen dieses Antrages im Haushaltsausschuß im Dezember 1991 noch im Wirtschaftsausschuß im Juni 1992 für nötig gehalten hat, sich für ihr angebliches Anliegen in diesen Ausschüssen einzusetzen. Ihre Abgeordneten glänzten in diesen Sitzungen durch Abwesenheit.
Mit Ihren sehr allgemein gehaltenen Ausführungen soeben zur Energiepolitik versuchen Sie, hierüber hinwegzutäuschen. Sie versuchen, die Kumpels mit Potemkinschen Dörfern zu täuschen. Damit stehen Sie wirklich tadellos in der Nachfolge der Partei, die 40 Jahre lang die Menschen in der DDR über die Realitäten getäuscht hat.
Ich will hier gleichwohl hervorheben, daß der Deutsche Bundestag und insbesondere die Bundesregierung die Beschäftigten von Sophia Jacoba, ihre Angehörigen und die Region in der Zukunft mit ihren Problemen nicht alleinlassen werden. Ich darf daran erinnern, daß die öffentliche Hand dem Unternehmen nach dem Beschluß des Aufsichtsrats über die Stillegung der Kohleförderung bis 1997 zum Ausgleich der damit verbundenen Belastungen für die Bilanz 1991 eine Zuwendung von 314 Millionen DM rechtlich bindend zugesagt hat.
Nach Erarbeitung eines Umstrukturierungskonzepts im Verlauf des Jahres 1992 und mit Unterstützung der Abgeordneten des Ausschusses für WirtKlaus Beckmann
schaft des Deutschen Bundestages - ich erinnere nur an das Zusammenwirken von Herrn Dr. Fell von der CDU/CSU-Fraktion mit Herrn Kollegen Jung und der Bundesregierung, die zu vertreten ich seinerzeit die Ehre hatte - wurde seitens des Bundeswirtschaftsministeriums ein Änderungsbescheid erteilt, der inzwischen vom Unternehmen akzeptiert worden ist. Dieses Konzept trägt den Zielen von Sophia Jacoba Rechnung und fördert den Umstrukturierungsprozeß in dieser Region.
Insofern ist natürlich die heutige Debatte überholt. Gleichwohl wollte ich gerne noch einmal hervorheben, daß es die verantwortungsbewußten Teile dieses Parlaments gewesen sind, die in den vergangenen Monaten für einen sicheren Handlungsrahmen zugunsten der Mitarbeiter von Sophia Jacoba und der Region gesorgt haben.
Vielen Dank.
({0})
Meine Damen und Herren, da der Parlamentarische Staatssekretär Göhner dankenswerterweise seine Rede zu Protokoll gegeben hat,*) kann ich nunmehr über die Beschlußempfehlungen des Ausschusses abstimmen lassen.
Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt, den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/1623 abzulehnen. Wer dieser Empfehlung des Ausschusses folgen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist diese Empfehlung mit den Stimmen der CDU/CSU bei unterschiedlichem Stimmverhalten der SPD-Fraktion und Ablehnung der PDS/Linke Liste angenommen worden.
Meine Damen und Herren, ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Edith Niehuis, Hanna Wolf, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
EG-Fernsehrichtlinie - Schutz von Minderjährigen
- Drucksache 12/4325 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Frauen und Jugend ({0}) Innenausschuß
Ausschuß für Familie und Senioren
EG-Ausschuß
Zunächst einmal kann ich dem Haus mitteilen, daß die Abgeordneten Frau Dr. Edith Niehuis, Claudia Nolte, Petra Bläss, Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink und Konrad Weiß ihre Reden zu Protokoll gegeben haben.**) Die Frau Staatssekretärin möchte ebenfalls nicht reden, so daß uns keine Wortmeldung mehr zu diesem Tagesordnungspunkt vorliegt. Damit kann ich die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 12/4325 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse beschließen lassen. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall.
*) Anlage 3 **) Anlage 4
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 9 und den Zusatztagesordnungspunkt 3 auf:
9. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Abwasserabgabengesetzes
- Drucksache 12/4272 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuß für Wirtschaft
ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanne Kastner, Dr. Uwe Küster, Dr. Helga Otto, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Bericht an die EG-Kommission fiber Sanierungspläne für Oberflächenwasser, Grundwasser und Trinkwasser in den neuen Bundesländern
- Drucksache 12/4404 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Ausschuß für Gesundheit
Interfraktionelle Vereinbarung ist, für die Aussprache eine halbe Stunde vorzusehen. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall.
Ich erteile das Wort der Abgeordneten Frau Susanne Kastner. Frau Abgeordnete, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute beraten wir in erster Lesung eine Novelle zum Abwasserabgabengesetz, die formal auf einem Gesetzentwurf des Bundesrates bzw. des Freistaates Bayern, in Wirklichkeit aber auf einem Kabinettsbeschluß der Bundesregierung basiert.
Umweltminister Töpfer hat diese Novelle mit den Schlagworten „zusätzliche Investitionserleichterung für die neuen Länder" und „Anreizwirkung für Gewässerschutzmaßnahmen" in der Öffentlichkeit verkauft. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist leider wieder einmal ein Etikettenschwindel des Umweltministers.
({0})
Schaut man sich nämlich die Vorschläge zur Änderung des Abwasserabgabengesetzes genauer an, muß man feststellen, daß in Wirklichkeit eine weitere Abschwächung der Anreizwirkung der Abwasserabgaben beabsichtigt ist. Auch die „zusätzlichen Investitionserleichterungen für die neuen Länder" sind äußerst fragwürdig.
Die Kommunen in den neuen und den alten Ländern müssen auf Grund des Wasserhaushaltsgesetzes und der EG-Richtlinien zur Behandlung kommunaler Abwässer die notwendigen Käranlagen bauen und dem Stand der Technik entsprechend modernisieren. Die Umlage der Kosten für die notwendigsten Investitionen in den Trinkwasserschutzgebieten der neuen Länder betragen schon heute über 10 Milliarden DM.
Die Kommunen können dies bei den bestehenden Finanzproblemen nicht mehr leisten, und eine Umlage auf die Bürger würde zu völlig urakzeptablen Abwassergebühren führen.
({1})
Aber darüber haben wir bereits in einer der letzten Debatten ausführlich geredet.
Die Finanzprobleme der Kommunen werden durch diese Novelle aber nicht gelöst. Eine weitere Verwässerung des Abwasserabgabengesetzes geht zu Lasten des Gewässerschutzes, da die wirtschaftlichen Anreize für über gesetzliche Anforderungen hinausgehende gesetzliche Gewässerschutzinvestitionen weiter abgeschwächt werden. Angesichts des riesigen Investitionsbedarfs in den neuen Bundesländern im Abwasserbereich habe ich vollstes Verständnis dafür, daß sich der sächsische Umweltminister, Vaatz, Gedanken darüber macht, wie diese Summen denn nun aufzubringen sind. Die Argumentation seiner Sprecherin im Dresdener Umweltministerium, Barbara Hintzen, ist allerdings ein Schlag ins Gesicht einer vorbeugenden Umweltpolitik. Wenn diese Dame nämlich von „Luxusinvestitionen" in Westdeutschland redet, tut sie dies entweder aus Unwissenheit über den tatsächlichen Stand der Verschmutzung unserer Flüsse oder vielleicht auch aus taktischen Überlegungen.
({2})
Man muß ihr und anderen noch einmal deutlich sagen, daß die dritte Reinigungsstufe Phosphate und Nitrate aus dem Abwasser entfernen soll. Diese Substanzen im Wasser hatten und haben, wie jeder hier hoffentlich weiß, die Algenpest zur Folge und diese - wie vielleicht ebenfalls bekannt ist - z. B. das Robbensterben in der Nordsee.
Nun kann und muß man ja über Verbesserungen des Abwasserabgabengesetzes diskutieren. So einfach aber, wie es sich Herr Vaatz als Verantwortlicher in Sachen Umwelt in Sachsen macht, geht es nun leider nicht. Denn Herr Vaatz sprach sich gestern für eine fünfjährige Aussetzung der EG-Umweltnorm für das Trinkwasser aus und forderte, die Höhe der Abwasserabgabe nicht mehr an Menge und Art eingeleiteter Schadstoffe zu binden, sondern statt dessen eine Pauschalabgabe von einer Mark pro Kubikmeter Abwasser einzuführen.
({3})
In der Tat klingt das vielleicht für viele, auch gerade für die westlichen Kommunen, sehr verführerisch, klagen sie doch angesichts der mangelnden Finanzmittel sehr über die zunehmende Gebühren- und Abgabenbelastung der Bevölkerung. Eine Aussetzung der gesetzlichen Anforderungen des Gewässerschutzes kommt für die SPD aber nicht in Frage;
({4})
denn alles, was wir heute umweltpolitisch verwässern, müssen unsere Kinder in zwei- und dreifacher Höhe zahlen.
Die SPD hat sich bei der letzten Novellierung 1990 für weitgehende Änderungen zur Verbesserung der Wirkung dieses Gesetzes ausgesprochen. Höhere
Abgabensätze und die Einbeziehung der Indirekteinleiter waren zwei wichtige Forderungen. Jetzt schlägt der Umweltminister vor, statt der beschlossenen Anhebung des Abgabensatzes alle zwei Jahre um 10 DM nur noch 1997 einmal auf 70 DM anzuheben.
({5})
- Nein, das ist nicht vernünftig. Die Verrechnungsmöglichkeiten und die Regelungen zur Ermäßigung der Abgaben sollen nämlich ausgeweitet werden, so daß abzusehen ist, daß überhaupt keine Abgabe mehr bezahlt werden muß.
({6})
Das wäre ja erwünscht, wenn keine oder nur stark verminderte Schadstofffrachten in die Flüsse gelangen - aber bitte doch erst dann. So weit sind wir heute noch nicht.
({7})
Die stufenweise Anhebung, alle zwei Jahre um 10 DM, war schon bei ihrer Verabschiedung ein Kompromiß zu der Forderung der SPD nach einer stärkeren Anhebung des Abgabesatzes. Wenn wir jetzt diese stufenweise Anhebung abschaffen und nur noch eine einmalige Anhebung auf 70 DM 1997 beschließen sollten, ist die Anreizwirkung für Unternehmen und Kommunen, zu investieren, um möglichst wenig Schadstoffe einzuleiten, weg.
({8})
- Darauf komme ich nachher noch zu sprechen, Herr Grünbeck.
Der Vorschlag zur Änderung der Ermäßigungsregelung bedeutet eine Vereinfachung der Berechnung und kann von uns mitgetragen werden. Sie sehen, Herr Grünbeck, wir sind hier gar nicht so sperrig, wie Sie im Augenblick tun.
({9})
Schwierig wird es beim dritten Punkt. Hier soll nämlich die 20%ige Minderungsrate aus dem § 10 Abs. 3 als Voraussetzung für die Verrechnungsfähigkeit von Investitionen nicht mehr auf das Gesamtabwasser bezogen werden, sondern auf Teilabwasserströme. Das könnte bei den Einleitern dazu führen, daß beim Gesamtabwasser nur minimale oder keine Reinigungseffekte mehr erzielt werden. Das können und wollen wir aus den eingangs von mir erwähnten Gründen nicht mitmachen. Zusätzlich müssen wir aber auch noch - hoffentlich gemeinsam - in einer Anhörung klären, was die Abkehr von dem Maßstab „Schadeinheit" zu dem Maßstab „Schadstofffracht" bedeutet.
Notwendig ist nach unserer Meinung auf jeden Fall auch eine prozentuale Festlegung für die Minderung der Gesamtschadstofffracht, um das Ziel, durch Klärung der Teilströme gleichzeitig Verbesserungen in der Gesamteinleitung zu erreichen, durchzusetzen. Wenn wir allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Kanalbauinvestitionen, also das, was Firmen und Kommunen in neue Rohrleitungsnetze investieren, in die Abwasserabgabe einbeziehen, wird es keine Einnahmen mehr aus der Abwasserabgabe geben, und - was noch schlimmer ist - dadurch wird kaum ein Rückgang, vielmehr eine Erhöhung bei den eingeleiteten Schadstoffen erzielt.
({10})
Das kann ja wohl nicht im Sinne einer Novellierung sein.
({11})
Für einen grundsätzlich positiven Ansatz, der ein gewisser Investitionsanreiz für westdeutsche Firmen sein könnte, halten wir die vorgeschlagene Kompensationsregelung. Diese Regelung wäre eine Möglichkeit, z. B. auch im Sinne des sächsischen Umweltministers, Gelder für die notwendigen Sanierungen in Ostdeutschland freizumachen. Wenn westdeutsche Firmen ihre Investitionen in den neuen Ländern mit der Abwasserabgabe verrechnen können, ist das für diese Unternehmen sicher ein interessanter und lukrativer Aspekt. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, daß westdeutsche Kommunen zu ähnlichen Investitionen in der Lage sein werden. Auch aus diesem Grund bin ich fest davon überzeugt, daß diese Novellierung ein untaugliches Mittel zur Unterstützung der Kommunen ist.
({12})
Eine am Stand der Technik orientierte Abwasserreinigung ist eines der notwendigsten Ziele in West-und Ostdeutschland, um unser wichtigstes Lebensmittel, das Wasser, sauber zu erhalten und Flüsse sowie Nord- und Ostsee zu sanieren. Aus diesem Grund fordern wir die Bundesregierung und alle Bundesländer auf, die Finanzprobleme der Kommunen durch ausreichende Zuweisungen im Abwasserbereich zu lösen.
Gleichzeitig muß der Bund befristet auch die Investitionsbedürfnisse der ostdeutschen Kommunen positiv begleiten - in der Vergangenheit haben Sie sich in dieser Frage ja immer verweigert -,
({13})
sei es durch ein Zukunftsinvestitionsprogramm oder durch die befristete Weiterführung des Programms „Aufschwung Ost".
Streichungen, wie sie z. B. auch der bayerische Innenminister Stoiber in dem immer noch reichen Bayern im Abwasserbereich angekündigt hat,
({14})
führen dazu, daß der Bürger mit Recht sauer auf die steigenden Gebühren ist.
({15})
- Ja, ich bin überzeugt, daß der Herr Stoiber das
genau durchdacht hat, aber nicht im Sinne des Bürgers. - Das führt dazu, daß sich die westdeutschen
Kommunen auf das Schwachsinnsargument der sogenannten „Luxusinvestitionen" zurückziehen. Das ist eigentlich das Fazit des Durchdenkens des Herrn Stoiber: daß sie nicht mehr den Umweltschutz im Auge haben, sondern sagen, jede Investition wäre eine „Luxusinvestition".
({16})
Dadurch können die ostdeutschen Kommunen notwendige Investitionen nicht tätigen, und so wird die Sanierung der Elbe und der Ostsee, des Rheins und der Nordsee weiter auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben.
({17})
Das würde mittel- und langfristig nicht nur zu Lasten unser aller Gesundheit gehen, sondern auch sehr viel teurer, wenn überhaupt noch bezahlbar, werden.
Ich jedenfalls, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Sie sicher auch, möchte mit meinen Enkelkindern noch in der Nord- und Ostsee baden können. Dazu sind wir heute in der Verantwortung, die notwendigen Schritte zu unternehmen.
Ich danke.
({18})
Als nächstes hat der Kollege Professor Norbert Rieder das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Ansatz der Bundesländer zur Änderung des Abwasserabgabengesetzes durch eine Erweiterung der Kompensationsmöglichkeiten ist hervorragend, vor allen Dingen, da sich gezeigt hat, daß ein akuter Handlungsbedarf u. a. auch am Kanalnetz besteht, das in sehr vielen Fällen so marode ist, daß durch Undichtigkeiten größere Umweltschäden entstehen als durch nicht ganz optimierte Kläranlagen.
({0})
- Die ist sehr gut beweisbar; wir gehen mal zusammen in den Kanal rein.
({1})
Trotz dieses erkannten Mißstandes ist es allerdings richtig, nach wie vor den Schwerpunkt auf den Kläranlagenbau zu legen, weshalb der Vorschlag der Länder, andere Anlagen als Kläranlagen nur zur Hälfte anrechenbar zu machen, ohne Zweifel der Situation genau gerecht wird.
Die Praxis der letzten Jahre hat allerdings gezeigt, daß darüber hinaus weitere Änderungen des Abwasserabgabengesetzes durchaus sinnvoll wären, von denen ich einige etwas genauer beleuchten möchte. So wäre es sicherlich empfehlenswert, den Abgabesatz für die Restverschmutzung nicht so schnell und nicht so hart zu steigern, wie ursprünglich vorgesehen.
({2})
Die Festsetzung der richtigen Höhe eines Abgabensatzes ist ja bekanntlich nicht ganz leicht. Letztlich handelt es sich immer um eine Gratwanderung. Ist der Satz zu hoch, kommt es zu einer unerwünschten Knebelung bzw. zur Geldschöpfung an der falschen Stelle. Das Geld fehlt dann für notwendige Investitionen an anderer Stelle. Ist der Abgabensatz dagegen zu niedrig, hat er keine oder keine ausreichende Lenkungswirkung.
Ähnliche Effekte ergeben sich auch bei nicht richtig angepaßter Steigerung des Abgabensatzes. Ist die Steigerung zu schnell, ergibt sich ein Zwang zur jetzt schon machbaren, aber in der Regel zweitbesten Lösung, während solche Techniken, die sich gerade in der Entwicklung befinden, nicht zum Zuge kommen. Ist die Steigerung dagegen zu langsam, gibt es keinen Anreiz mehr für schnelle Innovationen. Deshalb sind alle Abgaben genau zu beobachten und ständig auf ihre Wirkung hin zu kontrollieren.
({3})
Flexibilität ist notwendig, um notfalls nachkorrigieren zu können.
({4})
- Ach, sie kapiert es schon.
Die ideal konstruierte Abgabe - diese Bemerkung sei mir erlaubt - erledigt sich übrigens nach Erreichen ihres Zieles von selbst: Die Abgabe geht dann gegen Null.
({5})
Bei der Restverschmutzungsabgabe hat es sich nun gezeigt, daß die derzeitige Höhe völlig ausreicht. Eine Steigerung ist deshalb nicht bzw. nicht so schnell nötig, wie ursprünglich geplant. Wer die derzeitigen technischen Entwicklungen etwas verfolgt hat, wird bestätigen können, daß derzeit verschiedene, sehr erfolgversprechende Lösungsansätze für bessere und preiswertere Anlagen zur Verringerung der Restverschmutzung vorhanden sind,
({6})
die allerdings noch etwas Zeit zur Reife brauchen.
({7})
- Ja, die schaffen es noch, die Enkelkinder.
Eine mittlere Doktorarbeit - und auch in diesem Bereich sind Doktorarbeiten ein wesentlicher Motor der Entwicklung - dauert nun einmal drei Jahre. Dieses Zeitraster sollte man, möglichst multipliziert mit zwei, zum Maßstab des Handelns nehmen, wenn nicht gerade eine akute Notlage vorliegt. Sie liegt trotz aller wünschenswerten und auf Dauer auch notwendigen Verbesserungen bei der Restverschmutzung derzeit wahrlich nicht vor. Deshalb kann man auch hier wie in so vielen anderen Fällen die klassische Grenznutzen-, Grenzkosten-Betrachtung anstellen. Das spricht meines Erachtens dafür, in diesem
Punkt den Vorschlag der Bundesregierung ernsthaft in Erwägung zu ziehen.
Ganz ähnlich übrigens ist die Situation beim bisherigen § 10 Abs. 3, nach dem eine Absenkung um mindestens 20 % von einer vorhandenen Verschmutzung gegeben sein muß, um zu einer Verminderung der finanziellen Belastung zu kommen. Solch starke Absenkungen sind in der Regel nur dann leicht zu erreichen, wenn noch ein sehr großes Absenkungspotential vorhanden ist. Je näher sich aber eine Anlage dem optimalen Wirkungsgrad nähert, um so kleiner werden die erreichbaren Fortschritte. Deshalb ist auch hier der Vorschlag der Bundesregierung sehr zu begrüßen,
({8})
auch Teilströme zu betrachten und Verbesserungen in Teilströmen anrechenbar zu machen.
Das ist aber ein ganz wichtiger Schritt hin zur Betrachtung der letztlich einzig entscheidenden Gesamtfracht, die ja, so bald ein kritisches Konzentrationsniveau unterschritten ist, für die Ökologie der Gewässer viel entscheidender ist als die Konzentration.
Damit bietet sich aber auch an, einen weiteren, an sich logischen Schritt in den Beratungen in den Ausschüssen genauestens zu überprüfen und zu überlegen, ob er bereits gegangen werden kann, nämlich die sogenannte Meßlösung. Damit ist gemeint, daß nicht die im Bescheid genehmigte Konzentration, sondern die durch entsprechende Messungen nachgewiesene tatsächliche Fracht den Berechnungen zugrunde gelegt wird.
({9})
Diese Meßlösung, die in der Vergangenheit schon häufiger diskutiert worden ist, u. a. aber an den damaligen meßtechnischen Schwierigkeiten gescheitert ist, sollte ausführlich diskutiert und auf ihre Realisierbarkeit hin überprüft werden. Denn zumindest in Teilbereichen scheint sie heute - anders als noch vor wenigen Jahren - von der Meßtechnik her machbar und könnte deshalb bei richtiger Ausgestaltung zu einer weiteren Verbesserung des ökologischen Zustands unserer Gewässer führen und gleichzeitig den Anstoß zu technischen Neuerungen sowohl bei der Meßtechnik als auch bei den Anlagen geben. Allerdings muß sie so ausgestaltet sein, daß sie wirklich den eben genannten Anforderungen genügt und nicht als billigere Variante eingesetzt wird, um Gebühren zu sparen.
Vielen Dank.
({10})
Nun hat der Kollege Josef Grünbeck das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich für die bisher sachlich verlaufene Diskussion. Worum geht es? Der Bundesrat schlägt als Neuregelung im Abwasserabgabengesetz vor, daß künftig auch die Kosten für
den Bau oder die Erweiterung von Kanalisationen mit der Abwasserabgabe verrechnet werden können. Das ist eine sehr wichtige Entscheidung.
Darüber hinaus schlägt die Bundesregierung vor, eine Verrechnungsmöglichkeit für Investitionen in den neuen Bundesländern zu schaffen. Damit sollen die Investitionsförderungsmittel möglichst dorthin gelenkt werden, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Ich sage Ihnen, diese Entscheidung ist von ganz großer Bedeutung.
({0})
Denn: Wir haben im Moment eine dynamische Entwicklung moderner Technologien, die sowohl bei der Investition als auch bei den Betriebskosten der Abwasserreinigungsanlagen erhebliche Einsparungen ermöglichen werden. Deshalb ist es gut so, wenn wir die Priorität dorthin lenken, wo sie am notwendigsten ist, und dorthin verzögern können, wo möglicherweise durch vorzeitige falsche technologische Entscheidungen den Kommunen Kosten aufgebürdet werden, sowohl bei den Investitionen als auch bei den Betriebskosten. Da geht es um 20 % bis 30 % Kostensenkungen, die erzielt werden können. Eine solche Regelung der Bundesregierung ist ein Schritt in die richtige Richtung und deshalb auch ausdrücklich zu begrüßen.
Was wir vorrangig brauchen, sind nicht die letzten Reinigungsprozente in den alten Bundesländern, in denen die Abwasserbehandlung doch insgesamt einen guten Stand erreicht hat, sondern der Auf- und Ausbau in den neuen Bundesländern. Auch dazu ist die Einbeziehung der Kanalisation in die Verrechnung als positiv zu sehen.
({1})
Die Netze sind in einem derart maroden Zustand, daß beim Abwasser manchmal bis zu 30 % Leckageverluste zu verzeichnen sind, bevor die Kläranlage erreicht wird. Das ist eine erhebliche Gefährdung unserer Grundwasservorräte. Darüber muß man reden und muß es auch energisch in Angriff nehmen. Man muß sich allerdings auch darüber im klaren sein, daß eine Sanierung z. B. der Rohrleitungen allein aus bautechnischen Gründen nicht von heute auf morgen durchführbar ist. Das sollten Sie erkennen. Wir sind bei den Fachleuten, den Ausschreibungsleuten, den Überwachungsleuten tatsächlich auch in den neuen Bundesländern an den Rand der sachlichen Kapazitäten gelangt.
Für wichtig und richtig halte ich auch die von der Bundesregierung vorgeschlagenen Entlastungsmaßnahmen für die Wirtschaft. Vor allem begrüße ich den Vorschlag, daß auch solche Investitionen mit der Abwasserabgabe verrechnet werden können, die zur Verbesserung bei einem Teilstrom des Abwassers führen. Das macht es für Betriebe interessant, auch kleine Umweltschutzmaßnahmen im Abwasserbereich durchzuführen.
Was den SPD-Antrag betrifft, verstehe ich Sie eigentlich überhaupt nicht; denn wir haben mit der EG-Kommission bereits eine Fristverlängerung vereinbart, sowohl was die Analyse des Grundwassers als auch des Oberflächenwassers betrifft. Gemäß der Vereinbarung mit der EG werden die Dinge bis Ende März vorgelegt werden können.
({2})
Ich halte nichts davon, liebe, verehrte und hochgeschätzte Frau Kollegin - ({3})
- Entschuldigung, vielleicht haben Sie als Norddeutscher nicht das Gefühl für süddeutsche Temperamente.
({4})
Aber das macht nichts aus, ich bitte da um Nachsicht; das sollte nichts an meiner Heftigkeit ändern.
Aber es ist natürlich so, daß wir eines nicht machen sollten: Wir müssen achtgeben, daß wir die Menschen nicht unnötig verunsichern und etwa Ängste einlagern, die nicht berechtigt sind.
({5})
- Liebe Frau Kollegin, wir haben uns doch schon ein paarmal so gut verstanden, daß Sie mir heute abend eigentlich kaum noch widerstehen sollten.
({6})
Ich möchte darauf verweisen, daß der Trinkwasserbericht keine ernsthaften Aspekte ausweist, die etwa zu einer hektischen Reaktion führen sollten.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einen Satz zum Klärschlamm sagen. Je besser eine Abwasseraufbereitungsanlage funktioniert, um so mehr werden Sie an Klärschlamm und an Schadstoffen im Klärschlamm erhalten, und die Entsorgung des Schlamms wird immer mehr zum Problem. Bisher wird er überwiegend deponiert; künftig wird er in großem Maße auch verbrannt werden müssen. In der Landwirtschaft kann der Klärschlamm nur verwendet werden, wenn er schadstofffrei ist. Dies ist ein wichtiger Punkt in der Zukunft.Wir müssen uns bewußt sein, daß mit einer qualifizierten Abwasserreinigung die Klärschlammpotentiale mengenmäßig, aber auch schadstoffmäßig stärker ausgeweitet werden. Damit stellt sich die Frage, wie wir das in Zukunft machen können.
Ich warne davor, daß wir etwa der Philosophie nachhängen, die Abwasserentsorgung der Industrie von der der Haushalte abzukoppeln und für beide eigene Anlagen zu errichten. Es gibt entsprechende Tendenzen. Wenn dies realisiert würde, würden Sie merken, daß Sie die Industrie auf Grund von Investitionen mit wesentlich höheren Kosten befrachten, gleichzeitig aber auch die Haushalte mit wesentlich höheren Kosten für ihre Abwasserentsorgung belasten. Die Technik schreitet im Augenblick so dyna12360
misch voran, daß wir mit einer qualifizierten Kanalisation zu einer qualifizierten gemeinsamen Abwasserentsorgung und damit zu einer kostengünstigen Gesamtversorgung kommen können. Darum bitte ich Sie, in dieser Sache fortzufahren. Wir stehen Ihnen gern für weitere Beratungen zur Verfügung.
({7})
Nun hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Wieczorek das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kastner, ich muß mich zunächst einmal an Sie wenden. Ich glaube nicht, daß hier ein versteckter Entwurf der Bundesregierung vorliegt. Vielmehr hat die Bundesregierung versucht, aus einem vielleicht etwas verunglückten Antrag des Bundesrates etwas zu machen. Nebenbei gesagt ist das nicht ein Antrag allein von Bayern. Wenn Sie da einmal nachlesen: Es sind mehrere Bundesländer beteiligt.
Was zeigen der Antrag des Bundesrates und die Gegenäußerung der Bundesregierung? Daß wir auch in den alten Bundesländern einen enormen Nachholbedarf vorrangig im Bereich der Kanalisation, aber natürlich auch im Bereich der Kläranlagen haben und daß wir an einem Punkt angekommen sind, wo wir über das Kompensationsprinzip, das umweltpolitisch einen großen Sinn macht, versuchen, die Fördermittel, die noch zur Verfügung stehen, in den Bereich zu lenken, in dem - es ist von Herrn Grünbeck gerade gesagt worden - große Leckagen bestehen, d. h. über Einlässe aus der Kanalisation diffuse Belastungen des Grundwassers und letztendlich des Trinkwassers entstehen.
({0})
Frau Kastner, ich bin mit Ihnen auch völlig einig, daß wir nicht von Nanogramm oder Mikrogramm auf der einen Seite und von Kilogramm auf der anderen Seite, nämlich in den neuen Bundesländern, sprechen sollten. Wir müssen vielmehr harmonisch im Beitrittsgebiet wie auch in den alten Bundesländern die Gewässerqualität enorm und entscheidend verbessern. Nebenbei gesagt liegen die Herausforderungen natürlich mehr auf der Seite der neuen Bundesländer als der der alten.
Meine Damen und Herren, wenn wir sagen, daß die Kommunen mit ihren Möglichkeiten - ich habe mir erzählen lassen, daß es alte Bundesländer gibt, die solche Anlagen bis zu 90 % und 100 % gefördert haben - am Ende sind, dann müssen wir uns nach neuen Modellen umsehen. Sie werden bestimmt bemerkt haben, daß der Bundesumweltminister versucht hat, Modelle wieder neu aufzuleben und weiterentwickeln zu lassen, die es in den alten Bundesländern einmal gab, nämlich in den Bereich öffentlicher Dienstleistungen privates Kapital zu bringen.
Wir haben in den letzten zwei Jahren einen sehr schwierigen Lernprozeß hinter uns, einen Lernprozeß, der natürlich auch eine Menge schwarzer Schafe auf den Plan brachte. Im Endergebnis können wir Ihnen zu dieser Entwicklung aber sagen, daß es in den neuen Bundesländern im Unterschied zu den alten eben keine Neubauten von Kläranlagen gibt, die nicht grundsätzlich die dritte Reinigungsstufe haben. Ich möchte jetzt nichts über Ableitwerte reden, um nicht einige alte Bundesländer neidisch zu machen. Dieser Lernprozeß und die Unterstützung dieser Konzeptionen im Bundesumweltministerium haben dazu geführt, daß es zu sozialverträglichen Abwassergebühren gekommen ist, die die Bürger jetzt und auch in den folgenden Jahren werden bezahlen können.
Ich kann Sie nur auffordern - damit komme ich schon zum Schluß meiner Ausführungen -, in Anbetracht knapper öffentlicher Haushalte solche Modelle auch in den alten Bundesländern greifen zu lassen und damit auch zu einer entscheidenden Absenkung der Ableitwerte von Abwässern in den nächsten Jahren beizutragen.
Schönen Dank.
({1})
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/4272 und 12/4404 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/4404 soll zusätzlich dem Haushaltsausschuß überwiesen werden. Gibt es dazu eventuell irgendwelche anderweitigen Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit, meine sehr geehrten Damen und Herren, am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 5. März 1993, 9.00 Uhr ein.
Eine schöne gute Nacht.
Die Sitzung ist geschlossen.