Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Sitzung ist eröffnet.
Zu Beginn möchte ich anläßlich des 60. Jahrestags am 30. Januar 1993 eine Erklärung abgeben. - Wir bleiben dabei sitzen.
Am 30. Januar jährte sich zum 60. Mal der Tag, an dem Reichspräsident von Hindenburg Hitler mit der Regierungsbildung beauftragte. Das war das Ende der parlamentarischen Demokratie, die schon zuvor von den Nationalsozialisten heftig bekämpft wurde. Es war der Anfang des Unrechtsstaates und der totalitären Herrschaft.
Auf den 30. Januar folgte eine Zeit des Schreckens und der Verfolgung, die entsetzliches Leid über Deutschland und Europa brachte mit Millionen Toten und Ermordeten. Erst mit der militärischen Niederlage des Dritten Reiches, durch die Schlacht von Stalingrad, vor 50 Jahren eingeleitet, endete das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte.
Nach dem Zusammenbruch der Gewaltherrschaft haben die Mitglieder des Parlamentarischen Rates aus ihren Erfahrungen in der Weimarer Republik und dem nationalsozialistischen Regime heraus das Grundgesetz geschaffen - zur Sicherung von Menschenwürde, Freiheit, Recht und Frieden. Es garantiert menschliche Würde und schließt jede Form von totalitären Ansprüchen aus.
Jede Verfassung ist darauf angewiesen, von den Bürgern, den Parteien und Staatsorganen gelebt, geschützt und verteidigt zu werden. Der Untergang der Weimarer Republik hat uns gezeigt, wie wichtig es ist, daß bei allen politischen Auseinandersetzungen die Demokratie keinen Schaden nehmen darf.
Die Unantastbarkeit der Menschenwürde, der Einsatz für Freiheit, Toleranz, Gewaltlosigkeit - das sind die Werte, für die nicht nur wir Parlamentarier, sondern ebenso auch die Bürger unseres Landes eintreten, zu denen sie sich bekennen. Das haben sie in den letzten Monaten öffentlich sehr deutlich gezeigt. Gewalt und Terror gegen Fremde, Brandanschläge auf Asylbewerberheime und fremdenfeindliche Übergriffe haben uns aufgerüttelt. Wir haben einmal in unserer Geschichte die Gefahr des politischen Extremismus unterschätzt, und Bonn ist nicht Weimar.
Ich möchte diese Erklärung heute morgen zum Anlaß nicht nur für uns Parlamentarier nehmen, sondern auch als Aufruf an alle unsere Bürger und Bürgerinnen: Bei allem Streit im politischen Alltagsgeschäft - schützen wir gemeinsam unseren Rechtsstaat, unsere parlamentarische Demokratie, unser Grundgesetz. Dazu sind wir alle verpflichtet.
({0})
Liebe Kollegen und Kolleginnen, auf der Ehrentribüne hat der Vorsitzende der Volksversammlung der Republik Bulgarien, Herr Dr. Alexander Jordanov, mit seiner Delegation Platz genommen.
Ich freue mich, Ihnen zum Abschluß Ihres offiziellen Besuchs in der Bundesrepublik Deutschland von dieser Stelle aus die guten Wünsche des gesamten Hauses mit auf den Weg geben zu können, und ich begrüße Sie hier ganz herzlich im Namen aller Parlamentarier.
({1})
Wir wünschen Ihnen, daß Sie auf dem Wege zur Demokratie und zur Umgestaltung nicht nur mit den guten Kontakten zu uns Deutschen leben, sondern daß wir weiterhin - wie mit der Aufnahme in den Europarat, der Paraphierung der Assoziierungsverträge und der Ausfüllung des deutsch-bulgarischen Freundschaftsvertrages - unsere parlamentarischen Beziehungen kräftigen und daß Bulgarien erfährt: Es gehört voll in die Völkergemeinschaft. Wir wollen den Erfolg nach dem Ringen um Freiheit in den mittel- und osteuropäischen Staaten. Alles Gute!
({2})
Meine Damen und Herren, jetzt zu den Geburtstagen. Am 27. Januar feierte der Kollege Dr. Hans Modrow seinen 65. Geburtstag. Unseren herzlichen Glückwunsch!
({3})
Einen ebenso herzlichen Glückwunsch an unsere Kollegin Editha Limbach, die am 1. Februar ihren 60. Geburtstag gefeiert hat!
({4})
Nun komme ich zu dem, was unserer Debatte vorausgeht. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
werden. Die betreffenden Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunkteliste aufgeführt.
Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zu den Jüngsten Vorgängen im Kernkraftwerk Brunsbüttel ({5})
Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({6}) zu dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union - Drucksachen 12/3540, 12/3896, 12/4034, 12/4246 Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({7}) zu dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union - Drucksachen 12/3609, 12/3614, 12/3896, 12/4035, 12/4247 Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Vosen, Holger Bartsch, Dr. Ulrich Böhme ({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Kündigung des Regierungsabkommens zum European Fast Reactor ({9}) - Drucksache 12/4256 Darüber hinaus ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 11 - medizintechnische Produkte - ohne Debatte zu behandeln. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenbar der Fall. Dann verfahren wir so.
Ich rufe die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
ZP2 Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({10}) zu dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union
- Drucksachen 12/3540, 12/3896, 12/4034, 12/4246 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heribert Blens
ZP3 Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({11}) zu dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
- Drucksachen 12/3609, 12/3614, 12/3896, 12/4035, 12/4247 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heribert Blens
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann kommen wir zur Abstimmung.
Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen der beiden Gesetze gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlußempfehlungen des Vermittlungsausschusses auf den Drucksachen 12/4246 und 12/4247? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlungen sind bei einer Gegenstimme ohne Enthaltung angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das Inverkehrbringen und die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet
- Drucksache 12/4124 - Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({12})
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur sozialstaatlichen Gewährleistung von Assistenz, Anleitung und/oder Pflege ({13})
- Drucksache 12/4099 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({14}) Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
c) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zur Sondertagung des Europäischen Rates in Birmingham vom 16. Oktober 1992
- Drucksache 12/3784 Überweisungsvorschlag: EG-Ausschuß ({15}) Auswärtiger Ausschuß 1. mb
Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 und 11 auf:
4. a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Nichtanpassusng von Amtsgehalt und Ortszuschlag der Mitglieder der Bundesregierung und der Parlamentarischen Staatssekretäre in den Jahren 1992 und 1993
- Drucksache 12/3344 -
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({16})
- Drucksache 12/4238 - Berichterstattung:
Abgeordnete Otto Regenspurger Fritz Rudolf Körper
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({17}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 12/4239 - Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Deres
Ina Albowitz
Rudolf Purps
({18})
b) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines GesetPräsidentin Dr. Rita Süssmuth
zes zur Änderung des Beamtenrechtsrahmengesetzes
- Drucksache 12/3302 -Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({19})
- Drucksache 12/4240 - Berichterstattung:
Abgeordnete Otto Regenspurger Fritz Rudolf Körper
({20})
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({21}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Farbstoffe, die in Lebensmitteln verwendet werden dürfen
- Drucksachen 12/2257 Nr. 3.63, 12/3998 Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Peter ({22})
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({23}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für einen Beschluß des Rates über einen Aktionsplan zur Einführung fortgeschrittener Fernsehdienste in Europa
- Drucksachen 12/2867 Nr. 2.2, 12/3946 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Joseph-Theodor Blank Hans-Joachim Otto ({24})
Peter Paterna
e) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({25}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 Titel 681 01- Arbeitslosenhilfe -- Drucksachen 12/3903, 12/4148 - Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Diller
Dr. Gero Pfennig
Ina Albowitz
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({26}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 Titel 681 04 - Vorruhestandsgeld für Empfänger in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet -
- Drucksachen 12/3933, 12/4149 - Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Diller
Dr. Gero Pfennig
Ina Albowitz
g) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({27}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 Titel 616 31 - Zuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit -- Drucksachen 12/3919, 12/4150 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Diller Dr. Gero Pfennig
Ina Albowitz
h) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({28}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1992 bei Kapitel 10 02 Titel 656 55 -
Krankenversicherung der Landwirte -- Drucksachen 12/3744, 12/4172 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Bartholomäus Kalb Dr. Sigrid Hoth
Ernst Kastning
i) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({29}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 60 04 ({30}) Titel 547 02 - Maßnahmen der Bundeswehr im Zusammenhang mit internationalen humanitären Hilfsmaßnahmen -- Drucksachen 12/3742, 12/4171 Berichterstattung:
Abgeordnete Adolf Roth ({31}) Ina Albowitz
Helmut Wieczorek ({32})
j) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 86 zu Petitionen
- Drucksache 12/4160 -11. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({34}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über medizintechnische Produkte
- Drucksachen 12/2144 Nr. 2.13, 12/3999 Berichterstattung: Abgeordnete Editha Limbach
Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Wir kommen zunächst zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf über die Nichtanpassung von Amtsgehalt und Ortszuschlag der Mitglieder der Bundesregierung - Drucksache 12/3344. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/4238, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. 11814
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei einer Enthaltung angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 b: Einzelberatung und Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Beamtenrechtsrahmengesetzes, Drucksache 12/3302. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/4240, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei drei Enthaltungen angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei drei Enthaltungen angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 c: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu einem Richtlinienvorschlag der EG über Farbstoffe in Lebensmitteln, Drucksache 12/3998. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! -Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist bei zwei Enthaltungen angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 d: Beschlußempfehlung des Innenausschusses zu einem Vorschlag der EG zur Einführung fortgeschrittener Fernsehdienste in Europa, Drucksache 12/3946. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist bei drei Enthaltungen angenommen.
Tagesordnungspunkte 4 e bis 4 i: Es handelt sich um fünf Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses zu überplanmäßigen Ausgaben im Haushalt 1992. - Frau Höll, ich darf fragen, ob Sie Ihre Erklärung vor der Abstimmung abzugeben wünschen.
({35})
- Dann frage ich jetzt, ob wir über die fünf Beschlußempfehlungen zusammen abstimmen. - Das ist nicht der Fall. Frau Höll, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich gegen die gemeinsame Abstimmung aussprechen, da ich persönlich vier Punkten zustimmen werde, mich aber zu dem letzten Punkt, dem Tagesordnungspunkt 4i, ablehnend äußern werde.
Mit Bedauern verfolgen wir hier in Deutschland die zunehmende militärische Eskalation in Bosnien-Herzegowina. Allerdings sind meines Erachtens - da sehe ich mich in Übereinstimmung mit den Positionen meiner Gruppe PDS/Linke Liste - die Maßnahmen der Bundeswehr in Bosnien-Herzegowina nicht dazu geeignet, den Konflikt zu schlichten; sie bereiten meiner Meinung nach die Legitimation des weltweiten Einsatzes der Bundeswehr vor.
Wir sind dafür, daß humanitäre Maßnahmen zivilen humanitären Organisationen übertragen werden und der Bund diese finanziert. Deswegen werde ich gegen die Beschlußempfehlung stimmen.
Ich danke Ihnen.
Ich werde jetzt einzeln über die Vorlagen abstimmen lassen und beginne mit der Vorlage zu Tagesordnungspunkt 4 e. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/4148? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.
Ich komme zur Beschlußempfehlung zu Tagesordnungspunkt 4 f. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlußempfehlung zu Tagesordnungspunkt 4 f einstimmig angenommen.
Ich komme zur Beschlußempfehlung zu Tagesordnungspunkt 4 g. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sie ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Beschlußempfehlung zu Tagesordnungspunkt 4 h. Wer ist für die Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sie ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Beschlußempfehlung zu Tagesordnungspunkt 4 i. Wer ist für die Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlußempfehlung bei zwei Gegenstimmen und einer Enthaltung angenommen.
Jetzt kommen wir zur letzten Beschlußempfehlung in diesem Zusammenhang, Tagesordnungspunkt 4j, auf Drucksache 12/4160. Es handelt sich um die Sammelübersicht 86. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist diese Beschlußempfehlung bei vier Enthaltungen angenommen.
Tagesordnungspunkt 11: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu einem Richtlinienvorschlag der EG über medizintechnische Produkte, Drucksache 12/3999. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist bei drei Enthaltungen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Walter Franz Altherr, Anneliese Augustin, Dietrich Austermann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hans H. Gattermann, Martin Grüner, Dr. Helmut Haussmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der steuerlichen Bedingungen zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland im Europäischen Binnenmarkt ({0})
- Drucksache 12/4158 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({1})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau EG-Ausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Jung ({2}), Harald B. Schäfer ({3}), Holger Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Programm Energieeinsparung in Gebäuden - Wiedereinführung und Umgestaltung des § 82 a EStDV
- Drucksache 12/2495 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({4})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuß
Für die gemeinsame Aussprache sind nach einer Vereinbarung im Ältestenrat drei Stunden vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster der Kollege Michael Glos.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach dem einigungsbedingten wirtschaftlichen Höhenflug des Jahres 1990 stehen wir zu Beginn dieses Jahres am Rande einer Rezession; ja, man kann schon sagen: mitten in einer Rezession. Zurückgehende Steuereinnahmen, zunehmende Staatsausgaben für Arbeitslosigkeit und enger werdende finanzielle Spielräume für den Aufschwung Ost sind leider die Folge.
Es geht darum, in Gesamtdeutschland bei allen Entscheidungen in Politik und Wirtschaft sowie im privaten Bereich den veränderten gesamtwirtschaftlichen Möglichkeiten Rechnung zu tragen. Wir müssen gleichzeitig die Grundlagen für einen wieder stärkeren Wachstumsprozeß für die Zukunft legen. Mit anderen Worten: Wir brauchen eine deutliche Zurückhaltung bei öffentlichen und privaten Konsumausgaben bei gleichzeiliger Stärkung investiver Elemente. Hier muß der Hauptansatzpunkt für mehr Wirtschaftswachstum in der Zukunft liegen.
Man muß nicht so weit gehen wie der letztjährige Nobelpreisträger für Wirtschaft, Gary Becker. Becker hat vermeintlich nicht ökonomische Dinge wie die Wahl des Ehegatten, die Kinderzahl oder die Verbrechenshäufigkeit auf völlig rationaler Basis zu erklären versucht und auf nutzenmaximierendes Verhalten der Menschen zurückgeführt.
Wenn wir das auf die Wirtschaft übertragen, heißt das doch: Aus purer Menschenfreundlichkeit oder Patriotismus wird kein Unternehmer investieren, auch nicht in den neuen Bundesländern. Es muß die realistische Chance bestehen, daß sich das finanzielle Engagement lohnt. Ist diese Voraussetzung nicht gegeben, darf man sich nicht über eine nachlassende Investitionsdynamik unserer Wirtschaft wundern.
Ich habe in meinem Wahlkreis das Beispiel einer sehr großen Firma erlebt, die sich - auch deshalb, weil man helfen wollte - in den neuen Bundesländern sofort sehr stark und kräftig engagiert hat, dort die Wälzlagerproduktion übernommen hat und in die Rezession hineingeschlittert ist. Die Märkte im Osten sind weggebrochen; die Löhne dort sind zu hoch. Jetzt ist es so weit, daß das gesamte Unternehmen gefährdet ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es muß sich auch lohnen, wenn man investiert. Anders ist es auf die Dauer nicht durchzuhalten. Das heißt: Der Schlüssel für eine stärkeres Wirtschaftswachstum liegt deshalb darin, die Wirtschaft aus dem Würgegriff von zu hohen Löhnen, zu hohen Zinsen und zu hohen Unternehmensteuern zu befreien.
({0}) Genau darauf zielt unser Gesetzentwurf ab.
Hierzu ist es insbesondere erforderlich - das ist der Beitrag, den andere bringen müssen -, daß die deutschen Gewerkschaften, allen voran die IG Metall, stärker als bisher ihrer wachstums- und beschäftigungspolitischen Verantwortung in den alten und vor allen Dingen auch in den neuen Bundesländern gerecht werden.
({1})
Auch der öffentliche Dienst, dessen sichere Arbeitsplätze jetzt ganz besonders zu Buche schlagen, ist hier in hohem Maße gefordert. Ich hoffe, daß heute in Stuttgart die Vernunft siegt und daß man zu einem sehr maßvollen Tarifabschluß kommt, der auch Vorbildwirkung für andere Bereiche hat.
({2})
Alle öffentlichen Haushalte in Deutschland müssen die eigene Nachfrage kräftig beschneiden; ich betone: alle, bis hinunter in die Gemeinden. Nicht alles, was wünschenswert ist, und nicht alles, was prestigebewußten Stadträtinnen und Stadträten oder Gemeinderätinnen und Gemeinderäten gefällt, kann in den nächsten Jahren verwirklicht werden. Wir müssen von der Zinsseite her die Basis für eine stärkere Investitionstätigkeit schaffen.
Die Regierungskoalition ist mit ihrem Föderalen Konsolidierungsprogramm
({3})
auf dem richtigen Weg. Durch Beschneiden von Wildwuchs im sozialen Bereich und durch den Abbau von Steuervergünstigungen
({4})
sollen Einsparungen und Einnahmeverbesserungen in Höhe von 60 Milliarden DM bis 1996 ermöglicht werden.
({5})
- Wenn Sie etwas fragen wollen, melden Sie sich. Diese Zwischenrufe kann ich nicht beantworten.
An diesem Paket - darum sollten Sie sich kümmern - muß sich die SPD messen lassen. Wenn man allerdings an die Presselachnummer Ihres großen Koordinators Oskar Lafontaine in der letzten Woche
denkt, kann man nur zu dem Schluß kommen, daß die SPD dazu nicht in der Lage ist,
({6})
und darüber kann Ihr Geschrei auch nicht hinwegtäuschen.
({7})
- Ja, es war eine gewaltige Lachnummer. Die Journalisten haben gerufen: Nein, nein, bitte aufhören! So wurde es allgemein vermeldet.
Blankes Neinsagen und Hochstilisieren von ein paar alten sozialistischen Neid-Ladenhütern zu einem Programm kann nun einmal keine Alternative sein. Mehr hatte Herr Lafontaine nicht zu bieten.
({8})
- Na, passen Sie auf! Wenn Sie mich schon fragen, dann lese ich Ihnen einmal vor, was anderen eingefallen ist. Ich zitiere dpa von gestern. Der dpa-Korrespondent Joachim Schucht schreibt - ich will nur einen Teil vorlesen -:
Die SPD vermittelt trotz der unverkennbaren Schwächen der Regierung weiterhin nicht das Bild einer kraftvollen Alternative, die aus dem Stand in der Lage wäre, selbst das Ruder zu übernehmen, .. .
Ähnlich wie vor einem Jahr beim Hickhack um die Erhöhung der Mehrwertsteuer agiert die SPD jetzt auch auf der Suche nach einer eigenen Position beim Sozialpakt wenig überzeugend. SPD-Koordinator Oskar Lafontaine zeigt dabei keine glückliche Hand.
({9})
Was da von der Rotlichtaffaire steht, will ich nicht vorlesen.
({10})
Das ist nicht meine Angelegenheit und geht mich nichts an. Ich möchte aber weiter zitieren, und das betrifft Sie, meine Damen und Herren von der SPDFraktion:
({11})
In der Fraktion wird weiter ziemlich hemmungslos gegeneinander gekämpft und intrigiert. In der Außen- und Wirtschaftspolitik fallen die Experten mangels überzeugender Konzepte durch ständige Disharmonien auf.
({12})
Häufiges Opfer von Attacken ist auch der Vorsitzende Hans-Ulrich Klose. Was immer der Fraktionschef tut, eine halbe Hundertschaft von Abgeordneten ist stets dagegen.
({13})
Möchten Sie noch mehr wissen? Es steht da auch viel über den Herrn Engholm.
({14})
- Ich bedaure, gnädige Frau, aber es gibt ständig Zwischenrufe Ihrer Kollegen.
({15})
Da sollten Sie als stellvertretende Fraktionsvorsitzende doch ein bißchen für Ordnung sorgen.
({16})
Sie haben mich herausgefordert. Ich wollte das wirklich nicht vorlesen. Sie wissen, mir fällt so etwas ungeheuer schwer. Ich bitte um Nachsicht, daß ich nicht anders konnte.
({17})
Blankes Neinsagen und Hochstilisieren alter Vorurteile bringt, wie gesagt, nichts. Einerseits fordert man von der Deutschen Bundesbank in Frankfurt ein deutliches Zinssignal, andererseits ist die SPD nicht bereit, an den notwendigen einschneidenden Sparmaßnahmen, die dieses Zinssignal ermöglichen würden, teilzunehmen.
({18})
Die vorgesehenen Eingriffe in staatliche Leistungen sind aber neben einer gemäßigten Lohnpolitik unabdingbar, um für die Deutsche Bundesbank die notwendige Entscheidungsgrundlage für einen Zinssenkungsschritt zu schaffen.
Was nützt es, wenn eine Arbeitsgruppe der SPDBundestagsfraktion - ich habe den Namen noch nie gehört und mußte es den Nachrichten entnehmen - an einem Konzept für die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft arbeitet? Ich finde das sehr begrüßenswert. Der Zwischenbericht scheint auch gut zu sein. Nur: Es fehlen die Konsequenzen aus vernünftigen Diskussionen, und das liegt an der Gespaltenheit der SPD.
({19})
Deswegen, meine Damen und Herren, sind Sie mit Ihrem Verhalten auch ein ganz gewaltiges Investitionshindernis: weil wir ja leider Ihre Zustimmung im Bundesrat brauchen.
({20})
Es wäre viel leichter, wenn wir unsere vernünftigte Politik selbst in die Tat umsetzen könnten. Wir haben zwar auch einige Kritiker in den eigenen Reihen. Aber das ist nicht so schlimm; mit denen werden wir allemal fertig. Aber Sie bringen es überhaupt nicht fertig, Ihre Leute letztendlich auf eine Linie zu bringen. Und das ist unabdingbar nötig, wenn wir endlich wieder Vertrauen schaffen wollen.
({21})
Herr Abgeordneter Glos, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Siegmar Mosdorf?
Aber ja.
Darf ich den neuen Landesgruppenchef der CSU, nachdem er meinen Zwischenbericht zur Standortsicherung so gelobt hat Michael Glos ({0}): Ich freue mich, Sie kennenzulernen! Klingt gut!
Ja, Herr Glos, das ist kein Versäumnis Ihrerseits. Ich bin erst neu im Parlament. Das können Sie nicht wissen.
Nachdem Sie den Zwischenbericht so gelobt haben, darf ich Sie jetzt sehr ernsthaft fragen, weil wir ja über ein ernsthaftes Gesetz reden: Meinen Sie, daß mit diesem Standortsicherungsgesetz, das Sie heute einbringen, wirklich alle Fragen der Zukunftssicherung und der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gelöst sind, was die Standortsicherung in Europa und in der Welt angeht? Das ist meine Frage an Sie.
({0})
Ich halte dieses Standortsicherungsgesetz für einen guten Beitrag dazu. Sonst würde ich mich nicht für dieses Gesetz hierherstellen.
Es gibt noch viele andere komplizierte Fragen. Wir haben uns damit in Fraktionssondersitzungen usw. sehr eingehend befaßt. Ich lade Sie gern ein, unsere Broschüre zu lesen. Darin steht viel Richtiges. Trotzdem sind noch nicht alle Fragen beantwortet; denn wir müssen uns mit der Pflege und Sicherung des Standortes Deutschland noch intensiver befassen und noch mehr als in der Vergangenheit tun.
({0})
Ich darf Ihnen, Herr Kollege, noch einen Tip mit auf den Weg geben, wenn Sie sich ernsthaft mit Wirtschaftspolitik befassen wollen-wir begrüßen es sehr, wenn das die SPD endlich tut -:
({1})
Lesen Sie bei Helmut Schmidt nach! Ich weiß, daß er in dieser Fraktion inzwischen sehr unbeliebt ist. Er hat am 30. Juni 1982 gesagt - er sollte wieder einmal vor der Bundestagsfraktion auftreten; denn das gilt nach elf Jahren immer noch -:
Wer mehr für beschäftigungswirksame Ausgaben des Staates tun will, muß tiefer, nochviel tiefer als wir in die Sozialleistungen reinschneiden.
({2})
Zu einem strikten Sparkurs des Staates gibt es auch aus steuerpolitischer Sicht keine Alternativen. In der jetzigen Phase stotternder Konjunktur dürfen wir die Steuerschraube nicht überdrehen. Die deutsche Wirtschaft ist ohnedies schon mit hohen Kosten und Abgaben belastet, so daß die internationalen Investitionen leider an unserem Land vorüberfließen. Wenn Herr Lafontaine jetzt noch eine Ergänzungs- und Arbeitsmarktabgabe daraufsatteln will, als Summierung neuer Abgaben,
({3})
dann machen wir die Dinge nicht gerechter, sondern gefährden die Arbeitsplätze. - Wissen Sie, ich habe einmal gehört, man soll Zwischenrufe, wenn man sie überhaupt beantwortet, wiederholen, weil das Publikum, das zuhört, die Zwischenrufe nicht versteht. Nun haben Sie dazwischengerufen - und deswegen sage ich das -, daß es auch bei uns andere Stimmen gibt. Das will ich überhaupt nicht leugnen. Aber die Mehrheit hält in dieser Frage Kurs.
({4})
Alle entscheidenden Dinge müssen von der gesamten Koalition vereinbart werden. Es gibt von der F.D.P., von der CSU und vom allergrößten Teil der CDU keine Zustimmung zu einer Arbeitsmarktabgabe.
({5})
Deswegen, meine sehr verehrte Damen und Herren, können wir einzelne andere Stimmen durchaus verkraften. Ich war sehr lange Steuerpolitiker. Da habe ich gelernt: alte Steuer - gute Steuer, neue Steuer - schlechte Steuer. Selbst wenn die alte Steuer noch so hoch war: Man hatte sich prima daran gewöhnt. Wenn man irgendein neues Instrument eingeführt hat, dann war der Teufel im Busch. Deswegen müssen wir mit diesen Forderungen nach neuen Steuern und Abgaben, insbesondere nach neuen Instrumenten, ganz vorsichtig sein; denn die sogenannten Instrumente werden von den Leuten draußen zu Recht nur als Marterinstrumente angesehen.
({6})
Meine sehr verehrte Damen und Herren, weil Sie mich schon als neuen Landesgruppenvorsitzenden angesprochen haben: Ich bin in diesen Tagen sehr oft gefragt worden, wie sind Sie denn eigentlich in die Politik gekommen, und warum sind Sie heute dort tätig?
({7})
- Ich werde sie beantworten.
Ich habe es der SPD zu verdanken, meine sehr verehrten Damen und Herren. Ich muß das hier einmal
sagen. Insbesondere habe ich es Willy Brandt zu verdanken. Ohne Willy Brandt stünde ich heute nicht hier. Sein Gerede vom größeren Schluck aus der Pulle, den wir uns angeblich alle leisten könnten, der gefordert worden ist und der eigentlich der Beginn des Verhängnisses war, daß wir immer tiefer in einen überzogenen Anspruchsstaat marschiert sind, hat mich dazu veranlaßt, auf der Gegenseite einzutreten, um dagegenzuhalten.
({8})
Wir wissen ja noch, daß Willy Brandt am Beginn der 70er Jahre - ich zitiere - die Belastbarkeit der Wirtschaft testen wollte, um mit öffentlichen Mitteln die soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards zu einem Versorgungsstaat sozialistischer Prägung umzubauen. Dieses Modell endete 1981/82 in Rezession und Inflation, und wir werden den Teufel tun, dieses falsche Modell zu kopieren.
({9})
Marktwirtschaftliche Elemente, die sich in der Vergangenheit bewährt haben, sind auch für die Zukunft der richtige Weg, um aus der Misere herauszukommen. Die SPD hat von 1975 bis 1982 sogenannte Beschäftigungsprogramme aufgelegt, die die Steuerzahler mehr als 50 Milliarden DM gekostet haben. Wir zahlen heute noch die Zinsen davon. Das Ergebnis war nicht mehr Beschäftigung, sondern Massenarbeitslosigkeit und Staatsverschuldung. Das sind Tatsachen.
({10})
In den 80er Jahren war es eine übersteigerte Umwelteuphorie, die nicht mir in den Köpfen der Genossen zur Erfindung immer neuer Steuern und Abgaben herhalten mußte. In den 90er Jahren hat die SPD den Wiedervereinigungsprozeß als Vehikel zur Befriedigung sozialistischer Staatsgläubigkeit entdeckt. Es war Hans-Jochen Vogel, der milliardenschwere Soforthilfen für das Modrow-Regime verlangt hat. Der Alt-Juso, Alt-Wirtschaftspolitiker und New-Banker Wolfgang Roth bezeichnete all jene, die sich für steuerliche Entlastungen der Unternehmen einsetzten, als - so wörtlich - vaterlandslose Gesellen. Der Banker Roth wird sich damit natürlich sehr schwer in diese feinen Clubs einführen, in denen hochbezahlte Spitzenbanker jetzt verkehren müssen.
Die Einführung einer Ergänzungsabgabe - so Björn Engholm, Ingrid Matthäus und andere - gehört seit Jahren zum ständigen sozialdemokratischen Repertoire zur Finanzierung.
Leider hören die Sozialdemokraten zuwenig auf Karl Schiller. Das empfehle ich Ihnen aber sehr, Herr Kollege. Er hat erst unlängst wieder vor Steuererhöhungen in der derzeitigen Wirtschaftslage gewarnt. Das darf in der Tat nur das aller-, aller-, allerletzte Mittel sein. Wir können nicht einfach den vermeintlich bequemen Weg gehen. Wir haben eine Steuer- und Abgabenquote, die wieder über die 50 %-Marke hinausgeht, wenn man alles berücksichtigt, was durch staatliche und öffentliche Kassen fließt.
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Das schadet letztendlich dem privaten Wirtschaftsgeschehen und damit den Arbeitsplätzen.
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Ich sage es noch einmal: Wenn Sie Fragen haben, stehen Sie auf und melden Sie sich; lassen Sie die dauernde Schreierei! Frau Präsidentin, ich bin sehr verunsichert. Vielleicht könnten Sie mir helfen.
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Es klingt zwar gar nicht so, als ob Sie verunsichert wären, aber ich unterstütze diesen Wunsch.
Hier wird gleich die erste Zwischenfrage an Sie gewünscht.
Gut. Bitte schön.
Herr Glos, nach der freundlichen Aufforderung, doch konkreter zu werden, würde ich Sie gern fragen, ob Ihnen noch erinnerlich ist, wer die letzte Steuererhöhung durchgeführt hat. Wer ist denn z. B. für die Mehrwertsteuererhöhung verantwortlich?
Passen Sie einmal auf: Erstens ist der Mindeststeuersatz in Europa heraufgesetzt worden, zweitens brauchen wir natürlich Geld für den Aufbau in den neuen Bundesländern. Sie müssen genau sagen, wohin dieses erhöhte Aufkommen fließt. Es dient ausschließlich der Finanzierung des Wiederaufbaus im Osten, bis zur allerletzten Mark.
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Dies hat auch nicht der Bundestag oder die Mehrheit des Bundestages allein entscheiden können, sondern der Bundesrat hat genauso mitgestimmt und sich gottlob staatspolitisch notwendigen Entscheidungen nicht versagt. Das macht mich auch für die Zukunft optimistisch.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte, wenn es geht, doch noch ein paar grundsätzliche Ausführungen zur Steuerpolitik machen. In der Steuerpolitik geht es jetzt weder um das Schließen vermeintlicher Gerechtigkeitslücken noch um unsichere umweltpolitische Experimente, wie von Herrn Lafontaine vorgeschlagen. Es geht bei diesem Standortsicherungsgesetz in allererster Linie um die Verbesserung der Wachstumsbedingungen für die deutsche Wirtschaft und die Stärkung ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Genau hier setzt der Entwurf an, und wir werden alles daransetzen, diesen Entwurf auch in ein Gesetz umzusetzen. Nur wenn der
Motor im Westen rundläuft, kann auch der Karren im Osten aus dem Dreck gezogen werden.
({2})
Die Erfahrungen der 80er Jahre haben gezeigt - ich fordere alle Kolleginnen und Kollegen hier vor mir auf, an den Erfolg der eigenen Politik und an die Erfahrungen zu glauben -, daß mit einer Steuersenkungspolitik ein wichtiger Beitrag zu einer florierenden Wirtschaft geleistet werden kann. Das haben wir am Beginn der 80er Jahre gezeigt. Dies zahlt sich auch in mehr Arbeitsplätzen und dadurch in steigenden Staatseinnahmen aus.
Wir können in dieser Sondersituation dies nicht reinrassig anwenden, aber wenn wir bei den Steuern etwas tun, müssen wir sehr, sehr aufpassen, daß wir nicht die Leistungsträger bestrafen. Wir müssen versuchen, das zu vemeiden.
Bevor wieder die Arie kommt - ich habe leider nicht die Gelegenheit, auf Sie zu antworten, Frau Matthäus-Maier -, Waigel sei der größte Schuldenmacher und was weiß ich alles, möchte ich auf folgendes hinweisen.
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Theo Waigel wäre nach Franz Josef Strauß der zweite Finanzminister in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gewesen, der Schulden hätte zurückzahlen können. Wir, meine sehr verehrten Damen und Herren, bedauern nicht, daß er es nicht konnte, weil die Wiedervereinigung Deutschlands, die wir alle gewollt haben, dazwischengekommen ist.
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Das Standortsicherungsgesetz wird ja für die Wirtschaft gemacht, und die Wirtschaft sind nicht nur die dicken Bosse und was weiß ich, was ihr in euren Feindbildern alles malt, sondern die Wirtschaft sind die Millionen fleißiger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die dort ihren Beitrag leisten und geleistet haben, unser Land wieder aufzubauen, und letztendlich werden sie es auch sein, die die Finanzierung der neuen Bundesländer schaffen. Aber wir müssen ihnen Gelegenheit geben, Arbeitsplätze zu haben, und wir müssen alles tun, um Arbeitsplätze in Deutschland zu fördern gegen eine internationale Konkurrenz, auch gegen eine Konkurrenz um anlagesuchendes Kapital.
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Der europäische Binnenmarkt ohne Grenzen, die volle Freizügigkeit und die Beseitigung administrativer Hemmnisse in der EG führen dazu, daß Standortentscheidungen von Unternehmen zunehmend unter dem Gesichtspunkt getroffen werden, wie stark die aus einer Investition fließenden Unternehmensgewinne mit Steuern belastet werden. Konkret bedeutet dies, bei gleich hoher Produktivität bestimmt die Gesamtsteuerlast die Höhe der Nettorendite einer Investition und damit die Richtung der internationalen Kapitalströme.
Was wir im einzelnen vorschlagen, können Sie dem ausliegenden Gesetzentwurf entnehmen. Ich brauche dies hier nicht alles noch einmal zu sagen. Ich möchte Sie nur bitten, daß Sie insgesamt mithelfen, daß wir das, was für unser Land notwendig ist, auch in die Tat umsetzen können.
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Ich wünsche mir einsichtsfähige SPD-Politiker.
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- Ich zähle Sie nicht dazu, Herr Kollege; Sie brauchen sich nicht betroffen zu fühlen.
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Ich meine einsichtsfähige Politiker wie z. B. den baden-württembergischen Wirtschaftsminister Spöri, der sogar eine noch stärkere Absenkung des Körperschaftsteuersatzes nicht ausschließt. Spöri plädiert auch dafür, die Einkommensteuer für Einzelunternehmen und Personengesellschaften für nicht entnommene Gewinne weiter abzusenken.
Vom niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder stammt der Satz: „Nur wenn es der Wirtschaft im Lande gutgeht und wenn es genug Arbeit gibt, geht es den Menschen gut! " Das läßt hoffen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Ich hoffe, daß sich diese Erkenntnis bei Ihnen herumspricht, daß sie bis in den Bundesrat reicht und daß wir gemeinsam etwas tun, um den Standort Bundesrepublik Deutschland in einer sich wandelnden, unsicheren Welt zu verbessern.
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Als nächste spricht die Abgeordnete Ingrid Matthäus-Maier.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Glos, wie man ein solch ernstes Thema so unseriös behandeln kann, das haben Sie eben gezeigt.
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Das war eine verpaßte Gelegenheit.
Standortsicherungsgesetz - dieses Wort, meine Damen und Herren, muß man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen:
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Da ist die Regierung Kohl zehn Jahre im Amt, und inzwischen ist der Standort Deutschland offenbar so schlecht geworden, daß nun ein Sicherungsgesetz her muß!
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Aber keine Bange: Trotz der Wirtschaftsminister Bangemann, Haussmann, Möllemann und trotz Bundeskanzler Kohl ist Deutschland nach wie vor ein erstklassiger Wirtschaftsstandort. Das haben doch erst im letzten Jahr das renommierte Schweizer Weltwirt11820
schaftsforum und das Schweizer Internationale Institut für Managemententwicklung bestätigt. Sie haben Deutschland unter 37 Staaten auf Platz zwei gesetzt.
Dennoch gibt es Gefahren. Aber die liegen ganz woanders, als Sie mit ihrem Gesetzentwurf glauben machen wollen. Wir haben in der Tat ein massives Standortproblem in Deutschland, und das liegt in Ostdeutschland. Dort sind oft 30 bis 40 % der Menschen ohne Arbeit.
Wir haben konjunkturelle Probleme - wie überall auf der Welt. Wir sind in einer Rezession. Und wir haben ein strukturelles Problem: die enormen Schulden der öffentlichen Kassen. Mit einer schuldenfinanzierten Ausgabenpolitik haben Sie vorübergehend zusätzliches Wirtschaftswachstum im Westen ermöglicht. Aber diese Scheinblüte auf Pump ist jetzt vorbei.
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Daß der Wirtschaftsstandort Deutschland auch in Zukunft sicher bleibt, ist eine Daueraufgabe der Politik. Wer das will, muß aber die Debatte über die wirklichen Probleme führen und nicht vordergründig über Steuern und Steuersätze.
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Wir müssen einen breiten gesellschaftlichen Dialog darüber in Gang setzen, wie Deutschland in das nächste Jahrtausend gehen soll, welche Stärken dafür ausgebaut und welche Schwächen beseitigt werden müssen.
Was sind denn die wirklichen Probleme für den Wirtschaftsstandort Deutschland, die angepackt werden müssen?
Wir brauchen dringend den Solidarpakt für den Aufbau der neuen Länder mit einem Zukunftsinvestitionsprogramm Ost. Die weitere Entindustrialisierung Ostdeutschlands muß gestoppt werden.
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Der Staatshaushalt muß konsolidiert werden. Die Staatsschulden sind aus dem Ruder gelaufen. Eine niedrigere öffentliche Kreditaufnahme ist auch Voraussetzung dafür, daß die Bundesbank endlich die Leitzinsen senkt.
Die Unternehmer brauchen wieder Sicherheit für ihre Investitionsentscheidungen. Das nicht enden wollende Finanzchaos dieser Bundesregierung muß aufhören. Wir brauchen wieder eine Finanzpolitik, die Vertrauen verdient und auf die sich Wirtschaft und Verbraucher verlassen können, meine Damen und Herren.
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Die Geldentwertung muß gestoppt werden. Die Inflationsrate ist - nicht zuletzt durch die kürzlich erfolgte Mehrwertsteuererhöhung - mittlerweile auf 4,4 % angestiegen. Die Sorgen um die Stabilität der D-Mark nehmen zu, und das ist selbstverständlich auch eine schwere Belastung für die gerade stattfindenden Tarifverhandlungen.
Der internationale Abwertungswettlauf zu Lasten unseres Exports muß gestoppt werden. Die GATT-Verhandlungen müssen schnell und erfolgreich abgeschlossen werden. Wenn GATT schiefgeht, dann ist das für unsere exportorientierte Wirtschaft eine Katastrophe.
Die Genehmigungsverfahren müssen beschleunigt und entbürokratisiert werden. Sie haben sich zu einem Investitionshindernis entwickelt, und ich bin froh darüber, daß wir gemeinsam beschlossen haben, das Gentechnikgesetz in diesem Sinne zu verändern.
Schließlich: Junge Leute müssen früher ins Berufsleben kommen. Durch lange Schul- und Studienzeiten und manchmal praxisferne Ausbildung vergeuden wir unser wichtigstes volkswirtschaftliches Kapital, nämlich unser Humankapital. Dafür wird man im Laufe des Arbeitslebens stärker zu Weiter- und Fortbildung kommen müssen.
Wir müssen auf allen Ebenen unsere Anstrengungen für Forschung und Entwicklung verstärken.
Meine Damen und Herren, anstatt sich mit diesen wirklich brennenden Problemen der Wirtschaftspolitik und des Wirtschaftsstandortes Deutschland zu beschäftigen, verengen Sie unter dem hochtrabenden Begriff „Standortsicherungsgesetz" die Aufgabe auf nichts anderes als einige Steueränderungen.
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Ich will mit dem Positiven anfangen: Wir begrüßen es ausdrücklich, daß die Bundesregierung mit der sogenannten Ansparabschreibung endlich die kleinen und mittleren Unternehmen steuerlich besserstellt.
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Jahrelang hat die SPD vergebens im Deutschen Bundestag die Einführung einer steuerfreien Investitionsrücklage für kleine und mittlere Unternehmen gefordert. Schade, daß diese Einsicht bei Ihnen so lange gedauert hat. Wir wünschen uns diese Investitionsrücklage zwar noch mittelstandsfreundlicher; aber es ist jedenfalls ein Schritt in die richtige Richtung.
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Sie wollen außerdem die Spitzensteuersätze bei der Einkommen- und der Körperschaftsteuer senken. Sie begründen das vor allem mit dem Hinweis darauf, das Ausland investiere bei uns zu wenig, während unsere Unternehmen doch sehr stark im Ausland investierten.
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- Dieses stimmt; aber daraus läßt sich doch nicht folgern, daß unser Standort ein schlechter sei.
Richtig ist doch, daß unsere Unternehmen durch ihre Auslandsinvestitionen ihre Wettbewerbsfähigkeit stärken. Wir können nicht die ganze Welt ausschließlich vom Standort Deutschland aus beliefern.
Japan tut das genauso, ja noch stärker als wir. Die japanischen Auslandsinvestitionen sind höher als unsere, und das Ausland investiert in Japan auch nicht mehr als bei uns. Keiner kommt deswegen auf die Idee, daß Japan ein schlechter Wirtschaftsstandort sei.
Im Gegenteil: Dies ist offensichtlich eher ein Zeichen von Stärke, und daher müssen wir unsere Auslandsinvestitionen eher noch steigern, wie es der Deutsche Industrie- und Handelstag vor kurzem festgestellt hat, und zwar vor allem in Asien.
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Was die relativ geringen Auslandsinvestitionen bei uns betrifft, so gilt: Es ist doch für einen Ausländer gar nicht leicht, eine Marktnische bei uns zu finden, die nicht schon von deutschen Unternehmen besetzt ist. Wenn dann aber ausländische Unternehmen in Deutschland einmal Fuß fassen wollen, wehrt sich doch die deutsche Wirtschaft mit Händen und Füßen. Deswegen redet man international - zum Teil sogar vorwurfsvoll - von der Festung Deutschland.
Ich darf es einmal ironisch ausdrücken: Der Vorstandsvorsitzende von Mercedes, Edzard Reuter, geht doch nicht jeden Abend zu Bett mit dem Nachtgebet, zur Stärkung des Standortes Deutschland müsse sich nun möglichst bald eine japanische Autofirma in Baden-Württemberg niederlassen, meine Damen und Herren! Das zeigt, daß es eine verrückte Vorstellung ist, daß unbedingt solche Investitionen bei uns erfolgen müssen und dadurch unser Standort gestärkt wird.
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Sie begründen die Notwendigkeit zur Steuersatzsenkung weiter mit der Behautpung, rund um uns herum seien die Körperschaftsteuersätze niedriger als bei uns. Das ist richtig. Sie wissen aber genausogut wie wir, daß der bloße Vergleich der Steuersätze nicht aussagefähig ist. Die tatsächliche Steuerbelastung hängt doch ganz wesentlich von der Bemessungsgrundlage und damit von den Gewinnermittlungsvorschriften ab. Gerhard Liener, der Finanzchef von Daimler-Benz, gibt unumwunden zu, daß nach dem US-amerikanischen Steuerrecht der Gewinn, den Daimler-Benz zum Beispiel in Amerika versteuern müßte, „regelmäßig, und zwar recht massiv, über dem deutschen Ergebnis" läge; denn, so sagt er, das amerikanische Handels- und Steuerrecht kennt kaum Rückstellungen. So der Finanzchef des größten deutschen Unternehmens. Das heißt doch, meine Damen und Herren: Die niedrigeren US-amerikanischen Steuersätze finden Anwendung auf eine breitere Bemessungsgrundlage und sind deshalb mit unseren Steuersätzen überhaupt nicht vergleichbar,
({13})
die auf eine durch Rückstellungen und Abschreibungen geringere Bemessungsgrundlage Anwendung finden. Die Steuerbelastung ist also materiell gar nicht höher.
Frau Matthäus-Maier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Grafen Lambsdorff?
Frau Matthäus-Maier, wenn Sie in der Tat der Meinung sind, daß die deutschen Unternehmen aus Konkurrenzgründen gar nicht daran interessiert seien, daß ausländische Unternehmen in Deutschland investieren, wie erklären Sie sich dann, daß die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft einhellig die Verabschiedung des Standortsicherungsgesetzes und die Absenkung der Spitzensteuersätze fordern?
Das ist doch völlig klar, Graf Lambsdorff. Jeder will immer Steuersenkungen; das ist so im Leben. Daß Unternehmen Steuersenkungen fordern, das halte ich für selbstverständlich. Aber ich halte es nicht für in Ordnung, daß eine Bundesregierung, die weiß, daß sie kein Geld für Steuersenkungen hat, die weiß, daß sie etwas ökonomisch Unvernünftiges tut, indem sie zur Gegenfinanzierung die Steuerabschreibungsmöglichkeiten für Investitionen veschlechtert, eine solche Klientelpolitik betreibt. Das ist der Fehler bei Ihnen. Daß Unternehmen Steuersenkungen wünschen, das werfe ich ihnen gar nicht vor. Aber ich werfe Ihnen vor, daß Sie eine falsche ökonomische Steuerpolitik machen.
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Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Faltlhauser?
Frau Kollegin, gestatten Sie mir eine Frage vor dem Hintergrund Ihres Amerika-Vergleiches. Würden Sie mir hier bestätigen, daß es zu diesem Thema eine einzige seriöse und fundierte Untersuchung am sogenannten lebenden Objekt gibt, nämlich die vom DIHT, die amerikanische, deutsche und auch viele andere konkret existierende Unternehmen analysiert und dabei zu dem Ergebnis gekommen ist, daß die Abschreibungsbedingungen in diesen Ländern in einem Korridor von 10 % einigermaßen vergleichbar sind, aber die Steuersätze bei uns eindeutig extrem höher als etwa in den USA sind und deshalb die Steuerbelastung im Ergebnis bei uns wesentlich höher ist als in den USA?
Herr Faltlhauser, ich möchte Ihnen ausdrücklich widersprechen. Es gibt nämlich nicht nur die eine von Ihnen genannte Untersuchung, die immerhin von einem Wirtschaftsverband erstellt worden ist, der natürlich - das werfe ich ihm gar nicht vor - auch Eigeninteressen hat. Es gibt eine Vielzahl von Untersuchungen: des DIW, des RWI und vieler einzelner Professoren. Das Ergebnis bei allen ist: Man kann nie allein Steuersätze als Maßstab für die tatsächliche Steuerbelastung heranziehen, sondern man muß gleichzeitig immer die Bemessungsgrundlage heranziehen. Daß offensichtlich nicht nur in Amerika, sondern auch in anderen Ländern die Bemessungsgrundlage sehr viel breiter ist als bei uns,
und daß gerade die Bundesrepublik Deutschland durch die enormen Abschreibungsmöglichkeiten - die zweitbesten nach Irland - ein guter Investitionsstandort ist, wird allgemein überhaupt nicht bestritten.
Wenn Sie sich erinnern, dann wissen Sie vielleicht, wie oft wir in den letzten zehn Jahren die, wie ich finde, im nachhinein völlig verrückte Debatte geführt haben, die Steuersätze bei uns machten addiert fast 70 % aus. Das ist formal richtig. Nur, jedermann, der sich seriös mit diesem Thema beschäftigte, hat gleichzeitig dargestellt, daß, wenn ich die enge Bemessungsgrundlage in der Bundesrepublik Deutschland gegenrechne, die tatsächliche Steuerbelastung sehr viel niedriger ist.
Wenn Sie mir schon nicht glauben, warum glauben Sie dann nicht Herrn Liener - ich habe gerade ihn zitiert -, also dem Finanzchef von Daimler, der wörtlich gesagt hat, wenn Daimler-Benz nach USBilanzierungsregelungen den Gewinn in Amerika ausweisen müßte, dann wäre dieser regelmäßig, und zwar recht massiv, höher als in Deutschland. Ich finde, zumindest dem Daimler-Benz-Finanzchef sollten Sie glauben.
Frau Matthäus-Maier, lassen Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Cronenberg zu?
Ja.
Frau Kollegin, es ist eine Selbstverständlichkeit, daß nicht nur die Steuerhöhe, sondern auch die Bemessungsgrundlage Grundlage des Vergleiches ist. Aber wenn Sie das so betonen, erwecken Sie den Eindruck, als wenn dies in der DIHT-Studie nicht erfolgt ist. Dies ist genau so erfolgt. Deswegen ist der Vergleich doch zutreffend.
Zweite Bemerkung. Haben Sie bei Ihren Überlegungen für den breiten Mittelstand auch mit einbezogen, daß die allermeisten Kirchensteuerzahler sind, die Kirchensteuer eine zusätzliche Steuer auf das Einkommen ist und sich damit die Vergleichsgrundlagen noch deutlicher verschlechtern?
({0})
Ich bitte um Entschuldigung, aber was die Kirchensteuer der Einzelunternehmen mit dem Standort Deutschland zu tun hat, dies ist mir bisher verborgen geblieben. Aber vielleicht unterhalten wir uns darüber an anderer Stelle.
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Die Kirche löst lebhafte Reaktionen aus, aber könnten Sie zunächst antworten?
Ich könnte Sie aus meiner Erfahrung mit dem F.D.P.-Kirchenpapier darauf aufmerksam machen, daß die F.D.P., wie ich finde, damals zu Recht sehr wohl sehr differenzierte Vorstellungen über das deutsche Kirchensteuersystem gehabt hat. Wenn Sie diese in die Praxis umsetzen, ist Ihr Problem sowieso erledigt, Herr Cronenberg.
({0})
Meine Damen und Herren, nun wird darauf hingewiesen, daß Großbritannien in diesen Tagen für Investitionen dort mit dem Hinweis darauf wirbt, daß der Körperschaftsteuersatz dort nur 30 % betrage. Ich frage Sie: Was soll das eigentlich heißen? Wenn Großbritannien wegen dieses niedrigen Körperschaftsteuersatzes solch ein hervorragender Wirtschaftsstandort wäre, dann frage ich mich, warum dort die Arbeitslosigkeit höher, die Inflation höher und das Außenhandelsdefizit höher ist - trotz des Nordseeöls, für das Großbritannien kassiert hat, als wir in der Bundesrepublik Deutschland unter den beiden großen Erdölkrisen litten. Die Qualität des von Frau Thatcher mit Steuersatzsenkungen gesegneten Standorts Großbritannien kann man jeden Tag am Kurswert des britischen Pfundes ablesen.
({1})
Die Nachteile hat die britische Wirtschaft längt erkannt: Die verrottete Infrastruktur in Großbritannien als Folge solcher Steuersatzsenkungen - das Land hatte kein Geld mehr, um die Infrastruktur auf Vordermann zu bringen - stellt z. B. eine ernste Kostenbelastung für die britische Wirtschaft dar. Der britische Industrieverband CBI hat diese Kosten für die britische Wirtschaft erst kürzlich auf rund 15 Milliarden Pfund pro Jahr geschätzt.
Dies sind gerade positive Standortfaktoren der Bundesrepublik Deutschland. Unsere gute Infrastruktur und unser Schul- und Ausbildungssystem kann es nicht zum Nulltarif geben. Deswegen kann Deutschland auch kein Niedrigsteuerland sein.
({2})
Meine Damen und Herren, da Herr Glos wieder von den Löhnen sprach: Der soziale Frieden in Deutschland, ein wichtiger Standortvorteil, ist nicht denkbar ohne die Kooperationsbereitschaft der Arbeitnehmer und der deutschen Gewerkschaften.
({3})
Deswegen kann Deutschland auch kein Niedriglohnland sein.
Wir Sozialdemokraten haben uns trotzdem bereit gezeigt zu einer Steuersatzsenkung bei gleichzeitiger Verbreiterung der Bemessungsgrundlage unter den beiden Voraussetzungen, daß eine solche Reform erstens aufkommensneutral und zweitens ökonomisch vernünftig, sprich: investitionsfreundlich sein muß. Was die Aufkommensneutralität angeht, ist uns der Finanzminister mittlerweile formal gefolgt. Das ist gut so. Offenbar hat die Regierung selber eingesehen, daß für eine Unternehmensteuersenkung kein Geld da ist. Tatsächlich aber ist Ihr Gesetz nicht aufkommensneutral. Bei den Einnahmen haben Sie sich wieder einmal reicher gerechnet, als Sie tatsächlich sind. Das ist leider bei Ihnen so üblich.
Investitionsfreundlich ist Ihre Maßnahme auch nicht; denn einerseits werden durch die Senkung des Körperschaftsteuersatzes nicht nur Investitionen begünstigt, sondern auch reine Finanzanlagen. Andererseits werden durch Ihre Gegenfinanzierung, nämlich die Verschlechteurng der Abschreibungsbedingungen, Investitionen steuerlich schlechter gestellt als bisher. Das ist der wunde Punkt dieses Gesetzentwurfs an dieser Stelle.
Bei dieser Gegenfinanzierung ist der Schaden für Investitionen durch die Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen erheblich größer als jede mögliche positive Wirkung durch Steuersatzsenkung.
({4})
Durch die Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen werden Investitionen in Sachanlagen gegenüber risikolosen Finanzanlagen relativ benachteiligt. Das ist wirtschaftspolitisch widersinnig und paßt insbesondere nicht in die derzeitige Wirtschaftslage; denn Ihren Appellen an die Wirtschaft, sie möge doch in Arbeitsplätze investieren, entziehen Sie durch eben dieses Gesetz die Grundlagen. Warum bestrafen Sie eigentlich Investitionen der Industrie in Arbeitsplätze und begünstigen Finanzanlagen sowie die weniger investierenden Banken, Versicherungen und den Handel - gerade in einer Zeit, da wir mehr Industriearbeitsplätze brauchen, und zwar in West und Ost?
Zu den Stärken unseres Wirtschaftsstandortes gehört doch gerade die Investitionsfreundlichkeit unseres Steuerrechts. Daß Sie diese Investitionsfreundlichkeit des Steuerrechts durch eine generelle Steuersatzsenkung verschlechtern, nämlich auch zugunsten von Finanzanlagen, ist ökonomisch ein schwerer Fehler. Die Wirtschaft sieht das doch größtenteils genauso. Deshalb wehren sich die Vertreter der Wirtschaft gegen die steuerliche Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen. Nur diejenigen, die aus kurzsichtigen Gründen an einer Senkung der Steuersätze interessiert sind, haben Sie noch auf Ihrer Seite.
Dabei hoffen diese Teile der Wirtschaft im übrigen unverhohlen darauf, daß die Gegenfinanzierung in Form der Abschreibungsverschlechterungen schon bald wieder eingesammelt wird, weil diese Operation kontraproduktiv und daher nicht mehr aufkommensneutral ist. Übrig bliebe dann eine Steuersenkung ohne Gegenfinanzierung, mit dem Ergebnis, daß dem Staatshaushalt jedes Jahr mindestens 9 Milliarden DM fehlen.
(Beifall bei der SPD]
Dann hätten wir wie schon 1990 eine Steuersenkung auf Pump. Das ist wirklich das Unvernünftigste, was man in dieser Situation machen kann.
({5})
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Ein wesentliches Element Ihres Gesetzentwurfes ist außerdem die Senkung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer für gewerbliche Einkommen von 53 auf 44 %. Sie sagen immer, dieser Spitzensteuersatz sei im internationalen Vergleich zu hoch. Das „Handelsblatt" hat dazu eine interessante Übersicht veröffentlicht. Danach sind die Spitzensteuersätze z. B. in Dänemark, Japan, den Niederlanden, Belgien, Italien, Frankreich und Spanien höher als der deutsche Spitzensteuersatz von 53 %. Zum Beispiel hat Japan bei der Einkommensteuer einen Spitzensteuersatz von 65 %. Das „Handelsblatt" kommt bei diesem Vergleich zu dem Ergebnis: „Die Bundesrepublik Deutschland liegt also hinsichtlich der Einkommensteuerbelastung durchaus nur im Mittelfeld."
Mir ist klar, daß wir in Deutschland im Unterschied zu anderen Ländern einen starken Mittelstand haben; und das ist gut. Er wird nach der Einkommensteuer besteuert. Wir wollen diese Mittelständler nicht in eine andere Rechtsform drängen. Aber liegt es dann nicht auf der Hand, ihnen eine Option für die Körperschaftsteuer einzuräumen,
({7})
damit sie gegenüber Körperschaften nicht benachteiligt werden, statt den Spitzensteuersatz zu senken?
Meine Damen und Herren, Sie gehen den falschen Weg. Sie senken statt dessen den Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer. Im übrigen sagen Sie ganz offen, daß die Begrenzung auf die gewerblichen Einkünfte nur vorübergehend ist. Meine wiederholte Kritik, daß bei einer generellen Spitzensteuersatzsenkung auch noch die Handwerker die Steuersenkung für Heino zahlen würden, hat bei Ihnen offensichtlich Wirkung gezeigt. Sie haben sie dann reduziert; aber jedermann weiß, und Sie sagen es offen: Sie wollen eine generelle Spitzensteuersatzsenkung. Das ist nur eine Frage der Zeit.
({8})
Als Begründung für die Senkung des Spitzensteuersatzes bringen Sie vor, Leistung müsse sich wieder lohnen, und Leistungsträger müßten steuerlich entlastet werden. Gleichzeitig lassen Sie den steuerlichen Grundfreibetrag für die Millionen kleineren und mittleren Verdiener - die Arbeitnehmer - miserabel niedrig und senken daher die Steuern für diese Menschen nicht.
Wenn Sie aber - so Ihre Begründung - für die Leistungsträger dieser Gesellschaft die Steuern senken, dann ist daraus zu schließen, daß aus Ihrer Sicht nur die Menschen Leistungsträger sind, die mehr als 240 000 DM im Jahr verdienen.
({9})
Wollen Sie denn sagen, daß die Millionen Arbeitnehmer und Handwerker keine Leistungsträger sind? Warum senken Sie für sie die Steuern nicht?
({10})
Unglaublich ist auch, wie Sie in Ihrem Standortsicherungsgesetz mit den vielen kleinen Handwerkern und Selbständigen umgehen. Welcher Handwerker verdient denn mehr als 240 000 DM, so daß er in den Genuß der Spitzensteuersatzsenkung käme? Der normale Handwerker zahlt durch die Verschlechterung
der Abschreibungsbedingungen die Steuersatzsenkung für die Großen. Das ist wirtschaftspolitisch falsch und mittelstandsfeindlich.
Zu Ihrem Vorschlag einer Spitzensteuersatzsenkung frage ich Sie: Wie wollen Sie den Menschen eigentlich klarmachen, daß Sie Steuern auf Gewinne senken wollen, die einem Unternehmen entzogen und z. B. für den Kauf einer Hazienda in Brasilien gebraucht werden? Daß der Ministerpräsident von Bayern dort gerne Urlaub macht, kann wirklich kein überzeugendes Argument für eine solche Spitzensteuersatzsenkung sein.
({11})
Merken Sie denn überhaupt nicht, wie sehr Sie das soziale Klima in unserem Land vergiften, wenn Sie auf der einen Seite den Spitzensteuersatz für Einkommen über 240 000 DM im Jahr senken, während Sie auf der anderen Seite in Ihrem famosen Vorschlag für einen Solidarpakt von den Arbeitslosen, den Wohngeldempfängern, den Wehrpflichtigen und den Rentnern einen Solidarbeitrag einfordern? Was erwarten Sie eigentlich von Gewerkschaften, die mitten in schweren Tarifauseinandersetzungen stehen,
({12})
wenn Sie von denen maßvolle Tarifabschlüsse verlangen und gleichzeitig für Einkommen über 240 000 DM die Steuern senken?
({13})
Nein, meine Damen und Herren, Sie gefährden mit diesem Vorschlag den sozialen Konsens. Der soziale Konsens ist einer der wichtigsten Standortvorteile für die Wirtschaft in Deutschland, ein Standortvorteil, um den uns die meisten anderen Länder beneiden. Die Bundesregierung ist dabei, diesen Standortvorteil mutwillig zu verspielen, zum Schaden unserer Menschen und zum Schaden unserer Wirtschaft.
({14})
Am besten wäre es, die Bundesregierung zöge diesen Gesetzentwurf zurück.
({15})
Legen Sie ein neues Gesetz vor, das diesen Namen verdient! Dieses Gesetz findet so unsere Zustimmung nicht. Es ist ökonomisch unvernünftig, finanziell zu teuer, und es verschärft die Gerechtigkeitslücke in unserem Land. Und das ist das letzte, was uns noch gefehlt hat.
Ich danke Ihnen.
({16})
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Hermann Otto Solms.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach dieser Rede von Frau Matthäus-Maier bin ich - das muß ich ehrlich sagen - etwas enttäuscht.
({0})
Ich weiß nicht, wie lange Sie, Frau Matthäus-Maier, dieser Aufgabe nachgehen. Jedenfalls haben Sie nichts dazugelernt.
({1})
Es ist immer wieder die gleiche ideologische Diskussion, durch die Gruppen der Gesellschaft aufeinander oder gegeneinander gehetzt werden sollen.
({2})
Worum geht es denn eigentlich? Wenn Sie sagen, daß wir eine Klientelpolitik betreiben, indem wir Steuersätze senken, dann sage ich: Das mag sein; aber das ist eine Klientelpolitik für die Beschäftigten in Deutschland.
({3})
Was wir wollen, sind mehr Investitionen und mehr Arbeitsplätze. Wer sich mit der Sache beschäftigt, muß überlegen: Wie werden Investitionen nach Deutschland gezogen? Wie werden Investitionen angeregt? Sie werden nicht dadurch angeregt, daß Sie die Leute gegeneinander aufhetzen, Neidkomplexe auslösen und verschärfen,
({4})
sondern sie werden dadurch angeregt, daß Sie Menschen dazu bringen, sich zu engagieren, ihr gespartes Kapital einzusetzen, zu investieren, risikobereit zu sein und etwas für die gesamte Volkskwirtschaft zu tun.
({5})
Das ist ein ganz anderer Ansatz.
Wir befinden uns, meine sehr verehrten Damen und Herren, nach der längsten Aufschwungphase in der Geschichte der Bundesrepublik jetzt in einer Konjunkturschwächephase; kein Zweifel. Doch das ist keine Überraschung. Es gibt vielleicht manche im Lande, die geglaubt haben, es gebe keinen Konjunktureinbruch mehr. Aber natürlich bleiben die Konjunkturzyklen erhalten. In den anderen Industrieländern war der Abschwung schon seit anderthalb Jahren sichtbar.
Die Konjunkturkrise trifft uns natürlich in einer besonders schwierigen Situation, weil wir die Aufgabe haben, eine völlig neue Wirtschaftsordnung - eine marktwirtschaftliche Ordnung - in den neuen Bundesländern aufzubauen, und weil es sich in der Konjunkturkrise zeigt, daß auch im Westen struktuDr. Hermann Otto Solms
reale Probleme bestehen, die vielleicht nicht früh genug bekämpft worden sind.
({6}) - Sicher; das gibt es in vielen Fällen.
Es geht also darum, jetzt in dieser schwierigen Situation die Standortbedingungen so zu gestalten, daß wieder Investitionen verstärkt in Deutschland stattfinden. Nur Investitionen sorgen für Beschäftigung und Wachstum. Zusätzliche Investitionen sind der Angelpunkt der Wirtschaft. Nur durch mehr Investitionen schaffen wir Aufschwung im Osten, schaffen wir mehr Arbeitsplätze, überwinden wir die Rezession, bewältigen wir den Strukturwandel.
({7})
Investitionen sind die Voraussetzungen auch für die Konsolidierung der Haushalte. Wir müssen die bestehende Investitionslücke schließen.
({8})
Das ist die zentrale Aufgabe, die sich uns stellt, und dabei müssen wir mitwirken.
({9})
Wer davon durch die Diskussion über eine etwa bestehende Gerechtigkeitslücke abzulenken versucht, der verfehlt das Thema. Die Gerechtigkeitslücke ist ein Märchen. Leider haben es zu viele aufgenommen.
Die IFO-Zahlen beweisen das deutlich: Diejenigen, die über 75 000 DM im Jahr verdienen, also 19,3 % der Steuerzahler, tragen zu über 90 % des Einkommensteueraufkommens bei.
Herr Dr. Solms, die Abgeordnete Frau Matthäus-Maier möchte eine Frage stellen.
Einen Moment. - Diejenigen, die unter 75 000 DM verdienen, tragen nur zu knapp 10 % des Einkommensteueraufkommens bei. Das heißt, daß unser progressives Steuersystem den Gerichtigkeitsbeitrag leistet, der hier immer eingefordert wird.
({0})
Bitte schön, Frau Abgeordnete.
Herr Solms, ganz abgesehen davon, daß die Gerechtigkeitslücke heute praktisch von jedermann anerkannt wird und das Wort übrigens nicht von der SPD erfunden wurde, sondern von Verteidigungsminister Rühe,
({0})
möchte ich Sie fragen - das war mein Anlaß -: Sie reden die ganze Zeit von Investitionen, die man verstärken müsse. Da sind wir uns einig. Können Sie mir dann erklären, warum Sie einen Gesetzentwurf vorlegen, bei dem das Investieren relativ - etwa im
Verhältnis zu den risikolosen Finanzanlagen - steuerlich verschlechtert wird?
Frau Matthäus, an Ihrer Frage erkenne ich das Mißverständnis über das Zusammenwirken der Kräfte auf dem Kapitalmarkt. Auch wenn die Banken natürlich nicht direkt gewerbliche Arbeitsplätze schaffen, ist es doch nicht so, daß die Banken - und die Versicherungen genauso - an dem Finanzierungsprozeß für Arbeitskräfte nicht zentral mitwirken. Schauen Sie sich doch einmal an, welchen Beitrag die Kapitalsammelstellen für den Wohnungsbau und den Gewerbebau insgesamt leisten! Es ist also eine sehr verengte Betrachtungsweise, wenn man glaubt, nur derjenige, der direkt im gewerblichen Bereich investiert, leiste einen Beitrag für das Investitionsklima in Deutschland.
({0})
Verteilungskämpfe sind in dieser Situation Gift für die Entwicklung. Sie verschärfen die Investitionslücke und erzeugen damit Arbeitslosigkeit. Verteilungskämpfe zwischen Bund und Ländern, zwischen West und Ost, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zwischen Sozialhilfeempfängern und Beschäftigten können wir uns heute nicht leisten.
({1})
Nicht gegenseitige Schuldzuweisungen sind notwendig, sondern gemeinsames Handeln steht an. Darum geht es jetzt. Jeder muß seinen Beitrag dort leisten, wo er Verantwortung trägt, und es muß endlich aufhören, das jeder sagt, was der andere zu leisten hat:
({2})
der Bund für den Bundeshaushalt, die Länder für die Länderhaushalte, die Gemeinden für die kommunalen Haushalte, sie alle zusammen für die sparsamen Staatsausgaben, die Tarifpartner für die Beschäftigung und schließlich die Bundesbank für Geldmenge, Zinsen und damit für die Stabilität der Währung. Das ist die Aufgabe des Solidarpakts, und daran müssen wir alle mitwirken. Dafür ist das Standortsicherungsgesetz, über das wir heute reden, ein wichtiger Beitrag, aber nur eines der Elemente.
Es geht um die Wettbewerbsfähigkeit des Beschäftigungsstandorts Deutschland. Wie sehen denn die Standortbedingungen in Deutschland beim Vergleich mit den anderen Wettbewerbsländern aus, insbesondere seit wir den Gemeinsamen Markt haben und dem verschärften Wettbewerb ausgesetzt sind? Ich will nur einige Standortfaktoren nennen. Wir haben die kürzeste Arbeitszeit der Welt, wir haben im Durchschnitt 30 Urlaubstage, 15 Feiertage und durchschnittlich 20 Krankheitstage im Jahr. Die deutschen Arbeitnehmer scheinen die kränksten der Welt zu sein, und wir haben gleichzeitig das teuerste Gesundheitssystem der Welt und angeblich, überall gespriesen, auch mit das beste.
({3})
Besonders krank sind sie zufälligerweise montags und freitags. Es stellt sich die Frage: Stimmt an dem System etwas nicht? Wird vielleicht sogar die Krankheit gegenüber der Beschäftigung belohnt?
Wir haben nicht nur die kürzesten Arbeitszeiten, wir haben auch die kürzesten Maschinenlaufzeiten in Europa. Das zusammen kann nicht gutgehen. Wenn man menschliche Arbeit durch maschinelle Arbeit ersetzt, d. h. kapitalintensiv wirtschaftet, muß man die Maschinenlaufzeiten natürlich verlängern. Nur dann kann man sich für die Menschen kürzere Arbeitszeiten leisten.
({4})
Wir sind das einzige Land, in dem ernsthaft darüber diskutiert wird, daß man durch weniger Arbeit das Sozialprodukt steigern könne. Das zeigen die gegenwärtigen Tarifverhandlungen im Metallbereich. Das wird in keinem anderen Land für möglich gehalten.
Wir haben gleichzeitig die höchsten Arbeitskosten der Welt: pro Stunde 40,48 DM. Der dramatische Lohnstückkostenanstieg aus den vorangegangenen Lohnrunden hat unserer Wettbewerbsfähigkeit schwer geschadet. Die Personalzusatzkosten betragen im Durchschnitt bereits 83,8 % des Bruttoentgelts.
Die Abgabenquote ist gestiegen; die Steuerquote ist mittlerweile wieder bei über 25 %; die Staatsquote ist wieder auf über 50 % gestiegen, obwohl es uns in den 80er Jahren gelungen war, sie von über 50 % auf 45 % zu senken. Das sind teilweise unvermeidliche Entwicklungen durch die deutsche Einheit. Nur: Wir müssen jetzt auf den Pfad der Tugend zurückkehren.
({5})
Bundestag und Bundesrat sind schließlich für die gesetzlich normierten Standortbedingungen verantwortlich. Die Tarifpartner dagegen sind für die Lohnkostenentwicklung verantwortlich und damit in erster Linie für die Beschäftigung. Wenn die IG Metall an den geplanten Lohnsteigerungen im Osten mit über 25 % und 30 % in diesen beiden Jahren festhält, dann kann man den Plan vergessen, dort in nennenswertem Umfang Industriestandorte zu erhalten.
({6})
Die Tarifpartner sind zentral verantwortlich für die Massenentlassungen, die insbesondere im Metallbereich im Westen bevorstehen und von denen Sie täglich in der Zeitung lesen.
Der Anreiz für mehr Beschäftigung muß jetzt erhöht werden. Lohnersatzleistungen und Sozialhilfe müssen ausreichend sein. Sie müssen aber einen Mindestabstand zum Einkommen der aktiv Beschäftigten halten. Es kann nicht richtig sein, daß - wie es jetzt in den neuen Bundesländern teilweise der Fall ist - Sozialhilfeempfänger ohne Arbeit mehr Einkommen erzielen als aktive Arbeitnehmer. Der Mißbrauch des Sozialsystems muß überprüft und abgebaut werden.
({7})
Wir müssen uns nur in Europa bei unseren Wettbewerbern umsehen. Dort gibt es auch ohne Wiedervereinigung drastische Sparprogramme, auch im Sozialsystem und auch in Ländern, die sich gerühmt haben, das beste Sozialsystem zu haben, beispielsweise Schweden und Finnland.
Die steuerliche Belastung von Arbeitsplätzen muß reduziert werden. Das Standortsicherungsgesetz ist deshalb ein wichtiger Baustein, aber auch nur e i n Baustein für den Solidarpakt, in den dies alles einmünden soll.
Frau Matthäus, auch der Steuersatz ist nur e i n Standortfaktor, aber er ist eben ein wichtiger Faktor, wie uns auch die Gespräche mt international investierenden Unternehmen zeigen. Ich habe kürzlich ein Gespräch mit Herrn von Kuenheim von BMW über die Frage geführt, was ihn dazu gebracht hat, die Entscheidung zu treffen, in den Vereinigten Staaten zu investieren. Er hat gesagt: Wir haben ganz gründliche Berechnungen durchgeführt und kommen unter Einbeziehung aller Faktoren - Steuern, Abgaben, Arbeitskosten und ähnliche Dinge - zu dem Ergebnis, daß wir in den Vereinigten Staaten mindestens 30 % niedrigere Produktionskosten haben und diesen Vorteil auf Dauer nicht durch Importe ausgleichen können. Man muß dann am Standort dort, im Markt, investieren.
Unser Steuersystem hat ja paradoxe Auswirkungen. Diejenigen, auf die es am meisten ankommt, die Gewerbetreibenden, die die meisten Arbeitsplätze zu Verfügung stellen, werden am höchsten belastet. Diese Unternehmen müssen neben der Einkommensteuer und der Kirchensteuer - soweit sie diese bezahlen - bzw. der Körperschaftsteuer noch Gewerbeertragsteuer und neben der betrieblichen Vermögensteuer noch die Gewerbekapitalsteuer zahlen. Das führt zu einer Steuerbelastung von nahezu 70 %.
({8})
Das sind etwa 25 % höhere Steuern als die Höchststeuerbelastung aller anderen. Das bedeutet, daß maximal 30 % übrigbleiben, um das Kapital zu bedienen und dann noch die Nettoinvestitionen zu finanzieren. Das reicht nicht aus.
({9})
Die Entwicklung hängt von der Investitionsquote ab. Dafür muß mehr Kapital übrigbleiben. Deswegen muß man die Steuersätze senken.
Das Richtige wäre eigentlich, die Gewerbesteuer abzuschaffen. Aber dies geht aus verfassungsrechtlichen Gründen gegenwärtig nicht. Die F.D.P. schlägt vor, daß wir hier eine Verfassungsänderung durchführen und den Gemeinden eine eigenen Anteil an der Umsatzsteuer zukommen lassen. Dann könnte man auf die Gewerbesteuer verzichten. Aber gegenwärtig ist das nicht machbar.
Deswegen wollen wir den Höchststeuersatz bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer für alle, die zusätzlich Gewerbesteuer zahlen müssen, auf 44 % senken. Damit liegt deren Belastung immer noch höher als die der Spitzenverdiener, die keine Gewerbesteuer zahlen. Der damit verbundene Steuerausfall wird allerdings gegenfinanziert werden müssen, weil wir die Reserven im Haushalt nicht haben.
Die Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen bei den beweglichen Wirtschaftsgütern in dieser konjunkturellen Phase ist natürlich bedenklich. Deswegen sage ich nur: Falls es Spielräume geben sollte, muß man über die Frage und auch die AusgeDr. Hermann Otto Solms
staltung der Gegenfinanzierung noch einmal reden können.
({10})
- Ja: Falls; falls.
Uns geht es um die Arbeitsplätze, nicht um die Ideologie. Deswegen sage ich das geradeheraus.
Übrigens, der Kollege Spöri denkt ja in die gleiche Richtung, indem er vorschlägt, den Satz noch stärker, nämlich auf 40 %, zu senken.
({11})
Es zeigt sich, daß jemand, der für die Wirtschaftspolitik in einem Raum Verantwortung trägt, sich sehr schnell den konkreten Problemen zuwenden muß.
({12})
Schließlich eine Bemerkung zur Arbeitsmarktabgabe, die ja von Ihnen und von anderen gefordert wird. Ich sage dazu nur kurz: Eine Arbeitsmarktabgabe, eine Sonderabgabe für einzelne Berufsgruppen, für Beamte und Selbständige, ist nicht nur verfassungswidrig; sie ist ordnungspolitisch verfehlt und kann nicht in Frage kommen.
({13})
Ich danke dem Kollegen Glos, der dies hier auch nachhaltig betont hat. Da stimmen wir völlig überein: Das geht nicht.
Allerdings sollten wir uns mittelfristig mit einer grundlegenden Diskussion über die Aufgaben, die Aufgabenmenge der Bundesanstalt für Arbeit und auch mit der Frage, wie diese Aufgaben finanziert werden, befassen.
({14})
Denn natürlich ist es richtig: Wenn von der Bundesanstalt versicherungsfremde Leistungen ausgeübt werden, müssen sie nicht zwangsläufig vom Beitragszahler bezahlt werden. Dann sind das gesamtgesellschaftliche Leistungen. Sie müßten, wie üblich, vom Steuerzahler bezahlt werden,
({15}) aber nicht durch eine Sonderabgabe.
({16})
Darüber kann man mit Fug und Recht diskutieren.
Der Solidarpakt ist ein Gemeinschaftswerk. Er soll ein Gemeinschaftswerk sein. Das kann nur gelingen, wenn alle gemeinschaftlich daran mitwirken. Die SPD-Opposition, die ja im Bundesrat die Mehrheit hat, kann sich dieser Verantwortung nicht entziehen. Es geht gar nicht ohne den Bundesrat. Das ist eine Selbstverständlichkeit.
Bis jetzt ist der SPD allerdings außer Steuer- und Abgabenerhöhungen nicht viel eingefallen. Ansonsten spricht, wie man sieht, jeder gegen jeden: Lafontaine gegen Engholm, Schröder gegen MatthäusMaier usw. usw., und Spöri gegen alle.
({17})
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren: Die Akrobaten der SPD in der Zirkuskuppel - ratlos.
({18})
Das reicht nicht, meine Damen und Herren von der SPD! Damit werden Sie Ihrer Verantwortung für die deutsche Volkswirtschaft nicht gerecht. Denn es geht darum, mehr Arbeitsplätze zu schaffen und Arbeitsplätze zu sichern. Und Sie sind doch die klassische Arbeitnehmerpartei.
({19})
Was ist eigentlich eine ehrenvollere Aufgabe für Sie, als sich um diese Fragen zu kümmern? Spätestens im Bundesrat werden Sie gestellt. Dann müssen Sie Farbe bekennen; da können Sie nicht davonlaufen. Bereiten Sie sich darauf vor!
Vielen Dank.
({20})
Ich erteile der Abgeordneten Frau Dr. Höll das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Zentrum dieses Gesetzentwurfs steht die Senkung der Spitzensteuersätze für die Körperschaft- und Einkommensteuer. Die Koalitionsfraktionen verbinden mit ihrem uns heute vorliegenden Entwurf die Absicht, über die Begrenzung des Höchststeuersatzes für gewerbliche Einkünfte den Einstieg in eine generelle Steuersenkung für Spitzenverdiener und -verdienerinnen zu finden.
Zwar behaupten CDU/CSU und F.D.P. in ihrer Begründung, die Senkung des Höchststeuersatzes für gewerbliche Einkünfte im Einkommensteuertarif erfolge für eine „Übergangszeit" ; die F.D.P. bejubelte jedoch durch ihren haushaltspolitischen Sprecher den fast wortgleichen Entwurf der Bundesregierung und ließ am 9. Dezember 1992 erklären:
Nur im Interesse der Erhaltung und Sicherung von Arbeitsplätzen in Deutschland ist ein niedrigerer Steuersatz so lange gerechtfertigt, wie eine schwierige Haushaltslage allgemeine Steuersatzsenkungen verhindert.
Damit ist klar, daß der bereits 1990 erfolgten Senkung des Spitzensteuersatzes für die Körperschaftsteuer um 6 Prozentpunkte und der Einkommensteuer um 3 Prozentpunkte weitere Steuergeschenke für die Absahner und Topverdiener folgen werden.
({0})
Der jetzt noch murrenden Klientel der gut verdienenden Freiberufler oder Angestellten, die weiterhin dem Spitzensteuersatz unterworfen sein werden, sollen sich von folgenden sowohl im Referentenentwurf der Bundesregierung als auch im Gesetzentwurf der
Koalitionsfraktionen enthaltenen „abwaigelnden" Formulierung nicht irremachen lassen:
Für Steuerzahler mit anderen als gewerblichen Einkünften ist die Tarifbegrenzung und der zeitweilige Verzicht auf eine Rückgabe von sog. heimlichen Steuererhöhungen ein indirekter Solidarbeitrag zur Finanzierung des Aufbaus in den jungen Ländern.
Sowohl der Gesetzentwurf als auch die eben zitierte Erklärung der F.D.P.-Fraktion verheißen den noch nicht begünstigten Großverdienern Trost und wahrhaft paradiesische Zustände. Sie sind nicht vergessen und werden sicherlich in einem zweiten Schritt bedient werden.
Sollte dieser Entwurf Gesetz werden, könnten ledige Spitzenverdiener, d. h. diejenigen, die gewerbliche Einkünfte in Höhe von 500 000 DM verbuchen, ihre Steuerschuld jährlich um rund 35 000 DM mindern. Verheiratete müßten sich leider mit nur 26 000 DM begnügen. Das sei nur als Vergleich zu der Diskussion über die Sozialhilfe und ihre Höhe gesagt.
Um es noch einmal ganz klar zu machen: Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen kümmern sich mit ihren Entwürfen eines Standortsicherungsgesetzes nachdrücklich und ausschließlich um das Wohl derjenigen, die im Jahr als Ledige über 120 000 DM verdienen.
Diesem Herzensanliegen entspringt auch der Plan, die Erben eines inländischen Betriebsvermögens mit einem Freibetrag von 500 000 DM zu beglücken. Die Bundesregierung gestand in ihrem Referentenentwurf mit erfrischender Offenheit ihre Dreistigkeit und behauptete, durch ihre - so wörtlich - „Maßnahmen zur Schonung des Erwerbs von Betriebsvermögen" werde
das bewertungsrechtliche Spannungsverhältnis zwischen der Bewertung des Betriebsvermögens und der Bewertung des Grundbesitzes mit den niedrigen Einheitswerten weiter abgebaut.
({1})
Zwar haben die Koalitionsfraktionen diese Formulierung nicht in ihren Begründungsteil übernommen, aber an der Absicht der Bundesregierung, die Einheitswerte bebauter und unbebauter Grundstücke nicht den seit der letzten Hauptfeststellung 1964 - also vor 29 Jahren - drastisch gestiegenen Verkehrswerten anzupassen, halten CDU/CSU und F.D.P. eisern fest. Statt endlich für Grundstücke, wie im Bewertungsgesetz 1964 nachzulesen, „gleichmäßige, den Verkehrswerten nahekommende Einheitswerte als Grundlage für eine gerechte Besteuerung zu finden", statt endlich angemessen darauf zu reagieren, daß die zum 1. Januar 1964 festgestellten Einheitswerte bebauter und unbebauter Grundstücke den Verkehrswerten immer weniger entsprechen
({2})
und daß immer gravierendere Verzerrungen auftauchen, fällt der Koalition nichts anderes ein, als nun
auch den Erwerb von Betriebsvermögen steuerlich zu begünstigen.
Der 2. Senat des Bundesfinanzhofs hat ja gegen die Befreiung des Betriebsvermögens gegenüber dem ungekürzten Zugriff auf das übrige Vermögen verfassungsrechtliche Bedenken erhoben. Die Bundesregierung und die Koalition haben das Urteil des Bundesfinanzhofs aus dem Jahre 1988, das in der Privilegierung des Grundbesitzes gegenüber dem Betriebsvermögen und dem Geldvermögen einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz erkannte, so umgesetzt, daß es in sein Gegenteil verkehrt wurde.
Der Finanzminister hat den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts, das Existenzminimum ab diesem Jahr nicht mehr zu besteuern, so interpretiert, daß er für diejenigen, die mit 12 000 bis 15 000 DM nur etwas mehr als die vom Finanzministerium als geringfügig akzeptierten 12 000 DM im Jahr verdienen, faktisch einen Grenzsteuersatz von 60 % eingeführt hat. Dieser Zusammenhang rückt die von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen beabsichtigte Senkung der Einkommensteuer für gewerbliche Einkünfte in genau das richtige Licht.
Auch das Argument, beim Höchstsatz der als angeblich „besonders drückend und damit investitionshemmend" empfundenen Einkommensteuer schneide die Bundesrepublik im internationalen Vergleich ungünstig ab, das CDU/CSU und F.D.P. mit der ihnen eigenen Mischung aus Küchentischpsychologie und Ideologie - das haben wir ja vorhin sehr gut erleben können - permanent verbreiten, hält keiner näheren Nachprüfung stand.
Eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages enthält den von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen immer wieder ignorierten sachdienlichen Hinweis aus der Bevölkerung darauf, daß die Spitzensteuersätze nicht allein unter dem Blickwinkel der absoluten Zahlen zu beurteilen sind. Der jeweils ermittelte Spitzensteuersatz wird nämlich auf eine auf unterschiedlichste Weise ermittelte Bemessungsgrundlage angewandt.
Die meisten der in der Ausarbeitung aufgelisteten europäischen Länder haben nicht nur einen höheren Spitzensteuersatz, sondern auch eine geringere obere Proportionalzone.
Zu den Kalenderweisheiten dieser Bundesregierung und der sie tragenden Koalition gehört jedoch nach wie vor die Mär, daß niedrig besteuerte Profite Arbeitsplätze schaffen würden. Wäre dem so, dann müßte z. B. in der US-amerikanischen Volkswirtschaft Vollbeschäftigung herrschen. Aber trotz eines mit 36,2 % sehr niedrigen Spitzensteuersatzes, der zudem erst ab einem Einkommen von 168 000 DM greift, lassen auch dort wie hier die blühenden Landschaften auf sich warten.
Ich habe namens der PDS/Linke Liste oft daran erinnert, daß die Maßnahmen zur Förderung von Kapitalbildung und Unternehmensgründungen in Ostdeutschland wie z. B. befristete Investitionszulagen, Sonderabschreibungen oder der Verzicht auf Vermögen- und Gewerbekapitalsteuer trotz ihrer zum Teil kumulierenden Entlastungswirkung, die nach
einer Modellrechnung des Bundesfinanzministeriums einer Sofortabschreibung von 100 % entsprach, keine blühenden Landschaften hervorbrachten.
Daß die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung ihren markigen Sprüchen selber keinen Glauben schenken, beweist die mit diesem Gesetzentwurf ebenfalls verfolgte Absicht, nicht nur die Körperschaftsteuer auf einbehaltene Gewinne von 50 % auf 44 % zu senken. Scheint dieses Vorhaben auf die eben erwähnte Scheinlogik zu reagieren, daß zu hohe Steuern die Unternehmer davon abhalten, ihr Kapital national zu investieren, so folgt die ebenfalls geplante Senkung des Steuersatzes für an die Kapitalanleger ausgezahlte Gewinne von 36 % auf 30 % der genau entgegengesetzten Logik. Wer künftig Gewinnanteile aus seiner Beteiligung an einer Aktiengesellschaft oder einer GmbH bezieht, soll weniger Steuern zahlen. Dazu heißt es dann in der Begründung des Gesetzentwurfs:
Dies soll die Attraktivität des Standorts Deutschland im europäischen Binnenmarkt auch für Kapitalanleger verbessern, denen die Herabsetzung des Körperschaftsteuersatzes für einbehaltene Gewinne keine oder nur geringe Vorteile bietet.
Die Bundesrepublik soll wieder zu einer der allerersten Adressen für die Kapitalmassen werden, die auf der Jagd nach dem größten Profit um die Erde vagabundieren.
Eine in diesem Gesetzespaket enthaltene Maßnahme wie die Verlängerung der betrieblichen Sonderabschreibungen in Verbindung mit der kürzlich beschlossenen Verlängerung der Investitionszulage für Ostdeutschland hat zur Folge, daß Rationalisierungsinvestitionen gefördert und mitfinanziert werden. Unter kapitalistischen Verwertungsbedingungen betrachtet, ist eine solche Entwicklung nur konsequent und logisch. Der Konkurrenzdruck zwingt die Unternehmer dazu, das Verhältnis zwischen Produktionsmittel und Arbeitskraft so zu verändern, daß der Preis der Ware Arbeitskraft reduziert werden kann. Dieses kann systemimmanent am effektivsten sowohl durch eine größere extensive wie intensive Ausbeutung der individuellen Arbeitskräfte wie auch dadurch erreicht werden, daß Menschen durch Maschinen ersetzt werden.
In Zeiten wie diesen rentieren sich - auf Grund des hohen Zinsniveaus - Direktinvestitionen trotz zahlreicher staatlicher Investitionszuschüsse weniger als z. B. die Euromarktguthaben bundesdeutscher Firmen und Privatpersonen. Vor allem die kurzfristigen Geldanlagen im Ausland scheinen sich für bundesdeutsche Unternehmen und Privatpersonen zu lohnen. Bundesdeutsche Wertpapieranlagen im Ausland lauten zu einem größeren Teil auf D-Mark und profitieren von den gestiegenen D-Mark-Zinsen.
Die PDS/Linke Liste fordert, Unternehmen über eine Investitionshilfeabgabe sowie Kreditinstitute, Versicherungen und den Handel über eine Zwangsanleihe zur Kasse zu bitten. Die vor allem einigungsbedingt stark gestiegenen Unternehmensgewinne müssen endlich zur Finanzierung eines tatsächlichen
Solidarpaktes - und nicht dessen, was Sie vorlegen: eines Anti-Solidarpaktes - herangezogen werden.
({3})
Diesen Gesetzentwurf lehnen wir ab. Dem Überweisungsvorschlag zum Antrag der SPD auf Drucksache 12/2495 folgen wir.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Werner Schulz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Je schwieriger die Probleme, desto nebulöser die Sprache. Wenn einem schon gar nichts mehr einfällt, Kollege Glos, dann gerät ein humoriger Ansatz schon einmal zur politischen Büttenrede.
({0})
Diese Regierung ist im Begriff, alles in den Schatten zu stellen, und so wird ein Sprachfertigteil nach dem anderen in den grauen Alltag der Politik gerückt.
Begonnen hat diese Irreführung mit der „Allianz für Deutschland". Der nationalen Versicherungsgesellschaft ist allerdings schnell das Geld ausgegangen. Sie hat das angeblich Kleinlaute überhört.
„Fonds Deutsche Einheit" heißt seitdem der Schuldentopf - ein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft -, „Aufschwung Ost" - der industrielle Niedergang -, „Solidarpakt" - der Pappkarton mit leeren Versprechungen, dem genau das fehlt, was er vorgibt. „Solidarität aus Gemeinsinn" ist unter dieser Regierung Gemeinheit geworden. „Erblastfonds" lautet die neueste Erfindung, auch ein Stück eigener Schuldverdrängung. „Standortsicherungsgesetz" ist schließlich ein Gesetzentwurf, der weder zur Sicherung des Industriestandorts Deutschland noch zur Garantie von Arbeitsplätzen noch die Investitionstätigkeit anregt.
Vermutlich haben die meisten Abgeordneten diesen Gesetzentwurf nicht einmal gelesen. Das ist nichts Neues.
({1})
- Ich meine die, die Sie einbringen. Sie fühlen sich offenbar betroffen. Das bestätigt mich in dieser Aussage. Ich darf nur an die vielen Gesetze erinnern, die der Bundestag 1990 verabschiedet hat und deren Resultate wir heute beklagen. Schon damals haben die Abgeordneten der Koalition vieles ungeprüft unterstützt und in Nibelungentreue im Bundestag verabschiedet.
({2})
Anders ist es nicht verständlich, daß die Abgeordneten der Koalition heute einen Entwurf vorlegen, mit dem sie beanspruchen - ich zitiere aus dem Gesetzentwurf - „ihre bisherige erfolgreiche wachstumsorientierte und sozial ausgewogene Steuerpolitik fortzusetzen" . Daran glaubt doch auch bei Ihnen niemand mehr: an eine erfolgreiche Wachstumspolitik. Zur gleichen Zeit spricht Graf Lambsdorff von der schwer11830
Werner Schulz ({3})
sten Rezession seit Gründung der Bundesrepublik, und im Jahreswirtschaftsbericht wird für das laufende Jahr bereits ein Rückgang des Bruttoinlandproduktes um 1 % erwartet. Ebenso muß auch mit einem deutlichen Ansteigen der Arbeitslosigkeit gerechnet werden.
Ich will an dieser Stelle gar nicht auf die Situation in den neuen Bundesländern eingehen. Die Arbeitslosenzahlen haben dort inzwischen die Dimension der Weltwirtschaftskrise der 20er Jahre angenommen.
({4})
Sie sehen all dies als Ergebnis einer erfolgreichen Politik. Wenn das Erfolge sind, meine Damen und Herren, wie sehen dann erst Ihre Mißerfolge aus? Sie können mit Ihrer Orwellschen Newspeach die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr täuschen. Alle wissen, daß die Bundesregierung versagt hat. Niemand traut dieser Regierung mehr zu, daß sie die wirtschaftlichen Probleme lösen kann.
({5})
- Das sehe ich ganz anders, Frau Baumeister. Da wird in der Öffentlichkeit viel Lobendes über uns berichtet, und wir werden das, glaube ich, auch bestätigen.
({6})
Die „Frankfurter Allgemeine" hat zu Recht gestern festgestellt:
Die Zweifel wachsen, daß die Bonner Führung imstande ist, diese Aufgaben zu bewältigen. Das ist der eigentliche Niedergang, und der ist wirklich so schlimm wie nie zuvor in der Bundesrepublik.
Die Bundesregierung scheint dies alles nicht zu kümmern. Sie handelt nach dem Motto „Ist der Ruf erst ruiniert, regiert es sich ganz ungeniert". Meine Damen und Herren, Sie wissen aber, das gilt nur, solange man eine solche Regierung gewähren läßt. Die Zeit dieser Regierung ist abgelaufen. Sie wird sehr bald die Quittung für ihre Versäumnisse erhalten. Und dies nicht nur wegen der Versäumnisse, sondern ebenso für ihre außerordentlich unsoziale Politik. Diese Regierung hat weder Kompetenz noch Skrupel.
Das letzte Beispiel sind die geplanten Maßnahmen im Föderalen Konsolidierungsprogramm. Die vorgesehenen Steuererhöhungen und die drastischen Einschnitte ins soziale Netz werden die schon jetzt bestehenden sozialen Ungerechtigkeiten weiter verschärfen. Gleichzeitig möchte die Regierung jetzt die Steuern für die Unternehmen senken. Stellen Sie sich das doch bitte vor: Da werden die Schwächsten dieser Gesellschaft erneut zur Ader gelassen, während gleichzeitig für die Unternehmen die Steuerschraube gelockert wird.
({7})
Dieser Regierung ist der Sinn für soziale Gerechtigkeit offensichtlich abhanden gekommen, falls sie ihn je gehabt hat, was ich bezweifle.
Natürlich möchte die Regierung nicht unsozial erscheinen. Schon im Föderalen Konsolidierungsprogramm wird das kaschiert. Dort wird behauptet, daß die hohen Einkommen überproportionale Lasten bei den Einsparungen und den neuen Steuern zu tragen hätten.
({8})
Diese Behauptung trifft nicht zu. Vielmehr werden die unteren Einkommensgruppen stärker als die gut Verdienenden belastet.
({9})
Die Berechnung von Herrn Waigel ist unvollständig und verzerrt deshalb das Ergebnis. Es ist nicht das erste Mal, daß wir aus diesem Hause getäuscht werden.
Auch die Behauptungen zum Standortsicherungsgesetz offenbaren den Versuch, die Verteilungswirkungen zu vertuschen. Die Regierung behauptet nämlich, daß die Unternehmensteuersenkungen aufkommensneutral erfolgen würden. Schon eine Betrachtung der ausgewiesenen Zahlen zeigt jedoch, daß in den kommenden Jahren - eine Zeit hohen Finanzbedarfs - die Wirkung der Steuersenkungen und der geplanten Gegenfinanzierung zu hohen Steuerverlusten führen wird, für die bisher keine Kompensation existiert.
Zu erwarten ist dabei obendrein, daß in Kürze die jetzt geplante Rückführung der Abschreibungsmöglichkeiten wieder rückgängig gemacht wird. Dies wäre dann die dritte Stufe der Steuerreform, die den Unternehmen endlich die versprochene deutliche Steuersenkung bringen wird.
({10})
Wir sehen, wie die Unternehmensverbände den Vorschlag der Bundesregierung kommentieren. Zu erwarten ist deshalb eine Revision der Abschreibungsregelung. Die Unternehmensteuerreform der Bundesregierung wird dann zu einer Irreführung in drei Stufen.
Ganz nebenbei: Die geplante Standortsicherung verstößt gegen das Grundgesetz. Die Bundesregierung will nur den Spitzensteuersatz für gewerbliche Einkünfte senken, während die Einkommen anderer Gruppen weiterhin mit dem Spitzensteuersatz von 53 % versteuert werden sollen. Der Bundesfinanzhof hat eine solche Regelung bereits als Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes kritisiert.
Ebenso bedenklich erscheint der Versuch, Betriebsvermögen bis zu 500 000 DM von den Erbschaftsteuern gänzlich zu befreien und darüber hinausgehendes Betriebsvermögen zu einem Teil zu befreien. Auch hiergegen hat der Bundesfinanzhof bereits deutliche Kritik geübt. Es ist in der Tat wenig verständlich, warum das Vermögen eines mittleren Unternehmers
Werner Schulz ({11})
gegenüber anderen Vermögensarten bessergestellt werden soll.
({12})
- Es gibt derart viele Umgehungsmöglichkeiten; da kennen Sie sich wahrscheinlich besser aus.
({13})
Im übrigen: Der Kontrast zu den unsozialen Sparplänen im Föderalen Konsolidierungsprogramm sticht auch hier ins Auge. Diese Maßnahme riecht allzusehr nach einer Begünstigung wichtiger Wählerschichten der Koalitionsparteien.
Bei all dem ist auch der Nachweis der ökonomischen Notwendigkeit für eine solche Reform .ausgeblieben. Wir hören, daß die Regierung mit den geplanten Maßnahmen die Investitionstätigkeit verbessern möchte. Gerade dies scheint damit aber nicht erreichbar zu sein; denn das Konzept bevorteilt gerade die nicht investierenden Unternehmen
({14})
und belastet deutlich die Unternehmen mit höherer Investitionstätigkeit.
Die Kritik des „Handelsblattes" erfolgt zu Recht: Das Standortsicherungsgesetz ist weder standortsichernd noch investitionsfördernd. Ebensowenig ist ersichtlich, wie mit diesem Konzept die Innovations-kraft und die unternehmerische Risikobereitschaft gefördert werden können.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch feststellen, daß das Steuerpaket der Bundesregierung keine Verbesserung für den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern bringen wird. Die Veränderung der befristeten Steuervergünstigungen, die betrieblichen Sonderabschreibungen und die Aussetzung der Gewerbekapital- und der Vermögensteuer sind ein erneuter Ausweis der Konzeptionslosigkeit dieser Regierung.
Mir scheint, daß die Bundesregierung immer noch in der Tradition der Steuersenkungseuphorie der 80er Jahre handelt und nun - schon etwas halbherzig - gegenüber dem Unternehmenssektor ein Versprechen einlösen möchte.
({15})
Die finanzpolitische Situation ist heute jedoch nicht geeignet für Relikte aus dem Arsenal der Reaganomics.
Die Vorschläge aus dem Hause des Finanzministers folgen der einfältigen Philosophie der angebotsorientierten Ökonomie: Senkt die Steuern der Reichen, sie investieren dann mehr, und alle werden glücklich. Bekanntlich war dem Konzept in den USA nur sehr zweifelhafter Erfolg beschieden. Ebensowenig ist heute von einem britischen Wirtschaftswunder zu sehen.
({16})
Der internationale Steuersenkungswettlauf, den die Bundesregierung um eine weitere Facette bereichern möchte, hat vor allem eine Konsequenz: die Erosion der staatlichen Handlungsfähigkeit in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die meisten Analysen belegen im übrigen, daß die Unternehmensteuer in Deutschland, die Gewinn- und Substanzbesteuerung, nicht generell zu hoch sind, sondern sich im internationalen Vergleich - Frau Matthäus-Maier hat das bereits betont - im Mittelfeld bewegen.
Der Produktionsstandort Bundesrepublik ist im internationalen Wettbewerb keineswegs das Schlußlicht. Auch die relativ hohen Auslandsinvestitionen deutscher Unternehmen, auf die gern verwiesen wird, sind kein Zeichen von Standortflucht, sondern vielmehr eine Antwort auf die Globalisierung der Märkte. Mit Investitionen im Ausland sichern die Unternehmen Märkte, umgehen protektionistische Schranken und erschließen sich die Teilnahme am wissenschaftlichen und technischen Fortschritt in anderen Ländern. Dies kann auch mit steuerlichen Anreizen nicht einfach korrigiert werden.
Handlungsbedarf besteht demgegenüber bei den staatlichen Investitionen. Der wirtschaftliche Aufbau in den neuen Bundesländern muß endlich vorankommen. Die Sanierung von Unternehmen und der Aufbau der Infrastruktur sind die dringlichsten Aufgaben.
Gleichzeitig gilt es, den ökologischen Verwüstungen in Ostdeutschland zu begegnen. Dazu werden klare und verläßliche gesetzliche Vorgaben für einen wirksamen Umweltschutz benötigt. Die Umwelt ist ein erstrangiger Standortfaktor. Auch in der Wirtschaft wird zunehmend erkannt, daß hohe Umweltstandards im internationalen Wettbewerb keineswegs nachteilig sind. Sie sind die Grundlage für eine weltweit führende Position auf dem expandierenden Markt für Umwelttechnologien.
Herr Abgeordneter Schulz, ich muß Sie leider darauf aufmerksam machen, daß Sie Ihre Zeit schon deutlich überschritten haben.
Ich hatte vereinbart, daß ich zwölf Minuten sprechen kann.
Mir ist die übliche Zeit von zehn Minuten mitgeteilt worden. Wenn Sie solche Vereinbarungen auch dem Präsidenten zukommen ließen, wäre das sehr liebenswert.
Wir haben zwischenzeitlich gewechselt. Ich habe nur noch zwei Sätze, Herr Präsident.
Bitte sehr.
Die Bundesregierung mißachtet auch andere wichtige Standortfaktoren. Dazu gehören vor allem die berufliche Ausbildung und Qualifizierung der Arbeitnehmer. Vergessen wird der soziale Grundkonsens in der Bundesrepublik.
Die einseitige Entlastung von Unternehmen und Vermögensbesitzern bei gleichzeitiger Belastung anderer Gruppen der Gesellschaft gefährdet den sozialen Frieden. Damit wird die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Bundesrepublik aufs Spiel gesetzt. Die Regierung ist auf diesem Weg schon zu weit gegangen. Ich glaube, es wird Zeit, sie dabei zu stoppen.
({0})
Das Wort hat nunmehr der Bundesfinanzminister Dr. Theo Waigel.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schulz, Sie haben eine bittere, eine böse, eine schlimme Rede gehalten. Wer davon spricht, daß aus Gemeinsinn Gemeinheit wird, der vertieft die Gräben und der erweist der deutschen Einheit einen miserablen Dienst.
({0})
Man kann sich nur wünschen - ich hoffe es -, daß diese Rede nicht übertragen wurde; denn wenn die Menschen, die dabei sind, einen Beitrag von 5 % des Bruttosozialprodukts zur Überwindung der deutschen Einheit zu leisten, das im Moment hören, dann fühlen sie sich von Ihnen verhöhnt und angegriffen. Das vertieft die Gräben, die wir leider haben und die wir versuchen zu überwinden. Sie haben der Einheit Deutschlands und der Sache einen miserablen Dienst mit einer solch schlimmen Rede erwiesen.
({1})
5 % Transfer, 180 Milliarden DM brutto, 130 Milliarden DM netto - einen solchen Lastenausgleich, einen solchen Solidarpakt hat es noch nie in der Geschichte der Völker gegeben.
({2})
Wir sind im Moment dabei, jedem Bürger ökonomisch wie sozial klarzumachen, daß das Bruttosozialprodukt ohne Wiedervereinigung pro Person in Deutschland 44 000 DM beträgt, daß es mit Wiedervereinigung, die Gott sei Dank gekommen ist, nur noch 38 000 DM sind, daß wir im EG-Standard von der zweiten auf die siebte oder achte Stelle abgesunken sind, daß jeder von uns seinen Beitrag leisten muß bei den Löhnen, bei den Gehältern, beim sozialen Standard, bei den Transferleistungen und wo immer. Wenn wir diese Herausforderungen an die Menschen richten und Sie dann sagen, das sei Gemeinheit statt Gemeinsinn - mit den übelsten Vorwürfen, die jede Oppositionssprache übertreffen -, bitte ich Sie nochmals, zu überdenken, ob das mit dem Auftrag, den Sie eigentlich durch Ihre Wahl dem deutschen Volk zugesagt haben, in Einklang zu bringen ist.
({3})
- Ich habe selten eine so demagogische, schlimme, böse Rede gehört, die vorher Gott sei Dank teilweise untergegangen ist.
({4})
- Jawohl, ich sage das, weil Sie zugerufen haben: demagogisch. Den Vorwurf gebe ich Ihnen zurück.
({5})
Meine Damen und Herren, es geht hier nicht nur um die erste Beratung des steuerlichen Standortsicherungsgesetzes. Es geht um mehr: Es geht um die ökonomische und damit um die politische Rolle, die unser Land in der Gemeinschaft der Industrienationen in den kommenden Jahren einnehmen will. Dieses Standortsicherungsgesetz ist Teil eines umfassenden Anpassungsprogramms.
Das Standortsicherungsgesetz wurde als Vorbereitung auf den Binnenmarkt im Dezember 1992 vom Kabinett verabschiedet. Es ist jetzt zugleich Teil des Solidarpakts, mit dem wir die rasche und tiefgreifende Anpassung von Staat und Wirtschaft an die durch die Wiedervereinigung Deutschlands und die Öffnung Europas völlig veränderten Rahmenbedingungen vollziehen werden.
Der Entwurf des Standortsicherungsgesetzes vervollständigt unser wirtschafts- und finanzpolitisches Programm für die kommenden Jahre. Wir haben im Rahmen des föderalen Konsolidierungskonzepts umfassende und deutlich erhöhte finanzielle Anstrengungen zugunsten des Aufbaus in den jungen Bundesländern vorgesehen.
({6})
- Aber natürlich. Im Moment, Herr Kollege Reuschenbach, ist es doch so, wie es immer war: Wenn man an einen Finanzausgleich geht, dann sagen die Westländer, sie seien am Rande des Ruins, dann sagen die Ostländer, das Ganze sei zuwenig und das Ganze solle sich auf dem Buckel des Bundes vollziehen. Da meine ich, daß wir hier über all diese Dinge hinweg natürlich auch das Interesse des Bundes darstellen müssen. Ich sehe schon die Probleme der Länder. Ich sehe die Zinsausgaben und die Verschuldensquoten, aber ich sehe auch die Probleme beim Bund. Und wenn am Ende dieses Pakets, ab 1995, die Defizitfinanzierung des Bundes bei 11 %, die der Westländer bei 7 % und die der Ostländer auch etwa bei 7 % liegt, dann wird doch niemand sagen können, der Bund habe sich auf Kosten der anderen saniert.
({7})
Ich muß als überzeugter Föderalist auf folgendes hinweisen. Der Bürger wird mit den Belastungen
konfrontiert, die ihm die Kommunen, die Länder und der Bund zumuten. Das muß in sich stimmig sein, und darum müssen auch am Schluß faire Lastenverteilungen zwischen den Ebenen stattfinden. Darum streiten wir. Ich meine, das ist das Normalste der Welt. Davor standen alle Finanzminister in schwieriger Zeit. Das war mein erster Vorgänger, Fritz Schäffer, der es auch nicht einfach hatte, das war mein Vorgänger Franz Josef Strauß, als es um den kooperativen Föderalismus Ende der 60er Jahre ging, und das ist auch meine Aufgabe.
Ich habe die Aufgabe, das Ganze zusammenzuführen und auch die Interessen Deutschlands, des Bundeshaushalts sowie die Belastungen auch international darzustellen, dabei aber natürlich auch immer zu überlegen, wie ich den Ländern gerecht werde. Ich bin schon sehr froh, daß es gestern gelungen ist, sich über bestimmte Ziele, ohne im Weg und in der Aufteilung Einigkeit zu erreichen, zu verständigen, daß z. B. ein Gesamtvolumen von 110 Milliarden DM zur Debatte steht, daß der Bund, was eine große Leistung von ihm ist, die ganze Erblast allein in einer Größenordnung von etwa 40 Milliarden DM jährlich an Zinsen und Tilgung übernimmt und daß wir im West-Ost-Transfer etwa 60 Milliarden DM übernehmen müssen: horizontaler Finanzausgleich plus Zuweisungen plus Investitionszuschüsse.
Natürlich sind die Ostländer unzufrieden. Aber wenn wir am Schluß, ab 1995, ein Ausgabenniveau in den Haushalten der Ostländer von 105 % gegenüber dem Westniveau und ein Investitionsvolumen von 180 % gegenüber dem Westen haben, dann kann sich das sehen lassen. Das beantwortet auch Ihre Angriffe, Herr Schulz, die dann in sich zusammenbrechen.
({8})
Aber wir können das nicht allein. Gestern hat der Bundesbankpräsident in dem Gespräch gesagt, Lohnerhöhungen, die so weit über die Produktivität hinausgehen - im Westen und vor allen Dingen im Osten -, kann ich durch eine Zinssenkung nicht korrigieren. Über diese ökonomischen Dinge muß man sich allmählich wieder im klaren sein.
Es hilft mir auch nichts, wenn man sagt: Schraubt doch an der Steuer- und Abgabenquote. Wir sind bei 41 %, und sie wird noch höher gehen.
({9})
- Leider. Ich sehe Ihr schmerzverzerrtes Gesicht, Herr Rauen. Ich kann es nicht ändern. Ich würde es auch lieber mit Ihnen gemeinsam anders machen. Sie wissen, daß ich Ihrer Politik sehr nahe stehe. Aber ich kann es nicht ändern.
Die Nachbarländer erhöhen nicht aus Solidarität mit uns ihre Steuersätze, sondern sie senken sie eher. Wer heute glaubt, es spiele doch keine Rolle, wir könnten noch einmal 1, 2 oder 3 Milliarden DM in der Nettokreditaufnahme nach oben gehen, der täuscht sich. Der Preis, den wir dann vielleicht durch andere Zinsentwicklungen bezahlen, kann sehr viel höher sein als der momentane Nutzen, den wir uns dabei vielleicht einhandeln.
({10})
Darum kann der Staat, kann der Bund auch nicht wettmachen, was an anderer Stelle schiefläuft, was falsch gelaufen ist. Die Lohnpolitik in West und Ost war in den letzten Jahren überzogen und bedarf der Korrektur, ohne daß wir irgendeine Zahl nennen und damit die Tarifverhandlungen erschweren möchten. Aber eine Lohnmoderation ist unverzichtbar, um in der zweiten Hälfte dieses Jahres den Anschluß an den Aufschwung und an die internationale Konjunktur wiederzugewinnen.
({11})
Mit dem Standortsicherungsgesetz und weiteren strukturverbessernden Maßnahmen schaffen wir die Grundlagen für die Überwindung der aktuellen Konjunkturschwäche und die Sicherung des mittelfristigen Wachstumspfades.
Bevor sich einige - darauf haben der Kollege Glos und auch der Kollege Solms bereits hingewiesen - wieder in einer Verteilungsdiskussion verfangen, müssen wir zur Kenntnis nehmen: Unser Land darf nicht in Selbstzufriedenheit, Sattheit und Anspruchsmentalität verfallen oder verharren. Beim Feilschen um Besitzstandspositionen übersehen viele, was in der Welt uni uns herum vor sich geht. Wenn wir nicht rechtzeitig reagieren, werden wir im internationalen Wettbewerb abgehängt.
({12})
Dabei müssen wir uns bewußt sein: Schon heute ist das wiedervereinigte Deutschland in der Rangskala - ({13})
- Sie haben schon intelligentere Zwischenrufe gemacht. Ich weiß nicht, wo Sie überall gewesen sind. Ich brauche mich dessen nicht zu schämen.
({14})
- Warum rufen Sie dann mir etwas zu? Dann melden Sie sich doch zum richtigen Zeitpunkt oder kandidieren Sie doch für den Bayerischen Landtag. Dann können Sie es dort zur Sprache bringen.
({15})
- Bleiben Sie lieber in einem anderen Bundesland. Wir sind schon ganz gut bestückt, und ich will ja auch nicht, daß die SPD noch mehr geschwächt wird.
({16})
Herr Bundesfinanzminister, der Abgeordnete Glos würde gerne eine Zwischenfrage stellen. - Bitte.
Herr Kollege Waigel, können Sie mir bestätigen, daß der Kollege Poß zwar Probleme in Bayern hätte, von der SPD nominiert zu werden, aber wenn er wider Erwarten gewählt worden wäre, er zumindest unter den dortigen SPDKolleginnen und -Kollegen eine sehr herausragende Figur wäre?
({0})
Herr Kollege Glos, ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich werde darüber nachdenken.
({0})
Die Vereinigten Staaten haben ihre Rezessionsphase für eine entscheidende Verbesserung der Produktivität genutzt.
Herr Bundesfinanzminister, Sie werden noch einmal um eine Antwort gebeten.
Nachdem ich Herrn Poß direkt angesprochen habe, selbstverständlich.
Ich möchte die Herren nur vorsorglich darauf aufmerksam machen, daß diese Dreiecksfragen in der Geschäftsordnung nicht vorgesehen sind.
Bitte sehr.
Herr Bundesfinanzminister, wenn Sie auch der Auffassung sind, daß das Anspruchsdenken zurückgedrängt werden muß - als generelles politisches Postulat kann man das ja so stehenlassen -, sind Sie dann mit mir der Auffassung, daß damit nicht vereinbar ist, kostenlose Urlaube auf einer Hazienda zu verbringen, vor allen Dingen, wenn man zu gut bezahlten Ministerpräsidenten und Ministern gehört? Das war mein Zwischenruf im Zusammenhang mit dem Anspruchsdenken. „Hazienda" dazwischengerufen zu haben war meine Verfehlung, die Sie so lebhaft hat reagieren lassen. Sind Sie mit mir einig darüber, daß das wirklich unter Anspruchsdenken zu subsumieren ist?
({0})
Herr Kollege Poß, ich finde, die bei Ihnen enthaltene Unterstellung jemandem gegenüber ist nicht am Platz. Sie sollten diese Atmosphäre bei der Diskussion über das Standortsicherungsgesetz nicht dazu benutzen, einen anderen Sachverhalt, an dem nichts Kritikwürdiges zu finden ist, negativ anzusprechen. Lieber Herr Kollege Poß, denken Sie einmal darüber nach, wie viele Mitglieder Ihrer Partei, wie viele Minister - vielleicht Bundeskanzler, Ministerpräsidenten oder wer auch immer - sich ihrer Freundschaften zur Industrie nie geschämt haben.
Herr Kollege Poß, ich will jetzt die Gelegenheit nutzen, auch zu sagen: Sie - nicht Sie persönlich, sondern Ihre Partei - versuchen im Augenblick, andere Menschen mit Schmutz zu bewerfen. Sie versuchen seit Tagen, mich in einen bestimmen Zusammenhang zu bringen, obwohl Sie ganz genau wissen, daß die Vorgänge um Förderungen und um Beschlußfassungen im Parlament und in den Ministerien absolut korrekt abgewickelt worden sind. Sie versuchen es nach dem Motto: Es bleibt schon etwas hängen.
({0})
Das ist schäbig! Kümmern Sie sich zunächst einmal um diese schäbigen Dinge, die auch in Ihren eigenen Reihen stattgefunden haben.
Es ist doch der Gipfel der Unverschämtheit, wenn ein Herr Kolbow allein aus der Tatsache, daß ein Produktionsort 20 oder 25 Kilometer von meinem Geburtsort entfernt ist, die Unterstellung macht, als ob ich mit irgend etwas verbunden sei. Ich habe doch noch nie behauptet, daß, wenn es in Würzburg Hochwasser hat, damit der Herr Kolbow etwas zu tun habe. Also, irgendwo muß man die Dinge mit Anstand auch in einer richtigen Relation lassen.
({1})
Herr Bundesfinanzminister, es wird noch eine weitere Frage erbeten.
Bitte.
Herr Bundesfinanzminister, darf ich Ihren Ausführungen entnehmen, daß Sie gemeinsam mit der SPD alles tun werden, um diese Affäre aufzuklären?
Ich verbitte mir Ihren Begriff „Affäre".
({0})
Das, was Sie machen, die Verleumdung anderer Menschen, das ist eine Affäre.
({1})
Meine Damen und Herren, ich wäre dankbar, wenn wir nun zum Thema zurückkommen könnten. Es ist keine Aktuelle Stunde über Urlaubsreisen oder ähnliches, in der wir uns hier unterhalten. - Bitte fahren Sie fort, Herr Minister.
Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Präsident, daß Sie damit das Verhalten der Opposition gerügt haben.
({0})
In fast allen Industrieländern finden die Unternehmen und Betriebe volle Unterstützung durch die jeweilige Regierung, und zwar unabhängig von der parteipolitischen Ausrichtung. Das ist in Frankreich und in vielen anderen Ländern zu sehen. Im Durchschnitt der umliegenden Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft wurde die Körperschaftsteuer in den 80er Jahren auf ein Niveau von rund 35 % gesenkt.
In der sachlichen und fachlichen Diskussion gibt es an der Notwendigkeit einer spürbaren Absenkung der Ertragsteuersätze überhaupt keinen Zweifel. So hat die amerikanische Handelskammer in Deutschland immer wieder auf die abschreckende Wirkung der deutschen Steuersätze auf Auslandsinvestitionen hingewiesen.
({1})
- Das ist richtig.
({2})
- Wer diskutiert heute noch über die Frage der Mitbestimmung als ein prioritäres Thema? Überhaupt niemand. Andere Sozialdemokraten und Sozialisten in Europa haben uns bestürmt und haben gesagt: Um Gottes willen, kommt bloß in den 80er und 90er Jahren nicht mit den falschen Themen, die die Sozialisten in Deutschland in den 60er und 70er Jahren ausgegraben hatten.
({3})
Herr Minister, ich muß Sie noch einmal unterbrechen. Die Abgeordnete Frau Matthäus möchte zu diesem Bereich ebenso wie der Abgeordnete Dr. Norbert Wieczorek eine Frage stellen.
Herr Bundesfinanzminister, wollen Sie zur Kenntnis nehmen, daß ich durch meinen Zwischenruf „Die hat auch die Mitbestimmung kritisiert" den Einwand der deutsch-amerikanischen Handelskammer relativieren wollte? Deren Einwände zum Standort Deutschland können offensichtlich nicht so überzeugend sein, wenn sie noch vor wenigen Monaten gesagt hat, die deutsche Mitbestimmung sei ein Standortnachteil, obwohl jedermann weltweit weiß, daß die deutsche Mitbestimmung für dieses Land ein Standortvorteil ist. Stellen Sie sich einmal vor, in Nordrhein-Westfalen etwa hätten wir den Strukturwandel ohne Mitbestimmung vollziehen müssen!
Wir haben ja eine differenzierte Mitbestimmung, mit der man leben kann. Aber eine Erweiterung dieser Mitbestimmung, die Sie immer gefordert haben, hätte jedenfalls zu einer entscheidenden Verschlechterung des Standortes Deutschland geführt.
({0})
Mit dieser Antwort hat sich der zweite Fragewunsch erledigt. - Sie können fortfahren, Herr Minister.
Danke schön. Das wundert mich nicht, weil die Beantwortung so traf, daß der zweite Fragesteller sich gar nicht mehr gemeldet hat.
({0})
Meine Damen und Herren, der Wirtschaftsminister von Baden-Württemberg, der schon mehrfach zitiert wurde, hat vor wenigen Tagen festgestellt: Eine grundlegende Reform der Unternehmensbesteuerung mit einer deutlichen Senkung des Körperschaftsteuersatzes ist notwendig, um die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Deutschland zu erhalten und Arbeitsplätze zu sichern. Der Mann heißt Spöri. Als er noch hier war, hatte die SPD auch einen Steuerexperten.
({1})
Meine Damen und Herren von der SPD, verzichten Sie bei diesem für unser Land so wichtigen Gesetzesvorhaben auf die angekündigte Rolle rückwärts.
Zu den Eckpunkten des Standortsicherungsgesetzes: Die Senkung der Ertragsteuersätze ist für die Investitionsentscheidungen vor allem psychologisch von größter Bedeutung. Hinzu kommen die Steuerentlastung für den Mittelstand, steuersparende Abschreibungen und Erleichterungen bei der Erbschaftsteuer und die Verlängerung von Steuervergünstigungen für die jungen Bundesländer.
Was wir vorhaben, ist auch bei ganz kritischer und objektiver Betrachtung keine Steuerentlastung für Besserverdienende. Größen der Unterhaltungsbranche, Spitzenmanager und Couponschneider werden leer ausgehen, genauso wie Sie und ich. Und, meine Damen und Herren, wenn man da immer wieder Heino ins Spiel bringt, kann ich nur sagen - da kann man geteilter Meinung sein -: Jedenfalls singt er besser, als Frau Matthäus-Maier spricht.
({2})
Insofern hört man ihn lieber, ob man nun positiv oder negativ zur Volksmusik eingestellt ist.
Meine Damen und Herren, wenn nun die SPD in einigen Finanzierungskonzepten den Verzicht auf die Unternehmensteuerreform als Deckungsmasse für andere Aufgaben einsetzt, die Gegenfinanzierung aber stehen läßt, dann erinnert das an ein absurdes Theater. Wir fordern unserer Wirtschaft notgedrungen einiges ab. Aber wenn die Unternehmensteuerreform in ihr Gegenteil verkehrt würde, müßten wir doppelt und dreifach bezahlen. Schon die Forderung nach einem solchen Konzept in der aktuellen schwierigen Wirtschaftslage ist im Grunde genommen ein Anschlag auf unsere ökonomische Zukunft und auf die Sicherheit der Arbeitsplätze in Deutschland.
({3})
Meine Damen und Herren, es geht heute nicht mehr uni die Aufhebung feudaler Besitz- oder Einkommensverhältnisse, sondern um die Arbeit an einer modernen Steuerstruktur, die dem Gebot der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit umfassend Rechnung zu tragen versucht.
Nach der auch 1993 fortbestehenden Lohn- und Einkommensteuerstatistik tragen rund 30 % der Steuerpflichtigen mit Einkommen von über 60 000 DM über 70 % der Lohn- und Einkommensteuerlast. Auf die oberen 5 % der Einkommensteuerpflichtigen mit Einkommen von mehr als 120 000 DM entfällt ein Steueranteil von rund 40 %. Das Ifo-Institut hat in einer kürzlich vorgelegten Studie sogar noch höhere Prozentsätze nachgewiesen.
Gerade auch im vorgelegten Föderalen Konsolidierungskonzept ist das Prinzip der fairen Lastenteilung umfassend betrachtet worden.
Man kann natürlich beliebig lange an der Verteilungsrechnung weiter feilen. Aber wer zu lange feilt, hat am Ende nichts mehr in der Hand, und spätestens dann haben sich alle Verteilungsprobleme von selbst,
aber zum entscheidenden Nachteil der Beschäftigten und vor allem der Arbeitssuchenden, gelöst. Die Verwirrung in der SPD ist ja total, wenn ich mir vorstelle, daß man uns das vorwirft und Herr Spöri auf der anderen Seite auf 40 % heruntergehen möchte.
Ich hoffe nur auf eine gewisse Kompromißbereitschaft. Denn der Vorschlag, den der Kollege Poß gemacht hat, führt ja nicht weiter. Die Rechtsformneutralität des Steuerrechts würde bei einer Beschränkung der Entlastungen auf Kapitalgesellschaften zerstört. Viele tausend personenbezogene Betriebe würden in die Rechtsform der Kapitalgesellschaft gedrängt. Gefährdet wäre damit auch die bewährte Mischstruktur unserer Wirtschaft,
({4})
die im wesentlichen auf mittelständisch geprägten Personenunternehmen und Kapitalgesellschaften aufbaut.
Übrigens, Herr Schulz, da fällt mir noch ein: Bei dem, was Sie zum Bundesfinanzhof gesagt haben, ist mir unerfindlich, woher Sie es beziehen. Der Präsident des Bundesfinanzhofs, Herr Professor Klein, war gestern, wenn ich richtig unterrichtet bin, im Finanzausschuß und hat dieses Vorhaben als nach seiner Ansicht verfassungskonform und die Spreizung und die Beschränkung auf gewerbliche Einkünfte als geradezu geniale Idee bezeichnet. Das ist die Realität.
({5})
- Entschuldigung, Sie können doch hier nicht hergehen und behaupten, der Bundesfinanzhof habe das als verfassungswidrig bezeichnet, wenn eine völlig andere Aussage des Präsidenten erst gestern gemacht worden ist.
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Wir müssen auf umfassende Wachstumskonzepte setzen. Ein Prozent mehr Wachstum bringt in den nächsten vier Jahren etwa 30 bis 40 Milliarden DM mehr in die öffentlichen Kassen. Die Diskussion darüber, wie wir in allen Bereichen wieder Wachstum herbeiführen können, haben wir bisher nicht intensiv genug geführt.
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Die entscheidende Frage kann doch nicht mehr sein, was wir verteilen, sondern ist vielmehr, was wir tun können, um den gegenwärtigen schwerwiegenden Konjunktureinbruch wirksam zu überwinden. Dabei ist es legitim und, wie ich meine, auch gerechtfertigt, die Hinnahme konjunkturbedingter Steuermindereinnahmen und zusätzlicher Ausgaben für den Arbeitsmarkt durch eine zeitweilige Erhöhung der Nettokreditaufnahme aufzufangen.
Darüber hinaus geht es jedoch um einen glaubwürdigen mittelfristigen Wachstumskurs. Dazu gehören entschlossene Maßnahmen im Bereich der wachstumsfördernden Steuerpolitik, die nachhaltige Konsolidierung der Staatsfinanzen und die Begrenzung der Lohnkosten. Nur dann wird es gelingen, auch im kurzfristigen Bereich zu Zinssenkungen zu kommen.
Die Zinssenkungen bei den langfristigen Krediten sind schon sehr beachtlich; die Zinsen befinden sich da auf einem relativ niedrigen Stand, was das Vertrauen in die deutsche Geld-, aber auch in die deutsche Finanzpolitik und auch das Vertrauen in die deutsche Politik schlechthin widerspiegelt. Dieses Vertrauen darf nicht verspielt werden.
({8})
Wir müssen mehr tun. Wir brauchen eine größere Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt. Wir brauchen den Abbau der in der Gesellschaft weitverbreiteten Technologiefeindlichkeit. Gott sei Dank zeichnet sich im Bereich der Jugend ein positiver Trend ab. Wir brauchen die Ausrichtung der Ausbildungsgänge auf mehr praxisrelevantes Wissen und eine Entschlackung der bürokratischen Genehmigungsverfahren, und zwar nicht nur im Osten, sondern auch im Westen.
({9})
Wir brauchen mehr Privatisierung im Bereich des Bundes, aber auch im Bereich von Ländern und Gemeinden. Ich glaube, hier eröffnet sich ein beachtliches Wachstumspotential, das wir nutzen müssen.
Neben der Wirtschafts- und Finanztheorie geht es um ganz einfache elementare Grundzusammenhänge des Wirtschaftens, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Wir müssen arbeiten, sparen und investieren, um wirtschaftlichen Erfolg zu haben, denn wir können nichts verteilen und auch nichts umverteilen, was wir nicht haben. Standortsicherungsgesetz, Solidarpakt, Konsolidierungskonzept: Das sind unsere Antworten auf die drängenden Fragen der Gegenwart. Niemand ist festgelegt, niemand ist gehindert, an diesem umfassenden Kompromiß mitzuwirken. Wir haben es in der Hand, Geschlossenheit, Solidarität und Vernunft unter Beweis zu stellen. Daher bitte ich Sie ganz herzlich um Ihre Mitwirkung und um Ihren Beitrag zur Bewältigung der großen Aufgaben, die wir uns gemeinsam gestellt haben.
Ich danke Ihnen.
({10})
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Arne Börnsen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Finanzminister, im Gegensatz zu Ihrem Kollegen Michael Glos heute morgen haben Sie zumindest zeitweise zur Sache geredet. Dafür muß man Ihnen ja schon danken.
({0})
- Ja, doch; ich weiß allerdings, warum Herr Glos in dieser Art und Weise gesprochen hat. Bleiben Sie nur ruhig!
({1})
Man muß trotzdem eines feststellen - auch wenn man sich die Rede von Herrn Solms in Erinnerung ruft -: Wenn das Standortsicherungsgesetz ein Teil
Arne Börnsen ({2})
eines Gesetzespaketes wäre, welches sich mit der Verbesserung des Standortes Bundesrepublik Deutschland beschäftigt, dann könnten wir ernsthaft darüber diskutieren. Dafür gäbe es auch eine Berechtigung. Aber wo sind denn die anderen Bestandteile eines solchen Pakets - insbesondere Herr Solms hat in seiner Rede auf diese Bestandteile hingewiesen -, für die der Bund ohne Zweifel Mitverantwortung trägt? Sie haben sich hier auf den Teil beschränkt, der sich mit einer Senkung des Spitzensteuersatzes beschäftigt. Sie müßten andere Initiativen starten, um andere Auswirkungen auf den Standort Deutschland herbeizuführen. Das ist unser zentraler Vorwurf. Deswegen müssen wir auch diese einen falschen Eindruck erweckende Überschrift zurückweisen.
Ich habe einem Kollegen in der vergangenen Woche in einem Gespräch gesagt, daß ich zum Standortsicherungsgesetz sprechen werde. Es handelt sich nicht um einen Kollegen aus dem Hause, der ja solche Bezeichnungen gewohnt wäre, sondern um einen Kollegen, der nicht direkt vom Bundestag tangiert ist. Die spontane Reaktion war - unüberlegt, das gebe ich zu -: Aha, es geht um Standortsicherung bei der Bundeswehr. Darum geht es ja nun nicht. Als ich ihn darauf hinwies, das sei etwas anderes, meinte er nach kurzem Nachdenken, dann gehe es wohl um die Standortsicherung der Industrie in Ostdeutschland. Das war es aber auch nicht. Als ich ihm sagte, Standortsicherung solle vielmehr eine Senkung der Spitzensteuersätze bedeuten, rief das bei ihm echte Verblüffung und die Reaktion hervor, daß man der Bundesregierung eines wirklich nicht vorwerfen könne, nämlich mangelnde semantische Fähigkeiten.
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Sie sind sehr wohl in der Lage, Gesetze mit einem Titel zu versehen, der mit deren Zielsetzung nichts zu tun hat. Aber Sie provozieren damit natürlich, daß wir uns ebenfalls mit dem Titel beschäftigen und fragen, in welchen Bereichen die Bundesregierung zusätzlich Verantwortung wahrnehmen könnte, um wirklich die Sicherung des Standortes Bundesrepublik Deutschland zu erreichen.
Da ich weiß, daß das Thema zu breit ist, als daß man es hier insgesamt abhandeln könnte, möchte ich mich ausschnittsweise - anhand einiger Punkte - damit beschäftigen. Ich unterstreiche, was auch schon Frau Matthäus-Maier sagte: Mit einem Standortsicherungsgesetz den Eindruck zu erwecken, als seien notstandsähnliche Maßnahmen erforderlich, um den Industriestandort Deutschland zu sichern, ist schon ein bißchen leichtfertig. Mit welchen Reaktionen würde wohl ein intelligenter Geschäftsmann, der bestrebt ist, die Marktchancen seines Unternehmens zu verbessern, seitens des Eigentümers dieses Unternehmens konfrontiert, wenn dieser Geschäftsmann die Lage und die Marktchancen des Unternehmens öffentlich schwarzmalen würde?
({4})
Dann würde ihn der Eigentümer aber ganz schnell in die Wüste schicken, denn das wäre genau das Gegenteil dessen, was man von ihm erwartet.
Insofern bereitet nicht der Standort Deutschland Probleme und bietet Anlaß zur Sorge, sondern diese Bundesregierung ist der Sorgenfaktor Nummer eins. Ihre Ablösung wäre allerdings ein durchschlagender Erfolg zur Optimierung des Standorts Deutschland.
({5})
Nun zu einigen Faktoren, die den Standort bezeichnen. Es wird zu Recht darauf hingewiesen, daß ein Standortnachteil in den Lasten aus der staatlichen und wirtschaftlichen Einigung zu sehen sei. Das ist objektiv sicherlich richtig, beweist aber in der Gegenüberstellung der Standortkriterien gerade die hohe Qualität des Standortes Westdeutschland, und es gibt bezeichnende Aufschlüsse über die Defizite der bundesdeutschen Wirtschaftspolitik, wenn es darum geht, die Nachteile des Standortes Ostdeutschland aufzuheben.
({6})
Wir haben hier in Westdeutschland einerseits eine hervorragende Infrastruktur, wir haben in Ostdeutschland andererseits die bekannte marode Hinterlassenschaft der DDR-Planwirtschaft. Ein entscheidender Standortfaktor ist dabei die Versorgung mit Telekommunikationsmitteln. Einem Versorgungsgrad von 50 % in Westdeutschland im Jahre 1989 stand ein Versorgungsgrad von ungefähr 10 % in Ostdeutschland gegenüber. Bekanntermaßen ist gerade der Grad der Versorgung mit Einrichtungen der Kommunikation in einem Industrieland eine der entscheidenden Standortvoraussetzungen, um überhaupt die Ansiedlung einer modernen Industrie zu ermöglichen. Die Telekom ist zwar ein staatliches Unternehmen, aber es handelt sich um ein eigenverantwortliches Unternehmen, das eine wirklich grandiose Aufholjagd gestartet hat. Bereits heute konnte die Versorgung mit Telekommunikationseinrichtungen zumindest auf ein erträgliches Maß angehoben werden. 1997 wird Ostdeutschland auf Grund des modernsten Telekommunikationsnetzes einen Standortvorteil haben.
({7})
Das Schienen- und Straßennetz in Ostdeutschland wird zwar spürbar auf Vordermann gebracht - das kann man nicht leugnen -, aber im Bereich der bundesstaatlichen Verantwortung zeigen sich erste Defizite, wenn es darum geht, den Standort Deutschland in der Zukunft zu sichern, weil die Bahnreform, die unabweisbar notwendig ist, um die Weichen für eine künftig leistungsstärkere Bahn zu stellen, die auch dem aus ökologischer Sicht notwendigen Transportauftrag gerecht werden kann, zur Zeit im Finanzierungsstreit zwischen dem Finanz- und Verkehrsministerium hängt und nicht vorankommt. Ein Scheitern ist immerhin nicht auszuschließen, wäre aber mit erheblichen negativen Auswirkungen auf den Standort Deutschland verbunden.
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Ein weiterer Bereich, über den oftmals negativ geredet wird, der aber gerade im Vergleich zwischen Ost- und West-Deutschland bewiesen hat, was er wert ist, ist der Bereich der öffentlichen Verwaltung und
Arne Börnsen ({9})
des Rechtswesens. Die öffentliche Verwaltung in der Bundesrepublik Deutschland ist leistungsfähig und zuverlässig. Das Rechtswesen ist kalkulierbar und effizient. Die Bereitschaft vieler Beamter und Angestellter im öffentlichen Dienst, ihren Arbeitsplatz im vergangenen Jahr nach Ostdeutschland zu verlegen, hat am dortigen Aufbau der Verwaltung und des Rechtswesens einen ganz entscheidenden Anteil. Diese Bereitschaft ist auch Ausdruck hoher Motivation, ist aber auch durch leistungsfördernde Aufstiegsmöglichkeiten und materielle Anreize gefördert worden. Der übliche starre Rahmen des Beamtenrechts mit seinen Laufbahnverordnungen, die, übertrieben gesagt, auf 50 Jahre festlegen, warm man bestimmte Karriereschritte machen kann, wurde beiseite geschoben, und siehe da, ein bemerkenswertes Leistungspotential konnte aktiviert werden.
Meine Damen und Herren, warum kommt die Bundesregierung eigentlich nicht auf die naheliegende Idee, diese Erkenntnisse generell zu verwerten, das öffentliche Dienstrecht und das Beamtenrecht zu entstauben, zu entschlacken und leistungsfördernd zu reformieren?
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Dies würde nicht nur zu einer merklichen Qualitätsverbesserung des Standorts Deutschland führen - staatliche Leistungen würden effizienter und damit kostengünstiger erbracht werden können -; es würde auch auf allen Ebenen des Staates zu einer Ausgabenoptimierung führen, die heute, weil dies nicht stattfindet, ihren Einsatz in der Streichung staatlicher Dienstleistungen - also zu Lasten der Bürger - findet. Meine Damen und Herren, das Problem ist seit Jahrzehnten bekannt. Der Druck, dieses Problem zu lösen, ist in den letzten Jahren sehr viel deutlicher geworden, drängender geworden. Aber die Bereitschaft der Bundesregierung, sich mit dieser - zugegeben schwierigen - Materie zu beschäftigen, ist gleich Null.
Ich will in diesem Zusammenhang gar nicht davon ablenken, daß sich auch meine Fraktion mit Auswirkungen auf den Standort Deutschland zu beschäftigen hat, die vielleicht nicht immer ganz einfach sind. Ich bedaure also - ich sage das ausdrücklich -, daß wir hinsichtlich der Stärkung des Standortfaktors Telekommunikation noch nicht weitergekommen sind. Ich hoffe immer noch, daß wir im Bereich der Postreform zu einer Einigung kommen werden; denn die Telekommunikation - das ist klar, und es ist vorhin unwidersprochen geblieben - hat einen entscheidenden Anteil an der Qualität eines Industriestandorts. Die verstaubten heutigen Behördenstrukturen der Postunternehmen sind nun wirklich völlig ungeeignet, den Anforderungen gerecht zu werden.
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Ich würde dazu gern weitere Bemerkungen machen; aber ich schenke mir das hier.
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- Es kommt ganz darauf an, aus welcher Sicht.
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Ein zentraler Standortvorteil der Bundesrepublik Deutschland, meine Damen und Herren, und sein höchstes Kapital sind jedoch ohne Zweifel die Menschen, ihr hohes Ausbildungspotential, ihre Leistungsbereitschaft. Hier kann überhaupt kein Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland gemacht werden. Jeder von uns, der Freunde und Bekannte in Ostdeutschland gewonnen hat, kann bestätigen, daß sich diese sehr schnell und energisch darum gekümmert haben, einen Wissensnachteil, der z. B. durch mangelnde Information über moderne Technologien entstanden ist, auszugleichen, und daß sie sehr schnell in der Lage waren, mit der Qualifikation gleichzuziehen, die in Westdeutschland üblich ist.
Ein Industrieland kann es sich am wenigsten erlauben, ein solches Leistungspotential brachliegen zu lassen, meine Damen und Herren. Deswegen haben gerade in diesem Punkt die Schönfärberei der Bundesregierung vor der Wahl 1990 und der Mangel an wirtschaftlichen Ideen und Taten die heutige katastrophale Beschäftigungssituation in Ostdeutschland mit zu verantworten.
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Es ist wiederum Semantik und Ablenken von der eigenen Verantwortung, jetzt ausschließlich von finanziellen Altlasten oder Erblasten zu reden, die andere verursacht haben sollen und zu einem großen Teil auch verursacht haben. Sie, meine Damen und Herren, haben in den vergangenen zweieinhalb, drei Jahren einen erheblichen Anteil daran erworben und sollten nicht von Erblasten sprechen. Das ist ein Begriff, der ähnliche hektische, aufgeregte Reaktionen rechtfertigen würde, Herr Bundesfinanzminister, wie Sie sie eben gegenüber dem Kollegen Schulz gezeigt haben.
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Meine Damen und Herren, zusammenfassend darf ich feststellen: Es fehlt der Bundesregierung nicht nur ein Konzept zur Standortsicherung; vielmehr ist der Standort geradezu gefährdet durch ihre Wirtschafts- und Steuerpolitik, die gekennzeichnet ist von kurzfristigem Taktieren, Lavieren und Revidieren. Das größte Standortproblem ist diese Regierung.
Ich danke Ihnen.
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Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Gunnar Uldall das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Börnsen hat völlig recht: Die Fernmeldeverbindungen sind natürlich ein ganz wesentlicher Standortfaktor. Nur, wenn Sie, Herr Börnsen, beklagen, daß hier in dem Gesetz nichts über den Standortfaktor Postverbindungen und Fernmeldeverbindungen zu lesen ist, dann darf das nicht zum Anlaß genommen werden, dieses wichtige Gesetz abzulehnen. Wir sind bereit, über alles zu reden, nur sagen Sie nicht: Dieses ist uns zu wenig,
und deswegen machen wir gar nichts. Das wäre eine sozialdemokratische Logik.
({0})
Meine Damen und Herren, wir haben seit fünf Wochen den europäischen Binnenmarkt in Kraft. Da schon in den Jahren vorher sehr viele Beschränkungen für den Handel aufgehoben wurden, vollzog sich der Übergang beinahe unmerklich; es gab keinen großen Big Bang. Aber täuschen wir uns nicht, der Wettbewerb wird für die deutschen Unternehmer härter. Vergleichen wir einmal die Bedingungen, zu denen unsere Unternehmen und ihre ausländischen Konkurrenten produzieren können.
Zunächst einmal zu den Lohnkosten als dem wichtigsten Produktionsfaktor: Im Jahre 1991 betrugen die Kosten je Arbeitsstunde für die direkt gezahlten Löhne und für die Lohnfolgekosten in Deutschland 40,48 DM. In Frankreich lagen sie bei 26,73 DM, in Großbritannien bei 22 DM, in Japan bei 29 DM, also in einer Größenordnung zwischen 25 und 40 % unter dem Satz, den wir in Deutschland aufzubringen haben.
Bei den Arbeitszeiten ist die Position nicht weniger deutlich. Arbeitete ein deutscher Arbeitnehmer 1991 im Jahr 1 499 Stunden, so waren es bei seinem französischen Kollegen 1 619, bei seinem englischen noch mehr, nämlich 1 635, und bei dem japanischen Kollegen sogar über zweitausend, nämlich 2 139 Stunden - fast 50 % mehr Arbeitszeit als in Deutschland.
Auch zum Umweltschutz erteilen wir in Deutschland - und das mit Recht - strengere Auflagen als unsere Nachbarn. So kostet z. B. das Lackieren eines Autos in Deutschland, weil hier auf eine Rücknahme der Abfälle, die beim Lackieren entstehen, geachtet wird, 500 DM mehr als in Japan. Wir wollen daran keine Abstriche machen, aber die zusätzlichen Kosten für den Umweltschutz dürfen eben bei einem Wettbewerbsvergleich auch nicht fehlen.
Dann gibt es eben auch die Belastungen durch die unterschiedlichen Steuern. Die hat Herr Minister Waigel im einzelnen genannt. Ich möchte sie nicht wiederholen.
Hohe Lohnkosten, niedrige Arbeitszeiten, strenge Umweltauflagen, hohe Steuersätze, all dies, meine Damen und Herren, kann ein noch so gut produzierendes Unternehmen gegenüber seinem Wettbewerber nicht aufholen. So ist es kein Wunder, daß wir fast täglich Meldungen über Produktionsverlagerungen ins Ausland lesen können. Der Vorstand eines internationalen Lebensmittelkonzerns sagte mir kürzlich einmal: Kleinere Erweiterungen in Deutschland bekomme ich noch von unserer Muttergesellschaft genehmigt, größere Investitionen sind nur noch außerhalb Deutschlands bei uns im Konzern durchsetzbar. - Das ist die Lage, meine Damen und Herren! Dies alles zwingt uns zum Handeln.
Von den genannten Wettbewerbsfaktoren - Arbeitszeit und Löhne, Umweltauflagen und Steuern - können wir nur einige wenige Faktoren beeinflussen.
({1})
- Löhne und Arbeitszeit, Herr Kollege Ebert, liegen in den Händen der Tarifparteien. Die Umweltauflagen wollen wir nicht zurücknehmen. So bleiben nur die Unternehmenssteuern. Deswegen stellte schon vor einigen Jahren - jetzt bitte ich die sozialdemokratischen Kollegen aufzupassen - ein wichtiger deutscher Politiker fest: Wenn wir als Industriestandort Bundesrepublik im europäischen Binnenmarkt attraktiv bleiben wollen, muß die Unternehmensbesteuerung dringend abgesenkt werden. - Dieser bedeutende Politiker in Deutschland war Björn Engholm.
Wir als Koalitionsfraktionen kommen dieser Aufforderung nach. Ich werbe heute ausnahmsweise einmal bei der SPD-Fraktion, daß auch Sie Ihrem Parteivorsitzenden in dieser Frage folgen.
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Die wichtigsten Steuern für die Unternehmen sind die Einkommen- und die Körperschaftsteuer. Die Reduzierung der Körperschaftsteuer für einbehaltene Gewinne auf 44 % kräftigt die Kapitalbasis und damit die Investitionsfähigkeit der Betriebe. Ausländische Gesellschaften werden in Zukunft nur noch mit 41 % belastet. Der Steuersatz für ausgeschüttete Gewinne wird von 36 auf 30 % gesenkt. Da diese Steuer anrechenbar ist, entlastet diese Reduzierung weniger die deutschen Investoren als die ausländischen Investoren, die nicht anrechnungsberechtigt sind. Bei der Einkommensteuer möchte ich den Initiatoren dieses Gesetzes ein Kompliment machen. Sie haben mit der Begrenzung bei der Besteuerung des Gewerbeeinkommens auf 44 %, die Sie in einem steuertechnisch einfach abzuwickelnden Verfahren empfehlen, eine intelligente Lösung gefunden. So entlasten wir die Unternehmen, nicht aber die gut verdienenden Direktoren, Chefärzte oder Journalisten.
Nun kann man durchaus die Frage stellen: Müssen die Steuersätze für Unternehmen zu einer Zeit gesenkt werden, in der über Steuererhöhungen für andere Bevölkerungsgruppen bereits nachgedacht wird? Hier ist aber festzuhalten, daß das Standortsicherungsgesetz in sich aufkommensneutral ist. Die Steuerausfälle werden durch Beschneidungen von Abschreibungsmöglichkeiten - das ist von meinen Vorrednern ausführlich dargestellt worden - ausgeglichen. Es tritt also keine tatsächliche Entlastung der Unternehmen ein. Das ist durchaus ein Kritikpunkt, über den angesichts der internationalen Lage zu diskutieren wäre. Aber dennoch: Das Zurückführen der Steuersätze gibt den Betrieben mehr unternehmerischen Handlungsspielraum.
Nun hatte Frau Matthäus-Maier in ihrem Beitrag den Einwand gebracht, daß damit Kapital aus der Produktivkapitalanlage in die Finanzanlage gelenkt würde. Ich sehe das Problem bei uns gerade umgekehrt. Bei uns sind betriebswirtschaftlich notwendige Entscheidungen durch Überlegungen, wie man Abschreibungen oder sonstige Steuervergünstigungen noch geltend machen könnte, in einem viel zu starken Maße verzerrt worden. Ich erinnere an diese ganze Geschichte mit dem Bauherrenmodell, ich
erinnere an die sogenannten Zahnarztschiffe, die ja nicht nur Zahnärzte, sondern alle gekauft haben.
({3})
- Ja, das haben wir gemeinsam gemacht.
({4})
Sie haben es mit gutem Grund abgeschafft, weil Sie eben erkannt haben, daß die überhöhten Abschreibungsbedingungen zu Fehllenkungen führen.
Schaffen Sie niedrige Steuersätze, dann wird das Produktivkapital dorthin gelenkt, wo es am sinnvollsten eingesetzt werden kann. Eine Lenkung über Gesetze ist eben nicht in jedem Fall möglich.
Meine Damen und Herren, durch die volle Gegenfinanzierung machen wir nicht die Reichen reicher, sondern ordnen die Belastungen für die Unternehmen, so daß sie konkurrenzfähiger werden. Dieses Gesetz ist zu bedeutend, als daß es zu einer parteipolitischen Profilierung dienen dürfte. Mit Freude habe ich deswegen einen Bericht in der „Welt" am 26. Januar 1993 gelesen. Da heißt es:
Angesichts der schleppenden Konjunktur haben die Oppositionsparteien im Parlament eine Senkung der Einkommensteuer gefordert.
Weiter heißt es:
Der Chef der oppositionellen Sozialdemokraten unterstrich: Es ist nur natürlich, daß die Regierung die Einkommensteuer deutlich absenkt, wenn die realen Ausgaben zurückfallen.
Leider, meine Damen und Herren, war dies kein Bericht aus dem deutschen Parlament, sondern ein Bericht aus Japan. Daraus sehen wir: Die Japaner haben sogar bei der Güte der Opposition einen Standortvorteil. Aber die Meldung gibt mir auch die Zuversicht, daß auch die deutschen Sozialdemokraten erkennen, was ihre japanischen Kollegen längst erkannt haben: Durch eine zu starke Belastung der Wirtschaft zerstören wir die Basis unseres Wohlstands. Deswegen darf sich keiner der Handlungsnotwendigkeit entziehen.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist jetzt unser Kollege Manfred Hampel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Uldall, Sie hatten eben der Opposition vorgeworfen, daß wir bei Einkommenspitzensteuersätzen nicht beweglich seien. Ich glaube, daß ist ein Trugschluß. Sie wissen - ich habe das auch gestern im Finanzausschuß gesagt -, die Steuer hat neben der Einnahmesicherung auch eine gewisse Gerechtigkeitskomponente. Wenn dieser Gerechtigkeitskomponente Genüge getan wird, warum sollen dann nicht auch Spitzensteuersätze gesenkt werden? Das ist also eine Auffassung, die nichts mit Dogmatismus zu tun hat, wie Sie uns das oft unterstellen.
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Der von der Regierung vorgelegte Gesetzentwurf mit dem erwartungsschwangeren Titel „Standortsicherungsgesetz" - das ist heute schon mehrfach angeklungen - ist in Zielrichtung und Ausgestaltung ein konzeptionelles Relikt, noch bezogen auf die vergangenen Verhältnisse der alten Bundesrepublik. Mit diesem Gesetzentwurf soll die alte und einseitige Interessenpolitik zugunsten großer westdeutscher Unternehmen fortgeschrieben werden, da das Gesetz in dieser Ausgestaltung vor allem Großunternehmen begünstigt, und die gibt es in den neuen Bundesländern leider Gottes noch viel zu wenig. Im Gegenteil, Großunternehmen sind dank Ihrer Wirtschaftspolitik - oder müßte man sagen: Wirtschaftsverhinderungspolitik? - auf Mittelstandsmaß geschrumpft.
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- Das kann man so absolut nicht sagen. Das hat auch etwas mit Ihrer Wirtschaftspolitik zu tun.
Was die Bundesregierung hier vorgelegt hat, ist also mitnichten ein Standortsicherungsgesetz für den Wirtschaftsstandort Gesamtdeutschland. Dies ist ein Steuersatzsenkungsgesetz, das im Ergebnis undifferenziert Sach- und Finanzanlagen begünstigt.
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Was die Zielsetzung betrifft, ist es für mich unbegreiflich, daß Sie angesichts der aktuellen wirtschaftspolitischen und finanzpolitischen Situation in Deutschland eine Steuersatzsenkung bei den gewerblichen Einkünften vornehmen wollen und damit marginal die Bedingungen in Westdeutschland verändern, gleichzeitig aber die wirklich drängenden grundlegenden wirtschaftlichen Probleme in Ostdeutschland, ökonomisch gesehen also die gesamtwirtschatlichen ökonomischen Bedingungen in Deutschland, nicht ernsthaft und konsequent in Angriff nehmen.
Wer wirklich etwas für die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland tun will, der muß doch zunächst die wirtschaftliche Situation in Ostdeutschland verändern. Wenn wir ein Standortproblem haben, dann liegt das doch ohne Zweifel in Ostdeutschland. Belege dafür zu nennen ist eigentlich müßig; ich will es trotzdem tun, da solche Zahlen nicht oft genug ins Gedächtnis zurückgerufen werden können.
Die offene durchschnittliche Arbeitslosigkeit liegt bei fast 16 %, die verdeckte Arbeitslosigkeit - das ist die eigentlich schlimmere Zahl - liegt bei 40 %, in manchen Gegenden bis 50 %. Bei einem Bevölkerungsanteil von 20 % beträgt der Anteil am Bruttosozialprodukt, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, 6,7 %, aber das ist marginal; wir müßten auch ungefähr ein Fünftel bis ein Viertel des Sozialprodukts haben, um gleich stark zu sein. Die Arbeitsproduktivität beträgt nur rund ein Drittel im Vergleich zur Arbeitsproduktivität in den alten Bundesländern. Vor allem die erste Zahl, also die Arbeitslosigkeit, muß geändert werden, sie muß deutlich zurückgehen, während die beiden anderen betreffend Bruttosozialprodukt und Arbeitsproduktivität deutlich nach oben
gehen müssen. Ihr Gesetzentwurf trägt dazu leider nicht bei.
({3})
Vielmehr belegt der vorgelegte Gesetzentwurf einmal mehr, daß sich die Bundesregierung nicht mit den wirklich drängenden Problemen beschäftigt. Zu mir hat jemand vor kurzem gesagt: Die Bundesregierung versucht, auf einem riesigen Berg von Problemen Maulwurfshügel zu begradigen. Recht hat der Mann.
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Lösen Sie doch endlich die Probleme, die für den Standort Deutschland von wesentlich größerer Bedeutung sind als Steuerfragen! Auch wenn es inzwischen wie ein alter Hut aussieht: Die Eigentumsproblematik ist noch immer Investitionshemmnis Nummer eins.
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Insbesondere in den größeren Städten sind noch immer Zeiträume von mehreren Jahren notwendig, bis ein halbwegs befriedigender Abarbeitungsstand erreicht sein wird. Daran haben auch das Vermögensrechtsänderungsgesetz und die Novellierung durch das zweite Vermögensrechtsänderungsgesetz wenig geändert.
Ein Entschädigungsgesetz ist mehr als überfällig. Solange kein befriedigendes Entschädigungsgesetz von diesem Hohen Hause verabschiedet wird, werden wir im Osten weiterhin eine starke Blockade des Aufschwungs hinnehmen müssen. Wie lange wollen Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, durch Tatenlosigkeit den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern noch verzögern?
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Oder meinen Sie, daß auch nur ein Alteigentümer im guten Glauben an diese Bundesregierung auf sein Eigentum verzichtet und auf eine spätere Entschädigungsregelung warten wird?
Ein weiterer Punkt. Das Bau-, Planungs- und Verwaltungsrecht rangiert für die neuen Bundesländer als Standortfaktor ebenfalls noch weit vor dem Steuerrecht. Man könnte zuhauf Beispiele anführen, die belegen, daß die Rechtsgrundlagen der 90er Jahre, die für die alten Bundesländer durchaus ihre Berechtigung haben können - wobei auch das in machen Fällen sicherlich bezweifelt werden kann -, für die neuen Bundesländer mit einem Stand der 60er Jahre ein Investitionshemmnis erster Güte darstellen.
Die Arbeitsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung, die Fragen, wie schnell Bauanträge bearbeitet werden, wie lange Planungen und Genehmigungen dauern, sind sicherlich nicht nur für die neuen Bundesländer ein wichtiger Standortfaktor; bei uns aber werden diese Dinge geradezu zur Überlebensfrage.
Der Aufbau der Infrastruktur in Ostdeutschland ist ebenfalls ein wichtiger Standortfaktor für ganz Deutschland. Wir haben dazu ein Zukunftsinvestitionsprogramm vorgeschlagen. Mit einem Volumen von 10 Milliarden DM über zehn Jahre wollen wir den Standortfaktor Infrastruktur deutlich verbessern. Dieses Programm hat außerdem noch den Vorteil, daß es über öffentliche Aufträge Arbeit schafft.
Wir brauchen eine aktive Industriepolitik. Industrielle Kerne müssen nicht nur erhalten, sondern müssen vielmehr modernisiert und ausgebaut werden. Wir wollen nicht alte Strukturen konservieren, sondern neue, moderne Strukturen schaffen.
Das geht nicht ohne eine aktive staatliche Industriepolitik. Den Anhängern der reinen Lehre hier im Hause möchte ich einmal einen Gedanken mitgeben: Marktwirtschaft ist kein Naturgesetz. Sie muß und kann nur von einem demokratischen Staat installiert werden und muß in der Anfangsphase gehätschelt und gepäppelt werden, bis aus der Pflanze ein starker Baum wird.
Wir lehnen eine Unternehmenssteuerreform nicht ab. Sonst hätten wir uns nicht schon im Frühjahr des vergangenen Jahres damit beschäftigt und ein eigenes Konzept entwickelt.
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Eine solche Reform der Unternehmensbesteuerung muß aber erstens aufkommensneutral und zweitens ökonomisch vernünftig sein. Das ist dieser Regierungsentwurf nach unserer Auffassung nicht.
Die Kernpunkte unserer für das Jahr 1995 vorgesehenen Reform sind folgende:
Erstens. Keine Nettosteuersenkung für Unternehmen, da die Unternehmen in der Bundesrepublik im internationalen Vergleich keineswegs überdurchschnittlich hoch belastet werden.
({8})
- Schauen Sie sich die Statistiken an! - Im Gegenteil: In der Höhe der Steuern auf Einkommmen und Vermögen liegen wir mit Ländern wie den USA, Japan und Großbritannien, um nur ein paar große zu nennen, auf einer Ebene.
Obwohl also die durchschnittliche Steuerbelastung der Unternehmen insgesamt angemessen ist, ist der nominale Körperschaftsteuersatz - das ist das, was Sie meinen - im internationalen Vergleich zu hoch. Da gebe ich Ihnen recht.
Das psychologisch ungünstige Element einer nominal hohen Körperschaftsteuer berücksichtigend, haben wir in unserem Modell eine Senkung des Steuersatzes auf 45 % für einbehaltene Gewinne bei gleichzeitiger Verbreiterung der Bemessungsgrundlage vorgesehen. Im Unterschied zum Regierungsentwurf wollen wir keine Senkung der Körperschaftsteuer für ausgeschüttete Gewinne, da wir in erster Linie die Gewinne berücksichtigen wollen, die im Unternehmen verbleiben und Investitionen fördern.
Zweitens. Keine Senkung des Einkommenspitzensteuersatzes von 53 % in unserem Modell, auch nicht für gewerbliche Einkünfte. Erstens liegen nur ca. 5 der Unternehmen mit ihren Einkommen im Bereich des Spitzensteuersatzes. Zweitens sehen wir darin den Einstieg in die generelle Einkommensteuersenkung.
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Die werden wir so lange nicht mittragen, wie nicht durch eine umfassende Steuerreform die Ungerechtigkeitskomponenten der Besteuerung beseitigt werden.
Drittens. Damit komme ich zu unserem Optionsmodell. - Damit Einzelunternehmer und Personengesellschaften keine Nachteile erleiden, sollen sie die Möglichkeit haben, sich für einen längeren Zeitraum - wir denken an ein paar Jahre - wie eine Kapitalgesellschaft besteuern zu lassen. Damit wollen wir eben nicht, wie der Herr Bundesfinanzminister meinte, Personengesellschaften und Einzelunternehmer in eine Rechtsformänderung treiben; vielmehr sollen diese durch die Option, sich so besteuern zu lassen, bei ihrer Rechtsform bleiben.
Damit würden im Unternehmen verbleibende Gewinne mit maximal 45 %, die ausgeschütteten Gewinne dagegen mit dem persönlichen Steuersatz des Unternehmers, also mit bis zu maximal 53 % besteuert.
Dieses Optionsmodell wird von Ihnen abgelehnt mit der Begründung, daß es in der Vergangenheit probiert worden sei und versagt haben soll. - Soviel ich weiß, ist in den 50er Jahren, etwa 1952, so etwas schon einmal versucht worden. Aber ich weiß nicht, ob diese aus der Frühzeit der Bundesrepublik stammende Regelung auf Grund der heute veränderten Ausgangsbedingungen nicht neu überlegt werden muß. Es gibt andere Industriestaaten, beispielsweise Japan und Frankreich, die ähnliche Regelungen haben. Auch der Sachverständigenrat der EG-Kommission hat ein solches Optionsrecht für die Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung auf europäischer Ebene vorgeschlagen.
Viertens. Für kleinere und mittlere Unternehmen wollen wir eine steuerfreie Investitionsrücklage von 100 000 DM für höchstens fünf Jahre. Der Regierungsentwurf sieht eine steuerfreie Investitionsrücklage von 45 % des Investitionsvolumens vor, die aber nach dem auf die Bildung der Rücklage folgenden Jahr entweder investiert sein muß oder gewinnerhöhend aufgelöst werden muß.
Dies begünstigt zwar größere kontinuierlich investierende Unternehmen; für kleinere und mittlere Betriebe, Handwerker und Gewerbetreibende ist eine solche Form der Investitionsrücklage aber nicht zweckmäßig, da diese nur in größeren Zeitabständen Maschinen und Anlagen ersetzen und somit auch einen längeren Ansparzeitraum benötigen.
Fünftens. Die aufkommensneutrale Finanzierung wird durch Verbreiterung der Bemessungsgrundlage - wir hatten das in unserem Modell; auf Grund der konjunkturellen Situation muß das heute sicherlich noch einmal neu überlegt werden - wie durch die Rückführung der degressiven Abschreibung sichergestellt. Des weiteren wollten wir eine Einschränkung von Rückstellungs- und Wertberichtigungsmöglichkeiten erreichen.
Wir hatten noch verschiedene andere kleine Punkte. Sie kennen unser Modell. Ich will das jetzt nicht im einzelnen ausführen.
Zur Bewertung des von der Bundesregierung vorgeschlagenen Standortsicherungsgesetzes. Schon der Begriff „Standortsicherung" - ich habe das einleitend ausgeführt - weckt Erwartungen, die dieses Gesetz nicht erfüllen kann. Die wirklichen Probleme des Standorts Deutschland liegen nicht in erster Linie im steuerlichen Bereich.
Erstens. Bei Befragungen von Managern dazu, welche Standortfaktoren für sie bestimmend waren, kommt erst an dritter oder vierter Stelle die Unternehmensbesteuerung.
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Für die neuen Länder sind die eingangs genannten Standortfaktoren von wesentlich größerer Bedeutung als steuerliche Komponenten.
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Zweitens. Die Senkung des Einkommenspitzensteuersatzes für gewerbliche Einkünfte ist der Einstieg in die allgemeine Senkung des Einkommenspitzensteuersatzes.
Ich sehe, daß meine Zeit beendet ist; ich möchte nur noch einen Schlußsatz sagen.
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Sie sollten diesen Gesetzentwurf in der vorliegenden Form zurückziehen. Wir sollten gemeinsam beraten, wie wir etwas Besseres zustande bringen, welches in erster Linie dem Aufbau in den neuen Bundesländern zugute kommt. Davon wird der Standort Deutschland in einem ungleich stärkeren Maße gewinnen.
Schönen Dank.
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Herr Kollege Hampel, Sie haben Ihre Redezeit nicht überzogen.
Nun kommt als nächster Redner unser Kollege Hermann Rind.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Hampel, Sie haben eingangs Ihrer Rede gesagt, die Entlastungen der Großunternehmen würden fortgeschrieben. Dazu darf ich zunächst einmal feststellen, daß wir die letzten zehn Jahre Steuerpolitik im Bereich Unternehmensbesteuerung darauf verwandt haben, die mittleren und kleineren Unternehmen zu entlasten - durch den linear-progressiven Tarif, durch die Senkung der Gewerbesteuerbelastung zugunsten kleiner und mittlerer Betriebe -, und daß wir jetzt - dazu bekennen wir uns auch - mit dem Standortsicherungsgesetz schwerpunktmäßig natürlich die großen Unternehmen im Blickfeld haben, die sich im internationalen
Wettbewerb u. a. wegen der Steuerbelastung nicht mehr behaupten können.
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Nun sagen Sie, wir strebten nur eine marginale Verbesserung an. - Wenn dem so ist, wenn es nur marginal ist, fällt Ihnen am Ende vielleicht die Zustimmung leichter. Nur muß ich Ihnen sagen, daß eine Senkung der Steuersätze bei Kapitalgesellschaften, nämlich von 50 % auf 44 %, eine Senkung der Steuerbelastung um mehr als 10 % darstellt, und das ist nicht marginal. Das sehen die Unternehmen ein ganzes Stück anders, als Sie es hier dargestellt haben.
Interessant ist ja folgendes - Sie haben dies auch gesagt; das war nicht immer so, Herr Kollege Hampel; zu Zeiten, als Sie noch nicht hiersein konnten, wurde das von Ihren Kollegen in der SPD-Fraktion mitunter ganz anders dargestellt -: Einigkeit besteht mittlerweile darüber, daß eine Unternehmenssteuerreform nötig ist.
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Die Frage, ob damit Entlastungen verbunden sein sollen, wird unterschiedlich gesehen.
Wir sehen die Notwendigkeit auch von Entlastungen. Wir haben nur im Moment nicht den finanziellen Spielraum, um Entlastungen zu gewähren. Die Entlastungen sind für uns auf mittelfristige Sicht aber dringend notwendig.
Nun ist es richtig, daß wir das Problem gemeinsam erkannt haben, und das ist eigentlich auch schon ganz erfreulich. Nur: Über die Wege gibt es natürlich absolut kontroverse Vorstellungen. Deshalb will ich mir zunächst einmal die drei im Moment erkennbaren Vorstellungen bei der SPD - die Meinungsvielfalt bei Ihnen ist ja reichlich chaotisch - ein wenig vornehmen:
Die Ländermehrheit im Bundesrat will am 53prozentigen Einkommensteuerspitzensatz auch für gewerbliche Einkünfte festhalten und nur die Körperschaftsteuer auf 44 % senken.
Dann kommt das Optionsmodell der SPD-Bundestagsfraktion mit einem Steuersatz von 45 % für Gewinne bei Option von Personenunternehmen, wie Sie es gerade dargestellt haben.
Jüngst, diese Woche erst, kamen die Pläne der Stuttgarter Landesregierung mit einem 40prozentigen Höchstsatz bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer für nicht entnommene Gewinne. - Was die nicht entnommenen Gewinne angeht, Herr Kollege Hampel, sollten wir uns vielleicht noch einmal verständigen dahin gehend, daß das Stuttgarter Modell insofern natürlich etwas ganz anderes ist als das Optionsmodell, daß die SPD-Bundestagsfraktion hier durch Herrn Poß vorgestellt hat.
Zur Position der SPD-Länder-Mehrheit möchte ich bemerken: Eine Spreizung zwischen einem Einkommensteuersatz von 53 % und einem Körperschaftsteuersatz von 46 % bedeutete - von der Verfassungswidrigkeit einmal abgesehen - eine Entlastung nur für 10 % unserer Unternehmen in der Rechtsform der GmbH und der AG. 90 % unserer Unternehmen in der Form der Personengesellschaften oder der Einzelunternehmen bleiben außen vor.
Wir sind mit Recht so stolz auf unsere mittelständische Struktur und ihre Organisationsform in Personengesellschaften mit persönlich haftenden Gesellschaftern und Einzelunternehmen. Gerade diese Struktur würden wir kaputtmachen. - Welch ein Wahnsinn von der SPD-Länder-Mehrheit, daran rütteln zu wollen!
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Zu dem Optionsmodell der SPD-Bundestagsfraktion ist folgendes zu bemerken: Es ist betriebswirtschaftlich unvernünftig und volkswirtschaftlich schädlich, die Gewinne im Unternehmen einzusperren. Die gesamte Gesellschaft hat die größten Vorteile von einem freien Kapitalverkehr und dazu gehört auch die freie Verfügbarkeit über Gewinne in Unternehmen.
Herr Kollege Rind, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Selbstverständlich.
Bitte sehr, Herr Kollege Poß.
Herr Kollege Rind, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß wir im gegenwärtigen Stadium erst eine Runde auch im Bundesrat hinter uns haben, die Frage des Optionsmodells da von der Ländermehrheit ganz ausgeklammert wurde, daß sich die Ländermehrheit nur gegen eine Senkung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer und für gewerbliche Einkünfte ausgesprochen hat und daß wir alle anderen Fragen - in der Tat gibt es da ein durchaus buntes Meinungsbild, nicht nur bei den Sozialdemokraten, sondern sozusagen rundherum in der Republik in dieser Frage - im weiteren Verfahren vertiefen werden.
Wir werden darüber diskutieren. Zur Haltung des Bundesrats kann ich Ihnen zunächst einmal nur sagen: Ich kann nur auf das eingehen, was als Position der Ländermehrheit der Öffentlichkeit gegenüber vertreten und dargestellt wurde. Wenn bei der SPD-Länder-Mehrheit Besserungs- und Einsichtsfähigkeit vorhanden ist, dann freut mich dies natürlich. - Das ist der eine Punkt.
({0})
- Herr Poß hat hier gesagt, es sei ein erster Durchgang gewesen, und die SPD-Länder-Mehrheit habe nur artikuliert, daß sie nicht vom 53prozentigen Steuersatz herunter will. - Darauf antworte ich: Wenn die SPD-Länder-Mehrheit an dieser Meinung festhält und diese Meinung auch am Ende im Vermittlungsverfahren vertreten wird, dann halte ich das für ein Auseinanderdifferieren der unterschiedlichsten Meinungen innerhalb der SPD.
Wenn sich die SPD-Länder-Mehrheit auf das Optionsmodell der Bundestagsfraktion zu bewegen
sollte, woran ich zweifele, dann werden wir uns darüber natürlich auch auseinandersetzen müssen. Das ist völlig klar. Die klare Aussage der SPDLänder-Mehrheit sah aber völlig anders aus. Die Verhandlungsbereitschaft der SPD-Länder, die Sie hier gerade angedeuet haben, war daraus nicht zu entnehmen.
Nun zurück zu der Feststellung, daß das Optionsmodell davon ausgeht, daß es sinnvoll ist, die Gewinne, die im Unternehmen verbleiben, zu begünstigen. Ich sagte weiter, daß es volkswirtschaftlich schädlich und betriebswirtschaftlich unvernünftig ist, durch steuerliche Privilegierung die Gewinne praktisch mit Gewalt im Unternehmen festhalten zu wollen. Dahinter steht bei der SPD natürlich die Annahme, daß Unternehmer in Saus und Braus ihr Geld verprassen und nichts anderes im Kopf haben als Segeljachten in der Adria und Chalets in der Schweiz.
({1})
- Das Bild, das in der SPD die Aussage prägt, daß Unternehmensgewinne, die entnommen werden, böse Gewinne sind, greife ich an, nicht Ihre persönliche Position, Herr Kollege Hampel.
Sicherlich gibt es Unternehmer und auch andere Zeitgenossen, die solches tun. Nur: Es ist eine deutliche Minderheit. Wegen dieser wenigen Fälle wollen Sie von der SPD volks- und betriebswirtschaftlichen Blödsinn veranstalten!
({2})
Ich sage Ihnen: Mit Neidkomplexen im Kopf und im Herzen läßt sich keine Unternehmensbesteuerung konzipieren, die Arbeitsplätze sichert und schafft. Sie bewirkt genau das Gegenteil.
({3})
Nebenbei bemerkt: Unter Einbeziehung der Gewerbesteuer sind auch die Jacht- und Chalet-Unternehmer noch stärker mit Steuern belastet als alle anderen Einkommensbezieher in Deutschland. Auch das sollte dabei nicht aus dem Auge verloren werden.
Nun zu Herrn Spöri. Es ist ja fast schon sensationell, aus dem Munde des SPD-Wirtschaftsministers zu hören, daß eine Absenkung des Einkommensteuerspitzensatzes für gewerbliche Einkünfte und des Körperschaftsteuersatzes sogar auf 40 % nötig sei. „Nötig sei" sagte Herr Spöri!
Ein großes Problem liegt in seinen Vorstellungen zur Gegenfinanzierung. Die vorgeschlagene Anhebung des Zinsfußes für Pensionsrückstellungen, die Einschränkung der Pauschalwertberichtigung auf Forderungen würden zunächst einmal überhaupt nicht ausreichen, um die nötige Finanzmasse für eine aufkommensneutrale Reform darzustellen. Das wäre darüber hinaus - ich sage es einmal etwas drastisch- die Aufforderung zur Bilanzschönung und zur Bilanzverfälschung. Diese Dinge, die sich in Jahrzehnten eingespielt haben - Rückstellungen und Wertberichtigungen - und die von der Finanzverwaltung sehr kritisch beäugt und betrachtet werden, sind keine Geschenke an Unternehmen, sondern sind dringend notwendige Vorsorge für künftige Lasten und Belastungen.
({4})
Wenn man diese antasten wollte, würde das zur Bilanzkosmetik führen, und dafür sollten wir als Gesetzgeber uns nicht zur Verfügung stellen.
Zu der von den Stuttgartern vorgesehenen Begünstigung des nicht entnommenen Gewinns sei nur angemerkt: Zu dem, was ich zu der Bedeutung des freien Kapitalverkehrs bei meiner Kritik am Modell der SPD-Bundestagsfraktion schon gesagt habe, kommt bei beiden Modellen die Komplizierung des Steuerrechts und die Vielfalt von Umgehungsmöglichkeiten noch hinzu.
Lassen Sie mich zum Optionsmodell noch etwas sagen, Herr Kollege Hampel. Wer in die zweifellos sehr komplizierte Besteuerung des Körperschaftsteuersystems hineingehen muß, wenn er eine Begünstigung seines Gewinns erhalten will, der wird logischerweise auch den nächsten Schritt tun und sagen: Wenn ich das alles schon auf mich nehmen muß, um einen günstigen Steuersatz zu bekommen, dann gehe ich gleich ganz in die GmbH und schaffe mir auch noch die Risiken der persönlichen Haftung vom Hals. Das ist doch eine ganz natürliche Reaktion, die wir nicht wollen, die Sie aber mit Ihrem Modell befördern würden.
Nun aber zu dem anderen Modell der SPD: Begünstigung des nicht entnommenen Gewinns. Wir haben ja mit dem alten § 10a des Einkommensteuergesetzes, der früher für Heimatvertriebene gegolten hat, unsere Erfahrungen gesammelt. Wer Zweifel an der Kompliziertheit und den Umgehungsmöglichkeiten hat, möge sich die umfangreiche Literatur und Rechtsprechung zu dieser früheren Steuerbegünstigung noch einmal zu Gemüte führen.
Für mich bleibt festzuhalten: Die SPD bejaht die Notwendigkeit einer Unternehmensteuersenkung. Lösungsansätze bietet sie in einer unübersichtlichen Vielfalt an. Allen ist aus meiner Sicht gemein: Sie sind mangelhaft und schädlich; sie sind keine Alternative zum Standortsicherungsgesetz. Wir werden uns in den Beratungen im Ausschuß darüber sicherlich sehr intensiv austauschen.
Nun zum Gesetzentwurf selbst. Unter die Tarifbegrenzung auf 44 % bei der Einkommensteuer und den Steuersatz von 44 % für einbehaltene Gewinne bei Körperschaften werden nur Einkünfte fallen, die der Gewerbesteuer unterliegen. Diese Beschränkung auf gewerbesteuerpflichtige Einkünfte macht zweierlei deutlich: zum einen, daß wir uns in Deutschland den Luxus leisten, die für die Arbeitsplätze wichtigste Einkunftsart der gewerblichen Einkünfte wesentlich höher zu belasten als alle anderen Einkunftsarten, nämlich mit einer in der Höhe beachtlichen zusätzlichen Gewerbesteuer.
({5})
Zum anderen wird deutlich, daß die Zeit für eine der ältesten steuerpolitischen Forderungen der F.D.P. nach Abschaffung der Gewerbesteuer leider noch nicht reif ist und deswegen der Umweg über die
Tarifbegrenzung bei der Einkommensteuer gewählt werden muß.
({6})
- Dazu komme ich noch.
Ich will nicht verschweigen, daß diese Hilfskonstruktion zwar sehr pfiffig ist, aber eben doch nur eine Behelfsmaßnahme darstellt. Wer, wie wir es schon immer getan haben und wie es Herr Spöri erfreulicherweise in dieser Woche auch tut, den Vergleich mit den Steuerbelastungen auch unter Einbeziehung der Bemessungsgrundlage in anderen Ländern zieht, der weiß, daß das Standortsicherungsgesetz ein Schritt auf dem richtigen Weg ist, aber noch nicht den Endpunkt der Bemühungen um Entlastung der Unternehmen markieren darf.
Die Abschaffung der Gewerbesteuer und eine allgemeine Senkung der Steuersätze, Herr Kollege Rauen - da bin ich nun auf dem Punkt -, bleibt für wirtschafts- und steuerpolitisch bessere Zeiten auf der Tagesordnung stehen.
Gegenüber anderen, für die Volkswirtschaft und für die Arbeitsplätze ebenfalls bedeutsamen Gruppen, wie den freien Berufen, ist die Steuerbegrenzung nur für gewerbliche Einkünfte allein unter dem Gesichtspunkt der zusätzlichen Belastung dieser Einkünfte mit Gewerbesteuer vertretbar. Deshalb ist es Ziel der F.D.P., auf mittlere Sicht wieder zu einheitlichen Steuersätzen bei Ersatz der Gewerbesteuer durch Beteiligung der Gemeinden an der Umsatzsteuer zu kommen.
Überlegungen und Änderungsbedarf sehen wir freien Demokraten noch an einigen Stellen des Gesetzes. Ich will hier nur einige Punkte benennen.
({7})
Bei der Gegenfinanzierung ist zu prüfen, ob die Senkung der Prozentsätze bei der degressiven Abschreibung auf bewegliche Wirtschaftsgüter in die momentane konjunkturelle Lage paßt. Wir bleiben, Herr Kollege Poß, bei dem Ziel der aufkommensneutralen Finanzierung dieses Schritts auf dem Weg zu einer Unternehmensteuerreform. Wir werden daran festhalten.
Ein weiterer Punkt ist die Regelung des § 8 a des Körperschaftsteuergesetzes : Gesellschafterfremdfinanzierung. Ich bezweifle, daß die im Entwurf vorgesehene Regelung das zweifellos zu lösende Problem wirklich zufriedenstellend regelt.
Nicht zufrieden sind wir von der F.D.P. mit der Beschränkung der erhöhten Freibeträge bei der Erbschaftsteuer nur auf Fälle der Erbschaft. Den Ausschluß des Übergangs zu Lebzeiten, also im Rahmen der Schenkungssteuer, und der Gewährung der höheren Freibeträge bei der Schenkungssteuer halten wir für nicht durchhaltbar und nicht vertretbar. Wir wollen den Generationswechsel innerhalb der Unternehmen zu Lebzeiten nicht steuerlich behindern, sondern eher fördern. Indem wir diese Maßnahme auf die Erbschaftsteuer beschränkt haben, ist dieses Ziel eines frühzeitigen Übergangs von einer Generation auf die andere nicht gewährleistet.
({8})
- Ich habe leider nur noch zwei Minuten Zeit und kann nicht mehr auf das Freiburger Programm eingehen. Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen, wird das nicht angerechnet, und ich kann es tun.
Ein letzter Punkt. Die F.D.P. ist der Auffassung, daß die vorgesehene Verlängerung der Sonderabschreibung in den neuen Ländern sich auch auf den Wohnungsbau erstrecken sollte. Diese Maßnahme begünstigt im übrigen auch Baukosten, die der Energieeinsparung dienen, und würde somit dem SPD-Antrag für die neuen Länder den Boden entziehen. Bezogen auf die alten Länder, sind diese Maßnahmen ja in der Regel sofort abzugsfähige Werbungskosten. Nur beim eigengenutzten Wohngebäude ist dies nicht der Fall. Hier sind wir allerdings der Meinung, daß durch die Kosteneinsparung bei Durchführung energiesparender Maßnahmen ein ausreichender Anreiz für Eigenheimbesitzer besteht, auch ohne neue Subventionen und finanzielle Belastungen des Haushalts diese Maßnahmen durchzuführen.
Das Standortsicherungsgesetz ist, da es aufkommensneutral ist, nicht die große und auch nötige Reform der Unternehmensbesteuerung. Endziel ist für uns freie Demokraten die Abschaffung der Gewerbesteuer - ich wiederhole es, um das Anliegen zu verdeutlichen - bei vollem Ausgleich durch sichere Finanzierungsquellen für die Kommunen sowie der Wegfall der betrieblichen Vermögensteuer. Der Einkommensteuerspitzensatz - dies ist unser Ziel - soll wieder für alle Einkünfte vereinheitlicht werden, sobald dies möglich ist.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Matthäus-Maier?
Ich habe darauf ja schon sehnsüchtig gewartet, Frau Matthäus-Maier.
Ich hatte eigentlich nicht die Absicht, eine Zwischenfrage zu stellen, weil wir in Zeitnot sind. Nachdem Sie aber vorgetragen haben, welche Steuern Sie im Unternehmensbereich alle ändern, abschaffen und senken wollen, wollen Sie dem verehrten Publikum nicht endlich einmal sagen, wann Sie die verfassungswidrige Besteuerung der Lohneinkommen, die Karlsruhe festgestellt hat, einmal abschaffen wollen und wann Sie den Grundfreibetrag verbessern wollen? Das sieht in Ihrer Fraktion offensichtlich niemand.
Das ist natürlich nicht der Fall. Wir haben uns sowohl in der Fraktion, in der Arbeitsgruppe, als auch im Finanzausschuß schon mit dem Thema befaßt.
({0})
Sie wissen, daß wir für die erste Stufe - Regelung der Geringverdiener - bereits eine gesetzliche Maßnahme im ersten Halbjahr bringen werden. Über den grundlegenden Tarifumbau oder über die Neugestaltung, wie auch immer das am Ende aussehen wird, müssen wir uns sehr intensiv Gedanken machen. Es wird Ihnen klar sein, wie es auch dem Bundesverfassungsgericht klar war, daß dies mehr Zeit erfordert.
Völlig d'accord - das ist alte F.D.P.-Programmatik, Frau Matthäus-Maier -, daß das Existenzminimum steuerfrei bleiben soll. Das ist das Ziel unserer Steuerpolitik.
Ich sage ja auch: Die Entlastungen oben müssen ebenso wie die Entlastungen unten finanzpolitisch vertretbar sein. Dies in die Waage zu bringen wird nur gelingen, wenn die Wirtschaft wieder besser floriert, wenn wir höhere Steuereinnahmen haben, wenn im Osten die Entwicklung so fortgeschritten ist, daß dort aus Leistungsempfängern Leistungserbringer werden: Steuerzahler - Beitragszahler. Machen Sie sich mal keine Sorgen; in ein paar Jahren wird es möglich sein, auch in der Steuerpolitik wieder durchgreifend neuzugestalten, und zwar sowohl unten, beim Grundfreibetrag und beim Kinderlastenausgleich, als auch in dem Bereich der Unternehmensbesteuerung, was ja nicht der schönen Augen der Unternehmer wegen betrieben wird, sondern um den Standort Deutschland zu sichern und für ausländische Investoren wie für deutsche Unternehmen attraktiv zu machen.
({1})
Vom Standortsicherungsgesetz soll ein Signal ausgehen, daß wir auch in diesen schwierigen Zeiten das dringend notwendige Ziel einer Entlastung nicht aus dem Auge verloren haben und in Zukunft weiter verfolgen werden.
In welcher Form das Gesetz am Ende im Bundesgesetzblatt stehen wird, wissen wir nicht. Wir wissen nur, daß sehr viel für den Industriestandort Deutschland, für die Arbeitsplätze in Deutschland davon abhängt, daß möglichst viel von diesem Entwurf auch am Ende in Gesetzesform verwirklicht wird.
Ich hoffe, daß wir diese Themen im Finanzausschuß in einer positiven Art und Weise ohne Emotionen diskutieren können und daß dies auch die SPD wenigstens ein Stück weit auf einen vernünftigen Weg bringt und bewegen wird.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Meine Damen und Herren, der nächste Redner ist jetzt unser Kollege Eike Ebert.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren jetzt schon mehr als drei Stunden über das Standortsicherungsgesetz. Ich denke, die Debatte hat einiges auch klarer werden lassen, was an Zielsetzungen und Möglichkeiten in diesem Gesetzgebungsverfahren steckt. Es ist klarer geworden - und es ist anzuerkennen, daß das unumwunden zugegeben wird -, daß der gesetzgeberische Inhalt des Standortsicherungsgesetzes - über die semantische Verfremdung, die dahintersteckt, ist genug gesprochen worden - nur ein ganz kleiner Teil dessen sein kann, was zur Standortsicherung Bundesrepublik getan werden müßte.
({0})
Es ist ausgeführt worden, und ich glaube, es ist auch deutlich geworden, daß die Buhmannfunktion, die Sie in dieser Debatte wieder einmal der Opposition zugedacht haben, unbegründet ist. Denn es ist deutlich geworden - Herr Hampel hat das im Detail vorgetragen -, daß die Sozialdemokraten dieses Konzept, daß an der Unternehmensbesteuerung etwas geändert werden soll, durchaus mittragen, daß auch wir sehen, daß es eben eine Komponente ist, um den Industriestandort Bundesrepublik zu sichern. Es ist deutlich geworden - aber ich denke, da gibt es auch keinen Dissens -, daß es nicht der primäre Punkt ist, der für den Standort Bundesrepublik wichtig ist, daß es, wenn man im Detail die Steuerbelastung der Unternehmen anschaut, auch gar nicht begründet ist, davon zu sprechen, daß hier ein Standortnachteil vorliegt.
Aber es ist auch deutlich geworden, daß es optische Gründe gibt, dort etwas zu machen, und da sind wir durchaus einverstanden.
In der Sache selbst, um diesen Punkt jetzt hier noch zu Ende zu führen, denke ich, daß wir gar nicht so furchtbar weit auseinanderliegen. Herr Poß hat in einer Zwischenfrage deutlich gemacht, daß die verschiedenen Sätze, die im Augenblick in der Diskussion sind, auch damit zusammenhängen, daß wir gerade erst in die Beratung des Gesetzentwurfs eingetreten sind. Das, was sich die Sozialdemokraten in der Bundestagsfraktion vorstellen, hat Herr Hampel deutlich gemacht.
Die Frage, ob jetzt irgendwo ein Optionsmodell praktiziert werden sollte oder ob wir die Lösung weiter verfolgen sollten, die Sie jetzt in Ihrem Entwurf angedacht haben, sollte letztlich eine Frage der Praktikabilität sein. Da wird es im einzelnen in Randbereichen sicherlich noch einiges gemeinsam zu diskutieren geben, und da wird es natürlich auch an der Gerechtigkeitsfrage einiges zu diskutieren geben. Aber im Endeffekt ist das alles, glaube ich, nicht so furchtbar weit voneinander entfernt.
Trotzdem, meine Damen und Herren, muß man an einem Punkt deutlich machen, wo die Entfernung eine gewaltige ist. Das ist der Kritikpunkt, der noch einmal deutlich in den Vordergrund gerückt werden muß. Das ist nämlich die Frage, wann ich das mache, wann ich an eine solche Unternehmensteuerreform herangehe.
Da haben Sie wahllos Zitate von Sozialdemokraten gebracht. Sie haben vorhin Herrn Engholm und andere zitiert. Das ist alles richtig, aber man muß dann dazusagen, wann und in welchem Zusammenhang das gesagt worden ist. Und, meine Damen und Herren, wir sind nicht der Auffasung, daß man, wenn Sie die Standortsicherung schon auf die Frage der Unternehmensteuersenkung reduzieren wollen, das dann in einem Zusammenhang machen kann, wo Sie in ganz anderen Bereichen mit extremen sozialen Problemen rechnen müssen, wenn das durchkommt, was
Sie an Beschneidungen des sozialen Netzes, um das ganz pauschal anzusprechen, hier im Sinn haben. Meine Damen und Herren, da werden Sie die Sozialdemokraten nicht an Ihrer Seite finden, wenn Sie glauben, daß dies in diesem Land parallel so laufen kann.
({1})
Es ist auch deutlich geworden, daß das, was als Refinanzierung für die Kosten einer solchen Unternehmensteuerreform hier eingesetzt worden ist, gar nicht ehrlich gemeint ist. In unserem Modell - ich will das hier durchaus noch einmal sehr offen sagen - ist auch eine Streckung der Abschreibungsmöglichkeiten zur Refinanzierung herangezogen worden, insofern auch keine sehr große Differenz. Aber gerade in der Rede von Herrn Rind ist deutlich geworden, daß es hier gar nicht mehr um die Standortsicherung geht, sondern er hat über Entlastung von Unternehmen in steuerlicher Hinsicht gesprochen. Das ist sein Thema gewesen.
({2})
- Das ist etwas ganz anderes, weil sich der Entwurf, den Sie vorgelegt haben, mit der Behauptung schmückt, daß das für den Bund einnahmeneutral sei. Auch bei Herrn Solms ist das schon angeklungen.
Ich verstehe ja, daß die Industrie das begrüßt. Wenn Sie irgendwo die Steuern gesenkt bekommen, ist das immer etwas Hervorragendes. Aber wir wissen doch alle, daß hinter vorgehaltener Hand gesagt wird: Das, was Sie im Augenblick im Abschreibungsbereich hier noch als Finanzierung drin haben, wird nicht so durchgehalten werden können. Wir sind uns ja auch darüber einig, daß das konjunkturell nicht in die Landschaft paßt. Aber dann können Sie doch nicht sagen, daß es hier um eine neutrale steuerliche Maßnahme gehe. Es geht um ein Herunterfahren der Steuereinnahmen. Das wird eintreten. Das können Sie auch den Berechnungen, die Sie in der Begründung dem Gesetz beigefügt haben, im einzelnen entnehmen.
Meine Damen und Herren, wenn man sich die dieswöchige „Wirtschaftswoche" anschaut, kann man dem Herrn Finanzminister - er ist nicht mehr hier - zu der Adam-Riese-Medaille gratulieren, die er da verliehen bekommen soll. Die Kommentierung in seinem eigenen Pressedienst, daß hier ein großer Rechenkünstler einem kleinen Rechenkünstler eine Medaille verleiht, kann man nur als süß bezeichnen; denn damit wird wirklich deutlich, daß das, was an Refinanzierungsberechnungen hier angeboten wird, überhaupt nicht stimmt.
Meine Damen und Herren, es kann doch wohl nicht so sein, wie Herr Waigel es hier auch wieder deutlich gemacht hat: Wenn es sich halt anders darstellt, werden wir die Nettoneuverschuldung erhöhen müssen. Wir alle wissen doch, daß wir eine Verschuldung dieses Landes in einem so katastrophalen Maße haben, daß wir hier nicht leichtfertig weitere Dinge aufsatteln können.
({3})
Es ist nicht so - ich habe das hier immer schon angesprochen, und in der Debatte vorhin wurde das ständig wiederholt -, daß es sich um eine Altlast aus der Zeit bis 1982 handelt. Sie haben in den Jahren 1982 bis 1989 - daß das mit der Wiedervereinigung anders geworden ist, werfe ich Ihnen ja gar nicht vor -, in den Jahren, in denen wir eine Hochkonjunktur hatten, in denen wir für den Bundeshaushalt in jeder Hinsicht günstige Aspekte hatten, die Verschuldung des Landes weiter hochgefahren und einen Plafond an Verschuldung produziert, der es uns heute nahezu unmöglich macht, noch irgendwie zu handeln.
({4})
Wenn wir über Standortsicherung reden, dann muß auch das zurückgewiesen werden, was Herr Sohns vorhin in seiner Rede vorgetragen hat, daß es nämlich vor allen Dingen an der Lohnpolitik liege. Wir wissen natürlich auch, daß das der entscheidende Kostenfaktor ist, aber man kann sich doch nicht hinstellen und hier sagen, daß die Gewerkschaften darüber entscheiden, ob in der Bundesrepublik Massenentlassungen stattfinden oder nicht. Wer sagt denn einmal etwas darüber, daß wir in der Bundesrepublik auch ein riesiges Managementdefizit haben, daß es an den Führungen der Unternehmen liegt, daß wir teilweise den Anschluß an die Hochtechnologien nicht geschafft haben und laufend weiter verpassen. Hier wäre wirklich mehr Ausgewogenheit in der Debatte notwendig gewesen, um die Fragen wirklich offenzulegen und zu erreichen, daß wir hier zu einem Konsens kommen.
Wenn das durchgeführt wird, was Sie hier vorhaben - die Sozialdemokraten werden dabei nicht mitmachen; Sie sehen die unterschiedliche Beurteilung; es kann in dieser Zeit in dieser Form nicht laufen -, dann werden Sie keinen neuen Arbeitsplatz in diesem Land hervorbringen, weder in den alten noch in den neuen Bundesländern. Sie werden nicht erreichen, daß irgendwo investiert wird. Was Sie erreichen werden, sind Mitnahmeeffekte, die aber für den Markt, an dem etwas geändert werden müßte, überhaupt nichts bewirken.
Meine Damen und Herren, es ist Ihnen in der Debatte schon mehrfach empfohlen worden, das Gesetz zurückzuziehen. Ich möchte diese Aufforderung wiederholen.
({5})
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Gerhard Schulz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte ein paar Ausführungen zu den Auswirkungen des Standortsicherungsgesetzes auf den Osten und den ostdeutschen Mittelstand machen. Die Tarifabsenkung auf 44 % betrifft nämlich auch ostdeutsche Unternehmen. Es soll ja einige geben, die Steuern zahlen; es soll ein
Gerhard Schulz ({0})
paar ostdeutsche Unternehmen geben, die Gewinn erwirtschaften. Das soll es geben!
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Wenn ich überlege, daß die Steuereinnahmen in Sachsen die höchsten in den ostdeutschen Ländern sind und daß die Steuereinnahmen im Finanzamt Leipzig II die höchsten in Gesamtsachsen sind, dann kann es nicht so sein, daß keiner im Osten Steuern zahlt.
Mit der Verschlechterung der Abschreibung kann ich als Handwerker leben, und damit sehen wir, daß die degressive Abschreibung, die zur Gegenfinanzierung dieser Steuerveränderung gekürzt wird, überwiegend nicht vom Handwerk und nicht vom Mittelstand angewendet wird.
({2})
Hier wird die lineare Abschreibung bevorzugt. Damit wird die Finanzierung dieser Steuerreform, die, wie Sie sagen, nur den Großen und den großen Westdeutschen zugute kommt, auch von diesen großen Westdeutschen refinanziert.
Die eigenkapitalschonende Ansparabschreibung, also die Möglichkeit des steuerbevorzugten Zurücklegens von Geld auf den Kreditbedarf für spätere Investitionen, wird von ostdeutschen Unternehmen genutzt, besonders von denen, die unterhalb dieser Kürzung auf 44 % liegen; denn die können ihre Steuern, die sie zahlen müßten, nutzen, um für spätere Investitionen anzusparen. Das ist also, wenn man so will, auch eine Entlastung. Das ist etwas - das wissen Sie -, was die Handwerker der DDR über Jahrzehnte hinzukriegen versucht haben. Es war aber nicht möglich.
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Jetzt haben wir es! Das ist, wenn man so will, ein kleiner Erfolg der Vereinigung.
Auf die Bedeutung der Verlängerung der Sonderabschreibung in den neuen Ländern brauche ich nicht näher einzugehen; die dürfte zum Allgemeinwissen gehören.
Aber die weitere Aussetzung der Vermögen- und Gewerbekapitalsteuer ist das, weshalb wir im Osten von den Westunternehmen berechtigterweise beneidet werden. Ich möchte deshalb insbesondere noch einmal darauf verweisen, daß es die Politik der CDU ist, diese beiden ertragsunabhängigen Steuern völlig zu kippen. Wir bleiben dabei: Wir wollen das! Möglicherweise ist die Lernfähigkeit der Gegner dieser Abschaffung doch größer, als wir meinen, und wir kriegen es noch hin.
Das ist ein Thema, bei dem wir natürlich über die Gegenfinanzierung reden müssen. Das sagen wir immer wieder: Es geht nicht, es einfach wegfallen zu lassen, und damit hat sich's! Es geht aber um das Prinzip. Es wird prinzipell gesagt: Diese Steuern dürfen nicht wegfallen, weil das die Unternehmen begünstige. Das ist aber völliger Quatsch.
Noch einmal zur Absenkung des Tarifs auf 44 %: Der Umstand, daß Freiberufler, also Ärzte, Anwälte,
Steuerberater usw., mit dieser Tarifsenkung nicht beglückt werden, ist für mich durchaus auch ein Argument des Solidarbeitrags dieser Gruppe zur Finanzierung der Einheit Deutschlands.
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Ganz von der Hand zu weisen ist es nicht. Aber unabhängig davon ist es völliger Unsinn, an dieser Absenkung wieder einmal die Neiddiskussion festzumachen - nach dem Motto: Den Reichen geben und den Armen nehmen.
Ich kenne einen anderen Spruch; der heißt: Geht es dem Unternehmer, sprich: Unternehmen, gut, geht es dem Arbeiter gut!
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Zeigen Sie mir doch einmal in Deutschland ein Unternehmen oder einen Unternehmer, dem es darum gut geht, well er seine Mitarbeiter ausbeutet und es seinen Mitarbeitern schlecht geht!
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Die Neiddiskussion ist doch ständig da. Wer schafft denn eigentlich Arbeitsplätze? Nicht der Staat! Nach einer Umfrage, von der man mir erzählt hat, sind 60 % der Bürger der neuen Länder und 40 % der Bürger der alten Länder der irrigen Meinung, der Staat schaffe Arbeitsplätze und nicht der Unternehmer.
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Das ist schlimm. Der Unternehmer, der in Deutschland bei fast neun von zehn Unternehmen das persönliche Risiko trägt und damit für den Lebensunterhalt von fast 70 % aller Erwerbstätigen sorgt, schafft Arbeitsplätze. Darum soll es dem Unternehmer gut gehen.
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- Aber selbstverständlich! Für wen denn sonst?
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Die Befürchtung, daß durch hohe Grenzbesteuerung die Leistungsbereitschaft - ({10})
- Jetzt machen wir einmal eine Querbeetdiskussion zwischen F.D.P. und SPD, und da halte ich mich zurück. Wird die Uhr angehalten?
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- Ich gehe gar nicht darauf ein.
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Gerhard Schulz ({13})
Die Befürchtung, daß durch hohe Grenzsteuerbelastung die Leistungsbereitschaft und die unternehmerische Initiative gelähmt wird, ist nicht unberechtigt. Ich möchte einmal ganz kurz berichten, wie meine unternehmerische Handlungsbereitschaft zur DDR-Zeit als Handwerker durch hohe Steuerbelastung mehr als gebremst wurde. Ich habe meine Leute nur von 7 bis 15 Uhr arbeiten lassen, und in dieser Zeit war über eine Stunde Mittags- und Frühstückspause enthalten. Wir hatten den Sozialismus bereits, und die 35-Stunden-Woche war für uns etwas länger, als wir wirklich gearbeitet haben. Die Arbeitstage zwischen Sonntag und Feiertagen waren frei. Wenn also der Dienstag ein Feiertag war, haben wir montags nicht mehr gearbeitet. Eigentlich alles bezahlte Arbeitszeit! Zwischen Weihnachten und Silvester war alles frei. Das war so, weil es sich schlicht und einfach nicht mehr gelohnt hat, mehr zu arbeiten und mehr zu verdienen, weil unter dem Strich nicht mehr übrigblieb. Deswegen habe ich gesagt: Wenn ich schon nicht die Löhne zahlen kann, die ich euch zahlen müßte und zahlen wollte, dann habt ihr wenigstens mehr Freizeit und könnt mit der Freizeit etwas Besseres anfangen, vielleicht sogar im Nebenjob mehr Geld verdienen!
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Eine Standortentscheidung hängt von vielen Faktoren ab, das ist immer wieder gesagt worden, und das weiß jeder. Steuerliche Belastungen sind nur einer dieser Faktoren; das ist auch gesagt worden. Völlig richtig! Aber dieser Faktor ist einer von denen, die wir durch die Politik beeinflussen können, und darum geht es.
Die Anpassung an das vereinte Europa muß jedes Mitglied der Europäischen Gemeinschaft ohnehin leisten, und diese Anpassung geschieht bei einigen Mitgliedstaaten schon seit längerer Zeit und wesentlich vehementer als bei uns. Dafür müssen gewisse Dinge getan werden.
Zusätzlich geht es bei uns noch um den Aufbau der neuen Bundesländer, und dazu brauchen wir die Unternehmen, die deutschen und die ausländischen. Lassen Sie mich einmal ganz lax sagen: Die Begrenzung auf 44 % - und das auch noch gegenfinanziert - reicht nicht. Mir wäre es wesentlich lieber, wir würden es mit 35 % machen, und zwar nicht gegenfinanziert.
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- Das ist ja Quatsch! Wer zahlt denn dann diesen Staat? Das ist ja völliger Quatsch. Ich kenne die Begründung, warum es nicht möglich ist. Damit meine ich nicht die unsägliche Neiddiskussion, sondern die Begründung aus der Situation der Staatsfinanzen heraus. Aber ich habe gelesen, daß die Steuersenkungen der Jahre 1982 bis 1990 dazu geführt haben, daß die Steuerquoten den niedrigsten Stand seit den 60er Jahren hatten und gleichzeitig die Steuereinnahmen um 45 % zunahmen.
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Das ist ein Beweis für die Theorie: Viele kleine Steuern bringen mehr ein als wenige große. - Der Umkehrschluß, daß viele große Steuern noch mehr einbringen, ist natürlich falsch.
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Bei vielen kleinen Steuern, die nicht alle jedes Unternehmen treffen, ist der Aufwand zum Ausgleichen viel zu groß. Anders sieht es bei den wenigen Unternehmen aus, die nur durch große Steuern betroffen werden. Die weichen aus, weil es sich dann lohnt.
Vergessen wir nicht: Für die notwendigen Investitionen in den neuen Bundesländern brauchen wir gute Gewinne der Unternehmen, die investieren wollen und sollen, und die brauchen wiederum gute Gewinnaussichten, damit sich ihre Investitionen lohnen. Wenn das nicht berechenbar ist, passiert nichts.
Es macht mir große Mühe, meinen Mitbürgern in den neuen Ländern klarzumachen, daß das - ich sage es einmal so, wie es heißt - Gewinnstreben der Unternehmer nichts Schlechtes ist; im Gegenteil! Das ist die Folge der Erziehung und der Verbildung, die bei uns stattfand. Aber ich kann Ihnen das Grausen nicht beschreiben, das mich befiel, als ich merkte, daß auch weite Teile der hiesigen, westdeutschen Gesellschaft nicht frei von diesem Gedanken sind, daß Gewinne der Unternehmer als etwas Schlechtes anzusehen sind.
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- Richtig! Wer finanziert denn die Transferleistungen in die neuen Länder? Doch nicht der Finanzminister mit der Geldpresse, sondern die finanziert der Steuerzahler. Darüber sind wir uns doch hoffentlich einig.
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Auch die Kredite, die wir aufnehmen müssen, werden letztendlich durch die Steuerzahler bezahlt, wenn auch erst später. Niemand anderes bezahlt sie. Wer aber ist dieser Steuerzahler? Das sind alle die, die Gewinne erwirtschaften, also Steuern zahlen müssen, und alle die, die ein Einkommen erzielen, egal, woher, für das sie Steuern zahlen müssen. Die, die viel verdienen, weil sie viel unternehmen, zahlen viel Steuern.
Efraim Kishon hat ein Buch über die Steuer geschrieben. Ich empfehle, es zu lesen. Eine Replik daraus ist die, daß er die Lohn- und Einkommensteuer als eine Strafsteuer für die Findigen und Tüchtigen bezeichnet. Ich enthalte mich einmal eines jeglichen Kommentars dazu.
Verlieren die potentesten Steuerzahler, nämlich die Unternehmer, die Lust und ziehen sich ins Ausland zurück oder treiben wir sie durch zu hohe Belastung - auch durch die Lohnnebenkosten - zur Aufgabe ihrer unternehmerischen Tätigkeit, verlieren wir die Steuereinnahmen. Damit fehlen die Mittel, die wir für
Gerhard Schulz ({20})
Deutschland brauchen. Gehen die Unternehmen ins Ausland, nehmen sie Arbeitsplätze mit. Gehen sie nicht und wehren die Kosten durch verstärkte Rationalisierung ab oder geben sie Unternehmen auf - der schlimmste Fall -, gehen ebenso Arbeitsplätze verloren.
Neben den Verlusten im Bereich der Lohn- und Einkommensteuer gehen damit auch die Zahlungen in das Sozialversicherungssystem zurück. Damit sind nicht nur die sozialen Transferleistungen in die neuen Länder gefährdet; es muß auch für die dann insgesamt steigende Arbeitslosigkeit mehr aufgebracht werden. Von wem denn dann eigentlich?
Die Mittel zum Aufbau Ost müssen und werden weitgehend im Westen erwirtschaftet. Wer dem stotternden Motor der Wirtschaft West jetzt das Benzin verweigert, wer dem Karren, der durch das Stottern Schwung verloren hat, nicht die Möglichkeit gibt, durch zeitweilige Verringerung der Last wieder in Schwung zu kommen, hat kein Recht, zu behaupten, er habe begriffen, worum es geht.
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Aber damit bin ich bei einem anderen Thema, z. B. beim Konsolidierungsprogramm und beim Solidar-pakt. Ich werde mich sicher wieder zu Wort melden, wenn wir das hier besprechen.
Ein ganz kurzes Fazit: Umgarnen wir die Unternehmen, schaffen wir Anreize, steuerliche und andere, die ihre Standort- und Investitionsentscheidung pro Deutschland ausfallen lassen! Es muß Spaß machen, in Deutschland zu investieren, in Deutschland zu arbeiten und in Deutschland mehr zu tun, als nur von Montag bis Freitag sieben oder acht Stunden abzureißen.
Danke schön.
({22})
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Fritz Schumann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Position der PDS/Linke Liste zum Standortsicherungsgesetz hat Frau Dr. Höll hier dargelegt. Ich werde mich deshalb auf ein paar Ergänzungen beschränken, vor allen Dingen aus wirtschaftlicher Sicht.
Herr Schulz, wenn Sie sagen, daß Sie so arbeiten konnten, daß Sie schon die 35-Stunden-Woche hatten, dann muß ich entgegnen: Ich kam leider aus einem Wirtschaftszweig der ehemaligen DDR, in dem es nicht möglich war, unsere Arbeit in 35 Stunden zu verrichten.
Erstens. Laut Begründung des Gesetzentwurfs sind, - ich zitiere - „zügige Fortschritte beim weiteren Aufbau der Wirtschaft im Beitrittsgebiet" ein Ziel. Auf den Osten wird noch mehrfach Bezug genommen. Bei mir - und nicht nur bei mir und nicht nur bei diesem Gesetz - entsteht der Eindruck, daß die Situation im Osten als willkommener Vorwand herhalten soll, bestimmte Reformen zu forcieren, wogegen nichts einzuwenden wäre, wenn sie denn zu tatsächlicher Vereinfachung, Überschaubarkeit und Förderung von Wirtschaft und Investitionen führten. Doch das bleibt erst noch zu beweisen.
Die Versicherung, daß die Steuersenkungen des Standortsicherungsgesetzes aufkommensneutral seien, halte ich für Augenwischerei. Tatsächlich wird der Effekt darin bestehen, daß a) die öffentlichen Haushalte Einnahmeausfälle erleiden und sich deshalb noch mehr verschulden müssen und b) die Umverteilung von unten nach oben zusätzliche Impulse erhält.
Zweitens sind zügige Fortschritte beim Wirtschaftsaufbau im Osten mit denen im Standortsicherungsgesetz vorgesehenen steuerlichen Veränderungen nach unserer Ansicht eher zweifelhaft; denn am Geld aus und in Unternehmen allein kann es nicht liegen. Ich werde dazu noch etwas sagen.
Wir meinen, daß in erster Linie eine aktive Strukturpolitik mehr Effekte bringen kann. Selbst die deutschen Arbeitgeberverbände fordern in ihrem Konzept „Die gewerbliche Wirtschaft für den Aufbau in Ostdeutschland" vom 25. Januar 1993 u. a.: bessere finanzielle Ausstattung der Treuhandbetriebe - damit sie wirtschaftlich endlich handlungsfähig werden -, Arbeitsplatzsubventionen - von vielen, auch von uns, schon verschiedentlich gefordert -, gezielte Absatzförderung - vor allem auf westlichen Märkten -, Beseitigung von Investitionshemmnissen - darunter die Eigentumsverhältnisse, hier auch schon mehrfach angesprochen - und vieles andere.
Fakt ist doch, daß die private Wirtschaft der alten Bundesländer trotz bereits bestehender Investitionsanreize im Osten davon nicht sonderlich angeregt wurde, zumindest nicht im produzierenden Gewerbe. Ganze 25 Milliarden DM wurden 1992 investiert. Das ist alles. Warum sollte die Wirtschaft denn nun anspringen?
Wie bereits gesagt: Am Geld der Unternehmen allein kann es nicht liegen. Wenn heute hier schon mehrfach postuliert wurde, daß es, wenn es dem Unternehmen gutgeht, auch den Arbeitern gutgeht, dann möchte ich dagegen doch einmal ein paar Zahlen auffahren. Das Bruttoauslandsvermögen bundesdeutscher Unternehmen und Privatpersonen ist von Ende 1988 bis Mitte 1992 um rund 47 % auf fast 987 Milliarden DM angewachsen. Netto betrug das Wachstum des Auslandsvermögens fast 58 %. Es stieg im Juni 1992 auf etwas über 484 Milliarden DM. Vor allem die kurzfristigen Geldanlagen im Ausland scheinen sich für bundesdeutsche Unternehmen und Privatpersonen zu lohnen. Bundesdeutsche Wertpapieranlagen im Ausland lauten zu einem größeren Teil auf D-Mark und profitieren von den gestiegenen D-Mark-Zinsen.
Von 1988 bis 1992 stiegen die Bruttokapitalerträge um 50 % auf 120 Milliarden DM. Das gesamte Geldvermögen der westdeutschen Produktionsunternehmen wuchs seit der Wende in der DDR um 22 % auf 1,67 Billionen DM, wovon 595 Milliarden DM sofort verfügbar wären. Innerhalb von vier Jahren, von 1987 bis 1991, stieg die Geldvermögensbildung westdeutDr. Fritz Schumann ({0})
scher Produktionsunternehmen um das Zweieinhalbfache.
Nun frage ich mich, warum es nicht möglich gewesen ist, mit diesem Geld mehr Investitionen zu tätigen und die Wirtschaft stärker anzukurbeln, als wir es erleben. Ich frage mich: Was muß getan werden, um einen tatsächlichen Aufholprozeß und einen tatsächlichen Aufschwung im Osten zu erreichen? Ich glaube, daß es hier nicht allein um Geld und um Spitzensteuersätze gehen kann, sondern daß es vor allen Dingen auch darum gehen muß, Motivationen, die vorhanden sind und besonders im Osten vorhanden waren, besser zu fördern, als es mit diesem Gesetz getan wird. Ich bitte darum, daß darüber intensiv nachgedacht wird.
Danke.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist jetzt unser Kollege Holger Bartsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß zu Beginn meines Beitrags vielleicht erklären, daß wir heute hier nicht nur über das von der Bundesregierung eingebrachte Standortsicherungsgesetz debattieren, sondern daß wir auch einen Antrag meiner Fraktion auf Drucksache 12/2495 mit dem Titel „Programm Energieeinsparung in Gebäuden - Wiedereinführung und Umgestaltung des § 82a EStDV" auf der Tagesordnung haben. Zu diesem Antrag möchte ich jetzt sprechen. Den Damen und Herren von der Koalition sei gesagt: Das ist ein Antrag, in dem wir tatsächlich Steuererleichterungen vorsehen.
({0})
Wir beraten erst heute über diesen Antrag, den meine Fraktion im April 1992 in den Bundestag eingebracht hat. Manch einer könnte sagen: ein sehr lang zurückliegender Antrag. Ich meine, daß er, obwohl er schon zehn Monate alt ist, von seiner Aktualität überhaupt nichts eingebüßt hat.
({1})
Im Gegenteil: Er ist heute aktueller denn je - und dies aus zwei Gründen.
Grund Nummer eins ist darin zu sehen, daß diese Bundesregierung in Sachen wirksamer Energieeinsparungspolitik kaum etwas zu bieten hat. Ich werde noch versuchen, das zu beweisen.
({2})
- Das ist richtig.
Grund Nummer zwei ist die Tatsache, daß es nun den Anschein hat, als kämen nach einer langen Zeit bloßer Ankündigungen doch echte Gespräche über einen sogenannten neuen energiepolitischen Konsens zustande.
Zunächst zu Grund Nummer eins. Die Bundesregierung hat in ihrem sogenannten energiepolitischen Gesamtkonzept vom November 1992 selbst darauf hingewiesen, daß auf die Raumwärme ein Drittel des Endenergiebedarfs entfällt. Aus den Klimaschutzberichten der Enquete-Kommission geht hervor, daß mit die höchsten Energieeinsparpotentiale im Gebäudebestand liegen, diese wegen der niedrigen Energiepreise aus wirtschaftlichen Gründen von den Besitzern aber nicht genutzt werden. Wer diese Tatsachen zur Kenntnis nimmt und es mit dem Ziel ernst meint, durch Energieeinsparung einen wirksamen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten, wie es die Bundesregierung selbst in ihrem Konzept verkündet, der muß entsprechende finanzielle Anreize für private Investoren erhalten bzw. schaffen und das beseitigen, was solchen Anreizen entgegensteht. Ich zitiere aus dem Konzept, Drucksache 12/1799, Punkt 12:
Der vorrangige Beitrag der Energiepolitik zu diesem Gesamtkonzept liegt in der verstärkten Fortsetzung der Politik zur Energieeinsparung. Dies gilt für alle Bereiche - die gewerbliche Wirtschaft ebenso wie den Verkehrssektor und den Wohnungsbereich.
Nun hat aber die Bundesregierung § 82a EStDV abgeschafft und die Förderung, Modernisierung und Instandsetzung von Wohnungen in den neuen Bundesländern im Rahmen des Gemeinschaftswerks 1993 nicht fortgesetzt. Wer von Klimaschutz und Energieeinsparung redet, bewährte Förderinstrumente aber gleichzeitig abschafft, der ist unglaubwürdig, meine Damen und Herren. Es ist deshalb auch kein Wunder, daß der Wirtschaftsminister die Klimaschutzziele, die der Umweltminister noch hochhält, längst aufgegeben hat, In Sachen Energiesparpolitik weiß in dieser Bundesregierung die rechte Hand offenbar nicht, was die linke will.
Mit unserem Antrag wollen wir die Wiedereinführung und Umgestaltung des § 82 a EStDV für ganz Deutschland bewirken, sozial gerecht durch einen progressionsunabhängigen Abzug von der Steuerschuld bzw. bei nicht vorhandener Steuerschuld durch einen Zuschuß. Energiesparmaßnahmen sind ein Teil des überfälligen Klima- und Umweltschutzes. Diese Investitionen sichern und schaffen neue Arbeitsplätze insbesondere im Osten Deutschlands, wo die Sanierung des maroden Wohnungsbestandes sowohl aus volkswirtschaftlicher als auch aus sozialer Sicht unerläßlich ist. Ohne eine intakte Infrastruktur, ohne moderne Wohnungen werden wir den Aufschwung in den neuen Ländern nicht voranbringen. Vielleicht erinnern Sie sich daran, daß im Westen Deutschlands damals das Zukunftsinvestitionsprogramm ein großer Erfolg war, und zwar konjunkturpolitisch, volkswirtschaftlich und sektorspezifisch.
({3})
Mir ist unverständlich, daß selbst ein so bescheidener Antrag zur Energieeinsparung - wir rechnen mit einem jährlichen Steuerausfall von etwa 350 Millionen DM - von Ihnen abgelehnt wird.
({4})
Sie sparen an der falschen Stelle. Sie verhindern Zukunftsinvestitionen, ja, schlimmer noch: Angelaufene Aktivitäten zur Energieeinsparung werden nicht fortgeführt, sondern unterbrochen.
Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung zu Grund Nr. 2 machen. Bekanntlich hat der vorläufig vorletzte Wirtschaftsminister der Bundesregierung, unser Kol11852
lege Möllemann, bei der Vorstellung seines energiepolitischen Konzepts im Dezember 1991 recht vollmundig erklärt, daß er eine Initiative zur Herbeiführung eines neuen energiepolitischen Konsenses in der Bundesrepublik starten will.
Nachdem nun über ein Jahr lang über dieses Vorhaben nur geredet wurde, deutet sich nunmehr an, daß es zu konkreten Gesprächen darüber kommen könnte. Ich kann Ihnen jetzt schon sagen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, daß mit uns solche Gespräche nur dann einen Sinn machen, wenn darin auch massive staatliche Förderprogramme und steuerliche Anreize zum Energiesparen eine Rolle spielen. Wer mit uns über einen energiepolitischen Konsens sprechen will, der muß auch darüber sprechen, wie er den Hauptweg zum Klimaschutz, nämlich die gezielte Nutzung aller vorhandenen Energiesparpotentiale, ernsthaft beschreiten will.
Der von uns eingebrachte Antrag ist nur ein kleiner Baustein für einen neuen Energiekonsens. Wer ihn ablehnt, setzt ein falsches Zeichen für diese seit langem überfälligen Gespräche.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort unserem Kollegen Dr. Karl Fell.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zunächst eine Vorbemerkung zu dem SPD-Antrag auf Wiedereinführung des § 82a der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung machen. Sie wissen genausogut wie ich - Ihre letzten Bemerkungen zu dem vereinbarten Gespräch über einen neuen Energiekonsens belegen das -, daß - wenn überhaupt - nur in diesem Zusammenhang darüber gesprochen werden kann und daß wir solche Maßnahmen nicht vorwegnehmen können. Deshalb sollten wir das aus den Beratungen zum Standortsicherungsgesetz herauslassen.
Lassen Sie mich eine zweite Vorbemerkung machen. Wir haben in den zurückliegenden Stunden über viele Details diskutiert. Mir liegt daran, noch einmal zusammenfassend einige Grundlagen deutlich zu machen, damit wir wissen, in welchem Zusammenhang wir dieses Standortsicherungsgesetz diskutieren, weshalb wir es verabschieden wollen.
Der weltweite Konjunkturrückgang, der schon einige Jahre anhält, hat mit zweijähriger Verspätung nunmehr auch uns erreicht. Die Abwärtsbewegung trifft uns jetzt heftiger, weil der deutsche Einigungsprozeß zunächst die Binnennachfrage positiv stimuliert hat. Der Absturz ist größer, als er gewesen wäre, wenn wir von vornherein in diesen Konjunkturabschwung eingebunden gewesen wären.
Die Konjunkturprognosen signalisieren jetzt eine - psychologisch motivierte - negative Grundstimmung, die in Wahrheit durch die Wirtschaftsdaten nur zum Teil getragen wird. Die Auftragslage im konjunkturbestimmenden Maschinen- und Anlagenbau ist stark rückläufig. Auftragseinbußen von über 10 %
bilden die erschreckende Bilanz. Der Kraftfahrzeug, markt stagniert. Der Binnenkonsum leidet unter dem hohen Niveau der kurzfristigen Zinsen. Aus politischen Rücksichtnahmen haben wir den norddeutschen Werften ein Auftragsvolumen verwehrt, das Zehntausende von Arbeitsplätzen in der Schiffbauindustrie bis in das nächste Jahrzehnt hinein gesichert hätte. Ich betone: Aus politischen Gründen haben wir das verwehrt.
Tatsächlich aber relativieren sich die negativen Konjunkturdaten, wenn man bedenkt, daß Ausgangsbasis der Berechnungen die gesteigerte Binnennachfrage auf Grund der deutschen Einigung war.
Eine zukunftweisende Wirtschafts- und Steuerpolitik, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, verlangt nun einmal rechtzeitige Anpassungen, damit ernsthafte Krisen, wie wir sie inzwischen aus einigen anderen EG-Staaten kennen, vermieden werden. Die Wachstumsprognosen müssen weltweit drastisch nach unten korrigiert werden. Der Kampf um den geeignetsten Investitionsstandort ist längst entbrannt; denn die internationale Arbeitsteilung ermöglicht die weltweite Aufteilung von Produktionsprozessen.
Der verschärfte internationale Wettbewerb zwingt uns zu einer Politik, die in Deutschland ein günstiges Investitionsklima schafft und bestrebt ist, unsere natürlichen Standortvorteile zu erhalten. Die hervorragende Infrastruktur, hochqualifizierte und motivierte Arbeitskräfte, der Industrialisierungsgrad - das alles sind ungeheure Vorteile, die den Industriestandort Deutschland auszeichnen.
({0})
Das darf aber, Frau Kollegin Matthäus-Maier, nicht dazu verleiten, die Kostenseite zu vernachlässigen. In keinem anderen Industriestaat wird die gewerbliche Wirtschaft noch so stark besteuert wie bei uns in Deutschland, sind die Lohn- und Lohnnebenkosten so extrem hoch. Unsere Wettbewerber haben die Signale längst erkannt, haben längst die Unternehmensbesteuerung verändert und folgerichtig die Körperschaftsteuersätze drastisch gesenkt.
Das Standortsicherungsgesetz soll die Gleichheit der Wettbewerbsbedingungen wiederherstellen. Es enthält deshalb weitreichende steuerliche Erleichterungen sowie Investitionsanreize für die gewerbliche Wirtschaft, aber eben nur für sie. Mit der Senkung der Ertragsteuersätze der gewerblichen Wirtschaft wird eine Entwicklung nachvollzogen, die in den führenden Wirtschaftsnationen der Europäischen Gemeinschaft längst vorweggenommen worden ist. Die Doppelbelastung der Unternehmen mit Gewerbesteuer und Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer wird durch die Begrenzung des Steuersatzes gewerbesteuerpflichtiger Unternehmen auf 44 % im rechnerischen Ergebnis beseitigt. - Es geht also, Frau Kollegin Matthäus-Maier, entgegen Ihrer Aussage nicht darum, den Spitzensteuersatz jenseits von 240 000 DM zu senken,
({1})
sondern es geht darum, die aus der Gewerbesteuer,
vor allem der Gewerbekapitalsteuer resultierende
Doppelbelastung, die Mehrbelastung im internationalen Vergleich zu beseitigen. - Die Begrenzung der Ausschüttungsbelastung auf 30 % ist gerade für ausländische Unternehmen ein weiterer Anreiz, in Deutschland Investitionen vorzunehmen.
Herr Kollege Fell, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Natürlich.
Bitte, Frau Kollegin Matthäus-Maier.
Herr Kollege, Sie versuchen wortreich zu verstecken, daß Sie den Spitzensteuersatz senken wollen. Deswegen frage ich Sie: Ist es richtig, daß in Ihrem Gesetzentwurf steht, daß der Spitzensteuersatz für gewerbliche Einkünfte, der heute bei Einkommen oberhalb von 240 000 DM einsetzt, gesenkt wird, daß Sie außerdem in der Begründung schreiben, daß das übergangsweise geschieht und daß Sie am liebsten generell die Spitzensteuersätze senken wollen?
Sind Sie nicht gleichzeitig der Ansicht, daß es wirklich eine weitere Vergrößerung der Gerechtigkeitslücke ist, wenn Sie einerseits den Spitzensteuersatz für gewerbliche Einkünfte oberhalb von 240 000 DM senken wollen, andererseits aber an das Wohngeld, an das Arbeitslosengeld, an die Sozialhilfe und an das Erziehungsgeld heranwollen?
Frau Kollegin Matthäus-Maier, im Gesetzentwurf steht, daß wir von einer bestimmten Progressionswirkung des geltenden Steuertarifs an, an dem nichts verändert wird, wegen der Gewerbesteuer die Spitzenbelastung für gewerbliche Erträge reduzieren.
({0})
Es geht also ausschließlich darum, die Doppelbelastung für diese Erträge zu beseitigen. Zu der Frage, was denn weiter kommen soll, sage ich nachher noch etwas. Auf diesen Punkt komme ich gerne noch einmal zurück.
Es handelt sich bei diesem Standortsicherungsgesetz eben nicht um ein Steuergeschenk für die Wirtschaft. Diese Behauptung von Ihnen ist glatter Unsinn. Das Standortsicherungsgesetz ist aufkommensneutral. Die Senkungen des Steuersatzes bei der Körperschaftsteuer und für die gewerblichen Einkünfte auch bei der Einkommensteuer sind durch reduzierte Abschreibungsmöglichkeiten solide finanziert. Das haben Sie ja selber gesagt. Ich bin mit Ihnen sogar der Meinung, daß man sehr wohl darüber nachdenken sollte - der Kollege Rind hat das ja ausgeführt -, ob denn diese Form der Gegenfinanzierung die glücklichste ist, die man sich denken kann. Die Gegenfinanzierung des prognostizierten Steuerausfalls in Höhe von 8,9 Milliarden DM erfolgt im wesentlichen durch eine maßvolle Einschränkung der Abschreibungsmöglichkeiten bei den beweglichen Wirtschaftsgütern. Die degressive Abschreibung des Anlagevermögens, die Senkung des Satzes von 30 auf 25 %, bringt ein Volumen von über 6 Milliarden DM, die Senkung des Abschreibungssatzes für Betriebsgebäude von 10 auf 7 % weitere 1,8 Milliarden DM. Die Erhöhung der Abschreibungsdauer für betrieblich genutzte Pkw und Kombifahrzeuge ergibt ein Volumen von rund 1 Milliarde DM.
Die Annahmen der Bundesregierung hinsichtlich der erwarteten Steuerausfälle und die entsprechende Gegenfinanzierung sind nach heutigem Erkenntnisstand zutreffend. Die betroffenen Wirtschaftskreise haben dem ja auch - wahrscheinlich zähneknirschend, wegen der Form der Gegenfinanzierung - zugestimmt.
Sie, meine Damen und Herren von der SPD, lehnen eine grundlegende Unternehmensteuerreform mit wirklicher Entlastungswirkung ab.
({1})
- Darüber reden wir seit zehn Jahren, und Sie haben
es immer abgelehnt, auch als wir Geld dafür hatten.
({2})
Sie lehnen das Standortsicherungsgesetz wegen der beabsichtigten Senkung der Körperschaft- und Einkommensteuersätze ab, obwohl diese Steuersenkung aufkommensneutral gegenfinanziert wird.
({3})
Sie verweigern sich einer Reform der Gewerbesteuer, Sie verhindern die dringend notwendige Vermögensteuerreform.
({4})
Wie wollen Sie denn die nötigen Investitionsanreize schaffen?
({5})
Welches Steuerkonzept bieten Sie denn an? Wann werden Sie das Verwirrspiel um Ihre unterschiedlichen Vorschläge beenden?
({6})
- Nein, das Optionsmodell beispielsweise hat in den 50er Jahren schon einmal zu einem Desaster geführt und ist wieder zurückgenommen worden. Auf eine Ergänzungsabgabe zu Lasten der Selbständigen, Beamten und Besserverdienenden kann sich eine effiziente Steuerpolitik doch nun wirklich nicht beschränken.
({7})
Wann nehmen Sie endlich zur Kenntnis, daß eine funktionierende Wirtschaft fundamentale Voraussetzung für sichere Arbeitsplätze ist?
({8})
- Sie wissen genau, daß die gegenwärtigen Probleme
mit dem Einigungsprozeß zusammenhängen, Frau
Matthäus-Maier. Das war eine absolut mißlungene Zwischenbemerkung. - Sie können der Wirtschaft nicht ständig durch immer neue Belastungen das Wasser abgraben. Ihr Konzept, z. B. durch Verkürzung der Arbeitszeiten von den Unternehmen weitere Personaleinstellungen zu erzwingen, ist gescheitert. In Wahrheit vernichten Sie nämlich mit Ihren Forderungen Arbeitsplätze über den Rationalisierungsdruck, der unbestreitbar ist.
Im übrigen: Die von Ihnen so nachdrücklich geforderte Sonderbelastung der Selbständigen, Beamten und Besserverdienenden ist im Standortsicherungsgesetz als mittelbare Folge enthalten. Die Entlastung betrifft nämlich nur die gewerblichen Einkünfte. Damit bringt das Standortsicherungsgesetz keine allgemeine Steuersenkung, wie Sie den Bürgern fälschlicherweise einreden wollen. Das Gesetz zielt vielmehr auf die dringend benötigte stimulierende Wirkung auf das Investitionsklima in Deutschland. Für Investitionsentscheidungen ist die plakative Höhe des Steuersatzes weitaus wichtiger als die Gestaltung komplizierter Abschreibungsregelungen. Daher brauchen wir dieses Gesetz jetzt, und wir brauchen keine lange Steuerdiskussion.
Im internationalen Vergleich - das Institut Finanzen und Steuern hat das in einer Broschüre herausgearbeitet - ist die Gewerbesteuer eine wettbewerbsverzerrende zusätzliche Belastung der deutschen Wirtschaft, die wir beseitigen müssen. Alle Vorteile in den neuen Ländern hat der Kollege Schulz Ihnen vorgetragen; darauf brauche ich nicht mehr einzugehen.
Meine Damen und Herren, das Standortsicherungsgesetz deckt die bisherigen steuerlichen Standortnachteile in Deutschland weitgehend ab. Ich kann daher nur noch einmal den Appell wiederholen, diese insvestitionsfördernden Maßnahmen zügig zu verabschieden, damit alsbald eine erneute Konjunkturbelebung einsetzt.
Vielen Dank.
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Meine Damen und Herren, wir haben zu diesem Tagesordnungspunkt noch zwei Wortmeldungen. In etwa einer Viertelstunde kann dann der Tagesordnungspunkt 6 aufgerufen werden.
Nächster Redner ist unser Kollege Ortwin Lowack.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wollte Michel Glos zu seiner Wahl gratulieren. Vom Herkommen her könnte er ein Hoffnungsträger der CSU werden. Allerdings kann ich ihm zu seiner Rede in keiner Weise gratulieren. Er hat zwar zu Recht Oskar Lafontaine kritisiert - ein Problem der SPD. Aber im Grunde genommen hat er genau den gleichen Fehler gemacht: Er hat Erwartungen geweckt, die er hinterher in keiner Weise eingehalten hat. Er hat zwar zu Recht darauf hingewiesen, daß sich die Wirtschaft im Würgegriff höherer Löhne, Steuern und Belastungen befinde, und er hat gesagt, daß es um die Grundlagen des Wachstumsprozesses in Deutschland gehe. Aber die Frage einer
Lösung hat er letztlich offengelassen. Er hat - wenn man ihn kennt und zwischen den Zeilen liest - eingestanden, daß die Bundesregierung leider keinerlei Konzept hat. Daß sich Michel Glos die Eloge auf und eine gewisse Legendenbildung über Theo Waigel nicht hat ersparen wollen, macht ihn vielleicht ministrabel, aber von der Sache her war es doch recht unsinnig.
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Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, das Stabilitätsprogramm, das eine Bundesregierung in den 80er Jahren für eine wirkliche Konsolidierung der Haushalte aufgelegt hat, ist in den Jahren 1983, 1984, 1985, vielleicht noch bis 1986, durchgezogen worden. Damals hieß der Finanzminister Stoltenberg und nicht Waigel. Mit Waigel, 1989, ging es eben doch mehr oder weniger bergab. Denn er hat alles unterschrieben, was lieb und teuer, teilweise unsinnig und auch schädlich für die deutsche Einheit war, beginnend mit dem Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion bis hin zu Maastricht.
Die Bundesregierung täte gut daran, wenn sie sich einmal die Rede der Kollegin Matthäus-Maier von heute früh durchlesen würde, auch die Ergänzung durch den Kollegen Börnsen. Denn darin sind im Grunde genommen eine Reihe von Punkten, an denen klar wird, daß die Probleme, vor denen wir heute stehen, nicht allein in dem Bereich gelöst werden können, der Gegenstand dieses Gesetzes ist, sondern daß es einer viel weiteren Sicht und auch viel mehr Maßnahmen bedarf.
Daß sich dann der Kollege Solms hier hinstellt und sagt, er sei enttäuscht, ist natürlich ein ganz merkwürdiges Verfahren. Denn die Regierung macht folgendes. Sie sagt: Uns fällt in Wirklichkeit nichts ein; Opposition, sagt ihr, was euch einfällt, damit wir das benutzen können, um in der Bevölkerung Schrecken und Furcht vor dem zu wecken, was die Opposition Bösartiges vorhat. Wenn dann die Opposition in dieser Debatte nicht das sagt, was die Regierung erwartet, dann ist man enttäuscht.
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Aber gut, fangen wir doch an, wie es aussehen sollte! Der erste Punkt wäre natürlich Sparen, und zwar unabhängig von den Problemen unseres Sozialsystems, das hier in Frage gestellt werden soll. Wir sollten ganz andere Dinge angehen. Es ist offenbar jedem hier im Raum entgangen, daß wir jetzt schon fast 50 Milliarden DM für Europa einbezahlen sollen - nach 36,8 Milliarden DM im letzten Jahr -, daß eine Forderung der Kommission in einer Größenordnung von über 100 Milliarden DM liegen würde. Könnte man da nicht einmal ansetzen?
Was ist mit der immer noch in der Luft schwebenden Forderung eines Umzugs nach Berlin? Wo sind die Kosten aufgeschlüsselt? Was ist mit einer Neustrukturierung im Bereich der Entwicklungshilfe? Was ist mit der Parteienfinanzierung? Das Verfassungsgericht hat sehr klare Ausführungen gemacht. Warum will man das erst Ende 1993 regeln und nicht eher?
Noch eines: Wichtig wäre doch, lieber Kollege Rüttgers, Vertrauen in die Haushaltspolitik zurückzubringen. Und da möchte ich doch einmal die Sache Lapas ansprechen. Der Finanzminister ist ja nicht so dumm, wie er sich darstellt. Es ist schon ein außerordentliches Verfahren, daß jemand einen Förderungsantrag nicht bei dem zuständigen Ministerium stellt, sondern beim Finanzminister und diesen gewissermaßen als wohlmeinenden Boten bei der Weitergabe dieses Antrags an den Forschungsminister gebraucht und zufällig dieser Finanzminister Vorsitzender einer Partei ist, für die er eine Spende von immerhin 105 000 DM einnehmen konnte. Hinzu kommt, daß dieses Verfahren Lapas hier mit einer unglaublichen Geschwindigkeit durchgezogen wurde - wir waren alle Zeugen, es hat eine namentliche Abstimmung gegeben -, nur deshalb, weil man befürchtet hat: In wenigen Wochen kommt der Parteibericht mit der Angabe der Spenden, und dann geht die Sache nicht mehr durch. Dieses Verfahren muß kritisiert werden, und hier geht in der Öffentlichkeit unendlich viel kaputt.
Wir brauchen Perspektiven. Lieber Kollege Dr. Fell, Sie haben es angesprochen: Die Sache mit Taiwan hätte eine große Investition, ein großes Mitbeteiligtsein in einem der wichtigsten Märkte dieser Welt sein können.
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Das wären Zukunftsmöglichkeiten gewesen, ganz große Chancen. Es geht ja nicht nur um die 12,5 Milliarden DM für die Werftindustrie. Es geht ja um viel viel mehr, als im Augenblick diskutiert wird. Daß so etwas nur daran scheiterte, daß der Außenminister - nachdem er in Peking war - Angst hat, unter seiner Ägide würde man die Aussicht auf einen Sitz im Sicherheitsrat verspielen können, das müßte hier allerdings auch erst einmal diskutiert werden.
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- Ich gebe darauf gerne Antwort; darüber können wir uns unterhalten.
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Wenn hier von Steuern und steuerlichen Möglichkeiten gesprochen wird, dann müßte man auch einmal an eine Sache heran, an die sich bisher noch niemand herangetraut hat. Wir werden auf Dauer nicht nur die Generationen, die in Arbeit stehen, Betriebe halten und Verantwortung haben, belasten können, sondern müssen irgendwann einmal auch bereit sein, an das Vermögen heranzugehen, das nicht investiv oder nicht betrieblich engagiert ist, aber im Grunde genommen heute die Masse eines Vermögens ausmacht, das wir im investiven Bereich dringender bräuchten. Das heißt, dort, wo Vermögen nicht investiv und nicht für Betriebe eingesetzt ist, müßten wir eigentlich steuerlich mehr ran. Hier traut sich bis heute überhaupt niemand an dieses Problem heran, ja, niemand will das Problem überhaupt erkennen.
Wir haben eine große Unsicherheit in allen Teilen Deutschlands im rechtlichen Bereich und auch durch die Tatsache, daß wir überhaupt noch keine Gemeinschaft geworden sind. Doch hier stelle ich fest: Diese
Bundesregierung ist nicht in der Lage, das Problem zu lösen, und sie hat bisher nicht erkennen lassen, wie sie es lösen will.
Ich darf deshalb abschließend festhalten: Dieses Standortsicherungsgesetz löst die Probleme nicht. Der Abstieg Deutschlands mit dieser Bundesregierung bleibt vorprogrammiert.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ulrich Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen beruht auf einer falschen Diagnose des derzeitigen Krisenzustandes der deutschen Volkswirtschaft. Er kann in der Konsequenz deshalb auch nur an den falschen Punkten mit falschen Mitteln ansetzen, und er wird deshalb auch nicht die notwendigen Ergebnisse bringen. Wenn Sie also gut beraten sind, ziehen Sie diesen Gesetzentwurf zurück.
Er geht aber insbesondere auch, was das Steuersystem und seine notwendige Reform betrifft, am notwendigen primären Ziel weit vorbei, nämlich dem Ziel der Verbesserung des Umweltschutzes mit steuerlichen Maßnahmen, und gerade auch dann, wenn es darum geht, einen Weg aus der Wirtschaftskrise zu finden.
Das im unübersichtlichen deutschen Steuersystem vieles zu reformieren ist, wird niemand bestreiten. Falsch ist es aber, durch eine weitere Senkung von Steuern auf Einkommen, Ertrag und Vermögen - die jetzt geplanten Senkungen sind im übrigen mit Sicherheit nur ein Einstieg in noch weitere Senkungen, mehrfach hier angesprochen; schließlich war schon von einer Senkung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer auf 36 % die Rede -, als Weg aus der Krise die wirtschaftliche Dynamik ökologisch unkontrolliert anzuheizen. Das ist der Grundfehler dieses Ansatzes.
Dieses Anheizen durch rein angebotsorientierte Maßnahmen ist falsch, weil es der Wirtschaft nicht an Mitteln für Investitionen mangelt. Der volkswirtschaftliche Brutto-Cash-flow, das also, was für die Dispositionen der Unternehmen in die Unternehmenskassen fließt, überdeckt mit fast 1 000 Milliarden DM - mit 1 Billion DM - im Jahr die inzwischen tatsächlich getätigten Investitionen im Inland um fast 400 Milliarden DM. Die vagabundierenden Kapitalien, die die Unternehmenskassen für spekulative Anlagezwecke auf den internationalen Geld- und Kapitalmärkten zur Verfügung haben, betragen inzwischen weit über 600 Milliarden DM. Wegen der mit modernen Technologien steigenden Kapitalintensität in modernen Fabriken und Büros fließen eben auch immer größere Summen als verdiente Abschreibungen, Zinsen, Wagnisse usw. zurück und blähen die für unternehmerische Dispositionen insgesamt verfügbare Finanzmasse weiter auf.
Nein, nicht die Mittel fehlen, sondern die Märkte. Vor allem aber werden die angesprochenen riesigen Mittel nicht dorthin gelenkt, insbesondere nicht durch dieses sogenannte Standortsicherungsgesetz, wo sie notwendig sind, nämlich in den ökologischen Umbau im Westen und in den ökologischen Aufbau im Osten.
Genau das wäre auch der richtige Weg aus der Krise. Genau das wird mit dieser Art von sogenannter Standortsicherungspolitik aber nicht erreicht. Genau das wird damit sogar konterkariert.
Übrigens: Einen kleinen Teil der notwendigen Entwicklungsrichtungen für ökologische und damit auch soziale Zukunftsinvestitionen zeigt in der Tat der SPD-Antrag auf. Er ist deshalb ein Schritt in die richtige Richtung, im Gegensatz zum Koalitionsvorhaben, das geradezu hilflos weiter in die Richtung des Immer-mehr-Produzierens in der gewohnten Weise und damit eben auch mit den gewohnten ökologischen Schäden geht.
Ja, eine Steuerreform kann eine angemessene Antwort auf die derzeitige Krise der Wirtschaft sein. Sie muß aber, wie Ernst Ulrich von Weizsäcker zu Recht sagt, eine ökologische Steuerreform sein. Sie muß z. B. durch höhere Energiesteuern Verbrennungsmotoren und Stromaggregate arbeitslos machen und nicht die Menschen.
Höhere Unternehmenserträge durch niedrigere Steuern führen bei Überkapazitäten wie in der Stahl-und in der Automobilindustrie, wie im Maschinen- und Anlagenbau - der Kollege Fell hat es auch erwähnt -, wie in den meisten Konsumgüterindustrien zwangsläufig zu Rationalisierungsinvestitionen, die Arbeitsplätze zerstören und die Arbeitsplätze zudem noch teurer machen. Bereits 230 000 DM kostet derzeit im Durchschnitt jeder einzelne Arbeitsplatz in Deutschland.
Das ist neben den modernen unausgelasteten Kapazitäten in Westdeutschland auch die Erklärung dafür, warum im Osten von der Wirtschaft soviel weniger investiert wird als im Westen. Für den Osten ist auch und gerade deshalb ein eigenes ökosozialorientiertes wirtschaftliches Entwicklungsprofil zu schaffen. Das wäre ein Beitrag zu einer Standortsicherungspolitik. Doch darauf verzichtet eben dieser vorliegende Gesetzentwurf. Darauf verzichtet j eder Versuch - der diesem Gesetzentwurf zugrunde liegt - die Entwicklung des Westens im Osten einfach zu kopieren.
Im Westen wie im Osten muß die Steuerpolitik in den Dienst der Erhöhung dessen gestellt werden, was wir in der Umweltinformatik als Ressourcenproduktivität bezeichnen, statt der ständigen Steigerung der Arbeitsproduktivität zu dienen.
Solche Verlagerungen der Investitionsanreize auf zugleich ökologisch und sozial sinnvolle Muster für die Schaffung neuer und die Ersetzung alter Produktionsanlagen sind notwendig, statt mit Steuersenkungen nach dem Gießkannenprinzip die alten Fehlentwicklungen im Westen zu bestärken und zu vertiefen und sie überdies auch noch auf den Osten zu übertragen.
Eine drastische Erhöhung der Energieverbrauchssteuern, die Einführung der Wertschöpfungssteuer bzw. Wertschöpfungsabgabe, Steuer- und Abschreibungspräferenzen für ökologisch sinnvolle Vorhaben, eine Begünstigung von Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen zur Steigerung der Ressourcenproduktivität und vieles andere mehr - das wären wirklich Beiträge zur Sicherung des Wirtschafts- und
Produktionsstandortes Deutschland und eines ökologisch gesunden Produktionsstandortes Deutschland.
Dieser Produktionsstandort ist sowieso nicht bedroht; das ist doch eine Legende. Das seit Anfang der 70er Jahre durch direkte Auslandsinvestitionen der deutschen Unternehmen - Zahlen sind hier genannt worden - gewaltig angewachsene produktive Auslandsvermögen der Wirtschaft ist erstens eine Folgeentwicklung der im Inland geschaffenen Überkapazitäten bzw. der Weltmarktverflechtung, ist zweitens ein Ausdruck der rasanten Reichtumsbildung in der Wirtschaft, ist drittens womöglich - das ist in der Zukunft wichtig - auch ein Potential, auf das man für den ökologischen Umbau im Rahmen der Weltwirtschaft eines Tages wird zurückgreifen können und müssen.
Ich komme zu einem abschließenden Punkt. Die größte Bedrohung für den Wirtschaftsstandort Deutschland sind jedoch weder zu hohe Steuern noch zu hohe Lohnkosten und Sozialabgaben. Die größte Bedrohung ist der latente Rassismus in der Bevölkerung,
({0})
besonders stark übrigens im Osten. Bezogen auf die Bevölkerung verhält sich die Zahl der rassistischen Übergriffe in Mecklenburg-Vorpommern zu denen in Bremen wie 30:1. Sie sind in Mecklenburg-Vorpommern 30mal häufiger als in Bremen und 10mal häufiger als in Bayern. Besonders stark ist also diese Entwicklung - leider muß man sagen - im Osten.
Die größte Bedrohung ist das Wiederaufkommen von NS-Strömungen als offiziell tätiger und geduldeter politischer Kraft, ist die Nachlässigkeit der staatlichen Organe gegenüber der neuen deutschen extremen Rechten.
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Wer die Wirtschaft und uns sichern will, muß uns alle vor der alten neuen braunen Gefahr schützen. Ich glaube, das ist das wirklich Entscheidende in dieser Situation.
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Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/4158 und 12/2495 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Alois Graf von Waldburg-Zeil, Ursula Männle, Claudia Nolte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ina Albowitz, Dr. Gisela Babel, Norbert Eimer ({0}), weiterer Abgeordneter
Vizepräsident Hans Klein
und der Fraktion der F.D.P.
Studierende mit Kindern
- Drucksachen 12/2001, 12/3491 Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch, dann ist auch dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Maria Eichhorn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Birgit ist 25 Jahre alt, Studentin, ledig und hat ein Kind. Birgit studiert im neunten Semester. Wegen des Kindes nahm sie zwei Urlaubssemester. Vom Diplom ist sie leider noch weit entfernt.
Ihr Kind betreute sie bisher selbst. Sie hatte keinen Platz in der studentischen Kinderkrippe bekommen. Eine Tagesmutter kann sie sich nicht leisten. Ihre Eltern helfen manchmal aus, doch wohnen sie weit weg auf dem Land.
Doch Birgit gibt so schnell nicht auf. Seit kurzem wird ihr dreijähriges Kind morgens in einem Kindergarten versorgt. Vorlesungen und Praktika, Kurse und Kolloquien finden auch nachmittags, manchmal sogar nach 20 Uhr statt.
Trotz der vormittäglichen Versorgung des Kindes ist es für Birgit schwer, den notwendigen Schein zu bekommen, weil sie wegen des Kindes immer wieder gezwungen ist, Stunden ausfallen zu lassen. Arbeiten in der Universitätsbibliothek verlegt sie auf Zeiten, in denen das Kind schläft. In die Uni kann sie das Kind nur selten mitnehmen, da es dort keine Spielgruppe gibt. Und es in Vorlesungen mitzunehmen, setzt Verständnis bei Professoren und Kommilitonen voraus. Aber in dieser Beziehung hat Birgit schlechte Erfahrungen gemacht. Verständnislose, böse Blicke und die Aufforderung, ihr Kind zu Hause zu lassen, mußte sie schon mehrmals über sich ergehen lassen.
Birgit ist nicht allein. Sie gehört zu den 8 % der Studentinnen, die sich neben ihrem Studium um ein Kind zu kümmern haben. Geht man von der Gesamtzahl der Studierenden aus, so haben 6 % ein Kind zu versorgen. In den neuen Bundesländern liegen diese Zahlen deutlich höher. Dort haben 10 % der Studentinnen und insgesamt 11 % der Studierenden ein Kind.
An den Universitäten der alten und der neuen Bundesländer haben über 100 000 Studenten die gleichen Probleme wie Birgit. Im Durchschnitt wenden Studentinnen an Werktagen zehn Stunden für die Kinderbetreuung auf, während Studenten nur fünf Stunden der Betreuung ihrer Kinder widmen.
Birgit steht unter einem immensen Druck. Wer in der Situation ist, Studium und Kindererziehung unter einen Hut bringen zu müssen, ist oft großen finanziellen, aber auch psychischen Belastungen ausgesetzt. So kommt es dazu, daß viele der Doppelbelastung Kind und Studium nicht standhalten. Ein Kind, das nachts schreit, bewirkt Unausgeschlafenheit und Konzentrationsschwierigkeiten bei den Eltern. Wie soll man da aufmerksam zuhören oder Manuskripte lesen können? Was tun, wenn das Kind krank ist?
Aber auch ein gesundes Kind erfordert viel Zeit und Kraft. Kein Wunder, daß etwa 26 % der Studienabbrecher angeben, daß sie ihr Studium aus familiären Gründen abbrechen. Bei den Studentinnen sind es sogar 36 %. Jede fünfte Studentin mit Kind trägt sich ernsthaft mit Studienabbruchgedanken.
Viele unterbrechen wegen der Kinder ihr Studium, um es nach einiger Zeit wieder aufzunehmen. 34 % der Studentinnen hatten ihr Studium bereits einmal unterbrochen. Bei Einbeziehung der Studenten ergibt dies eine Gesamtzahl von 26 %.
Von den befragten Studentinnen äußerten 87 %, ihr Studium aus familiären Gründen unterbrochen zu haben. Beinahe jede Studentin, die ihr Studium unterbricht, tut das demnach wegen familiärer Probleme.
Mit der Großen Anfrage, die von den Koalitionsfraktionen im Deutschen Bundestag eingebracht wurde, wollen wir die Probleme der Studierenden mit Kindern aufgreifen und überlegen, wie wir helfen können.
Dabei stellt sich zunächst die Frage, welche finanziellen Zuwendungen der Staat den Betroffenen gewährt.
Selbstverständlich können auch Studierende alle familienpolitischen Leistungen und sonstige Sozialleistungen in Anspruch nehmen wie jeder andere Bundesbürger. Eine ganz wichtige Hilfe ist das Erziehungsgeld in Höhe von 600 DM, das diese Bundesregierung 1986 eingeführt hat. Es hat den Vorteil, daß es weder auf BAföG noch auf sonstige Sozialleistungen angerechnet wird. Seit dem 1. Januar 1993 wird das Bundeserziehungsgeld bis zur Vollendung des 24. Lebensmonats des Kindes gewährt.
Weil wir wissen, welche große Bedeutung das Erziehungsgeld gerade für Geringverdienende hat, wird es auch nach der Verabschiedung des Föderalen Konsolidierungsprogramms nach unserem Willen in voller Höhe erhalten bleiben.
Wie alle anderen erhalten Studierende mit Kind Mutterschaftsgeld, Kindergeld, gegebenenfalls auch mit Zuschlag, Wohngeld und letztlich auch Sozialhilfe. Auch die Stiftung „Mutter und Kind" leistet in Not- und Konfliktsituationen schnell und unbürokratisch Hilfe.
Ebenso erhalten die Studierenden weiterhin BAföG-Leistungen ausgezahlt. Dabei wird die Erziehung eines Kindes im Alter bis zu fünf Jahren während des Studiums als Grund anerkannt, die Förderungshöchstdauer des BAföG bis zu drei Semestern zu überschreiten. Da auf Grund einer Schwangerschaft während des Studiums die Förderungsdauer zusätzlich um einen Monat verlängert werden kann, ergibt sich insgesamt eine Verlängerungsmöglichkeit um bis zu vier Semestern. In dieser Zeit wird die Ausbildungsförderung voll als Zuschuß geleistet.
Die Förderung von Studierenden mit Kindern ist nicht nur Aufgabe des Bundes. Auch die Länder sind gefordert. Eine der wirksamsten Hilfen ist das Landes11858
erziehungsgeld, das im Anschluß an das Bundeserziehungsgeld bisher von den Ländern Bayern, BadenWürttemberg, Berlin, Rheinland-Pfalz und Sachsen gewährt wird; geplant ist es auch in Thüringen. Mein Appell geht an alle anderen Bundesländer, ebenfalls ein Landeserziehungsgeld einzurichten.
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Obwohl der Bund in den letzten Jahren für die Familien viel getan hat, ist es für Studierende oft schwer, Familie und Studium in Einklang zu bringen. Im wesentlichen gibt es Handlungsbedarf bei folgenden vier Punkten: erstens Verbesserung der Kinderbetreuungsmöglichkeiten, zweitens Verbesserung der finanziellen Situation, drittens Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen und viertens Förderung des Verständnisses für studierende Eltern.
Hauptkritikpunkt bei vielen befragten Studierenden mit Kindern ist das ungenügende Angebot an Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Bei der jüngsten, der 13. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks wurde festgestellt, daß sich 20 % der studierenden Eltern vergeblich um einen Betreuungsplatz für ihr Kind bemüht haben. Vor allem in den alten Ländern deckt das Angebot an hochschulnahen Kinderbetreuungsplätzen nicht den Bedarf. Insbesondere fehlt eine Betreuungsmöglichkeit für Kinder bis zu drei Jahren.
Viele junge Mütter und Väter wollen trotz Kind ihr Studium so schnell wie möglich zu Ende bringen. Unter diesem Gesichtspunkt wiegen fehlende Betreuungsmöglichkeiten besonders schwer. Die ungedeckte Nachfrage nach hochschulnahen Kinderbetreuungsplätzen beträgt mindestens 16 000.
Kinderbetreuung ist Ländersache. Als vorteilhaft hat sich in Bayern und in einigen weiteren Bundesländern erwiesen, daß die Schaffung und Unterhaltung von Betreuungseinrichtungen für Kinder von Studierenden zu den gesetzlich festgelegten Aufgaben der Studentenwerke gehört. Allerdings fehlt es oft an geeigneten Räumlichkeiten. Seit 1990 unterstützt die Bundesregierung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau die Förderung von Kindertageseinrichtungen. Es wäre sinnvoll, Kinderbetreuungseinrichtungen zu Hochschuleinrichtungen zu erklären. Damit könnten bereits beim Hochschulbau entsprechende Räume vorgesehen werden.
Sinnvoll wäre auch, beim Bau von Studentenwohnheimen neben familiengerechten Wohnungen Räume zur Kinderbetreuung einzurichten.
Kinderbetreuungsmöglichkeiten an den Hochschulen haben Vorteile: Die Öffnungszeiten können sich am Bedarf von Studenten orientieren. Zusätzliche Bring- und Abholwege fallen weg, und die Eltern können sich in freien Stunden mit dem Kind beschäftigen.
An vielen Universitäten haben sich betroffene Eltern zusammengeschlossen. Oft haben Studierende eine Krabbelkartei eingerichtet, aus der Namen und Adressen von Gleichbetroffenen entnommen werden können.
Der Wille zur Selbsthilfe ist groß. Auch für Kinder von Studierenden gilt aus sozialpädagogischer Sicht der Vorrang wohnortnaher Betreuung. Voraussetzung dafür sind jedoch längere Öffnungszeiten in Einrichtungen des Wohnbereichs, die den Bedürfnissen Studierender besser gerecht werden.
Auch andere Möglichkeiten der Betreuung müssen ausgeschöpft werden. Die CSU im Bayerischen Landtag schlägt dazu unter dem Titel „Ein Netz für Kinder" neben den vorhandenen und bisher geförderten Maßnahmen unter anderem Tagespflege, Mütterzentren, Krabbelstuben an Hochschulen und Initiativen für Kinder im Vorschul- und Schulalter vor.
Studierenden Eltern sollte analog zu abhängig Beschäftigten die Möglichkeit eines Erziehungsurlaubs bei gleichzeitiger materieller Absicherung eingeräumt werden.
Wegen der geringen Einkommen von Studenten können in der Regel die Kinderfreibeträge beim Familienlastenausgleich nicht greifen. Daher würde sich eine Erhöhung des Erziehungsgeldes und ein erhöhter Zuschlag zum Kindergeld anbieten. Diese Vorstellungen können jedoch nur auf längere Zeit verwirklicht werden. Die derzeitige Finanzsituation zwingt uns dazu.
Nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz gilt die Erziehung eines Kindes im Alter von bis zu fünf Jahren als Grund, die Förderungshöchstdauer zu verlängern. Doch erfolgt eine Verlängerung tatsächlich nur bis maximal drei Semester. Sie sollte der Dauer des Erziehungsurlaubs angepaßt werden. Das entspräche einer Verdoppelung auf sechs Semester.
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Neben den finanziellen Leistungen gilt es auch die rechtliche Situation von Studierenden mit Kindern zu verbessern. Sie erinnern sich an mein Eingangsbeispiel: Birgit hat Probleme, ihr Studium ordnungsgemäß durchzuführen. Kinder brauchen Liebe und Zeit. Die Verlängerung der Regelstudienzeit für Studierende mit Kindern würde auch in diesem Bereich der Kindererziehung zur gesellschaftlichen Anerkennung verhelfen. Der Gewissenskonflikt Studium oder Kindererziehung könnte damit manchen Betroffenen erspart werden. Bayern hat diesem Anliegen durch eine besondere Regelung in Art. 64 des Bayerischen Hochschulgesetzes Rechnung getragen.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß Studierende, die wegen ihres Kindes ihr Studium unterbrechen, auch weiterhin mit der Hochschule in Verbindung bleiben. So kann der Wiedereinstieg in das Studium erleichtert werden.
Studentinnen mit Kindern geben unterschiedliche Antworten, wenn man sie nach ihren Erfahrungen als Mutter in ihrem sozialen Umfeld befragt. Reaktionen von Professoren, Freundinnen und Außenstehenden reichen von Verständnis über Mitleid bis hin zu Entsetzen und Ablehnung. Nach Abschluß des Studiums setzen sich die Schwierigkeiten im sozialen Umfeld fort. Dazu kommen erschwerte Einstiegs- und Aufstiegsmöglichkeiten.
Ich meine, Studierende mit Kindern verdienen unsere hohe Anerkennung. Als Politiker können wir
für diese Anerkennung nur werben. Aber wir können die Rahmenbedingungen verbessern.
Dabei bin ich mir angesichts der jetzigen Finanzsituation bewußt, daß dies eine langfristige Aufgabe sein wird. Dennoch ist es richtig, Probleme zu erkennen, Sorgen und Nöte aufzugreifen und nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Dies war und ist Ziel der Großen Anfrage, die wir in den Deutschen Bundestag eingebracht haben.
Birgit, eine von vielen Studierenden mit Kindern, hat bewiesen, daß sie sich so schnell nicht unterkriegen läßt. Sie hat es verdient, daß wir ihr Leben erleichtern helfen.
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Frau Kollegin Evelin Fischer, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Eichhorn, ich danke Ihnen für Ihren Redebeitrag. In vielen Dingen muß ich Ihnen beipflichten. Sie haben all das gesagt, was wir in unserer Fraktion schon seit längerem gefordert haben.
Um nicht vieles von dem zu wiederholen, was Sie gesagt haben, will ich mich darauf beschränken, etwas mehr die Seite zu beleuchten, wie es damals bei uns in der ehemaligen DDR war.
Ich bitte Sie, sich einmal vorzustellen, daß in der Bibel stünde: „Und Gott erschuf das Weib, um Kinder zu gebären. Dem Manne aber ward die Aufgabe zuteil, diese zu pflegen, zu behüten und großzuziehen. "
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Ich bin mir sicher, die heutige Debatte wäre überflüssig. Die Männergesellschaft hätte schon längst dafür gesorgt, günstige Bedingungen für Studium und Beruf zu schaffen.
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- Doch, doch, das Weib darf noch. - Es liegt wohl doch noch ein Stück Weg vor uns, bevor man in unserem Land von gleichen Chancen für Studierende mit Kindern reden kann.
Im lutherischen Katechismus steht: Eltern, liebet eure Kinder, damit sie sich nicht später im Zorn gegen euch wenden. Er sagt nicht „Frauen", und „Liebe" steht hier wohl für Fürsorge und Behütung.
Nun kann man nicht behaupten, daß die ehemalige DDR etwas vom Katechismus oder von frommen Sprüchen gehalten hätte. Allerdings war die Situation der Studierenden mit Kindern dort erheblich besser.
Studienabbruch wegen Geburt, Pflege und Erziehung eines Kindes war kein Thema. Noch heute ist der Anteil der Studierenden mit Kindern um ca. ein Drittel höher als in den alten Bundesländern.
Es mag für manchen Abgeordneten aus dem Westen unglaublich klingen, wenn ich sage, daß die Studierenden bewußt ihre Kinder während des Studiums bekommen wollten, damit sie später gleich voll in das Berufsleben einsteigen konnten, um einen guten finanziellen Start zu haben.
Studierende mit Kindern fühlten sich abgesichert, weil es ausreichend institutionalisierte Kinderbetreuungseinrichtungen gab. 81 % der studierenden Mütter in den neuen Ländern nutzten diese Möglichkeit, ihr Kind bzw. ihre Kinder dort unterzubringen. In den alten Bundesländern konnten das nur etwa 25 % der Studierenden. Das heißt, nur eines von vier Kindern, wie Sie sagten, Frau Eichhorn, erhält einen Platz.
Entsprechend unterschiedlich sehen auch die Abbrecherquoten in Ost und West aus: 38 % der Abbrecher in den alten Bundesländern geben familiäre Gründe an. Bei Studierenden mit Kindern im Osten sind aus diesem Grund selten Studienabbrüche zu verzeichnen; sie sind prozentual überhaupt nicht von Bedeutung.
Auch die Frage der Betreuung der Kinder während eines Praktikums wurde bei uns im Osten damals anders gelöst als hierzulande. Die Betriebe, Schulen und Kommunen waren verpflichtet, Kinder von Praktikantinnen für die Zeit des Praktikums aufzunehmen. Ich will die Verhältnisse von damals nicht idealisieren, das nicht. Sicher waren auch die Gruppenstärken manchmal bedenklich. Doch ging dies kaum zu Lasten der Kinder als vielmehr zu Lasten der Nerven der Kindergärtnerinnen. Ich spreche da aus eigener Erfahrung.
Einen weiteren Grund sehe ich in der gesetzlichen Regelung des Schwangeren- und Mutterschaftsurlaubs, der den Studentinnen genauso zustand wie jeder anderen werdenden Mutter. Nicht nur der Wiedereinstieg in das entsprechende Studienjahr war gesetzlich geregelt und durch einen Krippenplatz ermöglicht; die günstige Proportion zwischen Lehrenden und Lernenden erleichterte der jungen Mutter durch individuelle Absprachen mit den Dozenten den Wiedereinstieg. Wohl deshalb ist die Dauer der Studienunterbrechung nur halb so lang wie in den alten Bundesländern.
Ich muß hier eine leichte Kritik anbringen: Ich finde es doch ein bißchen putzig - verzeihen Sie mir diesen Ausdruck -, wenn die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion im Zusammenhang mit eben diesem kürzeren Unterbrechungszeitraum für die Begründung die Möglichkeitsform wählt: Grund dafür „dürfte" in den neuen Ländern ein „ausreichendes Angebot institutioneller Betreuungseinrichtungen" sein. Ich habe das Gefühl, als müsse ich sagen: Noch ist es so; noch sind sie vorhanden. Wie lange, ist vielleicht nur eine Frage der finanziellen Mittel der Hochschulen und der Kommunen.
Fehlende Kindergärten und Krippen, der Zeitverlust bei der Beantragung von Wohngeld, Sozialhilfe und BAFÖG, die daneben einhergehende Erwerbstätigkeit sind Gründe, die zum Studienabbruch oder zu längerer Studienunterbrechung führen. All diese Probleme sind der Bundesregierung bewußt. Man kann sie auch in den Vorbemerkungen der Antwort auf die Große Anfrage nachlesen.
Evelin Fischer ({2})
Doch die Bundesregierung tut relativ wenig. Nur wirklich unter „ferner liefen" gehört die Mitfinanzierung des Baus von Kinderbetreuungseinrichtungen, die Schaffung von Studentenwohnraum und die Gewährung von Wohngeld dazu. Diese Hilfen sind meiner Meinung nach kein Beitrag zur Verwirklichung der Chancengleichheit, sondern höchstens ein Beitrag zum Nachteilsausgleich. Man hinkt also ständig hinterher.
Innerhalb dieser Gruppe der Benachteiligten sind die Frauen nochmals diejenigen mit den schlechteren Karten, verzichten sie doch häufiger als Väter auf ihr Studium.
Die Aussage diesbezüglich, Frauen hätten den Wunsch, die Kinderbetreuung und Erziehung persönlich zu übernehmen, halte ich, gelinde gesagt, für äußerst fragwürdig. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Frauen im Osten weniger an ihren Kindern hängen als Mütter im Westen. Grund des Abbruchs sind doch nicht gestörte Beziehungen zum Kind, sondern ein eklatantes Mißverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage von Kinderbetreuungsplätzen.
Die Bundesregierung wird meiner Meinung nach nicht darum herumkommen, Länder und Hochschulen in den Stand zu setzen, ausreichend Kindergärten- und Kinderkrippenplätze zur Verfügung zu stellen. In diesem Zusammenhang müßte ich sonst die Haltung der Bundesregierung zum § 218 scheinheilig nennen. Die Sorge um menschliches Leben kann nicht nach neun Monaten aufhören.
({3})
Interessant ist auch die Beantwortung der Frage 17 a, ob das Angebot den Bedarf an Kindergartenplätzen deckt. Die Bundesregierung spricht von 16 000 bis 21 000 fehlenden Plätzen im Westen. Bei Krippenplätzen liege die Versorgungsquote gar nur bei 3 bis 4 %, und - so wörtlich - es bestehe bei der Versorgung insgesamt noch ein „Mehrbedarf" . Kein Wort von den zu erwartenden Kosten, kein Wort über die zu erwartende Finanzierung, kein Wort von einem zu erwartenden Programm, das diesen desolaten Zustand beseitigen hilft.
({4})
- Aber ein Programm dafür könnte man wohl erstellen.
Länder, Hochschulen und Kommunen allein sind damit einfach überfordert. Ich möchte betonen, daß die Schaffung ausreichender Betreuungsplätze nur e in e Hilfe für Studierende mit Kindern sein kann. Die Gestaltung der Einrichtungen im Hinblick auf bedarfsgerechte Standortnähe und, wie Sie sagten, elterliche Mitwirkung käme noch dazu. Studien- und Prüfungsordnungen, die die Bedürfnisse studentischer Eltern berücksichtigen, sowie gesetzliche Regelungen im Hinblick auf die Verlängerung von Zeiten für Abschlußarbeiten und die Beurlaubung zur Erziehung des Kindes müssen endlich von der Bundesregierung aufgenommen und ins Hochschulrahmengesetz hineingeschrieben werden - Forderungen, die wir als SPD-Fraktion schon in unserem Gesetzentwurf zur 12. BAFöG-Novelle erhoben haben. Die Bundesregierung hätte sich viel Ärger ersparen können, wenn sie diese Forderungen beachtet hätte.
Unser heutiger Entschließungsantrag weist auf diese Probleme der Studierenden mit Kindern hin und zeigt die Schwerpunkte, die in Angriff zu nehmen sind. Begreifen Sie bitte diesen Entschließungsantrag nicht als unverrückbare Bibelworte, eher als Katechismus, den man sich zu Herzen nimmt! Stimmen Sie unserer Überweisung zu!
Danke.
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Das Wort hat die Kollegin Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink.
Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Studieren mit Kind - muß das sein? Es muß nicht sein, aber es muß möglich sein. Hier weist die Antwort der Bundesregierung auf die vorliegende Anfrage in die richtige Richtung, wenn auch mit zaghaften Schritten.
Studierende mit Kindern sind in ihrer Studienorganisation, in ihrer finanziellen Lage, in ihrer Wohnsituation und durch ungenügende Angebote von Kinderbetreuungsmöglichkeiten im Vergleich zu Studierenden ohne Kinder in ihrer Ausbildungsphase eingeschränkt. Bei denjenigen, die sowohl Ausbildung als auch Kindererziehung „managen", handelt es sich keineswegs um eine marginale Gruppe. Immerhin: 6 % der westdeutschen und 11 % der ostdeutschen Studierenden sind Eltern. Obwohl es Väter und Mütter sind, gilt aber auch dort die These, daß Studieren mit Kind vor allem ein Problem für Frauen ist.
Konkret: Von 1,8 Millionen Studierenden haben in den alten Bundesländern etwa 120 000, in den neuen etwa 15 000 Kinder. Im Westen liegt das Durchschnittsalter der Eltern mit 28 Jahren höher als im Osten, wo 22- bis 26jährige Studierende Kinder, meist unter drei Jahren, haben.
Auffällig ist auch die unterschiedliche Betreuungssituation; Frau Fischer hat schon darauf hingewiesen. Die Mehrzahl der Kinder von westdeutschen Studierenden werden privat betreut. In den neuen Bundesländern stehen mehr öffentliche Krippen, Krabbelstuben und Kindergärten zur Verfügung. Immerhin: Der von der Bundesregierung vorsichtig geschätzte Bedarf liegt zwischen 14 000 und 21 000 Plätzen in den alten und bei etwa 1 200 Plätzen in den neuen Ländern.
Auf Grund der vielfältigen Belastung - vor allem die mangelnde freie Verfügbarkeit über Zeit, räumliche Immobilität und finanzielle Eingeschränktheit - weist die Statistik eine alarmierend hohe Quote an Studienunterbrechungen und -abbrüchen auf, insbesondere bei studierenden Frauen. 38 % aller studienabbrechenden Frauen geben Schwangerschaft und Vereinbarkeitsprobleme mit der Kindererziehung als Gründe an.
Eine Befragung von 450 Studentinnen im Fach Medizin im Jahre 1989 ergab, daß Frauen am Anfang ihres Studiums karrieremotivierter und ehrgeiziger als ihre männlichen Kommilitonen waren, sie im Laufe
des Studiums aber häufiger ein negatives Bild von beruflicher Karriere bekommen und seltener bereit sind als Manner, eine berufliche Karriere anzustreben. Die Gründe dieser Demotivierung - so das Ergebnis der Studie - seien in dein Konflikt, Kinder und Beruf zu vereinbaren, zu suchen.
Daher zielt das zweite Hochschulsonderprogramm auf Initiative des BMBW in die richtige Richtung. Es geht zum einen um die Frauenförderung an Hochschulen und hier gezielt um die verbesserte Möglichkeit, wissenschaftliche Qualifikationen zu erwerben und Kinder zu erziehen: Erstens. Neue Förderinstrumente in Form von Kontakt- und Wiedereinstiegsstipendien bei familienbedingten Unterbrechnungen der wissenschaftlichen Laufbahn.
Zweitens. Kinderbetreuungszuschläge zu Promotions- und Habilitationsstipendien.
Drittens. Im Bereich des BAföG Regelungen zur verbesserten Vereinbarkeit von Studium und Kindererziehung, z. B. Verlängerung der Förderungshöchstdauer um bis zu drei Semestern bei der Betreuung eines Kindes bis zu fünf Jahren.
Viertens. Verlängerungsmöglichkeiten der Förderungshöchstdauer von einem Semester. Bei einer Schwangerschaft während des Studiums ergibt sich damit eine Verlängerungsmöglichkeit um bis zu vier Semestern.
Fünftens. Passus im Rahmenplan für den Hochschulbau, wonach der Bau von Kinderbetreuungseinrichtungen in den Hochschulen grundsätzlich mitfinanzierungsfähig ist.
Zum anderen ist aber langfristig der psychologische Aspekt dieses Programms wichtig. Zum ersten Mal wird der Tatsache Rechnung getragen, daß Studentinnen eine andere Lebensbiographie haben können und wollen als Studenten und daß somit die Lebensplanung vieler junger Frauen - und weniger Männer -, Studium mit Kind zu verbinden, anerkannt und unterstützt wird.
Ein erster Zwischenbericht über die Umsetzung der insbesondere frauenfördernden Maßnahmen im zweiten Hochschulsonderprogramm von der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung 1992 belegt auch erfreulicherweise eine deutliche Anhebung des Frauenanteils an den Hochschulen und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen. Bei Kontaktstipendien war die Inanspruchnahme bislang noch zurückhaltend, weil die Fördermaßnahmen noch nicht hinreichend bekannt sind. Aber die Akzeptanz von Wiedereinstiegsstipendien wird als gut beurteilt. Insgesamt, so der Bericht, wurden mit den frauenfördernden Maßnahmen Rahmenbedingungen geschaffen, die gerade Frauen mit Kindern eine kontinuierliche wissenschaftliche Laufbahn ermöglichen.
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Das ist aber nicht genug. Folgende Maßnahmen müßten auf Bundes- und Länderebene und in den Hochschulen schrittweise umgesetzt werden: Erstens. Angemessene Berücksichtigung bei Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub.
Zweitens. Erweiterung von hochschulnahen Kinderbetreuungsangeboten. Hier setzt die F.D.P. vor allem auf die Unterstützung von privaten Initiativen.
Drittens. Mehr Flexibilität bei den Prüfungsordnungen der Hochschulen durch Ländergesetze, z. B. bei schwangerschafts- und kindbedingten Unterbrechungen. Noch heute ist Schwangerschaft, da keine Krankheit, kein Grund für die Hochschulen, Prüfungen aufzuschieben bzw. zu wiederholen. Das muß sich ändern.
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Viertens. Mehr Transparenz schaffen: Erstellung eines Leitfadens für Studierende mit Kindern, der über Angebote und Leistungen - Finanzierung, Wohn- und Betreuungsangebote - auf Bundes- und Länderebene Auskunft gibt. Das BMBW bereitet gerade einen solchen Leitfaden vor.
Fünftens. Einführung eines geregelten Teilzeitstudiums.
Fazit, meine Herren, meine Damen: Politiker und Politikerinnen müssen die individuelle Entscheidung junger Leute, mit Kind zu studieren, nicht nur respektieren, sondern bildungs- und familienpolitische Maßnahmen ergreifen, damit ein Studium auch erfolgreich absolviert werden kann. Dies können aber nur flankierende Hilfen sein. Die große Verantwortung für eine solche Lebensplanung kann ohnehin kein Staat den Eltern abnehmen.
Die wichtigste Perspektive aber zielt auf den Umbau der Hochschulstrukturen, mit dem Ziel, daß studierende Mütter und Väter eine angemessene Berücksichtigung ihrer eigenen Lebensplanung finden. Die männliche Normalstudentenbiographie kann nicht länger der Maßstab sein. Kind darf im Studium nicht eine Katastrophe, sondern muß wie in anderen Lebensphasen ein Normalfall sein.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Hubert Hüppe.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin kein studierender Vater, muß ich vorweg sagen. Aber es ist schon etwas seltsam, daß ich als Mann immer der einzige Sprecher bei Themen bin, wo es um Kinder, um sexuelle Belästigung oder derartige Dinge geht.
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Vielleicht kann sich die SPD auch einmal entscheiden, einen Mann zu finden, der zu solchen Themen wie Erziehung und anderen familiären Problemen Stellung nimmt.
Meine Damen und Herren, der Antwort der Bundesregierung können wir entnehmen: Wir sprechen heute über weit mehr als 100 000 Studierende, die in der Regel mit der Dreifachbelastung von Studium,
Erwerbstätigkeit und Kindeserziehung fertigwerden müssen. Aber ich denke, wir sprechen auch noch über viel mehr Studierende, die sich vielleicht längst für ein Kind auch in frühen Jahren entschieden hätten, wenn sie nur die richtigen Rahmenbedingungen dafür gehabt hätten.
Die Antwort - dies wurde hier schön öfter gesagt - zeigt auch wieder: Es sind immer noch die Frauen, die die Hauptlast dieser Situation tragen müssen, sowohl während des Studiums - darüber haben wir eben gesprochen - als auch nach dem Studium, wozu ich gleich noch komme.
In unserer Gesellschaft gibt es auch heute noch viele, die denken, zunächst müsse man einen Beruf haben und erst dann könne man eine Familie gründen. Auf der anderen Seite - und hierzu tendiere ich mehr - gibt es das Argument, daß man nie so viel frei einteilbare Zeit für die Erziehung von Kindern hat wie während des Studiums. Auf jeden Fall, egal wie man darüber denkt, ist das Studieren mit Kind gesellschaftliche Realität.
Politik hat nach unserer Auffassung nicht die Aufgabe, irgend jemandem ein bestimmtes Bild von Familie vorzuschreiben oder gar vorzuschreiben, wann man eine Familie gründen will. Aufgabe der Politik muß es sein, daß jeder die Chance hat, Ausbildung, Studium, Beruf und Kindererziehung miteinander zu vereinbaren.
Über die Probleme der Kinderbetreuung ist hier eben schon viel gesprochen worden. Deswegen möchte ich dazu nur kurz Stellung nehmen. Viele Selbsthilfeinitiativen von Studierenden mit Kindern scheitern nicht am Willen der Studenten und Studentinnen, sondern an den in den Ländern zum Teil unterschiedlich hohen Normen der Heimaufsichten, die es manchmal unmöglich machen, einen entsprechenden Raum zu finden. Hinzu kommen die Probleme bei der Betriebsführung der Kindertagesstätten von Elterninitiativen. Dies ist zur Zeit noch mit erheblichem Verwaltungsaufwand verbunden, der von den Studierenden neben Studium und Erwerbstätigkeit kaum zu erbringen ist.
An dieser Stelle bitte ich die Landesjugendämter, für diese Tageseinrichtungen die Verwaltungsvorschriften zu erleichtern. Die Kommunen möchte ich an dieser Stelle bitten, doch einmal zu überprüfen, ob sie nicht die Verwaltung von Einrichtungen der Elterninitiativen übernehmen könnten. Das wäre allemal billiger, als wenn sie diese als öffentliche Träger führen müßten.
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Meine Damen und Herren, lassen Sie mich beispielhaft Probleme von jungen studierenden Eltern nennen, die an deutschen Universitäten auch heute noch auf das Wohlwollen und die Beweglichkeit der Studentensekretariate angewiesen sind, wenn es z. B. darum geht, Urlaubssemester für die Erziehung ihrer Kinder genehmigt zu bekommen. So kenne ich den Fall einer Studentin, die an einer Universität ein zweites Urlaubssemester für die Erziehung ihres sechs Monate alten Jungen beantragen wollte. Eine Selbstverständlichkeit, müßte man denken, angesichts der
Tatsache, daß es in der Erwerbswelt inzwischen drei Jahre Erziehungsurlaub gibt. Aber weit gefehlt, die Antwort war lapidar: Ihr Kind ist doch jetzt schon ein halbes Jahr alt, was wollen Sie eigentlich?
Wie müssen sich junge Eltern fühlen, wenn sie sich trotz aller Probleme, vielleicht auch ungewollt, für ein Kind entschieden haben? Es mag sein, daß dieses Beispiel nicht der Regelfall ist. Aber es ist so geschehen, und es kann jederzeit wieder geschehen, solange sich hier nichts ändert.
Nach wie vor wird die Kindererziehung als Beurlaubungsgrund in den meisten Bundesländern nicht ausdrücklich genannt. Lange nicht jeder Student oder jede Studentin hat das Glück, an einer Hochschule wie z. B. Köln oder Bonn zu studieren, die die entsprechenden Regelungen sehr liberal auslegen und anwenden. So besteht an der Universität Köln die Möglichkeit, sich ohne Probleme für die Kindererziehung bis zu drei, in Sonderfällen sogar bis zu fünf Semester beurlauben zu lassen.
Die in der Antwort der Bundesregierung angesprochenen starken Unterschiede in der Beurlaubungspraxis der Länder bedürfen dringend einer einheitlichen Regelung. Studierende mit Kindern dürfen nicht betteln müssen, sondern müssen sich auf ihren Anspruch verlassen können. Ich begrüße daher ausdrücklich die Ankündigung der Bundesregierung, gemeinsam mit den Ländern zu prüfen, wie der Anspruch auf eine ausreichend lange Beurlaubung zur Erziehung von Kindern endlich auch für Studierende verwirklicht werden kann.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf die in der Frage 4 angesprochene Problematik eingehen. Es geht darum, inwieweit die einzelnen Hochschulen bei der Gestaltung von Prüfungsordnungen Rücksicht auf die Situation von Schwangeren bzw. studierenden Müttern und Vätern nehmen. Auch hier möchte ich ein mir bekanntes Beispiel nennen. Eine Studentin wollte sich angesichts der bevorstehenden Geburt ihres Kindes über die Möglichkeiten einer Verlängerung der Zeit für ihre Examensarbeit erkundigen. Ihr wurde sinngemäß von einer renommierten Universität mitgeteilt, daß sie aus dem Prüfungsverfahren fliegen würde, falls sie die Bearbeitungszeit ihrer Magisterarbeit um mehr als sechs Wochen - rechtlich richtig wären drei Monate gewesen - überschreiten würde. Warum, so wurde sie gefragt, habe sie sich schließlich schwängern lassen.
Gerade bei einer Schwangerschaft, insbesondere auch bei einer ungewollten, kann es immer zu unvorhersehbaren Komplikationen kommen, die es unmöglich machen, die Bearbeitungszeit von Examensarbeiten einzuhalten. Wer aber mit weiteren drei Monaten nicht zurechtkommt, fällt komplett aus dem Prüfungsverfahren. Im Klartext: Die bisherige Arbeit war umsonst, und man muß wieder von vorne beginnen. Ich halte hier Sonderregelungen für Schwangere für dringend erforderlich.
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Zum Schluß meiner Ausführungen möchte ich auf die Einstellungschancen von Studierenden nach ihrem Studium eingehen. Leider muß festgestellt werden, daß auch hier Frauen schlechtere BedingunHubert Hüppe
gen haben. So gibt es immerhin doppelt so viele arbeitslose Akademikerinnen wie arbeitslose Akademiker. Neben einigen anderen Gründen liegt das in der Hauptsache daran, daß die Arbeitgeber entweder vor der Möglichkeit des Kinderbekommens zurückschrecken oder vor den bereits vorhandenen Kindern und den daraus folgenden Konsequenzen.
Erschwerend kommt hinzu, daß die Akademiker, die sich in ihrer Studienzeit auch der Kindererziehung gewidmet haben, später fertiggeworden sind bzw. dann Arbeitsbedingungen suchen, die auch Erwerbstätigkeit mit Erziehungsarbeit vereinbaren lassen.
Meine Damen und Herren, vieles von dem, was ich Ihnen heute gesagt habe, stammt nicht aus wissenschaftlichen Arbeiten, sondern aus den Erfahrungen eines Studentenehepaares mit Kind, das sich in meinem Büro eine Referentenstelle teilt. Ich weiß jetzt, daß die Möglichkeiten von Jobsharing und Teilzeitarbeit längst noch nicht genug genutzt werden. Lassen Sie uns gemeinsam für eine kinder- und familiengerechte Erwerbswelt eintreten.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Anni Brandt-Elsweier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich vor 40 Jahren mein Jura-Studium begann und im ersten Semester meinen Ehemann kennenlernte, warnten uns die Eltern davor, zu heiraten oder etwa ein Kind zu bekommen. Denn schwanger zu werden bedeutete für eine Studentin unweigerlich Abbruch des Studiums.
Die Antwort der Bundesregierung zu dem Bereich Studierende mit Kindern hat diese Erinnerung wachgerufen. Enttäuschend ist es, heute festzustellen, daß sich in 40 Jahren am Grundproblem nichts geändert hat. Überraschend ist es allerdings nicht. Trotz Art. 3 Grundgesetz und einer angeblich doch so frauen- und familienfreundlichen Politik der Regierungskoalition steht es in Sachen Vereinbarkeit von Familie und Beruf bzw. Studium nicht zum besten. Immer noch müssen Studierende wegen der Geburt oder der Erziehung eines Kindes ihr Studium abbrechen oder für längere Zeit unterbrechen. Es sind dabei vor allem die studierenden Mütter in den alten Bundesländern, die ihr Studium deutlich häufiger unterbrechen als die studierenden Väter. Offensichtlich hat sich auch am Rollenverhalten der Männer in 40 Jahren nichts geändert.
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie jetzt nicht mit statistischen Zahlen über die Situation der studierenden Mütter langweilen. Ich will den Sinn dieser Statistiken nicht leugnen, läßt sich damit doch trefflich argumentieren. Aber allzuleicht vergessen wir darüber auch die tägliche Lebenssituation der Frau, die ihr Kleinkind betreut und versorgt und gleichzeitig noch so ehrgeizig ist, ihr Studium abzuschließen. Frau Eichhorn brachte ein ähnliches Beispiel ganz aus dem Alltag.
Ich frage Sie nur einmal: Wie sieht der Tagesablauf einer studierenden Mutter aus? Dabei ist der Begriff Tagesablauf schon nicht mehr exakt, demi die Nacht gehört ja zur Betreuung des Kindes dazu. Eltern wissen, daß die ungestörten Nächte in den ersten Lebensjahren des Kindes fast genauso selten sind wie Feiertage. Die Nacht ist jedenfalls für die junge Mutter in der Regel früh zu Ende, denn der kleine Schatz verlangt ja zunehmend ungeduldiger nach seiner ersten Mahlzeit, nach einer frischen Pampers. Und überhaupt: Schlafen kommt jetzt schon gar nicht mehr in Frage.
Aber die studierende Mutter beweist Organisationstalent. Sie schafft es tatsächlich, mit einem friedlich schlummernden Kind in der Tragetasche nach einer längeren Bahnfahrt pünktlich in der Uni zu sein.
Aber der Vorlesung konzentriert zu folgen und mitzuarbeiten ist ihr kaum möglich. Das Kind verlangt sein Recht: Es hat Hunger, es braucht eine neue Windel und auch die Zuwendung der Mutter. Dieser wird es kaum möglich sein, das Kind dem durch die Hochschule bestimmten und verplanten Tagesablauf zu unterwerfen. Wer will es ihr dann verübeln, wenn sie entnervt das Handtuch wirft und ihr Studium abbricht?
Leider war diese junge Frau nicht jene eine von vier Studentinnen, die für ihr Kind einen Betreuungsplatz bekommen haben. Als Grund für die Studienunterbrechung wird sie - wie viele studierende Mütter - das Erziehungsmotiv angeben. Allerdings ist die Schlußfolgerung der Bundesregierung, diese Frauen unterbrächen ihr Studium deutlich häufiger als studierende Väter, weil sie den Wunsch hätten, die Kinderbetreuung und -erziehung persönlich zu übernehmen, entweder ein Zeichen von Unkennntnis oder auch einfach nur männlicher Ignoranz.
Tatsache ist, daß nach Erhebungen des Studentenwerks 90 % der Studenteneltern in Westdeutschland sich eine hochschulnahe Kinderbetreuung wünschen. Tatsache ist, daß drei von vier Studierenden in den alten Bundesländern keine Kinderbetreuungsmöglichkeit im Hochschulbereich finden. Tatsache ist, daß in den neuen Bundesländern weit weniger studieren, die ihr Studium wegen der Betreuung ihrer Kinder abbrechen, und die Zeit der Studienunterbrechung um die Hälfte kürzer ist als in den alten Bundesländern. Die Kollegin Evelin Fischer hat ja bereits darauf hingewiesen. Deshalb - das füge ich hinzu - sind diese Mütter mit Sicherheit aber keine schlechteren Mütter.
Wir brauchen keine Vorurteile, sondern wir brauchen dringend ein erheblich erweitertes Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen. Das Hauptaugenmerk ist auf den Bereich der sogenannten Kinderkrippen zu lenken, denn die Mehrzahl der Kinder von Studentinnen sind jünger als drei Jahre. Mit einer rein zahlenmäßigen Erweiterung der Betreuungsmöglichkeiten ist es dabei nicht getan. Den wenigsten Studenteneltern wird eine starre Öffnung der Einrichtung etwas nützen. Hier müssen längere, der Vorlesungsdauer angepaßte Öffnungszeiten eingeführt werden. Daß hierbei natürlich auch auf die Bedürfnisse des
Kindes zu achten ist, versteht sich von selbst und müßte eigentlich nicht erwähnt werden.
Dabei sind auch die Möglichkeiten der elterlichen Mitwirkung in den Freizeiten zwischen den unterschiedlichen Veranstaltungen der Hochschulen zu berücksichtigen. Den Betreuungseinrichtungen wird also ein hohes Maß an Flexibilität abverlangt. Sie müssen z. B. auch während der Semesterferien geöffnet bleiben, denn die alleinerziehenden Frauen sind meist auf den eigenen Verdienst angewiesen und erarbeiten einen nicht geringen Teil des Jahresfamilieneinkommens in Aushilfs-Jobs während der Semesterferien. Eine übergangslose Betreuung ihres Kindes ist deshalb nicht nur sinnvoll, sondern im Interesse des Kleinkindes auch ein Muß.
An dem einführenden Beispiel der jungen Studentenmutter ist aber noch etwas anderes deutlich geworden: Die Studentinnen brauchen auch kindgerechte Wohnungen in der Nähe der Universitäten, damit nicht täglich mehrere Stunden allein für den Hin- und Rückweg erforderlich sind. Dies ist auch deshalb wünschenswert, weil nur so die Kinder der Studierenden in den Betreuungseinrichtungen der Hochschulen den Bezug zu den Gleichaltrigen ihres Bereichs behalten.
Hier sind auch nicht allein die Länder, Kommunen und Hochschulen gefordert. Im Rahmen der BundLänder-Kommission ist im besonderen Maße auch die Bundesregierung, und zwar vor allem finanziell, gefordert, endlich die Wohnsituation studierender Mütter und Väter zu verbessern. Dazu gehört eben auch die familiengerechte Ausstattung von Studentenheimen für Studierende mit Kindern.
Der dritte Bereich, in dem Verbesserungen erforderlich sind, betrifft die Festlegung der Studien- und Prüfungsordnungen. Es muß möglich sein, dem jedermann einsichtigen Bedürfnis von studierenden Eltern gerecht zu werden und ein Studium, wenn es denn gewünscht wird, auch als Teilzeitstudium zu beenden. Heute sieht es in der Praxis der meisten Studiengänge jedoch anders aus. Zwar darf die Studentin den prüfenden Professor oder die prüfende Professorin in der Regel auswählen und sich bei ihm oder ihr auf das Examen vorbereiten; verzögert sich jedoch das Examen durch die Geburt des Kindes, so ist es auf Grund der bereits abgeschlossenen Examenskurse oft nicht mehr möglich, den gleichen Stoff zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal zu prüfen. Die Folge sind erneute Zeit beanspruchende Examenskurse.
Wir fordern, den studierenden Eltern ein Teilzeitstudium und auch eine verlängerte Examensphase zu ermöglichen. Gleichzeitig ist aber auch eine flexiblere Handhabung des dem Studium folgenden Vorbereitungsdienstes notwendig. Es muß möglich sein, den Prüfungstermin vorzuverlegen, wenn alle Voraussetzungen für den Abschluß einer Ausbildung vorliegen und Prüfungs- und Geburtstermin kollidieren. Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß ein vorgezogenes Examen die Situation der Frau nach der Geburt des Kindes entschärfen könnte und auch dem Finanzminister wegen der eingesparten Gelder sicher ein Lächeln entlocken würde.
Die Forderungen des vorliegenden Entschließungsantrages sind klar, sinnvoll und verstehen sich als Mindestforderungen. Wenn es uns denn Ernst damit ist, der studierenden Mutter auch nur annähernd eine Gleichstellung mit dem studierenden Vater zu gewähren, dann müssen wir die Kinderbetreuungsmöglichkeiten verbessern. Wenn es uns Ernst damit ist, die Rahmenbedingungen für studierende Eltern zu verbessern, dann müssen wir die Wohnsituation einem Leben mit Kindern anpassen. Wenn es uns Ernst mit der Frauenförderung im Hochschulbereich ist, dann müssen wir Teilzeitstudiengänge und verlängerte Examensphasen zulassen. Wenn es uns mit der Chancengleichheit von Frauen im Beruf Ernst ist, dann dürfen wir es auch nicht zulassen, daß die Arbeitslosenquote der Akademikerinnen mit 5,8 % doppelt so hoch ist wie die ihrer männlichen Kollegen.
Wenn wir diese vier Bereiche - Kinderbetreuung, Wohnsituation, Frauenförderung und Chancengleichheit - weiterhin vernachlässigen, dann werden wir an der hohen Zahl der Studienabbrüche sowie der Studienunterbrechungen und der Zahl der arbeitslosen Akademikerinnen mit allen schönen Worten nichts ändern. Wir werden weiterhin wertvolle Ressourcen in Form einer qualifizierten Frauenausbildung verschenken. Die Frage ist nur, wie lange wir uns dies angesichts der vor uns liegenden Schwierigkeiten noch leisten wollen.
Ich spreche jetzt ausdrücklich die Herren an, die insoweit ungläubig sind: Ihnen möchte ich nur noch sagen, daß eine gute Frauenpolitik immer auch eine gute Familienpolitik ist.
Ich danke schön.
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Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich weiß zwar nicht, wer sich auf der Regierungsbank dafür zuständig fühlt, aber wir werden in gut zehn Minuten mit der Fragestunde beginnen, und für die ersten beiden Geschäftsbereiche, die aufgerufen werden, sind Staatssekretär Priesnitz und der Parlamentarische Staatssekretär Neumann angekündigt. Vielleicht kann das übermittelt werden, damit die Regierungsbank zu Beginn der Fragestunde entsprechend besetzt ist.
Ich erteile jetzt der Kollegin Dr. Barbara Höll das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich zunächst dafür entschuldigen, daß ich der Debatte nicht folgen konnte. Da ich an den Beratungen des Ältestenrates teilgenommen habe, war mir das nicht möglich.
Die Große Anfrage „Studierende mit Kindern" greift ein wichtiges Thema des Lebens mit Kindern in Deutschland auf. Es ist allerdings sehr unterschiedlich, wie ein Studium mit Kind Vater und Mutter betrifft. Von dieser Seite her ist es für mich in erster Linie ein wichtiges frauenpolitisches Thema.
Beim Durchlesen der Anfrage warfen für mich die von den Fragestellerinnen und Fragestellern formulierten Eingangsbemerkungen bereits eine Reihe von Fragen auf. Studierende Mütter und Väter unterlieDr. Barbara Höll
gen unbestritten durch Elternschaft und Ausbildung einer höheren Belastung gegenüber ihren Mitstudenten und Mitstudentinnen. Die Ursache wird allerdings darin gesehen, daß „die Probleme, mit denen studierende Eltern auf Grund ihrer Doppelbelastung durch Kinder und Ausbildung konfrontiert werden, von der Gesellschaft häufig nicht in ausreichendem Umfang gesehen" werden.
Das heißt, die Fragestellerinnen und Fragesteller der CDU/CSU und F.D.P. sehen gar nicht einmal unbedingt erkannte Handlungsnotwendigkeiten in der Studienorganisation in Abhängigkeit von Sozial- und Unterhaltsleistungen bis zur Notwendigkeit von Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder, sondern entschuldigen von vornherein die schlechten Rahmenbedingungen für ein Studium mit Kindern durch Unkenntnis innerhalb der Gesellschaft.
Deshalb frage ich mich: Wie blind kann man sich stellen angesichts der fehlenden Kinderbetreuungsmöglichkeiten in den alten Bundesländern, angesichts der zu gering bemessenen und zu kompliziert zu erlangenden Kindergeldzuschläge usw., angesichts der Wohnungsnot insbesondere von Familien mit Kindern?
Ich denke, wenn man die Materialien heranzieht, die das Studentenhilfswerk über Jahre hinweg erstellt hat, dann stellt man fest, daß das doch eine mehr als billige Ausrede ist. Während wir auch im Bundestag sehr intensiv über das Selbstbestimmungsrecht der Frau über ihren eigenen Körper und den Schutz des ungeborenen Lebens diskutierten, sollen die Probleme eines Lebens mit Kindern bisher nicht gesehen worden sein? Dies ist von vornherein eine billige und meines Erachtens scheinheilige Entschuldigung für Parlamentarier und Regierung. Wir sollten das nicht so stehen lassen.
Ich stimme den Fragstellerinnen und Fragestellern aber ausdrücklich zu, daß - ich zitiere nochmals - „mit der deutschen Einheit ... die Problematik von Studium und Elternschaft eine neue Dimension gewonnen" hat. Die von der Bundesregierung vorgelegten Daten belegen sehr eindeutige Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern, und zwar sowohl was den Anteil der Studierenden mit Kindern als z. B. auch den Abbruch des Studiums aus familiären Gründen, insbesondere durch die Geburt und Erziehung von Kindern verursacht, betrifft.
Die Antworten und Bezüge zu den neuen Bundesländern mit Datum vom 21. 10. 1992 entsprechen allerdings in den entscheidenden Fragen nicht mehr der realen Lage, z. B. daß der Betreuungsbedarf in Kindertagesstätten gedeckt sei, ebenso, was den Umfang der notwendigen finanziellen Aufwendungen betrifft. Ich verweise da nur auf die in vielen Städten erfolgten Erhöhungen, die zum Januar wirksam wurden.
In diesen Fragen hat man sich leider den westdeutschen Standard angeeignet. Man ignoriert in der mittlerweile bekannten üblichen Art all das, was Studierenden mit Kindern in der DDR bei allen Problemen ein Studieren möglich machte und auch eine berufliche Perspektive eröffnete. Für eine Studentin gab es nicht die Entscheidung „Entweder
Mutter oder Studium", sondern die Möglichkeiten waren gegeben und, was dabei nicht zu unterschätzen ist, damit weitere Auswirkungen für ihre Berufs- und Karriereplanung. Diese mußte nicht von vornherein unterbrochen sein, sondern man konnte tatsächlich in die Phase des Studiums einbauen, daß man ein Kind in dieser Zeit bekam.
Gespräche an der Universität in Leipzig, die ich in der vergangenen Woche führte, waren für mich auch in dieser Hinsicht desillusionierend. Das für mich Erschreckende und auch Deprimierende war, daß Probleme von Studentinnen mit Kindern nicht einmal mehr statistisch erfaßt werden, von einer Problematisierung und einer angestrebten Lösung gar nicht zu sprechen.
Tatsache ist, daß 11 % der studierenden Mütter daran gedacht haben, ihr Studium abzubrechen. Sie sind damit die Gruppe, die am häufigsten einen Studienabbruch in Erwägung gezogen hat. Dennoch sind es gerade die, die am häufigsten aussagen, daß sie ihren Neigungsschwerpunkt studieren, die Fähigkeit besitzen, das Studium zu organisieren, und die auch die höchste Studienmotivation verzeichnen. Somit ist der Gedanke an Studienabbruch eindeutig auf die Doppelbelastung von Studium, Kind und vielmals noch Erwerbstätigkeit zurückzuführen. Gerade hier wäre Abhilfe vonnöten.
Studierende mit Kindern und ohne Kinder klagen nahezu gleich über psychische Probleme - 84 bis 90 % -, studierende Eltern eindeutig mehr über soziale Probleme. Dies ist ein weiteres Indiz dafür, daß die Kinderbetreuung bei Studierenden unzureichend geregelt ist und der Mangel daran sogar zu sozialen Problemen führt. Dies wird um so deutlicher, wenn frau sich betrachtet, daß bei den sozialen Problemen die starke Belastung durch die Kinderbetreuung an erster Stelle genannt wird: bei männlichen Studierenden von 44 % und bei Frauen von 60 %.
All diese Probleme betreffen in erster Linie Frauen. Ich sehe deshalb einen dringenden Handlungsbedarf in der Kinderbetreuung, in der Gestaltung des BAföG, in der Organisation des Studienablaufs, in der Finanzierung, in der Wohnsitution und in der möglichen Entscheidung nach dem Studium von Studentinnen mit Kindern. Dies kann keine Ermessensfrage sein und darf auch nicht vom Wohlwollen von männerdominierten Verwaltungen, Senaten usw. abhängen. Ich denke, es geht auch nicht an, daß wir diese wichtige Aufgabe einfach auf die Länder, Universitäten und Hochschulen delegieren.
Ich danke Ihnen.
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Es ist ja nicht meines Amtes, hier den Kolleginnen und Kollegen Ratschläge zu geben; aber, verehrte Frau Kollegin Höll, wenn Sie sich ein etwas kürzeres Manuskript machen, brauchen Sie nicht so schnell zu reden und müssen Sie nicht die Redezeit überschreiten.
Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Dr. Rainer Ortleb.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Studieren mit Kind bedeutet an Hochschulen in Deutschland eine zusätzliche große Anstrengung und Belastung für die jungen Eltern. Besonders betroffen hiervon sind die studierenden Mütter, hier in besonderer Weise Alleinerziehende.
Nach der 13. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes hatten im Sommersemester rund 100 000 Studenten in den alten Bundesländern und rund 15 000 in den neuen Bundesländern Kinder.
Das gravierendste Problem aus der Sicht der befragten Eltern ist die Betreuungssituation. Die Mehrzahl der studierenden Eltern wünscht für ihr Kind eine zeitlich flexible, den Vorlesungszeiten entsprechende Betreuungsmöglichkeit in räumlicher Nähe der Hochschule. Es ist von einer ungedeckten Nachfrage von mindestens 10 000, wahrscheinlich aber mehr als 20 000 Betreuungsplätzen im Hochschulbereich auszugehen.
Fast 40 % aller Frauen, die ein Studium abgebrochen haben, gaben nach einer empirischen Untersuchung zum Studienabbruch die Gründung einer Familie bzw. die Geburt eines Kindes als Hauptursache an. Eine Unterbrechung des Studiums oder eine Studienzeitverlängerung treten sehr viel häufiger auf. Gewünscht werden von den Betroffenen vor allem eine flexiblere Studiengestaltung, die Möglichkeit der Beurlaubung analog dem Bundeserziehungsgeldgesetz, die Verlängerung der Fristen für Abschlußarbeiten z. B. bei Krankheit des Kindes, Halbtagspraktika, Teilzeit- und Wiedereinstiegsstudiengänge.
Die Analysen des Haushaltsbudgets studierender Eltern im Rahmen der 13. Sozialerhebung machen eine Aufsplittung auf ganz verschiedene Finanzierungsquellen deutlich. Hier ist vor allem eine bessere Information und Beratung über Fördermöglichkeiten notwendig.
Die Bundesregierung ist sich der vielfältigen Probleme von Studierenden mit Kindern bewußt. Sie hat bereits in der Vergangenheit in ihrem Zuständigkeitsbereich notwendige Maßnahmen eingeleitet und damit Weichen für eine bessere Vereinbarkeit von Studium und Kindererziehung gestellt.
Erstens. Zur Verbesserung der Betreuungssituation im Hochschulbereich hat sie die Förderung des Baues von Kinderbetreuungseinrichtungen im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau ermöglicht.
Zweitens. Zur gezielten Förderung von Frauen im Hochschulbereich sind 1991 im Rahmen des Hochschulsonderprogramms II und des Hochschulerneuerungsprogramms ergänzende Kinderbetreuungszuschläge zu den Graduiertenstipendien eingeführt worden.
Drittens. Das Benachteiligungsverbot in § 34 des Hochschulrahmengesetzes.
Viertens. Leistung von Ausbildungsförderung über die Förderungshöchstdauer nach dem BAföG hinaus, und zwar als Zuschuß.
Fünftens. Verzicht auf Altersgrenzen in der Ausbildungsförderung bei verzögerter Studienaufnahme.
Sechstens. Wiedereinstiegsstipendien und Kontaktstipendien.
Die Bundesregierung sieht in diesen Maßnahmen und in ihren Hilfen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und wissenschaftlicher Qualifikation zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Verwirklichung der Chancengleichheit für Frauen und Männer im Hochschul- und Wissenschaftsbereich.
Eine stärkere Berücksichtigung von Belangen Studierender mit Kindern erfordert vor allem, daß die Hochschulen ihre Entscheidungsspielräume in Immatrikulations-, Studien- und Prüfungsordnungen voll ausschöpfen. Darüber hinaus sollten die Hochschulen und die Länder akzeptieren, daß Studierende mit Kind kein lästiger Sonderfall sind, sondern daß hier notwendige Rahmenbedingungen für ein zügiges Studium geschaffen werden müssen. Dazu gehören eine entschiedenere Beteiligung der Hochschulen an der Einrichtung von Kindertagesstätten und die Unterstützung studentischer Initiativen zur Entwicklung flexiblerer Angebotsformen. Die Hochschulen dürfen sich ihrer Mitverantwortung für die Gestaltung einer kindgerechten und familienfreundlichen Gesellschaft nicht entziehen.
Gestatten Sie mir eine abschließende Bemerkung. Ich interpretiere die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern gemäß Grundgesetz nicht so, daß alles, was die Länder nicht lösen, Kompetenz des Bundes sei. Wäre das so, dann würde sich die Kompetenz des Bundes gelegentlich erschreckend ausweiten.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Ich schließe die Aussprache. Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/4254 soll überwiesen werden zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft und zur Mitberatung an den Ausschuß für Frauen und Jugend. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: Fragestunde
- Drucksachen 12/4235, 12/4245 Zunächst liegt wieder eine Reihe von Dringlichkeitsfragen vor, die in den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern fallen. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Eduard Lintner zur Verfügung.
Herr Kollege Lintner, die Frage 3 wird aufgerufen; sie kommt von unserem Kollegen Detlev von Larcher:
Trifft die Erklärung des Bundesministers des Innern, Rudolf Seiters, vom 1. Februar 1993 ({0}) zu, wonach Polen und die Tschechische Republik durch die vorgesehene Asylgesetzgebung nach dem Parteienkompromiß nicht belastet werden, weil beide Länder die von der Bundesrepublik Deutschland zurückgewiesenen Flüchtlinge nicht aufnehmen, sondern in ihre Heimatländer abschieben sollen?
Ich bitte um Beantwortung.
Herr Präsident, ich bitte zunächst um die Genehmigung, die Fragen 3 und 4 gemeinsam beantworten zu dürfen.
Das muß der Fragesteller entscheiden. Herr von Larcher, sind Sie mit der gemeinsamen Beantwortung einverstanden?
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- Dann rufe ich auch die Frage 4 des Abgeordneten von Larcher auf:
Was soll nach Meinung der Bundesregierung mit den Menschen geschehen, die beim illegalen Grenzübertritt ertappt und schon an der Grenze zurückgeschoben werden?
Die Antwort lautet: Nach dem zwischen den Schengener-VertragStaaten und Polen geschlossenen Übernahmeabkommen ist Polen verpflichtet, Drittausländer, die aus Polen in das Gebiet der Schengener-Vertrag-Staaten eingereist sind, zurückzuübernehmen, wenn sie sich in den Schengener-Vertrag-Staaten nicht mehr aufhalten dürfen. Dieses Abkommen gilt seit April 1991 und ist auch auf abgelehnte Asylbewerber anwendbar.
Die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung eines Asylbewerbers in einen sicheren Drittstaat bedeutet nicht, daß dieser Drittstaat den Ausländer auf Dauer aufnehmen muß. Beruft sich der Ausländer in dem Drittstaat nicht auf politische Verfolgung, kann er von dem Drittstaat nach dessen allgemeinen ausländerrechtlichen Vorschriften behandelt werden. Wenn sich der Ausländer auch gegenüber den Behörden des Drittstaates auf politische Verfolgung beruft, muß der Drittstaat im Hinblick auf den in Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention enthaltenen Grundsatz des Verbots einer Abschiebung in einen Verfolgerstaat nach seinen innerstaatlichen Asylverfahrensrechtlichen Vorschriften prüfen, ob die Eigenschaft eines Flüchtlings im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention vorliegt.
Herr Kollege von Larcher, sie haben jetzt vier Zusatzfragen.
Meine erste Frage ist folgende. Es ging in diesem Interview darum, ob Polen durch unsere vorgesehene Regelung belastet wird oder nicht. In der Antwort hat der Bundesinnenminister im Grunde genommen von drei Gruppen gesprochen, nämlich zunächst einmal von allen Asylbewerbern - er sagte, Polen müsse jetzt alle Asylbewerber aufnehmen -, dann von denen, die über Polen nach Deutschland gekommen sind - das ist die zweite Gruppe -, und dann von Asylbewerbern, die abgelehnt sind; dazu hat er gesagt, es gehe nicht darum, daß sie in Polen aufgenommen werden sollen, sondern darum, daß sie von Polen in die Herkunftsländer zurücktransportiert werden sollten. Wie kommt der Herr Bundesminister zu einer solchen Aussage: Alles, was über Polen zu uns gekommen ist, geht gar nicht in ein sicheres Drittland zurück, sondern soll von Polen nur in die Herkunftsländer weitergeschoben werden?
Herr Kollege von Larcher, zunächst einmal ist immer nur von sich illegal hier im Land aufhaltenden Ausländern gesprochen worden.
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Es ist in der Antwort wörtlich die Rede von Ausländern, die „sich in den Schengener-Vertrag-Staaten nicht mehr aufhalten dürfen". Es kann durchaus sein, daß jemand, der legal einreist, illegal wird, weil er beispielsweise das Visum, das ihm erteilt worden ist, nicht einhält, sondern dann plötzlich auf Dauer hierbleiben will. Es kann also nur um solche Fallgestaltungen gehen. Da ist es dann selbstverständlich Sache des polnischen Staates, wie er nunmehr mit Personen verfährt, die auf Grund dieser Bestimmungen an Polen zurückgegeben worden sind.
Zweite Zusatzfrage.
Dann entnehme ich aber Ihrer Antwort, daß die Feststellung von Bundesinnenminister Seiters in den „Tagesthemen" nicht richtig ist, daß die Polen durch unsere Regelung nicht belastet werden. Sie müssen ja ein Asylverfahren durchführen, wenn dort Asyl beantragt wird.
Sie werden nicht belastet, weil es hier um eine Verpflichtung geht, die die Polen bereits im April 1991 gegenüber den Schengener-Vertrag-Staaten eingegangen sind. Insoweit kann es sich also nicht um neuerliche Belastungen handeln.
Dritte Zusatzfrage.
Trifft es nicht zu, daß alle, die z. B. an der deutsch-polnischen Grenze ertappt werden und nach den vorgesehenen Regelungen nach Polen zurückgeschoben werden, von uns - ich muß eigentlich sagen: von Ihnen - zurückgeschoben werden sollen, weil davon ausgegangen wird, daß Polen ein sicherer Drittstaat ist, das heißt, daß sie dort Schutz finden können, wenn sie wollen? Wenn das so ist, wird dann Polen nicht doch belastet, wenn wir alle zurückschieben, die jetzt bei uns ein Asylverfahren bekommen?
Es trifft zu, daß wir die zurückschieben können. Aber die Verpflichtung der Polen, sie zurückzunehmen, resultiert aus einer vertraglichen Vereinbarung vom April 1991. Polen kann deshalb durch die neue Situation nicht zusätzlich belastet sein.
Vierte Frage.
Dann ist meine vierte Frage: Was beabsichtigt denn die Bundesregierung von sich aus in den Verträgen mit Polen und der Tschechischen Republik anzubieten, damit diese Staaten eben nicht unsere Last übernehmen müssen?
Zunächst einmal muß man differenzieren zwischen der Situation gegenüber Polen und der Situation gegenüber der Tschechei. Gegenüber Polen besteht bereits eine Rückübernahmeverpflichtung des polnischen Staates
auch uns gegenüber, weil wir ein SchengenerVertrag-Staat sind. Gleiches gilt gegenüber der Tschechei nicht.
Zweitens. Wir haben den Polen angeboten - gleiches gilt selbstverständlich für den Fall einer vertraglichen Vereinbarung mit der Tschechei -, daß wir logistisch helfen, Transportmöglichkeiten, Unterbringungsmöglichkeiten, Verfahrenshilfen bieten. Dies war auch Gegenstand dessen, was Kollege Staatssekretär Vöcking mit den Polen beispielsweise erörtert hat.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Horst Peter
Herr Staatssekretär, welche rechtliche Prüfung der Genfer Flüchtlingskonvention einschließlich der Beschlüsse des Exekutivkomitees und auch der Europäischen Menschenrechtskonvention hat die Bundesregierung vorgenommen, um die Äußerung des Bundesinnenministers mit dem Prädikat „rechtlich unbedenklich" zu versehen?
Wir haben die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet, sind also verpflichtet, so, wie dort vorgesehen, zu verfahren. Sie wissen, daß die Abschiebungshindernisse, die dort normiert sind, Gegenstand des Ausländergesetzes in der Bundesrepublik Deutschland sind, und insoweit sind sie natürlich auch Gegenstand der Verfahren, die hier in Betracht kommen. Wenn dennoch rechtskräftig feststeht, daß beispielsweise ein Asylbewerber erstens kein Asylrecht hat und zweitens abgeschoben werden kann, dann sind diese Prüfungen bereits erfolgt; dann kann er, wenn er über Polen zu uns gekommen ist, an Polen zurückgegeben werden.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin Ulrike Mehl.
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Wenn jetzt jeder, der eine Zusatzfrage stellen will, so behandelt werden möchte, als wäre er der Fragesteller, und daraus ableitet, daß er zwei Zusatzfragen stellen kann, dann kommen natürlich die Kollegen, die danach mit Zusatzfragen an der Reihe sind - ich habe schon jetzt sechs Namen hier stehen -, fast gar nicht mehr zum Zug. Aber da es sich überwiegend um Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion handelt: Bitte sehr.
Die zweite Zusatzfrage ergibt sich aus Ihrer Antwort, Herr Staatssekretär. Wie wollen Sie sicherstellen, daß Polen als Staat, der die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet hat, nicht zu den Staaten gehört, die trotzdem an der Grenze zurückweisen oder Personen, die möglicherweise ohne ein gleichwertiges Asylverfahren eingereist sind, ausweisen?
Das ist im Moment nicht die rechtliche Frage; denn das neue Asylrecht mit den sicheren Drittstaaten gilt noch nicht, vielmehr gilt im Moment noch das alte Recht. Wenn wir hier rechtskräftig entschieden haben, daß jemand kein Asylrecht hat, kann er abgeschoben werden, beispielsweise in einen sicheren Drittstaat. Polen hat diese Konvention unterzeichnet, und wir müssen, weil uns nichts Gegenteiliges bekannt ist, davon ausgehen, daß sich Polen innerstaatlich auch daran orientiert. Insoweit ist es natürlich in der Hand der Polen, diese Dinge auszufüllen und auszugestalten, und nicht Sache der Bundesrepublik Deutschland.
Frau Kollegin Ulrike Mehl.
Sie werden doch sicher mit mir darin übereinstimmen, daß es zwischen einem existierenden Vertrag und der Rücknahmeverpflichtung Polens einerseits und der Tatsache, daß wir erst in Zukunft in großem Umfang an Polen „zurückgeben" wollen, andererseits einen großen Unterschied gibt und daß das für Polen dann durchaus eine neue Situation ist. Wissen Sie, welche Qualität und welchen Umfang die polnische Verwaltung überhaupt bewältigen kann, inwieweit sie also überhaupt in der Lage ist, dieses von uns auf sie verlagerte Problem zu lösen?
Frau Kollegin, das ist ja auch der Grund dafür, daß die Bundesregierung Hilfe angeboten hat. Darüber haben wir ja gesprochen.
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- Ich kenne die Dimension derer, die über Polen zu uns kommen, die also für eine Rücküberführung in Betracht kommen. Wir kennen auch ungefähr das, was in Polen vorhanden ist. Daraus resultiert unser Hilfsangebot. Ich bin der festen Überzeugung, daß das gemeinsam zu bewältigen ist.
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Der Kollege Konrad Elmer möchte die nächste Zusatzfrage stellen.
Ich möchte gleich daran anschließen. Sie sagten, Sie wüßten, wie viele da kämen. Wie groß wäre die Zahl derer, die wir, wenn die Beschlüsse so durchkommen, wie der Kompromiß aussieht, bei uns gar nicht erst mehr in ein Verfahren nehmen müßten, sondern an Polen und an die Tschechoslowakei zurückschicken würden? Ich bitte, die Zahlen getrennt zu nennen.
Herr Elmer, die Frage kann ich Ihnen jetzt nicht beantworten, weil das beispielsweise davon abhängt, wie wir festlegen, was sichere Herkunftsländer sind und was sichere Drittstaaten sind. Darüber gibt es im Moment noch keine konkrete Liste, so daß ich Ihnen dazu jetzt natürlich auch keine konkreten Zahlen nennen kann.
Dann muß ich die zweite Frage stellen. Festgelegt wurde im Kompromiß schon, daß jedenfalls Polen und die Tschechoslowakei sichere Drittstaaten sein werden. Insofern möchte ich doch wissen, wie die Zahlen da lauten.
Ich kann Ihnen die Zahlen darüber, wer über Polen zu uns gekommen ist, jetzt nicht konkret nennen, weil ich die Zahlen nicht dabei habe. Aber sie lassen sich feststellen, und ich bin gern bereit, sie Ihnen nachzuliefern.
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Frau Kollegin Gudrun Weyel.
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin auf die Vereinbarung von 1991 hingewiesen. Sind Sie und ist Ihr Haus nicht der Meinung, daß mit einer neuen Gesetzeslage, wie sie nach der Verabschiedung der uns vorliegenden Gesetzentwürfe in der Bundesrepublik gegeben sein wird, neue vertragliche Abmachungen oder Vereinbarungen mit den benachbarten Republiken notwendig sind, unabhängig von dem, was es früher einmal gegeben hat?
Frau Kollegin, Sie verkennen, daß nicht nur wir Vertragspartner sind. Vertragspartner sind die Schengener-Vertrag-Staaten und Polen. Das heißt, selbst dann, wenn ich Ihrer Meinung wäre, wäre ich nicht in der Lage, aus der Position der Bundesrepublik Deutschland heraus hier allein Veränderungen zu bejahen oder vorzunehmen. Das müssen die Partner des Schengener Vertrags machen.
Die zweite Zusatzfrage.
Ich muß noch einmal nachfragen: Verstehen Sie nicht, daß die Bundesrepublik dann, wenn sie die gesetzlichen Grundlagen so ändert, wie es vorgesehen ist, unabhängig von Vereinbarungen mit anderen Vertragsstaaten mit ihren Nachbarn auf der neuen gesetzlichen Grundlage neue Gespräche führen und neue Vereinbarungen finden muß, die vielleicht über das hinausgehen, was bisher gewesen ist?
Frau Kollegin, wir verhandeln ja mit Polen. Das habe ich bereits ausgeführt. Wir bieten Hilfe an. Das ist Ausdruck dieser Sachlage.
Aber ich muß noch einmal betonen: Der Vertrag besteht zwischen den Partnern des Schengener Vertrages und der Volksrepublik Polen. Deutschland kann daran einseitig nichts verändern. Das heißt, diese Verpflichtung zur Rückübernahme bleibt unabhängig von der veränderten deutschen Situation bestehen.
Nächste Zusatzfrage, Kollege Dr. Burkhard Hirsch.
Herr Staatssekretär, vorausschickend, daß Sie Ihrem Minister doch nicht dadurch helfen, daß Sie hier einen Sachverhalt verschleiern,
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sondern nur dadurch, daß Sie den Sachverhalt offen darstellen, frage ich Sie: Sollte es nicht zwischen uns unstreitig sein, daß auf die Volksrepublik Polen eine erhebliche Mehrbelastung dadurch zukommt, daß wir im Gegensatz zur bisherigen Rechtslage in Zukunft jeden Flüchtling, der über Polen in die Bundesrepublik einreisen will, dorthin zurückschicken wollen, unabhängig davon, ob er ein politischer Flüchtling ist oder nicht, und ist nicht genau diese Veränderung der Rechtslage dadurch bedingt, daß wir annehmen, die Polen beachten dabei die Grundzüge der Genfer Flüchtlingskonvention - es ist also nicht nur ihr Problem, sondern unseres genauso -, und müßten Sie uns nun nicht darstellen - wenn schon der Minister gesagt hat, daß wir, wie vereinbart, den Polen dabei helfen wollen -, ob unsere Angebote nur dahin gehen, daß wir den Polen bei der Weiterschiebung in die Herkunftsländer helfen wollen, indem wir identifizieren, Fingerabdrücke nehmen, Transportmittel stellen, oder auch dahin, daß wir den Polen bei der Durchführung eines geordneten Anhörungsverfahrens in der Frage helfen, ob es sich um politische Flüchtlinge handelt oder nicht? Das ist doch die Frage, die Sie beantworten müßten.
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Verzeihung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, bevor Sie antworten. - Herr Kollege Hirsch, Sie sind wirklich ein erfahrener Abgeordneter. In der Fragestunde sollen kurze Fragen gestellt und keine Debatten geführt und auch keine Wertungen geäußert werden.
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Ich bitte also sehr herzlich, daß wir uns an die Regeln halten.
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Herr Kollege Hirsch, ich habe weder etwas verschleiert noch irgend etwas zurückzunehmen. Wenn Sie zugehört hätten, dann hätten Sie festgestellt, daß ich vorhin bereits von „Verwaltungshilfe" gesprochen habe. Ich kann also nur noch einmal betonen, daß das gilt, was ich vorhin schon gesagt habe: Wir sind auch zur Verwaltungshilfe bereit.
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Wir sind zu Verwaltungshilfe in diesen Verfahren bereit. Wir sind bereit, beispielsweise bei den notwendigen Räumlichkeiten zu unterstützen. Aber all das habe ich bereits ausgeführt wie übrigens auch der Minister.
Nächste Zusatzfrage, der Kollege Dr. Jürgen Schmude.
Erste Frage. Herr Staatssekretär, stimmen Sie dem Kollegen Hirsch darin zu, daß nach der jetzt in Vorbereitung befindlichen neuen Rechtslage durch die Rücknahme der
Flüchtlinge eine wesentlich höhere Last auf Polen zukommt, als das bisher der Fall ist?
Das kann man im voraus nicht sagen, Herr Kollege Schmude.
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Das wird sich zeigen. Aber für den Fall, daß das zutreffen sollte, haben wir ja auch konkrete Hilfen angeboten. Ich verweise auf all das, was ich im Lauf dieser Fragestunde dazu bereits ausgeführt habe.
Eine zweite Frage.
Zweite Frage. Herr Staatssekretär, da Sie die in Rede stehenden Hilfen bereits genannt haben, frage ich Sie: Sind Meldungen aus den Zeitungen vom 8. Januar dieses Jahres über eine Pressekonferenz des Bundesinnenministers zutreffend, nach denen auch die Übernahme von Flüchtlingen durch die Bundesrepublik Deutschland im Zuge dieser Hilfe nicht ausgeschlossen ist, sondern in Betracht kommt?
Es gibt immer bestimmte Fallgestaltungen, bei denen die Zurückschiebung nicht in Betracht kommt. Ich will Ihnen eine nennen. Es ist beispielsweise zugesagt worden, eine Zurückschiebung dann nicht vorzunehmen, wenn Visa seitens der Bundesrepublik Deutschland erteilt worden sind, weil deutsche Behörden dann an der Situation quasi mitgewirkt haben. - Es ist auch denkbar, daß wir Kontingentflüchtlinge unter irgendwelchen Voraussetzungen beispielsweise über Polen aufnehmen. Solche Fallgestaltungen sind denkbar. Sie sind im Moment nicht konkret. Wenn Sie so etwas vor Augen haben sollten, dann würde ich mit Ja antworten.
Eine weitere Zusatzfrage, Kollege Eckart Kuhlwein.
Herr Staatssekretär, können Sie sich vorstellen, daß trotz der in Aussicht gestellten Verwaltungshilfe durch die Bundesrepublik Deutschland z. B. Polen nicht in der Lage sein wird, für eine größere Zahl von Abgeschobenen ein geordnetes, rechtsstaatliches Verfahren nach der Genfer Flüchtlingskonvention durchzuführen, wenn es nicht einmal der Bundesrepublik Deutschland gelingt, unter ihrer Regie in einem relativ geordneten Rechtsstaat, in einem relativ geordneten Staatswesen eine große Zahl von Flüchtlingen und Asylbewerbern einem geordneten Verfahren zu unterziehen, wie sich z. B. an der hohen Zahl der aufgestauten Bewerber in Zirndorf gezeigt hat?
Herr Kollege Kuhlwein, Sie wissen genau, daß es in der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor ein geordnetes Asylverfahren gibt. Im übrigen sind die Länder ja am Verfahren insgesamt maßgebend beteiligt, so daß Ihr Vorwurf, den ich da heraushöre, genauso an die Lander zurückgegeben werden kann.
Im übrigen möchte ich darauf hinweisen, daß wir bis dato davon ausgehen können, daß die Polen selbstverständlich in der Lage sind, die Dinge, die da möglicherweise auf sie zukommen, innerstaatlich zu bewältigen.
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Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, glauben Sie ernsthaft, daß das, was in Deutschland bisher nicht ausreichend gelungen ist - weshalb Sie ja Initiativen z. B. zur Beschleunigung des Asylverfahrens eingeleitet haben -, was also nicht einmal unserer gut geordneten Verwaltung gelungen ist, nämlich für eine große Zahl von Bewerbern ein rechtsstaatlich befriedigendes Verfahren durchzuführen, und zwar bei unserem hohen Lebensstandard und bei den großen materiellen Ressourcen, die wir im Vergleich zu Polen haben, von den Polen wird bewältigt werden können, oder ist das nicht ein Stück Asylimperialismus, was wir mit denen betreiben, indem wir ihnen die Flüchtlinge zuschieben wollen?
Herr Kollege Kuhlwein, zunächst muß ich noch einmal feststellen: Bislang ist eigentlich nie in Frage gestellt worden, daß die Asylverfahren hier in der Bundesrepublik Deutschland rechtsstaatlich geordnet sind. Es ist die Frage, ob genügend Kapazitäten da sind, ob neue Verfahrensmöglichkeiten eingeführt werden können. Aber die Verfahren sind bis dato, auch von allen Gerichten, immer als rechtsstaatlich einwandfrei charakterisiert worden.
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Das zunächst einmal zu Ihrer Eingangsfeststellung.
Zum zweiten. Ich muß davon ausgehen - die polnische Seite hat uns gegenüber Gegenteiliges bis heute nicht zum Ausdruck gebracht -,
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daß mit den Hilfen, die wir angeboten haben, die polnischen staatlichen Behörden in der Lage sein werden, auch die dann auf sie zukommenden Flüchtlingszahlen oder Ausländerzahlen rechtsstaatlich zu bewältigen.
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Nächste Zusatzfrage, Herr Kollege Norbert Gansel.
Kollege Lintner, welche Vorstellung gibt es in der Bundesregierung in bezug auf die Flüchtlinge, die aus Rußland und aus den baltischen Staaten unter Umgehung Polens versucht sein können, mit dem Schiff das Territorium der Bundesrepublik Deutschland zu erreichen?
Herr Kollege Gansel, die werden nach den geltenden gesetzlichen Bestimmungen behandelt. In dem Fall trifft natürlich die jetzt erörterte Sachlage, daß die Betreffenden über
Polen zu uns gekommen sind, nicht zu. Deshalb unterfallen sie natürlich auch nicht der Rückübernahmeverpflichtung der Polen. Hier käme also ein Rücktransport in die jeweiligen Herkunftsländer in Betracht.
Herr Kollege Gansel, die Fragen, zu denen Zusatzfragen gestellt werden, beziehen sich auf Polen und die Tschechische Republik.
Nein, die Dringliche Frage 4 enthält weder Polen noch die Tschechische Republik. Deshalb eine weitere Zusatzfrage.
Herr Kollege, ist es nicht vielmehr so, daß nach den Überlegungen, die es jetzt auf Grund des Parteienkompromisses über die zukünftige Gestaltung des Asylrechts gibt, diejenigen Flüchtlinge, die unter Umgehung von Polen mit dem Schiff - „boat people" - in die Bundesrepublik kommen, ein Recht darauf haben, in das ordentliche Asylverfahren hineinzukommen, und nicht, wie Sie sagen, „postwendend" in das Ausreiseland zurückgeschickt werden können?
Herr Kollege Gansel, ich verstehe die Problematik Ihrer Frage jetzt nicht. Wenn sie aus bestimmten Ländern kommen, hier Asyl beantragen und rechtskräftig festgestellt worden ist, daß sie kein Asylrecht haben, können sie in das Herkunftsland zurücktransportiert werden, wenn ihnen nicht ein Abschiebehindernis im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention zur Seite steht.
Das ist ja dann alles rechtsstaatlich überprüft und festgestellt. Gesetzt also den Fall, es steht fest, daß der Betreffende bei uns nicht bleiben darf, kann er in das Herkunftsland zurücktransportiert werden. Das ist geltendes Recht.
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- Ja, natürlich. Das sage ich doch.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, die Fragen 17 und 18, die der Kollege Dr. Burkhard Hirsch gestellt hat, fallen gemäß Nr. 10 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinien für die Fragestunde wegen des Sachzusammenhangs ebenfalls unter die Dringlichkeitsfragen.
Ich rufe also die Frage 17 des Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch auf:
Ist es zutreffend, daß die deutsche Delegation im Rahmen der Gespräche der sogenannten EG-Einwanderungsminister bzw. der Ad-hoc-Arbeitsgruppe Einwanderung die folgenden Länder als sogenannte „Sichere Herkunftsländer" Bulgarien, Ghana, Indien, Liberia, Nigeria, Pakistan, Rumänien, Togo, Türkei, Zaire benannt hat, was bedeuten würde, daß für jeden Flüchtling aus diesen Ländern vermutet werden würde, er sei nicht aus politischen Gründen geflohen?
Herr Kollege Hirsch, die Antwort lautet schlicht und einfach: Nein. Ihre Annahme trifft nicht zu.
Zusatzfrage.
Ich hätte fast gesagt: Ich bin sprachlos. Nein, ich staune darüber.
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Herr Staatssekretär, sind sie bereit, uns im Innenausschuß über die Positionen der deutschen Delegation zu unterrichten, die sie bei den Gesprächen der Ad-hoc-Arbeitsgruppen der Einwanderungsminister eingenommen hat?
Selbstverständlich.
Keine weitere Zusatzfrage? - Dann rufe ich Frage 18 des Abgeordneten Hirsch auf:
Ist es zutreffend, daß die deutsche Delegation im Rahmen der unter Frage 17 bezeichneten Gespräche die folgenden Länder als sogenannte „Sichere Drittländer" Tschechische Republik, Slowakische Republik, Finnland, Indien, Pakistan, Polen, Nigeria, Österreich, Schweden, Schweiz, Ungarn, Norwegen benannt hat, was bedeuten würde, daß Personen, die auf ihrer Flucht eines dieser Länder berührt haben, bei Erreichung der deutschen Grenze zurückgewiesen werden, auch wenn sie politische Flüchtlinge sind?
Auch zu Ihrer zweiten Frage kann ich Ihnen nur sagen, daß Ihre Annahme nicht zutrifft.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist es zutreffend, daß die Mehrheit der Delegationen bei den Verhandlungen die Auffassung eingenommen hat, daß die Aufstellung einer Länderliste deswegen abzulehnen sei, weil sie dann von außenpolitischen Einflüssen wesentlich mitbestimmt werden würde?
Herr Kollege Hirsch, ich war bei den Verhandlungen zum Teil selbst dabei. Ich kann Ihnen nur sagen: Zur Erörterung konkreter Länder sind wir überhaupt nicht gekommen. Es stand nur zur Debatte, ob überhaupt der Versuch gemacht werden soll, einheitliche gemeinsame Listen zu erarbeiten. Schon darauf haben wir uns nicht einigen können.
Daraufhin hat man sich damit begnügt, bestimmte Kriterien - erstens, zweitens, drittens - zu nennen, die für die einzelnen Länder bei der Beurteilung der Frage, ob nun ein sicheres Drittland oder ein sicherer Herkunftsstaat vorliegt, als Richtschnur dienen sollten.
Die von Ihnen in beiden Fragen angesprochenen konkreten Erörterungen bis hin zu bestimmten Ländern haben nicht stattgefunden.
Zweite Zusatzfrage.
Muß ich aus Ihrer Antwort schließen, Herr Staatssekretär, daß man nicht erwarten muß, daß es in Ansehung solcher Länderlisten ganz oder teilweise eine einheitliche europäische Regelung geben wird?
Im Moment nicht. Was wird, weiß ich auch nicht.
Weitere Zusatzfragen zu dieser Frage? - Das ist nicht der Fall.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, dann bedanke ich mich für die Beantwortung.
Die Fragen, die zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz gestellt worden sind, nämlich die Fragen 1 und 2 des Kollegen Arnulf Kriedner, und die Frage 3 des Kollegen Werner Ringkamp, die zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Gesundheit gestellt worden ist, sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Bernd Neumann zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 4 des Kollegen Professor Dr. Jürgen Meyer ({0}) auf:
Trifft es zu, daß dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ein Gutachten der Gesellschaft für Reaktorsicherheit zum Sicherheitsstandard des Kernkraftwerks Gundremmingen vorliegt, und enthält dieses Gutachten in diesem Zusammenhang kritische Feststellungen?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Die Antwort dazu lautet schlicht: Nein. Dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ist kein Gutachten der Gesellschaft für Reaktorsicherheit - GRS - zum Sicherheitsstandard des Kernkraftwerks Gundremmingen bekannt.
Ich stehe hier für den Forschungsminister, weil ich in diesem Zusammenhang darauf hinweisen möchte, daß es allerdings ein vom Bundesminister für Forschung und Technologie gefördertes Forschungsvorhaben der GRS mit dem Titel „Untersuchungen zu auslegungsüberschreitenden Ereignisabläufen in Kernkraftwerken mit Siedewasserreaktoren" gibt. Referenzanlage für diese Untersuchungen ist das Kernkraftwerk Gundremmingen, Block B.
In dem genannten Vorhaben werden unter Verwendung der in der „Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke", die sich ja auf Druckwasserreaktoren bezieht, entwickelten probabilistischen Methoden und unter Nutzung von Erkenntnissen aus der Sicherheitsforschung und von Betriebserfahrungen einige theoretisch denkbare Ereignisabläufe in Siedewasserreaktoren untersucht, die zu einer Kernschädigung führen können.
Insgesamt hat sich diese probabilistische Sicherheitsanalyse mit ihrem systematischen Vorgehen als wertvolles Instrument für die Sicherheitsbewertung und als ein effizientes Mittel zur Identifizierung von Verbesserungsmöglichkeiten erwiesen. So hat die Reaktorsicherheitskommission die Anwendung probabilistischer Analysen bei den periodischen Sicherheitsüberprüfungen deutscher Kernkraftwerke generell empfohlen.
Die Deutsche Risikostudie sowie die Arbeiten, über die ich jetzt gesprochen habe, nämlich zu Siedewasserreaktoren, sind gute Beispiele für Forschung mit hohem kurzfristig realisierbarem Nutzen.
Herr Kollege Meyer, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß der Reaktor in Gundremmingen, auf den sich das hier interessierende Gutachten, wie sie dankenswerterweise klargestellt haben, bezieht und der mit dem Reaktor Brunsbüttel baugleich ist, der erste Siedewasserreaktor ist, bei dem mit der hohen Zahl von 38 MOX-Elementen gearbeitet werden soll, und ist im Gutachten auch dazu etwas ausgeführt?
Die Referenzanlage Gundremmingen, Block B - es sind ja zwei Blöcke, B und ein weiterer Block - gehört zur Baulinie 72. Sie wurde gewählt, weil für die Siedewasseranlage der Baulinie 69 in der Vergangenheit bereits Einzelanalysen zu speziellen Sicherheitssystemen durchgeführt wurden. Sie ist deshalb zumindest nicht pauschal übertragbar auf Brunsbüttel.
Die zweite Zusatzfrage, bitte.
Nachdem Sie meine Frage nach Gundremmingen nicht beantwortet haben, möchte ich nachfassen und fragen, ob es zutrifft, daß die Raktorsicherheitskommission in einer unveröffentlichten Stellungnahme auf Grund der physikalischen Daten, z. B. der Zahl der verzögerten Neutronen, keine sicheren Aussagen über die Stabilität von Siedewasserreaktoren mit über 25 % MOXAnteil, wie in Gundremmingen, machen konnte. Hat die Reaktorsicherheitskommission deshalb gefordert, zuerst die Erfahrungen über die Stabilität von Reaktoren mit einem MOX-Anteil von nicht mehr als 25 % zur Bewertung vorzulegen?
Herr Kollege, Sie fragen nach dem MOX-Anteil. Der MOX-Bereich war nicht Grundlage dieser Studie. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Frage 48 des im Augenblick hinter Ihnen stehenden Kollegen Horst Kubatschka, die diesen Zusammenhang beleuchtet und die der Bundesminister für Umwelt beantworten wird, weil er dafür zuständig ist.
Damit bringen wir auch schon den Kollegen Horst Kubatschka ans Mikrophon, der eine Zusatzfrage stellen möchte. Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, gibt es dann ein Gutachten, das sich mit den Materialproblemen in Gundremmingen auseinandersetzt, oder gibt es eins über den Einsatz von MOX-Brennelementen?
Das gibt es nicht. Soweit ich informiert bin, gibt es nur diese probabilistische Studie, die sich nicht auf Materialschäden, sondern auf gesamte funktionelle Abläufe bezieht. Deshalb beantworte ich Ihre Frage, bezogen auf mir vorliegende Informationen, mit Nein.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Dr. Klaus Kübler.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie sprachen von einer Siedewasserreaktorstudie des BMFT, die in Arbeit sei. Das ist ja begrüßenswert. Ist es im Hinblick auf die Diskussionen, die wir zur Zeit über Rißbildungen in Siedewasserreaktoren haben, Auftrag dieser Studie, auch dieser Frage nachzugehen?
Auch diese Frage habe ich auf Grund der Aktualität logischerweise im eigenen Hause gestellt. Sie ist mit Nein zu beantworten. Ich darf wiederholen: Dieser probabilistische Bereich bezieht sich ausschließlich auf Funktionsabläufe. Deshalb sind Materialschäden oder Risse, wie sie jetzt beim Kernkraftwerk in Brunsbüttel zur Debatte stehen, nicht Grundlage dieser Studie.
Frau Kollegin Hanna Wolf, Sie haben die nächste Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß bisher MOX-Elemente nur in Druckwasser-, nicht aber in Siedewasserreaktoren in einer regelmäßigen wirtschaftlichen Nutzung erprobt worden sind?
Ich kann diese aus dem Handgelenk nicht beantworten und möchte nichts Falsches sagen. Wenn Sie darauf Wert legen, möchte ich die Frage, soweit unser Haus dafür zuständig ist, schriftlich beantworten.
({0})
Weitere Zusatzfragen zu dieser Frage werden nicht gewünscht.
Ich rufe die Frage 5 des Kollegen Meyer ({0}) auf:
Ist dieses Gutachten von der Bundesregierung mit einem Sperrvermerk versehen worden, und wann soll es ggf. der betroffenen Bevölkerung und damit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär Neumann, bitte.
Die Arbeiten des genannten Forschungsvorhabens wurden zum Jahr 1992 abgeschlossen. Ein Abschlußbericht liegt noch nicht vor, nur ein Zwischenbericht. Sobald der Abschlußbericht erstellt ist, wird er ebenso wie die „Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke" der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Wesentliche Ergebnisse der Arbeiten wurden von der GRS anläßlich ihres Fachgesprächs am 29. Oktober 1992 in Berlin bereits öffentlich vorgestellt. Dies wird also veröffentlicht, ist dann jedermann zugänglich und für jedermann nutzbar.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, da Ihnen sicherlich bekannt ist, daß zu dieser Problematik derzeit eine öffentliche Anhörung durchgeführt wird, können Sie vielleicht die Frage beantworten, ob das von Ihnen erwähnte Zwischenergebnis der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll und ob in von Ihnen anzugebender Frist die Endfassung der probabilistischen Studie der Öffentlichkeit übergeben wird. Wann wird das sein?
Die Arbeiten sind so gut wie abgeschlossen; das geschieht ziemlich schnell. Es gibt auch keine Geheimniskrämerei in bezug auf den Zwischenbericht. Wenn Sie selbst daran interessiert sind, bin ich gern bereit, Ihnen diese sofort zu überreichen.
({0})
Eine Zusatzfrage des Kollegen Kübler.
Sie haben das im Grunde schon beantwortet. Würden Sie sagen, daß zum Beginn einer vernünftigen Konsensusdiskussion über die Frage der künftigen Energiepolitik in der Bundesrepublik die rechtzeitige Veröffentlichung auch solcher Zwischenstudien nicht sehr vernünftig wäre, um Glaubwürdigkeit und Akzeptanz besser als in der Vergangenheit herzustellen?
Ich gestehe ein: Alles kann nur besser werden und verbessert werden. Ich finde, es kommt darauf an, die Dinge, die man erkannt hat, nicht nur zu verbessern, sondern so schnell wie möglich umzusetzen. Ich darf Ihnen sagen, daß ein beträchtlicher Teil der Erkenntnisse dieser Studie in Gundremmingen fast parallellaufend bereits umgesetzt worden ist. Ich beantworte Ihre Frage deshalb mit einem Ja.
Kollege Kubatschka, bitte.
Herr Staatssekretär, wie schaut es aus: Zeichnet sich auf Grund der Studie, die Sie teilweise kennen, eine andere Beurteilung von MOX-Brennelementen in Siedewasserreaktoren ab?
Ich habe vorhin deutlich zu machen versucht, daß das Thema der MOX-Brennelemente nicht Gegenstand dieser Studie ist. Deswegen kann es aus dieser Studie heraus auch keine dementsprechenden Folgerungen und Erkenntnisse geben.
Kollege Müller, bitte.
Herr Staatssekretär, ist es richtig, daß erstmals 1983 der Reaktorsicherheitskommission Hinweise vorgelegen haben, daß in Siedewasserreaktoren Risse auftreten können?
Ich kann dies nicht bestätigen und auch nicht dementieren. Es mag sein.
Eigentlich haben Sie keine Zusatzfrage mehr, Herr Meyer.
Doch, Herr Präsident, ich habe noch eine zweite Zusatzfrage.
Nachdem ich mir die Studie mit dem Titel „Sicherheitsanalyse für Siedewasserreaktoren - zusammenfassende Darstellung" durchblätternd sehr rasch anschauen konnte, möchte ich zu Seite 107, Schlußfolgerungen, eine Frage stellen. Dort heißt es:
Dr. Jürgen Meyer ({0})
Der Schwerpunkt der Arbeiten lag bei den anlagetechnischen Untersuchungen. Es wurden dabei wesentliche Verbesserungen der Anlagentechnik und der Prozeduren zur Störfallbeherrschung angeregt. Diese sind zum größten Teil bereits in der Anlage verwirklicht und haben zu einer Erhöhung der Anlagensicherheit geführt.
Meine Frage ist: Welche dieser Anregungen sind noch nicht verwirklicht, so daß die vorgeschlagene Erhöhung der Sicherheit der Anlage noch nicht ganz hergestellt ist?
Herr Kollege, jetzt muß ich erst einmal grundsätzlich antworten. Was das Bundesforschungsministerium angeht, so haben wir - und das dürften Sie ja nur begrüßen - die Ausgaben, die im Bereich von Kernkraft erfolgen, fast ausschließlich auf das Thema Reaktorsicherheitsforschung konzentriert, nicht auf die Erforschung neuer Reaktoren.
Wir wissen, daß die deutschen Kernkraftwerke zu den sichersten in der Welt zählen, was nicht bedeutet, daß wir nicht immer noch weiter danach forschen, ob Möglichkeiten zusätzlicher Sicherheit gegeben sind, um das Risiko eines GAU weiter zu minimieren. In diesem Zusammenhang sind auch diese Untersuchungen zu sehen.
Gundremmingen hat im Augenblick kein aktuelles, auf Grund der bestehenden Vorschriften vorliegendes Sicherheitsrisiko. Vielmehr haben wir es als eine Art Beispiel für die Überlegung genommen, wie sich in den Funktionsabläufen, wie sich überhaupt im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit dieses oder jenes verbessern läßt. Das hat bereits Erfolge gehabt. Sie haben es zitiert. Ich könnte Ihnen das jetzt vortragen; ich habe es vorliegen. Es gibt einiges, was schon realisiert worden ist, anderes, was geplant ist. Hier muß man auch überlegen, inwieweit es auf andere Siedewasserreaktoren übertragbar ist. So einfach ist das nicht, weil diese Untersuchungen doch sehr anlagenspezifisch strukturiert sind. Aber das geschieht.
Daraus jetzt die Schlußfolgerung zu ziehen, weil auf Grund der Erkenntnisse noch zusätzliche Sicherheitsschranken eingebaut würden, sei das Ganze völlig unsicher, wäre falsch, wäre auch nicht redlich. Aber dies schließt nicht aus, Zug um Zug zu verbessern. Die Forschung kann da, wie ich hoffe, auch in Zukunft noch weitere Beiträge leisten.
Herr Kollege Meyer, Sie haben mich jetzt in eine schwierige Situation gebracht.
({0})
Vorhin habe ich mich mit dem Kollegen Hirsch auseinandergesetzt, weil er breit angelegt und wertend, debattierend gefragt hat. Ich habe an die Geschäftsordnung erinnert, in der nämlich steht, daß kurze Frage gestellt werden sollen, die auch - und das geht jetzt an die Adresse der Regierung - kurze Antworten ermöglichen. Wenn aber solche Fächerschüsse mit Verlesung von Papieren abgegeben werden, dann ist die Regierung nolens volens in der Zwangslage, auch sehr breit und grundsätzlich, wie
der Parlamentarische Staatssekretär das gesagt hat, zu antworten. Aber das nimmt natürlich der Fragestunde auch ein bißchen den Charme, daß man schnell hin und her diskutieren kann. Deshalb immer wieder meine Bitte, sich in die Nähe der Geschäftsordnung zu begeben.
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Gibt es dazu noch Zusatzfragen? - Das ist nicht der Fall.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich will das Mitarbeitergespräch nicht sonderlich stören, aber ich wollte mich bei Ihnen für die Beantwortung bedanken.
Es ist auch eine neue Mode, daß offenbar die höheren Mitarbeiter selten Gelegenheit haben, mit ihren Parlamentarischen Staatssekretären oder Ministern zu reden. Dann geschieht das im Plenum auf der Regierungsbank. Vielleicht drehen wir mit der Zeit auch das wieder ein bißchen zurück.
Ich rufe jetzt außerhalb der Dringlichkeitsfragen den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern auf. Für diesen Geschäftsbereich steht uns weiterhin der Parlamentarische Staatssekretär Eduard Lintner zur Verfügung.
Herr Kollege Lintner, ich muß Ihnen zunächst mitteilen: Die Frage 6, die der Kollege Lowack gestellt hat, die Frage 7, die der Kollege Günter Graf gestellt hat, und die Frage 8, die ebenfalls der Kollege Günter Graf gestellt hat, sollen schriftlich beantwortet werden.
Damit kommen wir zur Frage 9 der Kollegin Dr. Edith Niehuis. Da wird nach der Geschäftsordnung verfahren. Das gleiche gilt für die Frage 10.
Die Fragen 11 und 12 der Kollegin Dr. Herta Däubler-Gmelin sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 13 des Abgeordneten Horst Peter:
Wie viele abgelehnte Asylbewerber/Asylbewerberinnen haben 1991 und 1992 eine Aufenthaltsbefugnis nach der Genfer Flüchtlingskonvention erhalten?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Herr Kollege Peter, nach der Genfer Flüchtlingskonvention werden keine Aufenthaltsbefugnisse erteilt und auch keine sonstigen Bleiberechte gewährt. Daher ist davon auszugehen, daß die Frage auf die Zahl der abgelehnten Asylbewerber abzielt, die nach § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes nicht in einen Staat abgeschoben werden dürfen, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung bedroht ist. Im Jahre 1991 gab es 495 dieser Fälle und im Jahre 1992 473.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich bedanke mich zunächst für die korrekte Benennung der Rechtsgrundlage.
Ich habe gestern der Zeitung „Die Welt" entnommen, daß im Januar die Zahl der von Zirndorf entschiedenen Anträge 27 579 beträgt und daß dort 676 Personen anerkannt worden sind, was 2,4 % der Antragsteller ausmacht. Können Sie mir sagen, ob in diesem Zusammenhang bereits die anderen Rechtsgrundlagen mit geprüft worden sind, was ja nach dem neuen Asylverfahrensgesetz angestrebt ist, und wie das Ergebnis dieser Prüfung war?
Eduard Lintner, Parl Staatssekretär: Wir haben keine Statistik über die jeweiligen Asylgründe. Deshalb kann ich Ihnen die Frage nicht beantworten, auch nicht für das Jahr 1992 und schon gar nicht für Januar dieses Jahres. Dazu liegt die notwendige Aufschlüsselung ohnehin noch nicht vor.
Die zweite Zusatzfrage? - Keine. Will sonst noch eine Kollegin oder ein Kollege dazu eine Zusatzfrage stellen? - Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 14 auf, die ebenfalls der Kollege Horst Peter gestellt hat:
Wie viele abgelehnte Asylbewerber/Asylbewerberinnen haben 1991 und 1992 eine Aufenthaltserlaubnis aufgrund ausländerrechtlicher Bestimmungen erhalten?
Eine Aufenthaltserlaubnis nach ausländerrechtlichen Bestimmungen, also ein Bleiberecht, haben nach Auskunft des Bundesverwaltungsamtes im Jahre 1991 19 664 und im Jahre 1992 12 244 abgelehnte Asylbewerber erhalten. Da die Meldungen der Länder allerdings zum Teil lückenhaft sind, bieten diese Zahlen keine Gewähr für letzte Genauigkeit. Übrigens erfolgen die Meldungen der Länder ohne die Angabe von Gründen.
Zussatzfrage.
Herr Staatssekretär, könnten Sie mir auf Grund dieser eben von Ihnen dargestellten Mängel in der Übermittlung zugestehen, daß es sinnvoll wäre, wenn die Bundesregierung in regelmäßigen Abständen einen Zuwanderungsbericht erstattete, in dem die verschiedenen Rechtsgrundlagen, nach denen Aufenthaltsgenehmigungen erteilt werden, auch der Öffentlichkeit bekanntgegeben werden?
Herr Kollege Peter, diese Frage kann ich weder mit Ja noch mit Nein beantworten; denn sie hängt im wesentlichen davon ab, ob die Länder bereit sind, solche Daten zu liefern. Da habe ich eine gewisse Skepsis, wenn ich mir vergleichbare Vorgänge aus der Vergangenheit ansehe.
Eine weitere Zusatzfrage.
Kann ich Ihrer Antwort auf meine erste Zusatzfrage entnehmen, daß die Bundesregierung bereit ist, ihrer Informationspflicht gegenüber der Bevölkerung besser als bisher nachzukommen, indem sie sich bei den Ländern bemüht, daß diese das dafür erforderliche Zahlentableau zusammenstellen?
Herr Kollege Peter, ich kann keinen Mangel in der Wahrnehmung der Informationspflicht durch die Bundesregierung erkennen. Die Länder sind hier ausführende Organe. Im Grunde genommen müßte die Frage, die Sie mir jetzt stellen, an die jeweiligen Landesregierungen gerichtet werden. Ich würde deshalb anheimstellen, vielleicht über Ihre Landtagskollegen solche Fragen zu stellen. Ich kann Ihnen aber zusagen, daß wir prüfen werden, ob Aussicht besteht, solche Zahlen zu erhalten, damit wir sie Ihnen weitergeben können.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Dr. Burkhard Hirsch.
Herr Staatssekretär, in Ihrer Statistik erscheinen erstaunlicherweise inzwischen fast 30 % sonstiger Erledigung von Asylbewerbungen. Verbergen sich vielleicht dahinter ausländerrechtliche Genehmigungen?
Das kann ich Ihnen jetzt nicht beantworten, Herr Dr. Hirsch. Das müßte ich überprüfen lassen. Ich vermute, daß bei dieser Zahl auch Rücknahmen von Anträgen eine große Rolle spielen.
Keine weiteren Zusatzfragen zu dieser Frage.
Dann rufe ich die Frage 15 auf, die die Kollegin Hanna Wolf gestellt hat?
In wie vielen Ablehnungsbescheiden des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge sind Feststellungen verwendet worden wie
- die Vergewaltigung ist letztlich asylunerheblich, ein solches Vergehen ist grundsätzlich nicht politisch motiviert, sondern stellt eine normale kriminelle Straftat dar;
- die Antragsteller haben nicht glaubhaft gemacht, daß die Weigerung der Polizisten auf der Wache, ihrer Anzeige nachzugehen, dem Heimatstaat als Schutzverweigerung zuzurechnen ist,
und führt der Umstand, daß die Polizisten mehrfach unter Anwendung von Gewalt den Antragsteller bedrängt haben, die Anzeige nicht weiter zu verfolgen, zu der Schlußfolgerung, daß der Täter zumindest eine Bestrafung wegen seiner Tat ernsthaft befürchtet hat, falls der Antragsteller mit größerem Nachdruck, eventuell an höherer Stelle, die Anzeige weiter verfolgt hätte?
Frau Kollegin Wolf, zahlenmäßige Erhebungen über die jeweiligen Grande einer Ablehnung von Asylanträgen werden nicht geführt, so daß hierzu keine Angaben gemacht werden können. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hat sich aber auch in der Vergangenheit mit der Frage von Vergewaltigungen von Frauen als asylrelevantem Tatbestand befaßt.
Im übrigen darf ich jetzt auf die Antwort auf die Frage von Frau Dr. Niehuis verweisen, die nach der Geschäftsordnung nicht behandelt wird. Deshalb bitte ich, diese Antwort ergänzend vortragen zu dürfen.
Auf die Frage 9 der Frau Dr. Niehuis hätte die Antwort gelautet: Verletzung von Menschenrechten kann immer nur dann als Ausdruck politischer Verfolgung gewertet werden, wenn sie in einer einem Staat zurechenbaren Weise von staatlichen Organen oder von Dritten, gegen die der Staat die ihm an sich
verfügbaren Mittel nicht eingesetzt, obwohl er es könnte, ausgeübt wird.
Besonders schwierig gestaltet sich die Zurechenbarkeit von Menschenrechtsverletzungen in Bürgerkriegssituationen, wenn auf Grund von Auflösungserscheinungen eine etablierte Staatsgewalt nicht mehr feststellbar ist. Vor diesem Hintergrund sind Entscheidungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zu bewerten, die eine asylrechtliche Relevanz sexueller Gewalt gegen Frauen verneint haben.
Auf Grund der aktuellen Entwicklung in Bosnien-Herzegowina hat der Bundesminister des Innern das Auswärtige Amt um eine Stellungnahme gebeten, ob die Ausübung sexueller Gewalt gegen Frauen als Mittel im Rahmen einer behaupteten „ethnischen Säuberung" gesehen wird und ob diese Übergriffe einer Gruppe zugeordnet werden können, die tatsächlich Staatsgewalt in diesem Gebiet ausübt. Der Bundesminister des Innern hat das Bundesamt ergänzend angewiesen, bis zur Klärung dieser Frage die Asylverfahren des vorgenannten Personenkreises ruhen zu lassen.
Die Frage des Bleiberechts stellt sich in der Regel erst nach rechtskräftig negativ abgeschlossenem Asylverfahren einschließlich des eventuellen Verwaltungsgerichtsverfahrens. Zur Zeit besteht ja ein allgemeiner Stopp von Abschiebungen nach BosnienHerzegowina. Eine vorübergehende Aufenthaltsgewährung erfolgt in diesen Fällen durch die Erteilung einer Duldung nach § 55 Abs. 2 des Ausländergesetzes.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie interpretieren Sie dann folgenden Tatbestand? Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung erklärt: Als politische Verfolgung kann eine durch den Staat, ausnahmsweise auch durch Dritte in dem Staat zurechenbarer Weise erfolgende, auf den Einzelnen in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder für ihn verfügbare Merkmale, wie sein Anderssein prägend, gezielte Rechtsverletzung angesehen werden, die ihn in seiner Identität aus der staatlichen Einheit ausgrenzt.
Heißt das nicht, daß es nicht der Staat sein muß, sondern daß es auch Organe sein können, die sozusagen in staatlicher Oberzuständigkeit sind? Die Fragen, die hier gestellt worden sind, richten sich eindeutig auf Vergewaltigungen, die durch Polizisten stattgefunden haben. Sind Polizisten nicht doch sozusagen Organe, die der staatlichen Gewalt zuzuordnen sind?
Frau Kollegin, den ersten Teil Ihrer Frage habe ich bereits selber vorgetragen. In der Tat ist diese Problematik rechtlich zu prüfen. Ob das im konkreten Einzelfall tatsächlich gegeben ist, muß die Tatsacheninstanz prüfen. Das kann ich nicht tun, weil mir die konkreten Unterlagen zu diesen Fällen nicht vorliegen.
({0})
Die zweite Zusatzfrage.
Können Sie, wenn Sie schon eine Statistik führen, sagen, ob Ihnen Asylanträge vorliegen, die als Grund Vergewaltigung angeben, und wird das unterschiedlich behandelt, wenn sie aus dem ehemaligen Jugoslawien, sprich: aus Bosnien-Herzegowina oder auch aus dem Kosovo, kommen, oder gilt für alle wenigstens Bleiberecht?
Ich habe schon darauf hingewiesen, daß uns Gründe für die Ablehnung von Asylanträgen nicht im einzelnen mitgeteilt werden. Wir haben keine Statistik oder Aufstellung darüber, so daß ich Ihnen die Frage jetzt nicht beantworten kann. Ich kann Ihnen nur zusagen: Ich lasse diesen Aspekt überprüfen, und wir stellen Ihnen dann die Antwort schriftlich zu.
Betonen möchte ich allerdings, daß es für die betroffenen Frauen deshalb nicht von hoher Relevanz ist, weil sie ohnehin ein Bleiberecht auf einer anderen rechtlichen Basis haben.
Eine weitere Zusatzfrage von der Kollegin Weyel.
Herr Staatssekretär, unter Bezug auf die Antwort, die Sie auf die Frage 9 gegeben haben: Ist Ihnen gegenwärtig, daß es bei einem Bleiberecht infolge von Kriegshandlungen und einem dauerhaften Aufnahmerecht wegen politischer Verfolgung für die Betroffenen doch relevant ist, ob sie nach dem einen oder nach dem anderen Verfahren ein vorübergehendes Bleiberecht bekommen oder hier aufgenommen werden?
Frau Kollegin, das ist zutreffend. Aber ich muß darauf hinweisen, daß die meisten Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina gar keinen Antrag auf Gewährung von Asyl stellen, sondern in der Regel ihre persönliche Situation selber so sehen, daß sie wieder zurückkehren wollen. Deshalb ist die Frage in der Praxis nicht so relevant, wie sie rechtstheoretisch sicher relevant wäre.
Eine Zusatzfrage von Herrn Dr. Kübler.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, geben Sie mir recht, wenn ich sage, daß die Vergewaltigungen eigentlich nur deshalb möglich sind, weil die staatlichen Organe, die durchaus existent sind - z. B. in Serbien-, insgesamt durch ihr Verhalten eine Situation geschaffen haben, die zu diesen Vorfällen führt, daß das Unterlassen von Gegenmaßnahmen genau so zu bewerten ist wie das aktive Handeln und das deshalb Vergewaltigungen, die im Rahmen dieser politischen Situation stattfinden, als politische Asylgründe herangezogen werden können?
Herangezogen werden können sie selbstverständlich, und im konkreten Einzelfall mag Ihre Bewertung auch zutreffen. Nur generell läßt sich das so nicht mit Ja oder Nein beantworten; denn was Sie charakterisieren, ist typischerweise eine Bürgerkriegssituation, die bei der rechtlichen Beurteilung, ob Asylgründe im Sinne des Art. 16 GG gegeben sind oder nicht, schon immer Schwierigkeiten bereitet hat. Deshalb mag dies im Einzelfall zutreffend sein, und dann wird sicher auch so entschieden; aber generell kann man das nicht mit Ja beantworten.
Weitere Zusatzfragen zu dieser Frage liegen nicht vor. Dann kommen wir zu Frage 16 der Frau Kollegin Wolf:
Hält die Bundesregierung derartige Feststellungen in Anbetracht der ethnisch motivierten Vergewaltigungen für richtig bzw. für angemessen, und wenn nicht, hat sie dem Bundesamt in Zirndorf darüber entsprechend Mitteilung gemacht?
Die Bundesregierung hat bereits mehrfach im Zusammenhang mit parlamentarischen Anfragen betreffend Menschenrechtsverletzungen an Frauen die Voraussetzungen für die Anerkennung als Asylberechtigte in der Bundesrepublik Deutschland dargelegt. Ergänzend hierzu darf ich darauf hinweisen, daß politische Verfolgung grundsätzlich staatliche Verfolgung ist. Sexuelle Gewalt gegen Frauen kann daher nur dann als Asylgrund in Betracht kommen, wenn sie in einer dem Staat zurechenbaren Weise von staatlichen Organen oder eben von Dritten, gegen die der Staat die ihm an sich verfügbaren Mittel nicht einsetzt, ausgeübt wird. Ob bei den in letzter Zeit in Bosnien-Herzegowina bekanntgewordenen Massenvergewaltigungen von Frauen von einer solchen Situation ausgegangen werden kann, wird zur Zeit geprüft. Ich darf in diesem Zusammenhang wieder auf die Antwort auf die Frage 9, die ich zusätzlich verlesen habe, verweisen.
Zu einer Zusatzfrage Frau Kollegin Wolf.
Herr Staatssekretär, erinnern Sie sich an die dramatische Debatte, die wir hier im Bundestag hatten, und an die weltweiten Proteste, die gerade auf Grund der Vergewaltigungsorgien im ehemaligen Jugoslawien stattfinden? Glauben Sie nicht, jetzt endlich einmal auch als Bundesregierung reagieren zu sollen, und zwar nicht mit der Forderung nach militärischen Einsätzen, sondern endlich durch die Anerkennung, daß hier von Staats wegen Vergewaltigung als Verfolgung von Frauen angwandt wird und daß das ein Asylgrund ist? Ich verstehe nicht, warum Sie hier ständig diese ausweichenden Erklärungen abgeben. Können Sie mir bitte erklären, warum Sie noch immer nicht Klartext sprechen, daß dies eine Verfolgung ist und deswegen ein Asylgrund?
Frau Kollegin, die Bundesregierung ist nicht in der Lage, hier Asylgründe rechtskräftig anzuerkennen, sondern die Entscheider entscheiden auf der Basis der geltenden Gesetze, also insbesondere nach der Verfassungslage. Sie haben den Einzelfall zu prüfen und haben die dafür notwendigen Unterlagen natürlich auch parat. Ob tatsächlich ein Asylgrund im Sinne unserer Gesetzeslage vorliegt, wird dann von diesen Entscheidern weisungsunabhängig entschieden. Deshalb kann ich für die Bundesregierung jetzt nicht generell irgendeinen Tatbestand für alle Fälle als Asylgrund anerkennen.
Im übrigen weise ich noch einmal darauf hin: Die Bundesregierung hat der Situation in der Praxis Rechnung getragen, indem ein Abschiebestopp verfügt worden ist und gerade die davon betroffenen Frauen im Rahmen der Kontingentflüchtlinge, die wir aus Ex-Jugoslawien aufgenommen haben, besonders berücksichtigt worden sind.
Zweite Zusatzfrage der Kollegin Wolf.
Herr Staatssekretär, die Entscheider unterliegen doch sicher auch dem Grundgesetz. Ich habe vorhin schon festgestellt: Verfolgung durch staatliche Gewalt muß nicht sozusagen von Staats wegen ausgeübt werden; sie kann auch von Organen stattfinden, die unter staatlicher Hoheit stehen. Würden Sie mir nicht doch einmal zugestehen, daß die Bundesregierung den Entscheidern in Zirndorf das vielleicht etwas näher erklären müßte, wenn immer noch Entscheidungen fallen, die diese Tatsache anscheinend ignorieren? Haben Sie die Entscheider in Zirndorf in dieser Richtung aufgeklärt?
Die Bundesregierung würde sich einen Rechtsverstoß zuschulden kommen lassen, wenn sie die eigens als unabhängige Entscheider konstruierten Entscheidungsgremien per Anweisung oder per massiven Hinweis, wie es Ihnen offenbar vorschwebt, auf diese Sachverhalte hinweisen würde. Tatsache ist, daß diese Entscheider das Grundgesetz und das dort verankerte Asylrecht auf den konkreten Fall anzuwenden haben, und es gibt bis dato keinen Hinweis, daß diese Entscheider nicht sensibel genug wären, um solche Sachverhalte selbständig beurteilen zu können.
Mit Ihrem Einverständnis, liebe Kollegen und Kolleginnen, würde ich gerne die zwei angemeldeten Zuatzfragen und auch die Frage des Kollegen Gansel noch zulassen, damit wir diesen Geschäftsbereich zu Ende bringen können. Ich glaube, daß dies für die, die ausgeharrt haben, das richtige Verfahren ist.
Jetzt die Zusatzfrage des Kollegen Dr. Kübler.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß Sie mit Ihrem Verhalten, diese Verbrechen so zögerlich unter dem Aspekt des politischen Asyls zu behandeln, gegenüber Serbien geradezu ermunternd in dem Sinne wirken, daß die serbische Seite gegen diese Verbrechen gar nicht konsequent genug einschreitet? Muß sich die Bundesregierung nicht den Vorwurf gefallen lassen, sich hier in einer Weise zu verhalten, daß das Vorgehen seitens serbischer Kräfte und auch anderer - das füge ich ausdrücklich hinzu - fortgesetzt wird?
Diese Vermutungen halte ich für abstrus und geschmacklos; das muß ich Ihnen ehrlich sagen. Die Bundesregierung hat sich hier immer eindeutig zum Thema der Vergewaltigungen und Massenvergewaltigungen erklärt. Wir helfen den Frauen konkret. Wir sind bemüht, das Asylrecht zu novellieren. Dazu brauchen wir beispielsweise Ihre Fraktion. Seit Jahren wird darüber verhandelt - ohne Ergebnis. Jetzt sagen Sie mir: Die gegenwärtige Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland reicht dafür nicht aus. Ich habe Ihnen nichts anderes als die Rechtslage vorgetragen und auf die Unabhängigkeit der Entscheider hingewiesen und damit im Grunde genommen nur den Zustand beschrieben, der auch von jedem anderen so beschrieben werden müßte.
Eine weitere Zusatzfrage von der Kollegin Jäger.
Herr Staatssekretär, wenn Sie von der Prüfung dieses Verfahrens in dieser Angelegenheit sprechen, könnten Sie Angaben machen, wie lange dieses Verfahren noch dauern könnte, und welche Maßnahmen ergreifen Sie, um die Prüfung dieser Angelegenheit zu beschleunigen?
Frau Kollegin, die ganzen Bemühungen zur Novellierung des Asylrechts gehen von der Erkenntnis aus, daß die Zahlen an Asylbewerbern zur Zeit die vorhandenen Verfahrensorganisationen und -institutionen überfordern. Das heißt, die Erkenntnis, daß die Verfahren zu lange dauern, ist allgemein und hat bereits zu Konsquenzen geführt. Der Stand der Dinge ist uns allen bekannt.
Wie nun im Einzelfall ein Verfahren abgewickelt wird, wie lange womöglich die Wartezeit ist, kann ich angesichts der Tatsache, daß wir im Januar dieses Jahres wieder an die 36 000 neue Fälle hinzubekommen haben, unmöglich sagen. Ich bitte um Entschuldigung, aber ich kann bei der Fülle jetzt nicht zu einem Einzelfall angeben, wie der Verfahrensstand und welches womöglich die voraussichtliche Verfahrensdauer ist.
Es gibt offensichtlich ein Mißverständnis, Frau Kollegin Jäger.
Ich habe mich, glaube ich, etwas schlecht ausgedrückt. Es geht nicht um die Asylbewerberverfahren, sondern um die Prüfung der Frage, ob diese Vergewaltigungen Staatsverbrechen sind und als Asylgrund anerkannt werden oder nicht.
Wir haben das Auswärtige Amt gebeten, uns einen Bericht über den aktuellen Erkenntnisstand zu geben. Dieser Bericht wird sofort an die Entscheider weitergegeben, die ihn dann im Rahmen der gesetzlichen Zuständigkeiten, die sie haben, anwenden müssen. Ich kann Ihnen nur sagen: Wir werden den Bericht, sobald er vom Auswärtigen Amt da ist, weitergeben.
({0})
Herr Kollege Gansel, jetzt bringen Sie sich gleich um die Möglichkeit,
Ihre Frage noch zu stellen, mit der Sie an der Reihe sind, weil die Fragestunde schon um vier Minuten überzogen ist. Ich habe vorhin gesagt: Zwei Zusatzfragen lasse ich noch zu, damit wir den Geschäftsbereich zu Ende bringen können. Mehr kann ich jetzt nicht mehr machen; es tut mir leid.
Jetzt kommen wir zur Frage 19 des Kollegen Gansel und damit zur letzten Frage dieser Fragestunde:
Wie wurde die schnelle Ausreise Erich Honeckers ermöglicht, und aus welchen Gründen wurde er von vier Sicherheitsbeamten bis zu seinem Ankunftsort in Chile begleitet?
Die Personenschutzmaßnahmen oblagen dem Land Berlin. Es entspricht den Gepflogenheiten, daß sich die Bundesregierung nicht zu Fragen äußert, die im Zuständigkeitsbereich eines Bundeslandes liegen. Der Bund war für die grenzpolizeiliche Kontrolle der. Ausreise am Flughafen Frankfurt am Main zuständig. Der Bundesgrenzschutz hat den Reisepaß kontrolliert. Es waren keine Gründe ersichtlich, die Ausreise zu verweigern. Von vier Beamten wurde Erich Honecker lediglich bis Frankfurt/Main begleitet, danach von zwei.
({0})
Zusatzfrage, Herr Kollege Gansel.
Ich habe Verständnis dafür, wenn unter den besonderen Bedingungen ein Schutz durch Sicherheitsbeamte auf dem Territorium der Bundesrepublik erfolgt. Aber aus welchen Gründen sind dann noch zwei Sicherheitsbeamte bis nach Chile mitgeflogen? Wollte man sicher sein, daß Herr Honekker dort auch ankommen würde, oder welche Erklärung haben Sie dafür?
Herr Kollege Gansel, weil die zuständigen Staatsschutzorgane Herrn Honecker als erheblich gefährdet eingestuft haben.
({0})
Die nächste Zusatzfrage.
Inwiefern ist eine Gefährdung von Herrn Honecker im Flugzeug nach dem Abflug von Frankfurt, also auf dem Flug nach Chile, von der Bundesregierung angenommen worden?
Ich kann Ihnen nur sagen, was die Senatsverwaltung des Innern in Berlin dazu mitgeteilt hat; denn wir sind an der Einschätzung nicht beteiligt gewesen. Sie teilt mit:
Auch ein Angriff während des Fluges war bei dieser Sachlage und den besonderen Bedingungen an Bord des Flugzeuges - Gedränge angesichts der Vielzahl mitreisender Journalisten - nicht auszuschließen.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Die Fragen 20 und 21 des Abgeordneten Augustinowitz werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs - herzlichen Dank, Herr Staatssekretär - und am Ende der Fragestunde angelangt.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 7:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Jürgen Meyer ({0}), Dr. Herta Däubler-Gmelin, Hermann Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Weiterentwicklung des strafrechtlichen Sanktionensystems
- Drucksachen 12/1768, 12/3718 Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache zu diesem Punkt eineinhalb Stunden vorgesehen. Findet diese Zeit Ihr Einverständnis? - Dies ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile unserem Kollegen Dr. Jürgen Meyer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Grundlage der heutigen Diskussion sind eine Große Anfrage der SPD-Fraktion und die umfangreiche Antwort der Bundesregierung - für die wir zu danken haben - zur Weiterentwicklung des strafrechtlichen Sanktionensystems. Es gibt kein Gebiet der Rechtspolitik, auf dem sich die Gerechtigkeitsfrage mit größerer Dringlichkeit stellt. „Fehlt die Gerechtigkeit, was sind dann die Reiche anderes als große Räuberbanden?" hat Augustinus gefragt. Der Staat verhängt durch seine Richter nicht nur Geldstrafen und mehr oder weniger lange Freiheitsstrafen. Er verhängt auch lebenslange Freiheitsstrafen und - in Westdeutschland, vielleicht aber auch bald in Ostdeutschland - die zeitlich unbestimmte Sicherungsverwahrung.
Ziel staatlichen Strafens ist neben der Wiedereingliederung des Täters auch der Schutz des Opfers. Wir fragen: Könnte nicht durch Wiedergutmachung und einen Ausgleich zwischen Täter und Opfer der durch die Tat gestörte Rechtsfrieden in vielen Fallen besser als durch Strafe im herkömmlichen Sinne wiederhergestellt werden? Das ist die große Reformfrage, die gegenwärtig nicht nur in Deutschland, sondern weltweit diskutiert wird.
Durch unsere Große Anfrage vom Dezember 1991 wollten wir der Bundesregierung Gelegenheit geben, sich in diese Diskussion einzuschalten. Wir haben in der Vorbemerkung unserer Anfrage ausdrücklich darauf hingewiesen, daß sich der Deutsche Juristentag 1992 mit dem Thema der Wiedergutmachung und des Täter-Opfer-Ausgleichs beschäftigen werde. Die Bundesregierung sollte also unter Ausnutzung ihrer Kapazitäten dem Juristentag Informationen für die zehn Monate später stattfindende Diskussion liefern.
Die Reaktion war eher kläglich. Der damals amtierende Justizminister teilte uns bald nach Einreichung der Großen Anfrage mit, die Antwort könne wegen der sonstigen Belastungen des Ministeriums erst im Oktober, also unmittelbar nach dem im September stattfindenden Juristentag, gegeben werden.
Wollte die Regierung vielleicht erst einmal erfahren, was die bedeutendste Vertretung der deutschen Juristen meint, ehe sie eine eigene Meinung riskierte? Unsere Vorstellung und Hoffnung war eigentlich, daß von diesem Parlament und dieser Regierung 20 Jahre nach der letzten großen Reform des Sanktionensystems ein neuer Reformimpuls ausgehen sollte. - Es vergingen dann noch weitere zwei Monate, also insgesamt mehr als ein Jahr, bis wir die Antwort hatten.
Zu mehreren Fragen, die wir ein Jahr vorher gestellt hatten, erhielten wir Antworten wie - ich zitiere als Beispiel die Antwort zu Ziffer 7.4 der Anfrage -:
Ob und inwieweit es zu einer angemessenen Berücksichtigung des Täter-Opfer-Ausgleichs und der freiwilligen Schadenswiedergutmachung einer Ergänzung des geltenden Rechts bedarf, wird derzeit von der Bundesregierung geprüft.
Wie schön! Also nach mehr als einem Jahr: in der Sache gar keine Antwort. Deshalb muß ich meinen eingangs geäußerten Dank an die Bundesregierung schon stark auf das mit Hilfe der Landesjustizverwaltungen zusammengetragene umfangreiche und durchaus wertvolle Tatsachenmaterial einschränken. Reformimpulse sind in der Antwort der Regierung nur wenige zu erkennen. Möglicherweise ist es aber auch sehr schwierig, in der Rechtspolitik einen anderen als den Stil zu pflegen, den die Bundesregierung insgesamt seit 1982 bevorzugt, nämlich wenig innovativ
({0})
und reichlich bräsig.
({1})
Die Empfehlungen des revolutionärer Umtriebe gewiß unverdächtigen Deutschen Juristentages lesen sich demgegenüber geradezu wie ein dringlicher Appell an den Gesetzgeber, nunmehr tätig zu werden. Der Juristentag stellte zunächst zutreffend fest, daß sich der insbesondere durch das Erste und das Zweite Strafrechtsreformgesetz von 1969 und 1970 und durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch von 1974 hergestellte Rechtszustand insgesamt bewährt habe. Durch diese Gesetze, die bekanntlich die Handschrift sozialdemokratischer Justizminister tragen, wurde u. a. die zu vollstreckende Freiheitsstrafe, insbesondere die kurze Freiheitsstrafe, zurückgedrängt, die Geldstrafe zur dominierenden Hauptstrafe entwickelt und die Möglichkeit der Einstellung von Strafverfahren erweitert.
Der Deutsche Juristentag 1992 stellt dann aber weiter fest: Neuere Entwicklungen in Wissenschaft und Strafrechtspraxis im Ausland und insbesondere die Verstärkung der Opferperspektive im Straf- und Strafprozeßrecht sowie die deutsche Wiedervereinigung sollten Anstoß zu einer Ergänzung und Modifikation des geltenden Sanktionensystems sein. Es wird dann genau gesagt, in welchen Bereichen dies geschehen sollte, übrigens in großer Übereinstimmung mit den in unserer großen Anfrage markierten Punkten.
Dr. Jürgen Meyer ({2})
Nun, so lesen wir, ist die Bundesregierung in tiefes Nachdenken versunken. Wie tief es ist, können wir nicht wissen; denn sie prüft und schweigt.
({3})
Ich fordere Sie, sehr geehrte Frau Justizministerin, sehr freundlich auf: Nutzen Sie die unbestritten hohe Qualifikation Ihrer Beamten! Geben Sie rechtspolitische Impulse, denn Rechtspolitik sollte auch im Bereich der Kriminalpolitik mehr als nur Verwaltung und Krisenmanagement sein!
Ich erlaube mir in diesem Zusammenhang den Hinweis, daß drei kriminalpolitisch bedeutende Gesetze dieser Legislaturperiode praktisch an Ihrem Hause vorbeigelaufen sind.
({4})
Das Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität beruhte wie wir wissen, auf Entwürfen des Bundesrates und der SPD-Fraktion. Das Rechtspflegeentlastungsgesetz, mit dem manche von uns allerdings keine allzugroßen Hoffnungen verbinden, wurde vom Bundesrat initiiert. Das Familien- und Schwangerenhilfegesetz ging aus interfraktionellen Bemühungen hervor.
({5})
Ich bin davon überzeugt, daß sich die Justizminister Gustav Heinemann und Hans-Jochen Vogel bei so zentralen Gesetzen nicht auf die Zuschauertribüne hätten abdrängen lassen.
({6})
Ziel der Kriminalpolitik muß es sein, Kriminalität zurückzudrängen. Die Bundesregierung stellt zwar zutreffend fest, daß die Entwicklung der Kriminalität keineswegs nur von der Ausgestaltung des strafrechtlichen Sanktionensystems abhängt. Aber dieses spielt eben auch, wie die Bundesregierung einräumt, eine gewisse Rolle. Deshalb müßte es uns nachdenklich machen, daß die Kriminalität in Westdeutschland in den zehn Jahren seit Ende 1982 deutlich zugenommen hat, und zwar von 4 Millionen auf mehr als 5 Millionen Straftaten im Jahr.
Natürlich sollten wir uns gemeinsam um die sozialen Ursachen von Straftaten wie Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot,
({7})
Perspektivlosigkeit vor allem junger Menschen kümmern. Die Bedingungen haben sich in den letzten zehn Jahren deutlich verschlechtert. Aber wir sollten uns auch überlegen, wo wir im strafrechtlichen Sanktionensystem ansetzen können. Ich nenne sieben Bereiche, in denen wir uns gemeinsam um eine Reform bemühen sollten:
Erstens - darin besteht erfreulicherweise weitgehend Übereinstimmung - sollten wir die Forderung „Verbrechen dürfen sich nicht lohnen" künftig besser verwirklichen. Unser Geldstrafensystem eignet sich dafür bekanntlich nicht; denn bei der Bemessung der Höhe des Tagessatzes darf die Möglichkeit, illegale Einnahmen zu erzielen, nicht berücksichtigt werden; sonst würde man den Straftäter zur Fortsetzung seiner Taten auffordern, damit er seine Geldstrafe bezahlen kann.
Wir halten nach wie vor die in unserem Gesetzentwurf zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität vorgeschlagene Gewinnabschöpfung durch eine obligatorische Nebenstrafe für einen gangbaren Weg.
({8})
Aber ich würde mich auch freuen, wenn die Bundesregierung die von mir aus rechtsvergleichender Sicht entwickelten Empfehlungen für eine Verbesserung des Systems von Verfall und Einziehung aufgreifen würde.
Zweitens fordern wir in Übereinstimmung mit dem Deutschen Juristentag eine verstärkte Berücksichtigung der Schadenswiedergutmachung und des Ausgleichs zwischen Täter und Opfer. Als erster Schritt könnte bei bestimmten Eigentums- und Vermögensdelikten eine obligatorische Strafmilderung bis hin zum Absehen von Strafe vorgesehen werden, wenn der Täter vor der Entdeckung der Tat den Schaden wiedergutmacht. Nach der Entdeckung ist seine Mitwirkung von geringerem Wert und vielfach auch nicht notwendig. Wiedergutmachung und Täter-OpferAusgleich sollten in § 56 Abs. 2 des Strafgesetzbuches als Umstände, die für eine Strafaussetzung zur Bewährung sprechen, besonders erwähnt werden. Ob sich aus der verstärkten Berücksichtigung des TäterOpfer-Ausgleichs eine dritte Spur im Sinne des bekannten Alternativentwurfs entwickelt, läßt sich immer noch auf Grund der Erfahrungen mit den ersten Schritten in die aus meiner Sicht richtige Richtung entscheiden.
Ich halte mit Klaus Roxin die Wiedergutmachung nicht für eine Strafe; denn was immer die Strafe sonst noch sein mag, auf jeden Fall ist sie ein Zwangseingriff in die Rechte des Täters. Aber die Wiedergutmachung ist immer oder doch oft eine freiwillige Leistung. Wenn man einen Täter zur Erfüllung seiner schon zivilrechtlich begründeten Verpflichtung etwa zur Rückgabe einer gestohlenen oder gehehlten Sache anhält, greift man nicht in seine Rechte ein. Die Frage der symbolischen Wiedergutmachung bei Taten ohne individuelle Opfer will ich hier ausklammern. Die Wiedergutmachtung ist meines Erachtens kein Strafzweck; sonst wäre das Zivilrecht ein Strafzweck. Sie ist erst recht keine Maßnahme; denn die Maßnahmen sind rein spezialpräventiv orientiert, während die Wiedergutmachung mindestens gleichrangige Ziele der positiven Generalprävention verfolgt. Ich halte sie für eine eigenständige Sanktion, d. h. für eine strafrechtliche Reaktion mit teilweise zivilrechtlichen Elementen, die keinen neuen Strafzweck ergibt, sondern den herkömmlichen Strafzwecken, der Integrationsprävention und der Spezialprävention, dient. Soweit die Auffassung von Roxin.
Ich füge diesen Überlegungen von Roxin hinzu: Ziel der Wiedergutmachtung ist die Wiederherstellung
Dr. Jürgen Meyer ({9})
des Rechtsfriedens. Diese Grundüberlegungen müssen klar sein, damit wir systematisch überzeugende Gesetze ohne Wertungswidersprüche zur Wiedergutmachung verabschieden können.
Drittens sollte in Übereinstimmung mit dem von der Bundesregierung - übrigens falsch - zitierten Votum des Juristentages die Aussetzung der Geldstrafe zur Bewährung jedenfalls dann in Betracht gezogen werden, wenn sonst der Verletzte, dessen Entschädigung Vorrang haben muß, leer ausgehen würde. Das gilt jedenfalls für die Fälle, in denen eine Verwarnung mit Strafvorbehalt ausreicht. Mir hat noch niemand erklären können, warum zwar die Freiheitsstrafe, nicht aber die Geldstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann. In anderen westeuropäischen Ländern gibt es diese merkwürdige Unterscheidung jedenfalls nicht.
({10})
Viertens sollte ebenfalls in Übereinstimmung mit dem Juristentag und trotz der Bedenken der Bundesregierung das Fahrverbot - diese vor dem Juristentag vielzitierte Sanktion - als Hauptstrafe eingeführt werden, wenn die begangene Tat im Zusammenhang mit der Führung eines Kraftfahrzeugs steht. Wer unter Benutzung seines Fahrzeuges Straftaten begeht, sei es ein Verkehrsdelikt oder sei es die Fahrt zum Wohnungseinbruch mit anschließendem Abtransport des Diebesgutes, ist möglicherweise durch ein Fahrverbot, das sich mit der von uns vorgeschlagenen Nebenstrafe der Gewinnabschöpfung kombinieren ließe, stärker zu beeindrucken als durch eine Geldstrafe, die er in der Rubrik „Geschäftsunkosten" abbucht.
({11})
- Ich meine das Fahrverbot, und zwar als Hauptstrafe. Entzug der Fahrerlaubnis, ist, wie Sie wissen, eine Maßregel und fällt in eine ganz andere Kategorie.
Die Bundesregierung übersieht in ihrer skeptischen Stellungnahme, daß die Praxis längst außerhalb der Alkoholdelikte dem Fahrverbot trotz der engen Grenzen von einem bis zu drei Monate nach § 44 StGB wegen der erwiesenen präventiven Wirkung dieser Sanktion hohe Bedeutung einräumt. Der Gesetzgeber sollte diese Erfahrung - ebenfalls in Übereinstimmung mit dem Votum des Juristentages - zur Kenntnis nehmen und das Fahrverbot als Hauptstrafe mit deutlich erweitertem Anwendungsbereich einführen.
Fünftens wollen wir die Möglichkeiten für die Auferlegung gemeinnütziger Arbeit erweitern. Auch hier überzeugen uns die etwas gewundenen Bedenken der Bundesregierung gegen die durchaus behutsame Empfehlung des Juristentages nicht. Arbeit gibt es genug in Deutschland. Man muß die für die gemeinnützige Arbeit geeigneten Arbeitsplätze nur einrichten wollen.
Sechstens schlagen wir eine Erweiterung der Verwarnung mit Strafvorbehalt auf Fälle vor, in denen sie besser als eine Geldstrafe auf den Täter einwirken kann.
Siebtens und nicht zuletzt fordern wir die durch die Bundesregierung seit langem - nicht erst, wie die vorliegende Antwort glauben machen könnte, seit 1989 - angekündigte Reform des Jugendstrafrechts. Wir halten die Vollstreckung der freiheitsentziehenden Jugendstrafe und der Untersuchungshaft gegen 14- und 15jährige Jugendliche - um nur ein Problem zu nennen, zu dem sich die Begründung leider ausschweigt - für eine kriminalpädagogisch schädliche Barbarei.
({12})
Aus diesen sieben Punkten, die sich noch erheblich erweitern ließen, wie unserer Großen Anfrage unschwer zu entnehmen ist, dürfte eines deutlich werden. Wir wollen das Strafrecht bei der Weiterentwicklung des Sanktionensystems keineswegs zu Lasten des Rechtsgüterschutzes zurücknehmen. Wir wollen es vielmehr gerechter und wirkungsvoller einsetzen. Wir wollen die Freiheitsstrafe, die in vielen Fällen - wie die Bundesregierung theoretisch einräumt - keine Hilfe zur sozialen Eingliederung des Täters ist, durch sinnvollere und besser wirkende Sanktionen ohne Freiheitsentziehung ersetzen.
({13})
Wir wollen die Opfer von Straftaten nicht nur - wie es das Opferschutzgesetz versucht - im Strafverfahren, sondern auch im Sanktionensystem stärker in den Mittelpunkt rücken.
Wir erwarten von der Bundesregierung erste Gesetzesinitiativen noch in dieser Legislaturperiode. Sollte die Bundesregierung aber weiter untätig bleiben,
({14})
werden wir noch in diesem Jahr einen eigenen Gesetzentwurf zu einigen der vordringlichsten Reformforderungen einbringen.
Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren, in seinem berühmten Lehrbuch hat Franz von Liszt Kriminalpolitik als Bekämpfung des Verbrechens durch individualisierende Einwirkung auf den Verbrecher bezeichnet.
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Ich meine, nur durch ein ständig weiterentwickeltes und verfeinertes Sanktionensystem läßt sich ermöglichen, was Karl Peters im Titel seines 1932 erschienenen Buches als „Die kriminalpolitische Stellung des Strafrichters bei der Bestimmung der Strafrechtsfolgen" bezeichnet hat. Geben wir der Justiz, unseren Richtern und Staatsanwälten, bessere Gesetze, damit sie gerechte, zur Bekämpfung der Kriminalität geeignete und die Opfer niemals übersehende Entscheidungen treffen können!
Dr. Jürgen Meyer ({16})
Ich danke Ihnen.
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Als nächster spricht der Kollege Norbert Geis. - Ich habe hier einen Hinweis, daß der Kollege länger sprechen möchte, als ihm hier zugestanden worden ist.
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- Also 20 Minuten. - Jetzt fangen wir aber an.
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Ich bedanke mich für die Freigabe der Rostra.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die sehr detaillierte Fragestellung der SPD-Fraktion nach der Weiterentwicklung des strafrechtlichen Sanktionensystems verdient Beachtung. Sie zeugt, Herr Meyer, von großem Sachverstand. Viele wichtige Themen werden angesprochen, wenngleich wir auch ein wenig darauf achten müssen, daß wir uns nicht allzusehr in der Theorie bewegen und hier nicht ein akademisches Seminar veranstalten.
Ich meine aber, daß die eigentliche Frage, die wir im Augenblick an das Strafrecht stellen, nicht gestellt worden ist - das mag auf die Zeitverschiebung zurückzuführen sein; denn diese Fragen sind 1991 gestellt worden -, nämlich die Frage, welche Rolle das Strafrecht jetzt aktuell bei der Bekämpfung der ständig weiter anwachsenden Kriminalität spielen kann und spielen muß.
Wir haben eine steigende Kriminalität. Unsere Bürger fühlen sich verunsichert. Ohne Gefahr kann heute niemand mehr abends auf die Straße gehen. Die Frauen meiden zu später Stunde die U-Bahn-Stationen. Ältere Frauen werden bei hellichtem Tage auf offener Straße angegriffen, es wird ihnen die Handtasche entrissen, und die Passanten schauen zu oder schauen weg - jedenfalls wollen Sie nichts damit zu tun haben -; die Polizei ist weit und breit nicht zu sehen.
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- Das ist Sache der Länder. Sie wissen, wer in den Ländern regiert. - Die Frau hat keine Chance, je noch einmal zu ihrer Tasche, geschweige denn zu ihrem Geld, das ihr geraubt worden ist, zu kommen. Solche Erlebnisse sprechen sich herum; sie steigern die Unsicherheit. Das Vertrauen in den Staat schwindet, und die Kriminalität wächst täglich.
Die Zahl der polizeilich registrierten Straftaten hat sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt. 1965 wurden 1,78 Millionen Straftaten registriert, 1985 waren es schon 4,21 Millionen, und Sie haben für die letzte Zeit über 5 Millionen genannt. Immer mehr breitet sich die organisierte Kriminalität aus. Wir haben dies hier ja schon öfters diskutiert. Das gilt für den Bereich des Rauschgiftes, aber nicht nur dort, sondern auch für den Kfz-Handel und für das illegale Scheck- und Kreditgeschäft.
Der Staat hat die Pflicht, unsere Sicherheit zu gewährleisten. Unsere Bürgerinnen und Bürger haben das Recht, daß der Staat sie vor Kriminalität schützt. Im Kampf gegen die Kriminalität hat das Strafrecht eine zentrale Rolle. Es ist eine alte Lebenserfahrung, daß ohne wirksame Strafverfolgung und, Herr Meyer, ohne wirksame Sanktionierung, also auch Vollstreckung der ausgesprochenen Strafe, die Kriminalität nicht in Schranken gehalten werden kann. Mit Recht hat deshalb das Bundesverfassungsgericht immer wieder darauf hingewiesen, daß eine funktionstüchtige Strafrechtspflege ein Gebot jedes Rechtsstaates ist.
Kann aber unser Strafrecht so, wie es gestaltet ist, und vor allem so, wie es praktiziert wird, heute noch diese Aufgabe erfüllen? Kann es noch seine Wirkung entfalten, die ihm zugedacht ist und die der Bürger und die Bürgerin von ihm erwarten?
Ich meine, daß diese Themen in der Anfrage der SPD-Fraktion zu kurz gekommen sind und daß Sie in mancher Fragestellung sogar in eine falsche Richtung weisen. Ich meine, die Strafe muß den Täter empfindlich treffen, sonst hat sie keine Bedeutung im Kampf gegen die Kriminalität. Der Täter lacht sonst die Justiz aus, der Staat verliert seine Autorität, und die Bürger verlieren das Vertrauen in den Staat.
In der Tendenz der Fragestellung der SPD kommt, wie ich meine, zum Audruck, als müsse es unsere größere Sorge sein, wie wir es einrichten können, daß der Täter auf jeden Fall die Freiheitsstrafe nicht antreten muß. Dem liegt so ein wenig die Vorstellung zugrunde, die in dem Schlagwort „Helfen statt strafen" zum Ausdruck kommt.
Diese Tendenz, nicht ernst machen zu wollen mit dem Strafrecht, möglichst keine Freiheitsstrafen zu verhängen und, wenn sie verhängt sind, sie möglichst zur Bewährung auszusetzen und dann auch noch die Bewährung wegzuwischen, wenn sie wirklich verfallen sein sollte, meine ich, kommt in Ihrer Fragestellung deutlich zum Ausdruck.
Das Strafrecht ist aber ein Schutzgesetz. Es muß mithelfen, daß die Rechtsgüter der Bürger geschützt werden. „Helfen statt strafen" ist deshalb das falsche Schlagwort, und dennoch sind in der Vergangenheit viele diesem Schlagwort erlegen.
Sie vertreten, wenn ich Ihre Fragestellung richtig deute, die Auffassung, freiheitsentziehende Maßnahmen hätten generell eine schlechte Wirkung auf die Resozialisierung des Täters. In einer Ihrer Fragen kommt dies zum Ausdruck, in 3.1.
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Deshalb tritt die SPD auch generell für die Zurückdrängung - 20 Fragen widmen Sie diesem Thema - der Freiheitsstrafe ein. Die Aussage, der Vollzug der Freiheitsstrafe würde die Resozialisierung des Täters behindern, trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu. Es kann sehr wohl richtig sein, dem einzelnen Täter durch den Strafvollzug, durch den Gefängnisaufenthalt klarzumachen, daß er sich falsch verhalten hat,
und es hat vor allem eine generalpräventive Bedeutung, wenn Strafen auch vollstreckt werden. Deswegen darf man auf gar keinen Fall sagen - man würde das Strafrecht ja sonst auch in Mißkredit bringen -, daß die Resozialisierung dann geringere Chancen hat, wenn wir die Strafe wirklich vollstrecken.
In diesem Zusammenhang scheint es - so jedenfalls deute ich die Fragen - die Sorge der SPD zu sein, die Gerichte könnten durch die Vorgabe des Gesetzes gehindert werden, Strafe zur Bewährung auszusetzen. Ich meine, daß diese Befürchtung nicht zu Recht besteht; denn bei der Freiheitsstrafe von null bis zwei Jahren haben wir eine ständige Ausweitung der Möglichkeit, in solchen Fällen die Strafe zur Bewährung auszusetzen.
Diese - in der Frage nicht formulierte, aber ein wenig intendierte - Meinung der SPD kann ich nicht teilen. Aber Sie vertreten ja auch die Auffassung, wenn ich Ihre Fragen richtig deute, als werde auch dann, wenn die Bewährung ausgesprochen und später die Strafe fällig werde, da der Täter eine Straftat begangen oder sie wiederholt hat - der Dieb klaut wieder -, ein Schritt in die falsche Richtung getan.
Das haben Sie nicht gesagt, Herr Meyer, aber in Ihren Fragen kommt eine solche Tendenz zum Ausdruck, nämlich wenn Sie fragen, ob es richtig sei, daß dann, wenn die Bewährung aufzuheben ist, die Strafe in jedem Fall zu vollstrecken sei. Ich meine aber, daß dann, wenn der Fall eingetreten ist, daß die Bewährung aufzuheben ist, die Strafe auch vollstreckt werden muß, wenn wir das Strafrecht nicht lächerlich machen wollen.
Sie stellen eine weitere Überlegung in diesem Zusammenhang an - in Ihren Fragen kommt dies zum Ausdruck -: ob es dann, wenn die Gefahr besteht, daß eine Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wird, dann auch wirklich vollstreckt werden kann, nicht besser sei, eine solche Freiheitsstrafe, zur Bewährung ausgesetzt, gar nicht erst zu verhängen, sondern der Geldstrafe den Vorzug zu geben.
Ich glaube, daß wir in der jetzigen Situation, wo wir es mit einem dramatischen Anstieg der Kriminalität zu tun haben, in gar keinem Falle auf dieses Instrument verzichten können, Freiheitsstrafe auch im Bereich von einem Jahr bis zwei Jahren zu verhängen und zur Bewährung auszusetzen
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und die Bewährung dann aufzuheben, wenn es notwendig ist, und die Strafe dann auch wirklich zu vollstrecken. In Ihren Fragen - lesen Sie es einmal nach - kommt dies nicht zum Ausdruck; jedenfalls deute ich es so. Wenn ich mich täuschen sollte, dann wären wir ja einer Meinung.
Die SPD hat die Sorge - so entnehme ich es den Fragen -, es könnten zu viele Freiheitsstrafen verhängt werden. Sie fordert deshalb eine Ausweitung anderer Instrumente des Strafmittels, beispielsweise eine Ausweitung der Geldstrafe. Dann verlangen Sie, daß, wenn schon Geldstrafe verhängt wird, diese Geldstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden soll. Ich sehe nicht ganz den Sinn. Welcher Täter nimmt denn dann überhaupt noch das Strafrecht ernst, wenn wir alles zur Bewährung aussetzen, wenn der Täter im Grunde genommen überhaupt keine Konsequenzen zu befürchten hat, wenn er gar nicht zu befürchten hat, tatsächlich bestraft zu werden? Der Richter sagt ihm: Du wirst bestraft. In Wirklichkeit wird er gar nicht bestraft. Ich meine, daß wir damit dem Strafrecht einen schlechten Dienst erweisen würden.
Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, daß alle Lockerungen, die ich zum großen Teil mitgetragen habe, solange ich im Bundestag bin, daß die gesamte weiche Welle des Strafvollzugs in den letzten Jahren nichts gebracht hat, wenn man Jen Anstieg der Kriminalität betrachtet.
Nun mag das nicht unbedingt in ganz unmittelbarem Zusammenhang stehen. Aber ich glaube nicht, daß man eine Ursächlichkeit insoweit gänzlich leugnen kann. Jedenfalls halte ich dies für lebensfremd.
Mit den Überlegungen, die Strafe noch weiter zurückzudrängen, geht der Versuch einher, manche Straftaten ganz abzuschaffen. Es geht dabei beispielsweise um die sogenannte Entkriminalisierung des Konsums und des Besitzes von Drogen. Ich glaube - das haben Sie nicht gesagt, aber ich will dieses Thema einmal anführen; wir haben ja hier eine Generaldebatte, und es wäre nicht gut, wenn ich mich jetzt nur sklavisch an Ihre Fragestellung halten würde -, daß eine solche sogenannte Entkriminalisierung im Augenblick das völlig falsche Signal wäre. Die Kriminalität wird nicht dadurch beseitigt, daß man das Strafrecht einfach abschafft. Der Tatbestand bleibt, nämlich der Drogenkonsum, und damit verbunden sind oft furchtbare Lebensschicksale, sowohl bei den Konsumenten als auch bei deren Verwandten.
Die Politik der sogenannten Entkriminalisierung führt zwangsläufig zur Erosion des Rechtsbewußtseins. Die Bürger verlieren das Vertrauen zum Staat. Wir sollten uns deshalb von dem Gedanken freimachen, wir würden der Gesellschaft einen Dienst erweisen, wenn wir sogenannte Bagatellstraftaten nicht mehr als Straftaten bezeichnen, sondern vielleicht nur noch als Ordnungswidrigkeiten.
Wir kennen ja eine entsprechende Initiative aus Rheinland-Pfalz, wo der Versuch gemacht wird, die Schwarzfahrer nicht mehr unter Strafe zu stellen, obgleich man da dem Staat bei 30 Millionen Schwarzfahrten im Jahr einen Bärendienst erweisen würde, aber auch den Bürgern, die treu und brav ihren Fahrpreis zahlen.
Aber damit kein falscher Eindruck aufkommt: Ich bin dafür, Herr Meyer, daß wir zusammen nachdenken, wo wir das Sanktionssystem verbessern können. Hier haben Sie einen wichtigen Punkt genannt. Das ist der Täter-Opfer-Ausgleich.
Ich stimme mit Ihnen überein, daß wir insoweit tatsächlich noch ganz am Anfang sind, daß wir diesen Gedanken weiterführen müssen und daß wir vielleicht auch, wenn es notwendig ist, den Versuch - die jetzigen gesetzlichen Möglichkeiten sind an sich schon ausreichend - unternehmen sollten, neue Gesetze zu verabschieden, damit dem Gedanken des Täter-Opfer-Ausgleichs Rechnung getragen werden kann. In der Tat sind die Erfahrungen mit dem
Täter-Opfer-Ausgleich gut. Es hat sich gezeigt, daß der Täter schneller zur Resozialisierung findet, daß der Rechtsfriede schneller und nachhaltiger wiederhergestellt werden kann, wenn sich Täter und Opfer versöhnen.
In der Praxis allerdings - darüber müssen wir uns im klaren sein - wird der Täter-Opfer-Ausgleich wegen der außerordentlichen Belastung der Justiz, vor allem in den neuen Bundesländern, auf Grenzen stoßen.
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- Er wird auch in der Sache auf Grenzen stoßen. Jetzt stellt sich uns ja schon die Frage, wann im Einzelfall wirklich die Wiedergutmachung gelungen ist. Wer entscheidet darüber, und wie wird entschieden, ob die Wiedergutmachtung gelungen ist? Wer beurteilt die Versöhnung zwischen Täter und Opfer? Was muß das Opfer auf sich nehmen, und was darf man dem Täter abverlangen, ohne unzumutbare Anforderungen zu stellen? Wie kann vermieden werden, daß das Opfer am Ende nicht den Eindruck gewinnt, es sei nur Mittel zum Zweck, den Täter von der Strafe freizuhalten? Und wie können wir verhindern, daß der vermögende Täter, der mit einem großen Angebot an das Opfer herantritt, den Vorteil hat, daß er sich auf diese Weise in einer gewissen Form freikaufen kann von seiner Strafe und er seine eigene Strafe bagatellisieren kann?
Ich bin mir sicher, daß wir diese Dinge in den Griff bekommen können. Deshalb lohnt es sich, darüber nachzudenken. Aber dieser Täter-Opfer-Ausgleich darf nicht Instrument dazu sein, die Strafe weiter zurückzudrängen,
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sondern er muß eine Möglichkeit für den Täter darstellen, und er muß auch bei der Gesamtstrafe berücksichtigt werden. Aber ein Zurückdrängen der Strafe, eine völlige Privatisierung des Strafrechtes zwischen Täter und Opfer im Rahmen des Täter-Opfer-Ausgleichs würde ich ablehnen. Ich glaube, daß wir da gar nicht weit voneinander sind. Denn es wird bei einer Straftat nicht nur der Rechtskreis des Opfers getroffen; natürlich wird auch die Rechtsordnung der Gesellschaft getroffen.
Deshalb gibt es einen Anspruch der Gesellschaft gegenüber den Gerichten auf Verurteilung des Täters, zur Feststellung des Unrechts. Dieser Anspruch ist öffentlich, ist nicht privat. Deshalb wäre eine gänzliche Privatisierung der Strafe im Grunde genommen ein Rückschritt in eine Zeit, als unsere Rechtsordnung noch nicht existierte. Das kann und soll nicht unser Ziel sein. Das darf uns aber auch nicht daran hindern, hier vorsichtige Schritte im Rahmen einer vernünftigen Abwägung zu tun.
Lassen Sie mich eines, das Sie vorhin auch gesagt haben und das bei mir einen Zwischenruf ausgelöst hat, erwähnen. Ich habe dazwischengerufen: Was würden wir denn dann mit den Tätern von Mölln machen, wenn wir nicht im Jugendstrafrecht die Möglichkeit hätten, die Sie hart bekämpft haben - es gab heiße Diskussionen darüber -, die Täter auch in Untersuchungshaft zu nehmen, wenn ganz schwere Straftaten, so wie das bei Mölln der Fall gewesen ist, vorliegen?
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- Na gut! Dann müssen wir solche Täter festnehmen können. Wir müssen auch in der Lage sein, Strafe gegenüber solch schwer kriminellen jugendlichen Tätern zu vollstrecken.
Ich bin nicht der Auffassung, daß die Strafe immer und jedesmal und auf jeden Fall das falsche pädagogische Mittel ist. Die Strafe verwirkt der Täter durch seine Tat. Er muß auch so reif und so einsichtig sein
- und das wird er in der Regel sein -, daß er weiß, daß eine solche Tat Folgen hat, so daß dieses spezialpräventive Moment im Strafrecht, auch im Jugendstrafrecht, auf jeden Fall in Zukunft Bedeutung haben muß, und zwar auch dann Bedeutung haben muß, wenn es um die Diskussion geht, ob der Täter hinter Schloß und Riegel muß. Wir müssen diese Möglichkeit der Vollstreckung der Gefängnisstrafe für Jugendliche offenhalten. Ich wende mich ganz entschieden dagegen, daß wir hier, wie ich meine, aus einer falsch verstandenen Milde dem Täter gegenüber meinen, das Jugendstrafrecht ändern zu müssen. Wir, die CDU/CSU, haben uns in der Vergangenheit mit Erfolg dagegen gewehrt, und wir werden dies auch in Zukunft tun.
Aber noch einmal zurück zum Ausgangspunkt. Sie haben mit Ihrer Anfrage eine Menge Themen berührt, und es lohnt sich, diesen Themen und diesen Fragen nachzugehen. Ich glaube, daß wir den dort angeführten Fragen, die so schlecht vom Justizministerium nicht beantwortet sind - im Gegenteil! -,
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in der künftigen Debatte im Rechtsausschuß und hier im Bundestag nachgehen sollten.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Als nächster Redner spricht unser Kollege Jörg van Essen zu uns.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „So wenig Staat wie möglich, so viel Staat wie nötig. " - Dieses liberale Prinzip gilt für die F.D.P. auch bei der Beurteilung des strafrechtlichen Sanktionensystems.
„So wenig Staat wie möglich" bedeutet, daß sie die staatlichen Strafen auf das Maß beschränkt sehen will, das für den Rechtsgüterschutz und für die Wahrung des Rechtsfriedens unverzichtbar ist.
„So viel Staat wie nötig" führt zu dem kriminalpolitischen Ziel, Kriminalität durch geeignete und rechtsstaatliche Instrumente zurückzudrängen.
Zum liberalen, zum freiheitlichen Rechtsstaat gehört eben auch die Verpflichtung, die Bürger zu schützen und weitestmöglich nicht zu Opfern von Kriminalität werden zu lassen. Liberale, die den ganzen Rechtsstaat sehen und deshalb von Medien, die in linken und extrem linken Kreisen besonders
gern gelesen werden, gelegentlich als rechtslastig eingestuft zu werden pflegen, legen deshalb Wert auf einen gerechten Ausgleich zwischen den legitimen Interessen eines Straftäters und den ebenso legitimen Interessen von Opfern. Sie überbetonen den Staat dabei nicht. Darin unterscheiden wir uns von unserem Koalitionspartner, Herr Kollege Geis.
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- Erfreuliche Unterschiede, ja!
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Ich beginne bewußt mit den Tätern, die dem Staat durch seinen Strafanspruch in besonderer Weise ausgesetzt sind und die in einem freiheitlichen Rechtsstaat Anspruch auf eine gerechte Antwort auf ihr Fehlverhalten haben, die Überreaktionen ausschließt.
Hier ist insgesamt aus den von der Bundesregierung mitgeteilten Angaben eine erfreuliche Tendenz festzustellen. Aber es gibt auch Anlaß zu kritischen Bemerkungen.
Die sozialen Folgen von kurzzeitigem Freiheitsentzug, etwa der Verlust der Arbeitsstelle, stehen häufig in keinem Verhältnis zu der Schuld des Täters. Daher ist es mit Sorge zu betrachten, daß sich die Zahl der kurzfristigen Freiheitsstrafen von unter sechs Monaten vom Jahre 1986 zum Jahre 1987 sogar erhöht hat
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und in den folgenden Jahren nur langsam gefallen ist.
Auch wenn die überwiegende Zahl dieser Freiheitsstrafen zur Bewährung ausgesetzt zu werden pflegt, stellt sich die Frage nach ihrem Sinn spätestens im Zeitpunkt eines notwendigen Widerrufs.
Eine Antwort darauf, ob nicht eine Überreaktion vorliegt, müssen wir auch in einem anderen Bereich geben: Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, sich für eine stärkere Individualisierung der Geldbußen bei Verkehrsordnungswidrigkeiten einzusetzen. Sie hat dies nachvollziehbar damit begründet, daß diesen Verstößen im wesentlichen gleiche Geschehensabläufe mit fahrlässiger Begehung und gewöhnlichen Tatumständen zugrunde liegen. Aber wir müssen diesem Bereich unsere besondere Aufmerksamkeit widmen.
Gerade in diesen Tagen ist eine erneute Verschärfung der Sanktionen nach Verkehrsordnungswidrigkeiten verkündet worden. Die Höhe der Bußgelder ist angehoben und die Anwendung des Fahrverbots erweitert worden. Dies führt zu dem für mich nicht hinnehmbaren Ergebnis, daß heute ein schuldhafter Verkehrsunfall mit einem Bußgeld - wenn keine Körperverletzung eingetreten ist - höher geahndet wird als ein ähnlicher Unfall, bei dem eine oder mehrere Personen verletzt worden sind.
In dem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft nach einem Unfall mit Personenschaden nämlich wird z. B. die finanzielle Leistungsfähigkeit des Beschuldigten gewürdigt,
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so daß bei der in der Regel erfolgenden Einstellung des Verfahrens wegen geringer Schuld nach § 153 a StPO die Geldbuße häufig geringer ausfällt als das Bußgeld bei einer bloßen Ordnungswidrigkeit nach einem Unfall ohne Folgen.
Insgesamt scheint mir das Verhältnis der Ahndung bei kriminellen Vergehen wie dem Ladendiebstahl, also bei den schweren Verstößen, und der bei Geldbußen im Bereich der bloßen Verkehrsordnungswidrigkeiten immer weniger zu stimmen.
Kritisch bin ich auch bei der Verwarnung mit Strafvorbehalt, von der die Praxis nur begrenzt Gebrauch macht. Die Vorschrift des § 153 a StPO wird der Interessenlage in den Fällen, die eine Geldstrafe nicht verlangen, doch viel gerechter. Durch eine Auflage, etwa Wiedergutmachung des Schadens oder Zahlung einer Geldbuße an eine gemeinnützige Organisation, spürt der Täter mit geringer Schuld eine Sanktion, hat aber den Vorteil, nicht mit einer Kriminalstrafe belegt worden zu sein. Nach meiner Auffassung sollten wir daher den Weg einer sinnvollen Erweiterung der Anwendungsmöglichkeiten des § 153 a StPO - im Rechtswegeentlastungsgesetz sind wir bereits in diese Richtung gegangen - weiter in Betracht ziehen.
Sehr offen bin ich auch für die Einführung einer neuen Rechtsfolge für Straftaten unterhalb der Ver- gehen, die man etwa Verfehlungen nennen könnte. Auch da unterscheiden wir uns, Herr Kollege Geis. Insbesondere bei Massendelikten, wie dem Ladendiebstahl und der Beförderungserschleichung, sollten wir die Einführung eines solchen Rechtsinstituts sorgfältig prüfen, urn einerseits ein personell weniger aufwendiges Verfahren zur Bewältigung dieser Deliktbereiche zu ermöglichen und um andererseits - da gehen wir in die gleiche Zielrichtung - deutlich zu machen, daß diese Selbstbedienung besonderer Art mit ihren gravierenden wirtschaftlichen Folgen, die von allen rechtstreuen Bürgern zu begleichen sind, nicht hingenommen werden kann.
Erfreulich ist festzustellen, daß die Zahl der Bewährungshelfer prozentual stärker gestiegen ist als die der Verurteilten, die unter Bewährungsaufsicht stehen. Trotzdem ist das Verhältnis von über 65 Probanden zu einem Bewährungshelfer immer noch außerordentlich schlecht.
Um so höher ist die immer wieder festzustellende Einsatzfreude der Bewährungshelfer zu bewerten. Ihnen und auch den Gerichtshelfern bei den Staatsanwaltschaften haben wir viele Hinweise zu verdanken, die eine gerechtere Beurteilung bei notwendigen Entscheidungen durch Gerichte und Staatsanwaltschaften möglich machen.
Im Interesse der Opfer von Straftaten ist die starke Betonung der Wiedergutmachung geboten. Auch wenn die Einführung einer sogenannten dritten Spur Wiedergutmachung im Sanktionensystem überwiegend abgelehnt wird, sollten wir Erweiterungen der bisherigen Möglichkeiten eingehend prüfen. Es gibt
dort eine Fülle von zum Teil sehr vernünftigen Vorschlägen. Einem Interessenausgleich zwischen Tätern und Opfern kommt für mich in ganz besonderem Maße im Bereich der Jugendlichen und der heranwachsenden Straftäter Bedeutung zu.
Das Sanktionensystem - das hat die Große Anfrage der SPD deutlich gemacht - muß uns nicht nur wegen der von mir berührten Fragen regelmäßig beschäftigen. Die F.D.P. wird sich an einer sinnvollen Weiterentwicklung gerne beteiligen.
Vielen Dank.
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Nun spricht die Kollegin Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich schließe mich den Äußerungen des Kollegen Meyer an, was seine Kritik an der Beantwortung der Großen Anfrage durch die Bundesregierung angeht. Auch ich denke, daß viele Antworten schwammig, ausweichend und ohne jede Konkretisierung bleiben. Allein die Zahlen sind widersprüchlich und politisch tendenziös. Es wäre übrigens ein leichtes, sie zu widerlegen, einmal ganz abgesehen davon, daß etliche Fragen gar nicht beantwortet wurden.
In meinem Beitrag heute möchte ich mich auf einige Fragen konzentrieren, die ich bei der Großen Anfrage der SPD vermisse, die aber meiner Meinung nach gestellt werden müssen, wenn es wirklich darum geht, die Weiterentwicklung des strafrechtlichen Sanktionssystems zu bewerten bzw. zu beurteilen.
Es ist ganz offensichtlich so, daß die Bundesregierung die Frage, ob vom Strafrecht eine generalpräventive Wirkung ausgeht oder nicht, nicht mit Ja beantworten kann.
Die auch nur bedingte Brauchbarkeit des bestehenden strafrechtlichen Sanktionssystems zur Verhinderung sozialen Fehlverhaltens kann durch nichts belegt werden. Dennoch ist festzustellen, daß die Bundesrepublik im europäischen Vergleich mit zu den Ländern gehört - da spreche ich besonders Herrn Geis an -, die in der Häufigkeit der Verhängung von Freiheitsstrafen und in der Länge der durchschnittlichen Strafverbüßung an der Spitze liegen. Die Frage, worauf dies zurückzuführen ist, bleibt trotz Hunderter von Statistiken offen.
Mit der Strafvollzugsgesetzreform von 1977 wurde die Resozialisierung als Ziel und Zweck des Strafvollzuges definiert. Dabei soll laut Strafvollzugsgesetz der offene Strafvollzug der Regelvollzug sein.
Kriminologische Untersuchungen haben ergeben, daß Gefangene, die ihre Strafe im offenen Vollzug verbüßen, weit weniger rückfällig werden als Gefangene, die in geschlossenen Anstalten sitzen. Diese Erkenntnis legt doch eigentlich nahe, daß die Unterbringung im offenen Vollzug zu steigern und die Belegung der Haftplätze im geschlossenen Vollzug zu verringern wäre.
Das Gegenteil ist allerdings der Fall: Plätze im offenen Vollzug sind leer, während der geschlossene Vollzug restlos belegt ist. Die Frage, wieso diesen Erkenntnissen aus den eigenen Statistiken und der Praxis nicht Rechnung getragen wird, bleibt offen.
Daß dieser Punkt kein Einzelbeispiel ist, kann belegt werden: Auch andere wesentliche Bestandteile der Strafvollzugsreform von 1977 sind bis heute, also 16 Jahre danach, nicht umgesetzt worden, so z. B. die tarifliche Entlohnung von Gefangenen und die Einbeziehung der Gefangenen in die Renten- und Sozialversicherung. Wie soll ein Gefangener Schadenswiedergutmachung im Rahmen des Täter-Opfer-Ausgleichs leisten, wenn der Durchschnittslohn im Strafvollzug heute bei ca. 120 DM im Monat liegt?
Untersuchungen weisen darüber hinaus nach, daß heute der einzelne Gefangene durchschnittlich 40 000 DM Schulden hat, wenn er aus der Haft entlassen wird.
Gibt es zwischen diesen Zahlen und der hohen Rückfallquote womöglich einen Zusammenhang? Das sind Fragen, die leider nicht gestellt werden und daher auch nicht beantwortet werden.
Engagierte Strafgefangene, die in den vergangenen Jahren versucht haben, wenigstens die Umsetzung des Strafvollzugsgesetzes zu erreichen, kommen zu einem ganz sarkastischen Fazit: Resozialisierung durch Entsozialisierung in einer asozialen Umgebung, wie soll das gehen?
Obwohl der Gesetzgeber, wie gesagt, seit 16 Jahren Reformen versprach, führte er keine durch. Deshalb muß heute reflektiert werden, daß der Strafvollzug immer mehr zum Verwahrlosungsvollzug geworden ist.
Die Tendenz, gesellschaftliche, also soziale und politische Verfehlungen mit den Mitteln strafrechtlicher Sanktionen bewältigen zu wollen, hält ungebrochen an. Wenn sich z. B. ein Teil der Jugendlichen, insbesondere aus sozial unterprivilegierten Schichten, bedroht von frühzeitiger Arbeitslosigkeit und sozialer Deklassierung, den Neonazis zuwenden, ist das gewiß nicht durch eine Erweiterung des strafrechtlichen Sanktionssystems rückgängig zu machen.
Wenn, bedingt durch eine verfehlte Drogenpolitik, sowohl die Beschaffungskriminalität durch Abhängige wie auch die sogenannte organisierte Kriminalität zugenommen hat, obwohl die entsprechenden strafrechtlichen Sanktionen ausdifferenziert und verschärft wurden, zeigt dies nur, daß mit Strafrecht weder Fehlleistungen noch gesellschaftliche Mißstände bewältigt werden können.
Um zu zeigen, daß das Strafrecht in seiner Anwendung von herrschenden politischen Einstellungen mehr bestimmt wird als von einer rational begründbaren Kriminalpolitik, möchte ich hier das Beispiel der Sicherheitsverwahrung aufgreifen. Einmal abgesehen von einer kleinen Gruppe Sexualstraftäter rekrutiert sich der Großteil der Sicherheitsverwahrten aus dem Bereich der Eigentumsdelikte. Begründet wird die Verhängung z. B. mit ungünstiger Sozialprognose, mit dem häufigen Rückfall des Betreffenden und dem
möglichen sozialen Schaden, den er anrichten wird, sollte man ihn aus der Haft entlassen.
Nun kann jeder den Untersuchungen von Kriminologen entnehmen, daß es in anderen Deliktbereichen mindestens ebenso häufig Rückfalltäter gibt wie im Bereich der Eigentumsdelikte. Dabei ist der soziale Schaden, der z. B. durch Umweltkriminelle, durch Steuer- und Subventionsbetrüger entsteht, im Durchschnitt weitaus höher als dann, wenn es um Eigentumsdelikte geht.
Gleichwohl kann man feststellen, daß aus den genannten anderen Deliktbereichen bis heute nicht ein einziger Straftäter je die Sicherheitsverwahrung auferlegt bekommen hat.
Um nicht mißverstanden zu werden: Ich plädiere nicht für eine häufigere Verhängung der Sicherheitsverwahrung, sondern für die Abschaffung. Sie ist nicht nur ein Instrument einseitiger und tendenziöser Sozialkontrolle, sondern gleichzeitig ein Relikt des Faschismus und gehört schon deshalb ersatzlos abgeschafft.
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Meine Damen und Herren, folgendes sage ich auch als Frau, die seit zwölf Jahren als Strafvollzugshelferin mit Strafgefangenen arbeitet: Ganz betroffen macht mich der Umgang von Strafjustiz und Strafvollzug mit Sexualstraftätern. Allen Untersuchungen zur Folge ist die Rückfallquote innerhalb dieser Deliktgruppe besonders hoch. Es hat Jahrzehnte der Auseinandersetzung bedurft, um z. B. konservativen Richtern, aber auch Politikern klarzumachen, daß Vergewaltigung kein Kavaliersdelikt ist. Was aber geschieht in aller Regel mit Straftätern, wenn sie verurteilt wurden? Die Antwort ist banal wie erschreckend: Sie sitzen ihre Zeit ab; ansonsten passiert in aller Regel gar nichts. Zwar werden von Gerichten immer häufiger Therapieauflagen in die Urteile geschrieben; aber der Strafvollzug kann ihnen nicht ausreichend oder - das ist am häufigsten - gar nicht nachkommen. Entlassen wird dann ein Mann, der in den Jahren des Strafvollzugs keinerlei Gelegenheit hatte, ein anderes Verhalten gegenüber Frauen zu erlernen, der psychisch kaputter aus dem Gefängnis entlassen wird, als er es betreten hat, und der für die Frauen dann eine potentiell größere Gefahr darstellt als vorher. Was nutzt in diesem Fall ein differenzierteres Strafsanktionensystem, wenn es im Ergebnis menschliche Zeitbomben produziert?
Eine Gesellschaft, die in jedem Werbespot zum ungehemmten Konsum auffordert, aber eine hohe Arbeitslosigkeit zu verzeichnen hat, wird eine steigende Zahl von Eigentumsdelikten verkraften müssen. Eine Gesellschaft, die in zig Fernsehserien jeden Tag Hunderte von Morden im Detail vorzeigt, wird mit immer mehr Gewaltdelikten zu kämpfen haben. Eine Gesellschaft, in der sich aber führende Politiker nach begangenen Verfehlungen, z. B. beim Parteispendenskandal, selbst amnestierten, wird ihre Glaubwürdigkeit auch durch die Verfeinerung und Verschärfung des strafrechtlichen Sanktionensystems nicht wiederlinden.
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Nun spricht der Kollege Dr. Wolfgang Ullmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Obwohl die Situation in diesem Saal das Gegenteil zu beweisen scheint, muß ich sagen: Selten hat es in den letzten Jahren so viel öffentliche Aufmerksamkeit, so viele leidenschaftliche Diskussionen über die gesellschaftliche Rolle des Strafrechts gegeben wie gerade jetzt, da wir über das Ergebnis eines Dialogs zwischen Opposition und Regierung debattieren.
Diese Debatte findet einerseits statt zwischen einer beunruhigenden Eskalation der Gewalt in der Gesellschaft - meine Vorredner haben es erwähnt -, einer von solcher Gewalt provozierten Tendenz zum Denken in Kategorien verschärfter Repression bis zur Reaktivierung der Todesstrafe und andererseits einer äußerst selbstkritischen Reflexion der Strafrechtswissenschaft, der Gerichts- und Vollzugspraxis. Dies alles wird nun speziell in unserem Lande nochmals verschärft durch die Frage nach der Rolle der Strafjustiz gegenüber der Aufgabe, mit einer schuldbelasteten Vergangenheit ins reine zu kommen.
In dieser aufgewühlten Debatte ist es ein hoffnungweckendes Signal, wenn Opposition, Regierung und Rechtswissenschaft in derart konkordanter und konvergenter Weise mit dem Thema der strafrechtlichen Sanktionen umgehen, wie es der uns hier vorliegende Katalog von Fragen und Antworten dokumentiert. Die Große Anfrage der SPD stellt schon in ihrer Vorbemerkung die Wahrung des Rechtsfriedens und die Erweiterung der Möglichkeiten zur Wiedereingliederung straffällig Gewordener als Leitlinien ihrer Anfrage auf. Nicht weniger wichtig aber ist, daß die Antworten der Bundesregierung wissen lassen, wieweit sie diesen Ansatz teilt, nachdem es, wie es unter 3.1 heißt, „in einer Vielzahl der Fälle zur sozialen Eingliederung des Täters keines Freiheitsentzugs" bedarf.
Ganz besonders bedeutsam aber erscheint mir, daß sich die Regierung für ihre Bereitschaft zur Ergänzung des Sanktionensystems auch in Form von Alternativen zu strafrechtlichen Sanktionen auf die Ergebnisse des 59. Deutschen Juristentages beruft und auch auf die Beratungen des Deutschen Jugendgerichtstages vom September 1992 in Regensburg.
Diese Kooperation von Regierung, Parlament, Rechtspraxis und Rechtswissenschaft halte ich für viel bedeutsamer als manche technischen Details dieses siebenteiligen Fragenkatalogs; zeigt sie doch, daß es gerade die gewaltenteilige Demokratie ist, die ganz unerwartet innovative Verknüpfungen ermöglicht. Ich sage das besonders im Blick auf Teil 7 der Anfrage, die von Wiedergutmachung als dritter Spur des Sanktionensystems handelt. Ich glaube, man braucht wirklich eine dritte Spur. Hier bin ich der Meinung der Kollegen der SPD und denke anders als Herr van Essen. Es geht an dieser Stelle nicht anders in die
Systematik des Strafgesetzbuchs hinein, wenn man die Sache ernst nimmt.
Freilich wird sich, wer Fragen und Antworten in allen ihren Verästelungen folgt, eines Eindrucks nicht erwehren können. Die derzeitige Diskussion des strafrechtlichen Sanktionensystems ist gekennzeichnet durch die grundsätzliche Unklarheit darüber, wie sich die generalpräventive, durch Normeneinschärfung bewußtseinsbildende Wirkung von Strafe, zum Ziel der Resozialisierung und Reintegration verhalten soll. Generalprävention, das ist in mehr als einer Hinsicht eine lediglich mittelbare Wirkung von Strafen. Schon in ihrer Antwort auf Frage 1 weist die Regierung mit Recht auf die Unwirksamkeit von Strafdrohungen gegenüber jugendlicher Gewaltkriminalität hin.
Demgegenüber möchte ich die unmittelbare Wirkung und darum die Bedeutung der Wiedergutmachung als einer dritten, noch viel zu wenig ausgebauten Spur des Sanktionensystems - es i s t eine Sanktion - viel höher einstufen, diesmal in Abweichung von der Regierung und leider auch vom Juristenkongreß. Diese Spur verfolgen, das hieße, viel entschlossener, als es bisher geschieht, der Kriminalität gegenüber einen Kurs der sozialen und medizinischen Therapie zu steuern, wie es auch von meiner Vorrednerin gesagt worden ist,
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so wie es alle die tun, die gegenüber Drogenkonsumenten erste Schritte der Entkriminalisierung anstelle des jetzt noch dominierenden Prohibitionismus vorschlagen.
Das dem Rechtsausschuß derzeit vorliegende UNOGesetz zur Drogenkriminalität ist ein Musterbeispiel für diese ältere, rein repressive Strafrechtspolitik, die die 60er Jahre repräsentiert und in den hier gegebenen Antworten von der Regierung selbst schon weitgehend verlassen worden ist.
Ebenso vermisse ich in Fragen und Antworten ein Eingehen auf die mittlerweile längst eingeleitete Neuorientierung im Sexualstrafrecht, auf der einen Seite die Entkriminalisierung der Homosexualität, auf der anderen die Pönalisierung des Kindesmißbrauchs und der Gewalt in der Ehe. Gerade diese Wendung, meine Damen und Herren, gewährt einen Blick in die Tiefe des sich hier vollziehenden Wandels im Verständnis von Recht überhaupt. Was sich vollzieht, ist die konsequente Abwendung von den letzten Resten des Sakralrechts mit allen Vorstellungen von einer magisch sühnenden Kraft von Strafe. Sind sie es doch, die allen rationalisierenden Abschreckungsdoktrinen zum Trotz die immer neue Faszination der Todesstrafe erklären.
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Es ist nicht die präventive, sondern die apotropäische Wirkung von Strafe, auf die jene sakralrechtlichen Traditionen hinauslaufen. Die christliche Tradition hat ihnen allen eine Instanz höchster Autorität entgegengestellt, an der alle Arten von Strafmagie zu Schanden werden müssen. Es ist der Justizmord an Jesus, begangen von den höchsten religiösen und politischen Autoritäten. Dieser Instanz wegen geschah es doch, daß die Reformation über jede Art von magischem Mißbrauch von Strafe das Verdikt der Selbstrechtfertigung aussprach.
Wir können uns an dem irritierenden Verlauf des Prozesses Honecker klarmachen, was dieses Verdikt bedeutet. Sicher hat mindestens ein Berliner Gericht in diesem Verfahren Fehler begangen. Dennoch ist in diesem Prozeß klargeworden, was wir niemals wieder verunklären dürfen. In keinem Strafgesetzbuch der Welt wird j e das Bauen von Mauern gleich der Berliner als Straftatbestand formuliert sein. Dennoch wissen wir jetzt: Wer solche Mauern baut, endet beim Totschlag. Ob die Klarheit hierüber eine präventive Wirkung entfaltet, steht völlig dahin. Aber die Klarheit hierüber eröffnet einen Zugang zum Strafrecht, einen Umgang mit ihm, indem es nicht mehr der Selbstrechtfertigung dient, indem dem Strafrecht aufgeladen wird, was allein die Gesellschaft im ganzen leisten kann und als Aufklärung und Erneuerung zu vollziehen hat. Das wäre ein Gebrauch des Strafrechts, indem es nicht um Prävention mittels Furcht vor Strafe ginge, sondern darum, aus der Erfahrung des Unrechts Wege zu finden, auf denen Wiedergutmachung nicht nur gewollt, sondern auch bewirkt werden kann.
Schönen Dank.
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Nun spricht der Kollege Hans de With.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich den Verlauf der Debatte richtig sehe, dann haben im Grunde genommen alle Redner - mit einer Ausnahme - im Kern die Gedanken verfolgt, die wir in unserer Großen Anfrage aufgenommen haben und mit denen wir versucht haben klarzumachen, was wir in unserer Zeit eigentlich mit der Weiterentwicklung des Sanktionensystems wollen. Ich hoffe auch, daß sich die Frau Justizministerin davon nicht allzu weit entfernt, wiewohl wir natürlich der Auffassung sind, daß sie in einigen Punkten bei der Beantwortung unserer Fragen durchaus ein Schrittchen hätte weitergehen können.
Es gab eine Ausnahme, und das war Herr Geis. Herr Geis, wenn ich etwas vergröbernd und vereinfachend ihren Beitrag darstelle, dann sah der für mich wie folgt aus: Ihr Sozialdemokraten seid schon ganz gescheite Kerle und könnt auch kluge Fragen stellen; aber irgendwie seid ihr etwas humanitätsduselig, besonders bei Strafen; wenn die Leute schön anständig ins Loch gesteckt werden,
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dann hört dieses Wachsen der Kriminalität eher auf, als wenn wir euch folgen. - Ich habe extra gesagt: Ich vereinfache und vergröbere das ein bißchen.
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Herr Kollege Geis, wenn ich hier von Eberhard Schmidt ein Wort zitiere, dann hat dieser, der nicht im
Verdacht steht, ein Sozialdemokrat gewesen zu sein, mit seinem Hinweis immer noch recht, als er nämlich sagte: Das Mittelalter zeigt mit aller Deutlichkeit, daß Härte und Grausamkeit der Strafrechtspflege ein Zeichen politischer Schwäche ist;
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ich sage auch: ein Zeichen des Versagens unserer Gesellschaft.
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Wenn Sie fragen, was denn in unserer Zeit mit dem Ansteigen der Kriminalität sei, muß ich die Gegenfrage stellen: Wie steht es mit unserer Gesellschaft? Ich frage auch: Glauben Sie ernsthaft, daß härtere Strafen wirklich eine Abhilfe bringen würden? Wahrscheinlich nicht.
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- Bitte, Sie dürfen gerne fragen.
Mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin.
Selbstverständlich, Kollege Geis.
Herr de With, sind Sie wirklich der Auffassung, daß ein Täter, der eine Straftat begeht und, wie es oft der Fall ist und was Sie nicht leugnen können, mit den Straffolgen gar nicht rechnen muß, weil er weiß, daß er vielleicht zur Bewährung verurteilt wird, sehr viel leichter die nächste Straftat begeht als einer, dem gezeigt worden ist, wohin ein solches Verhalten führt, daß ein solches Verhalten nämlich eine Einbahnstraße ist, an deren Ende tatsächlich das Gefängnis steht?
Es kann auch für mich keinem Zweifel unterliegen, daß, wenn eine Strafe angedroht ist, die Strafe der Tat natürlich folgen muß. Aber hinzu muß zweierlei kommen, und dazu haben Sie überhaupt nichts gesagt: Erstens muß die Strafrechtspflege so ausgestaltet sein, daß Sie auch den Großteil der Täter erwischen. Wenn die Leute nämlich glauben, sie könnten etwas anstellen, gefangen würden sie eh nicht, dann wächst die Lust, Straftaten zu begehen.
Das zweite ist, daß nicht generell gesagt werden kann: Feste druff mit den Strafen! Wir müssen dafür Sorge tragen, daß eine gemäße Ahndung erfolgt. Sie kennen das berühmte Wort eines großen Strafrechtslehrers, der gesagt hat, daß unsere Gefängnisse steingewordene Riesenirrtümer seien. Und da ist was dran.
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Wir haben schon viele Leute wegen nicht allzu schwerer Straftaten in Justizvollzugsanstalten gesteckt, und herausgekommen sind sie wirklich als Kriminelle.
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Das kann doch für diese Gesellschaft nicht gut sein. - Herr Kollege Geis, Sie bringen exakt das, was ich eingangs etwas vergröbernd sagte. Sie meinen doch, „feste druff" sei das beste. Ich meine, man muß hier differenziert vorgehen.
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Ich darf Ihnen ein paar Beispiele an Hand unserer Geschichte sagen. Wenn wir unsere Debatte verfolgen, entsteht vielleicht der Eindruck, wir redeten für ein paar Sachverständige, für Betroffene oder für Rechtsstudenten. Im Grunde handelt es sich bei der Frage, wie es mit der Fortbildung unseres Sanktionensystems steht, um eine kulturelle Frage. Wie steht es mit unserer Rechtskultur und unserer Kultur überhaupt?
Wir beide sind Franken, Herr Kollege Geis. Aber Sie wissen auch, daß es im Mittelalter praktisch nicht möglich war, als Kaufmann von Bamberg nach Nürnberg zu reisen, ohne die Furcht zu haben, überfallen zu werden. Man mußte jedem Kaufmann Reisige beigeben, denn es bestand die Gefahr, daß der Kaufmann irgendwo bei einem Ritter in Gößweinstein gelandet ist und dieser um Lösegeld nachgesucht hat. Wenn das nicht klappte, dann gab es grausame Maßnahmen.
Und wie steht es heute? Bei allen Schwankungen der Kriminalität, es ist generell doch wohl eine Besserung eingetreten. Damals aber gab es nicht nur die Todesstrafe, sondern die Todesstrafe in vielfältigen Formen. Die Leute wurden aufs Rad geflochten, die Leute wurden geteert, sie wurden ertränkt. Es hat alles nichts genutzt. Das heißt, der Weg der Vergrausamung hilft nichts.
Wir müssen suchen, ob wir andere Maßnahmen finden, die Delinquenten dazu zu bringen
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- wir werden noch länger suchen -, zu lernen, daß sich kriminelle Handlungen nicht lohnen.
Ich darf nur ganz kurz auf die Geschichte der Todesstrafe verweisen.
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Sie wissen, daß bei der Begründung des Reichsstrafgesetzbuchs 1871 in zweiter Lesung die Mehrheit für eine Abschaffung der Todesstrafe votiert hatte. Erst in dritter Lesung gabe es eine knappe Mehrheit für die Todesstrafe. Warum? Weil einige Länder sagten: Das machen wir nicht mit. Und nur wegen dieser Hardliner kam die Todesstrafe ins Strafgesetzbuch. Gebracht hat sie gar nichts.
Abgeschafft wurde sie, wie Sie wissen, erst 1949 mit dem Grundgesetz. Und wir sind froh, daß wir sie abgeschafft haben.
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- Genauso.
Wenn Sie etwas zur Strafaussetzung zur Bewahrung sagen, verweise ich darauf, daß wir diese auch erst seit 1952 haben. Ich glaube, Sie sind mit mir der Auffassung, daß es gut war, diese einzuführen. Denn wir können damit erreichen, daß viele kleine Täter nicht in die Gesellschaft großer kommen, weil sie sonst mit den gefährlicheren einsitzen müssen.
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Wenn Sie in der Literatur nachlesen, finden Sie: Damals, als die Strafaussetzung zur Bewährung eingeführt wurde, gab es in etwa dieselben Anwürfe wie heute, wo wir sagen, als dritte Schiene sollte der Täter-Opfer-Ausgleich eingeführt werden.
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Wir haben allemal Widerstände zu überwinden, wenn wir den Versuch unternehmen, den Strafvollzug oder die Strafen humaner zu gestalten, um damit die Kriminalität zu verändern.
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Ich denke, es steht uns gut an, wenn wir nicht nur vom Tagesgeschäft leben, sondern etwas längerfristig denken,
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nämlich über die nächste Rede am Sonntag gegenüber unseren Wählern und auch über die Legislaturperiode hinausdenken.
Sie haben darauf verwiesen, daß wir uns eigentlich mehr um die Frau auf der Straße kümmern sollten ({10})
- Sie wissen doch gar nicht, was ich sagen will. - Sie meinen, daß wir mehr an die Frau denken sollten, der die Handtasche gestohlen oder gewaltsam weggenommen wird, oder daran, daß es Straßen gibt, in die sich Leute nicht mehr hineintrauen. Genau daran denken wir. Das hat aber mit der heutigen Frage der Fortentwicklung des strafrechtlichen Sanktionensystems nichts zu tun.
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- Sie sind etwas voreilig mit Ihren Worten. Sie sollten etwas gelassener und zurückhaltender sein, Herr Geis.
Wir haben dazu eine Große Anfrage eingebracht, und eine weitere kommt. Die eine Große Anfrage, das wissen Sie ganz genau, ist die zu Massenkriminalität, wo wir ganz präzise Fragen zu dem Thema, das Sie hier aufgeworfen haben, stellen. Und wir werden entsprechende Fragen zur organisierten Kriminalität stellen,
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weil wir auch bezüglich dieses Punktes die größte Sorge haben. Nur: nicht zum Thema des heutigen Tages.
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Zumindest haben wir zunächst einmal die Große Anfrage eingebracht. Und wenn die Bundesregierung geantwortet hat,
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haben wir das Recht, nach der Geschäftsordnung zu verfahren und eine Debatte zu verlangen. Die haben wir. Insoweit haben wir die Möglichkeit, diese Debatte dem Thema nach zu bestimmen. Ihnen ist es vorbehalten geblieben zu sagen: Nein, ich will über etwas anderes reden.
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Aber das ist Ihr, nicht unser Bier. Herr Kollege Geis, es ist ja gut, wenn wir eine Dialog pflegen, aber das sollten wir in dieser Debatte vielleicht nicht andauernd tun.
Mir kommt es auf folgendes an: Frau Ministerin, es war in unserer Strafrechtsgeschichte eigentlich so - zumindest in der Neuzeit seit von Liszt -, daß das Jugendstrafrecht Vorreiter in der Reformbewegung war. Wir haben das JGG bisher schon einmal geändert, aber Sie selbst wissen: Die große Reform bleibt aus. Zum Teil urteilen unsere Richter heute schon am Geist des alten JGG vorbei - ich sage: mit Recht -, weil sie sich modernerer Methoden befleißigen und wissen, daß es einfach nicht angeht, junge Menschen ins „Loch" zu stecken. Ich sage noch etwas, mit einem Seitenblick auf Herrn Geis: Wir wissen, was es bedeutet, wenn 14- bis 16jährige in Untersuchungshaft gelangen. Nirgendwo ist die Selbstmordrate höher als bei diesen Jugendlichen. Das dient der Eindämmung der Kriminalität überhaupt nicht.
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Wir müssen hier andere Methoden entwickeln und sehr viel vorsichtiger vorgehen.
Deswegen sage ich, Frau Ministerin: Die wirkliche Reform unseres Jugendgerichtsgesetzes ist nicht nur fällig, sie ist überfällig. Sie muß eine Vorreiterrolle für die Fortbildung des Sanktionensystems spielen.
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Wir haben den Täter-Opfer-Ausgleich zum Teil schon im JGG verankert. Ich meine, Sie sollten es wagen, einen größeren Schritt bei der Reform des JGG zu tun, und dann das weitere Wagnis eingehen, auch in das Strafgesetzbuch etwas hineinzuschreiben, von
dem man wirklich sagen kann: Wir fangen damit an, eine dritte Schiene im staatlichen Sanktionensystem einzurichten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, uns Sozialdemokraten geht es bei der heutigen Debatte nicht um l'art pour l'art. Wir wissen auch, was die Bevölkerung in bezug auf den Anstieg der Kriminalität denkt. Ich glaube, daß dieser Anstieg andere Ursachen hat und daß wir diese Ursachen an anderer Stelle debattieren sollten. Uns geht es darum, im Verlauf der Reformgeschichte wieder ein Mosaiksteinchen einzusetzen und uns allen bewußt zu machen, daß wir den Mut fassen sollten, hier weiter voranzugehen. Stagnieren wir, so überholt uns die Wirklichkeit. Ich meine, das steht einem demokratischen Staat, der ja human sein will, nicht gut an.
Vielen Dank.
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Nun spricht die Bundesministerin der Justiz, Frau Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr de With, um sogleich zu dem Punkt zu kommen, den Sie angesprochen haben, nämlich zur Reform des Jugendstrafrechts: Auf dem letzten Jugendgerichtstag in Regensburg, auf dem ich - neben anderen Vertretern - geredet habe, habe ich sehr deutlich und unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, für wie wichtig ich gerade diese Reform halte und daß ich das Meine dazu beitragen will, auf diesem Weg weiterzukommen und das, was sich als sinnvoll erwiesen hat, in unser Sanktionensystem einzubauen. Voraussetzung dafür ist jedoch, daß wir über die erforderlichen Erkenntnisse im Hinblick auf eine tatsächliche Anwendung verfügen.
Ich halte es auch für notwendig - so wie es die SPD-Fraktion in ihrer Großen Anfrage formuliert hat -, kontinuierlich zu überprüfen, ob das strafrechtliche Sanktionensystem den gesellschaftlichen Notwendigkeiten noch hinreichend Rechnung trägt oder ob geänderte Rahmenbedingungen Weiterentwicklungen des Sanktionenkatalogs notwendig machen. Ich glaube, daß sich kein Mitglied dieses Hauses einer solchen Prüfung verschließen kann und verschließen wird. Herr Ullmann hat diesen Konsens, der eigentlich von allen hier vertretenen Fraktionen und Gruppen getragen wird, nach meiner Auffassung zutreffend zum Ausdruck gebracht.
Nur, das Ergebnis dieser Überlegungen - auch das ist in den Beiträgen meiner Vorredner angeklungen - wird wohl höchst unterschiedlich ausfallen: Während sich die einen für eine deutliche Entkriminalisierung aussprechen werden, werden andere eher eine Verschärfung des Strafrechts, auch des Sanktionsrechts, fordern oder ihr das Wort reden.
Vor dem Hintergrund der rechtsextremistischen und fremdenfeindlichen Gewalttaten scheinen diejenigen, die nach härteren Strafen rufen und dafür erweiterte Sanktionsmöglichkeiten fordern, im Moment die besseren Argumente für sich zu haben. Es ist, die verabscheuungswürdigen Gewalttaten dieses und des letzten Jahres vor Augen, auf den ersten Blick nur schwer verständlich, sich z. B. für die grundsätzliche Zurückdrängung von Freiheitsstrafen einzusetzen, obwohl doch allein die vollzogene Freiheitsstrafe die richtige Antwort auf die verheerenden Gewalttaten zu sein scheint.
Auch ich habe mich ausdrücklich für eine konsequente und unnachgiebige Ahndung der begangenen Gewalttaten stark gemacht. Dennoch kann das nicht bedeuten, daß wir jetzt eher zu einer Verschärfung des Sanktionsrechts kommen müßten, die zwangsläufig ein Mehr an Freiheitsstrafen bedeutet. Es darf auch nicht dazu führen, daß wir uns den notwendigen Fragen der Entkriminalisierung und des maßvollen Einsatzes staatlichen Strafens entziehen.
Damit hier keine Mißverständnisse aufkommen: Ich trete selbstverständlich dafür ein, daß der Staat auf die Verletzung wesentlicher strafbewehrter Regelungen des menschlichen Zusammenlebens wehrhaft reagieren muß. Ich bin aber auch davon überzeugt, daß das geltende Sanktionenrecht zur Zeit grundsätzlich ein rechtsstaatliches, hinreichend differenziertes und praktikables System ist, das angemessene staatliche Reaktionen erlaubt. Dies hat auch schon in der Vergangenheit Ergänzungen in Teilbereichen nicht ausgeschlossen, und das wird auch in der Zukunft nicht der Fall sein.
Ich denke in Übereinstimmung mit dem Deutschen Juristentag insbesondere daran, die Verwarnung mit Strafvorbehalt durch eine Änderung ihrer Voraussetzungen, aber auch durch eine Modifizierung des Weisungs- und Auflagenkatalogs so auszugestalten, daß sie in weiterem Umfang als bisher sinnvoll Anwendung finden kann.
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Zu denken wäre insoweit insbesondere an Fälle, in denen eine Verurteilung des mittellosen Täters zu einer Geldstrafe eher desozialisierend wirken würde.
Es erscheint mir auch sinnvoll, zu überprüfen - das ist ja von allen Rednern angesprochen worden -, ob und inwieweit dem Gedanken des Täter-Opfer-Ausgleichs und der Schadenswiedergutmachung, der bereits in das Jugendstrafrecht Eingang gefunden hat, auch im Bereich des Erwachsenenstrafrechts ein größeres Gewicht eingeräumt werden kann. Ich glaube, Ihre Kritik zielte ja darauf ab, zu sagen: Es ist zwar ein kleiner Schritt getan worden, aber das ist noch nicht der entscheidende Schritt. - Das liegt nicht daran, daß auf seiten der Bundesregierung Böswilligkeit vorhanden wäre,
({1})
sondern es liegt mit daran, daß eine umfassende Auswertung der vorliegenden praktischen Erfahrungsberichte eben noch keine abschließende Beurteilung zuläßt, ob und wie eine Änderung der derzeitigen Rechtslage erforderlich ist. Denkbar wäre in diesem Zusammenhang auch eine stärkere Berücksichtigung im Rahmen der Strafzumessung oder im
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Bereich der Entscheidung über eine Strafaussetzung zur Bewährung.
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Vor dem Hintergrund des Anstiegs der organisierten Kriminalität und der Wirtschaftskriminalität ist es auch angezeigt, für eine effektivere Abschöpfung von Verbrechensgewinnen Sorge zu tragen. Hinzuweisen ist insoweit auf die Novelle zum Außenwirtschaftsgesetz, durch die bereits das sogenannte Bruttoprinzip beim Verfall eingeführt wurde. Weiter ist das Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität zu nennen, durch das die Vermögensstrafe und der erweiterte Verfall in das Gesetz aufgenommen wurden. Ich glaube, gerade die aktive Beteiligung der Bundesregierung - und insbesondere meines Vorgängers - an der Beratung der zu diesem Bereich vorgelegten Gesetzentwürfe hat nachher doch zu einer Fassung geführt - sie ist am 22. September letzten Jahres in Kraft getreten -, die die breite Zustimmung dieses Hauses gefunden hat.
Darüber hinaus ist mein Haus auch mit den Vorarbeiten für eine umfassende Reform der Vorschriften über Verfall und Einziehung befaßt.
Ich warne allerdings davor, in der einen wie in der anderen Richtung überstürzt und leichtfertig Positionen in Frage zu stellen oder gar aufzugeben, die einen mühsam errungenen gesellschaftlichen Konsens über das widerspiegeln, was staatliches Strafen wirklich leisten kann. Das geltende Strafrecht muß auch in besonderen Situationen, wie wir sie jetzt erleben, Gelegenheit haben, sich zu bewähren, ohne daß immer gleich der Ruf erschallt, Strafbarkeitslücken zu schließen oder Bagatellunrecht zu entkriminalisieren, damit sich freiwerdende Justizressourcen der Bekämpfung der eigentlichen Kriminalität zuwenden können.
Daß wir in einigen Bereichen derzeit Vorschläge erarbeiten, die in die Richtung gehen, mit dem Instrument des Strafrechts mehr Schutz zu erreichen, ist auch unstreitig. Ich denke nur an den Schutz der Kinder vor Gewalt, vor Mißbrauch und vor Mißhandlung. Hier versuchen wir gerade mit dem Instrument des Strafrechts und auch der Androhung von Freiheitsstrafen und der Erhöhung von Strafrahmen, zu einer Verbesserung zu kommen.
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Ich glaube, das zeigt die differenzierte Einstellung und die notwendigerweise differenzierten Vorschläge zur Verwirklichung dieses gesellschaftspolitischen Ziels. Insofern bin ich wirklich sehr dankbar für viele Anregungen, die auf Grund Ihrer Großen Anfrage gegeben worden sind. Ich glaube, wir sollten in diesem Dialog und Prozeß der Meinungsbildung fortfahren.
Ich möchte aber zum Schluß auch gerne sagen, daß es mit der Anpassung strafrechtlicher Sanktionen an veränderte Gegebenheiten, an neue Erscheinungsformen der Kriminalität eben allein nicht getan ist. Wir müssen darüber hinaus auch alles tun, um dem
Glauben Einhalt zu gebieten, Kriminalität allein mit strafrechtlichen Sanktionen wirksam und dauerhaft eindämmen zu können. Das Strafrecht ist kein Allheilmittel für sämtliche gesellschaftlichen Probleme. Gerade als liberale Justizministerin sehe ich meine Aufgabe darin, einer Entwicklung entgegenzuwirken, die darauf abzielt, das Strafrecht eher als Patentrezept immer auch dort zu bemühen, wo eigentlich andere Antworten gefordert sind.
({4})
Ich meine, daß eine gute Sozialpolitik die beste Kriminalpolitik ist. Das hat schon ein bekannter Strafrechtslehrer Ende des letzten Jahrhunderts festgestellt. An dieser Erkenntnis hat sich nichts geändert. Ich glaube, wir sollten es zur Aufgabe einer vernünftigen Rechtspolitik machen, daß wir nicht in erster Linie mit Mitteln des Strafrechts Kriminalitätsbekämpfung betreiben, sondern die Analyse und Beseitigung der gesellschaftlichen Ursachen unserer Kriminalität stärker in den Vordergrund rücken.
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Ohne Strafrecht geht es nicht. Mit dem Strafrecht allein ist es aber auch nicht getan.
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- Nein, aber ich glaube, es ist sehr wichtig, daß immer
betont wird, daß wir nicht einseitig den Herausforderungen, denen wir uns ausgesetzt sehen, begegnen.
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- Ja, sie ist in eine Richtung zu einseitig geworden. Deshalb ist es wichtig, das Augenmerk auch noch auf die andere Seite zu richten.
({8})
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht mehr vor. Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zu dem Tagesordnungspunkt 8:
a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes
- Drucksache 12/3487 -Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0})
Sportausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
b) Erste Beratung des von dem Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
Vizepräsidentin Renate Schmidt
eines Gesetzes zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 12/4105 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({1})
Sportausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen, wobei die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zwölf Minuten erhalten soll und dafür auf die Redezeit beim übernächsten Tagesordnungspunkt verzichtet. Besteht darüber Einverständnis? - Dies ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster der Kollegin Ulrike Mehl das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wegen des unvermindert anhaltenden, dramatischen Rückganges heimischer Tier- und Pflanzenarten, der rasanten Zerstörung und Verschlechterung ihrer Lebensräume, des Bewußtseins unserer Verantwortung gegenüber unserer Natur und damit auch dem Lebensraum der heute lebenden Menschen sowie der zukünftigen Generationen hat sich die Bundesregierung entschlossen, ein scharf gefaßtes Naturschutzgesetz vorzulegen. - Das, meine Damen und Herren, wären Sätze, die man von einem Bundesumweltminister erwarten könnte. Statt dessen wird eine Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes seit 1986 angekündigt, danach wieder angekündigt und noch mal angekündigt. Gelegentlich tauchen Referentenentwürfe auf, die inzwischen wie die Drohung einer Novellierung aussehen. Wenn man sich die Entwicklung der Regierungspolitik in bezug auf Umweltschutz ansieht, muß man inzwischen Angst haben, daß Sie Ihr Versprechen wahrmachen.
Im Moment werden nur noch Naturschutzverhinderungsgesetze vorgelegt. Während Bundeskanzler Kohl schon 1987 seine Regierungserklärung unter die Überschrift „Die Schöpfung bewahren - die Zukunft gewinnen" stellte, sorgt er selbst dafür, daß kein wirksameres Naturschutzgesetz in Deutschland zustande kommt. Anscheidend meint er, daß nur Entwicklungsländer die Verpflichtung haben, Natur zu erhalten - wir haben ja kein Geld und keine Zeit dazu. Der Bundesumweltminister wird von dem über Weltnaturschutz lamentierenden Kanzler glatt im Regen stehengelassen und muß gegen wichtige Teile des Kabinetts Kleinkriege führen, wie dies die „Süddeutsche Zeitung" bereits im Oktober 1992 feststellte.
Während es für die Koalitionsparteien scheinbar völlig plausibel, normal und ohne weiteres finanzierbar ist, eine vermeintliche politische Handlungsfähigkeit dadurch unter Beweis zu stellen, daß wir deutsche Soldaten weltweit in Kriege schicken, scheint es für die Handlungsfähigkeit zur Beendigung des deutschen Krieges gegen die Natur unüberwindliche Hindernisse zu geben.
Noch vor wenigen Jahren schmückten sich auch Mitglieder der Koalitionsparteien gerne mit zukunftsweisenden Erkenntnissen zum dringenden Schutz unserer Natur. Heute wissen wir, daß diese Erkenntnisse nicht allzu tief gesessen haben können, höchstens wahrscheinlich bis zur Kopfhaut, und bei dem einen oder anderen ist beim Haarewaschen diese Erkenntnis davongespült worden. Anders ist es jedenfalls nicht erklärlich, warum heute ungeniert Kanonen gegen den Naturschutz aufgefahren werden. Im übertragenen Sinne formuliert: Wenn ich weiß, daß mir mein Haus abbrennt, wenn ich ein noch relativ kleines Feuer auf meinem Teppich nicht lösche, sondern es brennen lasse, dann ist doch nach gesundem Menschenverstand zu erwarten, daß das Feuer wirklich ausgemacht wird. Die westliche Welt tut dagegen so, also könnte sie ohne ihr Haus Erde leben, und brennt es ab, und die Bundesregierung macht in diesem Reigen mit. Diese Selbstzerstörungstendenzen sind für mich ein Phänomen, das für mich unerklärlich ist. Vielleicht haben Sie ja Erklärungen dafür. Nun zu den wichtigsten Punkten unseres Gesetzentwurfes.
Stichwort: Ziel des Naturschutzes. Schon die Formulierung des § 1 zeigt, wo unsere unterschiedlichen Sichtweisen liegen. Während wir erkannt und in das Gesetz hineinformuliert haben, daß die Menschen Teil der Natur sind und daß Natur darüber hinaus auch ein Recht auf Leben hat, geht die Bundesregierung nach dem Motto: Mach dir die Erde untertan - und das ist leider auch Praxis.
Beim Stichwort Landwirtschaft werden sich bei einigen möglicherweise die Nackenhaare aufstellen, weil diese wahrscheinlich die Hauptursache dafür ist, daß der Entwurf von Herrn Töpfer nicht auf den Tisch kommt. Daß die Formulierung in § 1 Abs. 3 - „Die ordnungsgemäße Land- und Forstwirtschaft dient den Zielen des Naturschutzgesetzes" - der Realität entspricht, wird ja wohl heute keiner mehr ernsthaft behaupten wollen. Deshalb muß Abs. 3 ersatzlos aus dem Gesetz gestrichen werden.
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat schon in seinem Sondergutachten 1985 der Bundesregierung klarzumachen versucht, daß diese Form der Landwirtschaft das Gegenteil von Naturschutz ist. Aber solche Gutachten scheinen bei der Bundesregierung keine allzu große Wirkung zu haben. Jeder kleine Handwerksbetrieb muß sich an Abfall-, Abwasser- und sonstige Gesetze und Auflagen zum Schutz der Umwelt halten, nur die Landwirtschaft kann machen, was sie will, oder muß machen, was sie will oder nicht will. Statt eine zukunftsorientierte, umweltverträgliche Landwirtschaftspolitik zu betreiben, wird einfach der Naturschutz verhaftet: Entweder ihr zahlt, oder wir machen weiter so mit der Naturbelastung. Daß die Landwirtschaft der größte Naturbelaster ist, können Sie dem eben genannten, 1985 vorgelegten Gutachten entnehmen. Die Folgen einer miserablen Landwirtschaftspolitik sollen jetzt vom Naturschutz ausgeglichen werden. Das kann ich ja nun wirklich nicht gutheißen.
Wenn die Landwirtschaft den Bach runtergeht, hat dies überhaupt nichts mit scharfem Naturschutz zu tun, sondern mit der zuständigen Landwirtschaftspolitik. Deshalb müssen die Probleme der Landwirtschaft eben auch dort und nicht im Naturschutz gelöst werden. Aber Naturschutz scheint ja ein Luxusthema zu sein; deshalb braucht sich ja auch kein Politikbereich in Bonn ernsthaft damit zu befassen, außer man kann Geld herauspressen, wie es die Landwirtschaft versucht. Das wäre übrigens auch unlogisch, denn dann müßte das BMU mit entsprechenden Mitteln ausgestattet werden. Genau das Gegenteil ist der Fall.
({0})
Das Bundesnaturschutzgesetz hat die Aufgabe, für Naturschutz zu sorgen, und wenn es maßgebliche Bereiche gibt, die die Erfüllung des Gesetzes torpedieren, müssen dafür Regelungen getroffen werden. In § 2 haben wir die Pflichten der Landwirtschaft beschrieben. Es ist Sache der Landwirtschaftspolitik, die Landwirte in die Lage zu versetzen, auch dieses Gesetz zu erfüllen.
Stichwort: Eingriffe. Das ist ja nun wirklich ein aktuelles Thema und belegt den eisernen Willen der Bundesregierung, Naturschutz zu verhindern. Frau Schwaetzer hat anscheinend von der Landwirtschaft gelernt und hat ebenfalls den Naturschutz verhaftet. Sie hat einfach in schöner Regelmäßigkeit wiederholt, daß Naturschutz den Wohnungsbau verhindert, bis der letzte in Ihren Reihen das auch geglaubt hat, und die Herrschaften waren vielleicht auch froh, einen Feind ausgemacht zu haben, noch dazu einen, der sich nicht wehren kann. Andernfalls wäre nämlich aufgefallen, daß wohl eher die Bundeswohnungsbaupolitik der vergangenen zehn Jahre die wahre Ursache für die Wohnungsnot ist.
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Nach dieser psychologischen Vorbereitung wird die eigentliche Exekution in Blitzeseile in Form eines Gesetzes zur Erleichterung von Investitionen und der Ausweisung und Bereitstellung von Wohnbauland aus dem Hut gezaubert. Das hat die Bundesregierung nun wirklich schnell hinbekommen, und scheinbar gab es dafür auch keine ernsthaften Hürden. Eine Naturschutzgesetznovellierung dagegen ist ein scheinbar unlösbares Problem. Übrigens ist in Niedersachsen das Gegenteil von Behinderung durch Naturschutz festgestellt worden. Von 2 462 eingereichten Bebauungsplänen in der Zeit zwischen Juni 1990 und Mai 1992 sind nur 21, das sind 0,85 %, aus ökologischen Gründen abgelehnt worden.
Das Handeln der Bundesregierung in dieser Sache wäre noch nachzuvollziehen, wenn das eigentliche Ziel, nämlich schnell mehr Wohnungen zu bekommen, so erreicht würde. Aber genau das steht nicht zu erwarten. Dies war den Expertenanhörungen in den letzten zwei Wochen zu diesem Gesetzentwurf ziemlich deutlich zu entnehmen. Vielmehr habe ich den Eindruck, daß stellenweise blinder Aktionismus herrscht; denn im Januar 1993 war im „Spiegel" zu lesen, daß der Sprecher des Bayerischen Gemeindetages festgestellt hat, daß in Bayern derzeit 380 Millionen m2 Bauland für ca. 930 000 Wohnungen vorhanden sind. Ähnliches soll bereits 1988 ein Gutachten unter Oscar Schneider, dem damaligen Wohnungsbauminister, festgestellt haben. In den alten Bundesländern scheint es also genügend Wohnbauland zu geben, in den neuen dagegen liegt das Problem doch wohl mehr in den ungeklärten Besitzverhältnissen, für die diese Bundesregierung sehr erfolgreich gesorgt hat. Mit Ihrem Gesetz werden Sie an der Wohnungsnot voraussichtlich nichts Gravierendes ändern, aber Sie werden erfolgreich den Naturschutz schädigen.
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Stichwort: Verbandsklage. Was Sie von der Beteiligung der Öffentlichkeit halten, bekommen wir in dem soeben genannten Gesetzeswerk nun auch vorgelegt. Sie planen lieber nur noch hinter verschlossenen Türen, weil die Öffentlichkeit Sie ja nur behindert. Wenn Sie regieren, müssen Ihre politischen Entscheidungen eben entgegengenommen werden, Sie tun ja nur das Richtige fürs Volk. Damit Sie dabei nicht gestört werden, fragen Sie lieber nicht nach, was das Volk wollen könnte, und deshalb scheuen Sie auch die Einführung der Verbandsklage.
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Ich glaube, daß Sie die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, ob einzeln oder in Verbänden organisiert, die Bereitschaft und die Fähigkeit, politische Entscheidungen mitzugestalten, unterschätzen. Sicher sind da auch manchmal Egoismen treibende Kraft. Aber ist es denn nicht auch das Recht der hier lebenden Menschen, über die Gestaltung ihres Umfeldes mitzubestimmen?
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Warum wollen Sie nicht den Umweltverbänden, die dazu in der Lage sind, die rechtlichen Möglichkeiten geben, in Planungen einzugreifen?
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Das könnten die Verbände doch nur dann, wenn die Planung in irgendeiner Weise fehlerhaft ist. Dann einzugreifen kann doch nicht falsch sein.
Die Bundesländer, die die Verbandsklage haben, sind damit durchaus zufrieden. Es gab weder eine Prozeßflut noch andere verzögernde Probleme.
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Im Gegenteil, die frühzeitige ernsthafte Beteiligung der Öffentlichkeit räumt ebenso frühzeitig Probleme aus. Sie können doch nicht im Ernst annehmen, daß die Akzeptanz von Planungen dadurch steigt, daß Sie diese Planungen der Öffentlichkeit vorenthalten. Wenn sich die Öffentlichkeit auf der Basis von Gerüchten gegen Projekte organisiert, garantiere ich Ihnen nachhaltige Schwierigkeiten, und die Regierung möchte ich sehen, die es politisch durchhält,
Einzelprojekte dauerhaft gegen die eigene Bevölkerung durchzusetzen.
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Ich meine, daß die Umweltverbände in aller Regel hochqualifizierte Arbeit leisten, ohne die wir im Umwelt- und Naturschutz heute noch sehr alt aussähen. Ich hoffe, daß diese Verbände mit verhindern, daß diese Bundesregierung den Naturschutz endgültig einstampft.
Stichwort: Biotopverbundsystem. Diese Vokabel muß wohl Anklang gefunden haben; das Wort ist nämlich auch in dem Entwurf von Herrn Töpfer enthalten.
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Sie konnten sich nur leider nicht dazu durchringen, Nägel mit Köpfen zu machen. Naturschutz braucht Fläche. Deshalb verpflichten wir die Länder, mindestens 10 % der Fläche dem Naturschutz zur Verfügung zu stellen. Dabei muß das Instrument der Landschaftsplanung eine sehr wichtige Rolle spielen. Sie muß flächendeckend erfolgen, und ihre Inhalte müssen - unter Abwägung anderer Belange natürlich - in die Bauleitplanung übernommen werden. Die stiefmütterliche Rolle der Landschaftsplanung als einziger Fachplanung der Naturschutzbelange muß endlich aufhören, und das versuchen wir mit dieser Regelung.
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- Das habe ich, ich bin Landschaftsplanerin.
Das letzte Stichwort heißt Artenschutz. Wenn wir im nationalen und internationalen Artenschutz endlich einmal über den Gedanken des Handels hin zu Schutz kämen, wäre schon viel gewonnen. Dann könnten wir sicher auch Mehrheiten dafür finden, daß auf Artenlisten nur solche Arten vorkommen, die zum Handel freigegeben sind, weil der Handel mit ihnen ihren Bestand nicht gefährdet. Statt dessen werden die traurigen Listen der gefährdeten Arten immer länger, und der Jammer darüber bleibt. Mit diesen Endloslisten, die die in der Verwaltung Handelnden gar nicht mehr überblicken können, wird nie eine wirksame Kontrolle des Artenschutzes und des Artenhandels möglich sein. Deshalb müssen sogenannte Positivlisten her, wie dies auch die Umweltverbände richtigerweise fordern.
Abschließend möchte ich noch einmal festhalten: Es handelt sich hier urn eine Novellierung des Naturschutzgesetzes. Alle, die von diesem Thema etwas verstehen, wissen, daß solch ein Gesetz allein die Natur nicht schützen kann, schon gar nicht, wenn es ein Rahmengesetz ist. Vielmehr müssen alle Handelnden die Erkenntnis und Überzeugung haben, daß wir alle unsere Natur schützen müssen. Deshalb hat es natürlich eine fatale Wirkung, wenn die Bundesregierung vormacht, daß man auf dem Naturschutz einfach herumtrampeln kann - Natur können wir uns eben nicht leisten. Polen, ein Land, das im Vergleich zu uns sicher nicht als reich bezeichnet werden kann, macht es uns vor. Ein Gebiet von rund 13 % des gesamten Landes soll unter Naturschutz gestellt werden. Sicherlich hat Polen im Süden auch Flächen, die genau das Gegenteil sind, aber aus dieser Erkenntnis haben die Polen gelernt. Auch sie könnten eine Industrierevolution der Landwirtschaft im Norden ihres Landes anstreben und durchführen, aber genau das tun sie nicht. Sie wollen die Natur erhalten, die sie noch haben.
Im Vergleich zu dem, was wir von ärmeren Ländern in dieser Sache fordern, finde ich es peinlich, wie diese Bundesregierung in Deutschland die Natur, von der letztendlich auch wir leben, in die Ecke der völligen Bedeutungslosigkeit drückt. Herr Töpfer, hauen Sie endlich einmal auf den Tisch!
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Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das im Jahr 1976 verabschiedete Bundesnaturschutzgesetz leistete bisher leider keinen wesentlichen Beitrag, die anthropogene Naturzerstörung aufzuhalten. Die bislang einzige Novellierung des Gesetzes im Jahre 1986 brachte nur eine marginale Verbesserung im restriktiven Artenschutz. Den Ursachen der Ökosystemzerstörung durch die Nutzung der Naturgüter Arten, Boden, Wasser und Luft wird das geltende Gesetz mit seinen Regelungen keinesfalls gerecht. Die bisherigen Regelungen reichen nicht aus, umweltbelastende und naturzerstörende Effekte der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft zu vermeiden oder weiteren Flächenverbrauch durch Siedlungsmaßnahmen oder Straßenbau zu verhindern. Ich glaube, das ist, wenn ich auch den Pressemitteilungen meiner Kollegen folgen kann, zumindest von der Tendenz her Konsens.
Das Bundesnaturschutzgesetz stellt zur Zeit lediglich eine Vorschrift dar, die bestimmte Arten vor dem direkten Zugriff, beispielsweise durch Nachstellung, Einfangen, Abpflücken oder Ausreißen, schützen soll, und zwar nur seltene oder bedrohte Arten, wobei erst einmal der wissenschaftliche Beweis der Bedrohung einer Art erbracht werden muß. Selbst in dieser engen Zielbestimmung des Schutzes vor dem Zugriff auf bestimmte Arten ist das Gesetz in seiner Wirksamkeit dadurch geschwächt, daß bestimmte Arten dem Geltungsbereich dieses Gesetzes entzogen und dem Jagdrecht unterstellt werden.
Die entscheidende Schwachstelle im geltenden Gesetz ist aber die Tatsache, daß vor allem land- und forstwirtschaftliche Bodennutzung von den Regelungen dieses Gesetzes generell freigestellt wird. So kann es zu der grotesken Situation kommen, daß das Abpflücken einer Orchidee bei Strafe verboten ist, die Umwandlung ihres Standorts in Ackerland und damit die Vernichtung ihres Lebensraums ohne Sanktionen bleibt und schon gar nicht verhindert wird.
Als besonders problematisch erweist sich der Umstand, daß das geltende Gesetz als Nachsorgegesetz konzipiert ist. Die gegenwärtige Ausrichtung des Bundesnaturschutzgesetzes schreibt vor, daß Tiere und Pflanzen nur dann zu schützen sind, wenn sie für den Menschen von Nutzen sind. Diese Auffassung, die in verschiedenen Bewertungen des geltenden Gesetzes zum Ausdruck kommt, geht aber an wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Funktionen und Wirkungsgefüge von und in Ökosystemen völlig vorbei
({0})
und unterstellt, daß einige der 48 000 einheimischen Arten entbehrlich sind. - Herr Kollege, wenn Sie die wissenschaftliche Literatur verfolgen würden, würden Sie wissen, daß das Stand der Wissenschaft ist. - Es kann nicht sein, daß wir auf einzelne Arten einfach verzichten. Dies würde die Funktionsfähigkeit von Ökosystemen und ihre nachhaltige Beständigkeit in Frage stellen.
Will ich also die Reden des Bundeskanzlers und des Bundesumweltministers, die sie in Rio gehalten haben, in nationales Recht umsetzen,
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ist meines Erachtens ein neugestaltetes Bundesnaturschutzgesetz mehr als notwendig.
Der Bundesnaturschutzminister hat seit Jahren ein entsprechendes Gesetz angekündigt, aber nichts ist passiert. Ich glaube ihm ja, daß er es gewollt hat, aber auch, daß ihm die die Wirtschaft absolut bevorzugende Strategie seiner eigenen Parteifreunde im Kabinett einen Strich durch die Rechnung macht. Ihm ist für ein neues, besseres Naturschutzgesetz das bestehende Gesetz nämlich selbst im Wege. Aus diesen Gründen muß also wieder einmal die Opposition die Vorreiterrolle spielen und eine vollständige Neukonstruktion des Bundesnaturschutzgesetzes vorlegen. Ich glaube, daß einzelne Änderungen nicht ausreichen werden.
Zu unserem Gesetzentwurf gehört die Einführung eines biozentrischen Zielbestimmungsmodells und die Gewährung eines Schutzes an sich für die Naturgüter. Wenn einige Kollegen bereits im Vorfeld gespottet haben und sagen, der Feige will wieder zurück in den Urwald,
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dann muß ich sagen: Das verkehrt die Intention des Ansatzes völlig in das Gegenteil. Es ist lediglich der Versuch, tatsächlich die, die am schwächsten sind, einmal in das Zentrum der Betrachtung zu setzen. Ausgehend von einem solchen Modell können auch sachgerechte und fachliche Diskussionen um andere Gesetzesbereiche erfolgen. Wir müssen bei der Zielbestimmung eines Bundesnaturschutzgesetzes zukünftig davon ausgehen, daß der Schutz der Natur an sich ein Menschenrecht ist.
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- Ich unterstelle überhaupt nichts. Ich versuche, wirklich sachlich ein Gesetz zu begründen. Ich bitte Sie, das einfach probeweise zur Kenntnis zu nehmen.
Unser Gesetzentwurf legt die Ziele und Grundsätze fest, wonach die Naturgüter Tiere, Pflanzen, Boden, Wasser, Luft und Klima dauerhaft geschützt und auch dauerhaft genutzt werden können. Das heißt, das Bundesnaturschutzgesetz soll Leitgesetz für alle relevanten Gesetze werden, die die Nutzung von Naturelementen bzw. ihren Schutz regeln und nicht ausschließen. Das unterstellen Sie vielleicht mit den Ängsten, die Sie haben. Ich glaube, nur so läßt sich konsequent das Vorsorge- und Vorbeugeprinzip durch Rechtsvorschriften realisieren.
Des weiteren streben wir folgende grundlegende Änderungen im Bundesnaturschutzgesetz an: Die Ziele sowie die Grundsätze des Naturschutzes und der Landschaftspflege müssen im Sinne einer biozentrischen Zielbestimmung neu definiert werden. Auf Grund des Fehlens einer grundgesetzlichen Zielbestimmung hinsichtlich des Natur- und Umweltschutzes wird eine entsprechende Regelung für das allgemeine Verhalten in der Natur eingeführt. Wir definieren, was eine natur- und umweltgerechte land-, forstund fischereiwirtschaftliche Naturnutzung unter dem Aspekt Umwelt- und Naturverträglichkeit leisten müssen.
Als eines der wichtigsten Naturschutzinstrumentarien im Sinne des Vorbeuge- und Vorsorgeprinzips fassen wir die Landschaftsplanung und ihr Verhältnis zu anderen raumbedeutsamen Planungen verbindlich und flächendeckend den Anforderungen an modernen Naturschutz entsprechend auf. Eingriffe in den Naturhaushalt werden neu und weniger unscharf definiert und einer umfassenden Neuregelung unterworfen. Insbesondere müssen die rechtlichen Regelungen für die Untersagung von Eingriffen präziser gefaßt werden. Dazu schlagen wir Regelungen für die Flächensicherung, für den Naturschutz und deren Nutzung, den Arten- und Biotopschutz sowie die Pflicht für den Bundesumweltminister zur periodischen Umweltbeobachtung mit regelmäßiger Berichterstattung vor.
Nicht zuletzt ist angesichts der aktuellen Trends der beschleunigten Gesetzgebung - wir haben es gestern im Umweltausschuß wieder einmal erlebt, wie schnell so etwas durch die Koalitionsparteien durchgedrückt werden kann - die Verbesserung der Mitwirkungsrechte der Verbände sowie die Einführung des überfälligen Verbandsklagerechtes für anerkannte und nach diesem Gesetz zu beteiligende Verbände notwendig. Wir wollen uns nichts vormachen. Viele von uns arbeiten in diesen Verbänden mit und wissen auf diese Art und Weise, wie wichtig ein Verbandsklagerecht für die Aufrechterhaltung demokratischer Verhältnisse ist.
Ziel dieses Gesetzes ist es weiter, Naturgüter um ihrer selbst willen zu erhalten und die Nutzung von Natur und Landschaft im besiedelten und unbesiedelten Bereich so zu gestalten, daß erstens der Bestand, die Qualität und ökologische Funktion der Medien Boden, Wasser, Luft und Klima erhalten bleibt oder verbessert wird, zweitens die freilebende Tier- und
Pflanzenwelt in ihrer genetischen Vielfalt erhalten und gefördert wird sowie in ihrer natürlichen geographischen und ökologischen Verbreitung gesichert wird, drittens die Regenerationsfähigkeit, Funktionsfähigkeit und nachhaltige Nutzungsfähigkeit der Naturgüter Arten, Boden, Wasser, Luft gesichert ist.
Unser Gesetzentwurf zielt darauf, daß die Vielfalt von Organismen und Biotopen in ihrer Einzigartigkeit und Schönheit bewahrt wird und Ökosysteme als komplexe Gebilde vielfältiger zwischenartlicher Interaktionen als funktionsfähige, selbstregulierende Systeme erhalten oder wiederhergestellt werden. Nur das ist dann Natur.
Unsere Erfahrungen und, wie ich glaube, auch die der an der Vorbereitung des Gesetzentwurfs beteiligten Verbände, wie BUND, Naturschutzbund Deutschland, Deutscher Naturschutzring und die Grüne Liga - die es vor allem in den neuen Bundesländern gibt - zeigen uns, daß man sehr gut zusammenarbeiten kann, wenn man bei einem Gesetzentwurf bereits in der frühesten Phase die Verbände in die Erarbeitung integriert, so daß in diesem Sinne etwas Überkreisendes - was auch für die Verbände nicht immer normal ist - zustandegekommen ist. So lassen sich die Ziele unseres Naturschutzes und der Landschaftspflege unter anderem nach folgenden Grundsätzen verwirklichen:
Erstens. Schädliche Einwirkungen auf den Naturhaushalt sind zu vermeiden. Unvermeidbare Einwirkungen sind soweit zu verringern, daß auch empfindliche Bestandteile des Naturhaushaltes und insbesondere der natürliche Aufbau sowie die chemische Zusammensetzung der Atmosphäre nicht geschädigt werden. Unvermeidbare Beeinträchtigungen sind in vollem Umfang auszugleichen. Ich glaube, daß das Investitionserleichterungsgesetz, wodurch gerade das in den neuen Ländern für fünf Jahre ausgehebelt werden soll, nicht im Sinne eines uns sicherlich gemeinsam berührenden Naturschutzes sein kann.
Zweitens. Die weitere Inanspruchnahme von Landschaft für Bau- und Siedlungszwecke, für industrielle, infrastrukturelle und militärische Zwecke sowie für Zwecke des Sports sind - Sie werden vermuten: untersagt; aber nein, so etwas wollen wir nicht -, nur nach eingehender Bedarfs- und Umweltverträglichkeitsprüfung zulässig und insgesamt auf ein unumgängliches Maß zu beschränken. Auch das läuft gegen den Trend der von der Koalitionsparteien vorgelegten Gesetze.
Drittens. Die Naturgüter sind, soweit zulässig, sparsam zu nutzen. Sie dürfen nur so weit genutzt werden, wie sie nicht durch andere Güter ersetzt werden können und ihre Nutzung keinen nachhaltigen Schaden am Naturhaushalt bewirkt.
Viertens. Im besiedelten Bereich sind natürliche oder naturnahe Elemente wie Grünflächen, Parks, Gärten, Wälder, Baumgruppen und Alleen zu erhalten.
({4})
- Herr Gallus, Ihre Arbeit in den letzten Jahren hat
auch ein bißchen dazu beigetragen, daß ich mich
heute mit solch einem Gesetzentwurf hier vorstellen muß.
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Fünftens. Der Boden in seiner belebten Humus-schicht, in seiner Substanz und in seinen spezifischen ökologischen Funktionen ist zu schützen, zu pflegen und zu entwickeln.
Sechstens. Gewässer einschließlich der Uferzonen sind zu erhalten oder zu renaturieren. Sie sind insbesondere durch die Erhaltung und Anlage natürlicher und naturnaher Uferrandzonen vor Eutrophierung und Erosion zu schützen. Ihre natürliche Selbstreinigungskraft ist zu erhalten oder wieder herzustellen. Das Grundwasser ist vor negativen Einwirkungen zu schützen, insbesondere im Hinblick auf seine Nutzungsfähigkeit als Trinkwasser.
Ich möchte die Aufzählung dieser Argumente nicht fortsetzen. Es gibt so viel für den Naturschutz zu tun, daß diese Liste gar nicht vollständig sein kann, selbst nicht die von uns vorgelegte. Ich hoffe, daß wir in der Diskussion im Ausschuß noch einiges dazu beitragen können, uns zumindest auf ein gemeinsames Ziel des Naturschutzes zu einigen. Die Liste der notwendigen Voraussetzungen ist also noch sehr lang. Ich glaube, daß ich jetzt auf die weitere Beschreibung nicht eingehen kann.
Wir schlagen in dem Gesetzentwurf ferner Regelungen und Reglementierungen für die Nutzung der Naturgüter und für ein naturverträgliches Wirtschaften sowie Schutzmaßnahmen für ein abgestuftes Schutzgebietsystem und andere Maßnahmen vor. Die Verbandsklage ist in den meisten Landesnaturschutzgesetzen inzwischen enthalten. Die bundesrechtliche Rahmenvorschrift muß auch diese Rechtsentwicklung aufgreifen und nachvollziehen.
Wir sehen in diesem Gesetzentwurf eine Antwort von uns und von vielen Verbänden auf einen verhängnisvollen Trend in der bestehenden Gesetzgebung. Hierfür stehen Gesetze wie das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz, die Maßnahmegesetzentwürfe oder das leidige Investitionserleichterungsgesetz. Dieses Naturschutzgesetz könnte weit mehr Arbeitsplätze zu Gunsten von Lebensqualität und Wohlstand in den neuen Ländern bringen als alle Aufschwung-Ost-Pläne, die doch immer zugleich ein Abschwung Natur sind.
Bitte unterstützen Sie unsere Bemühungen „für" die Natur, weg vom „gegen"-Denken.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich erteile nunmehr dem Professor Dr. Rieder das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sicherlich ist kaum jemand hier in diesem Saal in jeder Hinsicht mit dem jetzigen Naturschutzgesetz zufrieden. Das gilt aber, glaube ich, im Prinzip für alle Gesetze. Ich weiß kein Gesetz, mit dem man in jeder Hinsicht zufrieden sein
könnte. Immer ist der Wunsch vorhanden, es zu ändern. Die Frage ist natürlich, wie.
Da haben wir beim Naturschutzgesetz natürlich einige Probleme, und zwar deswegen, weil wir uns momentan in einer Umbruchzeit befinden, wie wir sie selten in dieser Stärke gehabt haben.
Da ist einmal das Stichwort Europa zu nennen. Im Naturschutzbereich sind wir gerade dabei, die europäischen Richtlinien für Flora-, Fauna-Habitat umzusetzen. Wir sind dabei, die GANAT-Richtlinien umzusetzen. Darüber hinaus sind wir dabei - das ist ein ganz wichtiger Aspekt -, Extensivierungen in der Landwirtschaft zu erreichen, die bisher nur zur Mengenreduktion dienen, bei denen es aber auch sinnvoll wäre, sie in den Naturschutz einzubeziehen. - Das sind also drei Bereiche, die von Europa vorgegeben werden und die in einem künftigen Gesetz voll aufgenommen werden müssen.
Das nächste, was sich in einer Umbruchsituation befindet, ist das Grundgesetz. Wir wissen alle, daß im Moment speziell im Naturschutzbereich der Trend wohl dahin geht, daß den Ländern - ich begrüße das - eine größere Kompetenz gegeben werden soll. Ich glaube daher nicht, daß es im Moment sinnvoll ist, das Bundesnaturschutzgesetz zu ändern, wohlwissend, daß wir es in einem Jahr oder in zwei Jahren zum nächsten Mal ändern werden. Diese Regionalisierung, die durch das Grundgesetz kommen wird, halte ich persönlich für ausgesprochen gut. Ich glaube nicht, daß wir im Naturschutzbereich Gesetze machen sollten, die etwa von Flensburg bis Passau gelten; denn wir haben auch in der Bundesrepublik riesengroße Unterschiede.
({0})
Es kommt noch ein Weiteres hinzu, nämlich die neuen Bundesländer, diese - wie ich es bezeichnen möchte - Glücksentwicklung für uns. Wir haben in den neuen Bundesländern aber völlig andere Voraussetzungen als in den alten. Wir sind dort gerade dabei, das jetzige Gesetz halbwegs zum Laufen zu bringen. Wir wissen, daß die dortigen Behörden gerade dabei sind, mit diesem Gesetz umgehen zu lernen. Die allgemeine Erfahrung zeigt, daß nichts mißlicher ist, als in einem laufenden Lernprozeß dauernd Änderungen einzubauen.
({1})
Das heißt: Wenn wir jetzt ändern, dann stören wir in den neuen Bundesländern diesen Lernprozeß wesentlich mehr, als wir ihn fördern.
Ich möchte das an einem Beispiel etwas deutlich machen. Wir haben drüben in den neuen Bundesländern Biotope, die für Gesamtdeutschland wirklich beispielhaft sind. Einige dieser Biotope gehen gerade vor die Hunde - ich sage es so deutlich -, weil der Vollzug drüben noch nicht stimmt, weil der Vollzug noch nicht aufgebaut ist. Wer es nicht glaubt, der möge z. B. an die Müritz-Seen gehen und schauen, wie dort mit Mopeds, Motorrädern, Autos und ähnlichem im Schutzgebiet herumgefahren wird, einfach deswegen, weil die Überwachung nicht vorhanden ist.
Wenn wir jetzt die Gesetzeslage ändern, wird das Ganze noch katastrophaler.
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Feige zuzulassen?
Gern.
Bitte sehr.
Herr Professor Rieder, wissen Sie, daß in vielen neuen Ländern erst vorläufige Naturschutzgesetze in Kraft gesetzt wurden, daß dort gerade eine aktive Erarbeitung neuer Naturschutzgesetze im Gange ist, die durch einen Prozeß dieser Art vielleicht dahin gestärkt würde, einen modernen Naturschutzstand für die neuen Länder zu erreichen, den wir mit dem Rückgang auf 1976 so nicht gewährleisten können?
Ich kenne dieses Problem und wünsche mir, daß - ich komme auf die Regionalisierung nachher noch einmal ausführlich zu sprechen - die Gegebenheiten in den neuen Bundesländern, die ganz anders sind als in den alten Bundesländern, angemessen berücksichtigt werden. Aber ich glaube nicht, daß in dieser Phase ein geändertes Rahmengesetz den großen Durchbruch brächte. Das müssen die Länder dort für sich, für die regionalen Verhältnisse machen. Das können sie viel besser, als wir es ihnen von Bonn aus vorgeben können.
({0})
Unter dem Aspekt, den ich gerade angeführt habe, ist nach meinem Dafürhalten keiner der Entwürfe, die uns vorgelegt worden sind, brauchbar.
Doch nun will ich ein paar Bemerkungen zu den Entwürfen im einzelnen machen. Ich möchte mit dem Entwurf der GRÜNEN beginnen.
Diesen Entwurf möchte ich ganz kurz als gut gemeint, aber leider so nicht machbar bezeichnen, setzt er doch als biozentrischer Entwurf - Sie haben ja sehr schön ausdrücklich gesagt, daß es ein biozentrischer Entwurf sein soll; so steht es auch in dem Gesetzentwurf - den idealen Menschen voraus, dem alles wichtig ist, nur nicht er selbst, der also auf alles verzichtet. Damit ist dieser Ansatz letzten Endes von vornherein zum Scheitern verurteilt.
({1})
Ich möchte es mit einem ganz brutalen Beispiel sagen: Sie können natürlich gesetzlich festschreiben, daß der Mensch in Zukunft Kraft Gesetzes nichts mehr zu essen und zu trinken hat, auf alles zu verzichten hat. Das können Sie mit einem Gesetz aber nie erreichen, zumindest nicht so direkt. Sie können es allerdings indirekt machen. Sie brauchen nur die Planwirtschaft einzuführen; dann hat er bald nichts mehr zu essen und zu trinken. So können Sie das natürlich auch mit einem Naturschutzgesetz machen.
({2})
Damit sind wir bei einem ganz wichtigen Knackpunkt. In einem wesentlichen Teil des Entwurfs der GRÜNEN wird mit vielen Soll- und Kann-Bestimmungen gearbeitet, die letzten Endes nur Absichtserklärungen ohne Durchsetzungskraft sind. Ich kann Ihnen dazu einige Passagen zitieren. Da heißt es z. B., daß „die dauerhafte Erhaltung der natürlichen Häufigkeit" gefördert werden soll. Weitere Beispiele sind:
Schädliche Einwirkungen auf den Naturhaushalt sind zu vermeiden; . . .
Beeinträchtigungen durch Einwirkungen auf das Klima sind zu vermeiden.
Das sind Absichtserklärungen ohne gesetzlich bindende Kraft.
({3})
Im Klartext: Wenn Sie mit Ihrem Gesetzentwurf etwas erreichen wollen, müssen Sie alle menschlichen Tätigkeiten einstellen, wenn man denn das Gesetz ernst nehmen will. Da es aber niemand ernst nehmen wird, wird dieses Gesetz das wirkungsloseste Naturschutzgesetz sein, das es jemals gegeben hat.
Noch putziger wird das Ganze aber, wenn man sich den Passus in dem Gesetzesvorschlag ansieht, in dem einmal ausnahmsweise mit harten Bandagen gekämpft wird. Das ist das Artenschutzrecht, § 26 Ihres Gesetzentwurfs. Danach gilt:
Alle Tier- und Pflanzenarten, einschließlich aller Pilz- und Flechtenarten im Sinne dieses Gesetzes, gelten als geschützt.
Strafandrohung: bis zu sechs Jahre!
Wenn man das nun wieder ernst nimmt, heißt das im Klartext, daß man nicht einmal mehr sein Haus verlassen darf; denn wenn man sein Haus verläßt, tritt man mit jedem Schritt 10 oder 20 Tiere tot und macht sich im Sinne dieses Gesetzes schuldig.
({4})
- Es ist so! Das macht man auch mit kleinen Füßen. - Um es noch schöner zu machen: Selbst das SichWälzen im Bett ist verboten; denn dabei bringen Sie jedes mal einige Hausstaubmilben um, die auch zu den Tieren gehören.
({5})
An diesem Beispiel zeigt sich also, daß das Ganze etwas lustig wird.
({6})
Es geht aber noch weiter, und das ist nun das Traurige an dem Ganzen. Mit Ihrem Gesetzentwurf, diesen Strafandrohungen, diesem Schutz aller Pflanzen- und Tierarten, machen Sie einen für die Ökosystemforschung ganz wichtigen Bereich kaputt. Das ist nämlich der Bereich der ernsten Amateure. Diese Leute beginnen irgendwann mit dem Naturbeobachten, mit dem Sammeln von Tieren und Pflanzen, und das ist ungeheuer wichtig. Dieser Bereich ist wirklich derjenige, der für unser Staatswesen, für das Verständnis von Ökosystemen ungemein wichtig ist. Wenn Sie diesen Bereich mit diesem Gesetzentwurf kaputtmachen, dann wird es in Bälde - das sage ich in aller Deutlichkeit - niemanden mehr geben, der Naturverständnis entwickeln kann,
({7})
einfach deshalb, weil es niemanden mehr geben wird, der zu dieser Naturbeobachtung hingeführt werden kann. Das ist ein riesengroßes Problem.
Dann wird es übrigens - das bedauere ich persönlich ungemein - auch so einen Teil bei den GRÜNEN wie den Herrn Feige nicht mehr geben, der - das begrüße ich sehr - den ökologischen Part innerhalb der GRÜNEN hervorragend vertritt. Diesen Teil wird es nicht mehr geben, und damit werden wir zu einer Gesellschaft der Einfalt und nicht zu einer Gesellschaft der Vielfalt kommen.
({8})
Gucken wir uns als nächstes den Entwurf der SPD an! Da ist manches ähnlich wie in dem eben erwähnten Entwurf. Ich möchte nur zitieren, daß die Landschaft, die Medien Boden, Wasser, Luft sowie das Klima in ihrer natürlichen Ausprägung auf Dauer gesichert sein sollen. Das ist eines der Ziele dieses Gesetzentwurfs. Entweder ist das eine absolute Leerformel, oder es bedeutet, daß die Menschen gefälligst von dieser Erde zu verschwinden haben.
({9})
Wenn gefordert wird, daß die Lebensräume oder Biotope nach wissenschaftlichen Grundsätzen zu erfassen sind, muß ich dazu sagen, daß diese Erfassung in verschiedenen Bundesländern, z. B. in Bayern oder in Baden-Württemberg, bereits stattgefunden hat und die entsprechenden Konsequenzen daraus nicht nur abgeleitet, sondern auch schon umgesetzt werden.
Die nächste Forderung, nämlich 10 % der Flächen unter Schutz zu stellen, ist schön gedacht, aber nicht machbar; denn dazu benötigen wir zunächst einmal die Zustimmung der Finanzminister, auch in den SPD-regierten Ländern, für den Ankauf, für die Entschädigung und für die Pflege der Flächen. Denn das ist alles Ländersache. Wenn wir die Zustimmung der Finanzminister in den SPD-regierten Ländern haben, dann machen wir das natürlich gern. Aber fragen Sie doch bitte einmal in Schleswig-Holstein nach, ob da das Geld dafür zur Verfügung gestellt wird.
({10})
Das heißt also, wir sind hier - wie immer - bei der Frage des Wie. Wenn wir das Naturschutzgesetz ändern wollen, müssen wir vorher genau überlegen, ob und wie es sinnvoll ist. Weiterhin müssen wir uns darüber klar sein, daß wir von dem alten, klassischen Konzept des segregierenden Naturschutzes, das sich
sicher in der Vergangenheit bewährt hat, nämlich einzelne Gebiete auszuweisen und sie zu schützen, abkommen müssen, denn das führt - auch das ist eine wissenschaftliche Erkenntnis - zu Insellösungen. Was wir brauchen, ist ein wesentlich besserer Schutz über die Fläche. Dabei wird uns die Extensivierung im Landwirtschaftsbereich, wenn wir es denn richtig machen, zusammen mit der EG eine Menge bringen. Das heißt, wir müssen genaue Überlegungen anstellen; das ist in diesem Beispiel ganz wichtig.
Eines aber ist mit Sicherheit überfällig, und das müssen wir gemeinsam sehr schnell angehen. Wir müssen das Artenschutzrecht ändern, allerdings nicht in dem Sinne, wie Sie es vorgeschlagen haben. Wir müssen es in dem Sinn ändern, daß etwas unterbleibt, was leider eingerissen ist, nämlich die Behinderung derjenigen, die sich Tiere oder auch Pflanzen halten wollen.
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Sind Sie noch einmal bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Gerne.
Professor Rieder, Sie fordern jetzt selbst den Schutz und werfen mir ironischerweise diese Schutzpassage vor. Sind Sie nicht der Meinung, daß das Wort „schützen" nicht unbedingt bedeutet, daß man etwas nicht mehr berühren darf, ja, daß man notfalls auch töten muß und um des Menschen willen nicht anders kann? Es besteht überhaupt kein Widerspruch zwischen Ihren und unseren Worten, was das Wort „Schutz" betrifft. Schutz suggeriert nicht Totalschutz, wie Sie es mir unterstellen wollen.
Herr Feige, ich habe Ihren Gesetzentwurf gerade in diesen Passagen sehr genau gelesen. Da steht kein Wort darüber, und Ausnahmegenehmigungen sollen nur für wissenschaftliche Zwecke erteilt werden. Das ist mir ein bißchen zu wenig. Das heißt nämlich, daß gerade im Amateurbereich, in dem ja noch kein Wissenschaftler ist, nichts mehr erlaubt sein wird. Das wird das Ende dieses Bereiches bedeuten, der in der Öffentlichkeit sowie für den Naturschutz und für das Naturverständnis sehr wichtig ist. Da werde ich nicht mitmachen.
({0})
Was wir im Artenschutz für ein Problem haben, ist letzten Endes eine Rechtsunsicherheit. Wir haben hier eine wunderschöne Veröffentlichung: Vollzugshinweise zum Artenschutzrecht. Ich sage in aller Deutlichkeit, daß diese Vollzugshinweise für den normalen Menschen nicht verständlich sind. Sie sind in dieser Form nicht durchführbar, bzw. wenn sie so durchgeführt werden, wird das Ganze paradox.
Ich schreite jetzt zur Selbstanzeige. Ich besitze von Kindsbeinen an einen ausgestopften Buntspecht, ohne die nötigen Papiere dazu zu haben. Mein Sohn, elf Jahre, besitzt eine ausgestopfte Kohlmeise, ohne die nötigen Papiere zu haben. Drüben in meinem Büro habe ich einen ausgestopften europäischen Biber, ohne die nötigen Papiere zu haben.
({1})
Ich sage das ganz bewußt; denn ich habe hier einen Stapel von Vorgängen der letzten 14 Tage mitgebracht. Bürger mit ähnlichen Delikten, die kriminalisiert werden, haben sich an mich gewandt. Das geht so weit, daß Neunzehnjährige, die ausgestopfte Vögel haben, nächtlicherweise Haussuchungen erlitten haben - mit Beschlagnahmungen. Sechs Mann sind anmarschiert. Und das, obwohl keine Gefahr im Verzuge war.
({2})
Das Delikt ist deswegen herausgekommen, weil der betreffende Herr sich an die entsprechende Behörde gewandt hat und der betreffenden Dame sogar Zutritt zu seiner Wohnung gewährt hat, obwohl das nicht nötig gewesen wäre.
Das sind Vorfälle der letzten 14 Tage, die genau in diese Richtung gehen. Wenn wir daran nicht ganz schnell etwas ändern, machen wir mit solchen Gesetzen alles sehr viel schlimmer.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nunmehr Gerhart Rudolf Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Professor Rieder, ich habe volles Verständnis für Ihre Schilderungen. Auch mir sind solche Klagen zuhauf auf den Tisch gekommen. Unser Artenschutzrecht erstickt in Bürokratie. Was wirklich zu schützen ist, wird nicht richtig geschützt, und es wird ein Apparat aufgebaut, der dem Ziel gar nicht gerecht wird.
({0})
- Das sind internationale Regelungen, Herr Gallus. Das ist ein Stück Brüsseler Bürokratie, auf das wir verzichten können, jedenfalls in dieser Form.
({1})
Herr Abgeordneter Gallus, ich hatte nicht Ihnen, sondern dem Abgeordneten Baum das Wort erteilt.
Es ist interessant, Herrn Gallus jetzt zu hören, der noch immer nachwirkend das Landwirtschaftsministerium schützt.
({0})
Wir haben es hier mit einer Materie zu tun, Frau Mehl und Herr Feige, die in diesem Bundestag in früheren Jahren wiederholt intensiv behandelt wurde. Ich bekenne, daß ich jahrelang durchs Land gezogen bin und eine Novellierung des Naturschutzgesetzes
gefordert habe. Auch bei der letzten Koalitionsvereinbarung, Herr Töpfer, haben wir intensiv darüber gesprochen. Sie haben versucht, mit unserer Hilfe eine Formulierung zu finden, die dann auch Zustimmung gefunden hat. In der Koalitionsvereinbarung, die wir getroffen haben, sind eine ganze Reihe von Punkten, die wir heute nicht mehr so aufnehmen könnten. Die Lage hat sich - damals für mich unvorstellbar - geändert, etwa was den Bundeshaushalt angeht, und wir müssen jetzt eine Fülle von anderen Aufgaben lösen. Ich stehe also jetzt nicht vor Ihnen, um eine Koalitionsvereinbarung einzuklagen, weil das angesichts der Umstände nicht möglich ist. So realistisch müssen wir sein.
Sie, Herr Feige, und Sie, Frau Mehl, führen die Debatten der früheren Jahre.
({1})
Ich halte Ihnen das aus einem einzigen Grunde vor. Wir können uns sofort über die Ziele verständigen. Der Gesetzentwurf, den wir einmal ausgearbeitet haben, geht sogar weiter; er ist viel besser und praktikabler.
({2})
Aber Sie können uns eine einzige, die entscheidende Frage nicht beantworten, und Sie haben auch hier dazu nichts gesagt: Wie wollen Sie das finanzieren?
({3})
Wie wollen Sie das finanzieren? Hoffentlich wissen Sie, daß wir Naturschutz überhaupt nur in Partnerschaft mit der Landwirtschaft erreichen.
({4})
Wir können es nur, wenn wir auch die nötigen Geldmittel zur Verfügung stellen, um den Naturschutz durchzusetzen. Darauf erwarte ich eine Antwort. Wenn Sie einen Entwurf vorlegen, ohne diese Antwort zu geben, können Sie ihn vergessen. Das sage ich Ihnen in der jetzigen finanziellen Situation so hart.
({5})
Nicht dem Gesetzentwurf, sondern einer Presseerklärung von Ihnen, Frau Mehl, entnehme ich etwas. Da wird gesagt: Keine Ausgleichszahlung an die Landwirtschaft zu Lasten der Länderhaushalte. Aha, in den Ländern sehen Sie eine gewisse Gefahr auf sich zukommen, die Gefahr, daß Sie dort gefragt werden könnten.
({6})
Sie sagen also vorsichtshalber: Keine Ausgleichszahlungen zu Lasten der Länderhaushalte, auch nicht aus dem Wasserpfennig. Sie fordern eine Gemeinschaftsaufgabe.
Ich hatte auch einmal einige Jahre lang die Idee - das sage ich den Kollegen aus der Landwirtschaft -, wir könnten für unsere Zwecke eure wunderbare Gemeinschaftsaufgabe „Küstenschutz und Agrarstruktur" anzapfen. Nun ist die aber auch gekürzt worden, wie wir festgestellt haben. Ich habe diesen Plan aufgegeben. Es ist nicht realisierbar. Viel weniger realisierbar aber ist eine neue Gemeinschaftsaufgabe, die ja auch gar nicht in die Finanzstruktur unseres Landes passen würde. Auch Finanzminister der SPD wehren sich dagegen, die Gemeinschaftsaufgaben auszuweiten.
({7})
Also, Frau Mehl, ich trete Ihnen hier eine Minute Redezeit ab; sagen Sie, wie Sie das finanzieren wollen. Das ist die entscheidende Frage.
({8})
Ich frage mich auch: Warum sitzen wir im Bund auf der Anklagebank, warum setzen Sie uns auf die Anklagebank? Naturschutz ist Ländersache! Wir haben nur eine Rahmenkompetenz.
({9})
Ich wäre schon heilfroh, Herr Kollege Leinen, wenn das geltende Naturschutzrecht, das ja so schlecht gar nicht ist, richtig angewandt würde.
({10}) Gucken Sie die Ausstattung Ihrer Behörden an! Wer ist denn im Naturschutz tätig? Das ist ein Stiefkind auch der Länderpolitik.
Herr Abgeordneter Baum, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Mehl?
Ja.
Ich darf noch einmal fragen: Haben Sie das im Ernst gemeint, daß Sie eine Minute abzwacken wollen und ich dafür noch etwas erkläre?
Ja, ja.
Ich komme darauf zurück.
({0})
Was sie erklären will? Ich habe eine Erwartung.
Wir interpretieren das in die Anmeldung einer Kurzintervention um. Dann ist die Sache in Ordnung.
Ja, wunderbar. Sie können es auch jetzt schon machen; dann kann ich darauf antworten.
({0})
Ja, Sie können Frau Matthäus-Maier fragen.
Zum Ernst der Sache zurück. Ich möchte jetzt einmal etwas im Zusammenhang ausführen. Wir können uns sehr schnell darauf verständigen, meine Damen und Herren, daß wir im Naturschutz in der Tat Defizite haben.
({0})
Die haben wir. Das erkennen wir auch an. Wir haben auch hier Ziele.
(Beifall des Abg. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]
Wir haben keinen Stillstand. Es wäre nicht richtig, das zu sagen. Hier ist auf die europäischen Entwicklungen hingewiesen worden, auf die Schaffung von neuen Naturschutzgebieten. Ich finde es sehr gut, was in der früheren DDR mit dem Einigungsvertrag geschehen ist: 14 von der DDR-Regierung vorläufig unter Schutz gestellte Großschutzgebiete sind rechtlich abgesichert worden - in Verdienst meines Parteifreundes Succow. Das muß auch einmal gesagt werden.
({1})
Wir haben im Bundeshaushalt - das ist meinem Kollegen Weng zu danken - einen Titel, obwohl das eigentlich gar nicht unsere Aufgabe ist, der vorsieht, 27 Projekte gesamtstaatlicher repräsentativer Flächen zu fördern. Herr Weng hat dafür gesorgt, daß dieser Titel nicht ab- und ausgelaufen ist.
({2})
- Sie haben ihn unterstützt.
Es gibt hier also eine gewisse Bewegung, aber ich würde mir wünschen, daß wir das alles machen können: Neuordnung des Verhältnisses von Landwirtschaft und Naturschutz, Basis für kooperativen Naturschutz, Vertragsnaturschutz, Ausbau einer vorsorgenden Landschaftsplanung, Biosphärenreservat als neues Schutzgebiet, Verstärkung der Biotopvernetzung und noch vieles andere.
Die zentrale Frage ist die nach den Ausgleichszahlungen, und sie ist bisher nicht gelöst. Ich wäre auch dankbar, wenn Herr Kollege Leinen - ich weiß nicht, ob er noch spricht - dazu Stellung nehmen würde, was denn die Länderfinanzminister zu diesem Problem sagen. Es beeindruckt mich überhaupt nicht, Herr Kollege Töpfer, mit Verlaub gesagt, was der Bundesminister für Umwelt und die Länderumweltminister beschließen. Sie beschließen auf diesem Feld immer Sachen, denen man in der Tendenz durchaus zustimmen kann. Die Länderfinanzminister haben bisher keinen derartigen Beschluß gefaßt. Das gilt auch für die Landesregierungen, Herr Kollege Feige, die von den GRÜNEN und dem BÜNDNIS 90 mitregiert werden. Es gibt nicht einen einzigen Beschluß einer Landesregierung zur Finanzierung von mehr Naturschutzmaßnahmen, für Ausgleichszahlungen für mehr Naturschutz nach dem Sinn des Bundesnaturschutzgesetzes, wie es uns eigentlich vorschwebt.
Es bringt also überhaupt nichts, wenn wir uns hier Vorwürfe für Dinge machen, die die eigentlich Zuständigen, nämlich die Bundesländer, selbst nicht schaffen.
({3})
Jetzt komme ich noch einmal auf das Gesetz zur Beschleunigung der Genehmigungsverfahren, das Sie erwähnt haben: Ich bin da nicht mit allem glücklich; auch hier muß ich eine veränderte Situation zur Kenntnis nehmen. Wir haben uns gestern in der Koalition dafür eingesetzt, daß dieses Fünf-JahresMoratorium bei der Eingriffsregelung gestrichen wird. Wir hoffen, daß der zuständige federführende Bauausschuß das tut. Wir sind der Meinung, daß wir in Deutschland keine gespaltene Regelung haben sollten. Wir haben auch eine gewisse Verwaltungsvereinfachung herbeigeführt. Die Kollegen Starnick und Paziorek haben sich sehr dafür eingesetzt.
Aber Frau Mehl, uns jetzt mit diesem Gesetz vorzuführen, das finde ich völlig unangemessen. Der Bundesrat hat diesem Gesetz mit den Stimmen der SPD zugestimmt und will es. Ich habe hier auf meinem Tisch eine Vorlage der Landesregierung Schleswig-Holstein, unterschrieben von Ministerpräsident Engholm, zur Einschränkung der Öffentlichkeitsbeteiligung. Sie können doch nicht mit zweierlei Zunge reden! Im Bundestag werfen Sie uns das vor. Sie sollten das nicht tun.
({4})
Ich sage Ihnen - das können Sie gleich ja auch noch einmal behandeln -: Ich finde es unerträglich, wenn Sie im Bundesrat das alles tun - übrigens schweigend; dort redet Herr Fischer, aber Sie schweigen, die SPD duckt sich, beschließt es, die Vorlagen kommen von den Landesregierungen, siehe Einschränkung der Öffentlichkeitsbeteiligung seitens der Landesregierung Schleswig-Holstein, Ministerpräsident Engholm -, und hier machen Sie uns Vorwürfe, wir würden durch diese Baurechtsnovelle, die jetzt in den Bundestag kommt, das Naturschutzrecht in unangemessener Weise einschränken.
Ich sage es noch einmal: Man kann sich darüber streiten, ob das alles so richtig ist. Mir als Umweltschützer tut manches wirklich weh. Aber wenn Sie von den Ländern her eine andere Politik machen, können Sie sich hier von dieser Politik nicht abmelden, meine ich.
Ich bin im Gegensatz zur Union immer der Meinung gewesen - hier stimme ich mit Ihnen überein, Frau Mehl -, daß wir keine Angst vor der Verbandsklage haben sollten. Übrigens kann sie in den Ländern ja eingeführt werden. Sie ist in Hessen eingeführt worden. Wir haben positive Erfahrungen damit. Die Länder können im Naturschutzrecht allein beschließen, was sie für richtig halten. Es gehört zum Föderalismus, daß sie es tun. Warum muß das NaturschutzGerhart Rudolf Baum
recht in Schleswig-Holstein genau mit dem im Saarland übereinstimmen? Tun Sie es, wenn Sie es können und wenn Sie es verantworten können. Das Saarland hat ja eine der größten Verschuldungsraten überhaupt.
Ich will also sagen, daß es eine ganze Reihe von positiven Ansätzen gibt, auch aus der Europäischen Gemeinschaft. Das ist schon gesagt worden. Es gibt die EG-Richtlinie „Flora, Fauna, Habitat". Sie ist seit 1992 in Kraft. Es gibt das EG-Förderungsprogramm „Life". Dort stehen Mittel für Naturschutzmaßnahmen zur Verfügung. Ich bin der Meinung, daß wir an den möglichen Zielen festhalten und zäh Schritt für Schritt machen müssen, aber keine Ziele setzen dürfen, die in der gegenwärtigen Situation völlig unrealistisch sind, die nicht finanziert werden können, die nicht ernsthaft in den Bundeshaushalt eingebracht werden können.
Ich sage Ihnen noch einmal: Machen wir von dem vorhandenen Instrumentarium Gebrauch, kümmern wir uns um den Vollzug, lassen wir uns im Umweltausschuß einmal einen Bericht über den Vollzug des Naturschutzrechts in der Bundesrepublik Deutschland geben. Dann werden wir sehen, daß wir mit dem, was wir haben, noch eine Menge machen können.
Wenn die Situation es zuläßt, bin ich der letzte, der sich weigert, ein modernes, fortentwickeltes Naturschutzrecht zu etablieren. Das wollen wir, das war immer unser Ziel, aber unter den gegenwärtigen Umständen ist das leider so nicht möglich. Das muß man auch einmal klar und ehrlich bekennen.
Ich danke.
({5})
Zu einer Kurzintervention gebe ich der Abgeordneten Ulrike Mehl das Wort.
({0})
- Jetzt kommen die Gelder.
Herr Baum, wenn Sie meinen Ausführungen zugehört hätten, dann hätten Sie auch gemerkt, wo dieser Ansatz ist. Wir haben eine irrsinnig teure Landwirtschaft, die enorm viel überproduziert, die viel kostet, damit all das Überproduzierte gelagert werden kann, und die noch dazu die Natur schädigt.
({0})
Wenn wir das ändern, wenn wir eine umweltverträgliche Landwirtschaft schaffen, die weniger produziert, bei der die Lagerkosten eingeschränkt sind, können wir viel erreichen. Wir haben es im Agrarbericht gelesen: Die kleinen Betriebe haben ein wenig dazuverdient, die mittleren Betriebe haben weniger bekommen, und die großen Betriebe haben das meiste dazuverdient.
Ich kann überhaupt nicht einsehen, wieso alle Bereiche auf Natur und Umwelt Rücksicht nehmen müssen, während bei der Landwirtschaft der Naturschutz finanziert werden muß, also Mittel fließen müssen, damit sich ein Bereich, nämlich die Landwirtschaft, an ein Gesetz hält. Das kann ja wohl nicht wahr sein.
({1})
Wir haben eine Landwirtschaftspolitik, wir haben ein Landwirtschaftsministerium, Landwirtschaft ist Bundessache. Deswegen bin ich auch der Meinung, daß dieses Ministerium und diese Politik ihre eigenen Probleme zu lösen haben und nicht der Naturschutz.
({2})
Zur Erwiderung gebe ich dem Abgeordneten Gerhart Rudolf Baum das Wort.
Ich möchte Ihnen folgendes erwidern: Ich habe überhaupt nicht den Eindruck, daß die Landwirtschaft gegen den Naturschutz ist und ihn behindert.
({0})
Ich bin immer der Meinung gewesen, daß wir mit der Agrarwirtschaft, mit den Landwirten eine Kooperation haben und ein gemeinsames Interesse verfolgen.
({1})
Die Landwirtschaft unterliegt Regeln, die sie selbst nicht für glücklich hält, nämlich Regeln der Europäischen Gemeinschaft, die sie zu einer bestimmten Produktion zwingen und die übrigens nicht dazu führen, daß die Einkommensstruktur der Landwirte optimal ist. Den Landwirten von ihren Einkommen etwas wegzunehmen, um den Naturschutz zu finanzieren, das halte ich für absurd, das kann nicht ernsthaft gemeint sein.
({2})
Meine Damen und Herren, diesen Streit müssen Sie an anderer Stelle weiterführen. Ich erteile der Abgeordneten Frau Dr. Enkelmarin das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Rieder, Sie sind ja fast kriminell.
({0})
- Ich habe gesagt „fast"; keine Rüge. Ich hoffe, daß Sie die ausgestopften Viecher, über die Sie vorhin gesprochen haben, auch artgerecht pflegen.
Meine Damen und Herren! Seit nunmehr drei Legislaturperioden wird angekündigt, das bestehende Bundesnaturschutzgesetz zu ändern. Dies ist immer noch nicht geschehen. Herr Kollege Baum, natürlich ist Naturschutz Landesrecht; aber hier geht es um eine ordentliche Rahmengesetzgebung, und dazu sind nun einmal wir als Bundestag gefordert.
Der von Umweltminister Töpfer Anfang vergangenen Jahres vorgestellte Entwurf läßt mehr als zu
wünschen übrig. Trotzdem erreichte er bisher den Bundestag nicht. Lag das etwa an den durchaus positiven Ansätzen wie z. B. der Streichung der Landwirtschaftsklausel, der Einführung einer ökologischen Umweltbeobachtung, dem Schutz von Gewässerufern und der Einführung von Biosphärenparks als neuer Schutzgebietskategorie? Letzteres war im übrigen wohl vor allen Dingen der Hartnäckigkeit solcher „DDR-Altlasten" im Naturschutz wie Professor Michael Succow aus Eberswalde oder Dr. Freude aus Berlin zu verdanken.
Unakzeptabel war neben vielem anderen jedoch, daß die Bundesregierung immer noch glaubt, auf die Einführung des Verbandsklagerechts verzichten zu können, obwohl hier auf Länderebene durchaus positive Erfahrungen vorliegen.
Überhaupt würde ich mir für eine längst überfällige Novellierung wünschen, daß Sie, Herr Minister Töpfer, Ihrem Kollegen aus Brandenburg, Herrn Platzeck, ein bißchen über die Schulter schauen und wenigstens punktuell aus dem wohl fortschrittlichsten Landesnaturschutzgesetz Deutschlands abschreiben.
({1})
Wenn Sie sich dieses Gesetz aus Brandenburg einmal vornehmen, sehen Sie, Herr Kollege Rieder, wieviel wir Ossis schon gelernt haben.
Ich meine hier vor allem die Einführung einer dreistufigen Landschaftsplanung, die in den Anträgen von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN enthalten ist, die Vorrangigkeit des Naturschutzes, wenn es um die Erhaltung unersetzbarer Biotope geht, die Regelung, daß Eingriffe in Natur und Landschaft nur noch mit Zustimmung der zuständigen Naturschutzbehörde zugelassen werden können, oder auch den Schutz der Gewässer gegen eine übertriebene wassersportliche Nutzung. Bei letzterem werden Sie sicher vor den Ambitionen Ihres Kollegen Krause kneifen. Ich werde ohnehin manchmal den Eindruck nicht los, daß Sie mit der Rolle des angeblich Klügeren, der immer nachgibt, zufrieden sind.
In der letzten Legislaturperiode wurde versäumt, notwendige Mittel für den Naturschutz bundesweit abzusichern. Dies findet in der heutigen Politik der Bundesregierung seine Fortsetzung. Die Bundesbauministerin wehrt sich gegen eine wirksame Eindämmung des Landschaftsverbrauchs durch Baumaßnahmen; eine weitergehende Beteiligung der Naturschutzverbände bei Planungen des Bundesverkehrsministers soll verhindert werden.
({2})
- Sie sind Ihren Witz nun losgeworden; jetzt mache ich weiter.
Beschleunigungs- oder Erleichterungsgesetze nennt man die massiven Angriffe auf Naturschutz und Beteiligungsrechte von Bürgerinnen und Bürgern.
Ein sichtbarer Fortschritt gegenüber dem bestehenden Gesetz war im Entwurf der Bundesregierung nicht zu erkennen. Er ist nicht dazu geeignet, dem rapide fortschreitenden Landschaftsverbrauch und dem Anwachsen der Roten Listen gefährdeter Tiere und Pflanzen wirksam zu begegnen.
Die PDS/Linke Liste begrüßt den Vorstoß von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der Bundesregierung einen Teil ihrer Pflichtaufgaben abzunehmen. Der Entwurf der SPD zur Novellierung des Naturschutzgesetzes sieht fortschrittlichere Lösungen bei der Landschaftsplanung vor. Die Verbändeanhörung wird festgeschrieben. Allerdings muß ich sagen, daß gegenüber dem „Memorandum der deutschen Umweltverbände für ein neues Naturschutzgesetz" der SPD-Entwurf doch in einigen Forderungen zurückbleibt.
Probleme habe ich mit dem Entwurf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nur an einer Stelle, und zwar bekomme ich an der Stelle Bauchschmerzen, wo in § 26 Abs. 5 die angebotene Möglichkeit formuliert wird, biotechnisch veränderte Bakterien, Flechten, Pilze, Pflanzen und/oder Tiere in Ökosysteme freizusetzen, wenn der Nachweis der Ungefährlichkeit für Ökosysteme und die menschliche Gesundheit erbracht werden kann. Für mich ist einfach die Frage: Wer soll das bewerten? Kommen wir hier nicht in eine ähnliche Beweisnot wie bei der Gentechnologie?
Über diese Anträge wird in den Ausschüssen, so denke ich, sachlich weiter zu beraten sein.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich erteile nunmehr dem Minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Klaus Töpfer, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist richtig: Schon seit einiger Zeit liegt der Gesetzentwurf für ein neues Naturschutzgesetz auf dem Tisch. Es ist richtig: Dies ist eine offene Wunde, die der Bundesumweltminister hat, die ihn schmerzt; das möchte er gern verändert sehen. Interessant bei der Diskussion, wenn man genau zuhört, und zunächst einmal festzuhalten ist, daß an dem Entwurf, den wir vorgelegt haben, ernsthafte Kritik eigentlich nicht geübt worden ist. Ganz im Gegenteil, wesentliche Teile davon finden wir im Entwurf der SPD wieder. Das, was wir darüber hinaus finden, ist für meine Begriffe auch nicht sinnvoll.
Also muß man wohl etwas tiefer graben und fragen: Woran liegt es denn? Was ist der Punkt? Herr Kollege Baum hat dankenswerterweise genau den entscheidenden Faktor herausgehoben. Gehen Sie bitte davon aus, daß ich bei vielen Bauernversammlungen zum Bundesnaturschutzgesetz gesprochen habe. Ich habe, solange ich Bundesumweltminister bin, immer gesagt: Es kann doch wohl nicht wahr sein, daß diese Gesellschaft einer Vielfalt von Natur und Landschaft einen ganz hohen Wert beimißt, aber davon ausgeht, daß dies zum Nulltarif allein von einer Berufsgruppe, nämlich den Land- und Forstwirten, geleistet wird.
({0})
Das habe ich gesagt, und ich habe immer hinzugefügt, ich fände es wirklich ein Stück Selbstbetrug auch der Naturschützer, wenn sie mit einem wunderschönen Gesetzentwurf kommen, aber die Frage, wie denn die daran anknüpfenden Finanzleistungen zu erbringen sind, offen lassen.
({1})
Frau Kollegin Mehl, das ist doch nicht etwas ganz Neues. Wir haben ein Wasserhaushaltsgesetz. Dort geht es nicht um das Schutzgut Natur, sondern um das Schutzgut Wasser. Dafür brauchen wir Wasserschutzgebiete, und dazu steht im geltenden Wasserhaushaltsgesetz - in § 19 Abs. 4 -, daß die Landwirte, deren Flächen - zufälligerweise - in einem Wasserschutzgebiet liegen und die deswegen Abstriche von der sonst möglichen landwirtschaftlichen Produktion machen müssen, dies nicht allein zu ihren Lasten machen sollen. Es steht dort, daß auch unterhalb der Schwelle des enteignungsgleichen Eingriffs Ausgleichszahlungen gesetzlich vorgesehen werden.
({2})
Außerdem ist dort gesagt, daß der Ausgleich nach Maßgabe des Landesrechts erfolgt.
({3})
Wir hatten ganz lange praktisch einen Wasserschutzgebietsausweisungs-Verhinderungsprozeß, weil das nicht geregelt war, aber ein Rechtsanspruch bestand und deswegen keine Wasserschutzgebiete ausgewiesen wurden. Dann haben die ersten Länder Regelungen vorgenommen. Baden-Württemberg hat begonnen und unter größter Diskussion - Verursacherprinzip usw. - ein Wasserpfenniggesetz geschaffen.
({4})
Man hat gesagt: Es ist doch richtig: wenn wir für die Allgemeinheit das Wasser sauber halten, was sinnvoll und richtig ist, sollten wir einen Groschen dazulegen, um auch entsprechende landwirtschaftliche und sonstige Tätigkeiten in diesen Gebieten zu gewährleisten.
Bei Wasser mußte so etwas wohl kommen. Es gab ein Gut, und man konnte pro Kubikmeter einen Groschen aufschlagen und daraus finanzieren. Natur, Frau Kollegin Mehl, ist nicht ein solches Gut. Ich kann nicht eine Tonne oder einen Kubikmeter Natur mit eine Abgabetatbestand belasten. Ich könnte - das bieten mir viele an, und ein Rahmengesetz gibt mit jederzeit diese Möglichkeit - sagen: Naturschutzgebiete können ausgewiesen werden, sollen ausgewiesen werden - hohe Ansprüche -, und die Landwirte, deren Flächen im Zweifel gerade deswegen naturschutzrelevant geworden sind, weil sie in der letzten Zeit nicht so stark bearbeitet worden sind ({5})
sollen parallel zu dem, was wir im Wasserhaushaltsgesetz haben, das nicht zum Nulltarif machen, sondern einen Ausgleichsanspruch haben. Ich könnte auch bestimmen „Das Nähere regeln die Länder in ihren Gesetzen".
({6})
Aber dann sagt mir Frau Kollegin Mehl: Das geht nicht! Der Bundesrat sagt, obwohl es seine Zuständigkeit ist: Wieso das? Die Umweltverbände sagen mir: Ein solches Gesetz wird zu einem Naturschutzverhinderungsgesetz! Welches Land wird denn noch Naturschutzgebiete ausweisen, wenn ein gesetzlich verbriefter Entschädigungsanspruch für die davon betroffenen Landwirte im Gesetz steht? Dann wird man keine ausweisen, genauso, wie es bei den Wasserschutzgebieten der Fall gewesen ist. Das ist doch ein Punkt, Frau Kollegin Mehl, über den man vernünftigerweise und sinnvollerweise sprechen kann.
Ich habe gestern abend die Möglichkeit gehabt, das in einer Veranstaltung mit Landwirten hier in Bonn zu erörtern. Wir waren uns nicht von vornherein darüber einig. Ich meine: Es kann doch nicht wahr sein, daß wir ganz selbstverständlich etwas zum Nulltarif von einer Berufsgruppe erwarten, die noch dazu gegenwärtig in einer ganz besonderen Weise in einer Umbruchsituation steckt.
({7})
Gegenwärtig muß man alles tun, um diese Umbruchsituation zu einer Chance für den Naturschutz werden zu lassen. Meine Damen und Herren, wir können uns doch auf eines ganz schnell einigen: Die GATTVerhandlungen mögen ausgehen, wie sie wollen; sie werden sich auf jeden Fall auch in der Frage niederschlagen, ob wir hier noch so viel produzieren wie vorher.
Das heißt, es wird sich die Frage stellen: Was machen wir mit diesen Flächen? In der Europäischen Gemeinschaft gibt es bereits Greenbox-Bereiche, gibt es Finanzierungsmöglichkeiten aus landwirtschaftlichen Überlegungen heraus.
Herr Bundesminister, Sie haben die Chance, der Kollegin Mehl eine Frage zu beantworten.
Wie sollte ich eine solche Chance nicht nutzen, Herr Präsident!
Herr Töpfer, sind Sie erstens mit mir einer Meinung, daß Naturschutz nicht nur in Naturschutzgebieten stattfinden kann? Wenn dies so wäre, sähen wir wirklich sehr schlecht aus.
Zweitens. Sind sie mit mir einer Meinung, daß eine umweltverträgliche Landwirtschaft in erster Linie außerhalb der Naturschutzgebiete betrieben werden müßte und die derzeitige Form der Landwirtschaft erhebliche Probleme macht?
Drittens. Würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß ich mich sehr stark für dafür einsetze, daß wir eine flächendeckende Landwirtschaft haben, vor allen
Dingen mittelgroße Betriebe, daß aber gegenwärtig die Landwirtschaftspolitik das Gegenteil bewirkt?
Sie können alle drei Fragen beantworten, obwohl es in der Geschäftsordnung heißt, es könne nur eine Frage gestellt werden. Aber es steht Ihnen frei, alle drei Fragen zu beantworten.
Zur ersten Frage stimme ich Ihnen zu. Ich bin auch der Meinung, daß Naturschutz nicht nur in Naturschutzgebieten stattzufinden hat. Das wäre wirklich ein völlig falscher Akzent. Insofern stellt sich auch die Frage der Verflechtung von Naturschutzgebieten.
Zweitens kann ich Ihnen auch sagen, daß das am sinnvollsten von Landwirten zu machen ist. Das ist wahr.
({0})
Damit komme ich zur dritten Frage, die eigentlich die Kernfrage ist. Ich habe doch kein Problem, Landwirten zu verdeutlichen, es wäre sinnvoller, extensiver zu wirtschaften. Das liegt ja schließlich in ihrem eigenen Interesse.
({1})
Nur muß ich fragen: Woraus wird dieser landwirtschaftliche Betrieb dann sein Einkommen erzielen?
({2})
- Nein, das ist nicht eine Antwort der Landwirtschaftslobby. Wenn ich das nicht tue, dann habe ich später etwas, Frau Kollegin Mehl, was Sie auch nicht wollen. Dann gibt es nämlich eine Sozialbrache. Ich kenne Sie nun wirklich als so informierte Kollegin, daß Sie wissen, daß uns die Sozialbrache keine Antwort auf die Naturschutzprobleme gibt. Das heißt, wir brauchen Menschen, die Natur erhalten. Ich sage es noch einmal: Dazu sind mir die Landwirte am liebsten. Dann muß ich ihnen aber entweder für die so erzeugten Produkte einen höheren Preis einräumen oder für die zusätzlichen Leistungen einen entsprechenden Ausgleich zahlen. Das sind die beiden Ansatzpunkte.
({3}) Damit habe ich Ihre drei Fragen beantwortet.
Jetzt kommt mein entscheidender Punkt. Wenn wir uns alle darüber einig sind, dann kann ich sagen: Die Möglichkeit der Preiserhöhung liegt sicherlich nicht in einem nationalen Entscheidungsprozeß begründet. Dieses Instrument ist mir also praktisch genommen. Das andere Instrument muß ich dann mit Finanzierungsmitteln versehen. Genau daran hat der Herr Kollege Baum Sie erinnert und gesagt: Das ist der Punkt. Da sind wir doch schon einen wesentlichen Schritt weiter.
Ich möchte eines mit aller Nachdrücklichkeit sagen. Das Schlechteste in der gegenwärtigen Situation ist, in den ländlichen Räumen und bei den Bauern den Eindruck zu erwecken, als lägen wir uns permanent wegen des Naturschutzes in den Haaren. Wir sind schon viel weiter. Wir können schon viel besser miteinander reden und nach gemeinsamen Lösungen suchen, als es hier den Eindruck erweckt. Es wäre ganz fatal, wenn der Eindruck von hier ausginge, als könnten wir miteinander solche Ziele nicht erreichen.
Das ist nicht leicht. Ich rede hier nicht einen schwarzen Raben weiß. Es ist klar: Es gibt noch gewaltige Barrieren zu bewältigen. Aber der entscheidende Punkt ist, daß wir uns klar werden müssen: Ohne eine entsprechende Mitfinanzierung der Gesellschaft insgesamt können wir eine Vielfalt von Natur und Landschaft in unserer Kulturlandschaft wohl kaum erwarten. Darüber ist dann zu diskutieren, meine Damen und Herren.
Dafür gibt es heute schon außerordentlich viele Möglichkeiten. Ist Ihnen denn nicht aufgefallen, wie interessant die Widersprüche selbst sind? Sie kritisieren massiv den Bund, daß wir die Verbandsklage nicht im Bundesnaturschutzgesetz haben, und loben intensiv die Länder, die sie haben. Dazu kann ich nur sagen: Darm sollen es die Länder doch tun, und dann sollen sie es umsetzen. Ich sage das nicht als Alibi. Ich halte es für notwendig, daß wir das Naturschutzgesetz ändern, auch in Kenntnis dessen, was der Herr Kollege Rieder gesagt hat, aber doch bitte nicht nach dem Motto: Wir könnten es zwar machen, aber es ist schwer, das bei uns durchzusetzen, also soll es bitte der Bund tun, damit wir dann hinterher sagen können, der Bund habe es ja von uns verlangt.
({4})
Bei der Naturschutzabgabe gibt es eine solche Situation. Mir hat bisher noch niemand ein hinreichendes Argument gesagt, warum die Bundesländer in ihrem Bereich keine Naturschutzabgabe einführen können. Wenn wir eine solche im Bundesgesetz fixieren würden, wäre das ja zugunsten der Länder, nicht zugunsten des Bundes. Der Bundesumweltminister sähe von dieser Abgabe keinen Pfennig, sondern es wäre zugunsten der Länder; völlig d'accord. Dann frage ich zurück: Wenn das alles so ist und wenn wir so zögerlich sind, warum machen es dann die Länder nicht?
({5})
Ich sage noch einmal - ich will mich damit überhaupt nicht herausreden -: Wir bemühen uns, dies ernsthaft zu bewältigen, denn ich sehe das als eine echte Chance an, in einer Umbruchsituation der Landwirtschaft ein neues Verhältnis zwischen Naturschutz und Landwirtschaft zu ermöglichen. Das ist für mich ein wichtiger Punkt. Ich habe nicht den Eindruck, daß dies von vornherein unmöglich ist.
Meine Damen und Herren, natürlich tut der Bund an vielen, vielen Stellen mehr als das, wozu er verfassungsrechtlich verpflichtet ist. Ich habe mich bei den Mitgliedern des Haushaltsausschusses, in besonderer Weise beim Herrn Kollegen Weng und anderen, zu bedanken für die Bemühungen um die gesamtstaatlich repräsentativen Naturschutzgebiete. Ich hoffe, daß wir sie über eine solche Zeit hinweg weiterbrinBundesminister Dr. Klaus Töpfer
gen. Ich bin ganz sicher, daß der Herr Kollege Leinen den einen oder anderen Beispielfall aus dem Saarland auch nennen wird. Ich möchte das in der mir eigenen Bescheidenheit für das Saarland nicht tun, Herr Kollege Leinen. Sonst könnte ich sie gerne aufführen, von der Ill-Renaturierung über den Pappelhof bis zu anderen Maßnahmen, wo wir genau das mit Bundesmitteln machen und unterstützen, was gesamtstaatlich repräsentativ ist.
Den von Ihnen so freundlich angesprochenen Herrn Kollegen Platzeck, mit dem ich morgen nachmittag in der Schorfheide zusammen sein werde, haben wir in keiner Weise als einen ganz besonders kritischen Kollegen kennengelernt, wenn es darum ging, daß er auch mit unserer Hilfe Großschutzgebiete entsprechend sicherstellt. Ich beklage das gar nicht, aber dies ist Realität in Deutschland, ebenso, daß wir alles daran setzen, um dies jenseits der verfassungsrechtlichen Notwendigkeiten weiterzuführen.
Dasselbe gilt für die Europäische Gemeinschaft. Wir müssen sehen, daß die Vernetzung nicht nur auf Deutschland bezogen ist. Von der Ramsar-Konvention bis hin zu „Natura 2000" in der FFH-Richtlinie haben wir in der Zwischenzeit wichtige Entscheidungen gefällt. Wir haben es sogar erreicht, in der Europäischen Gemeinschaft dafür Finanzierungsmöglichkeiten zu schaffen. „Life" und „GANAT" sind genannt worden. All das sind Finanzierungsregelungen, damit in der Europäischen Gemeinschaft nicht nur gesagt wird „Wir brauchen Großschutzgebiete", sondern damit auch geholfen wird, das zu finanzieren. Das ist genau die gleiche Grundstruktur, die ich vorhin genannt habe.
Wir wissen, daß dies bis in die weltweiten Zusammenhänge wichtig ist. Ich möchte mich in gar keiner Weise irgendwo dafür entschuldigen, daß wir entscheidend mit dazu beigetragen haben, daß es eine Konvention für die Biovielfalt - „bio-diversity" - in Rio gegeben hat. Dies ist keine Ablenkung von Problemen zu Hause, sondern eine notwendige Einbindung dessen, was wir bei uns machen, in das, was wir in Europa vorangebracht haben und was global ebenfalls als Schutznotwendigkeit gegeben ist. Alle drei gehören zusammen, meine Damen und Herren.
({6})
Alle drei erfordern auch finanzielle Investitionen, die wir vornehmen sollten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns wirklich - ich greife gerne auf, was Kollege Baum gesagt hat - untereinander ehrlich sein und uns überlegen, Stichwort Solidarpakt, wie wir parteiübergreifend eine schwierige Situation in Deutschland und Europa bewältigen können. Dazu gehört, gleichgültig, welcher politischen und parteipolitischen Couleur, zu sagen: Wir müssen die Genehmigungsverfahren beschleunigen. Dann legen wir ein solches Gesetz vor, und das findet auch im Bundesrat, in dem nicht die Koalition die Mehrheit hat, eine Mehrheit.
An manchen Stellen wird man sogar eher sagen: Das muß noch verstärkt werden. Oder lassen Sie uns bitte hierher kommen und sagen: Wir verpflichten uns, das im Bundesrat zu ändern. Das ist dann für mich überzeugender. Aber uns hier dafür zu kritisieren, daß eine solche Maßnahme, von uns vorgelegt, im Bundesrat - eher verschärft und nicht erleichtert - angenommen wird, und gleichzeitig zu sagen, das sei ein Versäumnis dieser Koalition, ist einfach nicht in Ordnung.
({7})
Ich muß deutlich machen, daß wir so nicht sinnvoll weiterarbeiten können. Lesen wir einmal durch, was wir gemeinsam an anderen Stellen beschlossen haben, bevor wir uns hier isoliert wechselseitig kritisieren.
Der Naturschutz hat es aus vielen Gründen im Augenblick schwer; das ist wahr. Deswegen ist es nicht gut, wenn wir in einer solchen Situation an der Sache vorbei die Probleme aussparen, die eigentlich gemeinsam bewältigt werden müßten.
Ich danke Ihnen sehr herzlich.
({8})
Ich erteile nunmehr dem Minister für Umwelt des Saarlands, Minister Jo Leinen, das Wort.
Minister Josef M. Leinen ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Naturschutz ist ein trostloses und trauriges Kapitel in der deutschen Umweltpolitik. Jeder, der vor Ort als Naturschützer oder in einer Naturschutzbehörde in der Praxis arbeitet, weiß ein Lied davon zu singen, wie sehr Mißerfolge und Rückschläge im Vordergrund stehen, im Gegensatz zu Erfolgen und einigen Fortschritten, die man sich dann nach mühevoller Arbeit auch noch abringen kann.
Wenn ich hier einige Debattenbeiträge höre, dann wird mir klar, warum der Stellenwert des Naturschutzes so gering geworden ist.
Herr Kollege Rieder von der CDU, Ihre Verzerrungen von Verbesserungsvorschlägen für den Naturschutz sind geradezu ein Abbild dieses sinkenden Stellenwerts.
({1})
Wenn Sie die Forderung nach einer biozentrischen Sichtweise mit der Aussage kontern, dann müßte man jede menschliche Tätigkeit einstellen, merkt man, daß Ihnen die Sache nicht ernst ist, sondern daß Sie den Naturschutz lächerlich machen wollen.
({2})
Das ist das Problem des Naturschutzes: Er wird nicht ernst genommen, sondern er wird an den Rand geschoben und soll lächerlich gemacht werden.
Herr Kollege Baum, von Ihrem Beitrag war ich sehr enttäuscht, weil ich weiß, daß Sie für den Naturschutz ein Engagement haben.
({3})
Wenn Ihr Beitrag darin mündet, daß wir uns den
Naturschutz in der heutigen Zeit nicht leisten können,
dann sprechen daraus Resignation und Kapitulation.
Minister Josef M. Leinen ({4})
Das ist die Quintessenz Ihrer Aussage hier am Podium. Das ist traurig, weil wir hier nicht die Debatten der früheren Jahre führen. Sie werden erleben, daß das die Debatten der kommenden Jahre sind,
({5})
angesichts der Tatsache, daß die Hälfte der Tier- und Pflanzenwelt auf der Sterbeliste steht. Wenn die Natur schreien könnte, würde das Bundeskabinett unter einer permanenten Trommelfellentzündung leiden. Das ist die Realität.
({6})
Herr Minister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gallus zu beantworten? - Bitte sehr, Herr Abgeordneter Gallus.
Herr Minister, Ihnen ist doch sicherlich bekannt, daß der Naturschutz nach unserer Verfassung Aufgabe der Länder ist. Warum kommen Sie dann hierher und beschimpfen den Bund, statt hier eine vorzügliche Bilanz Ihres Landes vorzulegen und darzustellen, was Sie besser gemacht haben als alle anderen Länder in der Bundesrepublik?
({0})
Minister Josef M. Leinen ({1}): Herr Gallus, genau das war mein nächster Punkt. Sie nehmen das vorweg. Naturschutz ist Ländersache, so hätten Sie es gern. Durch das Bundesnaturschutzgesetz sind für die Länder und die unteren Naturschutzbehörden viele Hemmnisse und Hürden geschaffen worden. Ich nenne nur die Naturschutzlüge der Landwirtschaftsklausel, über die vor Ort niemand hinwegkommt. Ich nenne die Eingriffsregelung, die im Bundesgesetz verankert ist, und die Landschaftsplanung, über die man vor Ort nicht hinwegkommt. Die Frage geht an die Bundespolitik zurück.
In der Tat, die Länder wollen nicht länger warten.
({2})
Sie sind jetzt sieben Jahre vertröstet worden. Mehr und mehr Länder machen neue Naturschutzgesetze; auch wir im Saarland.
({3})
Aber wollen Sie denn eine Zersplitterung des Naturschutzrechts nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Nord und Süd und überall in der Republik? Wollen Sie, daß man in einem Land gegen einen Eingriff klagen kann, in einem anderen Land aber nicht?
({4})
Wollen Sie, daß ein Bauvorhaben in einem Land ein Eingriff ist, in einem anderen Land aber nicht?
Alle diese Zersplitterungen haben doch nichts mit der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse zu tun, zu der auch der Naturhaushalt gehört. Sie reden sich heraus, Sie weichen aus. Das ist das, was von der Rede des Bundesumweltministers übriggeblieben ist: Statt auf den Tisch zu hauen, wie die Abgeordnete Mehl gesagt hat, versucht er, sich herauszureden.
({5})
Daß sein Entwurf hier nicht debattiert wird, ist bezeichnend. Mittlerweile hat kaum noch jemand die Hoffnung oder Erwartung, daß dieser Entwurf überhaupt noch einmal aus der Versenkung auftaucht und hier im Plenum zum Vorschein kommt. Das ist der Grund, warum man darüber gar nicht mehr debattiert.
({6})
Herr Minister, der Abgeordnete Hörster möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Minister Josef M. Leinen ({0}): Das geht von meiner Redezeit ab.
Ich werde Ihnen das nicht anrechnen. Sie können die Beantwortung also in aller Ruhe vornehmen. - Bitte sehr!
Herr Minister, da Sie eben davon gesprochen haben, auf den Tisch zu hauen, frage ich Sie: Erinnern Sie sich daran, daß Sie im Jahre 1988 Ihren damaligen DDR-Kollegen Reichert besucht haben und daß Sie ihm anschließend einen Dankesbrief geschrieben haben, in dem u. a. folgendes steht:
Die Gespräche sind in guter und aufgeschlossener Atmosphäre verlaufen. Sie waren angesichts der Sachkunde der Gesprächspartner in hohem Maße aufschlußreich. Sie haben mir und meiner Delegation einen tiefgehenden Eindruck Ihrer Anstrengungen insbesondere auf dem Gebiet der Abfallwirtschaft, des Gewässerschutzes und der Wasserversorgung vermittelt.
Wie bewerten Sie dieses Auf-den-Tisch-hauen angesichts der Tatsachen, die wir heute im Bereich des Umweltschutzes in der ehemaligen DDR erleben?
({0})
Herr Abgeordneter, wenn Sie eine Antwort haben wollen, dann bitte ich Sie, sich an die Formen zu halten.
Minister Josef M. Leinen ({0}): Ich weiß nicht genau, was diese Frage mit der heutigen Debatte zu tun hat.
({1})
Minister Josef M. Leinen ({2})
Ich sehe da überhaupt keinen Zusammenhang. Ich sage Ihnen nur - das ist meine Antwort -: Ich sehe den Zusammenhang nicht.
({3}) Daher fahre ich in meinen Ausführungen fort.
({4})
Naturschutz ist Ländersache, das wäre gern Ihr Motto, um in Bonn nichts mehr zu tun. Herr Bundesumweltminister, Sie werden sehen, daß die Bundesländer in der zweiten Runde zum Investitionserleichterungs- und Baulandgesetz - das ist eine semantische Wortschöpfung, um wieder etwas zu verschleiern - genauer hinschauen, weil die Überrumpelungsaktion über Weihnachten und die Feiertage kaum Gelegenheit gelassen hat, die Eingriffe in Bürgerrechte und in Naturschutzstandards ausreichend zu prüfen. Wir werden in der zweiten Runde genau differenzieren, wo es um Entbürokratisierung und Entschlackung geht und wo Schnitte in die Rechte der Bürger und in die Standards der Umweltnormen gemacht werden.
Die Novelle des Bundesumweltministers zum Bundesnaturschutzgesetz hat eine Odyssee hinter sich, die ihresgleichen sucht. In der letzten Legislaturperiode war es die CSU, die diese Novelle verhindert hat. Herr Waigel wollte nicht die Einführung einer Naturschutzabgabe und Herr Kiechle nicht die Abschaffung der Landwirtschaftsklausel. In dieser Legislaturperiode ist es nun die F.D.P., die blockiert.
({5})
Frau Schwaetzer sieht den Wohnungsbau in Gefahr, und dem Wirtschaftsminister schmeckt die ganze Richtung nicht. In dieser Situation kommt es auf den Kanzler an. In den Zeitungen war zu lesen: Töpfer hofft jetzt auf den Rettungsring des Kanzlers.
({6})
Aber vom Kanzler ist beim Naturschutz weit und breit nichts zu sehen.
({7})
Im Gegenteil, vom Bundeskanzleramt ausgehend, kommen ja jetzt neue Angriffe auf den Naturschutz, vom Gesetz zur Beschleunigung des Verkehrswegebaus bis zu diesem besagten Baulandgesetz. Ich sage Ihnen: Ein Umsteuern auf öffentliche Verkehrsmittel oder die Bekämpfung der Bodenspekulation durch eine Baulandsteuer wären wesentlich sachgerechter, um die Probleme zu lösen, als den Naturschutz zum Sündenbock zu machen. Das ist eine völlig falsche Orientierung, die auch nichts bringen wird. Wir werden das sehen.
({8})
Ich sage Ihnen, daß die Zersplitterung des Naturschutzrechts auch der Wirtschaft nicht nützen wird. Deshalb brauchen wir Vorgaben und Rahmensetzungen im Bundesnaturschutzgesetz, die uns in den Ländern weiterhelfen. Hier ist die Landwirtschaftsklausel, die ja eine Naturschutzlüge ist, zu streichen. Ich sehe darin auch eine Chance, weil wir neue Wege im Interessenausgleich zwischen den Nutzern und den Schützern der Landwirtschaft eröffnen können, wenn dieses Privileg, diese Ausnahmeregelung weg ist.
({9})
Was ich nicht verstehen kann, ist die panische Angst der Bundespolitik vor den Naturschutzverbänden. Das ist eine völlig absurde Angst. Das Verbandsklagerecht wird immer noch mit fadenscheinigen Argumenten abgeblockt. Wir haben die Verbandsklage im Saarland. Es gibt sie auch in anderen Ländern. Die Praxis beweist das Gegenteil: Es gibt nicht eine Flut von Gerichtsprozessen, sondern eher eine Bündelung des Protestes, wodurch eine Vielzahl von Prozessen verhindert wird. Hier findet auch eine heilsame Wirkung auf die Genehmigungsbehörden statt. Sie nämlich müssen die Abwägung der verschiedenen Interessen und die Beachtung der Umweltvorschriften sorgfältiger vornehmen, wenn sie das Verbandsklagerecht im Nacken haben.
Wir müssen in einem Bundesgesetz definieren, was Eingriffe sind. Es kann nicht sein, daß ein Vorhaben in der Landschaft im Norden ein Eingriff ist, im Süden aber nicht. Das hat auch nichts mehr mit den regionaltypischen Eigenschaften von Landschaften zu tun, sondern das verändert die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens und des Tätigwerdens einer Gesellschaft.
Hier ist auch die Landschaftsplanung zu stärken, und es ist endlich das Verhältnis zur Bauleitplanung zu klären.
Als Landesumweltminister bin ich dankbar, daß hier neue Initiativen für ein verbessertes Naturschutzgesetz kommen. Wir brauchen diese Novellierung, um die ökologische Stabilität unserer Industriegesellschaft zu sichern. Ich sage Ihnen: Nachdem sich die Bundesregierung beim Naturschutz in einer Selbstblockade befindet - das ist ja nun offenkundig und sichtbar -, wäre es wirklich wünschenswert, daß der Bundestag die Initiative zur Rettung der Natur in Deutschland in die Hand nimmt. Die Bevölkerung draußen wünscht eine vielfältige und lebendige Natur und begrüßt Naturschutzmaßnahmen. Deshalb wäre es vielleicht eine Sternstunde des Parlaments, wenn die Volksvertretung über die Parteigrenzen hinaus ein modernes Naturschutzgesetz zustande brächte.
Ich hoffe, daß eine baldige Verabschiedung dieser Novelle parteiübergreifend zustande kommt. Vor Ort würde dies sehr positiv gesehen, und es ist von der Sache her sehr überfällig.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Wittmann ({0}) das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Leinen, Sie hätten ja die Möglichkeit, in Ihrem etwas zu groß geratenen Landkreis für Umweltschutz zu sorgen, auf den Tisch zu hauen und mit gutem Beispiel voranzugehen.
({0})
Der Schutz der Natur und damit der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen gehört - da stimme ich Ihnen zu, Frau Mehl - zu den wichtigsten Aufgaben des Staates. In der Vergangenheit war Naturschutz überwiegend ein Schutz von ökologisch besonders wertvollen Restflächen. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben aber gezeigt, daß dies allein nicht ausreicht. Die intensive Nutzung von Natur und Landschaft erfordert, daß Naturschutz nicht mehr neben, sondern in der Nutzung des Landes verwirklicht wird.
Die Grundlage des Naturschutzes bleibt jedoch auch weiterhin, daß auf Grund unseres Verständnisses von der Politik und natürlich auch auf Grund unseres Grundgesetzes der Mensch im Mittelpunkt der Politik und damit der staatlichen Entscheidungen zu stehen hat.
({1})
Herr Professor Rieder hat es sehr deutlich gemacht.
Dies kommt aber weder in Ihrem Antrag, Herr Feige, noch in dem Antrag der SPD zum Ausdruck, sondern in beiden Entwürfen ist letztlich eine ökozentrische oder biozentrische Ausrichtung zum Ausdruck gekommen.
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Der Schutz der Natur darf der Nutzung der Naturgüter nicht vorgehen, sondern beides ist gegeneinander abzuwägen, und der Vorrang des Menschen hat weiterhin seine Bedeutung.
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Es ist hier sehr viel, natürlich auch vom Herrn Minister, über die Zuständigkeiten im Naturschutz gesagt worden. Ich glaube, man muß noch ein bißchen tiefer fragen: Wie schaffen wir überhaupt die Akzeptanz des Naturschutzes in der Bevölkerung, vor allem bei denen, die direkt davon betroffen sind? Um die für die Wirksamkeit des Naturschutzes erforderlichen Einschränkungen zu akzeptieren, nutzen nicht immer neue, immer schärfere Vorschriften, sondern müssen die wirtschaftlichen Anreize im Vordergrund stehen.
So fehlt in beiden Entwürfen - oder ist nur andeutungsweise vorhanden - eine vernünftige gesetzliche Absicherung des Vertragsnaturschutzes. Ich darf auf das Beispiel Bayern verweisen. Bayern hat mit 2,8 % den höchsten Anteil an Biotopflächen in der Bundesrepublik. Etwa ein Viertel bis ein Drittel der gesamten Fläche ist in Landschaftsschutzgebieten oder in teilgeschützten Gebieten. Wodurch ist das erreicht worden? Das ist durch Anreize, durch Vertragsnaturschutz, durch Vereinbarungen erreicht worden.
Wenn Sie etwas machen wollen, hätten Sie damit schon gestern und vorgestern beginnen können. Es ist natürlich leicht, zu sagen: Wir wollen neue Maßnahmen, wir wollen Ausgleichszahlungen; aber wir legen das auf den Bund, der Bund soll blechen, der Waigel soll blechen, wir machen dann zu Hause die schönen Programme und sagen, das haben letztlich wir durchgesetzt.
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Ich darf einige Beispiele nennen: Bayern hat im Jahr 1992 in 7 937 Bewirtschaftungsvereinbarungen über das Wiesenbrüterprogramm 11 756 ha gesichert. Es gibt das Acker-, das Wiesen-, das Uferrandstreifenprogramm, das Landschaftspflegeprogramm. Über den Erschwernisausgleich für Feuchtflächen wurden 13 249 ha gesichert. Über das Programm für Mager-und Trockenstandorte wurden 11 659 ha gesichert. Das Programm zur naturverträglichen Bewirtschaftung von Teichen und Stillgewässern schützt naturnahe Teiche mit einer Fläche von 1 485 ha.
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Das Programm „Ökologisch wertvolle Streuobstbestände" schützt 2 822 ha Streuobstwiesen, das Pufferzonenprogramm 1 193 ha. Und so weiter, und so fort!
Herr Abgeordneter Wittmann, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Feige zu beantworten?
Selbstverständlich.
Bitte sehr, Herr Dr. Feige.
Ich freue mich, diese Erfolgszahlen zu hören. Aber stimmen Sie mir nicht zu, daß auch in Bayern die Zahl der Flächen, auf denen es noch Arten gibt, die wir auf der Roten Liste haben, immer mehr abnimmt und daß gerade jetzt durch intensiven Wintersport die Zahl dieser Flächen, die schützenswert sind, ununterbrochen abnimmt?
Herr Kollege Feige, ich stimme Ihnen sicher zu, daß wir in der Fläche und nicht nur Restflächen schützen müssen. Das habe ich zu Beginn ganz deutlich gesagt. Ich komme darauf zurück, welche Bedeutung die so gescholtene Agrarreform gerade für den Schutz in der Fläche haben wird. Ich stimme Ihnen auch zu, daß wir
Simon Wittmann ({0})
wahrscheinlich eines Tages die immer stärkere Nutzung der Alpen durch Skilauf und Tourismus in Grenzen bringen müssen.
({1})
Das ist kein Widerspruch zu dem, was ich gesagt habe. Ich wollte nur deutlich machen, daß es nicht ausreicht, auf den Bund zu schimpfen und die Finanzierung durch den Bund zu fordern. Man muß letztlich bereit sein, das, was man an Spielraum hat - und das ist eine ganze Menge - im eigenen Bereich voranzutreiben. Darum geht es mir insgesamt.
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- Ja, das haben wir schon gemacht. Aber beim Prozentsatz der geschützten Fläche, echter Biotope wird man Bayern wohl kaum übertroffen haben. Das sagen mir zumindest die Zahlen.
Unsere Natur und unsere Kulturlandschaft sind auch aus der jahrhundertelangen Bewirtschaftung durch unsere Bauern entstanden - das muß man einmal deutlich machen -, die mit der Natur durch Pflege und Nutzung besonders verbunden sind. Die Landbewirtschaftung ist daher letztlich Teil unserer Natur und nicht a priori ein genehmigungspflichtiger Eingriff.
Ich will hier nicht die alte Diskussion über die Landwirtschaftsklausel aufwärmen. Ich stimme dem Zwischenruf von Herrn Gallus vorhin zu: Die können Sie ja haben, wenn wir vernünftige Finanzierung haben. Aber wir brauchen hier eine Fortschreibung mit dem Ziel, daß eine neue Klausel der partnerschaftlichen Zusammenarbeit von Naturschutz und Landwirtschaft geschaffen wird.
({3})
Dazu gehört natürlich, daß für enteignungsgleiche oder ertragsmindernde Maßnahmen ein Ausgleich zu zahlen ist. Dies erfordern der Schutz des Eigentums und die wirtschaftliche Situation unserer bäuerlichen Betriebe. Die SPD hat sich in ihrem Gesetzentwurf vor jeder Entschädigungsregelung gedrückt. Sie will das der Landwirtschaftspolitik oder den Bauern aufs Auge drücken oder andere Regelungen sehen - das hat sie ja letztlich offengelassen -,
({4})
weil natürlich auch in den SPD-regierten Bundesländern angesichts der angespannten Haushaltslage dafür kein Geld da ist. Solange aber die Finanzierung von Ausgleichszahlungen nicht gesichert ist, ist eine Verschärfung von Auflagen nicht zu rechtfertigen.
Die Entschädigungsregelung im Gesetzentwurf des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, Herr Feige, ist zwar recht nett; aber erst einmal müssen Sie sie finanzieren, und dafür brauchen Sie Mehrheiten.
({5})
Bei der Diskussion über einen besseren Schutz der Natur wird völlig außer acht gelassen, daß die EGAgrarreform von den mittelfristigen Auswirkungen her ein gigantisches Extensivierungs- und Naturschutzprogramm ist.
Frau Mehl, mir fällt gerade ein: Sie haben vorhin gesagt: Bauern, die überproduzieren, schädigen die Natur. Das muß ich deutlich zurückweisen. Ich verwahre mich gegen die Verunglimpfung unserer Bauern.
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Sie kritisieren die EG-Agrarreform sehr. Sie müssen sich anschauen, wie das funktioniert. Durch die Kombination von Preissenkungen und Ausgleichszahlungen lohnt es sich künftig nicht mehr, mit einem Übermaß an Düngung und Pflanzenschutzmitteln die höchstmögliche Produktion zu erreichen,
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sondern es ist gerade umgekehrt: Betriebswirtschaftliche Gründe und der eigene Geldbeutel werden die Bauern dazu bewegen, eine umweltverträgliche Landwirtschaft zu beginnen.
({8})
- Nein.
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- Vielleicht sollten Sie einmal ein bißchen hinhören. Die Tatsache, daß Ignaz Kiechle freiwillig in den Ruhestand gegangen ist, hat dazu geführt, daß draußen ein großes Wehklagen angehoben hat, weil er für die Bauern mehr als viele vor ihm erreicht hat. Ich wünsche dem Jochen Borchert viel Glück und hoffe, daß er ebenso erfolgreich sein wird.
({10})
Ich meine, der ökologische Aspekt ist die Umstellung, Herr Feige, daß man jetzt nicht nur Restflächen
- das war ja lange Zeit die Idee - schützt, sondern direkt in die Fläche hineingeht und sie bewirtschaftet. Das ist gerade durch die Agrarreform erreicht worden. Das hat Ignaz Kiechle geschafft. Das ist gerade durch die von der SPD so massiv kritisierte Agrarreform in Gang gesetzt worden. Daß heute noch nicht alles wirksam sein kann, dürfte wohl klar sein.
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Simon Wittmann ({12})
Mit uns, das muß ich deutlich sagen, ist die in beiden Entwürfen vorgesehene Verbandsklage nicht zu machen. Ich meine die CSU, und ich bin überzeugt, das gilt auch für die CDU. Wir haben bereits in der Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz von 1986 den Naturschutzverbänden ein umfassendes Mitspracherecht eingeräumt. Wir wollten es in unserem Referentenentwurf verstärken, um die Sachkompetenz dieser Verbände in die staatlichen Entscheidungen einzubeziehen.
Das Klagerecht kann aber unserer Überzeugung nach nur den direkt Betroffenen offengehalten werden. Ich möchte darauf hinweisen: Aus welchem Grund hätten im Naturschutz Verbände das Recht, ein Klagerecht zu bekommen?
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Die, die das wollen, wollen das letztlich nur als Ausdruck des politischen Nachgebens gegenüber bestimmten Verbänden, um schließlich politisches Wohlverhalten zu erwarten.
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Die Gesetzentwürfe sind in vielfacher Hinsicht unausgegoren. Sie greifen - das ist schon deutlich gemacht worden - ohne sachlichen Grund zum Teil erheblich in die Zuständigkeit der Länder ein und überschreiten damit die Kompetenz des Bundes für eine Rahmengesetzgebung. Der alte Glaube der SPD
- sogar beim Herrn Leinen war er vertreten -, daß der Zentralstaat alles besser machen könne, zeigt sich hier erneut.
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Wirksamer Naturschutz kann jedoch am besten durch regional angepaßte Regelungen betrieben werden. Schauen Sie sich an, was Ihre beiden Gesetzentwürfe bewirken: zusätzliche Bundesbehörden
- das heißt, wir werden das, was Professor Rieder geschildert hat, in vielfacher Weise bekommen -, zusätzliche Bürokratie, weniger Verständnis bei den Menschen und damit weniger Naturschutz draußen.
Wir bemühen uns in diesen Tagen um eine Harmonisierung von Naturschutzrecht und Baurecht. Es ist falsch, daß das in erster Linie ein Zurück ist. Es ist eine Abwägung, eine Harmonisierung, wobei der Naturschutz im Außenbereich sogar gestärkt wird. Das ist gerade das, was wir wollen. Dort, wo im inneren Bereich eigentlich relativ wenig kaputtzumachen ist, was den Naturschutz betrifft, haben wir natürlich die Möglichkeiten erleichert.
Zum Schluß möchte auch ich auf etwas hinweisen, was schon gesagt worden ist: daß die Probleme des Naturschutzes vor allem Schwierigkeiten beim Vollzug des Rechts sind. Meine persönlichen Erfahrungen, vielleicht auch die Ihren, zeigen, daß dies unabhängig von den politischen Mehrheiten in den einzelnen Ländern und in den Kommunen so ist, weil die Akzeptanz der geltenden Regelungen noch nicht erreicht wurde. Daran müssen wir in Zukunft arbeiten.
Natürlich sind wir zu gegebener Zeit bereit, das Bundesnaturschutzgesetz zu novellieren. Unsere Überlegungen sind sehr weit gediehen. Sie haben ja viel davon abgeschrieben. Wenn Sie wenigstens alles abgeschrieben hätten! Dann könnten wir uns heute über andere Themen unterhalten.
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Der Vorrang des Menschen, eine solide Finanzierung von Ausgleichszahlungen, die Beachtung der Länderzuständigkeiten und ein Verzicht auf die Verbandsklage sind für uns dabei unverzichtbare Elemente.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({17})
Ich erteile der Abgeordneten Frau Brigitte Adler das Wort.
({0})
Ganz recht! - Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im März 1985 hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen ein Sondergutachten über „Umweltprobleme in der Landwirtschaft" vorgelegt. Schon damals wurden die wesentlichen Ursachen für Umweltdefizite in der Landwirtschaft beim Namen genannt: eine Umweltbelange vernachlässigende EG-Agrarpolitik, eine verfehlte Ausrichtung der Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz" und unzureichende umweltrechtliche Rahmenbedingungen für die Landwirtschaft. Schon damals wurde die Streichung der Landwirtschaftsklausel im Naturschutzgesetz empfohlen.
Seitdem hat sich die Situation nicht wesentlich geändert. Die SPD-Bundestagsfraktion hat dies immer wieder zur Sprache gebracht. Konsequent setzt sie sich in ihrem Entwurf zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes für die Aufhebung der Ausnahmeregelungen für die Landwirtschaft ein.
({0})
Ein effizienter Naturschutz ist ohne eine angemessene Einschränkung der landwirtschaftlichen Nutzungs- und Verbrauchsrechte an Naturgütern nicht denkbar.
({1})
Ein Blick auf die aktuelle Belastungssituation verdeutlicht dies. - Hören Sie zu, Herr Hornung; dann werden Sie genau informiert!
Die intensive Nutzung landwirtschaftlicher Flächen bringt erhebliche Erosionsprobleme mit sich, die zu einer schleichenden Degradierung der Böden führen. Die Artenvielfalt geht in erschreckendem Tempo zurück.
Der Phosphateintrag durch Erosion in unsere Gewässer nahm in den letzten zehn Jahren um über
20 % zu. Schätzungen gehen davon aus, daß über 30 000 t Phosphat und über 300 000 t Stickstoff in unsere Oberflächengewässer aus der Landwirtschaft eingetragen werden.
Über eine Million t Ammoniak werden jährlich emitiert. Diese Stoffe richten in der genannten Größenordnung in den betroffenen Ökosystemen zum Teil irreparable Schäden an.
Das Spektrum der Pestizide und Pestizidrückstände im Grundwasser hat sich erhöht. Die Kosten für die Trinkwasseraufbereitung sind nach der Umsetzung der Trinkwasserverordnung drastisch gestiegen. Eine Anfrage meiner Fraktion bei der Bundesregierung ergab, daß beim gegenwärtigen Pestizideinsatz die Aufbereitungskosten jährlich um 260 Millionen DM gestiegen sind.
({2})
Schade, daß der Herr Bundesumweltminister sich das nicht mehr anhört.
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Auch im Zusammenhang mit der Klimabelastung wird die Rolle der Landwirtschaft in jüngster Zeit immer kritischer gesehen. Methanemission aus der Rinderhaltung, Lachgas und das Pestizid Methylbromid greifen die Ozonschicht an und tragen zum Treibhauseffekt bei.
Landwirtschaft wird immer ein Eingriff in die Natur sein. Aber die genannten Beispiele verdeutlichen, wie ordnungsgemäße Landwirtschaft nicht aussehen darf.
({4})
Deshalb benötigen wir in der Landwirtschaft - wie in anderen Bereichen - dringend eine ökologische Neuorientierung.
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Hierzu brauchen wir eine konsequente Rahmengesetzgebung. Der SPD-Entwurf zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes ist ein Schritt in diese Richtung. Er fordert daher, daß Regeln umweltschonender Land- und Forstwirtschaft in allen relevanten Bereichen zur verbindlichen Anwendung kommen. Existieren sie noch nicht, so müssen sie umgehend festgelegt werden.
({6})
Die Bundesregierung war dazu bislang nicht in der Lage.
({7})
Beispielsweise wird die Düngemittelanwendungsverordnung, mit der eine ordnungsgemäße Düngung verbindlich geregelt werden soll, immer wieder hinausgezögert. Das Ernährungsministerium feilscht mit dem Umweltministerium; wichtige und eilbedürftige Entscheidungen werden in untragbarer Weise blok-kiert.
Wir sind uns bewußt, daß eine Verbesserung des Umweltrechts zwar wichtig ist, aber nicht ausreicht.
({8})
Die Ausweitung des Agrarumweltrechts konnte in der Vergangenheit die fortschreitende Umweltzerstörung durch die Landwirtschaft nicht verhindern, auch wenn sie partielle Verbesserungen gebracht hat.
({9})
Auch die stärkere Berücksichtigung der Naturschutzbelange in der Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz" hat uns nicht weitergebracht,
({10})
weil sie mit der Rolle des umweltpolitischen Lückenbüßers einer verfehlten Agrarpolitik in der Sache und auch finanziell völlig überfordert ist.
({11})
Was wir brauchen, sind neue agrarpolitische Rahmenbedingungen, die den Umwelt- und Naturschutz nicht zögernd behandeln - das kann man nicht oft genug, Herr Professor Rieder, wiederholen -, sondern voll integriert haben.
Die Landwirte stecken auch nach der EG-Agrarreform in der Zwangslage, daß ein umweltbewußtes Verhalten für sie ein Wettbewerbsnachteil ist. Die Agrarumweltpolitik muß deshalb dafür sorgen, daß es für den Landwirt wirtschaftlich attraktiv wird, sich umweltgerecht zu verhalten. An dieser Stelle ist die Agrarpolitik gefordert, sich selbst zu reformieren.
({12})
Bei der EG-Agrarreform wurde dies sträflich versäumt. Auch die Bundesregierung hat sich nicht für eine Kehrtwende eingesetzt. Die Landwirte bekommen weiterhin Einkommensübertragungen aus EG-und Bundesmitteln, ohne daß diese Subventionen zielgerichtet an konkret umweltorientierte Bewirtschaftungsauflagen geknüpft werden.
({13})
So grotesk es auch erscheint: Die Umweltzerstörungen gehen weiter und werden obendrein noch mit Steuergeldern prämiert.
In diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich, daß von vielen Seiten drastische Subventionskürzungen in der Landwirtschaft gefordert werden. Dabei liegt es durchaus im Interesse der Allgemeinheit, eine ökologiegerechte Landwirtschaft auch mit finanzieller Unterstützung zu gewährleisten.
({14})
Wenn man sich die Finanzierung des EG-Agrarhaushaltes und des Bundeshaushaltes anschaut, so stellt man fest, daß über 20 Milliarden DM ausgegeben werden, ohne daß dies an eine konkrete Bindung geknüpft wird:
({15})
Neben der Nahrungsmittelversorgung erfüllt die Landwirtschaft auch die Aufgabe, die Kulturlandschaft zu erhalten, für deren Freizeit- und Erholungswert eine große Nachfrage besteht. Diese Leistungen müssen honoriert werden. Im Zuge der zu erwartenden Reform muß es deshalb vordringlich zu einer Koppelung von Einkommenszahlungen an eine ökologiegerechte Landbewirtschaftung kommen.
({16})
In dieser Hinsicht bleibt abzuwarten, ob der neue EG-Agrarkommissar René Steichen seine Ankündigung, für eine bestmögliche Integration des Umweltschutzes in die Agrarpolitik zu sorgen, auch umsetzen kann.
Der neue Ernährungsminister Jochen Borchert, der leider heute auch nicht anwesend ist, will seinen Schwerpunkt auf die Stärkung leistungsfähiger Betriebe legen.
({17})
Wie er dabei die Ökologisierung der Landwirtschaft voranbringen will, bleibt noch offen. Dazu hat er sich nicht geäußert. Ihm ist zu raten, ökologische und ökonomische Notwendigkeiten durch abgestimmte Konzepte durchzusetzen.
({18})
Die Vorgaben unseres Gesetzentwurfes zum Bundesnaturschutzgesetz weisen dabei den richtigen Weg.
({19})
Damit kein falscher Eindruck entsteht, möchte ich das Haus darüber informieren, daß Bundesminister Töpfer mich hat wissen lassen, daß in seinem engeren Familienkreis plötzlich ein schwerer Krankheitsfall aufgetreten ist. Dies ist der einzige Grund, weshalb er nicht hier ist.
Meine Damen und Herren, der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs in den Drucksachen 12/3487 und 12/4105 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Andere Vorschläge werden nicht gemacht. - Dann darf ich dies als beschlossen feststellen.
Ich rufe nunmehr Punkt 9 der Tagesordnung auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Liesel Hartenstein, Harald B. Schäfer ({0}), Klaus Lennartz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Vermeidung, Verwertung und Beseitigung von Sonderabfällen
- Drucksachen 12/1224, 12/2490 Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. Das Haus ist damit einverstanden.-Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Debatte und erteile zuerst der Abgeordneten Frau Dr. Liesel Hartenstein das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Problembereich Sonderabfälle steht exemplarisch für die Sackgasse, in die wir uns mit unserer rohstoffverschwendenden, mit unserer energiefressenden und abfallproduzierenden Wirtschaftsweise hineinmanövriert haben. Wir alle wissen, daß es so nicht mehr lange weitergehen kann. Täglich bekommen wir Warnsignale von allen Seiten: steigende Klimaaufheizung, verheerende Öltankerkatastrophen, wachsende Giftmüllmengen. Meine Frage ist: Wann endlich werden wir unsere Vogel-Strauß-Politik aufgeben und Konsequenzen ziehen? Ich möchte diese Frage bewußt an alle Seiten des Hauses richten.
({0})
Nach Schätzungen der OECD werden jährlich weltweit 338 Millionen t Sonderabfälle produziert, eine riesige Giftfracht, die in die Umwelt verteilt wird. Innerhalb der OECD-Staaten überschreitet alle fünf Minuten ein Giftmülltransport die Grenze in Richtung Ausland. Was mit der gefährlichen Fracht geschieht, steht zumeist in den Sternen. Jedenfalls ist in 90 % der Fälle nicht bekannt, ob eine ordnungsgemäße Wiederverwertung oder eine schadlose Beseitigung gewährleistet ist. Dieser Zustand ist schlicht unverantwortlich.
Die Industrieländer, nachweislich die größten Sonderabfallproduzenten, haben derzeit weder ein Konzept zur Vermeidung und Verminderung der Sondermüllmassen noch ausreichende Entsorgungskapazitäten. Auch die Bundesrepublik Deutschland nicht. Sie macht hier keine Ausnahme. Um die sonst vielgerühmte Vorreiterrolle der Bundesrepublik ist es hier schlecht bestellt.
({1})
Die Bundesregierung kann sich mit ihrer Antwort auf die Große Anfrage der SPD „Vermeidung, Verwertung und Beseitigung von Sonderabfällen" an diesem Eingeständnis nicht vorbeimogeln. Insofern ist diese Antwort, obgleich sie sehr umfassend und sehr detailliert auf unsere Fragen eingeht, im Endergebnis doch ein Dokument des Scheiterns.
({2})
In der Praxis nämlich, lieber Herr Kampeter, ist die Bundesrepublik sogar Europameister sowohl beim Sondermüllaufkommen - allein in den alten Ländern 12 Millionen t jährlich - als auch beim Sondermüllexport. Rund 1 Million t werden pro Jahr über die Grenzen kutschiert, meist geschickt und ganz legal als Wirtschaftsgut getarnt. Die Hälfte davon geht in die EG-Länder, nach Holland, nach Belgien, nach Frankreich, die andere Hälfte in Richtung Osten, d. h. in die neuen Länder und nach Osteuropa. Die Situation dort ist ganz besonders unerträglich, gleichgültig, ob die Zielländer nun Rumänien oder Polen oder auch Ägypten heißen.
Meine Frage ist: Wann wird den skrupellosen Giftmüllhändlern endlich das Handwerk gelegt? Es wäre höchste Zeit.
({3})
Oft genug ist in diesem Hause der gemeinsame Wille zum Ausdruck gekommen, daß Abfallexporte in Lander der Dritten Welt generell verboten werden sollen, aber auch Exporte in Länder außerhalb der EG, wenn nicht gesichert ist, daß dort die erforderlichen modernen Entsorgungs- und Recyclingeinrichtungen vorhanden sind. Mit Sicherheit können weder Rumänien noch Bulgarien, noch andere Länder diese Voraussetzungen anbieten.
Noch ein Wort zu den neuen Ländern. Dort hat sich leider eine schlimme Grauzone entwickelt. Nicht wenige westdeutsche und auch West-Berliner Firmen nützen zum Teil mangelnde Informiertheit, zum Teil auch noch nicht ausreichende Personalausstattung der Verwaltungen weidlich aus, um unter dem Deckmantel „Gewerbemüll" auch Sonderabfälle auf kommunalen Deponien anzukippen. Diesem Treiben muß sofort ein Riegel vorgeschoben werden; sonst produzieren wir nämlich heute die Altlasten von morgen, bevor wir die Altlasten von gestern überhaupt beseitigt haben.
({4})
Seit dem 1. Januar 1993 ist der EG-Binnenmarkt in Kraft. Was bringt er im Abfallbereich? Antwort: Vorläufig eine Menge Defizite. In der EG fehlen Entsorgungskapazitäten für Millionen Tonnen Sonderabfälle. Es fehlen einheitliche Regelungen, einheitlich hohe Sicherheitsstandards für Deponien und Müllverbrennungsanlagen, und es fehlt ein einheitliches Kostensystem.
({5})
Zwar werden grenzüberschreitende Transporte zur Deponierung von Abfällen schwieriger,
({6})
Transporte zur stofflichen oder thermischen Verwertung dagegen werden leichter. Und hier liegt der Hund begraben. Hier sagen Sie mit Sicherheit nicht mehr „Sehr gut". Im Klartext: Nach Wegfall der Grenzkontrollen haben die Giftmüllhändler ziemlich freie Bahn. Sie können völlig legal ihre hochbrisante Fracht quer durch Europa verschieben. Die Gefahr wächst, daß sie künftig da entsorgt wird, wo die Umweltstandards am laschesten und die Kosten am niedrigsten sind. Das ist inakzeptabel. Das Geschäft zählt eben, nicht die Ökologie. Hier muß sich einiges ändern.
Es ist ein Erfolg parlamentarischer Arbeit, daß der Umweltausschuß quer durch alle Fraktionen den Entwurf der EG-Deponierichtlinie abgelehnt hat, u. a. wegen der Zulassung der sogenannten Co-disposals, d. h. der Möglichkeit, auf ein und derselben Deponie künftig wieder Hausmüll, Gewerbemüll und, wie es so schön heißt, kompatiblen Industriemüll abzuladen. Wer wollte das kontrollieren? Das wäre ein gewaltiger Rückschritt. Nicht die Reduzierung der Umweltstandards, sondern die konsequente Anhebung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft muß das Ziel sein, wenn man das hohe Schutzniveau, das die Einheitliche Europäische Akte ja postuliert, tatsächlich erreichen will.
({7})
Es geht aber nicht nur darum, Rückfälle zu verhindern, es geht auch darum, national und EG-weit endlich zu einer vernünftigen ökologisch verträglichen Abfallwirtschaftskonzeption zu kommen. Davon sind wir noch meilenweit entfernt.
Auch im Sonderabfallbereich muß die Vermeidung allerhöchste Priorität haben. Doch hier herrscht Sendepause. Die Bundesregierung hat weder auf nationaler Ebene ein Sonderabfallkonzept noch gibt sie auf europäischer Ebene die nötigen Impulse - zum Schaden nicht nur der Umwelt, sondern auch zum Schaden des Fortschritts. Solange nämlich die Schlupflöcher offenbleiben und die Sonderabfälle ohne jede Schwierigkeit über die Grenze geschafft werden können - z. B. Lackschlämme aus der Automobilindustrie, die in Belgien oder Frankreich in Zementöfen verbrannt werden -, so lange besteht kein Anreiz zur Verminderung und auch kein Anreiz zur stofflichen Verwertung, d. h. so lange ist auch kein Anreiz für den technischen Fortschritt gegeben. Hier - das läßt sich nachweisen - stehen handfeste Profitinteressen einer sinnvollen Recyclingwirtschaft und erst recht einer ökologischen Stoffwirtschaft voll im Wege.
Überall, wo in der Antwort der Bundesregierung ein Stückchen Zukunftsperspektive hätte sichtbar werden können, blockt sie ab oder weicht aus. Ein paar Beispiele: Erstens. Was hält die Bundesregierung von Produktabgaben für Produkte, die schadstoffhaltig und deshalb schwer zu beseitigen sind? Antwort: Nichts. Die Erhebung solcher Abgaben sei - wörtlich - „nicht zielführend" . Ihre umweltpolitische Wirksamkeit sei unsicher. Dabei hatte bereits der Sachverständigenrat in seinem Sondergutachten 1990 ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die ökonomischen Instrumente im Abfallrecht zu schwach ausgebildet seien. Das heißt doch im Klartext: Hier sollte man etwas tun.
Zweite Frage: Was hält sie von Rohstoffsteuern, um den Rohstoffeinsatz zu minimieren? Antwort: Eine umweltverträgliche Ressourcenbewirtschaftung sei nicht unmittelbar Gegenstand der Abfallpolitik, sondern Aufgabe der Rohstoffpolitik. Ich frage Sie: Sollte es denn da keinerlei Zusammenhang geben? Nachdenken, bitte.
Drittens. Denkt die Bundesregierung an eine Internalisierung der ökologischen Folgekosten, um einen kräftigen Push in Richtung Abfallvermeidung zu erreichen? Antwort: Das sei leider sehr schwierig, aber man habe doch die Absicht, ein Abfallabgabengesetz zu erlassen, welches für Sonderabfälle eine Differenzierung nach Menge und Schädlichkeit vorsehe. Nur, das Abfallabgabengesetz ist aus dem Blickfeld gerutscht. Dennoch wird es in der Antwort der Bundesregierung gleich mehrfach bemüht. Es ist offenbar eine Art Allzweckwaffe, lediglich mit dem Nachteil,
daß sie bisher nicht vorhanden ist. Wir sind gespannt, wie es weitergeht.
Die Liste der Handlungsdefizite und der mangelnden Perspektiven ließe sich beliebig verlängern. Sie reicht von der ungenügenden Entsorgungsinfrastruktur bis zum wieder im Nebel verschwundenen Kreislaufwirtschaftsgesetz.
Mittlerweile ist die Novellierung des Abfallgesetzes eine unendliche Story geworden: vom Februar 1991 - Koalitionsvereinbarungen, wonach ein neues Abfallgesetz in der Umweltpolitik der Bundesregierung höchste Priorität haben sollte - über insgesamt sieben Ankündigungsetappen - ich habe sie nachgezählt - bis zum Dezember 1992, wo der zweite Referentenentwurf im Kabinett wiederum vertagt worden ist oder besser gesagt: schlichtweg gescheitert ist.
({8})
Auch hier darf man gespannt sein, wie es weitergeht. Jedenfalls ist das ein Zickzackkurs, mit dem wir weder den Anforderungen der Gegenwart noch denen der Zukunft gerecht werden können.
Wir brauchen eine Abfallpolitik mit klaren Zielen und Konturen. Ich will einige wichtige Punkte nennen: Erstens. Das Prinzip der Inlandentsorgung muß ernst genommen und realisiert werden. Das bedeutet Aufbau einer ausreichenden, technisch modernen Entsorgungsinfrastruktur, damit der Abfall da behandelt und entsorgt wird, wo er entsteht, und damit die unrühmliche Methode, anderen, insbesondere den Ärmeren, unseren Dreck vor die Haustüre zu kippen, ein Ende findet.
Zweitens. Notwendig ist der Einsatz eines Bündels marktwirtschaftlicher Instrumente, die wirksame Anreize zur Abfallvermeidung bieten. Dazu gehören auch Steuern und Abgaben.
Drittens. Nötig ist die Forderung von Verwertungsverfahren, um die zum Teil wertvollen Stoffinhalte in den Wirtschaftskreislauf zurückzuholen.
Viertens. Wir brauchen einen Entwurf eines Zukunftskonzepts für eine ökologisch ausgerichtete Stoffwirtschaft, die nicht unsere natürlichen Ressourcen immer schneller und immer hemmungsloser ausbeutet, sondern die Abfallminimierung, Energie- und Ressourceneinsparung konsequent begünstigt. Dahin muß der Weg gehen. Hier muß ein völlig neuer Ansatz des Denkens und Wirtschaftens zum Tragen kommen. Abfallentsorgung beginnt bei der Produktgestaltung und beim Produktionsverfahren. Insofern ist Abfallpolitik eben doch Rohstoffpolitik und damit ein Schlüsselbereich einer zukunftsorientierten Wirtschaftspolitik.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben keine Zeit mehr zu verlieren - nicht nur, weil meine Redezeit abgelaufen ist.
({9})
Da die Regierung offensichtlich in Unbeweglichkeit erstarrt ist, hat die SPD-Bundestagsfraktion einen Entschließungsantrag vorgelegt
({10})
- bitte erst gründlich und sorgfältig lesen -, der die Grundzüge einer umweltverträglichen Sonderabfallpolitik skizziert.
({11})
Wir hoffen auf zügige Beratung, aber bitte ohne Scheuklappen.
Danke schön.
({12})
Ich gehe davon aus, Frau Dr. Hartenstein, daß Sie ausschließlich von Ihrer Redezeit sprachen.
Das Wort hat nun der Abgeordnete Steffen Kampeter.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Beantwortung der Großen Anfrage zum Sonderabfallbereich durch die Bundesregierung bietet vor dem aktuellen Hintergrund der Sonderabfallentsorgungssituation in der Bundesrepublik genügend Stoff, um sich mit diesem Thema zu beschäftigen - sicherlich auch sehr viel sachlicher, als das die Rednerin der Opposition in ihrem Debattenbeitrag gemacht hat.
({0})
Kaum ein Bereich der Umweltpolitik und der Umweltgesetzgebung hat sich in den letzten Jahren in der Bundesrepublik so fortentwickelt wie die Abfallpolitik.
({1})
Dies hat in der Bevölkerung zu einem Einstellungswandel gegenüber der klassischen Wegwerfgesellschaft geführt. Die abfallintensive Produktion und der abfallintensive Konsum werden mehr und mehr negativ beurteilt. Ursache dafür ist eine grundlegende Neuakzentuierung der Abfallwirtschaftspolitik. Dem Gedanken der Vermeidung wird nun ein sehr viel höherer Stellenwert eingeräumt, als dies noch Anfang der 80er Jahre der Fall war.
Die Diskussionen um die Altölentsorgung oder über die Einführung von Einwegkunststoffflaschen waren Vorläufer für die endgültige Abkehr von der Wegwerfgesellschaft. In der Hauptsache haben aber die Verpackungsverordnung sowie die Erörterungen weiterer Rechtsverordnungen nach § 14 des Abfallgesetzes das konkretisiert, was im politischen wie im wissenschaftlichen Bereich als die neue Produktverantwortung beschrieben worden ist.
Wir befinden uns jetzt in der Umsetzungsphase der Verpackungsverordnung. Es wird deutlich, daß zahlreiche privatwirtschaftliche Unternehmen bereit sind,
bei verläßlicher staatlicher Rahmendatensetzung unternehmerische Initiative für weniger Abfall durchzuführen, und eine Vielzahl der Verbraucherinnen und Verbraucher engagiert ihren Beitrag dazu leisten.
Ein Bereich, der den Praktikern und Politikern der Abfallwirtschaft sehr viel Sorgen macht, sind die Sonderabfälle. Die neuen und alten Bundesländer stehen hier in der Verantwortung, entsprechende Sonderabfalldeponien und Verbrennungsanlagen auszuweisen.
Die Antwort hat über die zentralen Rahmendatenentscheidungen der Bundesregierung in der Vergangenheit, wie ich finde, umfassend und sachlich informiert.
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Sie hat aber auch Defizite im Vollzug bei den Ländern aufgedeckt. Es ist schon augenscheinlich - wenn ich auf die Bundesratsbank blicke -, wenn bei einem so wichtigen Thema des Landesvollzuges kein einziger Vertreter eines Bundeslandes hier anwesend ist, beispielsweise aus Nordrhein-Westfalen.
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Über die Hälfte der in den alten Bundesländern angefallenen Sonderabfälle werden hier produziert. Nordrhein-Westfalen ist leider auch für den Sonderabfall-Entsorgungsnotstand repräsentativ. Ein erheblicher Anteil der besonders überwachungsbedürftigen Abfälle aus Nordrhein-Westfalen wird in andere Bundesländer, auch in andere Länder, vor allem in die Benelux-Länder, transportiert.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussionen über illegale Sonderabfalltransporte in das Ausland ist das Land Nordrhein-Westfalen wie alle anderen Bundesländer in der Pflicht, gemeinsam mit der Wirtschaft dafür Sorge zu tragen, daß Sonderabfall nicht als Wohlstandsmüll in anderen Ländern abgelagert, sondern im eigenen Land entsorgt wird.
Ich verweise in diesem Zusammenhang auch auf die in der Großen Anfrage erwähnten Bemühungen der sogenannten Konzertierten Aktion Sonderabfall. Was Ende der 80er Jahre noch von allen Beteiligten als ein großer Erfolg empfunden worden ist, hat nicht verhindern können, daß wir Mitte der 90er Jahre einen umfassenden Sonderabfallentsorgungsnotstand in Teilen der Bundesrepublik haben werden.
Herr Abgeordneter Kampeter, sind Sie bereit, eine Frage der Abgeordneten Frau Dr. Hartenstein zu beantworten?
Wenn ich diesen Gedanken noch eben zu Ende führen darf, dann gerne.
Sie dürfen.
Dies deutet für mich darauf hin, daß die freiwilligen Selbstverpflichtungen in diesem Bereich durch entsprechende gesetzliche Rahmenveränderungen, wie sie im Kreislaufwirtschaftsgesetz oder mit den Überlegungen zu dem Abfallabgabengesetz in einigen Bundesländern bereits angedacht worden sind, begleitet werden müssen.
Bitte sehr, Frau Kollegin.
Herr Kollege Kampeter, wenn ich Ihnen jetzt sage, daß Baden-Württemberg viele Jahre überhaupt der größte Abfallexporteur unter den Ländern der Bundesrepublik war und wahrscheinlich noch ist - ich müßte das noch nachprüfen -, würden Sie dann mit mir einer Meinung sein, daß es in der Sache kein Schritt weiterführt, wenn wir jetzt den Bund gegen die Länder und die Länder untereinander ausspielen?
Frau Kollegin Hartenstein, wie schon bei der Debatte um den Naturschutz geht es hier nicht darum, den Bund gegen die Länder und die Länder gegen den Bund auszuspielen, sondern vielmehr darum, darauf hinzuweisen, daß es, verfassungsrechtlich niedergelegt, bestimmte Kompetenzen für den Bund und bestimmte Kompetenzen und Aufgaben für die Länder gibt. Ich bin dabei, auszuführen, daß der Bund im großen und ganzen seine Hausaufgaben erledigt hat, daß aber auch in vielen Bundesländern Probleme beim Vollzug, bei der Überwachung und bei der Ausweisung von Deponiestandorten oder Müllverbrennungsanlagen gesehen werden können.
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Ich werde darauf im Verlauf meiner Rede noch zurückkommen; denn ich möchte auf einige Ungereimtheiten der derzeitigen Sonderabfalldiskussion hinweisen.
Wir alle produzieren Sonderabfälle, weil wir alle Produkte benutzen, die bei ihrer Herstellung oder nach dem Konsum zu Sonderabfall werden oder Sonderabfall verursacht haben. Wenn wir einmal ehrlich sind, werden wir feststellen, daß im Laufe der Zeit eine ganze Reihe von Stoffen zu Sonderabfällen erklärt worden sind, mit denen wir tagtäglich umgehen und denen wir rein gefühlsmäßig gar nicht ein so großes Gefährdungspotential zuweisen, wie beispielsweise Lacke und Farben.
Im Bewußtsein der Bevölkerung in der derzeitigen politischen Diskussion sieht es allerdings etwas anders aus: Sonderabfälle sind gefühlsmäßig hochtoxische Stoffe. Bei jeder Diskussion über Sonderabfallentsorgung wird zumindest unterschwellig davon ausgegangen, daß die Sonderabfälle das gleiche Gefährdungspotential wie hochtoxische Gifte, beispielsweise Dioxin, haben. Dies führt zu einer enormen und sicherlich auch verständlichen Abwehrhaltung innerhalb der Bevölkerung, die entsprechende Anlagen, die wir im Rahmen unserer Sonderabfallinfrastruktur brauchen, nur noch in politischen Ausnahmefällen durchsetzbar macht.
An uns Politiker, Frau Kollegin Hartenstein - Sie haben das vorhin angedeutet -, muß partei- und länderübergreifend der Appell gehen, die Diskussion
zu versachlichen. So sollte deutlich werden, daß beispielsweise notwendige Sonderabfall-Zwischenlager, in denen Dinge aus der Haushaltssammlung vorsortiert und für die endgültige Ablagerung oder Wiederverwertung konditioniert werden, nicht zu einer zusätzlichen Gefährdung der Bevölkerung führen, sondern vielmehr dazu beitragen, daß das Gefährdungspotential, das unbestreitbar vorhanden ist, dieser dort gelagerten Stoffe durch eine sachgerechte, staatlich kontrollierte Behandlung in einem Zwischenlager verringert wird.
({1})
Wir müssen dafür werben, daß die Realisierung fachlich geeigneter Standorte für Deponien und Verbrennungsanlagen vor dem Hintergrund der von uns hier und im Bundesrat vertretenen hohen gesetzgeberischen technischen Auflagen dann auch im Konsens erfolgt. Aber das derzeitige politische Vorgehen in den Ländern ist doch eher umgekehrt: Ein Standort nach dem anderen, den wir dringend brauchen, wird im politischen Konsens abgelehnt.
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Sehr verehrte Frau Kollegin Hartenstein, das ist genau das, was ich als Vogel-Strauß-Politik bezeichnen würde, nämlich im Bundestag zu sagen, die Bundesregierung handelt nicht, und dann nicht umfassend bereit zu sein, vor Ort zu sagen, ja, wir brauchen diese Verbrennungsanlage, ja, wir brauchen diese Deponie.
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Dies veranlaßt den Abgeordneten Klejdzinski, Sie etwas zu fragen.
Bitte sehr.
Herr Kollege, stimmen Sie mir zu, daß Sie bei Ihren Ausführungen sicherlich unterschiedliche Standpunkte einnehmen müssen, wenn Sie Länder im einzelnen betrachten, d. h. daß die CDU beispielsweise in Nordrhein-Westfalen massiv gegen jeden Standort ist, den die Landesregierung auswählt?
Herr Kollege, ich habe mich mit diesen Äußerungen nicht dafür ausgesprochen, den einen oder anderen Standort auszuwählen. Die konkrete Standortfindung hat nach bestimmten offenlegungswürdigen Kriterien und nach fachlichen Gesichtspunkten zu erfolgen. Nur, wenn eine Verwaltungsbehörde überprüfbar entscheidet, daß ein solcher Standort gefunden worden ist, dann sollten wir schon über bestimmte parteipolitische Taktiken hinweggehen.
Ich möchte allerdings darauf hinweisen, daß bei der Standortwahl gelegentlich nicht sehr geschickt vorgegangen wird. Ich will Ihnen aus meiner Heimatregion ein Beispiel geben: Die nordrhein-westfälische Landesregierung, vertreten durch den Regierungspräsidenten, hat in einem Suchverfahren für eine dringend benötigte Sonderabfalldeponie einen Standort unmittelbar in der Nähe von Münchehagen an der Landesgrenze gewählt. Sie werden bei der Bevölkerung überhaupt kein Verständnis finden, wenn Sie auch nur versuchen, neben einer nicht sanierten - hier sage ich einmal das Wort - „Giftmülldeponie" eine weitere Sonderabfalldeponie mit hohem technischem Standard, die nichts mit der „Giftmülldeponie" in Münchehagen gemein hat, auszuweisen. Sie stoßen dann auf 4 000, 5 000 Menschen, die nur bei Bekanntwerden der Pläne dagegen protestieren.
Ich frage Sie: Hat eine Landesregierung, die durch ihren Regierungspräsidenten so vorgeht, eigentlich den Wunsch, überhaupt einen Standort für eine solche Sonderabfalldeponie auszuweisen?
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Oder versucht sie, ihrer formellen Pflicht, Vollzug zu melden, durch ungeschicktes Vorgehen zu genügen, indem sie einen Standort nach dem anderen politisch beerdigt?
Erstens möchte ich jetzt darauf hinweisen, daß der Abgeordnete Klejdzinski nicht das Recht hat, die Frage zu beantworten, und zweitens, daß ich wegen der Länge der Antwort die Redezeit nunmehr wieder anrechne.
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Das obliegt dem Abgeordneten Kampeter.
Ich möchte jetzt gerne im Zusammenhang vortragen, glaube aber, daß wir gar nicht so weit auseinanderliegen, Herr Kollege. Wir müssen halt sehen, daß es, je näher die Menschen an einer Entsorgungsinfrastruktur wohnen, um so schwieriger ist, das, was politisch und sachlich richtig ist, durchzusetzen. Wenn wir in diesem Bereich einen Konsens finden, sollte das nicht falsch sein.
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Trotz all der Fehler bei der Standortsuche, die ich gerade beschrieben habe, sollten wir durch Offenlegung aller Kriterien für die Auswahl und Darlegung der hohen technischen und ökologischen Standards gemeinsam politisch für das eintreten, was sachlich gerechtfertigt ist. Mit dem Entschließungsantrag, den die SPD gestern abend vorgelegt hat, wird dies leider nicht geleistet. Es wird sehr viel über Vermeidung geredet; manches Richtige, manches Schlechte, weil Dirigistische. Aber es wird gar nicht oder nur in Teilbereichen über die Ausweisung von Entsorgungskapazitäten geredet. Denn bei aller Vermeidung: Wir werden irgendwo auch noch entsorgen müssen. Es wäre Anlaß gewesen, diesen politischen Konsens zu leisten, indem Sie ein klares Bekenntnis beispielsweise zur Sonderabfallverbrennung hier geleistet hätten.
Ich will Sie einmal daran erinnern, was der nordrheinwestfälische Umweltminister, Herr Matthiesen, kürzlich über die Müllverbrennung gesagt hat. Die ablehnende Haltung von Hessen und Niedersachsen
gegenüber der Müllverbrennung hat er als Zivilisationsschande charakterisiert.
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Will sagen: Wir können es uns einfach nicht leisten, Dinge unvorbehandelt auf die Deponien zu tun. Auch bei Sonderabfällen brauchen wir entsprechende Verbrennungskapazitäten. Dafür müssen wir gemeinsam eintreten. Darüber steht leider nichts in Ihrem Antrag. Dort steht viel, was auf eine neue, gesteuerte Industriegesellschaft abzielt, aber wenig von den tatsächlichen Notwendigkeiten, die wir in der Sonderabfallwirtschaft haben.
Lassen Sie mich, meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem Zusammenhang auch auf eine wirtschafts- und ordnungspolitische Fragestellung eingehen.
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Abfall ist immer eine staatliche Veranstaltung gewesen, weil man Abfall, historisch gesehen, im ordnungsrechtlich geprägten Deutschland nur ungern privaten Unternehmern überlassen hat. Angesichts der zunehmend wichtigeren privatwirtschaftlichen Aktivität in vielen Wirtschaftsbereichen der Bundesrepublik wird von Ökonomen immer wieder die Frage gestellt, warum die Politik das Problem Abfall oder Sonderabfall nicht über den Preis anpacken will.
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Das Konzept der Bundesregierung zielt auf die Aktivierung der spontanen Kräfte der Märkte und macht sich das Bewußtsein und Eigeninteresse der Marktteilnehmer zunutze.
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Die Bundesregierung hat gemeinsam mit dem Bundesrat und im übrigen gemeinsam mit zahlreichen sozialdemokratischen Ländern über die Verpakkungsverordnung einen wichtigen Privatisierungsprozeß in einem Teilbereich des Abfallsektors eingeleitet. Das hat dazu geführt, daß sich neben der in der Regel staatlich kontrollierten und staatlich betriebenen Abfallentsorgung ein weiterer privatwirtschaftlich strukturierter Bereich zu entwickeln beginnt.
Im Bereich der Sonderabfallentsorgung haben die Bundesländer zu sehr unterschiedlichen Lösungen gegriffen. Manche haben staatliche Gesellschaften mit Monopolcharakter und Andienungszwang errichtet. Andere Bundesländer wiederum vertrauen darauf, daß eine privatwirtschaftliche Lösung unter - ich will das deutlich sagen - strenger staatlicher Kontrolle eine kostengünstige und im ökologischen Sinne leistungsfähige Alternative zur rein staatlichen Behandlung, Verwertung und Entsorgung von Sonderabfällen ist.
Lassen Sie mich an dieser Stelle einmal etwas zu den illegalen Abfallexporten sagen. Warum sind denn eigentlich die Preise auf den deutschen Sonderabfalldeponien so hoch? Weil wir nicht entschlossen genug Deponieraum und Verbrennungskapazitäten
ausgewiesen haben neben unseren umfassenden Vermeidungsbemühungen. Weil wir durch diese Verweigerung die Preise für die Deponierung und die Verbrennung künstlich hochgehalten haben,
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ist das ein klassischer Ausweichmechanismus, den wir hier feststellen. Jede Deponie, die nicht gebaut wird, wird einen weiteren Anreiz bieten, Restmüll illegal zu exportieren. Wenn die Länder darüber hinaus offensichtlich Defizite im abfallrechtlichen Vollzug bzw. bei der Kontrolle haben, wird dies natürlich zu einem Problem.
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- Nein, danke!
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Herr Dr. Feige, das ist seine alleinige Entscheidung. Da können Sie gar nichts machen. - Deswegen fahren Sie bitte fort, Herr Kollege.
Der Gedanke zielt darauf ab, daß auch in diesem Bereich Deregulierung, Privatisierung und Wettbewerb eine immer größere Rolle spielen müssen und daß der Staat, Hand in Hand mit der Privatwirtschaft, auch entsprechende privatwirtschaftliche Aktivitäten zulassen muß.
Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich Sie unterbreche, aber das Fragebedürfnis ist außerordentlich groß. Ich habe eine weitere Wortmeldung. Wenn Sie grundsätzlich nein sagen, dann ist das erledigt.
Dann müßte ich erst dem Kollegen Feige die Frage erlauben.
Also grundsätzlich ja?
Ja.
Bitte sehr.
Danke, Herr Kollege Kampeter. Es ist auch eine faire Frage. Wenn ich „strenge staatliche Kontrolle" höre, ist das dan ein solcher Fall wie im Land Mecklenburg-Vorpommern, wo der Staatssekretär im Umweltministerium, der Herr Conrad, gleichzeitig Geschäftsführer der entsprechenden Müllentsorgungsfirma ist? Ist das ein solches Beispiel, wie Sie es sich vorstellen?
Die Frage der staatlichen Kontrolle, sehr verehrter Herr Kollege Feige, verstehe ich nicht so, daß ich Träger öffentlicher Aufgaben in staatliche Entsorgungsgesellschaften schicke. Das Modell, für das ich plädiere, ist vielmehr, sorgfältig zu prüfen, ob wir - und da ist übrigens
Nordrhein-Westfalen, wie ich finde, ein positives Beispiel - nicht nur eine staatliche SonderabfallLandesentsorgungsgesellschaft haben, die den differenzierten Nachfragern auf dem Markt für Beseitigungskapazitäten gar nicht hinreichend differenzierte Qualitätslösungen anzubieten hat, sondern ob wir das privatwirtschaftlich strukturieren sollten. Von daher ist aus der Personalunion, die Sie hier beschreiben, zu meinem Themenbereich kein direkter Bezug herzustellen.
Jetzt die Frage der Abgeordneten Frau Caspers-Merk.
Herr Kollege, meine Frage zielt in dieselbe Richtung. Ist es staatliche Kontrolle, wenn es, wie im „Spiegel" nachzulesen war, so ist, daß bei Wertstoffen des Grünen Punktes acht Zeilen des TÜV-Gutachtens, die nur sagen, was in Rumänien entsorgt werden kann, schon ausreichen, um praktisch einen Export von Abfall, der dann als Wertstoff deklariert wird, in ein Land, das offensichtlich so „high-tech" ist wie Rumänien, daß wir es da machen können, zu erlauben? Meinen Sie das mit „staatlicher Kontrolle"?
Frau Kollegin, Sie mißverstehen mich gründlich, wenn Sie meine Äußerungen so interpretieren, daß ich den Zustand, den Sie gerade beschrieben haben, billige. Es geht mir auch nicht so sehr um die Privatisierung der Polizei, sondern darum, daß die Polizei bzw. die vollziehenden Landesbehörden darauf aufpassen, was da passiert. Nur müssen die Unternehmen, auf die sie aufpassen, nicht immer nur staatliche Unternehmen sein, sondern dürfen auch private Unternehmen sein.
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Das heißt, es geht hier nicht um die Privatisierung der Polizei, um die Deregulierung der Kontrolle, sondern derjenige, der Abfallentsorgungsanlagen anbietet, der sie betreibt, darf privatwirtschaftlich sein. In diesem Sinne bitte ich mich richtig zu verstehen.
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Da haben wir einige sehr problematische Entwicklungen festzustellen. Ich will einige nennen. Insbesondere die Energieversorgungsunternehmen, die über offensichtlich ertragreiche Strompreise und trotz Konzessionsabgabe über ausreichende Mittel verfügen, kaufen in diesen Wochen und Monaten zahlreiche mittelständische Entsorgungsunternehmen auf. So hat allein das RWE in den letzten Jahren seine Stellung als bundesweiter Branchenführer durch den Aufkauf oder die Beteiligung an rund 70 Entsorgungsunternehmen entscheidend ausgebaut. Die VEW, Schleswag, Badenwerk, Bayernwerk und die Energieversorgung Schwaben befinden sich ebenfalls auf einem kräftigen Expansionskurs zu Lasten der mittelständischen Entsorgungsunternehmen. Diesen Übernahmewünschen der EVUs stehen die Mittelständler teilweise schutzlos gegenüber, da sie wegen der hohen Investitionsquote in ihren äußerst dynamischen Märkten nur geringe Eigenkapitalquoten aufweisen. Sie sind somit aus der Sicht der EVU-Riesen ideale Übernahmekandidaten.
Aber wenn wir einfach zur Kenntnis nehmen, daß diese Unternehmen erwiesenermaßen die hohe Leistungsfähigkeit der privat- und mittelbetrieblich strukturierten Entsorgungswirtschaft belegt haben, kann dieser Konzentrationsprozeß keinesfalls positiv bewertet werden. Ich erwarte, daß die Bundesregierung in den nächsten Wochen den angekündigten Bericht, wie sie diesem weiteren Konzentrationsprozeß im Abfallwirtschaftsbereich gegenübersteht, vorlegen wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, über eines müssen wir uns auch klar sein: Finden wir irgendwann einen privaten Investor, braucht der einen langen Atem und gute Nerven, um überhaupt eine solche Investition zu realisieren. Da kämpft dann die abfallrechtliche Schiene gegen die immissionsschutzrechtliche Genehmigungsbehörde, da werden ordnerweise Genehmigungsanlagen in vier- oder fünffacher Auflage erwartet, die werden zurückgegeben, und es wird in fünf Erörterungsterminen fünfmal das gleiche erörtert. Dadurch werden solche Abfallentsorgungs-Infrastrukturmaßnahmen weiter verzögert. Ich kann Ihnen von einem Fall aus meiner Region berichten, wo es nicht möglich ist, eine sehr ungefährliche Einrichtung, nämlich ein Kompostwerk, zu genehmigen, weil immer neue Rückfragen erfolgen.
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Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich die von der Bundesregierung vorgelegten abfallrechtlichen Beschleunigungsmaßnahmen. Sie sollten von den Ländern beherzt im Vollzug genutzt werden. Denn wir alle müssen wissen: Jeder Tag, der mit Behördenstreit, unnötigen Anfragen, Prüfungen und Plänen ins Land zieht, führt uns einen Tag näher an den Abfallentsorgungsnotstand heran.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesregierung verfolgt eine Sonderabfall-Strategie, in der ich drei Elemente sehr bemerkenswert finde: erstens eine umfassende Anleitung zur Vermeidung und Wiederverwertung von Abfällen im Rahmen der neuen Produktverantwortung, zweitens eine Ausnutzung der privatwirtschaftlichen Aktivitäten im Rahmen hoher umweltpolitischer Standards und drittens eine Beschleunigungsstrategie bei der Genehmigung von Umweltanlagen im Sonderabfallbereich, aber auch in anderen Bereichen, bei zeitgleicher Aufrechterhaltung unserer hohen ökologischen Standards.
Nur wenn wir all diese Strategieelemente beherzt verfolgen, wird der Standortfaktor „Abfallentsorgungskapazität" ein positiver Standortfaktor für den Standort Bundesrepublik bleiben.
Sollten wir dies nicht schaffen, wird sich politisch die Frage stellen, ob wir dann den Kraftaufwand wollen, Deponien und Verbrennungsanlagen mit Maßnahmegesetzen zu bauen, wie wir es bereits für andere wichtige Infrastrukturelemente im Verkehrsbereich vorsehen.
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Ich glaube, wir sollten, bevor wir zu solchen Lösungen schreiten, eher unser Verstandespotential ausnutzen, um gemeinsam sachgerecht zu dezentralen Lösungen zu kommen.
Lassen Sie mich daher, meine sehr verehrten Damen und Herren, Frau Präsidentin, abschließend und zusammenfassend folgendes sagen:
Wir brauchen erstens eine stärkere politische Rükkendeckung für Sonderabfalldeponien, damit wir der Wirtschaft in allen Teilen der Bundesrepublik auch bei ortsnaher Sonderabfallentsorgung attraktive Standorte bieten können.
Wir brauchen zweitens für Sonderabfälle eine hinreichende Zahl von Verbrennungsanlagen, weil nur so für die langfristige Ablagerung das Schadstoffpotential auf unseren Deponien gering gehalten werden kann.
Drittens brauchen wir auch zukünftig die Privatwirtschaft in allen Segmenten des Abfallwirtschaftsbereichs. Wir sollten gemeinsam mit kleinen und großen privaten Unternehmen dazu beitragen, daß Sonderabfälle nicht ein Risikofaktor in unserer Gesellschaft bleiben.
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Viertens brauchen wir verantwortungsbewußte Politiker, die nach sachlicher Abwägung begründete Entscheidungen politisch dann auch offensiv vertreten. Dann werden wir sicher bei unserer Bevölkerung die Zustimmung dafür erhalten, daß die Bundesrepublik Deutschland auch morgen noch ein attraktiver Wirtschaftsstandort mit leistungsfähigen Entsorgungsmöglichkeiten bleibt.
Der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion zu der Beantwortung der Großen Anfrage zum Sonderabfall bietet dafür leider keine hinreichenden Anhaltspunkte. Wir als CDU/CSU-Fraktion werden ihn daher ablehnen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Nun hat die Kollegin Ingeborg Philipp das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der bisherigen Debatte spielte das Problem der Finanzierung der erforderlichen Aufwendungen für den Umweltschutz eine berechtigte Rolle. Denn die erforderlichen Mittel sind so hoch, daß sie weder in der produzierenden Industrie noch in den Ländern zur Verfügung stehen. In Kenntnis dieser Tatsache hat Michail Gorbatschow, als er zum ersten Mal auf die politische Bühne trat, in Paris gefordert, daß Umweltschutz in dem Augenblick erfüllbar wird, wo Abrüstung und Entmilitarisierung wirksam werden. Nur dann werden die Mittel, die benötigt werden, in dem notwendigen Umfang frei.
Ein erster Schritt in diese Richtung könnte bei uns in der Bundesrepublik sein, daß Bundeswehrsoldaten für die Entsorgung von Sondermüll eingesetzt werden. Fahrzeuge stehen zur Verfügung, die Bereitstel lung von Arbeitskräften ist kein Problem. Finanzierungsprobleme entstehen in keinem nennenswerten Umfang. So könnte der Müll-Mafia von Anfang an etwas das Handwerk gelegt werden.
Ich will nun eine Information zu dem Ist-Stand in der DDR, im Bereich der Metallurgie wie ich ihn kenne, geben. Es gab zu DDR-Zeiten ein Landeskulturgesetz, das 1970 in Kraft getreten ist. Darin wurde bereits auf abproduktarme Technologien verwiesen, die Mitte der 70er Jahre für die Industrie verbindlich gemacht wurden. Wir haben in der Industrie darauf reagiert und in den Stahlwerken Brandenburg und Eisenhüttenstadt Aufbereitungsanlagen gebaut, so daß eine abproduktarme Technologie der Stahlherstellung in diesen beiden Werken möglich war. Weitere Vorhaben waren geplant.
Es gibt auch für Sondermüll eine gute technische Lösung, aber sie hatte noch nicht den höchsten Stand erreicht. Sie ist in der Maxhütte Unterwellenborn praktiziert worden. Dort wurde nämlich Ölsinter in der vorhandenen Kraftwerksanlage verbrannt.
Das waren Anfänge. Es war ständig so, daß - neben guten Lösungen - eine Verzögerungstaktik angewendet wurde. So geschieht es mit Sicherheit auch in den alten Ländern. Es geht darum, daß wir die guten und aktiven Menschen fördern müssen, damit etwas sinnvolles bewirkt wird.
Wir sehen hier in der Bundesrepublik einen Schwerpunkt in der chemischen Industrie, weil sie zu den gefährlichsten Risikoindustrien gehört. Die Industrie hat in der Vergangenheit chemische Zeitbomben in den Boden gesetzt. Doch nach wie vor spielt die Produktion nicht naturverträglicher voll- und teilhalogenierter Kohlenwasserstoffe eine große Rolle und werden Jahr für Jahr Hunderte neuer Stoffe in Umflauf gebracht, deren Wirkung kaum erforscht ist. Mit dem Umstieg auf harte Gen- und Biotechnologien sucht die chemische Industrie einen Ausweg, der zu noch schlimmeren Risiken und Problemen führt, da die Wirkung gentechnisch manipulierter Organismen auf andere Ökosysteme unkalkulierbar ist.
Eine ökologische Chemiepolitik muß sich den Abbau besonders problematischer Produktionslinien wie PVC, FCKW, Phosgen, halogenierte Kohlenwasserstoffe, Gentechnologie usw. zum Ziel setzen. Ein Umbau der übrigen chemischen Produktion in Richtung Natur-, Gesundheits- und Sozialverträglichkeit sowie der Aufbau einer sanften Chemie ist notwendig geworden. Sanfte Chemie fördert Produktionsverfahren, die zu Stoffen führen, die von Mensch und Natur ohne Schaden abgebaut und in ökologische Kreisläufe integriert werden können.
Es ist uns klar, daß die nötigen Konzepte für den Umstieg auf sanfte Chemie erst in einigen wenigen Bereichen entwickelt sind, z. B. Naturfarben, Nahrungsmittel, Medikamente, Kosmetika, Kleidung. Die nötige Chemiewende muß daher in einem ersten Schritt durch politische Vorgaben wie Gebote, Verbote, Steuern und Abgaben einen Ausstieg aus besonders gefährlichen Produktionen fördern, während gleichzeitig Mittel und Institutionen geschaffen werden, die eine Neukonzeption der Chemiepolitik, eine durchgreifende Technologiebewertung und Produkt11922
linienanalyse sowie eine ausreichende ökologische Produktionsvorbereitung ermöglichen.
Die Wende hin zur sanften Chemie ist nur möglich, wenn wir uns dazu entschließen, eine sanfte Gewalt zu praktizieren. Dazu gehört, daß wir hier im Parlament Gutes loben, auch bei den anderen, Kritik konstruktiv vorbringen, Gräben zwischen Parteien zuschütten und eine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben praktizieren.
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Als nächste spricht die Kollegin Birgit Homburger.
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Herr Kollege Feige, ich weiß schon, was ich hier zu sagen habe.
({0})
- Das werden Sie in der Tat gleich hören.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele der von der SPD geforderten Punkte laufen auf das geplante Kreislaufwirtschaftsgesetz hinaus. Wie bei allen anderen Abfällen muß auch bei den Sonderabfällen die Vermeidung Vorrang vor allem anderen haben. Diesen Grundsatz wollen wir festschreiben, und das ist eine der wichtigsten Forderungen in bezug auf das Kreislaufwirtschaftsgesetz.
Des weiteren muß sicherlich auch für die Sonderabfälle eine Produktverantwortung zugrunde gelegt werden. Nur dann wird sich jeder, der Sondermüll produziert, überlegen, wie er ihn vermeiden kann. Mit der Produktverantwortung werden die Hersteller automatisch verstärkt die Möglichkeiten der Vermeidung und der Recyclingfähigkeit mit einbeziehen, erforschen, entwickeln und auch zur Anwendungsréife bringen.
Schon allein die Ankündigung eines Kreislaufwirtschaftsgesetzes und einer Elektronikschrott-Verordnung haben - ohne daß wir die Produktverantwortung schon eingeführt hätten - z. B. Computerhersteller dazu veranlaßt, recyclingfähige Computer zu entwickeln.
({1})
Eine Festsetzung quantitativer Vermeidungsziele erübrigt sich damit. Eine Förderung durch die Bundesregierung in Form von Forschungsgeldern für solche speziellen Vorhaben ist dabei nicht nötig.
({2})
Wichtig ist, daß wir auf Dauer erreichen, daß durch die Produktverantwortung auch das Problem gelöst wird, daß umweltfreundliche Produkte heute oft noch teurer als die anderen Produkte sind. Aber auch das wird sich dann einspielen.
Die SPD schlägt für die Entwicklung von Verwertungstechnologien eine Prioritätenliste vor. Eine solche Prioritätenliste hält die F.D.P. für den falschen Weg. Es wird z. B. vorgeschlagen, die Aufarbeitung zum gleichen Produkt an die erste Stelle zu setzen. Das kann auch bedeuten, daß der Zwang entsteht, eine gefährliche Chemikalie herzustellen, obwohl sie mittlerweile ersetzt werden könnte. Es wird der im Zweifel bessere Weg der sicheren Entsorgung verstellt.
Eine Rohstoffgewinnung ist nicht immer marktwirtschaftlich. Die Hydrierung von Kunststoff und die Wiedergewinnung von Erdöl ist ein Beispiel dafür. Diesen unsinnigen Weg auch noch gesetzlich festzuschreiben halte ich für gefährlich.
({3})
Interessant wäre auch zu erfahren, wie eine Aufkonzentration von toxischen Stoffen, wie Sie sie vorschlagen, bei der festgelegten Prioritätenfolge vermieden werden soll, ganz abgesehen davon, daß es positive Beispiele gibt, z. B. die Aufkonzentration von Schwefelsäure aus Dünnsäure. Diese Aufkonzentration ist gleichzeitig eine Stoffgewinnung, oder wäre es nach dem SPD-Antrag dann eher eine Rohstoffgewinnung? Das wird daraus auch nicht so ganz deutlich.
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- Genau das wollen wir ja vermeiden, aber durch Ihren Antrag wird das nicht vermieden.
Genauso, wie sich durch die Produktverantwortung die Vermeidung und Recyclingfähigkeit entwickelt, wird sich auch der beste ökologische Standard durchsetzen. Wenn man nicht immer alles reglementiert, sind die Dinge einer ständigen Erneuerung und damit auch einer Verbesserung unterworfen.
({5})
Was heißt das überhaupt: Ökologische Standards für Verwertungsprodukte? Was sind eigentlich - Sie schlagen es vor - Verwertungsprodukte?
Für den trotz aller Vermeidungs- und Verwertungsbemühungen auch in Zukunft anfallenden Sondermüll fehlen nach wie vor die Kapazitäten. In dieser Feststellung stimmen wir mit der SPD ja völlig überein. Es müssen daher Entsorgungsanlagen geschaffen werden. Diese Anlagen müssen einfacher und schneller zugelassen werden. Daß sie dem Stand der Technik entsprechen müssen, ist selbstredend. Dazu brauchen wir die Abfallnovelle und das Investitionserleichterungsgesetz, über das ja zur Zeit beraten wird. Mit letzteren werden wir vor allem die Genehmigungsverfahren für die nötigen Anlagen beschleunigen.
({6})
Daß die Bereitschaft und die Möglichkeit zum Bau von Entsorgungsanlagen bestehen, zeigt das Angebot der BASF in Ludwigshafen, auf ihrem Gelände eine solche Anlage zu bauen, um den anfallenden Sondermüll aus Rheinland-Pfalz fachgerecht zu entsorgen.
({7})
Wenn die Länder eine ausreichende Entsorgungsinfrastruktur aufgebaut haben, werden auch gleich die Grundlagen für den illegalen Export beseitigt. Das
kam in der Rede des Kollegen Kampeter schon zum Ausdruck, und wir haben schon hinreichend darüber diskutiert. Wenn sich diejenigen, die gegen den illegalen Sondermüllexport sind, einmal genauso vehement für die Sondermüllentsorgung im Land einsetzen würden,
({8})
dann wäre das auch glaubhaft, aber das ist leider nicht so.
({9})
- Ich nenne ein Beispiel. Als die CDU-SPD-Koalition in Baden-Württemberg an die Regierung kam - Frau Kollegin Hartenstein, Sie sollten das genausogut wissen wie ich -, wurde der einzige Standort für eine Sondermüllverbrennungsanlage zunächst wieder in Frage gestellt.
({10})
Eine Verwertung der Sekundärrohstoffe, die im Kreislaufwirtschaftsgesetz vorgeschrieben werden soll, führt zur Primärrohstoffeinsparung und auch zur Nutzung der Sekundärrohstoffe. Zusätzliche Förderungen oder gar Subventionierungen der Sekundärrohstoffe sind unnötig und führen wieder nur zu Dauersubventionen. Die verstärkte Verwendung von Sekundärrohstoff braucht keine Subventionierung, sie braucht vor allen Dingen Absatzmärkte, und da müssen wir uns eben fragen, welche überflüssigen Bestimmungen wir in Gesetzen abbauen können.
({11})
Ich denke da an Teile des Lebensmittelrechts und anderes mehr.
({12})
Des weiteren wird im Kreislaufwirtschaftsgesetz die dringend notwendige Unterscheidung zwischen Rückständen, Sekundärrohstoffen und Abfall vorgenommen. Das war ja eine Forderung, die wir von seiten der F.D.P. immer wieder erhoben haben. Damit wird die Umdeklarierung von Abfällen zu sogenanntem Wirtschaftsgut, die auch Sie berechtigterweise kritisieren, hoffentlich nicht mehr möglich sein. Jedenfalls werden die Begriffe endlich präzisiert. Dies ist einfach notwendig.
({13})
Deswegen sind wir der Meinung, daß die Beratung des Kreislaufwirtschaftsgesetzes bald aufgenommen werden muß. Wir sind der Meinung - und das ist ein Wort an den Bundesumweltminister -, daß es hier keine Verzögerung mehr geben darf.
({14})
Der Export von Sondermüll ist ein besonders trauriges Kapitel. Die F.D.P. hat schon immer eine scharfe
Verfolgung und Aufklärung solcher illegalen Exporte gefordert
({15})
und bleibt bei dieser Forderung, selbstverständlich gemeinsam mit der CDU-Fraktion, Herr Kollege; aber die Rede haben Sie ja schon abgeliefert.
Es kann nicht angehen, daß im Endeffekt der Steuerzahler für die hohen Entsorgungskosten aufkommt. Im Mai letzten Jahres haben wir uns zur Rücknahme der illegal nach Rumänien exportierten Pflanzenschutzmittel verpflichtet. Die Bundesregierung z. B. hat sich sofort um die Rücknahme gekümmert. Nach wie vor streiten sich leider einige Länder um die Finanzierung.
({16})
Die Fässer befinden sich noch immer in Rumänien. Mittlerweile ist Schmelzwasser in die Lagerräume eingedrungen, die Pflanzenschutzmittel laufen aus und verseuchen das Grundwasser.
({17})
Das sind Dinge, die vorhersehbar waren, vor denen wir gewarnt haben. Ich frage deswegen: Was muß eigentlich alles noch passieren, bis endlich tatsächlich die Rücknahme erfolgt? Ich fordere daher die Länder Bayern, Schleswig-Holstein und das Saarland auf, sich nicht länger der Solidarhaftung zu verweigern. Daran liegt es und an nichts anderem. Der Bund hat hier nichts zu tun.
({18})
- Der Bund hat alles getan, was er tun konnte. Wollen wir uns dieses Problems entledigen, indem wir immer mehr Zeit verstreichen lassen und am Ende nur noch die leeren Fässer zurücknehmen? Ich denke, das kann nicht wahr sein. Da sind die Länder gefordert.
Dieser Vorfall zeigt uns deutlich, daß endlich auch die Ratifizierung des Baseler Abkommens dringend notwendig ist. Über die EG-Abfallverbringungsverordnung wurde unter den EG-Staaten Einigkeit erzielt. Dazu sind Begleitvorschriften zu erlassen. Die F.D.P. fordert, daß, wer Müll exportiert, eine Sicherheit leisten muß, und zwar in Form entweder einer Versicherung oder einer Bankbürgschaft.
({19})
So werden unseriöse Briefkastenfirmen ausgeschaltet.
({20})
Nicht gedeckte Transportkosten gehen zu Lasten der Länder. Für die Länder muß im übrigen aus unserer Sicht eine Auffanghaftung gelten. Vollzugsbehörden, die illegale Exporte zulassen, sollen auch das Risiko dafür tragen. Nur so kann das Verursacherprinzip durchgesetzt werden.
Der Entschließungsantrag der SPD erscheint insgesamt wie ein bunt zusammengewürfelter Haufen von populären Forderungen ohne Konzept.
({21})
Der Antrag widerspricht sich in einigen Punkten selbst. Auf der einen Seite wird die Forderung nach einem Kreislaufwirtschaftsgesetz erhoben; andererseits soll der Staat verschiedene Regelungsinstrumente, die dem zuwiderlaufen, einführen.
Wir wollen die Produktverantwortung und wollen auch, daß die Betriebe ihre Eigenverantwortung ernst nehmen. Nicht der Staat soll für die Entsorgung verantwortlich sein. Das wäre nämlich die Konsequenz aus Ihren Forderungen.
Die Erweiterung von Stoff- und Produktverboten zielt auch in diese Richtung. Das ist aus unserer Sicht genau der falsche Ansatz. Mit der Erweiterung würden wir innovationshemmend wirken. Wenn wir auf die Eigenverantwortung setzen und die richtigen Rahmenbedingungen vorgeben, werden wir die Ziele erreichen, und zwar effektiver als von der SPD vorgeschlagen. Da ich immer für große Effektivität bin, halte ich unseren Weg für den richtigen und sage, daß auch unsere Fraktion Ihren Entschließungsantrag ablehnen wird.
({22})
Nun hat der Kollege Klaus-Dieter Feige das Wort.
({0})
Jetzt der F.D.P. die Meinung sagen? Bitte, das lohnt die Zeit nicht mehr.
({0})
- Die anderthalb Jahre! Ich bitte um Entschuldigung.
Frau Präsidentin! Der ehemalige Abgeordnete Volmer hat letztens auf die Frage, wie wir denn zur Ampelkoalition stehen, gesagt: Wir wollen die Welt retten und nicht die F.D.P.,
({1})
womit ich nicht die Kollegin Homburger meine; sie ist rettenswert und, ich glaube, auch rettbar.
Die Antwort auf die Große Anfrage zeigt, daß die Konzeptionslosigkeit der Bundesregierung in dieser Frage nur noch von ihrer Ahnungslosigkeit übertroffen wird. Diese Antwort ist eine umweltpolitische Kapitulationserklärung. Auch mit Schall und Rauch läßt sich - Herr Wieczorek wird es Herrn Töpfer sicherlich sagen - der mangelnde politische Gestaltungswille der Regierung nicht mehr übertünchen. Da heißt es - ich zitiere; ich nenne nur Fakten -: „Die Bundesregierung ist überzeugt, daß die Soziale Marktwirtschaft ihre wirtschaftliche und ökologische Leistungsfähigkeit auch hier unter Beweis stellen wird." Ich möchte mich nicht darüber auslassen, ob man da den Bock zum Gärtner macht; aber ein solches
Vertrauen in die Selbstheilungskräfte des Marktes findet man seit den diesbezüglichen Erfahrungen mit der deutschen Einheit nicht einmal mehr bei christdemokratischen Wirtschaftsexperten.
({2})
Und wenn ich mich nicht völlig irre, ist das auch das ursprüngliche Fachgebiet des Bundesumweltministers Herrn Töpfer.
Verehrter Kollege Feige, würden Sie eine Zwischenfrage gestatten?
Ich freue mich darauf; ich habe ja nur fünf Minuten Redezeit.
Was Ihre Ausführungen zur Marktwirtschaft angeht: Ist Ihnen eigentlich bekannt, daß die Selbstheilungskräfte des Marktes auch nach der von der Union vertretenen Auffassung nur dann funktionieren, wenn ein funktionsfähiger Rechts- und Ordnungsrahmen besteht,
({0})
wie wir ihn beispielsweise durch ein scharfes umweltrechtliches Strafrecht oder ein Ordnungswidrigkeitenrecht in der Bundesrepublik haben, und daß die Selbstheilungskräfte des Marktes der rechtlichen Rahmendatensetzung auch beispielsweise durch die Wettbewerbspolitik bedürfen?
Lieber Herr Kollege Kampeter, Sie haben es wirklich gesagt. Es funktioniert mit dem marktwirtschaftlichen Wechselspiel, wenn ein funktionierendes Rahmensystem da ist. Nun frage ich: Bitte, was haben Sie seit 1982 in dieser Koalition getan, daß wir heute nicht dieses funktionierende Rahmensystem vorliegen haben? Es lag in Ihrer Möglichkeit. Gegenwärtig gibt es permanent Ausgleichsmaßnahmen. Das, was Sie dort alles tun, ist sicherlich der beste Weg, daß dieses von Ihnen vorgeschlagene Prinzip durch die Koalitionspolitik nicht hinhaut.
({0})
Ich gehe aber auf die Beispiele ein. Erstens. Da vermeldet die Bundesregierung im Frühjahr 1992, daß ordnungsrechtliche Maßnahmen auf der Grundlage von Abfallgesetz und BImSchG bereits heute eine stärkere Orientierung in Richtung auf Sonderabfall-und Reststoffvermeidung bewirken. Prima! Wer nun gehofft hat, diese Erfolgsmeldungen würden sich auch in den Berichten der Konzertierten Aktion Sonderabfall niederschlagen, die ab 1989 jährlich erstellt werden sollten, der erfährt in der Antwort Erstaunliches: Nicht ein einziger Bericht wurde vorgelegt. Im Gegenteil, im Herbst 1991 kommt die LAGA zu der Entscheidung,
({1})
daß unter heutigen Gesichtspunkten die Erarbeitung
eines solchen Berichts nicht mehr sinnvoll sei. Warum
denn aber wohl? Auf der Suche nach statistischen
Belegen für die vermeintlichen Erfolge regierungsamtlicher Sonderabfallpolitik mußte der erstaunte Leser dann feststellen, daß sogenannte verläßliche Erhebungen zuletzt für das Jahr 1987 vorliegen, lange vor dem Inkrafttreten der Abfall- bzw. der Reststoffverordnung. Belastbare Daten - so die Länder - liegen nicht vor; aber immerhin, entsprechende Datenerfassungssysteme werden zum Teil eingerichtet. Glaube und Hoffnung als Basis Ihrer Erf olgsmeldung!
Zweitens: das Trauerspiel um die Abfallabgabe. Um endlich die Marktwirtschaft in die Gänge zu bringen - so der Bundesumweltminister am 19. April 1991-, soll eine Abgabe auf Sonderabfälle eingeführt werden, um einen Anreiz zur Vermeidung bzw. Verwertung zu schaffen. Immerhin wurde noch ein Arbeitsentwurf erstellt; seitdem nichts mehr. Dessen ungeachtet verspricht uns die Regierung in der Antwort immer noch, daß eine solche Abgabe kommen soll. Aber wohlweislich läßt sie den Termin offen. Sie haben wirklich nicht mehr allzuviel Zeit, diesen noch einzusetzen. Deutlicher wird sie wenig später, wenn dann nur noch die Rede davon ist, daß ein Gesetz über eine Abfallabgabe einen weiteren wesentlichen Schritt auf dem Wege zu einer Marktwirtschaft darstellen würde, die auch ökologischen Ansprüchen genügt. Wohlgemerkt: würde! Aber wenn dem so ist, warum führen Sie das nicht einfach ein?
Drittens: Abfallexporte bleiben auch dann Abfallexporte, wenn sie illegal erfolgen bzw. wenn die Abfälle durch Umwandlung zu Wirtschaftsgut werden. Im UNCED-Bericht gab es solche Abfälle noch nicht. Der Bericht der Regierung an die UNCED enthielt sie noch nicht einmal. Da nützt Ihnen alles Herumgerede überhaupt nichts mehr. Die Ignoranz der Regierung kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Osteuropa mittlerweile ein begehrter Markt für den Handel mit Müll geworden ist. Gleichzeitig sind die neuen Bundesländer auf dem Weg, zur Schaltstelle des Müllhandels zu werden. Dies sind Tatsachen, die die Bundesregierung in ihrer Antwort verschweigt. Nachhilfeunterricht gibt das jüngste Greenpeace-Dossier „Müllexport" .
Meine Damen und Herren, zum Schluß noch einige Worte zu den Grundsätzen der regierungsoffiziellen Müllpolitik. Die Bundesregierung behauptet:
Maßgeblich für die Abfallwirtschaftspolitik der Bundesregierung sind folgende Eckpunkte: Erstens. Die konsequente Umsetzung des Vorrangs der Abfallvermeidung und stofflichen Abfallverwertung vor der sonstigen Entsorgung.
Dem könnte man grundsätzlich beipflichten. Es bleibt nur die Frage, warum im Abfallgesetz nach wie vor andere Regelungen getroffen sind, warum beispielsweise die Bundesregierung in rechtlich zweifelhafter Manier Verordnungsermächtigungen überschreitet wie im Falle der Verpackungsverordnung.
Die vorherrschende Abfallpolitik, sei es in Bund oder in vielen Ländern, ist jedenfalls heute noch nicht viel weiter als im Jahre 1972, als in der Müllpolitik das Zeitalter von Ignoranz und Hoffnung das Zeitalter von Einfalt und Glaube abgelöst hat. Ich denke, es gibt noch unwahrscheinlich viel zu tun.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Nun spricht die Kollegin Marion Caspers-Merk.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Präsidentin! Das Thema Sonderabfälle hat den Deutschen Bundestag in verschiedenen Zusammenhängen beschäftigt. Bereits vor zehn Monaten haben wir in einer Aktuellen Stunde das Thema Müllexporte aufgegriffen, weil eine in meinem Wahlkreis ansässige Firma illegal Sondermüll nach Ägypten verschieben wollte. Damals versicherte die Bundesregierung, daß man künftig solche Praktiken unterbinden wolle. Das von Umweltminister Töpfer vorgelegte Maßnahmenpaket zur Eindämmung des Mülltourismus enthielt deshalb richtigerweise die Forderung nach „Anwendung des objektiven Müllbegriffs auf Stoffe, deren ordnungsgemäße Verwertung in den Importländern zweifelhaft ist" und eine zweifelsfreie Ausdehnung des faktischen Exportverbots auf Staaten Mittel- und Osteuropas.
Die Realität sieht aber ganz anders aus. Realität sind leider Schlagzeilen wie „Deutsches Gift verseucht Rumäniens Trinkwasser" und „Giftmüll rollt nach Albanien". Was sollen wir von diesen Ankündigungen halten, wenn hier Sonntagsreden schon mitten unter der Woche gehalten werden, Herr Staatssekretär?
({0})
Die tatsächliche Situation beschreibt eine Tageszeitung mit den Worten: „Wer marktwirtschaftlich denkt, exportiert Sonderabfälle getarnt als Wirtschaftsgut, und zwar am liebsten in Länder Osteuropas und der Dritten Welt. Billiger ist es dort allemal, und das Ganze ist bereits dann legal, wenn nur eine irgendwie geartete Verwertung zugesichert wird. " Derartige Zusicherungen wurden aber auch von Bürgerkriegsparteien aus Somalia bereits als vollwertig akzeptiert. Das jüngste Beispiel in dieser unendlichen Kette ist der Versuch einer Firma aus Nordhessen, rund 80 t Chemikalien aus Bundeswehrbeständen in die GUS-Staaten zu exportieren mit dem Hinweis, es handele sich urn Materialien zur Desinfektion.
({1})
Die Bundeswehr hat eine südbadische Firma mit der Entsorgung beauftragt und dafür auch einen Obulus entrichtet, sich aber offensichtlich - hier ist der Verweis auf die Länder eben unangebracht, hier geht es um die Verantwortung des Bundes selber - nicht mehr darum gekümmert, was mit diesen Stoffen dann später passiert. Hauptsache entsorgt, am besten ist, ich weiß nicht, wohin. Das ist eben die - illegale - Praxis. Bei diesen langen Ketten kann man eben nicht mehr von Einzelfällen sprechen, vielmehr ist es durchgehende Praxis, und zwar deshalb, weil die Schlupflöcher in unserem Rechtssystem so offensichtlich sind.
Grund hierfür ist der subjektive Abfallbegriff, der alles zu Abfall macht, was ich selbst dafür halte. Finde ich aber für denselben Abfall eine Verwertung als Zuschlagstoff für den Straßenbau beispielsweise in
Rumänien, dann ist das Ganze eben Wirtschaftsgut und unterliegt keinerlei Kontrolle nach dem Abfallrecht mehr.
Frau Kollegin, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kampeter gestatten?
Aber sehr gerne.
Frau Kollegin, ich stimme Ihnen ja zu, daß es notwendig ist, bei der fünften Novelle des Abfallgesetzes die nationalen Abfallbegriffe mit dem EG-Recht zu harmonisieren. Dies ist unstreitig. Aber wenn ich Ihre Äußerungen zuvor noch einmal Revue passieren lasse, als Sie von der kriminellen Energie der entsprechenden Unternehmen -
Es war eigentlich eine Frage gewünscht und keine Kurzintervention.
- - gesprochen haben, darf ich Sie, Frau Kollegin, fragen: Selbst wenn dort nicht eine entsprechende kriminelle Energie vorhanden ist, bei welchen Sonderabfalldeponien hätten denn die entsprechenden Stoffe abgelagert werden sollen? Frau Kollegin Hartenstein hat die Entsorgungssituation schon charakterisiert.
Die Frage ist jetzt gestellt, und die Kurzintervention wird während der Rede jetzt nicht zugelassen. Sie können sich gerne noch einmal zu einer solchen melden. Frau Kollegin, zu Ihrer Antwort.
Ich begrüße das Informationsbedürfnis des Kollegen Kampeter, deshalb will ich das gerne beantworten. In diesem Fall ging es darum, daß die Bundeswehr für eine Entsorgung bezahlt hat, sich aber hinterher offensichtlich nicht mehr darum gekümmert hat, was damit tatsächlich passiert. Das heißt, eine Entsorgung wurde privatwirtschaftlich zugesichert, aber hinterher nicht mehr durchgeführt. Das ist die Realität: Wir haben Zertifikate, daß ordnungsgemäß entsorgt wird, und in 90 % aller Fälle wissen wir, daß der Verbleib ungesichert und ungeklärt ist. Dies ist das Schlupfloch, das wir beispielsweise durch die Ratifizierung der Baseler Konvention und durch das Kreislaufwirtschaftsgesetz, bei dem wir uns einig sind, daß es bald kommen soll, fordern zu schließen. Das Kreislaufwirtschaftsgesetz ist der Kern, um den es geht. Wir werden nachher den Herrn Staatssekretär befragen, denn meine Informationen sind die, daß nach Intervention eines wichtigen Industrieverbands dieses Gesetz wieder einmal vertagt wird. Ich fände es ganz interessant, wenn der Kollege dazu Antwort geben würde.
({0})
Ich habe eben zum subjektiven Abfallbegriff gesagt, daß eben alles Abfall ist, was man dafür hält. Das Problem ist eben, daß alles andere zu Wirtschaftsgut deklariert werden kann, wenn nur ein Verwender gefunden wird. Um mehr Licht in den Irrgarten der Sonderabfälle zu bringen, haben wir diese Große Anfrage gestellt, die wir jetzt debattieren, und vor allen Dingen nach Möglichkeiten der Vermeidung, Verwertung und Beseitigung von Sonderabfällen gefragt. Daß Abfallvermeidung das Gebot der Stunde ist, erschöpft sich leider immer noch in Lippenbekenntnissen der Bundesregierung. Daß wir dringend neue Konzepte bei der Abfallvermeidung brauchen, macht schon die Steigerungsrate beim Sondermüllaufkommen deutlich. Waren es 1984 noch 2,8 Millionen t Sondermüll, so waren es 1991 in den alten Ländern schon mehr als 10 Millionen t, d. h. eine Vervierfachung in sechs Jahren.
Offensichtlich haben also die bisherigen Instrumente, die zur Abfallvermeidung eingesetzt wurden, nicht gegriffen. Auch die zahlreichen Verordnungen, die uns immer wieder angekündigt wurden, aber immer noch nicht vorliegen, stellen den Aspekt der Verwertung von Abfällen in den Vordergrund. Bei der Herstellung beispielsweise eines Autos von 1 t Gewicht fallen durchschnittlich über 30 t Abfälle an. Selbst wenn die Autoschrottverordnung, wenn sie nun endlich käme, mit einer Rücknahmepflicht für Altautos in Kraft treten würde, hätten wir uns erst um ein Dreißigstel des Problems gekümmert. Der Regelungsschwerpunkt des Bundesumweltministers kommt eben regelmäßig erst dann zum Tragen, wenn der Abfall bereits entstanden ist. Ansätze zu einer ökologisch orientierten Stoffflußwirtschaft werden nirgendwo erkennbar. Wir müssen endlich von einer ressourcenverschwendenden Wirtschaftsweise umlenken hin zu einer ressourcenschonenden Wirtschaftsweise.
Dies kann nur durch den Einsatz marktwirtschaftlicher Instrumente geschehen. In der Antwort auf unsere Anfrage hat Ihr Haus, Herr Kollege Wieczorek, Produktabgaben für „nicht zielführend" erklärt. Gleichzeitig verweisen Sie in der Antwort auf die Abfallabgabe, die eine steuernde Wirkung haben soll. Wie paßt dies eigentlich zusammen?
Wir stellen fest, die Abfallabgabe ist wie auch die angekündigten zahlreichen weiteren Verordnungen und das neue Zauberwort Kreislaufwirtschaftsgesetz im Gestrüpp zwischen Bund, Ländern, verschiedenen Industrieinteressen und Ressortstreitigkeiten untergegangen. Auch das Kreislaufwirtschaftsgesetz hat zwar die erste Hürde der Ressortabstimmung genommen. Nachdem aber bei einem Gespräch beim Kanzler der Industrieverband VCI seine Bedenken gegen dieses Wirtschaftsgesetz diese Woche vorgetragen hat, sehe ich schwarz für die weitere Realisierung dieses Konzepts.
({1})
-Nein, aber wir haben ein sehr gutes Verhältnis, so daß wir auch erfahren, was dort besprochen wurde. Herr Kampeter, ich informiere Sie gerne. Wir haben deshalb den Eindruck, daß auch das Kreislaufwirtschaftsgesetz, das wir alle wollen, wieder verschoben werden soll.
Wir stellen also fest: Wer, wie Sie, im Ordnungsrecht halbherzig und in der Anwendung marktwirtschaftlicher Instrumente konzeptionslos handelt, wird dafür sorgen, daß sich die dramatische Situation beim Sondermüll weiterhin verschärft und immer wieder das
Schlupfloch der Sondermüllexporte aus dem Entsorgungsnotstand heraus gewählt wird. Da wir dies ändern wollen, endlich einen Schritt hin zu einer Stoffflußwirtschaft, zu einem modernen Stoffstrommanagement gehen wollen, fordern wir Sie auf, unseren Entschließungsantrag anzunehmen, der sich ausdrücklich und explizit für marktwirtschaftliche Instrumente einsetzt, der hier auch eine Hierarchisierung vorsieht und der Wege aus diesem Kollaps in der Sonderabfallproblematik aufzeigt.
Vielen Dank.
({2})
Nun hat das Wort der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte jetzt nicht auf die vielen Fragen eingehen, die mir direkt oder indirekt gestellt worden sind, sondern zunächst etwas zu dem sagen, was mir bei den sehr leidenschaftlichen Beiträgen der Kollegin Hartenstein und des Kollegen Kampeter aufgefallen ist.
Ich denke, daß unsere Industriegesellschaft und damit natürlich auch die Abfallwirtschaft als ein kleiner Bestandteil der Industriegesellschaft vor einem entscheidenden Wendepunkt, an einem Scheideweg stehen. Ich will das hier auch einmal offen aussprechen: Wenn wir so weitermachen wollen, dann werden wir wohl eines Tages all das, was uns überhaupt an Deponieräumen zur Verfügung steht, ob nun obertägig oder untertägig, zugeschüttet haben. Vielleicht werden wir dann auch einmal unsere ganze Industriegesellschaft deponiert haben. Dann, denke ich, haben wir keine Arbeitsplätze und keine Perspektive mehr.
({0})
Meine Damen und Herren, Sie haben in Ihrer Großen Anfrage zum Sonderabfall Stellung genommen. Das sind 11 Millionen Tonnen. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß wir ein wesentlich größeres Problem haben, wenn wir einmal alle Abfallteilmengen zusammenführen. Das sind ca. 350 Millionen Tonnen pro Jahr. Soviel Braunkohle wurde zu schlimmsten Zeiten der DDR produziert. Ich will damit bloß einmal das Gesamtbild formen. Die Schäden, die wir damit in Form von devastierter, zerstörter Landschaft hinterlassen haben, übergeben wir in Form von Deponien, in Form von Ablagerungen an die nächsten Generationen und überlassen ihnen die Entsorgung.
Meine Damen und Herren, zu behaupten, daß die Bundesregierung in den letzten Jahren hier nichts getan habe, ist doch wohl eine eindeutige Fehlinformation.
({1})
Wer hat denn den § 1 a des Gesetzes, in dem zum erstenmal Abfallvermeidung und Abfallverwertung aufgetaucht sind, formuliert? Das war doch nicht zu Ihrer Zeit, sondern - ich bin ein junger Bundesbürger - meines Wissens doch zu der Zeit dieser Koalition.
Herr Staatssekretär, erlauben Sie mir bitte, Sie zu fragen, nachdem Sie ja sehen, daß die Kollegin aufgestanden ist, ob Sie eine Zwischenfrage erlauben.
Sehr gern, immer. Frau Caspers-Merk hat sich ja zu mehreren Fragen angemeldet.
Herr Kollege Wieczorek, ich möchte Sie gern fragen, ob es zutrifft, daß die Abfallabgabe, die von Ihrem Haus angekündigt war, zur Altlastensanierung gerade in den neuen Bundesländern eingesetzt werden sollte, weil die Altlasten dort besonders groß sind. Die Frage an Sie: Wann wird diese Abfallabgabe kommen, und ist es so - Sie haben ja angekündigt, daß sie 1992 oder 1993 erhoben werden soll, um dann 1994 zu greifen -, daß die neuen Länder demnächst mit Mitteln aus der Abfallabgabe rechnen können, um die Altlastensanierung voranzubringen?
Frau Caspers-Merk, ich kann Ihnen ganz genau sagen, wann die Abfallabgabe kommen wird: in dem Augenblick, in dem die Länder der Verteilung, d. h. dem von uns vorgeschlagenen Proporz von 60:40 zustimmen werden. Allerdings kann ich Ihnen auch berichten, daß wir uns mittlerweile etwas Neues haben einfallen lassen, um der Altlasten, die es in den neuen Bundesländern zahlreich gibt, Herr zu werden, nämlich die Vereinbarung zwischen Bund und Ländern zu der Sanierung der Megaprojekte, zu denen übrigens auch eine ganze Menge von Deponien im Braunkohlebereich gehört. Das gilt auch für die Freistellungsanträge.
Trotzdem bin ich der Meinung, daß wir die Diskussion weiterführen sollten. Angesichts der angespannten finanzpolitischen Situation, die ja nicht nur den Bund, sondern auch viele Bundesländer betrifft, habe ich allerdings große Zweifel daran, daß wir da tatsächlich ein Stück weiterkommen.
Meine Damen und Herren, die Große Anfrage der SPD wurde 1991 gestellt, zu einer Zeit - das gebe ich gern zu -, als die Konfigurierung des Kreislaufwirtschaftsgesetzes noch in Arbeit war. Die Arbeiten zu dem Gesetzentwurf sind im Frühjahr dieses Jahres durchgeführt worden.
Frau Caspers-Merk, wir sind jetzt ein ganzes Stück weiter. Ich habe hier schon einmal im Bundestag auch im Umweltausschuß gesagt: Die Koalition wird alles daransetzen, dieses Kreislaufwirtschaftsgesetz Realität werden zu lassen, dieses Gesetz auf den gesetzgeberischen Gang zu bringen. Ich kann Ihnen sagen: Nach dem Gespräch mit dem VCI - das haben wir Ihnen j a auch ganz offen und transparent angekündigt
- sieht es gar nicht mehr so grau aus, sondern es lichtet sich schon einiges.
({0})
Ich bin fest davon überzeugt, daß wir zur Einbringung und auch zur Verabschiedung dieses Gesetzes in dieser Legislaturperiode kommen werden.
Meine Damen und Herren, wir haben vorhin davon gesprochen, daß es beim Bundesnaturschutzgesetz und auch bei anderen Gesetzen infolge der neuen Situation in Deutschland Schwierigkeiten gibt; das haben wir, auch der Bundesumweltminister, ja ganz offen ausgesprochen. Ich bin aber überzeugt, daß sich beim Kreislaufwirtschaftsgesetz einiges bewegen wird.
Noch etwas zu Ihren Ausführungen dahin gehend, daß die Bundesregierung nichts tue. Frau Hartenstein, wir beide waren doch vor kurzem bei der Müllverbrennungsanlage in Bonn. Das erste, was uns dort berichtet wurde - ich habe mich darüber sehr gefreut -, war eine Zahl. Es wurde nämlich berichtet, daß die Stadt Bonn im Jahre 1992, also in den Anfängen des Greifens der Verpackungsverordnung, bereits 25 000 Tonnen weniger Müll hatte. Nun wollen wir natürlich hoffen, daß das, was über das Duale System eingesammelt wurde, auch ordentlich verwertet wird.
Bei einem Aufkommen von 250 000 Tonnen sind das immerhin schon 10 % weniger. Die Stadt Bonn hat im übrigen zum Ausdruck gebracht, sie hoffe, daß sich in diesem Jahr hier noch einiges tun werde.
({1})
- Die sind über das Duale System erfaßt. Ich will noch einmal sagen: Wir hoffen natürlich, daß es zu einer ordentlichen Verwertung kommt.
Frau Caspers-Merk, ich gebe Ihnen natürlich völlig recht darin, daß wir - deshalb brauchen wir ein neues Abfallgesetz - mit dem jetzigen Abfallbegriff nicht viel weiterkommen werden, weil dieser Begriff durch seine subjektive Anbindung natürlich dem Mißbrauch Tür und Tor öffnet. Was bei uns Wirtschaftsgut ist, ist in einem anderen Land - Sie haben ja ganz kritisch, und zwar zu Recht, die osteuropäischen Länder hier angesprochen - nicht verwertbar, ist damit Abfall und wird irgendwo unter nicht zumutbaren Bedingungen illegal abgelagert.
Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt noch einmal ganz kurz auf das Kreislaufwirtschaftsgesetz eingehen. Ich denke, daß das primäre Ziel des Gesetzes der Ausbau einer Kreislaufwirtschaft ist, um schon im Vorfeld der Abfallentstehung Abfälle zu vermeiden und zu vermindern. Dies wollen wir zum einen durch betriebsinterne Kreisläufe, zum anderen aber auch durch die Verwertung von Sekundärrohstoffen im Wirtschaftskreislauf erreichen. Sie merken bei dem Wort: Die ehemalige DDR bzw. Ostdeutschland läßt grüßen. - Das ist ein Begriff, der unter der Mangelwirtschaft bei uns keine große Bedeutung hatte, der aber wert ist, hier Einzug zu halten, um klar und deutlich zu definieren, daß, wenn eine verantwortliche Produktplanung und eine verantwortliche Produktherstellung erfolgen, neben jeder Produktion Wertstoffe entstehen, die man durchaus weiterverwenden kann.
Im übrigen wird das nicht nur ein national, sondern ein international zu lösendes Problem sein. Auch im Bereich der Europäischen Gemeinschaft müssen wir uns also über die Verwertung dieser Wertstoffe Gedanken machen. Hier können wir wirklich eine Vorreiterrolle einnehmen, können wir mit unserem novellierten Abfallgesetz auch etwas für die Produktverantwortung und vor allem auch für die Ressourcenschonung in Europa tun.
Meine Damen und Herren, wir wollen hier, genauso, wie wir das mit der Verpackungsverordnung gemacht haben, Rahmenbedingungen für die Kreislaufwirtschaft setzen und eine deutliche Abgrenzung zur Abfallentsorgung vornehmen, um die erforderliche Rechtssicherheit zu schaffen.
Meine Damen und Herren, wenn wir von einem Rahmen sprechen, dann erwarten wir von den Unternehmen, dann erwarten wir von der Marktwirtschaft, daß sie diesen Rahmen allein ausfüllen. Die Verantwortung der Wirtschaft steht also im Vordergrund. Wir wollen eine weitgehende Privatisierung sowohl der Kreislaufwirtschaft als auch der Abfallentsorgung.
({2})
Meine Damen und Herren, wir sollten vor folgendem nicht die Augen verschließen: Wenn Sie in die neuen Bundesländer schauen, dann stellen Sie fest, daß im Prinzip alle Aufgaben der Abfallentsorgung oder der Wertstoffverwertung bereits an Privatunternehmen übergeben worden sind, und zwar mit einer Ausnahme, nämlich mit der Ausnahme der Deponien. Ich denke, das soll auch so bleiben. Wir haben uns über das Thema Deponien auch gestern im Umweltausschuß heftig gestritten; aber wir sind da gar nicht so weit auseinander.
Genauso wie bei der Verpackungsverordnung - damit möchte ich zum Schluß kommen - werden wir nach entsprechenden Übergangszeiten in den nächsten Jahren sehen, ob diese Rahmenbedingungen ausreichen und ob auch die Länder ihrerseits neben der Industrie, neben der Wirtschaft ihren Kontrollaufgaben nachkommen, ihre Abfallwirtschaftspläne, ihre Planung rechtzeitig auf den Weg bringen, damit auch die Planungssicherheit und damit die Genehmigungssicherheit gewährleistet sind.
Wenn das nicht geht, dann werden wir selbstverständlich - was wir auch bei der Verpackungsverordnung wollen - zum Ordnungsrecht zurückkommen. Als jemand, der aus einem Staat kommt, in dem Planwirtschaft nicht nur Menschen, sondern auch die Natur zerstört hat, bin ich aber davon überzeugt, daß die Kräfte des Marktes dieses Problem angehen,
({3})
wie ich überhaupt die Innovationsmöglichkeiten für diese neuen Entwicklungen in der Wirtschaft sehe.
({4})
Es ist schon spät. Deshalb ist es ganz gut, wenn nicht mehr so laut geklatscht wird. Vielleicht schreckt sonst der eine oder andere hier auf.
Frau Caspers-Merk, vielleicht noch eine Bemerkung. Man kann ein Auto, das eine Tonne gewogen hat, nicht zu 30 Tonnen Sondermüll verarbeiten. Das funktioniert wohl nicht ganz.
({5})
Ich habe im letzten Jahr in Frankfurt einen Pkw gesehen, der bei einer Tonne Gewicht nur noch drei Kilo Sondermüll aufwies. Diese drei Kilo Sondermüll bestanden aus PVC. Das ist ein strittiges Thema. Immerhin findet hier aber eine Entwicklung statt. Ich glaube, durch das Kreislaufwirtschaftsgesetz wird es in weiteren Branchen zu entsprechenden Entwicklungen kommen, auch im Bereich der Chemie.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor.
Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD soll überwiesen werden - es soll nicht etwa über ihn abgestimmt werden, Frau Kollegin Homburger - zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft. Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 10 und zu Zusatztagesordnungspunkt 4:
10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Sofortiger Ausstieg der Bundesrepublik Deutschland aus dem europäischen schnellen Brüterprojekt EFR
- Drucksache 12/3807 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Forschung, Technologie
und Technikfolgenabschätzung ({0}) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit
ZP4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Vosen, Holger Bartsch, Dr. Ulrich Böhme ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Kündigung des Regierungsabkommens zum European Fast Reactor ({2})
- Drucksache 12/4256 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz
und Reatorsicherheit
Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Fünfminutenrunde vereinbart worden. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe als erste die Frau Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann auf.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die britische Regierung hat ihren Ausstieg aus dem SchnellenBrüter-Projekt angekündigt. Sie will die Finanzierung Ende März 1993 einstellen. Als Begründung wurde neben den hohen Kosten die Tatsache genannt, daß der Reaktor frühestens im Jahre 2030 kommerziell genutzt werden kann.
Im November vorigen Jahres begründete der britische Energieminister, Tim Egger, vor dem Unterhaus, daß die kommerzielle Nutzung der Brütertechnik auf absehbare Zeit nicht zu rechtfertigen sei. Großbritannien hat zuletzt rund 30 Millionen DM jährlich in das Projekt für einen europäischen Brutreaktor gesteckt.
Es würden also nur noch französische und bundesdeutsche Partner in dem Konsortium verbleiben. Die Mittel für Forschung und Entwicklung müßten damit verstärkt von den verbleibenden Partnern getragen werden.
Die Projektgesellschaft erklärte schon im Frühjahr 1992 in einer von ihr herausgegebenen Broschüre, daß die Investitionskosten noch nicht abschätzbar seien. Wenn die in der Atomindustrie üblichen Kostensteigerungen von Atomprojekten insbesondere für Brutreaktoren berücksichtigt werden, ist davon auszugehen, daß die Kosten des Eurobrüter-Prototyps weit jenseits von 20 Milliarden DM anzusiedeln sind und dieser frühestens im Jahre 2010 realisiert werden kann.
Nun ist im BMFT-Haushalt 1993 bereits eine Brüteraltlast von 66,9 Millionen DM aus der Risikobeteiligung der Bundesrepublik für Kalkar enthalten. Angesichts leerer Kassen und geplanter asozialer Kürzungen bei den Ärmsten der Armen fordere ich die Bundesregierung dringend auf, keine weiteren Löcher in den Haushalt zu brüten.
Mit dem Ausscheiden Großbritanniens würden seitens der Betreiber also nur noch französische und deutsche Unternehmen in dem Konsortium verbleiben. Nach dem Energiewirtschaftsgesetz von 1935 können bundesdeutsche Versorgungsunternehmen Investitionen in Kraftwerksneubauten schon vorher auf die Stromtarife umlegen, wie dies auch im Falle des SNR 300 in Kalkar geschehen ist. Um die Stromkunden zu schützen, sollte die Energieaufsicht dem EFR-Projekt ganz deutlich die rote Karte zeigen.
Das Projekt für einen fortgeschrittenen europäischen Brüter ist wirtschaftlich wie technisch umstritten. Darüber hinaus beinhaltet die Brütertechnologie ein erheblich höheres Störfall- und Katastrophenpotential als herkömmliche Reaktoren. Die Bundesregierung sollte das Projekt umgehend beenden, um wirtschaftlichen und ökologischen Schaden von der Bundesrepublik abzuwenden.
Meine Damen und Herren, die Ideologen der Atomenergie werden nicht müde, neue Begründungen für die Notwendigkeit ihrer strahlenden Lieblinge zu finden. Nachdem 47 Jahre militärischer und sogenannter friedlicher Nutzung der Atomenergie - beides ist meines Erachtens nicht voneinander zu tren11930
nen - gewaltige Plutoniumberge hinterlassen haben, werden Brüter neuerdings mit der Notwendigkeit begründet, Plutonium verbrennen zu müssen. Dabei wird in unglaublicher Verharmlosung so getan, als handele es sich nicht um einen hochgiftigen Stoff, von dem bereits ein Millionstel Gramm ausreicht, irreparable Gesundheitsschäden hervorzurufen.
Auch nach dem Einsatz von Plutonium in MOXBrennelementen und Brütern ist die Radioaktivität der Reststoffe kaum geringer.
Noch ein Wort zu einem weiteren Argument der Atombefürworter: Das einzige, war hier gestern einigen zu den Rissen in Brunsbüttel einfiel, war das Märchen, durch Kernenergie in der Bundesrepublik blieben der Atmosphäre 150 Millionen Tonnen CO2 erspart.
Völlig falsch. Wäre in der Vergangenheit in effizientere Energienutzung und Energieeinsparung statt in Atomenergie investiert worden, könnte der CO2Ausstoß heute um 400 Millionen Tonnen niedriger liegen. Das sagen zumindest die Sachverständigen der Enquete-Kommission Herr Prof. Bach und Herr Prof. Hennicke aus.
({0})
- Herr Professor Bach ist übrigens von der CDU/CSU benannt worden.
Was wir heute brauchen, sind Investitionen in eine umweltfreundliche, sozial verträgliche und ressourcenschonende Energieversorgung und nicht in Brütertechnologie. Der Bundeskanzler sollte dem Beispiel seines Freundes Major folgen und das Brüterdesaster beenden.
Verwenden wir doch die eingesparten Milliarden für den sozialen Wohnungsbau, für die Schaffung von Arbeitsplätzen, Kindergärten und kulturellen Einrichtungen, für die Erhöhung der Renten, der Sozialhilfesätze - ach, mir würde noch soviel einfallen.
({1})
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Als nächste spricht die Kollegin Bärbel Sothmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die PDS fordert den sofortigen Ausstieg der Bundesrepublik Deutschland aus dem europäischen Schnellen-BrüterProjekt EFR. Die SPD springt sozusagen in letzter Minute auf diesen Zug und fordert ihrerseits die Kündigung des Regierungsabkommens zum European Fast Reactor.
({0})
- Abwarten.
Hier sollen offensichtlich zwei Ladenhüteranträge noch schnell im Winterschlußverkauf der Ausstiegsforderungen an den Mann gebracht werden.
({1})
Meine Damen und Herren, diese Forderungen der PDS und der SPD sind von der Realität längst überholt; denn das Projekt EFR ist bereits so gut wie tot.
({2})
Der BMFT hat die Förderung der Brütertechnologie der Industrie zum Ende des Jahres 1991 eingestellt; mit einer Beendigung des EFR-Projekts ist bald zu rechnen. Das Kernforschungszentrum in Karlsruhe und die Elektrizitätswirtschaft haben entsprechende Pläne verlautbaren lassen. Die endgültige Entscheidung fällt wahrscheinlich bis Mitte des Jahres, wenn die erste Projektphase abgeschlossen sein wird.
Eine Kündigung des Regierungsabkommens von 1984 mit Belgien, Italien, Frankreich und Großbritannien über die Zusammenarbeit bei natriumgekühlten Brutreaktoren muß von seiten der Bundesrepublik, meine ich, nicht unbedingt erfolgen, zumal sich für sie daraus keine finanziellen Verpflichtungen ergeben.
Der Vertrag ist praktisch gegenstandslos, nachdem Belgien und Italien schon lange nicht mehr auf dem Brütergebiet arbeiten und Großbritannien demnächst aussteigen will, wie Sie schon sagten.
Auf die ergänzenden Vereinbarungen der beteiligten Unternehmen kann und darf die Bundesregierung doch wohl keinen Einfluß nehmen, meine Damen und Herren. Darüber hinaus ist das in dem SPD-Antrag als Begründung für die Ausstiegsforderung angeführte höhere Störfall- und Katastrophenpotential der Brutreaktoren - Herr Vosen, ich würde gut zuhören - gegenüber den Reaktoren konventioneller Bauart eine pure Unterstellung
({3})
und durch nichts bewiesen.
Im Gegenteil, das Ende des Schnellen Brüters in Kalkar, das als Beweis für diese These angeführt wird, erfolgte nicht etwa aus sicherheitstechnischen Gründen; zahlreiche Gutachten haben nachgewiesen, daß keine sicherheitstechnischen Bedenken gegen den Betrieb des SNR 300 bestehen.
({4})
- Ja, und warum?
Das Aus für dieses Projekt kam ausschließlich aus politischen Gründen. Die Energieversorgungsunternehmen haben nämlich das Handtuch geworfen, nachdem die SPD-geführte nordrhein-westfälische Landesregierung
({5})
das Projekt permanent verzögerte und keine Aussicht bestand, jemals die endgültige Betriebsgenehmigung zu erhalten.
Es ist in der Tat so: Die Kosten waren nicht mehr zu tragen, und der volkswirtschaftliche Schaden, meine Damen und Herren, war ganz schön groß.
({6})
- Er ist noch groß; das ist richtig.
Meine Damen und Herren, natürlich könnte man darüber streiten, ob heute auf die spezielle Technologie des Schnellen Brüters aus versorgungspolitischen Gründen verzichtet werden kann; denn wir können auf hochentwickelte Leichtwasserreaktoren zurückgreifen, die zudem wirtschaftlicher sind. Für eine spätere Generation kann sich die Versorgungssituation allerdings völlig anders darstellen.
({7})
Für die Entsorgungsfrage interessant sind auch Überlegungen, schnelle Reaktoren zur Entsorgung von Atommüll, zur Vernichtung von Plutonium und Aktiniden einzusetzen. Zumindest unter dem Aspekt der Reaktorsicherheitsforschung ist es deshalb überlegenswert, ob nicht auch das Know-how der Brütertechnologie weiterentwickelt werden sollte, um einen Fadenriß ganz einfach zu vermeiden. Dies nur am Rande.
Meine Damen und Herren, kurzum, ich kann mir nicht vorstellen, daß der Verlauf des EFR-Projekts der PDS und vor allem der SPD nicht bekannt gewesen sein sollte, besonders nachdem Staatssekretär Neumann dies auch dem Kollegen Catenhusen in Beantwortung seiner schriftlichen Anfrage vom 8. Dezember vergangenen Jahres bereits erläutert hat.
Ich denke, meine Damen und Herren von der Opposition, Sie wollten wieder einmal - wie auch gestern in der Aktuellen Stunde, als es um Brunsbüttel ging - zu einem Rundumschlag gegen die Kernenergie ausholen. Der Ausstieg aus der Kernenergie soll forciert werden, obwohl wir alle wissen, daß die Kernenergie zur Zeit aus energiewirtschaftlichen und umweltpolitischen Gründen unverzichtbar ist.
({8})
Wie gedenken Sie denn, meine Damen und Herren von der Opposition, das Ziel der CO2-Reduzierung erreichen zu wollen? Mit Windrädern?
({9})
- Das auch, aber sicherlich nicht allein.
Wir brauchen die friedliche Nutzung der Kernenergie, und alle Versuche der PDS und SPD, Deutschland ohne ernst zu nehmende Alternativen von der Nutzung der Kernenergie abzukoppeln, sind verantwortungslos.
({10})
Nun spricht der Kollege Jupp Vosen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Vorrednerinnen! Das Thema ist hier sehr ernst vorgetragen worden, sicherlich auch ernst gemeint. Aber vom Thema her ist es nicht mehr ernst. Sie sagen selbst: Es läuft aus, man muß sich gar nicht mehr aufregen.
({0})
Mein Kollege Laermann, den ich sehr schätze, kommt ja gleich noch dran. Er wird vielleicht bestätigen müssen, daß es eigentlich gar kein Thema mehr ist. Der Schnelle Brüter ist tot. Er wird auch in den nächsten Jahren nicht wieder zum Leben auferstehen.
({1})
- Ja, die Japaner machen das genauso falsch wie alle anderen vorher. Der Superphönix in Frankreich - das RWE hat sich mit einer Milliarde guter Deutscher Mark daran beteiligt - ist abgeschaltet.
({2})
Der Strom aus diesem Ding, das ja das einzige gewesen ist, war immens teuer, so daß selbst die Kernkraftbefürworter dieser Technologie keine Chance einräumen. Selbst die Forschung an diesem Ding lohnt sich jetzt allein deshalb nicht, weil ja die deutsche Atomindustrie einen anderen sicheren Reaktor, den wir allerdings alle noch nicht kennen
- Sie selbst auch nicht -, mit den Franzosen fördern will.
({3})
- Nicht Diffusion; das ist ja wieder etwas anderes.
Ich meine, das Thema Schneller Brüter ist kein Thema mehr. Wir sollten es einvernehmlich beerdigen.
({4})
Es ist doch nur noch ein Abgesang, eine Schluß- und Beerdigungsrede, was wir hier vor kleinem Publikum veranstalten.
({5})
Sie merken ja selbst, wie gering das öffentliche Interesse ist. Daß dies um diese Uhrzeit als allerletzter Tagesordnungspunkt drankommt, - es ist halt das Allerletzte!
({6})
Wir sollten uns anderen Dingen zuwenden. Ich habe noch zwei Minuten Zeit; ich verlasse also dieses Thema und wende mich noch einmal dem Thema Kernenergie zu.
({7})
Wenn Frau Kollegin Sothmann jetzt gerade ein fleißiges Lied auf die Kernenergie gesungen hat, sind Sie in der Situation wie alle Befürworter der friedlichen Nutzung der Kernenergie vor 25 Jahren. Da protestierte die versammelte deutsche Linke gegen Atomwaffen und war für die friedliche Nutzung der
Kernenergie. Das war vor 25 Jahren. Und da sind Sie jetzt. Da ist ein Unterschied von 25 Jahren.
({8})
Ich wünsche Ihnen noch einen langen Parlamentsaufenthalt, damit Sie dann wie ich - ich muß zugeben, auch ich war ein Befürworter der Kernenergie - zu der Erkenntnis kommen, zu der auch ich gekommen bin, daß auch das nicht das Gelbe vom Ei ist.
({9})
Das, Frau Kollegin, ist ja keine Schande. Ich habe gerade zu meinen Freunden gesagt: Auch Saulus wurde zum Paulus, und darauf wurde die Kirche gebaut.
({10})
Man darf ja seine Meinung ändern; nur muß man dazu auch stehen.
Kollege Vosen, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gern, wenn ich das nicht angerechnet bekomme.
Nein, Kollege Vosen, das können wir ja gar nicht anrechnen.
Also gut, dann lasse ich diese Zwischenfrage zu.
Herr Kollege Vosen, wann, meinen Sie, werden Sie wieder der Auffassung sein, daß Sie für die Kernkraft werden eintreten müssen?
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Frau Kollegin, keiner von uns ist Prophet und kann sagen, was in hundert Jahren ist.
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Aber eines steht fest: In einem überschaubaren Zeitraum sehe ich das nicht als notwendig an, soweit ich es voraussehen kann.
Ich will damit nicht sagen, daß spätere Generationen, wenn es gar keine fossilen Energien mehr gibt, was ja möglich ist, vielleicht zu Ergebnissen kommen müssen, die wir alle nicht kennen. Da ist aber auch noch die Solarenergie. Das ist eine Option, die Sie nicht vergessen sollten.
Damit ist meine Redezeit zu Ende. Im übrigen können wir uns darüber, weil Sie so nette Kollegen sind, auch noch weiter unterhalten.
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Nun spricht der Kollege Professor Karl-Hans Laermann.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach der begeisternden Ansprache unseres Kollegen Vosen fällt es natürlich schwer, wieder etwas nüchterner zu werden.
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Nach den Erfahrungen der gestrigen Diskussion kann ich im Augenblick gar nichts anderes tun, als noch einmal Fakten zu wiederholen und vielleicht auch die eine oder andere Erinnerung an gestrige Presseaussagen von Herrn Kollegen Vosen wachzurufen. Da hat er sich ja gar nicht so grundsätzlich gegen die Nutzung der Kernenergie ausgesprochen.
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- Das müssen Sie einmal lesen. - Im übrigen hat er auch das Zeitgefühl verloren. Er spricht von einer Position von vor 25 Jahren. Ich empfehle dem Kollegen Vosen, Protokolle von Parlamentssitzungen aus den Jahren 1978, 1979, auch aus dem Jahre 1981 nachzulesen. Sie werden baß erstaunt sein.
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Seinerzeit hatte die nordrhein-westfälische Landesregierung große Sorge, daß wir ihr das Projekt des Brüters in Kalkar kaputtmachen könnten, und hat ausdrücklich darauf abgehoben, daß keine Einwände bestehen. Auch Ihre Kollegen im Bundestag haben gesagt, daß sie aus sicherheitstechnischen Gründen den Brüter für politisch verantwortbar halten. Aber das war alles vor 15 Jahren; ich gebe es zu. Die Sache sieht heute anders aus.
Wie ist denn die Sachlage heute, bezogen auf das Thema, das hier ansteht, nämlich die beiden Anträge? Der Bundesminister für Forschung und Technologie hat die Förderung der Brutreaktoren, die Förderung des europäischen Brutreaktorprojektes in der Industrie, Ende 1991 eingestellt. Es sind auch keine Mittel mehr geflossen. Das wissen alle Kollegen aus dem Forschungsausschuß. Über die Grundfinanzierung des Kernforschungszentrums Karlsruhe werden die vertraglichen Verpflichtungen der Bundesrepublik gegenüber dem europäischen Vertragspartner bis zum März 1993 erfüllt. Beiträge werden dann bis Ende 1993 abgewickelt. Geld gibt es nicht mehr und ist auch im Haushalt nicht mehr vorgesehen.
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Insoweit haben sich der Antrag der PDS/Linke Liste vom November 1992 und der gestern von der SPD-Fraktion - das muß ich schon sagen - intelligenterweise nachgeschobene Antrag, die Zuständigkeit der Bundesregierung betreffend, erübrigt. Aber Herr Kollege Vosen hat es ja selbst charakterisiert. Er hat gesagt, es sei das „Allerletzte". Das ist in der Tat so: Es war der letzte Antrag.
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Nun bin ich allerdings der Meinung - ich möchte damit etwas Nachdenklichkeit hervorrufen, und ich sage ausdrücklich, daß das meine ganz persönliche Meinung ist -, daß es zur genuinen staatlichen Daseinsvorsorge gehört, sich mit Sicherheitsaspekten
der Briltertechnologie zu befassen, um im Interesse der eigenen Sicherheit kritisch begleiten zu können, was in anderen Ländern der Welt geschieht.
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Treiben wir doch keine Vogel-Strauß-Politik. Wenn wir den Kopf in den Sand stecken, haben wir unserem Sicherheitsbedürfnis hier keinen Dienst erwiesen. Darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen.
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- Dazu komme ich gleich.
Soweit die Anträge aber von der Bundesregierung verlangen, sie solle der Industrie, insbesondere Herstellern und Betreibern in der Elektrizitätswirtschaft, untersagen - so etwa der Tenor des Antrags der PDS -, sich weiterhin in Forschung und Entwicklung zu betätigen, dann muß ich dieses Begehren allerdings zurückweisen. Seit langem sind wir uns im Forschungsausschuß doch in der Forderung einig - verehrte Kollegen von der SPD-Fraktion, ich wende mich an Sie -, daß die Elektrizitätswirtschaft selber über ihr bisheriges Engagement hinaus Forschung und Entwicklung finanzieren und betreiben soll.
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Dann können wir aber andererseits der Wirtschaft wirklich nicht vorschreiben, was, wie, auf welchen Gebieten sie forschen soll und worüber sie nachdenken darf.
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Im übrigen können wir davon ausgehen, daß die Wirtschaft ihr Geld nicht zum Fenster hinauswirft. Das erleben wir ja zur Zeit. EVUs und Hersteller - so meine Information - werden im Zusammenhang mit der im März auslaufenden Design-Phase im Laufe des Jahres auch ihre Aktivitäten einstellen.
Noch eine Anmerkung. Herr Kollege Vosen, Sie sagen, das RWE habe so viel in Superphönix investiert. RWE hat das nicht selbständig und aus freiem Willen getan. Ich erinnere an den Zwang, der durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt auf Grund der Verträge, die er mit Giscard d'Estaing 1974 in Nizza abgeschlossen hat, auf die Industrie, insbesondere auf RWE, ausgeübt wurde. Da wurde das durchgedrückt. Vergessen Sie das bitte nicht. Sie sollten Ihr Erinnerungsvermögen manchmal doch wieder etwas reaktivieren!
Schönen Dank.
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Weitere Wortmeldungen liegen mit nicht vor. Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/3807 und 12/4256 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung angekommen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 5. Februar 1993, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.