Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/13/1992

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet. Der Ältestenrat hat sich darauf verständigt, daß in der Sitzungswoche vom 23. November 1992 wegen der Haushaltsberatungen wie üblich keine Fragestunden, keine Aktuellen Stunden und keine Befragung der Bundesregierung stattfinden. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen. Der Haushaltsausschuß bittet, ihm das bereits zur Mitberatung überwiesene Tarifaufhebungsgesetz - es liegt Ihnen auf Drucksache 12/3701 vor - nachträglich auch gemäß § 96 der Geschäftsordnung zu überweisen. Außerdem soll der Antrag auf Drucksache 12/3648 nachträglich auch dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden. - Mit der Überweisung ist das Haus offensichtlich einverstanden. Dann ist auch das beschlossen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Tagesordnung um die Beratung der Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zu dem Gesetz zur Änderung von Fördervoraussetzungen im Arbeitsförderungsgesetz und in anderen Gesetzen erweitert werden. Diesen Punkt möchte ich gleich anschließend aufrufen. Ist das Haus damit einverstanden? - Auch dies ist der Fall; dann kann ich so verfahren. Ich rufe den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt auf: Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz zur Änderung von Fördervoraussetzungen im Arbeitsförderungsgesetz und in anderen Gesetzen - Drucksachen 12/3211, 12/3327, 12/3363, 12/3423, 12/3668 Berichterstatter im Bundestag: Abgeordneter Rudolf Dreßler Berichterstatter im Bundesrat: Staatssekretär Dr. Paul Wilhelm - Drucksache 12/3713 Ich bitte den Berichterstatter, das Wort zu ergreifen.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vermittlungsausschuß hat in seiner gestrigen Sitzung, nachdem der Bundesrat ihn in elf Punkten angerufen hatte, getagt und hat nach mehrstündiger Sitzung mit Mehrheit in vier Punkten Abänderungs- bzw. Ergänzungsvorschläge beschlossen. Es handelt sich erstens um die Thematik des § 55a: Überbrückungsgeld bei Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit. Es handelt sich zum zweiten um den § 62a Abs. 3: Eingliederungsleistungen für Aussiedler. Es handelt sich drittens um den § 249d: Umgestaltung der Förderkonditionen bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, unterteilt in Hochschulen und in die zusätzliche Aufnahme der Träger einer Arbeitsförderungs-, Beschäftigungs- und Strukturentwicklungsgesellschaft. Viertens geht es um den § 249h, der das Thema „ABM Umwelt-Ost" berührt. Es handelt sich da um die Erweiterung der zuschußfähigen Arbeiten. Diese vier zusätzlich vom Vermittlungsausschuß mit Mehrheit beschlossenen Punkte umfassen ein Volumen von ca. 90 Millionen DM. Der Vermittlungsausschuß hat diesen Vorschlag mit der Mehrheit von 14 gegen 13 Stimmen bei einer Stimmenthaltung beschlossen. Herr Präsident, absprachegemäß beschränke ich mich auf diese wenigen Sätze und darf jetzt für die SPD-Fraktion zu einer Wertung dieses Vermittlungsausschußergebnisses kommen. Meine Damen und Herren, als ich heute morgen um 6 Uhr die Nachrichten des Deutschlandfunks einschaltete, habe ich gedacht, der unbedarfte Betrachter, der das gestern nicht miterlebt hat, müßte glauben, die Regierung habe es wieder einmal geschafft. Denn der Sender berichtete lakonisch, der Vermittlungsausschuß habe die Arbeitsmarktpolitik in den neuen Ländern verbessert. ({0}) Tatsache ist: Ein Volumen von 5 Milliarden DM wird aus diesem Bereich gekürzt. Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie könnten, so gesehen, beruhigt ins Wochenende fahren, denn anscheinend haben ja die Regierungskoalition und die Bundesregierung ihre beschäftigungspolitische Pflicht getan. Sie könnten also getrost dort fortfahren, wo Sie vor diesem Vermittlungsausschußbegehren waren, nämlich z. B. damit, den Gewerkschaften die Schuld für ausbleibende Aufschwungtendenzen in die Schuhe zu schieben. Aber ich stelle nach diesem Beschluß des Vermittlungsausschusses fest, daß nichts in Ordnung ist. Was gestern von Regierung und Ländern durch den Vermittlungsausschuß gedrückt wurde, wird die innere Struktur des so wichtigen Arbeitsförderungsgesetzes weiter zerstören. Der ineinandergreifende und von der Systematik her aufbauende Katalog der Leistungen und Fördermöglichkeiten wird stärker zerstükkelt. Das Arbeitsförderungsgesetz wird immer deutlicher in Richtung eines Torsos entwickelt; die Notwendigkeiten einer Reform an Haupt und Gliedern werden noch dringlicher. Schlimmer ist freilich, daß die Regelungen des Regierungslagers in der Konsequenz die Arbeitslosigkeit sicher um 150 000 Menschen erhöhen werden, wenn nicht sogar in einer Größenordnung zwischen 200 000 und 250 000. Die Bundesregierung hat sich von dieser Schätzung der Fachleute nicht beeindrukken lassen. Sie hat sich auch durch Protestschreiben des Vorstandes der Bundesanstalt für Arbeit oder der Wohlfahrtsverbände, der Kirchen oder von betroffenen Menschen nicht zu einer Änderung ihrer Haltung bewegen lassen. Ich will beispielhaft einen Auszug aus dem Brief von Weihbischof Franz Grave an die Mitglieder des Vermittlungsausschusses zur Kenntnis geben. Er schreibt: Somit verbinde ich im Namen der kirchlichen Träger der Jugendberufshilfe mit dieser Gesetzesänderung die große Sorge, daß durch die Streichungen des § 40 b - da geht es darum, den Hauptschulabschluß für junge Leute zu gewährleisten und ihnen damit eine Berufsbildungsperspektive zu eröffnen - die benachteiligten Jugendlichen ohne Schulabschluß auf der Strecke bleiben. Er sagt weiter: Alle Beteiligten waren sich darüber einig, daß sich die benannten Kurse durch die Kombination von Arbeit, Lernen und Sozialbetreuung auszeichnen. Er führt aus, daß die Einsparungen von 25 Millionen DM, die durch die Streichung ermöglicht werden, in keinem Verhältnis zu den Folgen für die Betroffenen stehen. Meine Damen und Herren, wenn man sich vergegenwärtigt, daß hier ein Posten von 25 Millionen DM für die berufliche Perspektive von jungen Menschen nicht mehr zur Verfügung steht, aber die Koalition in zwei Wochen beabsichtigt, in diesem Parlament sich selbst zur Werbung für ihre Politik eine halbe Milliarde D-Mark zu genehmigen, dann kann man bei dem, was hier passiert, nur von einem Skandal sprechen. ({1}) Das bedeutet nämlich: In Tausenden von Fällen werden künftig Bildungswilligkeit und Initiative zum beruflichen Aufstieg ins Leere laufen. Für Tausende junge Menschen, die im ersten Anlauf einen kompletten grundlegenden Schulabschluß nicht schaffen, ist das eine persönliche Katastrophe. ({2}) Wie sich das mit Ihrer Auffassung, daß Leistungswilligkeit honoriert werden müsse, verträgt, bleibt Ihr Geheimnis. Meine Damen und Herren, ich will eine Schlußbemerkung zur Haltung der CDU-regierten Länder im Osten machen. Im Bundesrat haben die neuen Bundesländer den Einspruch mit formuliert. Es gab Abstimmungsergebnisse von 15 Stimmen bei einer Enthaltung oder einer Nein-Stimme. Zu Hause in Sachsen, in Sachsen-Anhalt, in Thüringen und in Mecklenburg-Vorpommern haben die entsprechenden CDU-Landesregierungen den Bürgerinnen und Bürgern Versprechungen gemacht. In Sachsen-Anhalt hat es sogar einen Landtagsbeschluß gegeben. Und die Repräsentanten dieser Länder, ausgenommen Brandenburg, haben gestern im Vermittlungsausschuß ({3}) ohne Rücksicht auf Verluste die Position der Bundesregierung vertreten und gegen ihre eigenen Kabinetts- oder Landtagsbeschlüsse verstoßen. ({4}) Damit haben die CDU-Regierungen im Osten ganz eindeutig gegen die Interessen ihrer eigenen Bevölkerung votiert. Ich finde das, was hier zu Lasten von Menschen passieren soll, traurig. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, ich möchte ganz kurz auf die geschäftsordnungsmäßige Lage aufmerksam machen: Es gibt eine gemeinsame Geschäftsordnung von Bundestag und Bundesrat für den Vermittlungsausschuß. Nach § 10 Abs. 2 dieser Geschäftsordnung ist nicht vorgesehen, daß eine erneute Debatte über das Ergebnis des Vermittlungsausschusses im Plenum des Deutschen Bundestages stattfindet, ({0}) sondern traditionsgemäß nur eine Berichterstattung. Ich habe das jetzt zugelassen, weil ich überrascht war, weil es offensichtlich zwischen den Fraktionen abgesprochen war, und ich mich auch noch einmal sachkundig machen mußte. Ich erteile nun auch dem Abgeordneten Vogt das Wort. Aber ich möchte darauf aufmerksam machen, daß ich nicht die Absicht habe, anschließend eine Sachdebatte über das Gesamtergebnis zuzulassen, weil das sinnvollerweise auch nicht den Traditionen des Hauses entspricht.

Wolfgang Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002384, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Uns allen ist bewußt, daß Einsparungen bei der Arbeitsförderung die Lebensumstände von Menschen und ihren Familien verändern, und deshalb wird niemand solche Einsparungen im Leistungsrecht der Arbeitsförderung leichtfertig Wolfgang Vogt ({0}) oder gar leichten Herzens vornehmen. Wahr ist aber auch, meine Damen und Herren, daß wir vor ungewöhnlichen Sparzwängen stehen, im übrigen nicht nur der Bund, sondern auch die Länder und die Gemeinden. ({1}) Von diesen Sparzwängen, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann das Arbeitsförderungsgesetz nicht von vornherein ausgenommen werden. Dabei haben wir uns in den Beratungen im Vermittlungsausschuß zu den Punkten des Vermittlungsbegehrens des Bundesrates nicht in erster Linie von fiskalischen Gesichtspunkten lenken lassen, sondern haben jeweils die Vermittlungsbegehren auf ihren sachlichen Kern hin überprüft und die Frage gestellt, ob die entsprechenden Maßnahmen und Leistungen ins Arbeitsförderungsrecht gehören. Meine Damen und Herren, ich finde es enttäuschend, wie die sozialdemokratische Fraktion auf dieses Vermittlungsergebnis reagiert; denn wenn ich es richtig im Ohr habe, versucht die Kollegin Matthäus-Maier, den Finanzminister in den Sparmaßnahmen oftmals rechts zu überholen, was immer ein gefährliches Manöver ist, während sich hier die Sozialdemokraten weigern, auf die sachlichen Ergebnisse des Vermittlungsausschusses einzugehen. Der Kollege Dreßler hat als Berichterstatter auf den Vorschlag des Vermittlungsausschusses zu den Verbesserungen beim Überbrückungsgeld hingewiesen. Es ist also nicht mehr erforderlich, daß jemand, der sich selbständig machen will, zuerst arbeitslos sein muß, um diese Leistung erhalten zu können, sondern er kann sich unmittelbar aus einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme oder nach Bezug von Kurzarbeitergeld selbständig machen und dieses Überbrückungsgeld erhalten. Bei der Eingliederungshilfe für Aussiedler, die ja bedarfsabhängig gewährt wird, kann eine Ausnahme von der Sechsmonatsfrist vorgenommen werden. Diese Sechsmonatsfrist wird dann gelockert, wenn der Aussiedler nach der Übersiedlung nicht sofort in einen Sprachkursus kommen kann und dies nicht von ihm zu verantworten ist. In diesem Fall kann die Eingliederungshilfe bis zu sieben Monate lang gezahlt werden. Wir verlängern die Möglichkeit der Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen bei Hochschulen bis 1995; und Beschäftigte in Arbeitsförderungs-, Beschäftigungs- und Strukturentwicklungsgesellschaften können bis zu 100 % gefördert werden. Schließlich, meine Damen und Herren, haben wir den § 249h, also Arbeitsförderung Umwelt Ost, in einem entscheidenden Umfang erweitert; denn im Rahmen dieses Instruments - ich werde dazu noch zwei Sätze sagen - können auch soziale Dienste und Jugendhilfeleistungen gefördert werden, sofern sie nicht Pflichtaufgaben der Städte und Gemeinden sind. Meine Damen und Herren, dieses Ergebnis des Vermittlungsausschusses wird dazu führen, ({2}) daß wir im Beitrittsgebiet, daß wir in den fünf neuen Bundesländern einen Stand von Beschäftigten in AB-Maßnahmen haben werden, ({3}) der 1993 nicht niedriger als 1992 sein wird. Denn es stehen 9,3 Milliarden DM zur Verfügung, und unter den veränderten Förderungsbedingungen gehen wir davon aus, daß jahresdurchschnittlich 350 000 Personen gefördert werden können. Weiter können wir davon ausgehen, daß durch das neue Instrument „Arbeitsförderung Umwelt Ost" einschließlich soziale Dienste und Jugendhilfe bis zu 50 000 Menschen beschäftigt werden können. Es ist ja schon eine Vereinbarung für 25 000 Personen im Bereich Umwelt und im Bereich Bergbau getroffen worden. Die Gespräche für den Bereich Chemie stehen vor dem Abschluß. Dort geht es um 7 000 Beschäftigte. Wir werden im Beitrittsgebiet, in den neuen Bundesländern also einen Stand der Arbeitsförderung in der Höhe des Jahres 1992 haben; ({4}) und wenn alle mitarbeiten, wird dieser Stand Ende 1993 noch höher sein. Da ist es völlig abwegig, von Sozialabbau und Einschnitten in das Arbeitsförderungsgesetz so zu sprechen, als würde davon nichts mehr übrigbleiben.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, wenn wir, gemessen an der Geschäftsordnung, schon eine etwas außergewöhnliche Debattenlage haben, bitte ich Sie, sich wenigstens an die Zeit zu halten.

Wolfgang Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002384, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich will die Minuten nicht nachrechnen, doch ich habe jetzt acht Minuten, und der Kollege Dreßler hatte etwas mehr. ({0}) Ich komme jetzt 'aber zu meinem Schlußsatz. Meine Damen und Herren, diese Novelle zum AFG, insbesondere der neue § 249h, zeigt, wie man unter Sparzwängen zu neuen, intelligenten Lösungen im Bereich der Arbeitsförderung kommt. ({1}) Deshalb bitte ich um Zustimmung zu dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Kollegen Hirsch das Wort.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich komme mit sehr viel weniger Minuten aus. Zunächst schließe ich mich für die F.D.P. der Berichterstattung des Kollegen Vogt an. Ich habe mich eigentlich nur gemeldet, um zwei Bemerkungen zu machen. Erstens. Herr Kollege Dreßler, die Entscheidungen, die gestern nach wirklich mühsamen Beratungen zustande gekommen sind, beruhen nicht auf der Überlegung, ob eine Maßnahme wünschenswert ist oder nicht, sondern auf der, ob ihre Finanzierung durch die Beitragszahler wünschenswert ist oder nicht. ({0}) Der zweite Punkt. Es war bisher nicht üblich und meines Wissens auch nicht zulässig, das Stimmverhalten der einzelnen Mitglieder des Vermittlungsausschusses hier darzustellen. ({1}) Das hat zum einen den Grund, die Verhandlungsmöglichkeiten zu vergrößern. Zum anderen werden, wenn man sich an diese Übung nicht hält, hier Kollegen erwähnt, die selber keine Möglichkeit haben, im Plenum des Deutschen Bundestages auf Unterstellungen über ihre Motive zu antworten, und das geht nicht. ({2}) Wenn wir uns hier auf eine Berichterstattung beschränken und nicht inhaltlich argumentieren, dann ist dieses Verhalten unmöglich, ({3}) weil es in der Tat die Vermittlungsmöglichkeiten drastisch einschränkt. Ich bin der Meinung, daß wir über diesen Vorgang im Bundestag und im Bundesrat, also auch im Bereich des Vermittlungsausschusses, dringend reden müssen, um festzustellen, ob wir von den bisherigen geschäftsordnungsmäßigen Regelungen des Verhaltens im Vermittlungsausschuß abweichen müssen oder nicht. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß über die Änderungen im Deutschen Bundestag gemeinsam abzustimmen ist. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Vermittlungsvorschlag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen. Meine Damen und Herren, ich rufe den Zusatzpunkt 12 der Tagesordnung auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Leistungen der Sozialhilfe an Ausländer - Drucksache 12/3686 ({0}) Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Familien und Senioren ({1}) Innenausschuß Rechtsausschuß Haushaltsausschuß gem. § 96 GO Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Ich eröffne die Debatte und erteile dem Abgeordneten Dr. Bernd Protzner das Wort.

Dr. Bernd Protzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001756, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zahl der Asylbewerber in der Bundesrepublik Deutschland ist dramatisch gestiegen. Auf Deutschland entfallen - bei steigender Tendenz - zur Zeit mehr als 60 % der Asylanträge in den Staaten der Europäischen Gemeinschaft. Allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres waren bereits 319 000 Asylbewerber zu verzeichnen. Bund, Länder und Gemeinden stehen vor vielfach kaum noch lösbaren Aufgaben. Die öffentlichen Haushalte werden, vor allem im Bereich der Sozialhilfe, unverhältnismäßig belastet. Der wirtschaftliche Anreiz für politisch nicht verfolgte Ausländer, nach Deutschland zu kommen, muß daher gemindert werden. Deshalb muß das Bundessozialhilfegesetz geändert werden. ({0}) Die Leistungen sind grundsätzlich auf das Notwendige zu beschränken. Dabei muß die Sachleistung Vorrang vor der Geldleistung erhalten. Für Ausländer, die sich in Aufnahmeeinrichtungen aufhalten, ist die Gewährung von Sachleistungen verbindlich vorzuschreiben. So lautete die Entschließung des Deutschen Bundestages vom 15. Oktober 1992, die auf Antrag und mit den Stimmen der Regierungskoalition von CDU/ CSU und F.D.P. verabschiedet wurde. Heute, einen Monat später, legen die Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. dem Hohen Haus den Entwurf eines Gesetzes über Leistungen der Sozialhilfe an Ausländer vor, womit sie genau dieser Vorgabe entsprechen wollen. ({1}) Es ist Zeit zum Handeln. Der politischen Diskussion müssen Entscheidungen folgen. ({2}) Die Bürger erwarten, daß die Parlamentarier ihrer Verantwortung nachkommen. Wir, die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und F.D.P., wollen handeln. Wir fordern auch Sie von der SPD auf, mitzuwirken. ({3}) Verschließen Sie sich nicht dem Notwendigen! ({4}) § 120 des Bundessozialhilfegesetzes, der Leistungen der Sozialhilfe für Ausländer regelt, ist seit 1982 in seinen Grundzügen nahezu unverändert geblieben. ({5}) Seitdem sind die Zahlen von Ausländern, insbesondere von Asylsuchenden, gestiegen. ({6}) Wir haben das Ausländerrecht zwischenzeitlich verändert. ({7}) Folglich ist auch die Sozialhilfe auf die neue Situation auszurichten. ({8}) Die Sozialhilfe geht nach dem vorliegenden Entwurf bei der Bestimmung der Leistungen von dem Grad der zeitlichen Verfestigung des Aufenthaltes von Ausländern im Bundesgebiet aus. Neu eingeführt wird die Unterscheidung eines nicht verfestigten Aufenthaltsstatus von einem rechtlich oder faktisch nur auf Zeit verfestigten Aufenthaltsstatus. Im Klartext heißt das: Erstens. Asylsuchende, die nicht als asylberechtigt anerkannt sind, erhalten zukünftig statt 100 % 75 % des Regelsatzes, also ein Viertel weniger als bislang. Zweitens. Die Hilfe ist als Sachleistung zu gewähren, d. h. sie muß so gewährt werden; das ist der Regelfall. Drittens. Das Bundesministerium wird per Rechtsverordnung einen Stichtag festlegen, an dem die Leistungen gewährt werden. Viertens. Kostenlose Krankenhilfe wird für sozialhilfeberechtigte Ausländer auf die Behebung eines akuten lebensbedrohlichen Zustandes oder auf eine unaufschiebbare und unabweisbar gebotene Behandlung einer schweren Erkrankung beschränkt. Für Kinder, Geburten von Kindern und ebenso für strittige Rechtsverfahren gibt es Sonderfälle. Ich betone: Gewährleistet bleibt der soziale Schutz der wirklich politisch Verfolgten. Ihn wollen wir auch weiterhin aufrechterhalten. Aber massenhafter Leistungsmißbrauch wird zurückgeführt. Wie massenhaft er ist, wird an den Kostenfolgen des Gesetzes deutlich. Eine Milliarde D-Mark sind der Betrag, der Ländern und Kommunen jeweils zur Hälfte als Ersparnis nach dieser Gesetzesänderung zugute kommen wird. Dieser Gesetzentwurf zielt auf fünf Mißstände, die alle in der Öffentlichkeit Ärgernis erregen: Erstens. Wer als Asylsuchender vier- oder fünfstellige Beträge an Schlepperorganisationen zahlen kann, muß über die Sozialhilfe bislang wohl mehr erhalten, als er für sein Leben bei uns unerläßlich braucht. Es kann doch nicht sein, daß wir quasi aus Steuergeldern die Schlepper bezahlen und so das Anwachsen der Probleme in unserem Land fördern. ({9}) Zweitens. Wer Sachleistungen erhält, muß diese auch seinen Familienangehörigen, Frauen und Kindern, zukommen lassen. ({10}) Er kann sie ihnen schlechterdings nicht abzwacken, wie es bei Geldleistungen geschieht. Drittens. Mit Stichtagen für die Leistungsgewährung wird eine Mehrfachauszahlung an ein und dieselbe Person unterbunden. Sie alle kennen ja die Fälle aus den Medien. Viertens. Es gab nach dem bisherigen Recht immer wieder Fälle, in denen Aufwendungen von mehreren hunderttausend D-Mark Krankenhilfe für Personen geleistet werden mußten, die sich allein zur Behandlung ihrer Krankheit in die Bundesrepublik Deutschland begeben hatten. Fünftens. Schließlich wird der Anreiz gemindert, sich vornehmlich in die Bundesrepublik zu begeben, nachdem es noch viele andere freiheitliche Staaten in Europa gibt. Einer ungleichen Lastenverteilung unter den Staaten wird entgegengewirkt. Meine Damen und Herren, ein letzter Gedanke. Vormateriallieferungen, Warenlieferungen oder Exporte in Staaten fallen weg, bei denen innere Probleme nicht vernünftig, sondern gewalttätig gelöst werden. Das bringt für Bundesbürger den Verlust von Arbeitsplätzen, Kurzarbeit, Beschränkung der Einkommen - mittlerweile in beachtlicher Zahl -, auch in den neuen Ländern. ({11}) Die so beschränkten Bürger können dann nicht noch an Menschen aus diesen Staaten, die zu uns kommen, ohne politisch verfolgt zu sein, erhebliche Leistungen im bisherigen Umfang erbringen. Das stößt auf Unverständnis. Daher sind Kürzungen geboten. Was wir vorgeschlagen haben, ist das mindeste, was notwendig ist. ({12}) Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wir erwarten auch von den Betroffenen Verständnis. Die Bundesrepublik Deutschland kann sich mit ihrer Solidarität nach wie vor international sehen lassen. ({13}) Lassen Sie als Parlamentarier aus dem Gesetzentwurf ein Gesetz werden! Handeln Sie, statt zu reden; stimmen Sie zu! Herzlichen Dank. ({14})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat die Abgeordnete Brigitte Lange.

Brigitte Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den Zahlen, die Herr Protzner genannt hat, möchte ich einige hinzufügen. Auf eine Anfrage von einem Abgeordneten unserer Fraktion hat die Bundesregierung am 14. Oktober 1992 mitgeteilt, daß 1989 438 082, 1990 465 470 und 1991 497 476 Auslän10260 der unser Land verlassen haben. Diese Zahlen haben Sie vergessen zu nennen. ({0}) - Das vermute ich auch. Wir reden heute - wie es so schön harmlos heißt - über den Entwurf eines Gesetzes über Leistungen der Sozialhilfe an Ausländer. Leistungen sind im Sozialhilfegesetz vorgesehen. § 120 BSHG beinhaltet dies. Die neuen Vorschriften verkünden etwas ganz anderes, als die Überschrift verheißt. Überraschend war, daß nicht - wie Frau Rönsch uns das im Ausschuß angekündigt hatte - das Ministerium einen Entwurf vorlegt, sondern daß sich die Koalitionsfraktionen dazu entschlossen haben. Insbesondere habe ich mich gewundert, daß die F.D.P. dabei ist; denn sie hatte noch in einer Pressemeldung vorher klargemacht - Frau Dr. Babel hatte das so erklärt -, daß sie ein eigenes Unterhaltsgesetz für Asylbewerber fordert. Insofern war ich schon verwundert, Frau Babel, daß Sie den Entwurf unterstützen. Wir haben aber etwas Hoffnung, daß die Bundesregierung darüber anders denkt und nur einen Versuchsballon steigen läßt, um zu sehen, wie die Bevölkerung darauf reagiert; denn es macht sich im Moment ja sehr gut, dieses Thema polemisch in der Presse zu behandeln. ({1}) Die Koalition begehrt eine geänderte Regelung von Leistungen der Sozialhilfe an Ausländer - insbesondere die 25%ige Kürzung des Regelsatzes. Wir könnten uns über ein eigenes Leistungsgesetz, das Status, Aufenthaltsdauer und -ort berücksichtigt, vielleicht unterhalten. Wir könnten uns das auch vorstellen. Aber, meine Damen und Herren, eine 25%ige Kürzung der Regelsätze im BSHG lehnen wir ab. Lassen Sie mich erklären, warum. Zunächst etwas Grundsätzliches zum BSHG: 1981 wurde eine neue Regelung über die Gewährung von Sozialhilfe an asylsuchende Ausländer in das BSHG aufgenommen. Dies war schon damals hinsichtlich der Zielsetzung - finanziellen Anreiz zu mindern und Mißbrauch auszuschließen - umstritten. Umstritten war dies vor allem auch in bezug auf die rechtliche Problematik. Insbesondere die Bedeutung von § 120 Abs. 2 BSHG, der die Einschränkungsmöglichkeit der Hilfe zum Lebensunterhalt auf das Unerläßliche regelt, ist in der Verwaltungspraxis und Rechtsprechung vielfach Gegenstand von Auseinandersetzungen gewesen. Ab 1985 folgten die Gerichte dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, daß eine generelle Kürzung des Regelsatzes für Asylbewerber nicht dem Individualisierungsgebot nach § 1 Abs. 1 BSHG und dem Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes gerecht werde. An dieser Rechtslage scheiterte auch ein Vorstoß des Landes Baden-Württemberg, Regelsätze für Asylbewerber um 20 % zu kürzen. Frau Dr. Babel teilte diese verfassungsrechtlichen Bedenken - ich spreche jetzt von der Vergangenheit -; möglicherweise gilt das jetzt nicht mehr. In der Pressemitteilung hieß es: Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz und Unterhaltsleistungen für Asylbewerber sind zwei Paar verschiedene Schuhe. Sie schloß daraus, daß das dann auch getrennt geregelt werden müßte. ({2}) Art, Form und Maß der Sozialhilfe richten sich nach der Besonderheit des Einzelfalles. ({3}) Sie soll dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Der Regelsatz als die grundlegende Hilfe neben anderen ergänzenden Leistungen soll das Existenzminimum garantieren. Die Koalitionsfraktionen schlagen vor - leider auch die F.D.P. -, für Asylbewerber den Regelsatz, also das Existenzminimum, um 25 % zu kürzen. Damit wir wissen, wovon wir reden: Man will einen Satz von 508 DM auf 381 DM im Monat kürzen. Meinen Sie ernsthaft, meine Damen und Herren von der Koalition, daß ein Mensch von 12,50 DM pro Tag leben kann? Das ist ein Betrag, den wir hier zum Frühstück ausgeben. ({4}) - Er lebt hier nicht unter den Bedingungen seines Herkunftslandes, sondern unter unseren Bedingungen und zu unseren Preisen. ({5}) Teilen Sie nicht die Befürchtung von Fachleuten, daß diese Menschen zum Betteln degradiert oder zum Diebstahl oder zur Schwarzarbeit veranlaßt werden könnten? ({6}) Das Existenzminimum, meine Damen und Herren, muß für alle gleich sein. Es zu unterschreiten hieße, Menschenwürde unterschiedlich nach nationaler Herkunft zu definieren und zu bewerten. Auch für ein Leistungsgesetz gilt das Gebot der Menschenwürde. Aber es kann - im Unterschied zum BSHG - Regelungen aufnehmen, die der speziellen Situation von Flüchtlingen entsprechen; dies insbesondere, wenn das gemeinsam beschlossene Beschleunigungsgesetz greift. Die Koalitionsfraktionen begründen die Neuregelung u. a. mit einer Anreizminderung, und sie versprechen sich, den Ländern und den Kommunen eine Einsparung von 1 Milliarde DM. Welch eine kühne Erwartung! Wir halten eine zügige Abwicklung der Verfahren, sichergestellt durch professionelles Management, durch angemessene sachliche und personelle Ausstattung der Dienststellen, für die wirksamste Anreizverminderung und die gerechtere Kostensenkung. Das BSHG, 1962 in wirtschaftlich guten Zeiten beschlossen, ist für vorübergehende individuelle Notlagen gedacht - als unterstes soziales Netz. Es ist nicht zur Bewältigung von Problemen größerer Gruppen geeignet und sollte auch nicht Auffangbecken bundespoliBrigitte Lange tischer Versäumnisse und Zuständigkeiten sein - weder als Arbeitsmarktinstrument noch Ersatz für ein Pflegegesetz, auf das wir immer noch warten. Auch die Aufnahme von Flüchtlingen ist eine gesamtstaatliche Aufgabe, der sich der Bund nicht länger entziehen darf. Die kommunalen Spitzenverbände fordern seit langem ein eigenständiges Bundesgesetz, ebenso die Sozialminister und die Senatoren, die wie wir die Kürzung des Regelsatzes ablehnen, aber auch weitere Ungereimtheiten Ihres Entwurfs, zu denen mein Kollege Gerd Andres sprechen wird. ({7}) Ich bitte die Koalitionsfraktionen: Widerstehen Sie übereilten, populistischen Regelungen. Die Begründung, die hier geliefert wurde, läßt Schlimmstes befürchten. Stärken Sie keine leicht abrufbaren Vorurteile. Immer, wenn soziale Leistungen gekürzt werden sollen, geht eine Mißbrauchsdebatte voraus. Mißbrauch - das ist so ein Zauberwort, auf das man sich verlassen kann; leicht gehandhabt zur Verschleierung eigener Versäumnisse. Mitte der 80er Jahre waren es Sozialhilfeempfänger, dann die Arbeitslosen, jetzt sind es die Asylbewerber, die an Stammtischen - aber nicht nur da - für soziale Mißstände verantwortlich gemacht werden, die nicht sie zu verantworten haben, sondern diese Bundesregierung sowie die Mehrheit dieses Parlaments. Präsidentin Süssmuth erinnerte uns beim Festakt hier daran, daß wir die Probleme sehen sollten, wie sie wirklich sind, daß wir nichts beschönigen, aber auch nichts polemisch schlimmerreden sollten. Dieses Thema sollte besonders sensibel gehandhabt werden. Lassen Sie uns gemeinsam an einer vernünftigen und gerechten Lösung arbeiten. ({8})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Barbara Höll das Wort.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute soll wieder einmal begonnen werden, ein Gesetz im Bundestag durchzupeitschen - unter dem angeblichen Druck, sparen zu müssen, schnell und auf Teufel komm raus. Geplant ist deshalb sogar während der Haushaltswoche eine Sondersitzung des Ausschusses für Familie und Senioren - extra nur zu diesem Punkt. Eine erste Einführung zu diesem Gesetz konnten wir in der vergangenen Woche innerhalb der Aktuellen Stunde zu den geplanten Steuererhöhungen ab 1995 in folgender Argumentationslinie hören: Die DDR war zu teuer, Deutschland wird von Asylanten überschwemmt, und alle sollen gemeinsam sparen. Meine Damen und Herren, diese gesamte Argumentation ist heuchlerisch, zynisch und menschenverachtend. Auch wenn ich mich wiederhole: Es ist trotzdem wahr, daß zur Erklärung der Staatsschulden der Bundesrepublik Deutschland eine DDR allein nicht reicht, um die Restschuld von 1,9 Billionen DM erklären zu können. Es ist weiterhin nicht wahr, daß sich die Zahl der Flüchtlinge 1992 gegenüber den Vorjahren drastisch erhöht hat und Deutschland sich das nicht leisten könne. Die Zahl der Auswanderer wird ja tunlichst verschwiegen. Es ist auch nicht wahr, daß mit dem geplanten Solidarpakt alle gemeinsam sparen sollen. Im Gegenteil: Ab 1. Januar 1993 erhalten Besserverdienende Steuergeschenke in Größenordnungen. Das Gesetz über Leistungen der Sozialhilfe an Ausländer ist im Klartext nichts weiter als ein weiterer Abbau der sozialen Komponente der gegenüber uns als Ostdeutschen so hoch gepriesenen Sozialen Marktwirtschaft. Als Neubundesbürgerin war ich der Meinung, daß der Staat eine Fürsorgepflicht gegenüber den in seinem Staatsgebiet lebenden Menschen hat. Aber siehe da, auf einmal ist es möglich, Menschen zu klassifizieren. Es gibt Deutsche und es gibt Ausländer. Es gibt Ausländer, die das Recht erwirkt haben, in Deutschland zu leben, und es gibt Ausländer, die sich noch im Asylverfahren befinden bzw. bei denen abzusehen ist, daß sie in sehr kurzer Zeit abgeschoben werden können. Nun soll begonnen werden, bei dieser letzten Gruppe der Ausländer an einer Minimalausstattung von existenzsichernden Mitteln zu sparen. Den beiden letztgenannten Gruppen von Ausländern wird zugemutet, ab Beginn des neuen Jahres mit 75 % des Regelsatzes der Sozialhilfe auskommen zu müssen. Das sind Kürzungen um ein Viertel. ({0}) Frau Verhülsdonk betonte in der vergangenen Woche, das Wort „Solidarität" bedeute natürlich ebenso, daß niemandem Sonderopfer zugemutet werden können, auch nicht den Sozialhilfeempfängern. ({1}) Sind die Ausländer also keine Menschen? - Hier ist also nicht die Gesamtheit der Sozialhilfeempfänger gemeint, sondern diejenigen, die ein bißchen „schlechtere" Menschen sind, die ja sowieso auf einem niedrigeren Kulturniveau leben, das mit dem unsrigen nicht zu vergleichen ist. Denen kann man das zumuten. In der Begründung zum Gesetzentwurf ist nachzulesen, daß die Gruppe der Ausländer, die sich in einem noch nicht verfestigten Aufenthaltsstatus befindet, Hilfe im Umfang des zum Leben Unerläßlichen bekommt und der Gruppe der mit einem faktisch nur auf Zeit verfestigten Status hier Weilenden grundsätzlich nur die existenzsichernde Hilfe zum Lebensunterhalt im Umfang wie an Deutsche gewährt wird. Meine Damen und Herren, ich bin schlichtweg entsetzt darüber, wie hier Parlamentarier mit einem Jahreseinkommen von 120 000 DM darüber diskutieren, daß ein gekürzter Sozialhilfesatz von 380 DM im Monat zum Leben ausreichen soll. Ich empfehle Ihnen, es einmal selbst auszuprobieren, als sogenannte normale Deutsche mit dem vollen Regelsatz - in Sachsen derzeit 495 DM - leben zu müssen. Der Regelsatz der Sozialhilfe orientiert sich am hiesigen Lebensstandard unterer Einkommensgruppen, ganz zu schweigen davon, daß Betroffene und Organisationen, die in Deutschland in diesem Bereich tätig sind, natürlich wissen, daß der Satz viel zu gering ist. Aber bei ausländischen Bürgerinnen und Bürgern, die sich in Deutschland aufhalten, ist es ja nicht notwendig, wenigstens diesen unteren Level zu erhalten. Ihnen wird sogar unterstellt, daß mit diesem Minimalsatz eine bessere Existenzsicherung als in ihren Heimatländern gegeben ist, daß dies zur Einreise verlockt und dann vielleicht sogar noch zum Hierbleiben. 1991 waren von den 256 112 Flüchtlingen 74 854 Jugoslawen, die aus einem Kriegsgebiet kommen. Diesen Flüchtlingen wird unterstellt, daß sie jetzt wegen der Reduzierung des Regelsatzes um 25 % davon abgehalten werden, zu uns zu kommen, und vielleicht zu Hause bleiben. Das ist eine Unverschämtheit. ({2}) Dies ist ein von den Medien unterstütztes Einschwören auf ein bestimmtes Feindbild, ein Ablenken, eine bewußte Falschdarstellung, die suggeriert, daß Deutschland von einem riesigen Asylantenstrom überflutet wird, von einer anonymen Masse, in der der einzelne Menschen nicht mehr zählt. Der tatsächliche Kostenaufwand für einen Asylbewerber wird auf etwa 15 000 DM pro Jahr geschätzt. 8 000 DM davon - etwas mehr als die Hälfte - werden interessanterweise für Unterbringung und Sozialhilfe aufgebracht und 7 000 DM für den Aufwand von Behörden und Gerichten. Dagegen möchte ich ein Zitat aus der „Wirtschaftswoche" Nr. 44 dieses Jahres setzen: Die Ausländer bringen das Boot namens Deutschland nicht zum Absaufen. Es bekommt im Gegenteil durch sie mehr Wasser unter den Kiel. Seit 1988 schufen ausländische Zuwanderer per saldo 20 000 zusätzliche Arbeitsplätze.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Abgeordnete, ich versuche seit geraumer Zeit, Ihnen ein Zeichen zu geben. Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, ich bin sofort fertig. Der „Spiegel" schreibt richtigerweise, hiermit werde zum Abbau von Sozialleistungen das Tor geöffnet, und zwar auch für deutsche Mitbürgerinnen und Mitbürger. Ich verweise nur auf das Verfassungsgerichtsurteil zur Höhe des Existenzminimums. Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie müssen zur Kenntnis nehmen, daß Sie sich mit diesem Gesetzentwurf konsequent auf dem Boden des Parteiprogramms der Republikaner befinden, die Sachstatt Geldleistungen sowie gemeinnützige Arbeit während des Asylverfahrens fordern. Ich danke Ihnen. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Gisela Babel.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte gehofft, daß genau das, was eben passiert ist, nicht stattfinden würde, daß wir nämlich dieses Thema wieder in Richtung auf den Rechtsradikalismus und die Republikaner erörtern würden. ({0}) Alle demokratischen Parteien nehmen Schaden, wenn wir das Thema in dieser Weise hier behandeln. ({1}) Meine Damen und Herren, mit dem Thema Asyl, das bislang von Innen- und Rechtspolitikern behandelt wurde, beschäftigen sich heute Sozialpolitiker. Der Grund ist, daß die Sozialhilfe für Asylbewerber gekürzt und zu diesem Zweck das Bundessozialhilfegesetz geändert wird. Die Absicht, die Leistungen an Asylbewerber zu kürzen, sie vor allem von Geld- auf Sachleistungen umzustellen, hat die Koalition von CDU/CSU und F.D.P. schon in ihrer gemeinsamen Entschließung zur Asylpolitik am 14. Oktober festgehalten. Heute wird der Gesetzentwurf eingebracht. Das kann man als Beispiel für ungewohnt schnelles und konsequentes Handeln von seiten der Politik loben. Allzu große Erwartungen, daß sich nämlich damit schon die Zahl der Wirtschaftsflüchtlinge wesentlich ändern könnte, sollte man nicht hegen. Es ist ja nicht allein die Höhe des Unterhalts, die Deutschland für Asylbewerber so anziehend macht, sondern, wie wir mittlerweile alle wissen, die Ausgestaltung des Asylrechts bei uns, die Länge der Verfahren und die mangelnde Abschiebepraxis. Insofern stellt die Änderung des Asylunterhalts nur einen kleinen Baustein in einem insgesamt reformbedürftigen Rechtsgebäude dar. Die F.D.P. erwartet, daß die heute eingebrachte Initiative Teil des Gesamtkonzepts wird. Für Sozialpolitiker ist die Absenkung von Sozialhilfe auch nur im Zusammenhang mit einem beschleunigten Verfahren und mit konsequenter Abschiebung der abgewiesenen Bewerber annehmbar. ({2}) Es entspricht nicht unserer Vorstellung von einer humanen Gesellschaft, wenn Menschen auf längere Zeit ohne Möglichkeit der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben bei uns untergebracht sind. ({3}) Die Absenkung des Unterhalts darf nicht als eine Form der Degradierung von Ausländern aufgefaßt werden und dem Druck der gewalttätigen KrawallmaDr. Gisela Babel cher zugeschrieben werden. Wir wollen auch nicht in erster Linie öffentliche Haushalte damit sanieren. ({4}) Nein, meine Damen und Herren, es gibt sachliche und stichhaltige Gründe für die vorgesehene Reduzierung der Sozialhilfe. Die Sozialhilfe nach BSHG erfüllt im wesentlichen zwei Funktionen: Sie soll erstens das Existenzminimum für jeden Menschen sicherstellen und zweitens die Möglichkeit schaffen, am Leben der Gemeinschaft teilzunehmen. ({5}) Während des laufenden Asylverfahrens müssen die Bewerber bei uns untergebracht, verpflegt und gekleidet werden. Zu den Sozialhilfekosten kommen natürlich die Kosten der Unterbringung noch hinzu. Wenn man das umrechnet, ist die Leistung, die wir in diesem Fall den einzelnen Asylbewerbern zukommen lassen, eine Leistung, auf die wir in Deutschland immer noch relativ stolz sein können. ({6}) Es ist aber nicht nötig und auch nicht wünschenswert, sie zur vollen Integration in die Gemeinschaft zu befähigen. Immerhin werden die meisten von ihnen - das müssen wir sehen - im Verfahren abgewiesen und müssen in ihre Heimat zurückkehren.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Abgeordnete Dr. Babel, Frau Abgeordnete Hanewinckel möchte eine Zwischenfrage stellen. - Bitte sehr,

Christel Hanewinckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Babel, ich möchte Sie gern fragen, was Sie bewogen hat, Ihre Meinung vom 2. November zu ändern. Es gibt eine Pressemitteilung von Ihnen, in der die F.D.P. ein eigenes Unterhaltsgesetz für Asylbewerber fordert. Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz und Unterhaltsleistungen für Asylbewerber sind zwei Paar verschiedene Schuhe.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, erlauben Sie mir, meine Rede bis zum Ende vorzutragen. Ein folgender Passus wird Ihnen darüber Aufklärung geben. Sonst müßte ich es zweimal sagen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Abgeordnete Dr. Höll möchte auch noch eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich würde gerne - weil Sie angefangen haben, das zu begründen - von Ihnen wissen, wie Sie Ihren Ansatz mit dem in Sonntagsreden wie am vergangenen Sonntag von den Politikern vertretenen Standpunkt vereinbaren, daß die Würde des Menschen unantastbar ist. Hier wird die Würde des Menschen geteilt, ({0}) und die Würde des Menschen wird von einem Gesamtzeitraum her irgendwie begründet, obwohl der Mensch hier lebt, jeden Tag hier leben muß. ({1}) - Dafür sind am Sonntag viele Menschen auf die Straße gegangen.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Höll, ich erwidere Ihnen ganz ernsthaft. Es gibt hier keinen Asylbewerber, der in einer Situation versorgt wird, die nicht Art. 1 des Grundgesetzes und der Menschenwürde entspräche. ({0}) Dies ist heute nicht der Fall, und dies wird morgen nicht der Fall sein. Das ist für uns der Grundsatz. Wir wollen doch eine Regelung finden, die es uns ermöglicht, das Asylrecht zu bewahren. Alle diese Schritte sind dazu geeignet. Deswegen ist es geradezu kontraproduktiv, was Sie hier machen. Wenn Sie uns mit solchen Maßnahmen, die wirklich ihren Sinn haben, angreifen und sagen, wir würden uns unter diejenigen einreihen, die die Ausländer ablehnen oder hierzu sozusagen Munition liefern, weise ich das mit aller Entschiedenheit zurück. ({1}) Ich halte noch einmal fest: Die Integration ist ein wichtiger Punkt bei den Leistungen an Sozialhilfeempfänger. Um diesen Betrag, der die Teilnahme am gemeinschaftlichen Leben ermöglichen soll, kann eine Unterhaltsleistung an Asylbewerber auch gekürzt werden, wenn wir davon ausgehen, daß das Verfahren beschleunigt und in einem überschaubaren Zeitraum abgeschlossen sein wird. 75 % des Regelsatzes sollen in der Bundesrepublik einheitlich gezahlt werden. Dies ist ein ganz wichtiger Punkt, denn die Situation ist heute höchst unterschiedlich. Wir haben manche Bundesländer, in denen der Regelsatz heute schon auf 75 % gekürzt wird - es ist klar, daß hier keine weitere Kürzung erfolgen kann -, es gibt andere Länder, die noch 100 % zahlen, und es gibt Zwischengrade. Den daraufhin einsetzenden Asylbewerbertourismus können wir nun alle nicht wollen, weil er die Verfahren wiederum in die Länge zieht. ({2}) Daß man hier einheitlich vorgeht, halte ich für ganz wichtig. Ganz wichtig ist auch, daß grundsätzlich von der Geldleistung abgegangen wird und daß wir jetzt zu einer Sachleistung übergehen wollen. Dies setzt allerdings eine Versorgung in Gemeinschaftsunterkünften voraus und kann natürlich nicht für die Unterbringung in kleinen Gruppen in Dörfern gelten, weil dort Sachleistungen nicht vernünftig organisiert werden können. Hier werden wir natürlich auf Warengutscheine oder Geldleistungen nach wie vor angewiesen sein. Wenn Sachleistungen statt Geldleistungen erbracht werden, fällt ein wichtiger Anreiz weg, nach Deutschland zu kommen, denn viele Asylbewerber haben hier mit Beträgen aus der Sozialhilfe mehr Geld in der Hand, als sie in ihrer Heimat je erhalten haben. Das trifft z. B. für die Gruppe aus Rumänien zu, die derzeit das größte Kontingent darstellt und die geringste Anerkennungsquote aufweist. Die Geldleistung - auch das ist ganz wichtig - wurde immer dazu benutzt, Schlepperdienste zu bezahlen. Wir müssen schon einmal die Augen dafür öffnen. Hier liegt der entscheidende Grund, um die Geldleistung abzuschaffen. ({3}) Es geht darum, daß wir dem in der Bundesrepublik vorhandenen wohlorganisierten und lukrativen Schlepperwesen auf diese Weise das Handwerk legen können. ({4}) Es gibt im eingebrachten Gesetzentwurf auch Ausnahmen, bei denen der volle Sozialhilfebetrag gezahlt wird. Das soll immer dann geschehen, wenn eine deutsche Behörde, also das Bundesamt oder ein deutsches Gericht, die Asylberechtigung anerkennt und es etwa eine Verfahrensverlängerung dadurch gibt, daß der Aufenthalt nach der Entscheidung des Bundesamtes durch den Bundesanwalt noch einmal verlängert wird oder vor Gericht eine Berufung oder Revision zugelassen wird. Immer dann, wenn ein Ja von seiten der Behörde oder eines Gerichtes kommt, soll der volle Satz wieder ausgezahlt werden. Dies betrifft natürlich nur eine geringe Zahl von Asylbewerbern, die nach unserer Auffassung dann auch zu Recht Asyl begehren und wie andere hilfsbedürftige Bürger versorgt werden. Die abgewiesenen Asylbewerber, die länger als sechs Monate nach ihrer Ablehnung hier leben und es nicht zu vertreten haben, daß ihre Ausreisepflicht nicht vollzogen wird, erhalten ebenfalls den vollen Sozialhilfesatz. Der Grundgedanke für diese Ausnahme ist natürlich, daß auch bei der Abschiebung die Entscheidung schneller getroffen und konsequenter gehandelt werden muß. Wenn die Länder sozusagen in der Pflicht zur Abschiebung oder eben in der Verpflichtung stehen, bei Nichtabschiebung wieder mehr Unterhalt zu zahlen, bekommen sie vielleicht einen Anreiz, beschleunigt zu handeln. Meine Damen und Herren, die F.D.P. - das sage ich jetzt nicht nur persönlich, sondern so war auch der Parteitagsbeschluß - wollte den gesamten Komplex Unterhalt für Asylbewerber in einem eigenen Unterhaltsgesetz außerhalb des BSHG regeln. ({5}) Rechtlich und sachlich spricht alles dafür. Das BSHG regelt die Hilfe für bedürftige Bürger im Einzelfall, und hier geht es um die Versorgung einer Gruppe von Menschen während eines überschaubaren Zeitraums. Im BSHG gelten Standards, die nun für die Gruppe der Asylbewerber nicht zutreffen sollen. Das kann zu rechtlichen Auseinandersetzungen führen. Der Grund, warum die F.D.P. der Union auf dem Weg zum BSHG gefolgt ist, liegt vor allem darin, daß wir mit einem bundesrechtlichen Leistungsgesetz auch eine Finanzierungsverpflichtung des Bundes übernehmen. ({6}) Meine Damen und Herren von der SPD, ich möchte Ihre haushaltspolitischen Sprecher in diesem Hause erleben, wenn wir den Haushalt um 7 Milliarden DM auf Grund eines Leistungsgesetzes, das wir sozusagen zu Lasten des Bundeshaushalts beschließen können, erhöhen müssen. Die Frage ist, wie man mit den Ländern" verhandelt. Man muß sehen, ob es hier auf dem Gesetzgebungswege noch Möglichkeiten gibt. ({7})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Dr. Babel, ich möchte mich nicht der Gefahr aussetzen, Sie redezeitmäßig zu bevorzugen. Ich wäre Ihnen also sehr dankbar, wenn Sie zum Schluß kämen.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich halte es für wünschenswert und wichtig, daß sich die Opposition an der Lösung der Gesamtproblematik beteiligt und daß wir sie in die Reform des Asylrechts insgesamt einbinden. Mein Appell geht an die Fraktionen: Lassen Sie uns ohne Polemik und einvernehmlich bundeseinheitlich die drängenden Fragen lösen. Schließlich geht es uns allen darum, Voraussetzungen zu schaffen, die es uns ermöglichen, auch in Zukunft die Zuflucht der Asylbewerber nach Deutschland zu gewährleisten. Ich bedanke mich. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Konrad Weiß.

Konrad Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002461, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine Damen und Herren! Die Sozialpolitik für Flüchtlinge und Einwanderer wird in Deutschland bis heute leider nur unzureichend in einem gesellschaftlich verantwortlichen Gesamtzusammenhang betrachtet. Die Ignoranz gegenüber der seit Jahrzehnten stattfindenden Einwanderung und dem weltweiten Flüchtlingsproblem führte zu einer ausschließlich reaktiven Politik, zum dauerhaften Krisenmanagement der Kommunen und Länder und zur Suche nach populistischen, aber unwirksamen Lösungen wie der beabsichtigten Änderung des Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes. Ein umfassender sozialpolitischer Lösungsansatz, der wirksam zur Beseitigung sozialer Ungleichheiten beitragen könnte, ist bislang nicht in Sicht. Das gegenwärtige System sozialer Leistungen und sozialer Dienste ist durch interne Ausgrenzungen und Verweigerungsstrategien gekennzeichnet. Unser ganzes Rechtssystem ist von Rechtsvorbehalten durchzogen, die den Staat vor sozialen Ansprüchen schützen sollen. Durch das geltende Ausländerrecht sind weitreichende Einschränkungen möglich, die Ausländer gegenüber Deutschen benachteiligen. De facto werden gerade Asylbewerber durch das Zusammenspiel von Asylverfahren und der arbeits- und sozialrechtlichen Bestimmungen für Ausländer von der Teilhabe in wesentlichen Lebensbereichen ausgeschlossen. Dazu gehören die Verweigerung elementarer staatsbürgerlicher Rechte, die Einschränkung der Freizügigkeit, rechtliche und faktische Einengung der Bildungsmöglichkeit, begrenzte Möglichkeiten der kulturellen und religiösen Entfaltung, ferner die Konrad Weiß ({0}) rechtlichen und faktischen Zugangsbarrieren zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt und Blockaden, die eine gleichberechtigte Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheits- und Sozialwesens unmöglich machen. Durch die stufenweise Rücknahme von sozialen Leistungen - so auch mit dem vorgelegten Entwurf eines Gesetzes über Leistungen der Sozialhilfe an Ausländer - wird die angestrebte Gleichstellung der Ausländerinnen und Ausländer gefährdet. Das unbestreitbare Haushaltsdefizit, die enormen Kosten der deutschen Einheit und ein ungezügeltes Wohlstandsdenken liefern dafür die nötige Legitimation. Nach der Definition des Bundessozialhilfegesetzes ist es jedoch Aufgabe der Sozialhilfe, „dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht". Nach Auffassung der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN läßt sich dieser Grundsatz mit den in dem Entwurf vorgesehenen Maßnahmen nicht vereinbaren. Die Bundesregierung beabsichtigt darin erhebliche Kürzungen der Sozialleistungen und gravierende Einschränkungen der medizinischen Versorgung. Schon heute wird aber die Sozialhilfe für Asylsuchende oftmals um 15 bis 20 % gekürzt, weil ein sogenannter geringerer Ernährungsbedarf angenommen wird oder weil die Regelsätze der Sozialhilfe um den Anteil für kulturelle und kommunikative Zwecke herabgesetzt werden, ganz nach dem Motto: Ausländer brauchen nicht soviel wie Deutsche. Andererseits wird den Asylbewerbern durch restriktive arbeitsrechtliche Bestimmungen eine Erwerbstätigkeit unmöglich gemacht, so daß sie auf Sozialhilfe angewiesen sind. Soll etwa - ich habe das soeben von Ihnen gehört - durch die weitere Kürzung der Sozialhilfe Deutschland als Zufluchtsland weniger attraktiv gemacht werden? Ich sage in aller Deutlichkeit: Dies wäre eine besonders diffizile Form der Diskriminierung, die menschenverachtend und menschenunwürdig ist. Umfragen haben ergeben, daß die deutsche Öffentlichkeit nur ungenau über die Leistungen informiert ist, die Asylbewerber beanspruchen können. Es kursieren phantasievolle Zahlen, die einer dumpfen Fremdenfeindlichkeit Vorschub leisten. Der Haushaltsvorstand, wie das auf gut westdeutsch heißt, erhält bislang 508 DM in den westlichen und 489 DM in den östlichen Bundesländern. Nach der vorgesehenen Regelsatzkürzung auf 75 % wären das noch 381 bzw. 367 DM. Besonders infam ist die Begründung, das sei immer noch mehr, als die meisten in ihrer Heimat als Einkommen hatten. Eine solche Argumentation berücksichtigt weder die oftmals katastrophalen Zustände noch die ganz und gar anders gestalteten Einkommens- und Marktverhältnisse in den Herkunftsländern. Einer Kürzung der Leistungen für Asylbewerber wird die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht zustimmen. Mit großer Skepsis beurteilen wir auch die Bestrebungen, Sachleistungen den Vorrang vor Finanzleistungen zu geben. Ich denke, daß dies nicht pauschal angeordnet werden kann, sondern vor Ort in Kenntnis der konkreten Bedingungen entschieden werden muß. Viele Ausländerbeauftragte in den Kommunen sowie Leiter und Mitarbeiter von Asylbewerberheimen, mit denen ich gesprochen habe, wünschen sich - dies möchte ich an die Bundesregierung und an die Vertreter der Länder weitergeben - einen bundeseinheitlichen Zahltag für die Sozialhilfe, damit ihre doppelte oder mehrfache Inanspruchnahme erschwert wird. Denn es ist besser, den Mißbrauch durch eine Minderheit zu unterbinden, als die Hilfe generell zu kürzen, wovon vor allem die große Mehrheit der ehrlichen und hilfsbedürftigen Asylbewerber betroffen wäre. Weitere Maßnahmen sind vorstellbar. Dazu gehört die konsequente Abschiebung solcher Asylbewerber, die sich Leistungen betrügerisch verschaffen. Das betrifft - ich wiederhole es - eine Minderheit unter vielen hunderttausend ehrlichen Asylbewerbern. Dazu gehören auch organisatorische Maßnahmen, die eine mehrfache oder unberechtigte Inanspruchnahme verhindern. Die Banken wissen sich ja auch vor dem Mißbrauch durch unehrliche Deutsche zu schützen. Ich verkenne nicht die außerordentlichen Anforderungen, die an unser Gemeinwesen durch die hohe Zahl der Asylbewerber, Flüchtlinge und Einwanderer gestellt sind. Eine zügige Bearbeitung der Anträge und die schnelle Integration der Ausländerinnen und Ausländer in unsere Gesellschaft sind jedoch nach meiner Überzeugung am ehesten geeignet, die finanziellen Belastungen zu senken. Dies allerdings setzt eine in sich schlüssige Immigrationspolitik voraus, zu der diese Bundesregierung entweder nicht willens oder nicht fähig ist. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Dr. Walter Hitschler das Wort.

Dr. Walter Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, ich habe mich deshalb zu dieser Kurzintervention gemeldet, weil ich den Eindruck hatte, daß die Kolleginnen Höll und Lange hier den falschen Eindruck erwecken wollten, als seien die in bar gezahlten Beträge der Hilfe zum Lebensunterhalt die einzigen Leistungen, die die Sozialhilfe für Sozialhilfeempfänger erbringt. Wenn Sie sich einmal auf einem Sozialamt in Ihrer Gemeinde erkundigen, was für eine vierköpfige Familie, die sozialhilfeberechtigt ist, insgesamt aufgebracht wird, dann werden Sie - unter Einberechnung vieler anderer Beihilfen und vor allen Dingen unter Berücksichtigung der Kostenübernahme für die Miete - erstaunt feststellen, daß Sie auf Beträge kommen, die vielen Erwerbstätigen unserer Arbeitnehmerfamilien nicht zustehen. ({0}) Da kommt man nämlich auf Beträge, die über 3 000 DM, teilweise sogar über 4 000 DM pro Monat liegen. Deshalb befinden wir uns in dieser Frage auch in guter Gesellschaft vieler sozialdemokratischer Bürgermeister in den Gemeinden, die das Problem genauso sehen wie ich. Wenn Sie es für menschenverachtend ansehen, die Sozialhilfe zu kürzen, dann frage ich mich, wie Sie es beurteilen, daß Menschen in unseren Alters- und Pflegeheimen - weil ihre Rente nicht ausreicht, den Aufenthalt dort zu bezahlen - auf ein Taschengeld von 158 DM im Monat angewiesen sind und davon noch ihre Kleidung bezahlen müssen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Riegert.

Klaus Riegert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001847, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es schon bemerkenswert, daß die SPD in den Wahlkreisen wieder einmal anders redet als hier in Bonn. ({0}) Dort fordert z. B. Ihr wirtschaftspolitischer Sprecher die Kürzung der Sozialleistungen für Asylbewerber als längst überfällige Maßnahme. ({1}) Der vorliegende Gesetzentwurf über Leistungen der Sozialhilfe an Ausländer steht im Zusammenhang mit einem Bündel von Maßnahmen zur Minderung des Asylbewerberzustroms. ({2}) Neben der notwendigen Grundgesetzänderung sind Mißstände zu beseitigen. Ich nenne als Beispiel nur das Problem der mehrfachen Asylantragstellung und das Problem des mehrfachen Bezugs von Leistungen. ({3}) 60 bis 70 % aller Asylbewerber in der Europäischen Gemeinschaft sind bereits bei uns in Deutschland. Sie erhalten vergleichsweise hohe Sozialhilfesätze und genießen ein weltweit einzigartiges Asylrecht. ({4}) Meine Fraktion, die Fraktion der CDU/CSU, schätzt, daß jeder Asylbewerber, der keiner Beschäftigung nachgeht, den Steuerzahler ca. 1 300 DM im Monat kostet. Etwa 800 DM davon sind für die Sozialhilfe und 500 DM für Kosten der behördlichen Infrastruktur und Leistungen nach dem Wohngeldgesetz. Wenn Bürger sehen, daß ein verheirateter Arbeitnehmer mit zwei Kindern und 5 000 DM brutto im Monat mit ca. 3 560 DM netto nur über rund 550 DM mehr verfügt, als einer entsprechenden Asylbewerberfamilie zukommt, dann wundert es mich nicht, wenn die Bürger die Politik nicht mehr verstehen. ({5}) In Frankreich erhalten Asylbewerber im ersten Monat etwa 615 DM an Sozialleistungen, im Anschluß daran für maximal ein Jahr eine Eingliederungshilfe in Höhe von rund 400 DM pro Monat. In Italien kann Asylbewerbern, sobald sie über keine eigenen Mittel verfügen, bis zu einem Zeitraum von 45 Tagen eine anfängliche Hilfe in Höhe von rund 35 DM täglich gewährt werden. In Dänemark stehen Asylbewerbern außerhalb der Unterbringungszentren keinerlei staatliche Unterstützungen zu. Mit der Absenkung der Sozialhilfe für Asylbewerber verringern wir die Kluft zu unseren EG-Partnern. Wir vermindern damit zugleich den Anreiz, allein aus wirtschaftlichen Gründen zu uns zu kommen. ({6}) Die Sozialhilfe soll normalerweise die Integration in unserer Gesellschaft fördern. Bis feststeht, ob ein Asylbewerber hierbleiben kann, darf er keine Integrationsleistungen beziehen. Die Vorläufigkeit seines Aufenthaltsrechts soll damit unterstrichen werden. Diesem Grundsatz trägt unser Gesetzentwurf Rechnung. Ausländern, die eine Aufenthaltsgestattung nach dem Asylverfahrensgesetz besitzen oder deren Ausreisepflicht vollziehbar ist, soll Hilfe zum Lebensunterhalt nur in dem Umfang des zum Lebensunterhalt Unerläßlichen gewährt werden. Darum kürzen wir den Regelsatz auf 75 % des allgemeinen Regelsatzes und für Kinder auf 90 %. Die Hilfe muß zu 80 % als Sachleistung erbracht werden. Ein notwendiges Taschengeld in Höhe von 20 % wird in bar ausgezahlt. Der Haushaltsvorstand erhält dann statt bisher 508 DM nur noch 381 DM, wovon er lediglich 76 DM in bar bekommt. Warum machen wir das? - Wie Sie wissen, wird eine große Zahl von Asylbewerbern von kriminellen Schlepperbanden in unser Land gebracht. ({7}) Die Schlepperleistungen werden dann häufig mit monatlichen Zahlungen durch die Asylbewerber honoriert. Mit der Auszahlung eines Taschengeldes dämmen wir diese Zahlungen ein und entziehen den Schlepperorganisationen so den finanziellen Nährboden. ({8}) Der im geltenden Recht bereits vorhandene Vorrang von Sachleistungen wird nun zwingend vorgeschrieben. In Aufnahmeeinrichtungen wird dies ohne weiteres durchzuführen sein. Städte und Gemeinden sind in der Pflicht, dieses Sachleistungsprinzip durch- und umzusetzen. Einzelheiten bestimmen die Bundesministerin für Familie und Senioren und die Länder. Über die Hilfe zum Lebensunterhalt hinausgehende Leistungen der Sozialhilfe werden nur noch gewährt, wenn sie unabweisbar geboten sind. Leistungen können insbesondere im Falle einer Erkrankung - ausnahmsweise aber auch in anderen Lebenslagen - erforderlich sein. Krankenhilfe wird auf schwere und akute Krankheiten beschränkt. Damit wird z. B. aufwendigem Zahnersatz oder aufwendiger Zahnsanierung ein Riegel vorgeschoben. ({9}) Unsere Bürger sind insgesamt weder ausländerfeindlich, noch wollen sie Extremisten nachlaufen. Aber sie erwarten von uns verantwortlichen Politikern zu Recht, daß wir die als dringlich erkannten Probleme lösen. Ich gebe zu, wir hätten schon früher den Mut haben müssen, dieses Gesetz einzubringen. ({10}) Mittlerweile fordern, wie ich schon gesagt habe, nicht wenige auch innerhalb der SPD, die Sozialhilfe für Asylbewerber zu kürzen. Ein SPD-Bürgermeister in meinem Wahlkreis bringt im Gemeindemitteilungsblatt die Forderung auf den Punkt: Reduzierung der Sozialhilfe und Ausgabe von Lebensmittelgutscheinen zur Eindämmung des ungebremsten Einwandererzustroms. Der vorliegende Gesetzentwurf holt dieses Versäumnis nach. Darüber hinaus führt er zu einer Einsparung von über 1 Milliarde DM. ({11}) Der mit der Kürzung der Sozialhilfe verbundene geringere Lebensstandard bei Asylbewerbern, der allerdings wesentlich höher ist als in deren Herkunftsländern, ist auch bei Zugrundelegung unserer Lebensverhältnisse übergangsweise zumutbar. Im übrigen ist keinem Menschen vorzuwerfen, daß er aus Armut und Elend heraus will und zu uns kommt. ({12}) Bekämpfung der Ursachen der Wanderungsbewegungen durch Hilfe in den armen Regionen Europas, Afrikas und Asiens statt Mißbrauch des Asylrechts - das ist unsere Politik. Alleine sind wir überfordert. Hier sind die Europäische Gemeinschaft und die Industrieländer der westlichen Welt gefordert, in den Herkunftsländern Hilfe zu leisten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich fordere Sie auf, diesem Gesetz zuzustimmen. ({13}) Setzen Sie sich darüber hinaus auf Ihrem Parteitag für eine wirksame Änderung des Grundgesetzes als Schlüssel für alle weiteren notwendigen Maßnahmen ein! ({14})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Riegert, ich möchte mich bei Ihnen bedanken; denn es ist nicht ganz selbstverständlich, daß bei einer Jungfernrede die Redezeit so perfekt eingehalten wird. Herzlichen Dank. ({0}) Das Wort hat nun der Abgeordnete Gerd Andres.

Dr. h. c. Gerd Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. bringen ein Gesetz ein, mit dem Leistungen der Sozialhilfe an Ausländer gekürzt und neu strukturiert werden sollen. Dem Deckblatt zum Gesetzentwurf ist zu entnehmen, daß es zu diesem Gesetz angeblich keine Alternative gebe und mit Kosteneinsparungen bis zu 1 Milliarde DM bei Ländern und Kommunen gerechnet werde. Dieser Gesetzentwurf ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Er ist - erstaunlich nach den öffentlichen Ankündigungen der Bundesministerin für Familie und Senioren - kein Regierungsentwurf. Er ist eine schlichte Änderung des Bundessozialhilfegesetzes und - schon aus seinem Titel ablesbar - ein Gesetz, das „bestimmte Ausländergruppen" durch Kürzung und Neustrukturierung treffen soll. Ich frage: Warum eigentlich so unpräzise? Ich gehe davon aus, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß zwischen den großen Fraktionen unbestritten ist, daß die ständig anwachsende Zahl von Zuwanderern gesteuert und begrenzt werden muß. Dazu sind Gesetze und Maßnahmen notwendig, die - aufgeteilt nach den großen Gruppen - eine Steuerung der Zuwanderung ermöglichen. Der Deutsche Bundestag hat in den letzten Wochen mehrfach über das Asylrecht debattiert. Ich unterstelle hier, daß den gutwilligen Mitgliedern aller Fraktionen klar ist, daß die notwendigen Antworten nur gemeinsam entwickelt und, was viel wichtiger ist, mit den notwendigen Mehrheiten beschlossen werden können. Zur Steuerung der Zuwanderung gehört u. a. die Frage, ob wir durch die materiellen Bedingungen, die wir den Menschen, die zu uns kommen, gewähren, nicht zusätzliche Anreize für die Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland schaffen. Martin Süskind hat das mit Datum vom 11. November 1992 in der „Süddeutschen Zeitung" wie folgt beschrieben - ich zitiere ihn hier Alle Parteien, vor allem die in der jahrelangen Diskussion gestählten Experten sind überzeugt davon, daß die vielleicht wirksamste Maßnahme gegen den Asylbewerberstrom auf einem ganz anderen Feld liegt und mit verfassungsrechtlichen Fragen überhaupt nichts zu tun hat: Es handelt sich dabei um die Leistungen, die Asylbewerber in Deutschland nach dem Sozialhilfegesetz erhalten. Sehr viele Asylsuchende werden durch organisierte Schlepperbanden ins Land geschleust, die ihren Klienten horrende Summen für diese „Dienstleistung" abverlangen. ({0}) Sofern es gelingt, Asylverfahren künftig deutlich abzukürzen und den Asylsuchenden für ihren Lebensunterhalt in Deutschland vor allem Sachleistungen anstatt Geld zu geben, entfiele ein Gutteil des Anreizes, aus der Not der Menschen ein lohnendes Schleppergeschäft zu machen. In diesem Punkt sind sich denn auch alle Parteien, inklusive der CSU, einig. Wo immer es möglich ist, so fordern sie alle, sollen in Zukunft Sachleistungen an die Stelle von Geldleistungen treten. Wenn das Problem von Süskind richtig beschrieben ist, muß die Frage gestellt werden, warum die Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. mit einer Änderung des Bundessozialhilfegesetzes vorpreschen. Sie wissen, daß am kommenden Montag und Dienstag der außerordentliche Bundesparteitag der SPD stattfindet, der sich u. a. mit der von Björn Engholm vorgeschlagenen Gesamtkonzeption zur Regelung der Zuwanderungsproblematik befassen wird. In vielen Anträgen zu diesem Parteitag sind auch die Regelungen der materiellen Versorgung besonders für Asylbewerber angesprochen. Deshalb erkläre ich im Namen meiner Bundestagsfraktion, daß dieser Gesetzesvorstoß der Koalitionsfraktionen für uns mit zu dem gehört, was möglicherweise zwischen den Bundestagsfraktionen in einem Gesamtpaket geregelt werden muß. ({1}) Eine weitere Anmerkung ist notwendig: Alle Gutwilligen in den Fraktionen sowie ein Großteil der Bevölkerung sind der Auffassung, daß es sich bei der Bewältigung der gegenwärtigen und zukünftigen Zuwanderungsproblematik um eine nationale Aufgabe handelt. ({2}) Sie zu lösen fordert eine gemeinsame Kraftanstrengung aller Beteiligten. Mit einer Änderung des Bundessozialhilfegesetzes gehen die Koalitionsfraktionen aber den Weg, den Bund auch künftig mit der Übernahme von Finanzlasten, die sich durch die Unterbringung und Versorgung von Zuwanderern ergeben, zu verschonen. Die Bundesministerin für Familie und Senioren weiß sehr genau, daß ihre öffentliche Ankündigung der Änderung des Bundessozialhilfegesetzes bei der Konferenz der Länderminister für Arbeit und Soziales keine mehrheitliche Zustimmung gefunden hat. Ganz im Gegenteil: Ein Teil der Länder bereitet ein Asylbewerberleistungsgesetz vor. Dabei handelt es sich nicht nur um A-Länder, sondern an den Vorgesprächen waren auch B-Länder beteiligt. Sie gehen dabei von der richtigen Annahme aus, daß Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz und die Unterhaltsleistungen, beispielsweise für Asylbewerber, verschiedene Dinge sind. Das Bundessozialhilfegesetz geht in seiner jetzigen Konstruktion auch vom Integrationsgedanken aus. Ziel der Sozialhilfe ist es, hilfebedürftig gewordene Menschen dauerhaft in Gesellschaft und Arbeitsleben einzugliedern. Dabei soll die Hilfe so rechtzeitig einsetzen, daß Betroffene ihren Lebensunterhalt so schnell wie möglich aus eigener Kraft bestreiten können und ihr soziales Umfeld nicht verlieren. Von diesem Leitgedanken ausgehend, ist beispielsweise die Aufnahme von Regelungen betreffend Asylbewerber in das Bundessozialhilfegesetz neu zu überdenken. ({3}) Wir gehen davon aus, daß ihre Versorgung und ihre Integration auf ihren Status und ihre voraussichtliche Aufenthaltsdauer abgestellt sein müssen. Viele Fachleute sind sich deshalb darüber einig, daß die Sicherung des Lebensunterhaltes für Asylbewerber außerhalb des Bundessozialhilfegesetzes nach Art und Höhe in einem eigenständigen Gesetz zu regeln ist. ({4}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, darüber hinaus muß die Frage gestellt werden, welche Ausländergruppen von der Neustrukturierung und Kürzung der Sozialhilfe betroffen sind. Schon der Titel des Gesetzes macht deutlich, daß hier nicht nur Asylbewerber gemeint sind, sondern allgemein von Ausländern gesprochen wird. Der in § 118 des Entwurfs verwendete Begriff „unbefristete Aufenthaltserlaubnis" ist im Ausländerrecht übrigens unbekannt. Ich äußere die Vermutung, daß mit diesem Gesetz zunächst die Gelegenheit beim Schopfe ergriffen wird, sich der bisher bestehenden Fürsorge für andere Gruppen „ohne unbefristete Aufenthaltserlaubnis" sozusagen im Handstreich mit zu entledigen. Wenn man davon ausgeht, daß die Koalitionsfraktionen mit dem Begriff „unbefristete Aufenthaltsgenehmigung" die Aufenthaltsberechtigung gemäß § 27 Ausländergesetz meinen, dann muß man konstatieren, daß unter diese neue Ergänzung des Bundessozialhilfegesetzes ca. 50 % der türkischen Mitbürger der ersten Generation fallen würden. Ich bitte in den weiteren Beratungen ganz nachdrücklich um Präzisierung der gemeinten Personengruppen. Es bleibt ein letztes wichtiges Argument. Frau Ministerin Rönsch ist klar, daß ein Asylbewerberleistungsgesetz oder ein Unterhaltsgesetz für Asylbewerber nicht nur eine Neuregelung der materiellen Bedingungen für die betreffenden Menschen mit sich brächte. Im Sinne der nationalen Aufgabe, die hier zu bewältigen ist, werden die Länder selbstverständlich die Frage aufwerfen, in welchem Umfang sich der Bund an den Unterhaltskosten für Asylbewerber zu beteiligen gedenkt - und dies völlig zu Recht. Die wachsende Zahl von Menschen, die mit dem Asylbegehren zu uns kommen, führt zu ständig steigenden Finanzaufwendungen, die allein den Ländern aufgebürdet werden. Genau dabei wollen Sie es auch belassen. Das ist der Grund für diesen Schnellschuß, mit dem Sie den Personenkreis, den ich genannt habe, im Bundessozialhilfegesetz belassen, aber seine Ansprüche absenken und so die Länder und Kommunen um 1 Milliarde DM entlasten. Der Trick besteht darin, mit diesem Kunstgriff weitergehenden Überlegungen der Länder und einer sinnvolleren Gesetzesregelung einen Riegel vorzuschieben. Ich glaube nicht, daß solche Polittricks erfolgreich sein werden. Mit Interesse habe ich registriert, daß sich schon der Bundesparteitag der F.D.P. im Oktober in Bremen für ein eigenes Asylbewerberunterhaltsgesetz ausgesprochen hat. Die Ausländerbeauftragte hat sich ähnlich geäußert. Eine Reihe von Ländern ist ebenfalls für eine solche Konzeption. Auch die SPD - das sage ich Ihnen vorher - wird sich nach ihrem Bundesparteitag am Montag und Dienstag der nächsten Woche in eine ähnliche Richtung bewegen. Ich fasse zusammen: Diese Frage gehört für uns zu einem Gesamtpaket „Zuwanderung". Sie ist deshalb, wenn es zwischen den Fraktionen Verhandlungen geben wird, Verhandlungsgegenstand. Wir werden in den Gesprächen darauf achten, daß die notwendigen Gesetzesänderungen, die wir gemeinsam auf den Weg bringen müssen, dann auch in diesem Sinne angepackt werden. Alle gutwilligen Kräfte dieses Hauses sind deshalb aufgefordert, im Sinne eines solchen Geamtkonzepts die jetzt hier vorliegende, völlig ungenügende Teillösung nicht allzu ernst zu nehmen. Das sind wir nicht zuletzt auch anderen Ausländergruppen schuldig, die möglicherweise - ich sage das ausdrücklich im Konjunktiv; das wird sich dann bei den Beratungen herausstellen - von diesem Gesetzentwurf mit betroffen wären. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. Ich hatte zu Beginn der Debatte die Angst, daß gerade die Sozialhilfeproblematik wieder dazu benutzt würde, um hier nach außen hin eine populistische Diskussion zu führen, die in weiten Kreisen der Bevölkerung auf sehr fruchtbaren Boden fällt. Wer mir aufmerksam zugehört hat, der wird zur Kenntnis genommen haben, daß wir die Problematik, die dahinter steht, sehr wohl sehen, daß wir aber für eine andere gesetzliche Lösung sind. Deshalb sage ich: Es hilft hier überhaupt nicht weiter - im Gegensatz zu dem, was der Kollege Hitschler in einer Zwischenbemerkung gesagt hat und was auch andere gesagt haben -, gegenseitig darauf zu verweisen, welcher Bürgermeister, welcher Oberkreisdirektor von welcher Fraktion oder von welcher Partei hierzu öffentlich welche Meinung geäußert hat; vielmehr geht es darum, in einem gemeinsamen Konsens eine angemessene politische Lösung zu finden, die der Problematik, die wir alle übereinstimmend sehen, gerecht wird, eine Lösung, durch die dafür gesorgt wird, daß die Menschen, die mit einer möglicherweise kurzen Aufenthaltsdauer und ohne Integrationsanspruch zu uns kommen, vernünftig versorgt und abgesichert werden, wobei diese Menschen darüber hinausgehende Leistungen nicht in Anspruch nehmen können. Ich plädiere ganz ausdrücklich dafür, in den weiteren Verhandlungen nicht den Sonderweg der Änderung des Bundessozialhilfegesetzes zu beschreiten, sondern daran mitzuwirken, den Unterhalt für Asylbewerber in einem Sondergesetz zu regeln. Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr die Bundesministerin Hannelore Rönsch, Ministerin für Familie und Senioren.

Hannelore Rönsch (Minister:in)

Politiker ID: 11001870

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir wollen auch für die Zukunft sicherstellen, daß Menschen, die in ihren Heimatländern aus religiösen, aus politischen, aus rassischen Gründen verfolgt werden, bei uns in der Bundesrepublik Deutschland Aufnahme finden. Wir wollen ihnen das Grundrecht auf Asyl weiterhin gewähren. Ich sehe hierin ein unverzichtbares Bekenntnis zu unserer demokratischen Rechtsordnung und zu unserem politischen Selbstverständnis. Die weit überwiegende Mehrheit der heute bei uns Asylsuchenden ist aber in ihrer Heimat nicht politisch, rassisch oder religiös verfolgt. ({0}) Sie suchen einen Ausweg aus der Armut zu Hause; sie erhoffen sich Aufnahme in einem sicheren Sozialsystem ohne den täglichen Überlebenskampf; sie kommen aus wirtschaftlichen Gründen, und ich habe dafür Verständnis. Ich kann die Wünsche dieser Menschen nach Sicherheit und nach größerem Wohlstand verstehen. Dennoch halte ich die unbegrenzte Aufnahme von Wirtschaftsflüchtlingen in Deutschland nicht mehr für tolerierbar. ({1}) Wir wären überfordert, wollten wir die Armutsprobleme der Welt hier bei uns in der Bundesrepublik Deutschland allein lösen. Die derzeit übergroße Einreise von Asylsuchenden gefährdet das Gemeinwohl der hier lebenden Menschen. Darüber ist sich der Bund mit den Ländern und den Kommunen einig. Nun haben wir hier einen Sozialdemokraten der Basis, Kollege Andres, erlebt, der offenbar sehr wohl mit den Mitarbeitern der Sozialämter gesprochen hat. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, Herr Kollege Andres, wenn Sie Ihre überzeugenden Schlußworte auch in Ihrer Fraktion in dieser Weise vortrügen. Ich wünschte mir im übrigen, daß die eine oder andere Kollegin bzw. der eine oder andere Kollege mit dem Bürgermeister zu Hause einmal darüber redete, wie es denn im Sozialamt der eigenen Stadt aussieht. ({2}) Ich denke, daß das für die Meinungsbildung ausgesprochen gut wäre. Der heute von uns eingebrachte Koalitionsentwurf zielt auf eine Neuregelung der Sozialhilfeleistungen. Im Vordergrund stehen Leistungsbegrenzungen für Asylbewerber. Ich gestehe ein, daß dies für uns alle kein leichter Schritt ist. Aber wir wollen verhindern, daß die Sozialhilfe als unverzichtbarer Bestandteil unseres sozialen Netzes weiterhin durch Mißbrauch diskreditiert wird und zugleich einen wirtschaftlichen Anreiz für den Mißbrauch des Asylrechts bietet. Der Koalitionsentwurf will daher für Asylbewerber und für kurzfristig geduldete, zur Ausreise verpflichtete Ausländer - um diese beiden Personenkreise handelt es sich, Herr Kollege Andres die Regelsätze der Hilfe zum Lebensunterhalt auf 75 % des normalen Regelsatzes kürzen. - Die Zahlen hat der Herr Kollege Weiß hier schon genannt. - Die Reduzierung wird wieder aufgehoben, wenn der Asylbewerber als asylberechtigt anerkannt worden ist, wenn gegen seine Ablehnung Berufung oder Revision zugelassen worden ist oder wenn er über sechs Monate geduldet und aus von ihm nicht verursachten Gründen auch nicht ausgewiesen werden kann. Wir wollen, daß die Hilfen an Asylbewerber künftig in Form von Sachleistungen oder Wertgutscheinen ausgehändigt werden. - Das wäre auch schon nach dem geltenden Bundessozialhilfegesetz möglich. Die eine oder andere Kommune praktiziert diese Leistungsform schon jetzt. Zuletzt hat Frau Hildebrandt aus Brandenburg diese Regelung übernommen. - Auf diese Weise wird es uns am besten gelingen, Mißbrauch und mehrfachen Leistungsbezug zu verhindern. Das gleiche Ziel verfolgen wir mit der Einführung bundeseinheitlicher Termine für die Auszahlung von Geldleistungen; wir werden dazu eine Rechtsverordnung erlassen. Des weiteren ist vorgesehen, das sogenannte Taschengeld, also den zur persönlichen Verfügung stehenden Barbetrag, auf 20 % des geminderten Regelsatzes zu begrenzen. Durch all diese Maßnahmen werden die Länder und Kommunen um bis zu 1 Milliarde DM entlastet. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, niemand vergißt, daß es sich auch bei unberechtigten Asylbewerbern und Personen mit einer unantastbaren Menschenwürde handelt. Unsere Gesetzesvorlage respektiert dies; denn auch mit der Gewährung von geminderten Leistungen stellen wir die menschlichen Grundbedürfnisse wie Wohnen, Essen oder Kleidung sicher. Reduziert wird lediglich der Teil des Regelsatzes, der Sozialhilfeberechtigten üblicherweise zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben dient. Allein die zukünftig verkürzte Verfahrensdauer läßt aber eine soziale Eingewöhnung von Asylbewerbern in Deutschland erst gar nicht zu. Ich denke, das ist auch gut so. Denn wie wollen wir einen Asylbewerber, der nach einem kurzen Asylverfahren in sein Heimatland zurückkehren muß, wieder in seine Umgebung reintegrieren, wenn wir ihn hier in der Bundesrepublik über seine gesellschaftliche Teilhabe in unser soziales und gesellschaftliches System eingewöhnt haben? Diese Asylbewerber bekämen sogar große Probleme im Heimatland, wenn sie dorthin zurückkehrten. Angemessen sind unsere Vorstellungen auch im Hinblick auf das Taschengeld. Wer kostenlos Unterkunft, Kleidung und Verpflegung erhält, der benötigt für die sonstigen persönlichen Dinge in einem überschaubaren Zeitraum natürlich nur noch weniger Bargeld. Die Aushändigung von Sachleistungen und Wertgutscheinen könnte schließlich ein wirksamer Beitrag gegen das international organisierte Schlepperunwesen sein. Das ist hier verschiedentlich gesagt worden. ich bekenne mich gerade zu dieser Regelung ganz besonders. Wer sich einmal die tatsächliche Praxis in Unterkünften angesehen hat, der mußte mit großem Erschrecken feststellen, daß Bargeldleistungen, die für den Unterhalt der Familie gedacht waren, in ganz andere Kanäle geflossen sind. Wir können mit der Gewährung von Sachleistungen und Lebensmitteln sicherstellen, daß auch die Kinder in einer Familie entsprechend versorgt werden. Darauf lege ich ganz besonders großen Wert. ({3}) Den Asylbewerbern werden oft unvorstellbare Summen für den Weg nach Deutschland abverlangt. Da diese kaum im Heimatland erbracht werden können, müssen die Gelder im wesentlichen hier in Deutschland aufgebracht werden. Bisher steht hierfür meist nur die bar ausgezahlte Sozialhilfe zur Verfügung. Es kommt dann zu den Verwerfungen, daß den anderen Familienmitgliedern die notwendigen Gelder entzogen werden. Diese Art des organisierten Schlepperwesens dürfen und wollen wir aber nicht weiter mitfinanzieren. Deshalb sind Sachleistungen in den Aufnahmeeinrichtungen vorgesehen. Ich sehe duchaus, daß die eine oder andere Kommune damit bei der dezentralen Unterbringung von Asylsuchenden und ihren Familien Probleme haben kann. Aber wir müssen trotzdem auf die Regelung mit Wertgutscheinen übergehen, weil wir all die Mißstände, die ich eben genannt habe, vermeiden wollen. Die Sozialhilfe kann nur einen Beitrag zur Überwindung des Asylproblems leisten. Der geplante Schritt ist aber in jedem Fall notwendig, und zwar, Herr Kollege Andres, jetzt. Die Koalitionsfraktionen haben heute eine eindeutige, in sich geschlossene Lösung vorgelegt. Ich habe durchaus Verständnis dafür, daß über Leistungsgesetze diskutiert wird, auch mit den Ministerpräsidenten. Nur müssen Sie bitte zur Kenntnis nehmen: Über das Ziel des heute vorgelegten Gesetzentwurfs sind sich die Ministerpräsidenten voll und ganz einig. ({4}) Das haben Sie die ganze Zeit überhaupt nicht diskutiert. Es geht nur um den unterschiedlichen Weg. Ich habe selbstverständlich großes Verständnis dafür, daß die Ministerpräsidenten von der Bundesregierung ein eigenes Leistungsgesetz fordern, weil dieses natürlich die Finanzierung verschiebt. Darüber muß man mit den Ministerpräsidenten reden. Nur dürfen Sie nicht vergessen - das bitte ich Sie auch bei Ihrem Sonderparteitag bei Ihren Delegierten von der Basis abzufragen -: Die Bürgermeister, die Landräte, aber auch die Ministerpräsidenten wollen diesen Weg, der heute hier vorgeschlagen wird, mitgehen. Ich kann Sie ganz einfach nur auffordern und bitten, zu überlegen, ob nicht auch Sie diesen Weg beschreiten wollen. Wir haben jetzt sehr lange gewartet. Ich denke, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, daß Sie sich, wenn Ihr Sonderparteitag nun endlich vorbei ist, sachgerechten Lösungen nicht mehr verschließen können. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 12/3686 ({0}) an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Haushaltsausschuß soll den Gesetzentwurf nach § 96 unserer Geschäftsordnung ebenfalls erhalten. Erheben sich Einwendungen dagegen? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dies ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Andreas von Bülow, Gernot Erler, Robert Leidinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Beendigung der Disziplinarverfahren gegen Soldaten der Bundeswehr, die Angehörige Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg des Arbeitskreises DARMSTÄDTER SIGNAL sind - Drucksachen 12/2120, 12/2970 Berichterstattung: Abgeordnete Claire Marienfeld Dr. Andreas von Bülow Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dies ist so beschlossen. Die Debatte kann eröffnet werden. Zuerst hat der Abgeordnete Andreas von Bülow das Wort.

Dr. Andreas Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000299, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die SPD fordert in ihrem Antrag, die Disziplinarverfahren gegen die Unterzeichner der Presseerklärung des Arbeitskreises „Darmstädter Signal" vom 7. November 1989 einzustellen, die eingeleiteten Verfahren zu beenden, das Prinzip der Angemessenheit und der vorurteilsfreien Rechtspflege auf alle Soldaten und Offiziere des „Darmstädter Signals" anzuwenden und die Anerkennung und Weiterentwicklung des Leitbildes „Staatsbürger in Uniform" zu fördern. Herr Präsident, weil ich weiß, daß das Gegenstand einer krittelnden Bemerkung sein wird, möchte ich hier erklären, daß ich einige der mit Disziplinarverfahren überzogenen Soldaten vor Gericht vertrete. Ich tue das und habe das getan aus innerer Überzeugung, weil ich als Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung sehr intensiv mit Fragen der nuklearen Strategie und ihren Folgen für die Bevölkerung beschäftigt war. Daher habe ich sehr viel Verständnis für die politischen Anliegen dieser Gruppe. Wir bitten um die Annahme dieses Antrags trotz der Empfehlung des Ausschusses, weil dies, nachdem das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Beschluß vom 20. Juli 1992 gesprochen hat, die letzte Gelegenheit für das Plenum ist, sich diesem Votum anzuschließen. Das Bundesverfassungsgericht hat der Argumentationslinie des Bundesministeriums der Verteidigung und der danach eingeschalteten Gerichte eine schallende Ohrfeige erteilt. Was haben die Mitglieder des Arbeitskreises „Darmstädter Signal" als Soldaten verbrochen? Sie haben schon in Erklärungen 1987 vor dem Hintergrund der alten, noch die Teilung berücksichtigenden NATO-Strategie darauf hingewiesen, daß sie als Soldaten im Nuklearkampf Gewissensprobleme haben. Sie haben damals eine Strategieänderung und den Verzicht auf den Ersteinsatz von Nuklearwaffen gefordert, ohne dabei die Loyalität als Soldaten aufzukündigen. Der Gegenstand des Streites in den Disziplinarverfahren war das sogenannte Soldatenurteil der Großen Strafkammer des Landgerichts Frankfurt, das sich auf den Ausspruch bezog: Jeder Soldat ist ein potentieller Mörder. Dieser Ausspruch wurde von dem Gericht nicht als Beleidigung erachtet, weil es an einem geschlossenen Adressatenkreis fehlt. Das Gericht in Frankfurt hatte damals in den übrigen Äußerungen des Arztes zwar eine Beleidigung des Jugendoffiziers der Bundeswehr angenommen, die allerdings - so das Urteil - vor dem Hintergrund einer erregten Auseinandersetzung über die möglichen Folgen der Nuklearstrategie für die deutsche Bevölkerung in Ost und West hinzunehmen sei. Vor diesem Hintergrund hatten die Mitglieder des Arbeitskreises erklärt: Wir Soldaten des Arbeitskreises „Darmstädter Signal" begrüßen das sogenannte „Soldatenurteil" der 29. Großen Strafkammer des Landgerichts Frankfurt vom 20. 10. 1989. Zum einen ist der Kampf der Meinungen das Lebenselement unserer Gesellschaft, zum anderen halten wir die Aussage „Alle Soldaten sind potentielle Mörder" inhaltlich für richtig. Gerade - das ist die Begründung die immer noch gültige Strategie der atomaren Abschreckung bringt uns in Gewissensnot, weil sie bei ihrem Versagen zum massenhaften unterschiedslosen Töten zwingt. Im Gegensatz zum Bundesminister der Verteidigung halten wir eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Urteil und seiner Begründung sowohl außerhalb als auch innerhalb der Bundeswehr für notwendig. Wir Staatsbürger in Uniform brauchen keinen besonderen Ehrenschutz! Diese Erklärung ist auf dem Hintergrund dessen zu verstehen, was der damalige Bundesverteidigungsminister Stoltenberg und der Generalinspekteur Wellershoff in der Presse, ohne das Urteil gelesen zu haben, erklärt haben. Es wurde geradezu eine Pressekampagne losgetreten: Das Urteil sei ein Freibrief, alle Soldaten als potentielle Mörder zu verunglimpfen. Es verletze den Rechtsfrieden. In diesem Urteil werde die Rolle des Soldaten im Nuklearkampf völlig verschwiegen, der in der Tat - das gilt auch für die politische Führung, die in einer solchen Situation die Einsatz-Entscheidung hätte treffen müssen - durch die Mitwirkung am Einsatz von Nuklearmitteln zum Massenmörder am eigenen Volk werden könnte. Gegen die Unterzeichner der Erklärung ist äußerst unterschiedlich vorgegangen worden. Die Marine war überhaupt nicht vertreten. Die Luftwaffe hat nicht ein einziges Disziplinarverfahren eingeleitet. Das spricht für Souveränität. Das Heer tat von sich aus ebenfalls nichts. Es bedurfte erst einer ausdrücklichen Weisung des Bundesministers der Verteidigung, teilweise gegen die Argumentation der Rechtsberater, um insbesondere im Heeresamt Disziplinarverfahren einzuleiten. Ein Teil der Truppendienstgerichte hat freigesprochen, hat die Erklärungen der Soldaten im Zusammenhang gewürdigt, hat sie als Teilnahme am Meinungskampf auch der Soldaten für durch Art. 5 des Grundgesetzes geschützt erklärt. Die andere Argumentationslinie, die bis zum Zweiten Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts gegangen ist, hat den Soldaten vorgeworfen, sie hätten die Zurückhaltung außerhalb des Dienstes verletzt, sie hätten Würde und Ehre ihrer Kameraden verletzt, und sie hätten ihre Vertrauensstellung als Vorgesetzte mißbraucht. Einige dieser Gerichte verhängten höchste Disziplinarstrafen, darunter im Falle des Majors Priess eine Herabsetzung um zwei Dienstgrade. Das ist ein Eingriff in den Vermögenstatbestand eines Menschen; er wird mit 50 Jahren unvermittelt auf Rang und Einkommen eines 25jährigen Soldaten herabgesetzt. Zwei Soldaten haben inzwischen das Bundesverfassungsgericht angerufen. Es hat das Urteil des Zweiten Wehrdienstsenats des Bundesverwaltungsgerichts, und damit die gesamte Argumentationslinie des Bundesverteidigungsministeriums aufgehoben. Man kann dies nur als eine schallende Ohrfeige für diese Linie werten, weil das Gericht ausführt, daß es ohne hinreichende Beachtung des Zusammenhangs der Presseerklärung zu einer nicht mehr verständlichen verschärfenden und damit überzogenen Deutung gekommen sei. Die von emotional gefärbter Begrifflichkeit nicht freie Interpretation zeige, daß der Senat der Presseerklärung des Arbeitskreises „Darmstädter Signal" einen sie verschärfenden, sachlich überzogenen Inhalt gegeben habe, der dann zur Grundlage der disziplinarrechtlichen Würdigung und Almdung geworden sei. Dies sei mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes nicht vereinbar. So das Bundesverfassungsgericht. Der Prozeß in Frankfurt um die Beleidigung des Bundeswehroffiziers, der wie ein Jojo-Spiel zwischen den Instanzen seit vielen Jahren hin- und herging, ist vom Landgericht eingestellt worden. ({0}) -Wegen Geringfügigkeit, ja, nachdem man wohl den gesunden Menschenverstand des Bundesverfassungsgerichts zu Rate gezogen hat. Der Bundesminister der Verteidigung ist mit seiner verschärfenden Interpretation seiner Erklärungen letztlich auf den Bauch gefallen. Die disziplinarrechtlichen Verfahren stehen wohl ebenfalls kurz vor dem Aus. Die neue Führung des Bundesministeriums der Verteidigung - auch in der Person des neuen Generalinspekteurs - sollte sich den Ruck geben, einen Befreiungsschlag unternehmen und die Soldaten der Arbeitsgruppe „Darmstädter Signal" von dem Vorwurf der Verletzung ihrer Dienstpflichten befreien. Ich bin deshalb der Meinung, daß Sie dem Antrag der SPD-Fraktion zustimmen sollten. Ich bin insbesondere der Meinung, daß die F.D.P.-Fraktion dies tun sollte, die ja der Liberalität und der Meinungsfreiheit in ihrer Geschichte außerordentlich verbunden gewesen ist. Es täte uns allen gut, wenn wir nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nun auch als Parlament dem Staatsbürger in Uniform, der Freiheit der Diskussion innerhalb und außerhalb der Bundeswehr zum Durchbruch verhelfen würden. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile der Abgeordneten Claire Marienfeld das Wort.

Claire Marienfeld-Czesla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001421, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir müssen uns heute mit der Frage beschäftigen, ob Soldaten Soldaten beleidigen dürfen, ohne daß daraus Konsequenzen entstehen. Eine rechtliche Beurteilung dieser Aussage kann und möchte ich nicht vornehmen. Die Aussage lautete: Jeder Soldat ist ein potentieller Mörder. Herr von Bülow hat dies schon ausgeführt. Ich möchte allerdings auch auf das jüngste Urteil, das das Krefelder Landgericht gefällt hat, verweisen, in dem durch diese Behauptung der Straftatbestand der Volksverhetzung und Beleidigung als erfüllt angesehen wird. Ich möchte mich mit der ungeheuren Wirkung befassen, die dieser Ausspruch eines Arztes, bekräftigt von aktiven Soldaten, ausgelöst hat und auslöst. Ich frage: Was muß ein Soldat empfinden, der als potentieller Mörder bezeichnet wird? ({0}) Trifft auf ihn die Beschreibung des Strafgesetzbuchs zu: „Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdekken, einen Menschen tötet. " Gilt das für den Soldaten, der notfalls sein eigenes Leben für Freiheit und Sicherheit von Millionen anderer Staatsbürger - übrigens auch für Soldaten - einsetzt? Ich denke: nein. Ich stelle mich damit vor alle unsere Soldaten. ({1}) Nun wird gern gesagt, hier seien kritische Soldaten, die ihre Meinung äußerten. Ich denke: Dies hat nichts mit dem Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit zu tun. Im Gegenteil: Beleidigungen - und so haben es Tausende von Soldaten empfunden -, mangelnde Toleranz und mangelnde Fairneß verbauen den Dialog. ({2}) Es darf nicht sein, daß Soldaten in unserer demokratischen Gesellschaft in Erfüllung ihrer grundsätzlich legitimierten Aufgabe von Kameraden als potentielle Mörder bezeichnet werden, junge Männer, die bereit sind, Sie und uns zu schützen. Wer als Offizier der Bundeswehr seinen Kameraden vorwirft, die Konsequenz der Ausführung ihres Verfassungsauftrags - von uns allen getragen, meine Damen und Herren -, mache sie zu potentiellen Mördern, beendet damit jegliche Möglichkeit eines aufbauenden Dialogs. Wir wollen kritische Soldaten; aber so nicht. Dies muß übrigens auch die SPD-Fraktion am 25. Oktober 1989 so gesehen haben. Sie hat damals aus Anlaß des Frankfurter Soldatenurteils im Verteidigungsausschuß gemeinsam mit den anderen Fraktionen einem Entschließungsantrag zugestimmt, in dem die Behauptung „Alle Soldaten sind potentielle Mörder" u. a. - ich möchte Sie bitten, zuzuhören - als unerträgliche, skandalöse und abscheuliche Beleidigung derer, die den Schutz unserer freiheitlichen Gesellschaft nach außen garantieren, qualifiziert wurde. ({3}) Das ist zweieinhalb Jahre her. Nun führen die Mitglieder des Arbeitskreises „Darmstädter Signal" weiter aus, ihre Haltung sei im Zusammenhang mit der Existenz von Massenvernichtungswaffen zu sehen. Auch bei dieser Argumentation ist die Feststellung nicht zulässig. Heute wissen wir, daß der Frieden ohne nukleare Abschreckung nicht sicher gewesen wäre. Krieg als Mittel der Politik ist immer zu verachten. Schauen wir nun in den Süden unseres Kontinents. Auch ohne Massenvernichtungswaffen haben wir vor unserer Haustür in Bosnien-Herzegowina eine aufs tiefste zu verachtende grauenvolle massenhafte Tötung von Zivilbevölkerung, Frauen, Kindern und alten Menschen. Wo sind hier die Mörder? Bezeichnen Sie die UNO-Soldaten oder diejenigen Soldaten, die dem Blutvergießen ein Ende bereiten wollen, als Mörder? Das frage ich Sie. ({4}) Diese Aussage ist auch ein Schlag ins Gesicht der Mütter und Väter und der Frauen, deren Söhne und Männer ihr Leben riskieren. Ich gehöre dazu und fühle mich einbezogen. ({5}) - Ja, darauf bin ich stolz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Verachtenswerte an der Rechtfertigung dieser Aussage liegt in der Pauschalierung der Behauptung: Jeder Soldat ist ein potentieller Mörder. Hier wird kein Unterschied zwischen Angreifer und Verteidiger gemacht. Es waren Soldaten - das müssen Sie sich vorhalten lassen -, die Europa von Hitler befreiten und dafür ihr Leben gaben. ({6}) Es waren Soldaten, die Gasöfen löschten, in denen Menschen verbrannt wurden. Es waren Soldaten, die verhinderten, daß ganze Völker als Untermenschen dahinvegetieren mußten. ({7}) Wer die Verteidigung für ethisch nicht akzeptabel erklärt, verlangt nichts anderes als die Kapitulation vor den Gewalttätern. ({8}) Solange eine umfassende Abrüstung, wie wir sie uns wünschen, nicht verwirklicht ist, bleiben Soldaten zur Sicherung unseres Friedens und unserer Freiheit unverzichtbar. ({9}) - Auf diesen Spruch würde ich gerne eingehen. Herr Opel hat anläßlich meiner Jungfernrede den gleichen Spruch losgelassen. Offensichtlich fällt der SPD dazu nichts anderes ein. ({10}) - Ja, er weiß es nicht mehr. Aber vielleicht war es früher schon genauso. Wir möchten Kriege verhindern - es geht um ein ernstes Thema -, zuerst mit den Mitteln der Politik, doch unverzichtbar auch mit unseren Soldaten; mit Soldaten, die unter dem Schutz derer stehen, die die politische Verantwortung tragen. Wer dies unterstützt, kann es nicht zulassen, daß Soldaten Kameraden ungestraft als „potentielle Mörder" bezeichnen dürfen. Wir lehnen den Antrag der SPD ab. ({11})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Andrea Lederer. ({0})

Andrea Lederer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001301, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Auch wenn Sie schon aufstöhnen, wenn ich nur zum Mikrofon laufe: Wir sind halt da, wir sind gewählt. ({0}) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist eine irre Geschichte, die wir hier heute debattieren. Da wenden sich im Jahre 1986 Soldaten an die Mitglieder des Bundestags mit der Bitte, eine andere Verteidigungspolitik als die der nuklearen Abschrekkung zu formulieren, und sie beschreiben, in welch schwere Gewissensnot sie kämen, wenn es nach dieser Strategie zu einem Einsatz käme. Nachdem diese Strategie nicht geändert worden war, begrüßten diese Soldaten im November 1989 ein Urteil, in dem ein Arzt freigesprochen wurde, der folgenden Satz formuliert hat: „Alle Soldaten sind potentielle Mörder. " Diese Soldaten wagen es obendrein, diesen Satz angesichts der immer noch gültigen nuklearen Abschreckungsstrategie als inhaltlich richtig zu bezeichnen. Ich sage gleich dazu, daß ich diesen Satz nicht nur angesichts der nuklearen Abschreckung für inhaltlich richtig halte, sondern daß der Satz vermutlich sogar immer richtiger wird, wenn ich mir ansehe, was derzeit an Aufgaben für die Bundeswehr geplant wird. Die Soldaten äußerten eine - richtige - Meinung und ernteten Verfolgung und Disziplinierung. Das hysterische Geschrei der konservativen Öffentlichkeit hat nur eines deutlich gemacht: wie wenig ernst sie es mit der Parole vom „Staatsbürger in Uniform" meint, dem ebenfalls eine freie Meinungsäußerung zusteht. Es zeigt auch, daß das Verteidigungsministerium unter dem sogenannten mitdenkenden Gehorsam offenkundig versteht, daß die Innere Führung lediglich gehorsam mitzudenken, aber ansonsten den Mund zu halten hat. Es zeigt zudem, welch taktisches Verhältnis die Regierungskoalition zu dem für einen Rechtsstaat eigentlich konstitutiven Grundsatz der Unabhängigkeit der Gerichte hat. Das Verteidigungsministerium hat Disziplinarverfahren gegen diese Soldaten erzwungen, und zwar gegen die Auffassung eines unabhängigen Gerichts. Damit will es verhindern, daß sich die Soldaten mit der Verteidigungspolitik, wie sie eben vom Verteidigungsministerium vorgegeben wird, kritisch auseinandersetzen. Daß dies gerade in der heutigen Zeit mehr als notwendig wäre, brauche ich nicht zu betonen. Es hat sich nämlich nichts geändert, zumals Herr Verteidigungsminister Rühe aus Gleneagles zurückgekommen ist und berichtet hat, daß man keinerlei Sinn darin sieht, die Nukleare Planungsgruppe aufzulösen und nuklear abzurüsten, sondern daß für unvorhersehbare Risiken nach wie vor eine nukleare Bewaffnung bestehen bleiben soll, da diese eine politische Rolle spiele. Ich will noch einen Aspekt einbringen. Sie alle wissen, daß gerade eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes erging, wonach die Grenzer der DDR die Gesetze der DDR angeblich als menschenrechtswidrig hätten erkennen können und demzufolge Befehle hätten verweigern müssen. Ich vermisse allerdings die Logik, wenn Sie auf der einen Seite dieses Urteil als einen Sieg des Rechtsstaats feiern und auf der anderen Seite Soldaten in der Bundeswehr eine Meinungsäußerung absprechen, mit der sie auf ihre Gewissensnot bei einer Androhung eines wohl mehr als menschenrechtswidrigen Ersteinsatzes von Nuklearwaffen verweisen. Das erscheint mir nachgerade absolut widersprüchlich. Wenn sich Herr Rühe tatsächlich als Abrüstungsminister gerieren will, dann wäre es nämlich sein erster Schritt, diese Altlast Stoltenbergs zu beseitigen, und das heißt, dem Antrag der SPD zuzustimmen und dafür Sorge zu tragen, daß er sofort umgesetzt wird. Ich frage Sie, Herr Rühe - er ist heute nicht anwesend; Herr Staatssekretär Wilz wird sicherlich darauf antworten -: Gibt es in der Bundeswehr vielleicht ein besseres Auskommen mit solchen Offizieren und Offiziersanwärtern, die, wie laut einer Pressemeldung kürzlich in Kiel geschehen, Handgranaten auf Flüchtlingsheime werfen, ({1}) als mit solchen, die ihren Kopf einsetzen, die sich kritisch mit der Strategie beschäftigen und die erkennen, welchen Weg die Verteidigungspolitik in diesem Lande einschlägt? Ich erwarte eine Antwort auf diese Frage. ({2}) Es ist wirklich absurd, daß wir auf der einen Seite vor einem Tag erfahren haben, an welchen rechtsradikalen Ausschreitungen sich auch Soldaten beteiligt haben, während wir auf der anderen Seite über kritische Meinungsäußerungen von Soldaten diskutieren, die diszipliniert werden sollen. ({3}) Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Jörg van Essen. ({0})

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege von Bülow hat die F.D.P. angesprochen. Es ist richtig: Liberales Markenzeichen ist das Bekenntnis zur Freiheit des einzelnen Bürgers und deren Durchsetzung. ({0}) Gerade wir Liberalen sind deshalb selbstverständlich Kämpfer für das Recht auf freie Meinungsäußerung. Aus diesem Grund müßten wir eigentlich den Antrag der SPD unterstützen, der sich gegen angebliche Versuche der Disziplinierung von Soldaten wendet, die sich auf das Recht auf freie Meinungsäußerung stützen. Wir lehnen den Antrag jedoch ab. Warum? Das Grundgesetz garantiert in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 die Meinungsäußerungsfreiheit. Danach hat jeder Mensch gerade in öffentlichen und politischen Auseinandersetzungen das Recht, sich auch zugespitzt und sogar polemisch zu äußern. Dieses Grundrecht ist sehr weitgehend und steht unter dem besonderen Schutz des Staates. Wie weitgehend es im Einzelfall ist, läßt sich an dem kürzlich ergangenen Mörder-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ablesen. Der Antrag der SPD betrifft jedoch die Meinungsäußerungsfreiheit von Soldaten. Deren Freiheit ist - darüber ist heute ja bisher noch kein Wort gesagt worden - gesetzlich beschränkt, um den Erfordernissen des militärischen Dienstes und der Bundeswehr gerecht zu werden. Außerhalb der Meinungsäußerungsfreiheit liegt es bereits - das ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts -, wenn das Verhalten des Soldaten typischerweise geeignet ist, die Disziplin, die auf gegenseitiger Achtung beruhende Kameradschaft und die Achtungs- und Vertrauenswürdigkeit des Soldaten ernsthaft zu gefährden und damit letztlich die Verteidigungsbereitschaft in Frage zu stellen. Im vorliegenden Fall haben die Soldaten des Arbeitskreises „Darmstädter Signal" sich mit der Wortwahl ihrer Presseerklärung nicht sachlich an der Diskussion über den möglichen Einsatz nuklearer Waffen beteiligt, sondern eindeutig polarisiert. Polarisierung ist natürlich ein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung. Bei einem so sensiblen Thema jedoch und angesichts ihrer Eigenschaft als Soldaten ist für mich die Wortwahl eindeutig nicht hinnehmbar. Su benutzten sie als Soldaten das Mörder-Zitat wohl wissend, welche Emotionen und Diskussionen es im Jahre 1989 gerade innerhalb der Bundeswehr ausgelöst hat. Ich selbst fühle mich von dem Ausspruch, den ein Frankfurter Arzt 1984 gemacht hat, alle Soldaten seien potentielle Mörder, tief getroffen. Ohne erneut die Diskussion darüber beginnen zu wollen, seien einige Anmerkungen gestattet. Es sollte Einvernehmen darüber bestehen, daß sich der Auftrag der Soldaten der Bundeswehr von den Aufträgen aller anderen Armeen in der Vergangenheit auf unserem Territorium unterscheidet. Sie sind eindeutig keine potentiellen Mörder. ({1}) Dies wiederhole ich gerade angesichts der Ausführungen der Kollegin Lederer. Wir haben ihnen den Auftrag gegeben, das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. Das ist ein eindeutiger Verteidigungsauftrag. Das unterscheidet sie erfreulich eindeutig von den Mördern und Totschlägern an der Grenze der DDR, die hier noch einmal von Frau Lederer verteidigt worden sind. ({2}) Die Koalition hat am 25. Oktober 1989 im Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages - die Kollegin Marienfeld hat ja bereits darauf hingewiesen - zusammen mit der SPD eine Entschließung zu dieser Äußerung gefaßt und sie als eine unerträgliche, skandalöse und abscheuliche Beleidigung all derer mißbilligt, die den Schutz der freiheitlichen Gesellschaft nach außen garantieren. Zu dieser Entschließung sollte die SPD heute noch stehen. Wir, die F.D.P., tun es jedenfalls. ({3}) Aus rechtlicher Sicht bestehen von Seiten der F.D.P. keine Bedenken gegen das Vorgehen des Bundesverteidigungsministers, das die SPD in ihrem Antrag als unangemessenen Disziplinierungsversuch kritisiert. Der Zweite Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts hat nämlich am 27. September 1991 in drei Berufungsverfahren gegen Mitunterzeichner der Presseerklärung deutlich gemacht, daß es für die Ermittlungsbehörden sehr wohl Anlaß gibt, disziplinarische Schritte gegen weitere Unterzeichner alsbald in Erwägung zu ziehen. Insoweit wurde die Weisung des BMVg, disziplinarrechtliche Verfahren einzuleiten, sogar höchstrichterlich bestätigt. Der Bundesminister der Verteidigung hat als oberster Dienstherr unbestreitbar eine Fürsorgepflicht gegenüber seinen Untergebenen. Diese schließt die Verantwortung für die Disziplin ein. Aus Gesprächen mit Soldaten - und es ist ja kein Geheimnis, daß ich sehr häufig in der Bundeswehr als Soldat bin - weiß ich, daß viele sich durch die Erklärung des Arbeitskreises in ihrer Ehre verletzt gefühlt haben und auch einen Verstoß gegen die Pflicht zur Kameradschaft sahen. ({4}) Aber lassen Sie mich auch sagen: Gerade angesichts der in den letzten Tagen bekanntgewordenen rechtsextremen Gewalttaten, die auch, wenn in geringem Umfange, von Soldaten begangen worden sind, besteht genauso die Pflicht des BMVg, Disziplin und Achtungs- und Vertrauenswürdigkeit der Soldaten gegen Angriffe von dieser Seite zu schützen, und ich freue mich, ({5}) daß das Bundesverteidigungsministerium ja sofort entsprechend tätig geworden ist. In seinen Urteilen vom 10. Juli 1992 hat das Bundesverfassungsgericht zwar das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes gegen zwei Unterzeichner der Presseerklärung aufgehoben, weil das höchste deutsche Gericht in der Überinterpretation des sogenannten Mörderzitats einen Verstoß gegen die Grundsätze eines fairen und rechtsstaatlichen Verfahrens und gegen den Grundsatz der Meinungsfreiheit sah. Es hat - und darauf ist hinzuweisen - die betroffenen Soldaten jedoch nicht vom Vorwurf eines Dienstvergehens freigestellt. Das Bundesverfassungsgericht hat betont, daß die Verwendung des Mördervergleichs durch Soldaten sehr wohl für den Tatbestand eines Dienstvergehens sprechen kann. Jetzt fordert die SPD in ihrem Antrag, daß der Deutsche Bundestag feststellen soll, daß die kritischen Soldaten des „Darmstädter Signals" mit ihrer Meinungsäußerung - wenn ich einmal meine Erfahrungen aus der Bundeswehr zusammenfasse, habe ich das Gefühl, daß wir in anderen Bereichen sehr viel kritischere Soldaten haben, und ich wende mich gegen eine solche Festlegung, wie sie hier vorgenommen wird - verfolgt würden. Dieser Auffassung sind wir eindeutig nicht. Als ehemaliger Angehöriger der Justiz ist mir die Unabhängigkeit der dritten Gewalt außerordentlich wichtig. Der Deutsche Bundestag sollte sich nicht in laufende gerichtliche Verfahren einmischen. Ich habe mich immer wieder geärgert, wenn es Oberrichter in der Politik gab, die meinten, mit Äußerungen die Justiz beeinflussen zu müssen. Wir Politiker sollten im Gegenteil gerade die Gewaltenteilung respektieren ({6}) und Vertrauen in die Judikative haben. ({7}) So ist es wohl auch kein Zufall, daß kein einziger Rechtspolitiker der SPD im Rubrum des Antrages namentlich erwähnt wird. Aber - und das ist wohl auch kein Zufall - Herr von Bülow an erster Stelle, der selbst Angehörige des „Darmstädter Signals" als Rechtsanwalt vertritt. Der Bundestag darf nicht für die privatwirtschaftlichen Interessen eines Mitgliedes instrumentalisiert werden. ({8}) Herr von Bülow, daß Sie dann auch noch - ({9})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Herren Abgeordneten, das Wort hat der Abgeordnete Jörg van Essen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Auch wenn Sie sich noch so aufregen: Ich finde es äußerst unsensibel, daß Sie dann hier auch noch als Sprecher auftreten. ({0}) Lassen Sie mich zum Schluß noch eine kritische Bemerkung machen. Ich denke, die Politik sollte sich alsbald mit der Frage der Einordnung der Wehrgerichtsbarkeit in die Organisation der Rechtspflege befassen. Wir begrüßen in diesem Zusammenhang die Initiative des deutschen Bundeswehrverbandes, die Wehrdisziplinarordnung mit dem Ziel zu ändern, die Stellung des Rechtsberaters und des Wehrdisziplinaranwaltes seiner Doppelfunktion zu entkleiden. Als Angehöriger eines Divisionsstabes habe ich selbst erleben müssen, wie problematisch es ist, einerseits in der Funktion als Rechtsberater dem Kommandeur unterstellt zu sein und andererseits in der Funktion als Wehrdisziplinaranwalt unabhängig sein zu müssen. Es dient meines Erachtens der Rechtsklarheit und der Rechtssicherheit, wenn der Wehrdisziplinaranwalt ähnlich wie der Staatsanwalt zu einem unabhängigen Organ der Rechtspflege wird. Die Kolleginnen und Kollegen der SPD, auch wenn sie sich gerade aufgeregt haben, lade ich ein, uns bei diesem Vorhaben zu unterstützen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nun die Abgeordnete Vera Wollenberger.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor zwei Jahren unterzeichneten Soldaten der Bundeswehr, die sich nicht die Amtsmeinung durch den damaligen Bundesminister der Verteidigung Gerhard Stoltenberg aufzwingen lassen wollten, eine Presseerklärung, in der sie das Soldatenurteil des Landgerichts Frankfurt begrüßten. Diese Zivilcourage verdient unseren Respekt. Ich darf als ehemalige DDR-Bürgerin sagen, daß die Bundeswehrführung stolz darauf sein sollte, daß Soldaten offen ihre Meinung kundtun. Es zeichnet eine demokratische Armee aus, daß ihre Offiziere den gesellschaftlichen Diskurs nicht scheuen und auch berechtigte Kritik an der Führung üben. Aber anscheinend ist die Rede vom mündigen Staatsbürger in Uniform letztlich für die Bundeswehrführung mehr eine hohle Floskel, die je nach Lage der Dinge entsprechend interpretiert wird. Wie sonst ist es zu verstehen, daß der damalige Bundesminister der Verteidigung, Herr Stoltenberg, sich selbst für die Verfolgung der kritischen Offiziere stark gemacht hat?! Die vom BMVg mit inquisitorischem Ehrgeiz verfolgten Disziplinarverfahren gegen die Unterzeichner der Presseerklärung des Arbeitskreises ,,Darmstädter Signal" vom 7. November 1989 jedenfalls verstoßen unerträglich gegen das Prinzip des Staatsbürgers in Uniform. Sie sind deshalb zu beenden, und die bereits erfolgten Degradierungen sind unverzüglich rückgängig zu machen; den entsprechenden Personen sind die finanziellen Verluste zu ersetzen. ({0}) Für mich ist die Stellungnahme der 21 Erstunterzeichner eine legitime Äußerung in einer innergesellschaftlich wichtigen Debatte. Kritik durch Soldaten der Bundeswehr muß von der Bundeswehrführung hingenommen werden. Das Recht auf kritisches Denken und auf Äußern seiner eigenen Meinung gilt auch für Soldaten. Aber die Erklärung des „Darmstädter Signals" ist noch mehr. Die Soldaten haben damit auf eine Kampagne gegen das Soldatenurteil vom 20. Oktober 1989 reagiert. Für Stoltenberg stellte das Urteil eines unabhängigen Gerichtes angeblich den Rechtsfrieden in Frage. Kollege Wittmann fand es unverantwortlich, Kollege Gerster forderte gar, strafrechtlich gegen die Richter vorzugehen, weil sie den Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllt hätten. Kollege Lowack sprach von einem richterlichen Exzess, andere Kommentare gar von Unverschämtheit und Mordsurteil. Auf diese Urteilsschelte haben die Soldaten reagiert im Sinne des § 8 des Soldatengesetzes, wonach der Soldat aktiv für demokratische Grundrechte eintreten muß. Die Bundeswehr sollte froh sein, solche Soldaten in ihren Reihen zu haben! § 8 des Soldatengesetzes hochzuhalten, ist besonders wichtig vor dem Hintergrund der bekanntgewordenen rechtsradikalen Ausschreitungen von Bundeswehrsoldaten. Die ,,Darmstädter Signaler" sind ein wohltuender Gegenpol dazu und verdienen deshalb unsere Unterstützung. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Thomas Kossendey.

Thomas Kossendey (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001188, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, die formaljuristische Betrachtung wird uns in diesem Falle nicht sehr viel weiterhelfen. Dafür haben wir in DeutschThomas Kossendey land Gerichte. Es ist allerdings von Herrn Anwalt von Bülow und von einigen anderen zur Rechtslage gesprochen worden, und lassen Sie mich deutlich aus der Verlautbarung des Bundesverfassungsgerichtes zitieren: Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat die Kammer keine Aussage darüber getroffen, daß die Verwendung des Begriffs „potentielle Mörder" oder die inhaltliche Billigung der Aussage, alle Soldaten sind potentielle Mörder, durch Soldaten kein Dienstvergehen ist. Das sollten wir hier nicht verwechseln. Ich denke, es gebietet die Redlichkeit, das hier deutlich noch einmal zu sagen. Ich stelle also fest: Niemand ist eventuell freigesprochen worden, wie hier der Eindruck erweckt werden sollte. Der Fall ist vielmehr zur erneuten Beurteilung an das Bundesverwaltungsgericht zurücküberwiesen worden. Und deutlich sage ich für meine Fraktion: Wo Unrecht begangen worden ist, muß es geahndet werden, auch mit den Mitteln des Disziplinarrechts. ({0}) Der Ehrenschutz, das Persönlichkeitsrecht aller Menschen, auch das Persönlichkeitsrecht der Soldaten, kann nicht einfach dadurch ausgehebelt werden, daß man abwertende und beleidigende Äußerungen mit politischer Sahne garniert; das darf nicht Regel werden! ({1}) Hier liegt eine ganz wichtige Aufgabe, bei der das Disziplinarrecht, über dessen Organisation wir uns gerne unterhalten können, helfen kann. Wir haben auch gar keinen Anlaß, dem Minister hier einen Verfahrensvorschlag zu unterbreiten, der von dem abweicht, was das Bundesverfassungsgericht uns als Anregung gegeben hat. Ansätze für eine erneute Prüfung, wie sie Frau Marienfeld hier auch gegeben hat, gibt es genug für die Disziplinarrichter. Im übrigen bin ich nicht sicher, ob ein sich ereiferndes Parlament zur Rechtsfindung des zuständigen Gerichts etwas beitragen kann. ({2}) Gott sei Dank, übrigens! Und, lieber Herr von Bülow - ich weiß nicht, ob ich Herr Staatssekretär a. D., Herr Rechtsanwalt oder Herr Kollege sagen soll -: In meinem Gemeinderat, in dem ich Politik gelernt habe, wäre jeder wegen Befangenheit von der Beratung eines Verfahrens ausgeschlossen, in dem er als Anwalt mitwirkt. ({3}) Ich glaube auch nicht, daß es dem politischen Stil dieses Hauses und dem Ansehen des Parlaments nach draußen förderlich ist, wenn wir diese Vermischung von Interessen hier stattfinden lassen. Ihre Äußerungen zu dem Urteil - „schallende Ohrfeige" usw. - zeigen im übrigen, daß Sie mit der differenzierten juristischen Auseinandersetzung hier an diesem Pult nicht soviel zu tun haben wollten. Hoffentlich sind Ihre Mandanten etwas präziser vertreten, als Ihre Äußerungen das erwarten lassen. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das veranlaßt den Abgeordneten von Bülow, Ihnen eine Zwischenfrage zu stellen. Werden Sie sie beantworten?

Dr. Andreas Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000299, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kossendey, ist Ihnen bekannt, daß die Geschäftsordnung das Verhalten der Mitglieder in diesem Hohen Hause genau vorschreibt und daß ich mich exakt daran gehalten habe, sogar darüber hinausgegangen bin: Ich habe im Plenum bekanntgegeben, daß ich vertrete, und das im Ausschuß genauso gemacht, und gestehen Sie mir zu, daß das absolut korrekt ist?

Thomas Kossendey (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001188, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe überhaupt keinen Zweifel daran, daß Ihr Verhalten rechtmäßig ist. Bloß glaube ich, daß das, was wir an politischem Anstand haben, manchmal über das formulierte Recht hinausgeht. Und das vermisse ich. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Gestatten sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten von Bülow?

Thomas Kossendey (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001188, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich möchte jetzt fortfahren. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Es ist das gute Recht des Abgeordneten Kossendey, das abzulehnen.

Thomas Kossendey (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001188, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich sage meine Meinung an diesem Pult, anders als vielleicht andere. Meine Meinung von Anstand ist eine andere als die, die ich hier erlebt habe. ({0}) Ich möchte zu Frau Kollegin Lederer, die hier engagiert gesprochen hat, eines sagen. Wer in der Nachfolge einer Partei steht, die Soldaten tatsächlich zu Mördern und Totschlägern gemacht hat, dem fällt es natürlich leicht, diesem Antrag zuzustimmen. ({1}) Eine Partei, die Haß zum Erziehungsziel für ihre Soldaten gemacht hat, taugt nicht gerade zum Anwalt der Toleranz. Das möchte ich hier einmal deutlich sagen. ({2}) Vielleicht sollten Sie das jemanden sagen lassen, der zwei Menschen aus seinem Verwandten- und Bekanntenkreis durch Todesschüsse der NVA verloren hat.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, der Abgeordnete Konrad Weiß möchte gern eine Zwischenfrage stellen.

Thomas Kossendey (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001188, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. Ich möchte jetzt weiterkommen, weil meine Redezeit abläuft. Ich denke, die formaljuristische Betrachtung wird uns hier nicht weiterführen. Die Diskussion um dieses Urteil - hier fordere ich die Kollegen von den Sozialdemokraten auf, mitzumachen - darf die dahinterstehende wichtige Frage nicht zudecken, wie es mit dem Dialog um Sicherheitspolitik in unserer Gesellschaft bestellt ist. Haben wir Politiker die Soldaten in diesem Dialog nicht häufig allein gelassen, gerade wenn es um die ethischen Grundlagen unserer Verteidigungspolitik ging, wenn es um unseren Verteidigungsauftrag ging? Dürfen wir uns eigentlich wundern, wenn in einer Armee, die aus mündigen Bürgern besteht, eine offene Diskussion geführt wird? Nein, im Gegenteil, wir sollten uns freuen, wenn das der Fall ist, wenn diese Diskussion im gegenseitigen Respekt geführt wird und wenn niemand den anderen wegen seiner Auffassung geringschätzt. Ich stimme hier Frau Wollenberger zu. Nur bin ich der Meinung, daß das, was gesagt worden ist, dem Maßstab, den ich gesetzt habe, nicht entsprach. ({0}) Die moralische Herabsetzung anderer hat noch nie zum Frieden beigetragen, weder nach innen noch nach außen. So müssen sich auch die Soldaten des „Darmstädter Signals" fragen lassen, ob sie maßgehalten haben, das Maß, das Kameradschaft und Respekt vor anderen gebietet. Ich meine: nein und empfehle einen selbstkritischen Blick zurück. Für Beleidigungen, gerade wenn sie ungewollt sein sollten, gibt es den Weg der Entschuldigung. Das Dilemma aber bleibt uns. Denn die Fragestellung, die sich aus diesem Komplex ergibt, richtet sich nicht nur an die Soldaten, sondern in erster Linie an die Politiker. Denn wir entscheiden über den Einsatz von Soldaten. Hier wiederhole ich meine Frage: Haben wir die Soldaten in dieser Beziehung nicht zu lange allein gelassen? Seitdem es Kernwaffen gibt, haben die Menschen Schwierigkeiten damit, die Androhung des Einsatzes dieser Waffen zu verstehen. Gerade wir Deutschen mußten im Zentrum der OstWest-Auseinandersetzung mit dem Problem leben, daß der Einsatz dieser Waffen unsere Heimat zum nuklearen Schlachtfeld gemacht hätte. Dieses Dilemma hat sich für uns Gott sei Dank aufgelöst. Tatsache bleibt - Frau Marienfeld hat darauf hingewiesen -, daß die Kernwaffen in der Vergangenheit in Europa den Frieden auf der Basis der Abschreckung gesichert haben. Das zu bestreiten wäre unseriös. Fakt ist aber auch, daß nach der Phase der Konfrontation der Supermächte in Europa und gerade in unserer Nachbarschaft Kriege wieder führbar geworden sind. Das eben ist das Paradoxe: Nach Auflösung der nuklearen Abschreckung ist das Risiko von Kriegen größer geworden. Frau Marienfeld hat auf Jugoslawien hingewiesen. In dieser Zeit brauchen wir neue Mechanismen, um Kriege auf regionaler Ebene zu verhindern und gegebenenfalls zu beenden. Das erfordert politische Anstrengungen, darf aber auch ein militärisches Eingreifen der Bündnisse und der Sicherheitsorganisation, gegebenenfalls auch unter Beteiligung unserer Soldaten, nicht ausschließen. Hier ergeben sich für die Bundeswehr in Zukunft andere, neue Aufgaben. Für uns in der Politik ergibt sich die gleiche Aufgabe, die wir damals vielleicht nicht engagiert genug wahrgenommen haben. Wir müssen gerade in dieser neuen Situation das Gespräch mit den Soldaten suchen. Natürlich ist die Sicherheitspolitik immer wieder eine besonders schwierige Nagelprobe für uns Abgeordnete. Wir sind Stimmungen und Emotionen ausgesetzt. Wir diskutieren mit unseren Wählern, zu denen die Soldaten einerseits und die Mitglieder der Friedensbewegung andererseits gehören. Dennoch müssen wir uns ein Urteil bilden und unzweideutig Stellung beziehen. Wenn der Fall, den wir heute besprechen, einen Sinn für die Zukunft haben soll, dann ist es für uns eine Aufforderung, den Dialog mit allen Bürgern, insbesondere mit den Soldaten, über die Grundlagen unserer Sicherheitspolitik zu suchen. ({1}) Dieser Aufgabe müssen wir uns stellen. - Lieber Herr Klejdzinski, wenn Sie wieder etwas mehr in die Arbeit hineingewachsen sind, werden Sie feststellen, daß sich die großen Parteien näher sind, als Sie in Ihrem konfrontativen Denken manchmal noch annehmen. Schönen Dank. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, ich habe erhebliche Zweifel, ob es dem wünschenswerten Niveau der Debatten dieses Hauses entspricht, wenn sich die Abgeordneten gegenseitig den Anstand absprechen. Herr Abgeordneter Konrad Weiß hat um eine Kurzintervention gebeten. Ich erteile ihm das Wort.

Konrad Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002461, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Kossendey, Sie waren leider nicht bereit, meine Zwischenfrage anzuhören. Ich halte es für einen unzulässigen Vergleich, wenn die Initiatoren des „Darmstädter Signals" mit jenen verglichen werden, die in der Volksarmee gedient haben und dort zu Straftaten gekommen sind. ({0}) Wir müssen der Mehrheit der Soldaten der Volksarmee zugestehen, daß sie ehrlich ihren Dienst getan haben und daß es nur wenige sind, die zu Mördern geworden sind. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Leidinger.

Robert Leidinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001310, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Irgendwie paßt der heutige Tag, Freitag, der 13., zu dem Thema, das wir diskutieren. Drei Jahre wird diese Frage jetzt vor Gericht behandelt, teilweise immer noch in erster Instanz. Ich meine, daß das damalige Urteil im Fall von Major Prieß oder in anderen Fällen bis hin zur Frage der politischen Verfahren zu würdigen ist. Es ist für mich rechtsstaatlich unwürdig, was in den letzten drei Jahren gelaufen ist, eigentlich ohne jede Not. Ich glaube, wir hätten das auch anders regeln können. Auch das Parlament hätte das anders regeln können. Hierzu mache ich heute noch einen Vorschlag. Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie ihn aufgreifen könnten. Es gibt Einzelfälle, die aus meiner Sicht an politische Verfolgung grenzen. Ich nenne den Vorsitzenden des „Darmstädter Signals". Ich nenne ein besonders trauriges Beispiel, ein persönlich von mir betreuter Fall. Dabei gäbe es jetzt wirklich eine Chance, ein politisches Zeichen zu setzen. Man könnte den Ballast, den der ehemalige Minister Stoltenberg angehäuft hat, abwerfen. Man könnte das frühe Rühe-Wort vom Frieden-Stiften aufgreifen, und zwar nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Streitkräfte brauchen Leitung und Führung. Daran mangelt es, nicht nur in dieser Frage. Zu diesem Mangel, den ich persönlich feststelle, gehört auch, daß man in manchen Dingen gelassener, souveräner sein müßte. Ich möchte eine persönliche Bemerkung anschließen. Ich war einer der allerersten, die sich sofort am 21. Oktober 1989 schützend vor die Soldaten und vor die Bundeswehr gestellt haben. Ich habe es mit einer Presseerklärung getan. Aber ich muß zugeben: Meine voreilige Justizschelte damals war falsch. Es war ein politischer Schnellschuß, den ich zugebe. Daraus habe ich meine Lehren gezogen und meine Haltung korrigiert, als ich das Urteil des Landgerichts Frankfurt ausgewertet habe. Das sollte das BMVg auch machen. Die erste Erklärung vom 7. November 1989 ist für mich persönlich als langjähriger ehemaliger Berufsoffizier sehr problematisch gewesen, auch inhaltlich. Ich habe mich intensiv damit auseinandersetzt, auch in Diskussionen mit diesem Kreis. Trotzdem unterstütze ich voll, und zwar aus Überzeugung. Denn ich akzeptiere die Haltung des ehemaligen Ministers und das, was durch sein Haus in den letzten Jahren geschehen ist, so nicht. Ich akzeptiere vielmehr und verstehe die Gewissensnot, die bei den Unterzeichnern dieser Erklärung zum Ausdruck kommt. Ich bejahe dabei uneingeschränkt und vorrangig das Grundrecht der Meinungsfreiheit. Das gilt auch für kontroverse, ja für kritische Minderheitenmeinungen. Das muß man notfalls ertragen können. Das heißt für mich: Tolerierung statt Verfolgung. Ich sehe auch den Ehrenschutz in keiner Weise berührt; das möchte ich hinzufügen. Es gibt dabei nämlich nicht den Charakter der persönlichen Beleidigung. Es gibt auch keinen konstitutionellen besonderen Ehrenschutz, der hier anzusprechen wäre. Das kann also nicht berührt sein. Ich meine vielmehr, daß die politische und die militärische Führung dabei zum Teil versagt haben. Sie waren weder konsequent noch - was ganz schlimm ist - einheitlich. Sie waren aber auch nicht menschlich. Statt dessen fordere ich, die Gelassenheit, von der ich gesprochen habe, zu zeigen. Statt dessen hat man gerade in Teilbereichen eine Art Strafexpedition gestartet. Man wollte geradezu ein Exempel statuieren. Das geht hin bis zu scheinbar rachsüchtiger Verfolgung im Einzelfall. Ich nenne zwei Beispiele. Dabei beziehe ich mich zum einen auf die Bereiche Heer und Luftwaffe. Ich möchte ein kurzes Zitat aus der „Zeit" vom 17. Januar 1992 verlesen, wo es heißt: Am Ende wird sich die Bundeswehr noch vorwerfen lassen müssen, sie bestehe selbst aus Parteien: aus den liberalen Fliegern in blau mit gelben Kragenspiegeln und der reaktionären Mehrheit grauer Muschkoten. Gleichbehandlung sollte schon sein, zur Not auch im Unrecht. Den zweiten Fall begleite ich persönlich. Ich muß Ihnen sagen: Es ist ganz schlimm, wenn ein Offizier mit 53 Jahren während 35 Dienstjahren unbestraft in der Armee seine Pflicht getan hat und dann mit der Tatsache konfrontiert wird, daß er aus dem Dienstverhältnis entlassen werden soll. Dieser Mann hat anderthalb Jahre auf sein Verfahren gewartet. Es wurde eine Nachtragsanschuldigung aus dem Jahre 1984 aus dem Hut gezaubert. Diese Anschuldigung hat man bei der Verhandlung wieder fallenlassen. Heute ist der Mann entlassen. Er ist körperlich und seelisch gebrochen. Er war in diesem Jahr monatelang schwerstens gefährdet. Er ist immer noch nicht über den Berg. Das ist eine Art und Weise, die ich nicht akzeptieren kann. Ich verstehe auch nicht, warum man so etwas tut. Das Ganze geschah im Süden dieser Republik. Ich möchte nunmehr etwas zum Selbstverständnis und zum Leitbild unserer Bundeswehr sagen. Die Bundeswehr ist ein akzeptierter Teil der Gesellschaft. Sie ist loyal, sie ist leistungsbereit, sie ist selbstbewußt. Sie ist demokratisch legitimiert und auch engagiert. Dafür gibt es viele Beispiele, gerade auch von Mitgliedern des „Darmstädter Signals". Die Soldaten sind felsenfest vom Leitbild des Staatsbürgers in Uniform überzeugt. Jetzt ist es notwendig, diesem Leitbild auch Rechnung zu tragen und es demokratisch weiterzuentwickeln und fortzuschreiben. Wer schädigt denn das Ansehen der Bundeswehr mehr? Das sind doch nicht die Unterzeichner des Aufrufs „Darmstädter Signal" . Viel schädlicher, ja belastender ist z. B. die aktuelle Diskussion über den rechtsradikalen Spuk in den Streitkräften. Hier muß man - ich will das gar nicht dramatisieren - in Zukunft ansetzen. Welche Soldaten wollen wir denn eigentlich? Ich meine, wir brauchen engagierte und loyale Demokraten, aber auch und gerade kritische und unbequeme Bürger in den Streitkräften. Es wäre schlimm, wenn sich Duckmäusertum, tumber Untertanengeist und Kadavergehorsam einschleichen könnten. Das ist übrigens auch für die Attraktivität der Streitkräfte in der Zukunft wichtig. Eine Disziplinierung, wie im Heer mit dem „Darmstädter Signal" geschehen, ist falsch. Erforderlich sind ein neues Denken, ein neuer Geist und ein neues Wirken. Der Inspekteur des Heeres ist mit seiner letzten Weisung als Kommandeur in die richtige Richtung gegangen, wie ich ausdrücklich sagen möchte. Ich fordere deshalb, das Spannungsverhältnis zwischen dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und dem Soldatengesetz, das es zweifellos gibt, zugunsten der freien Meinungsäußerung zu entscheiden und auch zu entwickeln. Ich bitte darum, Grenzpositionen zu akzeptieren. Einzelmeinungen müssen durch die Institution - hier die Bundeswehr - ertragen werden, wenn es anders nicht geht. Sie müssen zumindest geduldet werden, und zwar auch dann, wenn sie Minderheitenpositionen zum Ausdruck bringen. Entsprechend muß gehandelt werden. Ich möchte, daß die politische und die militärische Führung angemessen und verhältnismäßig handeln. Daran habe ich im Zusammenhang mit der Behandlung des „Darmstädter Signals" meine Zweifel. Was getan wurde und wird, mag rechtmäßig sein; das will ich jetzt nicht endgültig in Frage stellen. Aber eines ist völlig klar: Angemessen sind viele dieser Maßnahmen nicht. Die Verhältnismäßigkeit zwischen der persönlichen Schuld bzw. dem Vorwurf, den man einzelnen machen müßte, und der rechtlichen Würdigung bzw. der disziplinarischen Maßregelung ist einfach nicht gegeben. Ich habe hier einen - zugegebenermaßen drastischen - Fall herausgegriffen. Das gewachsene Vertrauen zwischen Parlament und Armee muß nicht nur erhalten, sondern es muß weiterentwickelt werden. Hier könnten wir als Parlament Frieden stiften, ohne uns in die Rechtsprechung einzumischen. Das wären mein Anliegen und mein Vorschlag. Zum Schluß möchte ich an meinen Kollegen Andreas von Bülow anknüpfen und beantragen sowie gleichzeitig persönlich bitten, diese Verfahren einzustellen oder zu beenden. Hier wäre wirklich eine Chance für das Parlament, aber auch für das Ministerium, Herr Staatssekretär, Frieden zu stiften. So könnte man das Wort des Ministers bei seinem Amtsantritt in die Realität umsetzen. So könnte dieses Versprechen nach innen gegenüber einer kleinen kritischen Minderheit wahr gemacht werden. Das wäre keineswegs ein Zeichen der Schwäche, sondern das würde als Stärke verstanden. Jedenfalls könnte es so betrachtet werden. Lassen Sie mich für den Fall, daß das nicht geschieht, mit einem Zitat aus der „Zeit" vom 17. Januar 1992 enden: ({0}) Doch wie immer die Sache vor den Dienstgerichten und in der letzten Karlsruher Verfassungsinstanz auch ausgehen mag: Die Armee und ihr oberster Befehlshaber zu Friedenszeiten haben sich mit den Disziplinierungsversuchen gegenüber einer Gruppe von durchaus loyalen Soldaten, die das Recht auf selbständiges Denken und Sagen in Anspruch nahmen, mit bewährter Treffsicherheit ins eigene Bein geschossen. Ich hoffe nicht, daß das abschließend der Fall ist. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Kossendey.

Thomas Kossendey (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001188, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich will kurz zu der Kurzintervention des Kollegen Weiß Stellung nehmen. Ich habe nicht die Soldaten der Nationalen Volksarmee mit denen der Bundeswehr verglichen. Ich glaube, dieser Vergleich würde beiden nicht gerecht. Ich habe nur darauf hingewiesen, daß Vertreter einer Partei, die sich als Nachfolgeorganisation der SED versteht, die die Soldaten tatsächlich zum Morden und Totschlagen angehalten hat, z. B. an der Grenze, nicht tauglich sind, hier als Anwälte der Toleranz aufzutreten. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nunmehr hat das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Bernd Wilz. Bernd Wilz; Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich halte es schon für einen erstaunlichen Vorgang, wenn die PDS-Sprecherin hier die Bundeswehr mit Rechtsradikalismus in Verbindung bringt und dann das Feld räumt. Das ist wohl nicht der Stil, wie wir miteinander umgehen sollten. ({0}) Meine Damen und Herren, es hat in der Tat ein paar wenige schlimme Ausreißer gegeben, in der Gesellschaft auch. Aber deshalb die Bundeswehr mit Rechtsradikalismus zu verbinden, ist ein absurder, ein schlimmer Vorwurf, den ich massiv zurückweise. ({1}) Ich bin den Kollegen van Essen und Kossendey außerordentlich dankbar, daß sie dies hier auch getan haben. Ich darf feststellen: Diese Bundeswehr ist eine ausländerfreundliche Einrichtung, wie man sie in Deutschland kaum ein zweites Mal findet. Wir haben über viele, viele Jahre hinweg in zehn afrikanischen Ländern Entwicklungshilfe geleistet und tun dies bis zum heutigen Tage. Wir gehen nach Pnom Penh und helfen dort verletzten und kranken Menschen aus Kambodscha. Wir helfen den Menschen in Sarajevo. Wir helfen den Menschen in Somalia. Unsere Soldaten in den Kasernen sind zusammengerückt und haben Platz gemacht für Asylbewerber. In dieser Hinsicht hat die Bundeswehr ein vorbildliches Verhalten gezeigt. ({2}) Ich darf in Erinnerung rufen, daß sich sowohl das Plenum des Deutschen Bundestages als auch der Verteidigungsausschuß bereits 1989 mit dem sogenannten Mörderzitat befaßt haben. Anlaß war das hinlänglich bekannte Urteil des Landgerichts Frankfurt vom 20. Oktober 1989. hi der Plenardebatte am 26. Oktober 1989 distanzierten sich nicht nur die Redner von CDU/CSU und F.D.P., sondern auch die SPD-Bundestagsfraktion in aller Deutlichkeit von dem ehrabschneidenden Mörderzitat. So bezeichnete beispielsweise der damalige verteidigungspolitische Sprecher der SPD, Kollege Horn, die Aussage, daß alle Soldaten potentielle Mörder seien, als verleumderisch. ({3}) Er wies namens der SPD die unanständige Beleidigung der Soldaten in voller Schärfe zurück. ({4}) In dieser Debatte wurde dazu aufgefordert, die Soldaten der Bundeswehr vor kränkenden und ehrabschneidenden Aussagen zu schützen. Der Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages faßte damals auf Antrag der genannten Fraktionen eine gemeinsame Entschließung, mit der er sich ausdrücklich vor die Soldaten der Bundeswehr stellte. Nur wenige Tage nach dieser Meinungsäußerung des Parlaments, für die die Soldaten der Bundeswehr sehr dankbar waren, veröffentlichten 21 Mitglieder des sogenannten Darmstädter Signals eine Presseerklärung, deren Inhalt ich noch einmal ausschnittsweise zitieren darf: Wir Soldaten des Arbeitskreises „Darmstädter Signal" begrüßen das sogenannte Soldatenurteil. Zum einen ist der Kampf der Meinungen das Lebenselement unserer Gesellschaft, zum anderen halten wir die Aussage „Alle Soldaten sind potentielle Mörder" inhaltlich für richtig. Mit der Unterzeichnung dieser Presseerklärung haben die Soldaten nach Auffassung der Bundesregierung ein Dienstvergehen begangen, das nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften einer Ahndung zuzuführen war. Diese Rechtsauffassung findet in der einschlägigen Rechtsprechung des höchsten in Disziplinarangelegenheiten zuständigen Bundesgerichts Bestätigung. Sie wird auch durch die beiden Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Juli 1992 ausdrücklich bestätigt. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Feststellung, daß jeden Soldaten die Pflicht treffe, bei seinen Äußerungen auf die Empfindungen seiner Kameraden Rücksicht zu nehmen und sich besonnen, tolerant und sachlich zu äußern. - Dies ist, glaube ich, eine eindeutige Feststellung. ({5}) Des weiteren möchte ich darauf hinweisen, daß die einschlägige Rechtsprechung der Strafgerichte das Mörderzitat als schweren Beleidigungstatbestand ansieht. Den objektiven Straftatbestand hat im übrigen schon - das gerät leicht in Vergessenheit - das kritisierte Frankfurter Soldatenurteil bejaht. Zu der nunmehr am 5. November 1992 erfolgten endgültigen Einstellung des Strafverfahrens stellt das Landgericht Frankfurt fest, daß der Angeklagte mit dem Mörderzitat den Tatbestand der Beleidigung erfüllt und auch schuldhaft gehandelt hat. Von einer Verurteilung sei nur abgesehen worden, weil der Angeklagte eine Ehrenerklärung gegenüber den Beleidigten abgegeben habe. In dieser Debatte darf nicht von der eigentlichen Kernfrage abgelenkt werden: Kann der Dienstherr es hinnehmen, wenn Soldaten ihre eigenen Kameraden pauschal als potentielle Mörder bezeichnen? - Ich sage klar und deutlich: Nein. ({6}) Die Bundeswehrführung ist es ihren Soldaten schuldig, mit den gebotenen rechtlichen Mitteln gegen ein derartiges Verhalten vorzugehen. Unsere Soldaten haben einen Anspruch auf den Schutz ihrer Ehre, wie dies auch der Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages bereits 1989 festgestellt hat. Ich weiß mich in dieser Auffassung auch mit dem Herrn Bundespräsidenten einig, der am 5. Juli 1989 in dieser Frage eindeutig Stellung bezogen hat. Er erklärte damals unter anderem: Soldaten pauschal potentielle Mörder zu nennen heißt nichts anderes, als unsere Gesellschaft selbst in ihrer Freiheit und ihren Schutzpflichten auf perverse und unerträgliche Weise zu beschimpfen! Dem gibt es, glaube ich, eigentlich nicht viel hinzuzufügen. ({7}) Lassen Sie mich zusammenfassen: Jeder Soldat hat in dem vom Soldatengesetz beschriebenen Rahmen das Recht auf freie Meinungsäußerung - hier sind wir völlig einer Meinung, Kollege Leidinger -; gleichwohl ist die Bundesregierung der Auffassung, daß es nicht hingenommen werden kann und darf, wenn Bundeswehrsoldaten, zumal in Vorgesetztenstellung, die ehrverletzende Aussage, alle Soldaten seien potentielle Mörder, auch noch öffentlich propagieren. Sowohl das innere Gefüge der Bundeswehr, das im wesentlichen auf der Kameradschaftspflicht beruht, als auch die Fürsorgepflicht des Dienstherrn gegenüber unseren treu dienenden Soldaten gebieten die Anwendung der gesetzlich eingeräumten Ahndungsmöglichkeiten. Ich bitte Sie daher, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses zu folgen und den Entschließungsantrag der SPD-Fraktion abzulehnen. Vielen Dank. ({8})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zu einer persönlichen Erklärung nach § 30 unserer Geschäfts10282 Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg ordnung erteile ich dem Abgeordneten von Bülow das Wort.

Dr. Andreas Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000299, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich noch einmal nachhaltig gegen die Vorwürfe verwahren, die Herr van Essen gegen mich vorgebracht hat. Ich habe keinerlei wirtschaftliche Gründe, das Mandat für einige Angehörige des „Darmstädter Signals" zu übernehmen. Ich habe mich auf die Frage, ob ich in meiner Eigenschaft als Rechtsanwalt helfen könnte, zur Verfügung gestellt, weil ich glaube, daß dieser Gruppe hier ein großes Unrecht geschehen ist. Was der Gruppe vorgeworfen wird, das Mörderzitat, wird völlig aus dem Zusammenhang herausgerissen. Bei dem einen Satz wird die gesamte Begründung weggelassen. Der Satz ist aber nur im Gesamtzusammenhang zu verstehen. Mein Engagement hat sehr persönliche Gründe. Ich persönlich bin tief getroffen von dem, was 1945 etwa mit meiner Heimatstadt Dresden passiert ist. ({0}) Ich höre noch das Urteil der Bevölkerung, die damals sagte: Diese Mörder da oben! - Ich behaupte, daß damals britische Piloten zu Mördern gemacht worden sind. Dasselbe gilt für jene deutschen Piloten, die in Kampfflugzeugen z. B. Guernica oder Coventry niedergebombt haben. Die Rolle des Soldaten im Nuklearkampf ist so schrecklich, daß ich großes Verständnis dafür habe, daß sich eine Gruppe von Soldaten intensiv mit dieser Frage auseinandersetzt und zu dem Ergebnis kommt: Wenn es zum Einsatz kommt, wenn die Abschreckung versagt hat und wir gezwungen werden, mit taktischen Nuklearwaffen in Europa zu kämpfen, dann werden wir von der Politik zu Mördern gemacht. Ich habe in dem Regierungsbunker im Ahrtal gesessen. Wir haben den Nukleareinsatz im Bündnis durchgespielt. Ich weiß, was dort an Fragen auf uns zukommt, und die Frage, daß man als Politiker an der eigenen Bevölkerung zum Mörder werden könnte, steht einem unmittelbar vor Augen, nicht zuletzt auch die Gefahr höchst unterschiedlicher Interessen im Bündnis. Das ist der Grund dafür, daß ich mich zur Verfügung gestellt habe; es sind nicht irgendwelche schäbigen wirtschaftlichen Gründe, die Sie mir unterstellen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Danke schön. - Wir sind am Ende der Aussprache und kommen nunmehr zur Abstimmung. ({0}) - Meine Herren Abgeordneten, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß die Debatte beendet ist. Sie können das ja draußen noch fortsetzen. Jetzt bitte ich doch abzustimmen. - Der Verteidigungsausschuß empfiehlt Ihnen, den Antrag der SPD-Fraktion auf Drucksache 12/2120 abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlußempfehlung des Ausschusses, den Antrag abzulehnen, mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden. Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Sielaff, Fritz Rudolf Körper, Albrecht Müller ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Einstellung aller Tiefflüge und Luftkampfübungen über bewohnten Gebieten - Drucksachen 12/1534, 12/2971 Berichterstattung: Abgeordnete Paul Breuer Gernot Erler Hierzu wird ebenfalls eine Debattenzeit von einer Stunde vorgeschlagen. - Das Haus ist offensichtlich damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich erteile zunächst einmal dem Abgeordneten Gernot Erler das Wort.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In unserem Antrag heißt es: Das Jahrzehnt der 80er Jahre hat die weltpolitische Lage entscheidend verändert. Der „Kalte Krieg" ist beigelegt. Die Teilung Deutschlands ist überwunden. Seit Jahren ist es nicht mehr notwendig, die Luftstreitkräfte in hoher Alarmbereitschaft zu halten. Es besteht keine militärische Bedrohung. Zwischenzeitlich wurde der Warschauer Pakt auch politisch aufgelöst. Ehemalige Mitgliedstaaten suchen die Annäherung an die westliche Allianz. Dies alles sind, glaube ich, nachweisbare Feststellungen, die in diesem Hause, auch von den Vertretern der Regierungskoalition, nicht bestritten werden. Allerdings weigern Sie sich, meine Kolleginnen und Kollegen, die logische und zwingende Folgerung daraus zu ziehen, die da heißt, daß angesichts dieser Situation auf Tiefflug und Luftkampfübungen über bewohntem Gebiet dann auch verzichtet werden muß. Statt dessen müßten Sie hier eigentlich als Alternative erklären: Trotz dieser Situation sind wir fest entschlossen, an Tiefflügen und Luftkampfübungen über bewohntem Gebiet festzuhalten. - Damit stehen Sie aber in einem Erklärungszwang und sogar in einer Erklärungsnot gegenüber der Logik, ({0}) aber nicht nur gegenüber der Logik, sondern auch gegenüber Ihren Kolleginnen und Kollegen aus dem rheinland-pfälzischen Landtag, die bereits im August letzten Jahres einen wortgleichen Antrag befürwortet haben. ({1}) Sie stehen auch in Konflikt mit dem Bundesrat, der sich in der Zwischenzeit nämlich diese Meinung von Rheinland-Pfalz zu eigen gemacht hat und schon im Dezember 1990 die Bundesregierung aufgefordert hat, einen Bericht vorzulegen sowie ein Konzept - ich zitiere -, mit dem alle notwendigen Entscheidungen zur Einstellung der Tiefflüge getroffen werden. Am 27. September 1991 hat der Bundesrat die Bundesregierung erneut aufgefordert und um Mitteilung der Maßnahmen gebeten - ich zitiere -, „die sie zur Einstellung von Luftkampfübungen über dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ergriffen hat". In einem Beschluß vom 15. Mai dieses Jahres hat der Bundesrat die Bundesregierung nochmals aufgefordert, bisher ausschließlich militärisch genutzte Lufträume aufzugeben und die Zahl der sogenannten TRA, der zeitweilig reservierten Lufträume, zu reduzieren. Auf all dies hat die Bundesregierung bisher nicht positiv reagiert. Sie hat sich taub gestellt und statt dessen zwei umfangreiche Papiere vorgelegt: am 5. Mai die Information zum militärischen Flugbetrieb in Deutschland mit Strahlflugzeugen und, im April formuliert, im Juni vorgelegt, die Grundlagen für die Ausbildung an Kampfflugzeugen der Luftwaffe. Daraus geht ganz klar hervor, daß es hier einen Konflikt zwischen dem Bundesrat und der Bundesregierung gibt und der Bundesrat aus dem Gesichtspunkt des Schutzes der Bevölkerung und der Abwehr von schwerwiegenden Beeinträchtigungen des Alltagslebens genau der Auffassung unseres Antrages ist. Man kann in der Tat auch in der sicherheitspolitischen Begründung keinen Anlaß mehr finden, weiterhin Tiefflug- und Luftkampfübungen über bewohntem Gebiet zu betreiben. Als die Bundesregierung versucht hat, eine neue Begründung für die Fortsetzung von Tiefflug- und Luftkampfübungen glaubhaft zu machen, haben wir darauf hingewiesen, daß es heute nicht mehr so sehr um eine unmittelbare Angriffsbedrohung geht, sondern um die Fähigkeit zur wirksamen und schnellen Krisenbeherrschung. Dabei wird immer das Beispiel Golfkrieg und Jugoslawien vorgeführt. Man kann darüber streiten, ob Jugoslawien ein gutes Beispiel für die Fähigkeit einer schnellen und wirksamen Krisenbeherrschung ist. Aber an diesem Punkt kommt dann die luftgestützte Verteidigung ins Spiel. Da wird gesagt, angesichts künftiger - ich zitiere - „indifferenter Risikoszenarien und nicht mehr eindeutig vorgegebener Angriffsrichtungen " sei die Luftwaffe zur Bildung von Schwerpunkten notwendig. Genau diese Formulierung zeigt, daß sie damit die eigentliche Begründung für Tiefflug aufgegeben hat. Denn das war eben immer eine andere Funktion, als sich aus unterschiedlichen Richtungen kommender möglicher Angriffe zu erwehren. Ich zitiere aus einer Broschüre der Bundesregierung von 1989. Da hieß es noch: Im Verteidigungsfall müssen unsere Luftstreitkräfte der Bedrohung durch die gegnerische Flugabwehr Rechnung tragen. Nur im Tiefstflug, in ca. 30 Metern, besteht Aussicht, deren Erfassungs- und Bekämpfungsmöglichkeiten zu mindern. Dafür und zu dem präzisen Waffeneinsatz aus niedriger Höhe ist eine exakte Tiefflugnavigation unabdingbare Voraussetzung. Das bedeutet also: Jahrzehntelang war die Begründung für Tiefflug immer die Fähigkeit, eine gegnerische Flugabwehr ganz niedrig unterfliegen zu können, um damit die Aufmarschräume und die Flugplätze des Gegners in seinem eigenen Gebiet angreifen zu können, und zwar zur Entlastung in einer Situation, in der dieser Gegner numerisch und strategisch überlegen ist. Dieses ist aber nun nach Meinung der Bundesregierung und der Koalitionsparteien gar nicht mehr der Fall. Ich habe das beschrieben. Mithin entfällt auch eine vernünftige Begründung, diese Übungen fortzusetzen. Das war ja die Begründung, weshalb auch Geländekenntnis in Deutschland und im grenznahen Gebiet notwendig war. Diese ist aber nicht mehr notwendig in der Situation „indifferenter Risikoszenarien" , in der man überhaupt nicht mehr weiß, wo denn, wenn überhaupt, ein Angriff herkommt. Entsprechend versucht die Bundesregierung auch, nun einen neuen Legitimationszusammenhang künstlich zu schaffen. Ich zitiere: Für den mitteleuropäischen bzw. national-deutschen Einsatzraum ist die zunehmende Mobilmachungsabhängigkeit der Landstreitkräfte zu berücksichtigen. Diese kann durch die teilweise präsenten Gegenangriffskräfte der Luftwaffe gedeckt werden. Dazu stehen künftig bis zu 200 Jagdbomber in der Gegenangriffsrolle bereit. Das soll die neue Funktion dieses Übungskonzepts sein, eine angeblich bestehende Mobilmachungsabhängigkeit der Landstreitkräfte ({2}) durch eine verstärkte Fähigkeit zum luftgetragenen Gegenangriff auszugleichen. ({3}) Und das, obwohl alle sich darüber einig sind, daß die Vorwarnzeiten inzwischen so lang sind, daß eine solche Gefährdung von Mobilmachung gar nicht gegeben sein kann! Daher stellt man wohl mit Recht die Frage, wohin denn ein solcher Gegenangriff, wohin denn eine solche Schneise der Vernichtung gegebenenfalls gehen soll. Vielleicht nach Polen, in die Tschechoslowakei oder nach Ungarn, unseren neuen Partnern im NATO-Kooperationsrat oder sogar Prätendenten von Mitgliedschaft in der NATO? In Wirklichkeit gibt es ein solches Konzept eines Gegenangriffs in einem solchen Fall, um Mobilisierung zu sichern, nicht. Es bleibt bestenfalls die gelegentlich auch beschworene Sicherung der Flanken des Bündnisses, eines Einsatzes an den Rändern des Bündnisses. Daher auch immer der Hinweis auf den Golfkrieg und darauf, daß dort Jagdbombereinsätze höhere Verluste von Landstreitkräften vermieden hätten. Aber selbst wenn man diesem Szenario folgt, kann man ohne weiteres unserem Antrag zustimmen, weil es dann auch sinnvoll ist, solche Einsätze dort, wo sie wahrscheinlich durchgeführt werden müssen, nämlich an diesen Rändern, zu üben und nicht ausgerechnet konzentriert in der Mitte Europas, über dem dicht besiedelten Gebiet der Bundesrepublik. Nach wie vor - und dafür tragen Sie die Verantwortung - ist Deutschland das am dichtesten militärisch beflogene bewohnte Gebiet der Welt. Dieser Zustand muß endlich aufhören. Bei uns fliegt nämlich nicht nur die Luftwaffe, sondern bei uns fliegen und werden nach den Plänen der Bundesregierung auch in Zukunft noch in erheblichem Maße alliierte Luftstreitkräfte fliegen, und zwar weit mehr als umgekehrt die Bundeswehr bei den Alliierten in dem befreundeten Ausland fliegen wird. Ich zitiere die Zielplanung der Bundesregierung, wie sie uns vorgelegt worden ist. Da heißt es, daß 1995 insgesamt über Deutschland noch 10 160 Luftkampfübungen stattfinden sollen. Davon wird aber die Bundeswehr nur 1 260 fliegen. Dem stehen 8 900 Luftkampfübungen der Alliierten gegenüber. Umgekehrt wird aber die Bundesluftwaffe nur 6 320 Flüge im Ausland bestreiten, davon einen Großteil über See. Dieses Verhältnis ist also mehr als ungleich. Noch deutlicher ist das bei der Zahl der Tiefflüge und bei dem Saldo, der sich dort ergibt. 1995 sollen noch 24 900 Stunden Tiefflug über Deutschland geflogen werden, also nach der Definition unter 1 500 Fuß oder 450 m. Aber die Luftwaffe will insgesamt nur 15 400 Flugstunden absolvieren; davon die Hälfte, also 7 700, im Inland und 7 700 im Ausland bzw. über See. Aus diesem Zahlenwerk ergibt sich aber, daß die alliierten Streitkräfte über Deutschland 16 800 Flugstunden im Tiefflug absolvieren werden. Wenn auch die absolute Zahl der Tiefflüge sinkt, darüber werden die Sprecher der Koalitionsfraktionen hier sicher gleich noch das Hohelied singen ({4}) - ich freue mich schon darauf, ich kenne auch die Zahlen schon -, bleibt also die Relation immer noch so, als ob Deutschland der wahrscheinlichste Kriegsschauplatz eines künftigen Konfliktes wäre. Meine Damen und Herren, das ist ein Relikt des Kalten Krieges, das endlich beseitigt werden muß. Wer sagt, daß eine In-Übung-Haltung auf einem bestimmten Niveau noch notwendig ist, der kann das tun, aber er kann das über See oder über eindeutig unbewohntem Gebiet tun und nicht inmitten Deutschlands. ({5}) Daß Sie die Sorgen, die hierüber immer noch bestehen, nicht so ernst nehmen, das kann man auch daraus schließen, wie Sie mit dem Problem eines teilweisen Ersatzes von Tiefflugübungen durch Simulatoren umgehen. ({6}) Wir haben in der Vergangenheit von der Bundesregierung immer gehört, daß sie große Hoffnungen auf die Simulatortechnik als eine Substitution für Tiefflüge legt. Das drückt sich auch in den Haushaltsplanungen aus, die bisher gültig waren, in denen allein 562 Millionen DM, also mehr als eine halbe Milliarde, für diese Technik eingesetzt waren. Davon sind schon 121 Millionen DM ausgegeben worden. Jetzt, nach den Erprobungen des neuen Tiefflugsimulators, kündigt der Inspekteur des Heeres auf einmal im Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages an, daß er die Empfehlung geben werde, dieses ganze Projekt abzubrechen, und das, obwohl in einem Bericht über die Erprobung, der uns zwar noch nicht offiziell zugestellt worden ist, uns aber zufällig schon zur Verfügung steht, eine völlig andere Bewertung dieser Erprobung enthalten ist, und das, obwohl noch am 15. September 1991- das ist also nur gut ein Jahr her - die Bundesregierung zum Simulatorprojekt mitgeteilt hat: Hier versprechen wir uns durch modernere, noch einzuführende Systeme besonders beim Waffensystem „Tornado" positive Ausbildungsergebnisse bei gleichzeitiger weiterer Entlastung in der realen fliegerischen Ausbildungsübungstätigkeit. Das soll nun auf einmal nicht mehr gelten, obwohl in diesem internen Bericht ganz deutlich eine möglichst schnelle Entscheidung zugunsten der Fortführung des Programms und dessen gesamte Finanzierung empfohlen wird, um - wie es dort heißt - Unterbrechungen zu vermeiden, und obwohl dort auch über das weltweite erhebliche Interesse und vor allen Dingen über ein großes Interesse in den Vereinigten Staaten an dieser deutschen Technik berichtet wird. Aber - und das hat natürlich ganz andere Gründe - die Hardthöhe hat inzwischen ihr Interesse an der Simulatortechnik verloren. Piloten fliegen lieber, als daß sie sich in den Simulator setzen. Das ist verständlich. Aber die politische Führung hält inzwischen anscheinend das neue Tiefflugkonzept für konsensfähig und geht davon aus, daß die Proteste nachgelassen haben und vielleicht noch weiter nachlassen werden, so daß man diesen geplanten Umfang auch ohne Simulatorentlastung der Bevölkerung zumuten zu können glaubt. Diese Art von Rücksichtslosigkeit ({7}) - doch, doch, das ist es, Herr Kollege - erkennt man auch bei dem, was ich „tieffliegerischen Einigungsprozeß" nennen möchte. ({8}) Bekanntlich kann die Bundesluftwaffe seit dem 1. Januar dieses Jahres täglich 20 Tiefflüge über den neuen Bundesländern fliegen. Ich habe die BundesGernot Erler regierung schon im April gefragt, ob sie gewillt ist, wenigstens die im Westen übliche kostenfreie Befragung des Luftwaffenamtes zu militärischen Flugbewegungen zu ermöglichen. Im Westen ist das längst eine vielgenutzte Möglichkeit. Am 24. April dieses Jahres habe ich dann die Antwort erhalten, daß der sogenannte 0130-Service bisher technisch nicht möglich sei. Ich habe mir erlaubt, am 16. Oktober dieses Jahres die Frage zu stellen, ob sich das inzwischen geändert habe. Daraufhin habe ich vom Bundesverteidigungsministerium wörtlich folgende Antwort erhalten: Da die Schaltung eines gebührenfreien Beschwerdetelefons noch nicht möglich ist, wurde für die neuen Bundesländer beim Luftwaffenamt ein Postanschluß unter der Rufnummer 0 22 03/6 10 83 eingerichtet. Parallel dazu habe ich aber, abgedruckt in demselben Bundestagsprotokoll, eine Antwort des Bundesministeriums für Post und Telekommunikation erhalten. Diese Antwort möchte ich Ihnen nicht vorenthalten. Da heißt es nämlich wörtlich: Diensteanbieter, die eine abfragende Stelle in den neuen Bundesländern betreiben wollen, können auch dort Service 130-Rufnummern erhalten. Somit ist der Service 130 für Telefonkunden in den neuen Bundesländern, also auch durch das Luftwaffenamt der Bundeswehr, grundsätzlich nutzbar. Ich benutze die Gelegenheit dieser Debatte, um eine Kommunikation zwischen diesen beiden Ministerien herzustellen, die offenbar auf andere Weise nicht gewährleistet ist. Das ist vielleicht auch eine nützliche Funktion einer solchen Debatte, die hier genutzt werden kann. ({9}) Ich fordere die Hardthöhe auf, diese neuen Möglichkeiten zu nutzen, damit bei diesem tieffliegerischen Einigungsprozeß nicht nur die Belastungen gleichmäßig verteilt, sondern endlich auch die Möglichkeiten der Überprüfung und der Beschwerde in der gleichen Weise in den neuen Bundesländern eingerichtet werden, wie sie in den alten schon bestehen. Das zeigt aber noch einmal - das möchte ich betonen - die Lässigkeit und das Desinteresse, die offenbar dadurch entstanden sind, daß bei der Bundesregierung inzwischen das Kalkül Raum gegriffen hat, daß das jetzige Konzept konsensfähig sei. Meine Damen und Herren, ich möchte zusammenfassen und gleichzeitig davor warnen, weiter so vorzugehen. Jederzeit - und das wissen Sie ganz genau - ist auch bei dem reduzierten Umfang von Tiefflug- und Luftkampfübungen ein Unfall über dem dichtbesiedelten Gebiet der Bundesrepublik möglich. Dann werden wir uns hier an dieser Stelle wiedertreffen, und dann wird die Frage sein, was vermeidbar gewesen wäre, wenn wir anders entschieden hätten. Wir fordern in diesem Antrag, die Tiefflüge und die Luftkampfübungen über bewohntem Gebiet in Deutschland einzustellen. Wir haben das wiederholt getan, und wir bekommen dafür eine zunehmende Zustimmung auch aus anderen politischen Parteien und von der Bevölkerung. Ich habe dargelegt, daß dies auch ohne eine Einschränkung des Gebrauchs von Luftfahrzeugen und ohne eine Einschränkung für die Luftverteidigung durchaus möglich und vertretbar ist, daß es im Gegenteil unverantwortlich ist, weiterhin diese Tiefflüge und Luftkampfübungen über bewohntem Gebiet durchzuführen. Ich sage noch einmal: Kommen Sie endlich von diesem Stand herunter, der uns aus dem Kalten Krieg überliefert worden ist! In der bisherigen Form ist diese In-Übung-Haltung und Ausbildung nicht mehr nötig und nicht mehr verantwortbar, und zwar gegenüber den früheren Abstimmungen, die wir dazu hatten, heute erst recht nicht. Ich bitte Sie um Zustimmung für unseren Antrag. ({10})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Breuer das Wort.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der heute zur Debatte gestellte Antrag der SPD-Opposition basiert auf der fundamental geänderten geopolitischen und strategischen Situation. Er macht aber, Herr Kollege Erler, zugleich deutlich, wie man aus einer richtigen Tatsachenfeststellung zu einer falschen Schlußfolgerung kommen kann, ({0}) Richtig ist, daß der Kalte Krieg zu Ende, die Ost-West-Konfrontation überwunden ist. Falsch ist, daß wir auf eine qualifizierte Ausbildung unserer Piloten verzichten können. ({1}) Denn darauf läuft der Antrag hinaus. ({2}) Wegen der Luftraumstruktur in der dichtbesiedelten Bundesrepublik Deutschland könnte bei einem Verzicht auf Flugübungen über bewohntem Gebiet nämlich keine effektive, geordnete Flugausbildung mehr stattfinden. ({3}) - Herr Kollege Erler, ich weiß, daß Sie noch das letzte Flugzeug verfolgen werden! Das ist mir klar. Aber ich denke, Sie sollten einmal versuchen, die Sache im Zusammenhang zu beurteilen. ({4}) Das ist ein Dilemma, vor dem die SPD-Opposition nicht nur im Bereich der Problematik militärischer Flugübungen steht, sondern in der Verteidigungspolitik überhaupt. Richtig ist, daß die konsequente Verdeutlichung des Willens der von CDU/CSU und F.D.P. getragenen Bundesregierung, an einer wehrhaften, zur wirksamen Verteidigung nach außen fähigen Bundesrepublik festzuhalten, zum Zusammenbruch des kommunistischen Machtbereichs beigetragen hat. Dieser Haltung der Bundesrepublik Deutschland und der von CDU/CSU und F.D.P. geführten Bundesregierung ist es daher zu verdanken, daß sich Deutschland heute in einer Situation befindet, in der es erstmals in seiner jüngeren Geschichte nicht mehr existentiell bedroht wird. Deutschland liegt nicht mehr in strategischer Reichweite eines zur strategischen Offensive und Landnahme befähigten Staates. Das ist eine richtige Feststellung, der nichts hinzuzufügen ist. Mir scheint, daß dieser Erfolg einer konsequenten Verteidigungspolitik, der die SPD durch den Sturz ihres eigenen Kanzlers Helmut Schmidt eine Absage erteilt hat, bislang nicht ausreichend deutlich geworden ist. ({5}) - Ich werde durch die Nervosität auf den Bänken der SPD nachhaltig bestätigt. Bei aller Freude und Genugtuung müssen wir jedoch nüchtern feststellen, daß der Weg zu einem friedlichen Gesamteuropa leider länger sein wird, als man in der Hochstimmung der Jahre 1989 und 1990 vielleicht anzuerkennen bereit war. Die Gefahr neuer Krisen und Konfrontationen ist leider wieder größer geworden. ({6}) Freiheit, Unabhängigkeit und Souveränität der europäischen Staaten bedürfen weiterhin eines wirksamen militärischen Schutzes. Bei allem feststellbaren Wandel des sicherheitspolitischen Umfeldes bleiben deshalb die Grundlagen unserer Außen- und Sicherheitspolitik unverändert. ({7}) Verantwortungsvolle Sicherheitspolitik, die sich nicht am Tagesstreit oder bloßer Geschäftigkeit orientiert, muß langfristig am Erhalt einer einsatz- und verteidigungsfähigen Bundeswehr ausgerichtet sein. ({8}) Sie ist Pfeiler einer staatlichen Sicherheitsvorsorge, die der neuen europäischen Sicherheitsordnung Stabilität verleiht und sie gegen Unwägbarkeiten absichert. Der politische Auftrag deutscher Streitkräfte, wie er sich aus unserer geltenden Verfassung ableitet, gilt daher seit ihrer Aufstellung unverändert fort. Die Streitkräfte schützen die territoriale Integrität Deutschlands, die Sicherheit seiner Bürger und der freiheitlich-demokratischen Lebensordnung gegen äußere Gefahren und nehmen unsere Verpflichtungen in Bündnissen wirksam wahr. Ein unverzichtbarer Bestandteil der Fähigkeit unserer Streitkräfte zu einer wirksamen Landesverteidigung ist die Fähigkeit zu einer wirksamen Luftverteidigung. Wie unsere Streitkräfte überhaupt ist die deutsche Luftwaffe als Streitkraft im Bündnis konzipiert und hat ihren Auftrag daher im engen Zusammenwirken mit den Luftstreitkräften der Verbündeten zu erfüllen. Wir können nicht davon ausgehen, daß der durch die Wiedervereinigung notwendig gewordene umfassendere Raumschutz durch Flugabwehrraketenverbände, d. h. nur durch bodengestützte Luftverteidigungsinstrumente gewährleistet werden kann. Substantieller Bestandteil der deutschen Luftstreitkräfte ist und bleibt daher die luftgestützte Komponente der Luftverteidigung. ({9}) - Wenn der FüL das sagt, Herr Kollege von Bülow, dann ist das in diesem Zusammenhang richtig. - Sie ist angesichts künftiger indifferenter Risikoszenarien und nicht mehr eindeutig festzustellender Angriffsrichtungen zur Bildung von Schwerpunkten besonders gut geeignet - Sie gingen darauf ein, Herr Kollege Erler - und wird damit zum klassischen Instrument der Luftverteidigung. Diesem Kernsatz in der vom Bundesminister der Verteidigung im Verteidigungsausschuß vorgestellten Konzeption, die Sie eben erwähnten, stimme ich voll inhaltlich zu. ({10}) - Herr Kollege Kolbow, wenn Sie fragen, wo der Verteidigungsminister ist: Er kann nicht allgegenwärtig sein. Das Verteidigungsministerium ist durch den Parlamentarischen Staatssekretär Kollegen Bernd Wilz bestens vertreten. ({11}) - Sie sollten lieber einmal zuhören, Herr Kollege Kolbow. Sie wissen, daß ich Sie sonst außerordentlich schätze. Aber heute morgen sind Sie nicht gut in Form. Es zeugte von nicht überbietbarer Verantwortungslosigkeit gegenüber unseren Soldaten, besonders den Piloten und ihren Familien, wenn wir nicht Sorge dafür trügen, daß die Ausbildung und Inübunghaltung der Piloten kontinuierlich auf hohem Stand gehalten wird. Es zeugte auch von Verantwortungslosigkeit gegenüber dem Schutzbedürfnis unserer Bevölkerung und dem Schutzauftrag unseres Staates. Hierzu muß der deutsche Luftraum genutzt werden. Luftverteidigung ist ein Bestandteil von Bündnisverteidigung. Bündnisverteidigung aber bedeutet Solidarität mit unseren Partnern. ({12}) Bestandteil davon ist die Lastenteilung. Es kann nicht angehen, Herr Kollege Erler, einerseits dafür einzutreten, daß in Deutschland - ich habe es erklärt - wegen Luftraumstruktur und enger Besiedelung nicht mehr geflogen werden kann, andererseits aber zu verlangen, daß wir über den Territorien unserer Bündnispartner üben können. Das ist nicht Lastenteilung, das ist nicht das Prinzip der Wechselseitigkeit. Solidarität ist keine Einbahnstraße und kann keine sein. ({13}) Aus dem Prinzip der Wechselseitigkeit folgt, daß wir die Ausbildung unserer Luftstreitkräfte nicht nach dem Sankt-Florians-Prinzip vollständig in das Ausland verlagern können. Das wäre die Konsequenz des SPD-Antrages.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Breuer, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Herbert Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002484, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Breuer, ist es nach dem, was Sie zum gesamtsicherheitspolitischen Umfeld gesagt haben, nicht gleichwohl zu verantworten, auch die Piloten der deutschen Streitkräfte für den Fall eines Tieffluges in dichter bewohnten Siedlungsräumen Mitteleuropas auszubilden? Denn wenn wir realistisch sind, Herr Kollege von Bülow, müssen wir in Osteuropa, wo immer noch eine Streitmacht vorhanden ist, die auch nach Reduktionen an Zahl und Feuerkraftdurchsetzungsvermögen allem, was im westlichen Europa steht, gleichkommt, sehr wohl damit rechnen, daß dort ein Spannungsfall, eintritt. Auch deshalb muß Vorsorge getroffen werden.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Werner, das war schon mehr eine Zwischenrede als eine Zwischenfrage. Dies wird nicht auf die Redezeit angerechnet. Bitte, Kollege Breuer.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Werner, ich stimme Ihrer Feststellung zu, bedanke mich für die Fragestellung und möchte sagen: Gerade weil die Situation in Europa so ist ({0}) und wir es in Europa, insbesondere im westlichen Teil, mit besonders dichten Besiedlungen zu tun haben, wäre es völlig unverantwortlich, überhaupt noch zu fliegen, wenn nicht eine qualifizierte Ausbildung der Piloten sichergestellt werden könnte. Die richtige Schlußfolgerung aus der insgesamt positiven sicherheitspolitischen Entwicklung ist meines Erachtens, den neuen sicherheitspolitischen Bedingungen und dem damit einhergehenden Abbau und Abzug von Streitkräften durch eine drastische Senkung der militärischen Flugübungen zu begegnen. Herr Kollege Erler, das nehmen Sie ja nicht ausreichend wahr. ({1}) Ich will die Zahlen noch einmal nennen: Unter 500 m Reduzierung von 980 bis heute: 50 %. Reduzierung bis 1995: weitere 40 %. Inklusive GUS-Streitkräfte, die ja noch in Deutschland sind, eine Reduzierung bis 1995 um insgesamt 60 %. Wenn das keine drastische Veränderung ist und wenn man das gleichzeitig auf dem Hintergrund betrachtet, daß der Luftraum größer geworden ist, daß sich alles mehr verteilt, dann weiß ich nicht, was noch drastische Veränderung sein kann. Seien wir verantwortlich. Erkennen wir dieses neue Konzept als ein vernünftiges Konzept an, das Sicherheit für unseren Staat, für unsere Bevölkerung gewährleistet, das andererseits gewährleistet, daß die Piloten eine effektive Ausbildung, die auch verantwortbar ist, bekommen. Ich bedanke mich. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Günther Friedrich Nolting das Wort.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Erler, ich frage mich, ob Sie heute eigentlich für die gesamte SPD-Bundestagsfraktion gesprochen haben. Es gibt Kollegen aus der SPD-Fraktion, die ganz andere Dinge und ganz andere Vorstellungen vortragen, so z. B. auch in der Arbeitsgruppe „Luftverteidigung", wo einer Ihrer Kollegen uns gesagt hat, wir müßten überlegen, ob wir nicht neue, zusätzliche Kampfbomber in der Bundeswehr einführen müßten. ({0}) Vielleicht sollten Sie und Ihre Kollegen die Meinungsbildung in den eigenen Reihen erst einmal beenden. ({1}) Die wichtigste Frage, Herr Kollege, die in der Debatte heute beantwortet werden muß, kann doch nur lauten: Wollen wir auch künftig eine einsatzbereite Luftverteidigung zum Schutz unseres Landes und zum Schutz unserer Bevölkerung? Für die F.D.P.- Bundestagsfraktion sage ich dazu ein schlichtes einfaches Ja ohne Wenn und Aber. ({2}) Trotz geänderter sicherheitspolitischer Rahmenbedingungen ist der Auftrag des Grundgesetzes auch künftig sicherzustellen. Zu einsatzfähigen Luftstreitkräften gehört aber nicht nur eine den Anforderungen entsprechende Technik - darüber werden wir uns demnächst auch noch unterhalten -, sondern auch gut ausgebildete Piloten. Diese Piloten müssen üben können. Diese Piloten müssen fliegen können. Wir sind bereit, dazu die Möglichkeiten zu schaffen. Der zur Debatte stehende SPD-Antrag kommt jedoch einem faktischen Flugverbot bzw. einem Ausbildungsverbot gleicht. ({3}) Die Ausführungen des Kollegen Erler haben diese eindeutig bestätigt. ({4}) Kurz vor Ende der 11. Wahlperiode legte der vom Verteidigungsausschuß eingesetzte Unterausschuß „Militärischer Fluglärm/Truppenübungsplätze" seinen Abschlußbericht vor. Dieser Bericht ist das Ergebnis einer umfangreichen Arbeit - auch Sie, die Opposition, haben daran mitgewirkt; dies will ich ausdrücklich festhalten -, in dem festgestellt wurde, daß in vielen Einzelfällen Erleichterungen für die Bevölkerung in den betroffenen Regionen geschaffen werden konnten. Wir haben in diesem Ausschuß über 100 Petitionen behandelt. Diese Petitionen kamen von den Landkreisen und von den Kommunen. Wir haben auch erreicht, daß die sieben existierenden Tieffluggebiete de facto aufgelöst wurden und nur noch in wenigen Ausnahmefällen genutzt werden. Auch das muß man an dieser Stelle einmal festhalten. Zusätzlich hat der Bundesminister der Verteidigung mit Wirkung vom 17. September 1990 entschieden, als nationale Bestimmung eine Mindestflughöhe von 1 000 Fuß für alle Flüge festzulegen. Dies bedeutet das Ende des Tiefflugs im strengen Sinne des Wortes; denn Sie wissen ganz genau, daß nach NATO- Verständnis Tiefflüge im taktischen Sinne bei einer Flughöhe unterhalb von 500 Fuß liegen. ({5}) Der SPD-Antrag fordert eine Berücksichtigung der veränderten Sicherheitslage auch im Rahmen des militärischen Flugbetriebs. Aber, meine Damen und Herren von der Opposition, diese Berücksichtigung erfolgt doch in der Praxis schon. Man muß sie allerdings auch zur Kenntnis nehmen. Das haben Sie, Herr Kollege Erler, heute wieder nicht getan. ({6}) Wir haben vorgestern im Verteidigungsausschuß das künftige Ausbildungskonzept der Luftwaffe beraten. Sie waren dabei. Dieses Konzept verdeutlicht, welche Maßnahmen künftig zur weiteren Entlastung des deutschen Luftraums und damit der Bevölkerung insgesamt vorgesehen sind. So wird der größte Teil der Ausbildung, nämlich 80 %, im Ausland und auf offener See stattfinden. Der Umfang der Luftkampfausbildungsflüge wird 1995 nur noch ein Drittel derer von 1987 betragen. Wir hatten 1987 ca. 30 000 dieser Flüge zu verzeichnen. 1990 waren es noch ca. 18 000. 1995 werden es nur noch ca. 10 000 sein. Auch das muß man zur Kenntnis nehmen. ({7}) Sie wissen, daß beim Luft-Boden-Schießen künftig die Ausbildung zu 75 % im Ausland stattfinden wird. Sowohl die Bundeswehr als auch die Alliierten haben eine Reduktion ihrer Flüge über dem Bundesgebiet bereits vorgenommen. Eine weitere Reduzierung ergibt sich zwangsläufig aus dem Truppenabbau bzw. aus dem Truppenabzug. Auch das wissen Sie. Die Luftwaffe verringert den Bestand der Flugzeuge um ein Drittel. Die Alliierten reduzieren um 50 %. Die GUS-Streitkräfte werden bis 1995 den deutschen Boden ganz verlassen haben. Der Bestand an Kampfflugzeugen in Deutschland wird damit bis 1995 auf ein Drittel verkleinert werden. Wir hatten 1990 noch 2 243 Flugzeuge auf deutschem Boden. 1995 werden es nur noch 722 sein. ({8}) Das heißt, das Gesamtaufkommen an Flugstunden wurde in den 80er Jahren in den alten Bundesländern um mehr als die Hälfte abgebaut. Bis Mitte der 90er Jahre wird es nochmals fast halbiert. Auch hier erreichen wir schließlich eine Reduzierung von zwei Dritteln auf etwa ein Drittel. Auch das muß man zur Kenntnis nehmen. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß sich die Luftwaffe auch weiterhin bemühen wird, verstärkt Teile der taktischen Ausbildung in das Ausland zu verlegen. Wir müssen uns, Herr Kollege Erler, aber auch darüber im klaren sein, daß diese Verlagerungen mit einem beträchtlichen finanziellen Aufwand verbunden sein werden. Auch Sie kennen die finanzielle Enge des Einzelplans 14. Wenn wir allerdings verstärkt ausländische Ausbildungskapazitäten nutzen, werden wir auch künftig den Verbündeten nicht verwehren können, auch bei uns Teilaspekte ihrer Ausbildung durchzuführen. Hier kann das in Deutschland allseits beliebte SanktFlorians-Prinzip nicht gelten, ({9}) wobei ich weiß, daß Sankt Florian kein Parteibuch hat. Sankt Florian ist in allen Fraktionen und in allen Parteien anzutreffen. Trotzdem bin ich als Bundespolitiker und hier als Verteidigungspolitiker verpflichtet, das offen zu sagen, notfalls auch gegenüber den eigenen Kollegen. ({10}) - Okay, dann unterhalten Sie sich mit dem. Meine Damen und Herren, in dieser Frage kann es kein urkooperatives Verhalten geben. Unkooperatives Verhalten unsererseits hätte auch Konsequenzen in den Beziehungen zu unseren Verbündeten. Gerade die Zusammenarbeit der Armeen, vor allem der Luftstreitkräfte, im Bündnis, ist ein in Jahrzehnten aufgebautes immaterielles Kapital, das wir auf jeden Fall bewahren wollen. Ich hoffe, die Opposition will das auch. ({11}) Ich will noch etwas zu den Simulatoren sagen, da dies auch angesprochen wurde. Schon vor drei Jahren haben wir Mittel in Höhe von 625 Millionen DM bereitgestellt, um Untersuchungen durchführen zu können, inwieweit Tiefflugstunden durch Simulator-training eingespart werden können. Die bisherigen Ergebnisse sind leider so, daß es trotz des Einsatzes von Spitzentechnologie und vor allem von Hochgeschwindigkeitsrechnern auf absehbare Zeit nicht gelingen wird, die Simulation der Wirklichkeit so anzunähern, daß auf jegliche praktische Übung verzichtet werden kann. ({12}) - Das war eine Aussage im Verteidigungsausschuß. Ich möchte uns alle einmal fragen, besonders aber die Opposition, wie wir uns bei unseren Reisen fühlen würden, wenn wir wüßten, daß der Pilot am Steuerknüppel unseres Flugzeugs nur an einem Simulator ausgebildet worden ist und über keine praktischen Erfahrungen verfügt. ({13}) Diese Frage mag jeder von uns für sich selber beantworten. Ich habe dies ganz bewußt angeführt. Herr Kollege, vielleicht überlegen Sie sich einmal, wie Sie sich dann fühlen würden. Ich kann einen Verzicht auf praktische Übungen unserer Piloten nicht bejahen. ({14}) Meine Damen und Herren, die Notwendigkeit der Risikovorsorge für unser Land, die Aufrechterhaltung einer schon verminderten Einsatz- bzw. Reaktionsgeschwindigkeit unserer Luftwaffe bei glücklicherweise veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen, aber auch unsere politische Fürsorgepflicht den Soldaten gegenüber erfordern eine optimale Ausbildung und Vorbereitung auf einen möglichen Einsatz. Dazu sind nun einmal auch praktische Flugstunden notwendig, die mit dem aufgezeigten Konzept auf ein Mindestmaß reduziert werden. Die Verantwortung unseren Soldaten und unserer Bevölkerung gegenüber gebietet es der F.D.P.-Fraktion, der Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses zuzustimmen. Den SPD-Antrag werden wir ablehnen. Vielen Dank. ({15})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Dr. Ruth Fuchs, Sie haben jetzt das Wort.

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Geschichte der Tiefflüge und der Luftkampfübungen ist zugleich auch eine Geschichte von Flugzeugabstürzen und von Lärmbelästigungen, die den betroffenen Menschen Leid und gesundheitliche Schäden zugefügt haben. Noch hatten wir Glück im Unglück, daß kein Chemiebetrieb, kein Treibstofflager oder gar ein Kernkraftwerk den Schaden ins Unermeßliche gesteigert hätte. ({0}) Tatsache ist nun einmal: Jeder Flugbetrieb birgt Risikofaktoren in sich. Da haben Sie recht, Herr Nolting. Tiefflüge und Luftkampfübungen über bewohnten Gebieten potenzieren jedoch den Risikofaktor wesentlich; denn menschliches oder technisches Versagen können gerade bei diesen Ausbildungsformen auf Grund der hohen psychischen und physischen Belastungen für die Flugzeugführer und die betroffenen Anforderungen an die Zuverlässigkeit technischer Systeme nicht ausgeschlossen werden. Die Wahrscheinlichkeit schwerer Folgen bei menschlichem oder technischem Versagen erhöht sich gegenüber anderen Flugübungen auf Grund des Zeitfaktors und des Fliegens in aerodynamischen Grenzbereichen um ein Vielfaches. Proteste von Bürgerbewegungen begleiten den militärischen Übungsbetrieb in der Bundesrepublik seit Jahren. Den dabei vorgetragenen Argumenten kann man sich nur schwerlich verschließen. Im April dieses Jahres legte das Verteidigungsministerium ein neues Konzept für die Ausbildung in Kampfflugzeugen der Luftwaffe vor. Rein militärisch bewertet muß man zugeben, daß dieses Konzept u. a. von den neuen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen ausgeht und gegenüber der vergangenen und der zur Zeit noch üblichen Praxis einen bemerkenswerten Fortschritt darstellt. Zu Zeiten der Blockkonfrontation hätte man Ihnen zustimmen können. Damals war Deutschland - der Osten mehr als der Westen - mit Truppenübungsplätzen zu Land und in der Luft eindeutig überbelastet. Keine der Seiten wollte aber Abstriche an ihrer Verteidigungs- bzw. Angriffsfähigkeit zulassen. Heute ist die politische und militärische Lage objektiv eine ganz andere. Ich stimme der Feststellung im Antrag der SPD zu, daß eine militärische Bedrohung in der Form einfach nicht mehr besteht. Der Debatte in der letzten Sitzung des Verteidigungsausschusses entnahm ich, daß die SPD Tiefflugübungen generell als notwendig bejaht, sie jedoch über bewohnten Gebieten ausgeschlossen sehen will. Ich frage: Gibt es in der Bundesrepublik überhaupt noch Gebiete, die, gemessen an den räumlichen Ausmaßen von Tiefflug-strecken und Luftkampfübungen und der dabei zu fliegenden Geschwindigkeiten, als unbewohnte Gebiete bezeichnet werden können? Nach meinem geographischen Verständnis dürfte das kaum der Fall sein. Nicht außer acht lassen dürfen wir ebenfalls folgende Tatsachen. Die Anzahl der für die Zukunft - genauer gesagt: für 1995 - geplanten Luftkampfeinsätze soll 1 200 und die der Flugstunden unter 450 m 24 500 betragen. Das sind zwar - zugegeben -weniger als früher, aber die Zahlen sind immer noch zu hoch. Die Intensität entsprechender Ausbildungsflüge soll sich dabei möglichst gleichmäßig über das gesamte Bundesgebiet verteilen. Wäre es unter diesen Voraussetzungen überhaupt möglich, ausschließlich unbewohnte Gebiete zu überfliegen? Ich bezweifle das. Auch mir ist bekannt, daß der Prozeß der Truppenreduzierung deutscher, alliierter und der GUS-Streitkräfte in vollem Gange ist und bis 1995 alle Bundesländer spürbar entlasten wird. Trotz allem ist aber die Befindlichkeit der Menschen, ihre Einstellung zu erlebbaren und belastenden Truppenübungen aller Art nicht anders geworden. Im Gegenteil: Wissend um die fehlende militärische Bedrohung, reagieren sie noch sensibler, wünschen sie sich noch weniger Militär. Daß es möglich ist, noch weniger Militär und damit auch weniger Übungen zu habe, davon bin ich fest überzeugt. Deshalb werde ich trotz meiner Einwände für den Antrag der SPD-Fraktion stimmen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Vera Wollenberger, ich erteile Ihnen jetzt das Wort.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kalte Krieg ist zu Ende, aber die Luftwaffe scheint sich damit nicht abfinden zu wollen und meine Kollegen, die Tiefflüge befürworten, eigentlich auch nicht, obwohl sie verbal etwas ganz anderes verlauten lassen. Ich glaube, daß dies die dritte Debatte zu diesem Thema ist, die ich mitmache. ({0}) - Hoffentlich nicht. - Dabei drängt sich mir ein historischer Vergleich auf: Um die Jahrhundertwende gab es in Deutschland Befürworter eines Schlachtflottenbaus unter Admiral von Tirpitz. Sie haben alle möglichen und unmöglichen Argumente gebracht, warum Deutschland unbedingt eine große Schlachtflotte brauche, und haben argumentiert, daß nur so Deutschland in zukünftigen Kriegen und bei der Verteidigung bestehen könne. Sie wissen, wie das endete: Deutschland bekam eine riesige Schlachtflotte. Das war wahrscheinlich vor dem Jäger 90 das teuerste Kriegsspielzeug, das sich Deutschland geleistet hat. Als der Erste Weltkrieg begann, lag dieses „Spielzeug" in den Häfen, war zur Verteidigung Deutschlands nicht zu gebrauchen, wie sich herausstellte, und konnte in diesem Krieg gar nicht richtig eingesetzt werden. Mich erinnern die Argumente der Flottenbauer an die Argumente, die jetzt zugunsten von Jäger 90, Tiefflugübungen und einer starken Luftwaffe vorgetragen werden. Es ist doch gar nicht sicher, ob es tatsächlich notwendig ist, die Luftkampfübungen, die Tiefflüge fortzusetzen. Ich möchte daran erinnern, daß die britische Luftwaffe im Golfkrieg acht Jagdbomber vom Typ Tornado verloren hat; die meisten davon im Tiefflug. Ein italienischer Tornado wurde in 14 m Höhe von der irakischen Luftabwehr abgeschossen. Die US-Luftwaffe stellt seit dem Golfkrieg das Einsatzkonzept für Tiefflüge massiv in Frage. ({1}) Das sollte man in die eigenen Überlegungen einbeziehen. Ansonsten ist die Bundesregierung ja auch sehr eifrig bemüht, von amerikanischen Militärstrategen zu lernen. Man sollte bereit sein, auch in diesem Fall von ihnen zu lernen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Wollenberger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Breuer?

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Wollenberger, ist Ihnen bewußt - Sie haben den Vergleich zum Golfkrieg gezogen -, daß durch den Einsatz von Luftstreitkräften im Golfkrieg das Leben von Tausenden von Soldaten der Landstreitkräfte geschont werden konnte? ({0})

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte jetzt nicht über den Golfkrieg diskutieren. Da habe ich mit Sicherheit eine ganz andere Meinung als Sie. Vor allen Dingen ist im Golfkrieg durch die Luftwaffe auch sehr viel Leben vernichtet worden, und zwar sinnloserweise. ({0}) - Wir sollten jetzt, wie gesagt, keine Golfkriegsdiskussion führen. Die Tiefflüge und Luftkampfübungen gehen also weiter, als ob sich in dieser Welt nichts verändert hätte. Die Heraufsetzung der Tiefflugmindesthöhe auf 300 m ist keine befriedigende Lösung; es ist und bleibt Tiefflug. Bis jetzt kann man selbst die Einhaltung dieser Mindestflughöhe nicht garantieren, abgesehen davon, daß sich die alliierten Luftwaffen nach unseren Erkenntnissen nicht an die Bestimmungen halten. Während für die Tiefflüge auf Grund der völlig gewandelten sicherheitspolitischen Lage die alten Argumente nicht mehr ziehen, gelten aber unsere Gegenargumente nach wie vor. Große Teile der Republik liegen im sogenannten Tiefflugband. Dort darf bis zu 300 m tief geflogen werden. In der Regel sind diese Flüge lauter als 70 Dezibel. Für die Bevölkerung bedeutet dies schmerzhaft unerträglichen Lärm, erhöhte Unfallgefahr durch überfallartigen Lärm und eine direkte Bedrohung durch Abstürze und Unfälle. Besonders betroffen sind Kinder. Es gibt mittlerweile mehr als genügend wissenschaftlich einwandfrei abgesicherte Studien, die beweisen, daß durch Tiefflug verursachter Lärmschock gerade bei Kindern Angstzustände und dauerhafte Verhaltensstörungen hervorrufen kann. Aber nicht nur für den Menschen, sondern auch für die Umwelt, für die Natur stellen Tiefflüge eine besondere Gefährdung dar. So ist es mittlerweile fast an der Tagesordnung, daß Kampfflugzeuge irgendwelche Teile verlieren wie Munition, Zusatztanks, Flugzeugteile oder gar giftige Substanzen. Abgesehen von diesen Unglücksfällen belastet aber auch der ganz normale Tiefflugbetrieb durch Schadstoffe in erheblichem Maße die Umwelt. Über ein Drittel der von Militärflugzeugen ausgestoßenen Schadstoffe sind nach einer Studie des Umweltbundesamtes durch den Tiefflug verursacht. Er ist also auch aus ökologischer Sicht nicht mehr tragbar. Wir unterstützen deshalb den Antrag der SPD, obwohl er aus unserer Sicht nicht weit genug geht. Er ist aber immerhin ein Anfang. Nötig wäre nicht nur die Einstellung der Tiefflüge über bewohntem Gebiet, sondern die Einstellung der Tiefflüge überhaupt. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Kollege Hans Raidel, Sie haben jetzt das Wort.

Hans Raidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001768, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich verstehe den SPD-Antrag überhaupt nicht. ({0}) Im Verteidigungsausschuß sind Sie doch ganz ernsthafte Mitarbeiter, gerade bei der Erstellung des neuen Konzepts, aber hier stellen Sie alles in Frage. Wenn man Sie so hört, könnte man direkt meinen: Hurra, wir haben die Lösung, nur leider paßt sie, Herr Erler - wie immer -, nicht zum Problem. Daß der Tiefflug ein Ärgernis ist, wissen wir alle, vor allem diejenigen, die in einer Area wohnen. Ich weiß, wovon ich da spreche. Kollege Dr. Wernitz und ich wohnen in der Area 7. Aber ich meine, der SPD- Antrag ist wirklich nicht hilfreich, weil er Hoffnungen weckt, die so einfach nicht erfüllt werden können. ({1}) Ich behaupte, die Bürger in Deutschland erkennen durchaus an, daß deutliche Reduzierungen der Flugstunden vorgenommen worden sind, von ursprünglich 88 000 auf derzeit rund 32 000. Auch die Auflösung der Areas ist bei dieser Lärmdezimierung hilfreich. Sie rechtfertigen Ihren Antrag ständig damit, daß sich die Verhältnisse in Europa und in der Welt geändert haben. Gott sei Dank! Das ist aber wohl auf die Arbeit unserer Regierung zurückzuführen. Sie wollen dort ernten, wo Sie weiß Gott nichts gesät haben. Sie wissen, meine Damen und Herren, das Verteidigungsministerium hat auf die veränderten Situationen wirklich reagiert. Ich möchte hier einen objektiven Kronzeugen nennen, nämlich den Verwaltungsgerichtshof in München, der in seinem letzten Urteil vor wenigen Wochen festgestellt hat: „Die Änderung der sicherheitspolitischen Lage in Europa hat das Verteidigungsministerium zum Anlaß genommen, Tiefflüge erheblich zu reduzieren." Jeder von uns weiß: Unsere Piloten müssen üben, auch den Tiefflug. ({2}) Unsere NATO-Partner müssen ebenso üben, auch bei uns. Wir üben ja umgekehrt in diesen anderen Ländern auch. ({3}) Ich meine, Herr Kollege Erler, unser gemeinsames Motto sollte lauten: Sowenig Tiefflug wie möglich. Gemeinsam sollten wir uns bemühen, diesen Tieffluglärm zu reduzieren und die Akzeptanz in der Bevölkerung dafür zu fördern. Ich bin nicht derjenige, der alles kritiklos hinnimmt, schon deswegen nicht, weil ich die Verhältnisse bei mir daheim kenne, und habe deswegen durchaus einige Fragen an Luftwaffe und NATO-Partner. Muß es sein, daß entgegen anderen Zusagen auch in der üblichen Mittagspause und in den Abendstunden I geflogen wird? Muß es sein, daß Kirchtürme und andere markante Gebäude zu Zielflügen benutzt werden? Muß es sein, daß Luftkampfübungen in niedrigen Höhenbändern geflogen werden? Das kann man sicher verbessern. Ich halte weitere Entzerrungen für notwendig. Ich halte es auch für notwendig, daß in diesem Rahmen unsere Konzepte, die die Sicherheit der Piloten und die konsequente vernünftige Ausbildung sicherstellen, überprüft werden. Da unterstütze ich Paul Breuer, da unterstütze ich Sie ganz ausdrücklich. ({4}) Die Regierung hat hier schon wesentliche Vorgaben erbracht. Auch könnte die Tornado-Ausbildung ganz ins Ausland verlagert werden. Sie wissen, daß Verhandlungen laufen. Ich bin auch der Meinung, daß Maschinen mit Prüfgeräten ausgerüstet werden sollten, damit eine Flugkontrolle möglich ist. Ich bin der Meinung, daß Skyguard verstärkt eingesetzt werden sollte, aber auch für die Geheimhaltung zu sorgen ist, denn sonst ist es ein untaugliches Mittel. Die Simulationstechnik ist weiterzuentwickeln und auch zu beschaffen. Das Tiefflugmanagement muß weiter ausgebaut werden, damit die gleichmäßige Verteilung vielleicht noch besser sichergestellt werden kann als bisher. Wir sollten auch darüber reden, ob eine Kontrollinstanz, parlamentarisch besetzt, für die Abfederung mancher Probleme nicht hilfreich wäre. ({5}) - Ich bin immer auf dem richtigen Weg, Herr Kollege Erler, und vor allem weiß ich mich in Übereinstimmung mit allen hier von der CDU/CSU und der F.D.P. und vor allem mit den Maßnahmen der Bundesregierung. Ich bin abschließend der Auffassung: Wir haben einen angemessenen Beitrag zur Verteidigungsvorsorge und zur Risikoabsicherung zu leisten. Natürlich müssen wir uns genau überlegen: Was sind die praktischen Mittel dazu? Ich behaupte, unsere Bevölkerung ist bereit, Belästigungen, Beeinträchtigungen dann zu akzeptieren, wenn wir ihr das Gefühl geben, daß diese Dinge gerecht gehandhabt werden, daß der Lärm gerecht verteilt wird, daß man das Bemühen der Politik erkennt und daß wir uns alle damit befassen, wirklich zu einem absoluten Minimum zu kommen, das aber an den Notwendigkeiten ausgerichtet werden muß. ({6}) Das ist unsere Aufgabe, das ist unser Auftrag und nicht solche Anträge, wie Sie sie gestellt haben. Die helfen uns nicht weiter. ({7})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, gegen Schluß dieser Debatte erteile ich das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung, unserem Kollegen Bernd Wilz.

Bernd Wilz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002521

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe zunächst die Bitte, Herr Kollege Erler, daß wir redlich miteinander umgehen. Sie sollten hier nicht den Eindruck vermitteln, als ob die politische Leitung des Hauses den Ausstieg aus dem Tornado-Tiefflug-Simulator entschieden hätte. ({0}) - Dieser Eindruck hätte hier entstehen können. Wir sind dabei, die Lage zu überprüfen, und dies ist zwingend notwendig. Kollege Nolting hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, welche Fragestellungen sich dahinter verbergen. Kollege Kolbow hatte mit Kollege Heistermann zu Recht darum gebeten, gegebenenfalls ein neutrales Gutachten zu besorgen. Dies wollen wir tun. Man sollte hier in aller Offenheit und Ehrlichkeit darüber sprechen. ({1}) Die von Ihnen dargestellten Zahlen zum Thema Flugstunden deutsch/alliiert sind auch etwas in Schieflage dargestellt worden. Ich schlage vor, daß wir dies im Verteidigungsausschuß in aller Ruhe und Sachlichkeit miteinander diskutieren. ({2}) Meine Damen und Herren, der historische Umbruch der vergangenen Jahre hat das sicherheitspolitische Umfeld in Mitteleuropa zwar grundlegend verändert, gleichzeitig erkennen wir, daß die mit der Beendigung der Ost-West-Konfrontation hier und da verbundene Euphorie und das Wunschdenken für dauerhaften Frieden in Europa einer schlimmen, ja, teilweise brutalen Realität weichen mußten. Wir sehen diese traurigen Bilder oft genug im Fernsehen. Frieden erhält sich nicht selbst, sondern er muß errungen und vor allem gesichert werden. Unsere Streitkräfte dienen diesem Ziel im Rahmen einer ethisch verantwortbaren und verfassungsrechtlich verankerten Sicherheitspolitik. Die Luftwaffe leistet dabei ihren Beitrag für unsere Fähigkeit, einen angemessenen Anteil zur Verteidigungsvorsorge in das Bündnis einzubringen. Die Luftwaffe kann diese Aufgabe nur dann erfüllen, wenn sie bereits im Frieden den hierfür erforderlichen Leistungsstand erhält. Dazu gehören auch und gerade unter dem Aspekt der Flugsicherheit die fundierte fliegerische Ausbildung und kontinuierliches Üben. Dies schließt in einem bestimmten Ausmaß auch Flüge über bewohnten Gebieten im niedrigen Höhenband, d. h. zwischen über 300 und 500 m sowie Luftkampfübungen ein. Wenn wir aus guten Gründen eine fliegende Luftwaffe unterhalten - ich habe keine ernstzunehmende Stimme gehört, die dies in Frage stellen würde -, heißt dies, daß wir auch die Rahmenbedingungen schaffen und erhalten müssen, damit diese Luftwaffe sicher und effektiv ausbilden und üben kann. Natürlich wissen wir, daß der militärische Übungsflug mit Belastungen für die Bevölkerung verbunden ist. Sie sind schlechterdings nicht zu vermeiden, aber sie sind reduzierbar, sie sind planbar und sie sind verteilbar. In der öffentlichen Diskussion wird gern übersehen, welche beachtlichen Schritte die Bundesregierung in letzter Zeit bereits unternommen hat, um die Belastungen für die Bevölkerung zu mindern. Schon im September 1990 hat der Bundesminister der Verteidigung die Mindesthöhe für Flüge von strahlgetriebenen Kampfflugzeugen im niedrigen Höhenband grundsätzlich, d. h. von sehr eng begrenzten Ausnahmen abgesehen, auf 300 m angehoben. Zusätzlich folgt die Luftwaffe einer selbst auferlegten Beschränkung, Großstädte nicht unterhalb von 2 000 Fuß, sprich 660 m, zu überfliegen. Diese Maßnahmen und die verstärkte Nutzung von Übungsmöglichkeiten im Ausland haben zu einer deutlichen und spürbaren Reduzierung der Lärmbelastung geführt. Viele Bürger unseres Landes und insbesondere auch Vertreter kommunaler Gebietskörperschaften haben dies ausdrücklich bestätigt. Im Zeitraum von 1980 bis 1990 wurde der Flugstundenumfang im niedrigen Höhenband um mehr als 50 % reduziert, d. h. von 88 000 auf 42 000 Stunden. Im Jahr 1991 ist der Umfang um weitere 11 000 auf 31 000 Stunden verringert worden. In diesem Zusammenhang muß der Blick auch auf die zu erwartende Entwicklung gerichtet werden. Der Bestand an Kampfflugzeugen der Luftwaffe wird sich in den kommenden Jahren um ein Drittel, der der Alliierten um wahrscheinlich mehr als die Hälfte verringern. Bezieht man die Kampfflugzeuge der ehemaligen sowjetischen Streitkräfte und der NVA mit ein, wird sich der Bestand in Deutschland von mehr als 2 200 im Jahre 1990 auf rund 700 im Jahre 1995, d. h. auf weniger als ein Drittel, verringern. Zugleich vergrößert sich der für militärische Flüge verfügbare Luftraum, was eine deutlich geringere Flugdichte und damit auch eine geringere Lärmbelastung zur Folge hat. Insgesamt erwarten wir, daß 1995 nur noch rund 24 500 Flugstunden im niedrigen Höhenband absolviert werden; sie werden dann gerade noch etwa ein Viertel des Umfangs von 1980 betragen. Eine ähnliche Entwicklung ist bei den Luftkampfübungsflügen zu erwarten, die 1995 nur noch ein Drittel des Umfangs von 1987 erreichen werden. In diesem Zusammenhang weise ich auch darauf hin, daß schon heute mehr als 80 % aller Luftkampfübungen im Ausland oder über der See stattfinden. Auch künftig wird die Luftwaffe lediglich den für die Zusammenarbeit zwischen boden- und luftgestützten Luftverteidigungssystemen einschließlich des Radarführungsdienstes unbedingt notwendigen Anteil über der Bundesrepublik Deutschland durchführen. Ich glaube, aus diesen Maßnahmen und dieser Entwicklung wird deutlich, daß es eines der vordringlichsten Ziele des Bundesministers der Verteidigung ist und bleibt, den Umfang des militärischen Flugbetriebes auf das notwendige Mindestmaß zu begrenzen und die Belastung der Bevölkerung so gering wie möglich zu halten. ({3}) Allerdings - dies möchte ich ganz klar sagen - wird es auch in Zukunft nicht möglich sein, alle Tiefflüge und Luftkampfübungen über bewohnten Gebieten einzustellen. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein dichtbesiedeltes Land. Allein auf dem Gebiet der alten Länder befinden sich 23 000 Städte und Gemeinden mit ca. 40 000 Schulen und 20 000 Altersheimen sowie 3 300 Krankenanstalten. 1 500 Gemeinden sind als Kur- und Badeorte ausgewiesen. Angesichts dieser Besiedlungsdichte ist das Umfliegen sämtlicher Ortschaften schlichtweg nicht durchführbar. Ein genereller Verzicht auf solche Flüge würde die vollständige Einstellung der gesamten taktischen fliegerischen Ausbildung in der Bundesrepublik zur Folge haben. Damit würden wir aber die Einsatzfähigkeit und den Sinn von Luftstreitkräften in Frage stellen. Zudem - dies ist für unsere Bevölkerung besonders wichtig - würde eine Kanalisierung und Verdichtung des Flugverkehrs eintreten. Dies ginge in den betroffenen Gebieten zu Lasten der Flugsicherheit und hätte eine massive Lärmkonzentration zur Folge. Lassen Sie mich an dieser Stelle noch ein Wort zu den deutschen und alliierten Flugzeugführern sagen. Ich kann Ihnen versichern, daß sich die Piloten der Verantwortung bewußt sind, die mit ihrer Übungstätigkeit verbunden ist. Umweltbewußtes Denken und Handeln im Sinne von Lärmentlastung gehört schon in der fliegerischen Grundausbildung unserer Besatzungen zum Rüstzeug. Große fliegerische Disziplin und das Bemühen um eine geringstmögliche Belastung der Bevölkerung sind die Kennzeichen des Übungsflugbetriebs. Der gelegentlich erhobene Vorwurf des Rowdytums oder gar Luftterrors ist deshalb mit Nachdruck zurückzuweisen. Er läßt die verantwortungsbewußte und im übrigen bekanntermaßen nicht ganz ungefährliche Ausübung des Flugdienstes durch unsere Besatzungen außer acht. Ich fasse zusammen: Wenn wir deutsche Streitkräfte bejahen - und wir tun dies -, dann müssen wir auch dafür Sorge tragen, daß sie ihrem Auftrag entsprechend ausgerüstet und ausgebildet sind. Dies gilt auch für die Luftstreitkräfte. Die Bundesregierung bleibt weiter bemüht, die Belastungen für unsere Bevölkerung auf ein Mindestmaß zu begrenzen. Ganz ohne Lärmbelastung wird sich der militärische Flugbetrieb aber auch in Zukunft nicht gestalten lassen. Das Wort „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß" ist eben auch in diesem Zusammenhang nicht anwendbar. Ich bitte daher, den Antrag der SPD auf Einstellung aller Tiefflüge und Luftkampfübungen über bewohnten Gebieten entsprechend der Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses abzulehnen. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Der Verteidigungsausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1534 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Die Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen - darunter eine Stimmenthaltung - und gegen die Stimmen der Opposition aus SPD, PDS/Linke Liste und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angenommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir kommen nunmehr zu Tagesordnungspunkt 8: Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Jung ({0}), Gerd Andres, Holger Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Übertragung der örtlichen Energieversorgungseinrichtungen an die ostdeutschen Kommunen - Drucksache 12/3624 Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Volker Jung.

Volker Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001040, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Stromverträge sind in der bestehenden Form eine energiewirtschaftliche und ordnungspolitische Fehlkonstruktion, die von den Regierungen in Ost und West gegen den Widerstand der Opposition in Volkskammer und Bundestag durchgesetzt wurden. Sie haben viel Streit verursacht. Sie behindern die Eigenständigkeit und Handlungsfreiheit der Gemeinden. Darum ist es auch zur Verfassungsklage von 164 ostdeutschen Kommunen gekommen, die notwendige Investitionen zur überfälligen Sanierung der Energieversorgung in den neuen Bundesländern blockiert hat. Viel gutgemeinter Rat - z. B. vom Verband kommunaler Unternehmen mit seinem Vorschlag einer Grundsatzverständigung, aber auch von uns -, sich trotz der Stromverträge auf einen fairen Kompromiß zu einigen, ist von den beteiligten Energieversorgungsunternehmen in den Wind geschlagen worden, weil sie glaubten ihre Maximalposition in dem Rechtsstreit durchsetzen zu können. Das ist nicht gelungen, meine Damen und Herren. Das ist auch jetzt nicht mehr wahrscheinlich. Und das ist gut so. Gleichgültig, wie man den Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts auch charakterisieren mag - nach unserer Bewertung hat er den Charakter eines Vermittlungsvorschlags; die schriftlich nachgereichte Punktation des 2. Senats unterstreicht dies auch -, er bietet die Chance, schnell Rechtsfrieden zu schaffen und vor allem die Investitionsblockade zu überwinden. Mit dem Vergleichsvorschlag hat das Bundesverfassungsgericht nach unserer Auffassung einen fairen Kompromiß angeboten, der im Kern eine vergleichbare Aufgabenteilung in der Energieversorgung wie in Westdeutschland bewirken kann. Deshalb ist es gut, daß der Bundeskanzler und auch Graf Lambsdorff den Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts begrüßt haben - ebenso wie im Grundsatz auch VEBA-Chef Piltz und RWE-Chef Gieske. Volker Jung ({0}) Um so bedauerlicher ist es, daß bei den Vergleichsverhandlungen, die auf Initiative von Herrn Rommel, dem Präsidenten des Deutschen Städtetages, zustande gekommen sind, die Vertreter der Stromkonzerne und auch der Bundeswirtschaftsminister im Kern auf einer aktienrechtlichen Lösung beharren. Das höchste deutsche Gericht hat klipp und klar vorgeschlagen, den Gemeinden die Energieversorgungsanlagen zu übertragen und als Entgelt dafür die 49 % Aktienanteile an die regionalen Versorgungsunternehmen zu übergeben. Für weitere finanzielle Forderungen an die Gemeinden ist kein Raum. Das würde auch die Absicht, kommunale Stadtwerke zu gründen, in vielen Gemeinden zunichte zu machen. Da gestern keine Einigungen erzielt wurden, müssen die Verhandlungen fortgesetzt werden. Das ist vereinbart. Wir begrüßen ausdrücklich die Bereitschaft der Beteiligten. Wir verlangen allerdings vom Bundeswirtschaftsminister, daß er endlich eine aktive Rolle spielt und nicht länger die Interessen der Stromkonzerne mit denen der Bundesrepublik Deutschland verwechselt. Es ist politisch nicht akzeptabel, den Gemeinden, die nun auch vom Bundesverfassungsgericht anerkannten rechtlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen in der lokalen Energieversorgung vorzuenthalten. Gerade im Osten braucht die kommunale Selbstverwaltung eine gesunde wirtschaftliche Basis. Dazu gehört wie im Westen auch der Betrieb eigenständiger Stadtwerke. Eine funktionierende kommunale Selbstverwaltung ist nach unserer Auffassung eine wesentliche Voraussetzung für eine lebendige Demokratie. Darauf muß die Bundesregierung bei den weiteren Verhandlungen ganz besonders achten. ({1}) In die Irre führt auch die Behauptung, meine Damen und Herren, der Vergleichsvorschlag gefährde die Braunkohleverstromung. Diese Behauptung wird auch durch häufiges Wiederholen nicht richtig. Braunkohle wird zur Stromerzeugung in der Grundlast eingesetzt. Die Stadtwerke wollen sich dagegen auf die Kraft-Wärme-Kopplung konzentrieren, die vor allem die Mittel- und Spitzenlast abdeckt. Es gibt solide Berechnungen, daß dies nicht mehr als 30 % der Stromerzeugung ausmachen wird. Im übrigen kann Braunkohlenstaub auch in kleineren Blockheizkraftwerken eingesetzt werden. Bei den ostdeutschen Kommunen verbreitet sich ohnehin die Einsicht, daß solche Kraftwerke auf Gasbasis bei den bekannten Lieferschwierigkeiten nur mit erheblichen Risiken betrieben werden können. Nicht zuletzt: Die Verbundgesellschaft plant in nicht unerheblichem Umfang Kraftwerke auf der Basis von importierter Steinkohle, die weder billiger noch sicherer verfügbar ist. Hier ist nach unserer Auffassung ein erheblicher Spielraum zum Einsatz von heimischer Braunkohle. Wenn etwas die ostdeutsche Braunkohle gefährdet, dann ist es die kombinierte CO2- und Energiesteuer auf europäischer Ebene, die vom Bundeswirtschaftsminister favorisiert wird, und nicht ein bescheidener Anteil kommunaler Energieversorgung. Ich bin sicher, meine Damen und Herren, daß die Gemeinden beim Neuaufbau ihrer Stromversorgung auf die wirtschaftlich schwer betroffenen Braunkohlengebiete Rücksicht nehmen und alles tun werden, um eine sichere Basis auch in den Kommunen in der Braunkohlenverstromung zu legen. Ich glaube deshalb, daß die Annahme des Vergleichsvorschlages geradezu die Voraussetzung bildet, um Investitionssicherheit bei der Braunkohle zu schaffen. Scheitert der Vergleich, sehe ich den Widerstand der Kommunen gegenüber festen Abnahmeverpflichtungen eher anwachsen. Auch deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, die Verhandlungen im Sinne des Vergleichsvorschlages voranzutreiben. Die Koalitionsfraktionen fordere ich auf, unserem Antrag zuzustimmen. Schönen Dank. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Heinz Seesing.

Heinrich Seesing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002142, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir behandeln hier ein Thema von hoher Brisanz. Ich weiß wirklich nicht, ob die heutige Diskussion die Angelegenheit fördert oder nicht. Deswegen möchte ich einige Bemerkungen machen, um das Problem richtig einordnen zu können. Es darf keine Vision bleiben: Die Lebensverhältnisse in Ost und West müssen möglichst schnell einander angeglichen werden. Das muß auch für die Energieversorgung gelten. Angleichung darf aber nicht Gleichmacherei heißen, auch nicht in der Energieversorgung. Es ist nun wirklich an der Zeit, aus der Vergangenheit zu lernen und möglicherweise auch zu neuen Strukturen zu kommen. ({0}) Die neue Vision für Europa heißt Subsidiarität. Ich freue mich über die Wiederbelebung dieses Prinzips der katholischen Soziallehre und erinnere mich daran, daß das auch in meiner Partei eine Rolle gespielt haben soll. Dabei paßt dieser Grundsatz ganz gut auf die von uns abschließend zu formulierende Energiepolitik; denn das Subsidiaritätsprinzip sagt, daß nur das, was der einzelne, die Familie oder eine andere kleine Gemeinschaft nicht leisten können, von der nächst größeren Einheit an Leistung erbracht werden soll, besser: erbracht werden darf. In der Energieversorgung bedeutet das nicht mehr und nicht weniger, als daß die Gemeinde für die Energieversorgung ihrer Bürgerinnen und Bürger Verantwortung zu tragen hat. Der eine oder andere Bürger wird zwar auch in der Energieversorgung weitgehend Selbstversorger sein können, wenn er denn bereit ist, erhebliche Mittel aufzuwenden. Man könnte das Statussymbol Rolls Royce durch das Statussymbol Solardach ersetzen. Es ist aber nicht einzuHeinrich Seesing sehen, daß solches Tun vom Steuerzahler bezahlt werden soll. Die Gemeinde darf nur dann die Verantwortung für die Energieversorgung tragen, wenn sie die Voraussetzungen dafür erfüllt. Dann müssen sich Rat und Verwaltung einer Gemeinde schon prüfen, ob sie diese Versorgung wirtschaftlich durchführen können. Vereinfacht darf ich sagen: Stadtwerke überall da, wo die Dinge stimmen. Ich halte es auch für völlig falsch, diese Stadtwerke nach einem einheitlichen Ritus zu zelebrieren. Nur verhältnismäßig wenige Städte werden in der Lage sein, weite Teile der Stromversorgung selbst zu übernehmen. Aber denen sollte man dann die Möglichkeit dazu geben. Soweit meine grundsätzlichen Bemerkungen. Nun zu der augenblicklichen rechtlichen Situation. Der sogenannte Stromstreit belastet fast die gesamte Investitionstätigkeit im Bereich der Stromwirtschaft in den jungen Bundesländern. Deswegen ist es notwendig, diesen Streit so schnell wie möglich zu Ende zu führen. Aus der Mitteilung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 10. November 1992 geht sehr deutlich hervor, daß der Verständigungsvorschlag des Gerichts zum Ziel hat, eine pauschale Lösung zu erreichen, um Streitigkeiten in vielen Einzelfällen mit eventuellen jahrelangen Gerichtsverfahren zu vermeiden. Vereinfacht stellt sich die Sache so dar: Die Städte erhalten das Sachanlagevermögen. Dagegen geben sie die Kapitalbeteiligung an die regionalen Versorgungsunternehmen ab. Ich weiß, daß der Stromvertrag andere Regelungen vorsieht. Ich weiß aber auch, daß wir auch in anderen Fällen besseren Einsichten gefolgt sind. Deswegen wäre es mir schon wichtig, daß die Vermögensausgliederung, die doch einmal kommt, so schnell wie möglich, also noch in der Verantwortung der Treuhand, erfolgt. ({1}) Bis die Bewertung der regionalen Energieversorgungsunternehmen erfolgt ist, vergeht seine Zeit.. Dann müßten die Probleme, die noch zu lösen sind, lösbar sein. Es ist doch so, daß die Energieversorgungsunternehmen und manche Städte schon pragmatische Lösungen dieser Problematik gefunden haben. Es können sicher auch noch andere Wege gegangen werden, die Interessen der Kommunen im Bereich der Energieversorgung zu sichern. Jede Stadt soll das tun, was ihren örtlichen Gegebenheiten entspricht. Dabei muß ich aber einen Stadtrat fragen, ob er, wenn er den Bau einer eigenen Stromerzeugungsanlage beschließt, die Problematik Braunkohle und die eingeforderte Solidarität mit den Bergleuten eingehend bedacht hat. Die Braunkohle darf nicht der Verlierer der ganzen Auseinandersetzung werden. Das muß in den weiteren Verhandlungen - wenigstens nach meiner Auffassung - gesichert werden. ({2}) Sichergestellt werden sollte auch, daß die bereits abgeschlossenen Konzessionsverträge Bestand haben. Ich möchte die Bundesregierung bitten, beim Bundesverfassungsgericht eine Terminverschiebung für die Stellungnahme der Beteiligten herbeizuführen. Ob das allerdings, Herr Staatssekretär, bis zum 20. Dezember 1992 sein muß, müssen die Verantwortlichen entscheiden. Wenn es allerdings in den Verhandlungen der kommenden Wochen gelingt, eine breite Verständigung aller Beteiligten zu erreichen, dann hätte die Bundesregierung ihre Aufgabe erfüllt. Ich kann sie nur ganz dringend bitten, jetzt alles zu tun, um zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen. Wichtig ist mir im Augenblick, daß jetzt die richtige Entwicklungslinie eingeschlagen wird. Viele Milliarden DM für Investitionsmaßnahmen im Bereich der Energiewirtschaft liegen derzeit brach. Ich möchte nicht die Verantwortung dafür tragen, daß das so bleibt. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, jetzt hat unser Kollege Jürgen Türk das Wort.

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Antrag der SPD „Übertragung der örtlichen Energieversorgungseinrichtungen an die ostdeutschen Kommunen" möchte ich folgendes bemerken: Die F.D.P. begrüßt den Vergleichsvorschlag der Verfassungsrichter, weil er den Weg freimacht für die fiskalischen und politischen Interessen der Kommunen, d. h. für die kommunale Selbstverwaltungsgarantie und vor allem auch für unbedingt notwendige Investitionen in diesem Bereich. Obwohl es einerseits verständlich ist, daß dieser Antrag zur Unterstützung dieser Ziele eingebracht wurde, ist es andererseits oft hilfreich, wenn gut laufende Verhandlungen nicht durch zu laute Töne gestört werden. ({0}) Richtig bleibt, daß ostdeutschen Kommunen, die Stadtwerke gründen und betreiben wollen, die lokalen Energieversorgungsanlagen durch Abspaltung übertragen werden. Bedacht werden sollte aber auch, daß sich ein solches Unternehmen rechnen lassen muß; denn vor dem Betreiben, der Verteilung und den Einnahmen muß in Größenordnungen investiert werden. Deshalb dürften die Konzessionsverträge zwischen Kommunen und regionalen Energieversorgungsunternehmen eine weitere sinnvolle Möglichkeit sein. Eine weitere Variante sind private Betreiber lokaler Erzeugungs- und Verteilungsanlagen, die auf der Grundlage von Ausschreibungen gefunden werden. Vorteile dieser Variante sind: Privatisierungserlös mindert die Verschuldung und damit die Belastung des Haushaltes; die Konzessionsabgaben sichern den Gemeinden ständige Einnahmen. Desgleichen haben private Betreiber eine Gewerbeertragsteuer zu entrichten. Bedenken hinsichtlich Preisdiktats sind nicht nur bei privaten Unternehmen begründet. Grenzen sind durch die Preisaufsichtsbehörde gesetzt. Außerdem kann nach Ablauf der Konzessionszeit das Versorgungsrecht einem anderen privaten Unternehmen übertragen werden. Ein Optimum stellt meines Erachtens die Mischvariante dar, d. h. die Stadtwerke GmbH, in der sowohl die Gemeinde als auch private Unternehmen als Gesellschafter kooperieren. Doch das sollten die Kommunen nach tiefgründiger Rechnung und Überlegung mit realen Ausgangsdaten selbst bestimmen können. Wichtig erscheint mir, daß die jetzt eingesetzte Arbeitsgruppe, die sofort mit ihrer Arbeit beginnen soll, in Ruhe den unbedingt erforderlichen Kompromiß erarbeiten kann. Dabei sind ganz sicherlich auch und vor allem die Interessen des ostdeutschen Braunkohlenbergbaus zu berücksichtigen. Ich gehe davon aus, daß das Bundesverfassungsgericht der Bitte, die Äußerungsfrist bis zum 20. Dezember 1992 zu verlängern, entsprechen wird. Ich bin überzeugt, daß dieser Kompromiß auch bzw. gerade im Interesse der ostdeutschen Kommunen gefunden wird. Ich bedanke mich. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann, Sie haben jetzt das Wort.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es ist notwendig, am Beginn doch noch ein Wort zur Genesis der Stromverträge zu sagen. Ich kann mich noch sehr gut an die Debatten in der letzten Volkskammer um den Deal zwischen Bundesregierung, DDR-Regierung und Stromgiganten erinnern. Kenner der Szene bezeichneten diesen Coup als einmalig. Vielleicht war uns als Abgeordneten damals noch nicht bis ins letzte klar, welche Konsequenzen sich aus den Festlegungen des Einigungsvertrages ergeben könnten. Zumindest die Bundesregierung aber hätte wissen müssen, daß es hier um eine Verletzung des Grundgesetzes geht; denn Art. 28 Abs. 2 Satz i des Grundgesetzes lautet: „Den Gemeinden muß das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln". Diesem Grundsatz entsprechend führte noch die Volkskammer der DDR mit der Kommunalverfassung im Mai 1990 den Rechtsstatus kommunaler Selbstverwaltung ein und regelte mit dem Kommunalvermögensgesetz vom Juli 1990 die diesbezüglichen Vorschriften. All das wurde von den Unterhändlern des Einigungsvertrages offensichtlich in ausgezeichneter Kooperation mit den Energieriesen, RWE-EnergieAG, PreussenElektra und Bayernwerk über Nacht gekippt, so daß die Kommunen maximal 49 % der Energieanlagen erhielten - und dies auch nicht in natura, sondern lediglich als Kapitalanteile. Gegen diese verfassungswidrige Regelung klagten nun 160 ostdeutsche Kommunen vor dem Bundesverfassungsgericht. Heraus kam ein Vergleichsvorschlag, der besser als die Ausgangslage ist und dennoch ein mehr oder weniger fauler Kompromiß bleibt. Es mutet schon mehr als merkwürdig an, wenn ein Gericht unrechtmäßig durch Stromkonzerne erworbenes Eigentum nicht eindeutig an die natürlichen und durch das Kommunalvermögensgesetz der DDR definierten Eigentümer, also an die Kommunen in Ostdeutschland, zurückgeben will. Man stelle sich diese Praxis einmal übertragen auf Ladendiebstahl vor. Nur geht es bei ersterem um wesentlich größere Beträge. Was bedeutet eine Einschränkung der Beteiligung von Kommunen an regionalen Energieversorgungsunternehmen? - Bei leitungsgebundenen Energieträgern können die Vorlieferanten die Preise und damit die Strukturen der nachgeordneten Abnehmer erheblich beeinflussen. Vorlieferanten, eben die Strom- und Gasmonopole wie RWE, Preussen-Elektra, Bayernwerk usw. sowie ihre Beteiligungsfirmen, sind an hohem Energieabsatz interessiert, weil nur dann die Dividende stimmt; somit besteht auch eher ein Interesse an Großkraftwerken und an weniger Kraft-Wärme-Kopplung. Kommunale Energiedienstleistungsunternehmen aber, die mehr sind als die Inkassoorganisationen für ihre Vorlieferanten, müssen sich an den Kriterien einer umweltfreundlichen, sozialverträglichen und ressourcenschonenden Energieversorgung orientieren. Die Interessen der Energiemonopole sind demnach mit denen der kommunalen Unternehmen ebenso unvereinbar wie mit den Interessen der betroffenen Bevölkerung sowie der regionalen Wirtschaftseinheiten. Der von der SPD vorgelegte Antrag ist nach Ansicht der Gruppe PDS/Linke Liste halbherzig und soll den Eindruck erwecken, als sei in Karlsruhe der große Sieg für die Kommunen herausgekommen. Liegt das möglicherweise daran, daß einige der Einbringer, so die Kollegen Reuschenbach und Berger, ehemals bzw. jetzt noch Aufsichtsratsmitglieder bei einigen der eingangs genannten Stromgiganten sind? Erste Hinweise aus den Kommunen ergeben inzwischen außerdem, daß offenischtlich der Befriedungsvorschlag von Karlsruhe unterschiedlich ausgelegt werden kann, so daß letztlich eine finanzielle Erpressung der Kommunen nicht ganz auszuschließen ist. Die konsequenteste Forderung wäre nach Ansicht der PDS/Linke Liste eine Annullierung der Stromverträge durch das Bundesverfassungsgericht und die grundsätzliche Neuverhandlung, um den Kommunen tatsächlich gerechte Anteile zu sichern. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Nächster Redner ist unser Kollege Klaus-Dieter Feige.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wieder einmal ist es nicht die Bundesregierung, sondern die Justiz, die die politischen Weichen stellt. Mit dem vom Bundesverfassungsgericht vorgeschlagenen Vergleich zur Klage von 164 Ostkommunen könnte nun endlich ein Streit beigelegt werden, der einen Neuanfang der Energiepolitik im Osten seit dem Sommer 1990 blockiert. Bisher hat die Bundesregierung durch ihr engstirniges Festhalten an den verschwenderischen Energieversorgungsstrukturen, die sie mit dem Stromvertrag auch im Osten zu zementieren gedachte, eine weiträumige Investitionsblockade im Energiebereich verschuldet. Die Annahme des angebotenen Vergleichs würde schnelle Investitionen in ökologisch sinnvolle KraftWärme-Kopplungs-Anlagen modernster Bauart ermöglichen - ein für Banken und Kommunen sicheres Geschäft. Jetzt liegt es an der Bundesregierung und an den Stromkonzernen, dem Vergleich zuzustimmen - die Kommunen haben das getan - und damit dem Aufbauwillen der ostdeutschen Kommunen nicht länger im Wege zu stehen. Die schnelle Umsetzung des Vergleichs ist ein nicht zu unterschätzender Schritt für die effiziente Neuorganisation unseres Energiesystems. Ich glaube, der Antrag der SPD steht auch diesen weiteren Verhandlungen nicht im Wege. Ich möchte an dieser Stelle auf ein Schreiben des Bürgermeisters der kleinen ostdeutschen Kreisstadt Ludwigslust an den Bundeskanzler verweisen, in dem es heißt, daß die politischen Vertreter aller Parteien der Stadt davon ausgehen, daß dem Bundeskanzler das Verhältnis zu den Städten in den neuen Ländern und die Unterstützung ihrer Aufbauleistungen mehr am Herzen liegt als die Geschäftsinteressen der Stromversorger und daß jede weitere Verzögerung einer Entscheidung den ohnehin schwierigen wirtschaftlichen Aufschwung in den ostdeutschen Bundesländern belastet. Weiter heißt es in dem vertrauensvollen Schreiben an den Kanzler: Sie können davon ausgehen, daß uns in Ludwigslust nicht Abenteuerlust oder die schnelle Auffüllung der Stadtkassen zur Gründung von Stadtwerken bewogen haben, sondern eine Menge Erfahrungen aus den alten Ländern, die zeigen, daß in kommunalen Querverbundunternehmen die Aufgaben wirtschaftlich, organisatorisch effizient und bürgernah gelöst werden können. Nehmen Sie sich diese Worte zu Herzen und stimmen Sie dem Vergleichsvorschlag zu. Ich möchte abschließend insbesondere an die Kolleginnen und Kollegen aus Ostdeutschland appellieren: Lassen wir es dabei nicht bewenden! Die weitergehende Unterstützung für ein richtungsweisendes energiepolitisches Handeln der Kommunen im Osten wie im Westen ist der notwendige nächste Schritt. Dies ist nur eine erste Etappe. Wir brauchen einen neuen ökologisch orientierten Gesamtrahmen, der den nötigen tiefgreifenden Strukturwandel unseres Energiesystems nachhaltig anbahnt. Das Acht-Punkte-Programm „Energiewende" vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN benennt die dafür notwendigen Maßnahmen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile das Wort jetzt unserem Kollegen Reinhard Weis.

Reinhard Weis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002457, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Damen und Herren! Ich hoffe, ich langweile das Hohe Haus am Ende der Debatte jetzt nicht damit, daß ich schon wieder ein Stendaler Beispiel aus dem konfliktreichen ostdeutschen Leben vorstelle, nämlich die wiedergegründeten Stadtwerke Stendal. Nicht von ungefähr hat das Verfassungsgericht seine öffentliche Verhandlung über die Klage von 164 ostdeutschen Kommunen gegen den kommunalfeindlichen Stromvertrag in Stendal durchgeführt. Stendal ist eine der Kommunen, die sofort nach der Verabschiedung des Kommunalvermögensgesetzes der DDR Ansprüche auf die örtlichen Netze für leitungsgebundene Energieträger erhoben. Bis zum Beginn der 50er Jahre hatte Stendal Stadtwerke in den Sparten Elektro, Gas und Wasser. Diese wurden dann im Zuge der Errichtung der Bezirksenergiekombinate entschädigungslos enteignet. Das neue Gesetz der ersten demokratisch gewählten Volkskammer ermöglichte hier eine Wiedergutmachung. Schon Ende 1989 bestand die Chance, ein kommunales Energiekonzept aufzubauen, dessen Kernstück der Neubau eines Heizkraftwerkes ist, das den hohen Anteil femwärmebeheizter Wohnungen kostengünstiger mit Fernwärme versorgen soll, und zwar gleichzeitig durch Anwendung der Kraft-Wärme-Kopplung. Das heißt, die Stadt Stendal wird u. a. einen beträchtlichen Beitrag dazu leisten, ihre Kohlendioxidemissionen wirkungsvoll einzuschränken. Diese positive Entwicklung wurde durch den Stromvertrag jäh unterbrochen, weil dadurch den Kommunen die eigenständige Verfügung über die Leitungsnetze - das ist eine wesentliche Voraussetzung zum Betrieb profitabler Stadtwerke - entzogen werden sollte. Nun will ich Ihnen an Hand eines einzigen Zahlenbeispiels zeigen, warum sowohl die Stadt Stendal als auch das Regionalunternehmen so verbissen um die Mittel- und Niederspannungsnetze auf dem Stadtgebiet kämpfen. Die Stadtwerke Stendal müssen bei der heutigen Regelung die Elektroenergie für 17 Pf/kWh vom Regionalunternehmen einkaufen, erhalten ihrerseits vom Regionalunternehmen für selbsterzeugte Elektroenergie aber nur 10,5 Pf/kWh ({0}) und müssen diese über ein fremdes Netz verteilen lassen. Könnten die Stadtwerke die selbsterzeugte Elektroenergie allerdings über das eigene Netz direkt an die Bürger der Stadt Stendal verkaufen, entspräche allein diese Differenz von 6,5 Pf/kWh bei der vorausberechneten Erzeugung einem Nettogewinn von immerhin 7,5 Millionen DM pro Jahr, ({1}) bei der dramatisch angespannten Haushaltslage weiß Gott kein Pappenstiel für unsere 50 000-EinwohnerKommune. Es kann uns Parlamentariern bei der gegebenen Situation der öffentlichen Finanzen unter diesen Reinhard Weis ({2}) Aspekten doch nicht gleichgültig sein, wenn durch den verfassungsrechtlich zumindest fraglichen Stromvertrag den Kommunen, bei denen sich Stadtwerke in der Elektrosparte rechnen, sichere Einnahmequellen verlorengehen und die Gewinne statt in der kommunalen in einer privaten Kasse klingeln. Ich appelliere deshalb an Sie, der Bundesregierung, speziell dem Wirtschaftsminister, aufzutragen, den Vergleichsvorschlag des Bundesverfassungsgerichts anzunehmen ({3}) und die Treuhandanstalt zu beauftragen, die notwendigen Entflechtungen und Eigentumsübertragungen kurzfristig zu veranlassen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, nun erteile ich zum Schluß dieser Debatte dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft, unserem Kollegen Heinrich Kolb, das Wort.

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt die Verständigungsempfehlung des Bundesverfassungsgerichts, den Streit um die Struktur der ostdeutschen Stromversorgung und die Rolle der Kommunen durch eine außergerichtliche Einigung zu beenden. Im Kern läuft der Vorschlag darauf hinaus, daß die Städte die örtlichen Versorgungsanlagen Zug um Zug gegen ihre Kapitalbeteiligungsansprüche am Regionalversorger nach dem Kommunalvermögensgesetz herausverlangen können, wobei diese Möglichkeit natürlich nur für solche Städte in Betracht kommt, denen die Energieaufsicht des Landes die Aufnahme der Stromversorgung genehmigt. Damit werden die Voraussetzungen verbessert, auch in den neuen Bundesländern leistungsstarke und wettbewerbsfähige Stadtwerke zu schaffen. Bei der Weiterentwicklung der Struktur der Stromversorgung in Ostdeutschland gilt es, die gesamtwirtschaftlichen Notwendigkeiten zu berücksichtigen. Vor allem die wirtschaftliche Zukunft der ostdeutschen Braunkohle darf nicht gefährdet werden. Dies setzt - ich betone das - einen bis weit über das Jahr 2000 hinaus gesicherten Absatz des Braunkohlestroms voraus. Dieser Absatz wäre in Frage gestellt, wenn ostdeutsche Städte ihren Bedarf nicht ganz überwiegend durch Braunkohlestrom decken würden. Zugleich würde dem gewaltigen Investitionsprogramm der Stromwirtschaft in Höhe von über 60 Milliarden DM die Basis entzogen. Vor diesem Hintergrund ist es ausdrücklich zu begrüßen, daß Oberbürgermeister Rommel in Absprache mit dem Bundesminister für Wirtschaft die Initiative ergriffen und die Beteiligten zu Gesprächen eingeladen hat. Die zweite Gesprächsrunde hat gestern in Frankfurt ausführlich und, wie ich betone, konstruktiv die Probleme erörtert, die sich aus dem Einigungsvorschlag des Gerichts ergeben. Alle Seiten zeigten sich bemüht, zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen. Da viele schwierige Einzelaspekte vertieft erörtert werden müssen, wurde eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die bereits nächste Woche tagen und einen Kompromißtext vorbereiten soll. Das Bundesverfassungsgericht wird gebeten, die Äußerungsfrist zu seiner Verständigungsempfehlung, die am Montag abläuft, bis zum 20. Dezember 1992 zu verlängern. Ich möchte daher auch von dieser Stelle nochmals an alle Beteiligten appellieren, aufeinander zuzugehen. Wir brauchen eine gemeinsame Lösung, die leistungsstarke und wettbewerbsfähige Stadtwerke ermöglicht, jahrelange Auseinandersetzungen vermeidet und die gesamtwirtschaftlich dringend notwendigen Investitionen in Braunkohle und Braunkohlekraftwerke sichert. Ich bin zuversichtlich, daß wir dieses Ziel mit allen Beteiligten bald erreichen können. Danke. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache; weitere Wortmeldungen liegen nämlich nicht vor. Inzwischen - vorher gab es eine andere Absicht - wird interfraktionell vorgeschlagen, die Vorlage auf der Drucksache 12/3624 an den Ausschuß für Wirtschaft zu überweisen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist diese Überweisung so beschlossen. Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Fremdenverkehr und Tourismus ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich Adam, Anneliese Augustin, Dietrich Austermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Gisela Babel, Günther Bredehorn, Dr. Olaf Feldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Förderung des Fremdenverkehrs in den neuen Bundesländern - Drucksachen 12/1323, 12/3286 Berichterstattung: Abgeordnete Klaus Brähmig Dr. Peter Eckardt Dr. Olaf Feldmann Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache drei viertel Stunden vorgesehen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile unserem Kollegen Olderog das Wort. Bitte sehr!

Dr. Rolf Olderog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU- Bundestagsfraktion hat am 16. Oktober im Kulturpalast in Dresden eine große Fachtagung zum Aufbau der Fremdenverkehrswirtschaft in den neuen Ländern mit Spitzenpersönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Verbänden als Referenten und rund 200 Fachleuten der Branche durchgeführt. Ich möchte als Ergebnis dieser Tagung hervorheben: Erstens. Die Investitionen im Fremdenverkehr in den neuen Ländern lohnen sich. Zu Recht haben Sie, Herr Staatssekretär, in Dresden darauf hingewiesen. Es gibt kaum einen anderen Wirtschaftssektor, in dem vergleichsweise so wenig Kapital so rasch Arbeitsplätze und Einkommen schaffen kann. Der Fremdenverkehr ist geradezu ein ideales Feld für Investoren. Die neuen Länder haben alle Chancen, bevorzugte Urlaubs- und Reisegebiete zu werden. Wie viele herrliche Landschaften und wieviel weitgehend unberührte Natur! Es gibt einen großen Nachholbedarf. Die Nachfrage übersteigt bei weitem das fremdenverkehrswirtschaftliche Angebot. Die neuen Länder bieten kaum mehr als 200 000 Betten. Das sind nur 10 % des deutschen Angebots, 100 000 Betten zuwenig. Zudem wird die Nachfrage nach touristischen Angeboten auch in Deutschland noch weiter wachsen. Ich appelhere an die Landesregierungen und Kommunen: Nutzen Sie die Chance im Fremdenverkehr. Der Fremdenverkehr ist ja auch ein kräftiger Impulsgeber für Handwerk, Handel und andere Dienstleistungsbereiche. Aus den Erfahrungen im Westen wissen wir, daß ein intensiver Fremdenverkehr in landschaftlich bevorzugten Räumen sehr wohl den Einwohnern eine wirtschaftliche Lebensgrundlage bieten kann. Auch für attraktive historische Städte gibt es besondere Chancen. ({0}) Mein Wahlkreis Ostholstein z. B. wäre ohne den Fremdenverkehr längst völlig ausgeblutet. Unsere guten Erfahrungen im Fremdenverkehr Westdeutschlands sollten Investoren in den neuen Ländern nachdrücklich ermutigen. Zweitens. Die Treuhand wird Mitte 1993 die Privatisierung touristisch nutzbarer Gebäude und Grundstücke abschließen. Jetzt müssen wir eine neue Aufbauphase für den Tourismus starten. Mit aller Energie müssen wir darauf hinwirken, daß die dringend erforderlichen Neubauten von Hotels, Pensionen und Restaurants erfolgen. Noch wichtiger sogar ist der Aufbau einer touristischen Infrastruktur, also von modernen Gemeinschaftseinrichtungen für Unterhaltung, Sport und Gesundheit. Nur wenn wir diesen Investitionsprozeß energisch vorantreiben, gewinnt das touristische Angebot in den Urlaubsgebieten der neuen Länder bald jene Qualität, die diese Gebiete international wettbewerbsfähig macht. Ja, sie werden in einigen Jahren sogar die Chance haben, in Deutschland und Europa Spitze zu sein. ({1}) Aber Neubauten im großen Stil setzen etwas Entscheidendes voraus, Herr Feldmann: Länder und Kommunen müssen endlich ihre Entwicklungspläne vorlegen. Die Investoren brauchen Entscheidungen: Wo sollen touristische Schwerpunkte entstehen? Welchen Charakter sollen sie haben? Wie sichern wir den notwendigen Schutz wertvoller Landschaft? Wie erfolgt ein erträglicher Ausgleich zwischen Ökonomie und Ökologie? Bis heute hat leider - ich bedaure das sehr - nicht ein einziges der neuen Länder einen Landesentwicklungsplan vorgelegt. Es darf aber nicht so sein, daß etwa große touristische Projekte unter dem Druck millionenschwerer Investoren einfach in die Landschaft gesetzt werden. Ohne anspruchsvolle Planung darf kein großes Investitionsprojekt erfolgen. Drittens. Zur Frage eines umweltverträglichen Tourismus spreche ich nachdrücklich dagegen, die Touristen gleichsam wie mit der Streudose über die Landschaft zu verteilen. Ich plädiere dafür, Schwerpunkte zu bilden und auch ja zu größeren Projekten zu sagen, wenn - und darauf kommt es an - sie außerhalb sensibler Räume entstehen, wenn sie sich in ihrer Architektur der Landschaft anpassen und wenn zum Ausgleich an derer Stelle große Naturräume völlig frei belassen werden. Versteigen wir uns nicht in Illusionen. Ohne eine gewisse Intensität kann der Tourismus in strukturschwachen Räumen nicht die dringend gewünschten Arbeitsplätze und Einkommen erreichen. Ein rein ökologischer Tourismus - gleichsam elitär, nur für Naturfreunde, für Wanderer, für Freunde der Einsamkeit - bringt nun einmal nicht die wirtschaftlichen Impulse. Gut geplante Großprojekte erhöhen nicht die Belastung für die Umwelt. Im Gegenteil: Sie reduzieren sogar die Belastung. Dies war auch die Auffassung touristischer Umweltexperten bei einer öffentlichen Anhörung des Fremdenverkehrsausschusses des Bundestages am 12. Oktober. Viertens. Ich möchte ausdrücklich eine Lanze für Privatquartiere brechen. Für viele Familien bedeuten Fremdenzimmer und Pensionen eine unverzichtbare zweite Einkommensquelle. Fünftens. Schließlich plädiere ich dafür, für eine Übergangszeit weiter Mittel für ABM-Kräfte zur Verfügung zu stellen. Fremdenverkehrsverbände und Verkehrsämter sind auch im nächsten Jahr ohne ABM-Kräfte überhaupt nicht vorstellbar. Kürzen wir diese Mittel drastisch, so schlagen wir diesen Organisationen das Standbein weg. Die ABM-Kräfte haben in den neuen Ländern in schwieriger Zeit großartige Pionierarbeit geleistet. Sie haben Anerkennung und Unterstützung verdient. Meine Damen und Herren, eine Schlußbemerkung: Wir tun uns schwer, die innere Einheit Deutschlands zu vollenden. Tourismus kann Brücken schlagen. Nichts baut wirkungsvoller Vorurteile ab, als den anderen Teil Deutschlands persönlich zu besuchen. Werben wir gemeinsam dafür, daß möglichst viele Deutsche diese persönlichen Eindrücke erfahren. Dr. Rolf Olderog Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Carl Ewen.

Carl Ewen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000504, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In seltener Einmütigkeit trifft der Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Beschlußempfehlungen, so auch zur Förderung des Fremdenverkehrs in den neuen Bundesländern. Nur: Die Bundesregierung unternimmt keine Anstrengungen, die Beschlußempfehlungen des Ausschusses umzusetzen. Das sage ich, auch wenn der Bundestag formal erst heute beschließt. Schließlich stammt der Antrag vom Oktober 1991, und die Ausschüsse haben im März bzw. Mai 1992 votiert. Aus zahllosen Konferenzen, Gesprächen vor Ort und praktischen Hilfeleistungen wissen wir alle, welcher Einsatz für die Entwicklung leistungsfähiger touristischer Strukturen in den neuen Ländern nötig ist. Ich nenne nur einige Punkte: die fehlende touristische Infrastruktur; der Mangel an Hotels und Gastronomiebetrieben, die qualitativ anspruchsvolle Leistungen anbieten, verbunden mit einer Verbesserung des Preis-Leistungs-Verhältnisses; die schleppende Privatisierung durch unzureichende personelle Ausstattung der Vermögensämter; unverhältnismäßig hohe Steigerungen bei den Gewerbemieten in der Gastronomie; die Qualifikation der im Tourismus Beschäftigten. Wir wissen, daß die Lage im industriellen Sektor noch entmutigender ist, als bisher angenommen wurde. Die Produktivität sinkt, und die Beschäftigungszahlen werden ständig nach unten korrigiert. Der Tourismus ist nach wie vor in den landschaftlich attraktiven, aber strukturschwachen Regionen der Küste und der Mittelgebirge oft der einzige Hoffnungsträger. Er wird als Motor des wirtschaftlichen Aufschwungs gesehen. Im Tourismus liegen Chancen für mittelständische Existenzgründer. Investitionen in Hotels, Gaststätten und Freizeiteinrichtungen in Verbindung mit den Ausgaben der Urlaubsgäste sichern weitere Arbeitsplätze im Handel und im Versorgungsbereich, im Dienstleistungssektor, in der Bauindustrie und auch in der Landwirtschaft. Nach hoffnungsvollem Beginn - Kollege Olderog hat darauf hingewiesen - droht nun auch im Tourismus Stagnation, weil das Interesse der Politik offenbar nachläßt. Die Probleme stecken im Detail. Wer die Sorgen der touristischen Anbieter kennt, der weiß, wie frustrierend und manchmal auch demütigend der Bittgang zu den Banken um Finanzierungsdarlehen oder Verhandlungen mit der Treuhandanstalt und den kommunalen Behörden sein können. Dazu kommt oft noch die Konkurrenz zu kapitalkräftigeren Spekulanten aus dem Westen und nicht zuletzt die Rechtsprechung zum Vermögensgesetz. Wer öfter vor Ort ist, lernt auch die Stimmung in der einheimischen Bevölkerung kennen, die sich im Stich gelassen fühlt durch eine Politik der Bundesregierung, die immer auch eine Politik für die stärkeren Teile der Gesellschaft war und ist. ({0}) Leider gehört der größte Teil der Bürger in den neuen Ländern nicht zu den Starken. Die SPD hat den Antrag und die Beschlußempfehlung in der Hoffnung, daß die Maßnahmen schnell umgesetzt werden, unterstützt. Wir fragen nun: Wo sind die handhabbaren Kriterien zur Bewertung touristischer Vorhaben? Wo findet die dringend notwendige Koordinierung der Fremdenverkehrspolitik zwischen Bund und Ländern statt? Welche touristischen Schwerpunktregionen wurden ausgewiesen, und wie wird die Vergabe von Fördermitteln für diese Schwerpunkte koordiniert? Wie wurde das Förderinstrumentarium auf die besonderen Bedürfnisse mittelständischer Existenzgründer und wie auf umwelt- und sozialverträgliche Tourismusformen abgestimmt? Warum sind in der Treuhandanstalt die Kompetenzen für touristische Objekte noch immer nicht in einem Direktorat mit echten Befugnissen gebündelt? Wo sind denn wenigstens Ansätze zu erkennen, daß sich die Bundesregierung um eine Lösung der Probleme bemüht? Das alles sind Punkte aus der Beschlußempfehlung. Die Bundesregierung hat, soweit wir erkennen können, nicht gehandelt. Wir erleben die Abkehr vom Grundsatz der Vereinbarkeit zwischen Ökonomie und Ökologie. Der Naturschutz wird in den neuen Ländern immer mehr als Bremsklotz für die touristische Entwicklung angesehen, und angesichts der zurückgehenden Investitionsbereitschaft der Privatwirtschaft muß jeder Investor umworben werden. Investitionsfeindlichkeit wird zum neuen Totschlagargument gegenüber dem Naturschutz. Dabei bestanden berechtigte Hoffnungen, die teilweise unberührte Landschaft durch sozial- und umweltverträgliche Tourismusformen zu erhalten und zu gestalten. Hier muß die Bundesregierung eingreifen und eine Koordinatorrolle übernehmen. Sie muß zwischen den unterschiedlichen Interessen vermitteln, Lösungen anbieten. Sie muß auch dort koordinierend wirken, wo es um die Sicherung von Arbeitsplätzen im Tourismus geht. Was hat die Bundesregierung getan? Sie hat das Personal im Bundeswirtschaftsministerium gewechselt, und sie hat eine Broschüre über die Fördermöglichkeiten aufgelegt. Sie hat aber nicht geholfen, wenn die Fördermittel nicht die Adressaten erreichen konnten, weil die Banken an ERP-Darlehen und Eigenkapitalhilfen nicht genug verdienen. Sie war nicht flexibel genug, den Fremdenverkehrsverbänden durch die Weitergewährung von Mitteln für ABM-Stellen zu helfen, damit deren Arbeit weiterhin geleistet werden kann. Statt dessen hat sie die wirksame Investitionspauschale abgeschafft. Die schleppende Privatisierung der ehemaligen Ferienobjekte ist noch immer das Haupthindernis für die touristische Entwicklung in den neuen Ländern. Wenn einige Regionen stolz Auslastungsquoten von 90 bis 100 % melden, dann heißt das mit anderen Worten, daß in erheblichem Umfang noch Betriebe und Betten fehlen, denn sonst wäre eine derartige Auslastung nicht möglich. Die nicht mehr bewirtschafteten Häuser verfallen zusehends; dringend notwendige Investitionen für die Modernisierung werden durch Rechtsunsicherheit bei Pacht- und Kaufverträgen verhindert. Die Neufassung des Vermögensgesetzes hat eine Reihe von Mängeln der alten Fassung beseitigt. Das falsche Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" bleibt allerdings bestehen. Ständig müssen für neu auftretende Probleme bei der Privatisierung und Vermögenszuordnung Einzel- und Grundsatzentscheidungen getroffen werden, die den Prozeß unnötigerweise in die Länge ziehen. Die Arbeit der Treuhandanstalt ist dadurch nicht einfacher geworden. Die jüngsten Zahlen über die Privatisierungserfolge der Treuhandanstalt zeigen, wie mühsam die Bearbeitung der Fälle vorangeht. Zu Beginn des November 1992 waren insgesamt erst rund 20 % der Betriebsferienheime verkauft oder verpachtet. Bei den Kaufverhandlungen für weitere Objekte können sich die Vertragsabschlüsse über Monate hinziehen. Besser ist die Lage bei den Fedi-Heimen. Leider hat hier kürzlich die Unabhängige Kommission die Bremse gezogen und von den Kommunen die Auskehr der Erlöse aus der Verwertung der Fedi-Heime verlangt, obwohl die Heime den Kommunen im März 1991 im Rahmen des Aufschwung Ost angeboten und die überschießenden Erlöse für Aufgaben nach § 2 des Kommunalverfassungsgesetzes überlassen wurden. Es ist unverständlich, daß sich die Unabhängige Kommission nicht an einvernehmlich gefaßte Beschlüsse gebunden fühlt. Was ist nun zu tun? Die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages vom 24. Juni 1992 muß konsequent umgesetzt werden: Alle geeigneten Ferienheime und Hotels in den Touristengebieten der neuen Länder, bei denen Eigentums- und Vermögensfragen noch ungeklärt sind, sollen spätestens bis Ende 1992 wenigstens zur Nutzung zur Verfügung stehen. Pächtern muß Investitionssicherheit durch den Abschluß langfristiger Pachtverträge mit Investitionsschutz und Vorkaufsrecht gegeben werden. Der Sanierungsauftrag der Treuhandanstalt ist auf den Fremdenverkehrsbereich auszuweiten. Große touristische Einrichtungen sind oft auf Grund hoher Sanierungs- und Umstrukturierungskosten und unsicherer Rentabilitätsaussichten nicht verkäuflich. Schließungen haben ähnlich negative Effekte auf die regionale Wirtschaftsstruktur wie im Fall von großen Industrieunternehmen. Die öffentliche Hand muß sich für eine Übergangszeit direkt beteiligen dürfen. Der Schlüssel zur Entwicklung leistungsfähiger touristischer Strukturen liegt in der kommunalen Infrastruktur. Das Investitionsklima wird immer schlechter, weil keine Mittel für die infrastrukturelle Grundversorgung bereitstehen. Die seriösen Investoren ziehen sich zurück; für sie ist der Markt noch nicht reif. Die Handlungsfähigkeit der Kommunen ist ßlokkiert. Wichtige infrastrukturelle Erschließungsmaßnahmen ersticken im bürokratischen Dickicht oder gehen im Finanzloch unter. Privates Investitionskapital kommt nicht zum Zuge, weil Aufsichtsbehörden entscheiden, daß Infrastrukturdienstleistungen ausschließlich von den Kommunen zu erbringen sind. Die Kommunen dürfen sich jedoch nicht mehr verschulden, und eigene GmbH-Gründungen werden oft nicht gestattet. Touristisch nutzbare Objekte bleiben aus Mangel an Alternativen als Wohnraum zweckentfremdet und stehen dem Markt nicht zur Verfügung. Kern des Problems ist dabei nicht der Mieterschutz, der Hotelbetten blockiert. Die verfehlte Wohnungsbaupolitik schafft nicht genügend bezahlbaren Wohnraum, damit die Mieter umziehen können. ({1}) - Dies geht alle an. In der Beschlußempfehlung steht, Herr Kollege Rüttgers, daß die Bundesregierung darauf hinwirken möge, daß sie koordinieren möge. Wir wissen, daß die Bundesregierung nicht überall Verantwortung trägt, aber das Zusammenwirken von Bund und Ländern macht doch erst die Qualität des Lebens in unserer Republik aus. ({2}) Das Fazit lautet: ohne Wasserversorgung keine Investition; ohne Kläranlage keine Gewerbeinvestition; ohne Nachweis der Beratung durch eine Westfirma keine Entscheidung durch die Behörden; mit Beratung keine Entscheidung, da das Geld fehlt; ohne sozialen Wohnungsbau keine freien Gästeunterkünfte. So sieht die Spirale des Untätigbleibens aus. Was auf dem Gebiet der Vermögensrückgabe an enteignete Organisationen geschieht oder, besser gesagt, nicht geschieht, ist ein trauriges Kapitel. Auch das gehört zum Fremdenverkehr. Rotes Kreuz, Jugendherbergswerk, Arbeiterwohlfahrt, Naturfreunde, Paritätischer Wohlfahrtsverband, Gewerkschaftsbund, Falken: Sie alle erbringen Leistungen im gemeinnützigen Bereich, den der Staat nicht abdecken kann. Sie wollen Häuser für die Jugend- und Familienerholung, für Jugendbegegnung, für Hilfeleistungen oder für allgemeine gemeinnützige Zwecke nutzen. Sie stellen neben Betreuung und Hilfe auch Arbeitsplätze im sozialen Bereich zur Verfügung, Sie wollen vor allem die Liegenschaften wieder in Betrieb nehmen, von denen sie im Dritten Reich und durch die DDR teilweise doppelt enteignet wurden. Sie können in vielen Fällen durch lückenlose Grundbucheintragungen und umfangreiche Recherchen ihre Besitzansprüche nachweisen. Sie alle warten darauf, daß die Vermögensämter die Restitutionsansprüche anerkennen, um endlich Investitionen vornehmen zu können oder um bereitstehende Fördermittel abrufen zu können, die ansonsten verfallen. Die längst fällige Grundsatzentscheidung über die vermögensrechtlichen Ansprüche dieser Organisationen wird nicht getroffen. Mit immer neuen Winkelzü10302 gen wird versucht, auf bürokratischem Wege die Entscheidung hinauszuzögern. Das ist ein unerträglicher Zustand. Das 2. Vermögensrechtsänderungsgesetz verweist die Petenten auf den Klageweg. Dieser kann nicht beschritten werden, weil keine rechtsfähige Entscheidung mitgeteilt wird. Hier hilft nur - das rufe ich uns allen hier im Parlament zu - eine Novelle zum 2. Vermögensrechtsänderungsgesetz. Es muß im Grundsatz Marge-stellt werden, daß von den Nationalsozialisten enteignete gemeinnützige Organisationen oder ihre Vorläufer unabhängig vom Status der Funktions- oder Rechtsnachfolge den alten Besitz zurückerhalten oder dafür entschädigt werden, ({3}) und zwar unter der Maßgabe, daß sie in den nächsten 25 Jahren die Einrichtungen im Sinn der Gemeinnützigkeitsverordnung betreiben oder aber die Entschädigung zum Aufbau von Einrichtungen in den neuen Ländern bzw. dort für die Aufgabenerfüllung nutzen. Hier helfen nicht juristische Spitzfindigkeiten, sondern hier hilft allein der politische Wille, für gesetzliche Klarheit zu sorgen. Wie unangenehm müssen es die Anspruchsberechtigten empfinden, wenn sie gewahr werden, daß der Staat selbst zu denen gehört, die unrechtmäßig enteignetes Vermögen meistbietend verkaufen wollen? Soll den Kommunen in ihrer schwierigen finanziellen Lage nun auch noch zugemutet werden, daß sie die in der Regel von gemeinnützigen Institutionen erbrachten Leistungen selbst bereitstellen müssen? Soll in dieser schwierigen Zeit auf soziale Leistungen für Jugendliche, Hilfsbedürftige, Mütter und Kinder verzichtet werden müssen? Es bleibt noch viel zu tun, wenn sich die Bundesregierung an das Votum des Bundestages halten will. Das ist nicht allein mit der Erhöhung der finanziellen Leistungen für den Aufbau des Tourismus in den neuen Ländern verbunden. Es bedarf vor allem einer weitsichtigen Tourismuspolitik, die von Bund, Ländern und Kommunen getragen wird und die gleichzeitig in der Lage ist, effizient all die kleinen Hindernisse zu beseitigen, die die Arbeit der Verantwortlichen in den neuen Ländern so schwer machen. Da ich nicht zu den Pessimisten zähle, hoffe ich, Herr Staatssekretär, daß nach der Beschlußfassung des Deutschen Bundestages am heutigen Tage in kurzer Frist die notwendigen Maßnahmen vorgenommen werden. Die Verantwortlichen haben gewiß längst alle Vorbereitungen getroffen. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt der Kollege Olaf Feldmann.

Dr. Olaf Feldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Vielen Dank, daß ich heute noch die Gelegenheit habe, das neue Rede- und Plenumsgefühl von dieser Stelle, vom Rednerpult aus zu erfahren. ({0}) - Passen Sie auf, Herr Eckardt, der Inhalt kommt auch noch. Die hier vorliegende Beschlußempfehlung geht auf eine Anhörung der F.D.P. zur „Situation des Fremdenverkehrs in den neuen Bundesländern" im Frühjahr 1991 hier in Bonn zurück. Seither ist viel geschehen. Heute kann man sagen, der Fremdenverkehr hat Tritt gefaßt. Herr Kollege Ewen, Tourismus ist nun einmal Ländersache. Sie wissen, der Bund kann nur koordinierend tätig sein. Der Bund hat hier seine Aufgabe voll erfüllt. Ich darf feststellen: Die Umstrukturierung - da werden Sie wohl auch zustimmen können, Herr Kollege Ewen - vom Zuteilungs- und Verteilungstourismus zum Tourismus in der Marktwirtschaft ist gelungen. Der Tourismus hat sogar die Chance, in den neuen Bundesländern zu einem Musterknaben der Marktwirtschaft zu werden. Die Saison 1992 war gut. Doch in einigen landschaftlich durchaus reizvollen, aber weniger bekannten Gebieten zeigte sich 1992 trotzdem eine Stagnation in der touristischen Nachfrage. In den touristischen Zentren war die Auslastung gut, aber das reicht nicht. Es fehlt eine bessere Auslastung in der Vor- und der Nachsaison, es fehlt auch die touristische Infrastruktur insgesamt. In der Gastronomie im ländlichen Raum, abseits der touristischen Hochburgen, zeigen sich bereits heute Rentabilitätsprobleme, die bei nachlassender Konjunktur - darauf sollte man auch rechtzeitig hinweisen - schnell zu Pleiten führen können. Hier heißt es aufpassen. Die Entwicklung des Fremdenverkehrs in den neuen Bundesländern war 1992 ein Schwerpunkt der Arbeit des Ausschusses für Fremdenverkehr und Tourismus und wird es wohl auch im Jahre 1993 noch sein müssen. Alle Fraktionen haben diese Aufgabe sehr ernst genommen und sich durch Besuche ihrer Arbeitsgruppen vor Ort in den neuen Bundesländern informiert. ({1}) Das haben alle Gruppen und Fraktionen des Parlaments gemacht. Die Treuhand, der wir Fremdenverkehrspolitiker gelegentlich ganz schön Dampf gemacht haben, hat trotz des schwierigen Umfelds insgesamt gute Arbeit geleistet. Auch wenn hier bemängelt wurde, daß bei der Treuhand nicht alles in einer Hand zusammengefaßt wurde, was mit Tourismus zu tun hat, obwohl wir als Fremdenverkehrspolitiker dies immer gefordert haben, muß man doch sagen: Den Koordinator für den Tourismus haben wir durchgesetzt, und insgesamt haben wir der Treuhand durch unsere Vorschläge ganz schön Dampf gemacht. ({2}) Mittlerweile sind alle wichtigen Fremdenverkehrsprojekte am Markt, d. h. zurückgegeben, verkauft oder verpachtet, die Tourismusprivatisierung insgesamt geht ins letzte Jahr, ({3}) Wir haben es ja gerade in der letzten Ausschußsitzung gehört, daß bis zum Sommer die meisten Objekte endgültig privatisiert werden sollen. - Herr Kollege Ewen, was wollen Sie? Sie können doch nur erfolgreich verkaufen, wenn Sie gute Objekte und zahlungskräftige und qualifizierte Investoren haben. An beiden herrscht aber mittlerweile doch schon ein gewisser Mangel. Viele Betriebsferienheime sind gar nicht marktfähig und viele Ferienheime auch nicht. Sie sind zu alt, zu klein und in allzu schlechtem Zustand. Viele Bürger und auch viele Bürgermeister und Landräte werden von einigen Objekten und einigen liebgewordenen Träumen Abstand nehmen müssen, weil sie sich nicht rechnen. Es macht auch keinen Sinn, in unrentable Objekte gutes, teures Geld zu stecken. Ich möchte in diesem Zusammenhang einen neuen Punkt in die Debatte einbringen. Beim Aufschwung Ost haben vor allem die Kreditinstitute eine Schlüsselfunktion. Sie haben die Aufgabe, Finanzierungsvorhaben sorgfältig zu prüfen. Das dient nicht nur der eigenen Sicherheit der Kreditinstitute, sondern auch der Sicherheit der Investoren. Bankenschelte ist daher unangebracht. Trotzdem: Manche Banken tun zuviel des Guten und behindern dadurch den Aufschwung Ost. Banken neigen nun einmal dazu, Geld nur denen zu leihen, die nachweisen können, daß sie eigentlich gar kein Geld brauchen. Banken leben vom Geldverleihen, am besten vom Verleihen des eigenen teuren Geldes, und scheinen deshalb gelegentlich den Hinweis auf die günstigen öffentlichen Mittel wie Eigenkapitalhilfe und ERP-Kredite zu verdrängen. Die Banken - das gilt besonders in den neuen Bundesländern - haben aber auch eine Beratungs- und Informationspflicht, und der müssen sie auch verstärkt nachkommen. ({4}) Die Bearbeitungszeit ist dabei gelegentlich viel zu lang; auch das haben wir zu beklagen. Es darf nicht sein, daß die Kreditinstitute nur die Rosinen im Kuchen finanzieren und daß ein Hoffnungsträger für den Aufschwung Ost von den Banken zur Risikobranche abgestempelt wird. Hierüber muß sich der Wirtschaftsminister bald mit den Spitzenvertretern des Kreditgewerbes unterhalten. Angesichts der bevorstehenden Haushaltswoche appelliere ich aber auch an die Kolleginnen und Kollegen aus dem Haushaltsausschuß und von der Regierung, das Kredithilfeprogramm nicht einzustellen, sondern ordentlich auszustatten. Es ist ein wirtschaftspolitisch notwendiges und ordnungspolitisch richtiges Instrument. Eventuell kann man durch Zusammenlegung von Eigenkapitalhilfe und ERP eine sinnvolle Konzentration bei der Existenzgründung insgesamt erreichen. Die F.D.P. regt deshalb an: eine Fortschreibung der Eigenkapitalhilfe über 1992 hinaus, eine Verlängerung der Dreijahresfrist, eine Erhöhung der Höchstförderbeträge sowie eine Flexibilisierung oder Modernisierung der Richtlinien, um den besonderen Verhältnissen in den neuen Bundesländern besser Rechnung tragen zu können. ({5}) Wir dürfen nicht immer nur von Existenzgründung und Mittelstand reden, sondern wir müssen etwas tun. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, die nächste Rednerin ist unsere Kollegin Angela Stachowa.

Angela Stachowa (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002211, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon ein gutes Gefühl zu sehen, daß es im Bereich des Fremdenverkehrs und des Tourismus in den neuen Bundesländern etwas vorangeht. Kein Grund zu Euphorie, aber Grund für Hoffnung, daß die Weichen richtig gestellt sind. ({0}) Durchdachte Entwicklungskonzeptionen sind jetzt mehr denn je nötig, die den Zusammenhang von Ökonomie, Ökologie und Tourismus streng berücksichtigen. Der Nachholbedarf auf diesem Gebiet ist und bleibt im Vergleich zu den alten Bundesländern unverändert hoch. Allein quantitativ: Ein Angebot von nur wenig mehr als 2 Millionen Betten, also ungefähr 10 % des gesamtdeutschen Angebots, erfordert schon Anstrengungen, um gleichzuziehen. Nicht zu übersehen ist aber eine Verbesserung in Qualität und Quantität, insbesondere in den traditionellen Urlaubsgebieten im Osten Deutschlands. Viele getätigte Investitionen beginnen sich auszuzahlen. Aber insgesamt sind es deren doch noch zu wenig. Das hängt zusammen mit den noch immer sich hinschleppenden Privatisierungen bzw. Verkäufen von Beherbergungsbetrieben, ehemaliger FDGB-Heime und anderer Ferieneinrichtungen, aber auch mit dem Fehlen finanzieller Mittel auf der mittelständischen Ebene in den neuen Bundesländern und der ungenügenden Informations- und Beratungstätigkeit. Meine Gespräche in Sachsen zeigen immer wieder, daß Unkenntnis über mögliche Hilfen, darunter ERP-Kredite, ungeklärte Eigentumsfragen und ein für viele undurchsichtiger Dschungel in Verwaltungsfragen Initiativen behindern. „Existenzgründer ermutigen" mag eine richtige Devise sein. Die Bürokratie zu vermindern ist aber noch immer nicht gelungen. Wenn man bedenkt, daß die neuen Bundesländer als Fördergebiet der EG eingestuft wurden, wohin zwischen 1991 und 1993 über 6 Milliarden DM fließen könnten, um gewerbliche Investitionen und gewerbenahe Infrastruktur zu fördern, dann ist sicher jedem klar, daß dies ohne hockqualifizierte Fachleute vor Ort, ohne Professionalität kaum möglich ist. ({1}) Daran mangelt es unverändert. Erwähnen muß ich aber auch die ungenügende Flexibilität der Banken, die durch übertriebene Sicherheitsforderungen manches gute Projekt scheitern lassen. ({2}) Es ist uns auch nicht gelungen, die Reiselust der Westdeutschen in die neuen Länder zu befördern. Die am Anfang heraufbeschworene Neugier ist vorbei; sie war kurz. Diese fehlende Reiselust liegt ganz sicher auch nicht an der Landschaft, sondern, wie uns allen bewußt ist, besonders an der Diskrepanz zwischen Preis und Leistung, an dem Mangel an Kundenfreundlichkeit in bezug auf Öffnungszeiten, Service und generell Qualität. ({3}) Das ist ein weites Feld für zukunftsorientiertes Handeln, aber auch ein Beweis für die Notwendigkeit einer weiteren Förderung des Fremdenverkehrs in den neuen Bundesländern. Die vorliegende Beschlußempfehlung ist ein Schritt in diese Richtung. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Gerhard Päselt das Wort.

Dr. Gerhard Päselt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der deutsche Tourismus ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Sein Anteil am Bruttosozialprodukt beträgt etwa 5 % und ist die Existenzgrundlage von Hotellerie und Gastronomie und auch für die deutsche Verkehrswirtschaft von großer Bedeutung. Um das zu untermauern, möchte ich hier nur angeben, daß die Deutschen im Jahre 1991 etwa 175 Milliarden DM für Reisen im In- und Ausland ausgegeben haben. Daß sich Tourismus lohnt, geht auch aus der Tatsache hervor, daß auf 100 Arbeitsplätze im Gastgewerbe durchschnittlich weitere 50 fremdenverkehrsabhängige Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich und noch einmal 50 in den übrigen Wirtschaftssektoren kommen. Vor dem November 1989 gab es in der ehemaligen DDR eine als Sozialleistung deklarierte Tourismuswirtschaft. Nach der Märzwahl erfolgte der Umstieg auf einen wichtigen Zweig der Sozialen Marktwirtschaft. Das Jahr 1990 bescherte der Branche in den neuen Bundesländern einen starken Ertragsrückgang. Die Saison 1991 ließ aber bereits einen Anstieg erkennen, der sich 1992 fortsetzte. Zur Tourismusbranche in der DDR gehörte u. a. der FDGB-Feriendienst, bekannter unter der Abkürzung Fedi, mit 856 Häusern, 50 000 Betten, 18 000 Mitarbeitern und mit einer jährlichen Subvention von 400 Millionen Mark aus dem Staatshaushalt. Durch den wirtschaftlichen Niedergang der Betriebe wurden die Fedi-Ferienheime bzw. die Betriebsferienheime in der Mehrzahl der Fälle geschlossen und die Beschäftigten in die Arbeitslosigkeit entlassen. In wenigen Fällen erfolgte eine Verpachtung. Die Schließung der Betriebsferienheime hinterließ in den betroffenen Gemeinden Mangel an Beherbergungs- und gastronomischen Betreuungskapazitäten. Da es sich um Betriebsvermögen handelte, welches nicht betriebsnotwendig ist - so lautet der offizielle Terminus -, versuchten die Betriebe, über den Verkauf der Betriebsferienheime und von Grundstücken ihre Liquiditätsprobleme zu lösen. Die Treuhand hat dies zum Anlaß genommen, nicht betriebsnotwendiges Vermögen einer separaten Privatisierung zuzuführen. Von der endgültigen Privatisierung der Betriebsferienheime und der Fedi-Heime erhoffen sich die neuen Länder einen Anstieg der Übernachtungskapazitäten auf Vorwendezeiten. Es ist für keinen Bewohner der traditionellen Ferienorte - es sind dies in den neuen Ländern nicht wenige und zum Teil sehr bekannte, von der Ostsee bis zum Mittelgebirge, vom Zittauer Gebirge bis zum Thüringer Wald - einsichtig, daß einerseits Bettenmangel herrscht und andererseits die Häuser leer stehen. Unter diesem Gesichtspunkt stehen gegenwärtig in Thüringen weniger als 40 der benötigten und berechneten Bettenkapazität zur Verfügung. Um in drei bis vier Jahren Anschluß an die normale Tourismusentwicklung zu erhalten, müßten jährlich etwa 10 000 bis 12 000 Gästezimmer mit je zwei Betten neu entstehen. Die Situation Thüringens läßt sich generell auf die neuen Bundesländer übertragen. Die fünf neuen Länder leiden also unter einem eklatanten Mangel an Übernachtungsmöglichkeiten. Von der touristischen Branche war ursprünglich erwartet worden, daß sie zu einem Motor des wirtschaftlichen Aufschwungs würde. Das konnte sie leider nicht leisten. Neben der unzureichenden Bettenkapazität können weitere Gründe angegeben werden, wie schwierige Kommunikationssituation, Verkehrsprobleme, Qualitätsmängel und Umweltsünden. Für die touristische Infrastruktur und die Erstellung der touristischen Entwicklungspläne sind die Bundesländer zuständig. Bei den neuen Bundesländern läßt sich das nicht einhalten, da Erfahrungen und eine funktionierende Verwaltung nach der Wiederherstellung der Länder und der Einheit Deutschlands fehlten. Das Bundeswirtschaftsministerium hat mit seiner Außenstelle in Berlin Aufgaben und Funktionen übernommen, die eigentlich den neuen Ländern zustehen. Die angegebene Bedeutung des Tourismus für unsere Bürger und für die Wirtschaft zwingt die Politiker, den deutschen Tourismus konstruktiv zu begleiten und, wo notwendig, zu fördern, vor Fehlentwicklungen zu bewahren und Behinderungen zu vermeiden bzw. abzubauen. Ich möchte es als besonders günstig für die neuen Länder bezeichnen, daß in dieser Legislaturperiode erstmals im Bundestag ein Vollausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus eingerichtet wurde. Einen Großteil der Beratungen dieses Ausschusses war den neuen Ländern gewidmet. Die heute vorliegende Beschlußvorlage legt davon Zeugnis ab. In diesem Ausschuß wird bei allen Fraktionen um die Sache gerungen, wobei die fünf neuen Länder ein zentrales Thema sind. In allen Fraktionen besteht bezüglich des Tempos des AufDr. Gerhard Päselt baus der Fremdenverkehrswirtschaft eine große Ungeduld. In der Ieschlußempfehlung des Ausschusses sind die wichtigsten Forderungen an die Bundesregierung enthalten, von denen sich der Ausschuß einen schnelleren Aufschwung von Fremdenverkehr . und Tourismus in den neuen Ländern erhofft. In einer breiten Öffentlichkeit wird als eines der schwerwiegendsten Hemmnisse die Treuhandanstalt genannt. Die Geschwindigkeit der Privatisierung wird als zu langsam empfunden. Natürlich haben wir die Forderung an die Treuhandanstalt, daß alle verwertbaren Objekte schnellstens auf den Markt gebracht und möglichst mittelstandsfreundlich privatisiert werden. Denn nach zwei Jahren verbessern sich der bauliche Zustand und die Verwertungschancen nicht. Wir müssen aber auch anerkennen, daß sich die Treuhandanstalt bewegt hat und nach der fast abgeschlossenen Privatisierung der Hotelketten in allernächster Zeit -- als Endtermin wurde Mitte 1993 genannt -- auch das Kapitel der Betriebsferienheime abgeschlossen haben will. Dieses größere Tempo der Privatisierung wurde u. a. durch den „Mittelstandsexpreß 2000" erreicht. ({0}) Die Treuhand könnte also als Prügelknabe bald ausgedient haben. ({1}) - Für die Ferienheime. ({2}) Dann könnten Defizite anderer Art sichtbar werden. An oberster Stelle unserer Forderungen an die Bundesregierung möchte ich die Landes-, Regional- und örtliche Entwicklungsplanung nennen, die Ökonomie und Ökologie angemessen zu beachten hat. Damit sich der heimische Mittelstand in der Branche entsprechend entwickeln kann, ist bei Fördermaßnahmen, Genehmigungsverfahren und Kreditvergabe auf die besondere Situation der einheimischen Mittelständler Rücksicht zu nehmen. ({3}) In meinen Ausführungen eingangs bin ich auf die noch bestehenden Mängel eingegangen. Sie weiterhin zügig abzubauen ist unsere Pflicht. Ich nenne stellvertretend Straße, Abwasser und Telefon. Zum anderen wird die Tourismusbranche professionell betrieben. Dazu werden Schulungen, Weiterbildung und andere Maßnahmen benötigt, damit in absehbarer Zeit ein entsprechender Stand erreicht wird. Insgesamt können wir heute feststellen: Einiges ist erreicht, vieles liegt noch vor uns. Nach den Ergebnissen des Jahres 1992 in der Tourismusbranche in den neuen Ländern möchte ich mit einem Goethe-Wort enden Mir ist nicht bange, daß Deutschland nicht eins werde. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundeswirtschaftsminister, unser Kollege Heinrich Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Fremdenverkehr und Tourismus kann die Bundesregierung in allen wesentlichen Punkten zustimmen. Die Ausgangslage und die Perspektiven der Fremdenverkehrswirtschaft in den neuen Bundesländern sind vergleichsweise günstig. Das vorhandene Nachfragepotential sichert verhältnismäßig gute Absatzchancen für touristische Dienstleistungen. Die natürlichen Bedingungen bilden gute Voraussetzungen für den Auf- und Ausbau eines größtenteils unverwechselbaren spezifischen touristischen Angebots, das von Anfang an in Übereinstimmung mit den ökologischen Notwendigkeiten gestaltet werden kann und muß. Schließlich erleichtert die mittelständische Struktur den Schritt in die Selbständigkeit Der insgesamt positive Saisonverlauf 1992 hat diese optimistische Sicht erneut bestätigt. Allerdings: Die wirtschaftliche Entwicklung des Fremdenverkehrs in den neuen Bundesländern erfordert weiterhin ein enges Zusammenspiel des Bundes mit den Ländern, mit den Investoren, den Tarifpartnern und der Treuhandanstalt. Unter diesem Aspekt ist es von besonderem Wert, daß sich der Fremdenverkehrsausschuß des Bundestages den Problemen in den neuen Bundesländern stets in besonderem Maße zugewandt hat. Die in jüngster Zeit erreichte Beschleunigung der Privatisierung im Beherbergungsbereich ist nicht zuletzt ein Ergebnis dieser Bemühungen. Der von der Treuhandanstalt als Ziel angestrebte Abschluß bis zum ersten Halbjahr 1993 ist für den Strukturanpassungsprozeß dringend erforderlich und muß verstärkt den Weg zu nachfragegerechten neuen Richtungen ebnen. Vermehrte Investitionen und die Beseitigung der dafür noch bestehenden Hemmnisse sind wesentliche Voraussetzungen für die Entwicklung und die Stabilisierung eines touristischen Angebots in einer Qualität, die den heute noch verbreiteten Neugier- und Gelegenheitstourismus zu einem stabil nachgefragten Produkt Urlaub in den neuen Ländern werden läßt. Dazu ist es notwendig, daß die Formulierung von Entwicklungszielen auf kommunaler und regionaler Ebene sowie insbesondere auf Landesebene Prämissen für die Investitionstätigkeit und den gezielten Einsatz des Förderinstrumentariums setzt. Die Finanzierungsmodelle und Fördermöglichkeiten sind so weiterzuentwickeln, daß die gegebenen Marktchancen voll ausgeschöpft werden. Ohne Zweifel muß die Investitionsförderung durch Investitionszuschüsse und -zulagen, durch ERP-Dar10306 lehen und das Eigenkapitalhilfeprogramm auf hohem Niveau fortgesetzt werden. ({0}) Wir werden, Herr Feldmann, auch unsere Anstrengungen zur Qualifizierung mit Nachdruck fortführen. Hierzu zählt auch die Förderung der Unternehmensberatung sowie von Informations- und Schulungsverunstaltungen, die weiterhin auf reges Interesse stoßen. ({1}) Die steigende Inanspruchnahme unseres Förderangebots ist für uns ein Beweis, daß unser Instrumentarium im wesentlichen richtig sortiert ist. Die Ergänzungen des Antrags durch den Emährungsausschuß zeigen überdies deutlich das branchenübergreifende Potential des Fremdenverkehrs als Querschnittsaufgabe. Die gezielte Entwicklung ländlicher Tourismusformen ist nicht nur eine sinnvolle wirtschaftliche Ergänzung für landwirtschaftliche Betriebe, sondern bietet auch günstige Möglichkeiten für landschaftsbezogenen und umweltverträglichen Tourismus. Tourismus ist zuallererst Länderaufgabe. Das gilt auch für die Prioritätensetzung im Bereich der regionalen Wirtschaftsförderung. ({2}) Die Bundesregierung wird ihre Verantwortung hier ebenfalls wahrnehmen, Herr Feldmann, und die Rahmenbedingungen auf den zahlreichen Gebieten, die auf die Tourismusentwicklung Einfluß haben, mitgestalten. Das gemeinsame Ziel von Wirtschaft und Politik bleibt der rasche Aufbau einer nachfragegerechten, wettbewerbsfähigen touristischen Angebotsstruktur in den neuen Ländern - ein Angebot, das der heimischen Bevölkerung Beschäftigungs- und Einkommenschancen bietet und damit gute Entwicklungsperspektiven eröffnet. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Fremdenverkehr und Tourismus auf Drucksache 12/3286? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Dann kann ich feststellen, daß die Beschlußempfehlung einstimmig angenommen worden ist. Ich rufe nun den letzten Punkt der heutigen Tagesordnung, den Zusatzpunkt 13, auf: Aktuelle Stunde Die Folgen der Gesundheitspolitik der Bundesregierung am Beispiel der geplanten Schließung der Medizinischen Akademie Erfurt Diese Aktuelle Stunde wurde von der Gruppe PDS/Linke Liste beantragt. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zuerst unserer Frau Kollegin Dr. Ursula Fischer.

Dr. Ursula Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000557, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Geplant war die Schließung der Medizinischen Hochschule Erfurt, als ich im Namen der PDS/Linke Liste den Antrag auf eine Aktuelle Stunde am Dienstag in den Bundestag einbrachte. Inzwischen kann von „geplant" nicht mehr die Rede sein. Der Thüringer Landtag stimmte gestern über einen Entschließungsantrag von F.D.P. und CDU zur Einstellung des Lehrbetriebs an der Medizinischen Hochschule Erfurt zum Jahresende 1993 mit 49 von 83 Stimmen ab. Meine Damen und Herren, das ist die erste Schließung einer Hochschule in Deutschland seit 100 Jahren. Damit ist ein weiteres Menetekel an die unsichtbare Wand gezeichnet, die Ost und West voneinander trennt. Bisher wurde an Universitäten und Hochschulen abgewickelt; geschlossen wurde noch keine Einrichtung. Ich denke, daß das vor allem auch mit der Gesundheitspolitik und selbstverständlich auch mit der Wissenschafts- und Hochschulpolitik sowie der Wirtschaftspolitik dieser Bundesrepublik unmittelbar zusammenhängt. Ich sehe hier durchaus eine enge Beziehung zur Diskussion über das GesundheitsStrukturgesetz. Wir haben zu viele Ärztinnen und Ärzte, das ist teuer, wir müssen sparen. Die Ausbildungskapazitäten der westlichen Universitäten für Medizinerinnen und Mediziner reichen ganz offensichtlich aus. Thüringen hat leider schon allzu oft recht eilfertig Beschlüsse aus Bonn prompt umgesetzt. Die Ursache ist aber nicht, daß wir zu viele Ärztinnen und Ärzte haben - nein, das Medizinverständnis einer Bundesregierung wird hier auf Landesebene umgesetzt. Wenn wir dieses Argument schon nutzen, dann muß man eben sagen: Klasse statt Masse. Diese Klasse ist an der Medizinischen Hochschule Erfurt wohl gewährleistet. Ich komme nunmehr zu den Problemen in Erfurt selbst. Die Medizinische Hochschule Erfurt wurde 1954 gegründet. Die Akademien der DDR hatten es schwer, sich gegenüber den Universitäten zu behaupten und anerkannt zu werden - ich weiß, wovon ich rede -, aber sie haben es geschafft. Nun werden sie abgeschafft. Am 29. September 1992 hatte ich ein persönliches Gespräch beim Ministerpräsidenten Dr. Bernhard Vogel in Erfurt. Dort versicherte er mir: Die Medizinische Hochschule Erfurt bleibt als Hochschule erhalten und wird in eine neu zu gründende Universität als Medizinische Fakultät integriert. Meine Damen und Herren, ein Hochschulklinikum bietet den Einwohnern seiner Stadt und seiner Umgebung Hochleistungsmedizin in allen Fachdisziplinen. Dafür werden hochqualifizierte Wissenschaftler, Ärzte und Pflegekräfte eingesetzt, die sowohl Patienten als auch wissenschaftlichen Nachwuchs und auch Drittmittel anziehen. So betreuen die Mitarbeiter der Medizinischen Hochschule Erfurt einen Einzugsbereich mit mindestens 250 000 Einwohnern. Die Umwandlung eines Hochschulklinikums in ein Zentralkrankenhaus der Maximalversorgung zöge zwangsläufig den Weggang hochqualifizierter Spezialisten und Hochschullehrer nach sich. Ein Verlust an zahlungsfähiger Nachfrage vor allem für den Handel und Steuerausfälle für die Kommunen sind zu erwarten. Ungefähre Schätzungen mögen dies belegen. Nach Berechnungen von Prof. Dr. Friedrich, Inhaber des Lehrstuhls für Finanzwirtschaft an der Bundeswehrhochschule München, gibt ein Student monatlich ungefähr 700 DM aus. Mit der Aufgabe des Hochschulstatus - fast 700 Studenten 1991/92; ich habe Zweifel, ob diese Zahl richtig ist - wären damit automatisch Einnahmeverluste von 5,8 Millionen DM im Jahr für das Studentenwerk und städtische Unternehmen bzw. Dienstleistungen verbunden. Für hochschulgebundene Dienstleistungen - Wäsche, Gebäudereinigung usw. - werden Aufträge in einer Höhe von 1 Million DM vergeben. Gegenüber Krankenhäusern von ausschließlich kommunaler Bedeutung benötigt ein Hochschulklinikum für mindestens 30 Millionen DM pro Jahr mehr an Gütern und Dienstleistungen. Eng mit der Existenz eines Hochschulklinikums dürfte auch die Attraktivität des Standorts für die Ansiedlung außeruniversitärer Forschungseinrichtungen sowie Unternehmen der „weißen" Industrie verbunden sein. Von einem Hochschulklinikum könnten aus Drittmitteln bis zu 20 Millionen DM jährlich in der Forschung eingesetzt werden, von denen etwa die Hälfte für Personalkosten zur Verfügung stehen würde. Das Potential der Mitarbeiter und Studenten eines Hochschulklinikums ist darüber hinaus ein wesentlicher Faktor des geistig-kulturellen bzw. wissenschaftlichen Lebens der Region. - Alle diese Aussagen stammen übrigens aus dem sogenannten Vogel-Papier, das von der Kommission in der Hochschulzeitung veröffentlicht wurde, nicht von mir selbst. Meine Damen und Herren, ich fordere die Bundesregierung an dieser Stelle auf, durch Bundesmittel den Erhalt der Hochschule in Erfurt zu sichern, und zwar nach Art und Weise einer Mischfinanzierung, die - wenn auch gesetzlich nicht verankert - durch Sonderprogramme gewährleistet sein sollte. Ministerpräsident Vogel fordere ich von dieser Stelle aus auf, den Beschluß des Landtags noch einmal zu überdenken und die Entscheidung im Landtag rückgängig zu machen. Koalitionsfragen und politischer Wille eines Wissenschaftsministers dürfen bei Sachfragen keine Rolle spielen. Die gewählte Variante ist und bleibt die schlechteste Variante; offensichtlich auch deshalb, weil die Thüringer Landesregierung nicht so sehr gut rechnen kann. Einem gewiß unverdächtigen Kronzeugen zufolge - es handelt sich um Prof. Dr. Röhrig, den Geschäftsführer der Landeskrankenhausgesellschaft Rheinland-Pfalz und Sprecher der 26 Unikliniken der alten Bundesländer - sind hierfür - entgegen der Kostenkalkulation - vom Land Thüringen mittelfristig die gleichen Ausgaben wie für die Medizinische Hochschule Erfurt oder ein Landeskrankenhaus zu leisten. Um so unverständlicher die Entscheidung, die Hochschule zu schließen! Eine letzte Frage: Könnten nicht gewisse Interessen von Gesellschaftern privater Krankenhäuser wie der Rhön AG in Bad Berka, von Gesellschaftern, die möglicherweise - oder deren Frauen - Mitglieder dieses Hauses sind, eine Rolle spielen? Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich will noch einmal auf folgendes aufmerksam machen: Die Redezeit in der Aktuellen Stunde beträgt bis zu 5 Minuten und nicht mehr als 5 Minuten. Nun hat als nächster unser Kollege Dr. Rainer Jork das Wort.

Dr. - Ing. Rainer Jork (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Entscheidungen zum Strukturwandel in den Bereichen Bildungs- und Wissenschaftspolitik, Forschungslandschaft und Gesundheitswesen sind teilweise kompliziert, auch schmerzhaft, vor allem durch ökonomische Zwänge geprägt, die in der früheren DDR ignoriert wurden. Schließlich wurde der Staatsbankrott der DDR durch Mißachtung ökonomischer Zwänge verursacht. ({0}) Das hier zu betrachtende Thema tangiert vor allem die medizinische Versorgung der Bevölkerung im Raum Erfurt, die Möglichkeit, ein Studium in den Bereichen Medizin oder Zahnmedizin durchzuführen, und betrifft unmittelbar Mitarbeiter, deren Arbeitsplätze gefährdet sind. Diese Themen sind sehr ernst zu nehmen. Dies geschieht zuerst dadurch, daß richtige Partner benannt und diese zu Problemlösungen angeregt werden. Die Zuständigkeit für Hochschulbauförderungsgesetze liegt nach dem Grundgesetz beim Bund. Der Wissenschaftsrat ist zuständig für Empfehlungen und die Vorgabe von Richtgrößen, z. B. der Gesamtbettenzahl der Kliniken. Die Länder haben ihre Zuständigkeit entsprechend der Kultushoheit für die Struktur der Hochschulen und Universitäten sowie für die Krankenhausstruktur. Wenn hier also Entscheidungen zur Zukunft der Medizinischen Akademie Erfurt diskutiert werden, dann kann man dies eben nicht unter dem Aspekt der Folgen der Gesundheitspolitik der Bundesrepublik tun. ({1}) Bei Kenntnis von Zusammenhängen und Zuständigkeiten sowie bei dem Wunsch, zu helfen, ist darum die Adresse nicht allein die Bundesregierung. Hier werden zwei Fragen zu diskutieren sein: erstens die Existenz des Krankenhauses Medizinische Akademie Erfurt und zweitens die Sicherung von Forschung und Lehre dieser Einrichtung. Nach Klärung der allgemeinen Finanzierungsbedingungen - sie sind sehr hart -, die mit dem Haushalt 1993 gegeben sind - ich darf darauf hin10308 weisen, daß das Erfurter Papier das Ergebnis sehr tiefgreifender und schwieriger Verhandlungen ist -, und unter Berücksichtigung der Wissenschaftsratsempfehlungen ist vor allem die Entscheidung des Landes Thüringen wesentlich. Ich wünsche sehr, daß sachgerechte und verantwortungsbewußte, vor allem auch sozialverträgliche Lösungen gefunden werden. ({2}) Die Ausgangssituation für das Land Thüringen ist vor allem durch die Empfehlungen des Wissenschaftsrates vom 27. September 1991 und vom 24. Januar 1992 markiert. Danach wird zugebilligt, daß in Forschung und Lehre Ansatzpunkte für eine konstruktive Entwicklung liegen. Es wird darauf hingewiesen, daß Vorkehrungen im finanziellen Bereich unerläßlich sind. Später werden dann erhebliche Bedenken zur Finanzierbarkeit genannt. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, daß der Freistaat Sachsen hinsichtlich der Medizinischen Akademie Dresden vor einem ähnlichen Problem steht. Es ist also nicht richtig, daß dieses Problem einzig und allein in Thüringen besteht. Dort wird der Technischen Universität die Fakultät Medizin beigefügt, um die Lehre in diesem Bereich zu sichern. Ausgehend von den Empfehlungen des Wissenschaftsrats hat Thüringen nun folgende Entscheidungen getroffen: Erstens. In Anbetracht des Umstandes, daß Thüringen als eines der kleinen Bundesländer nicht zwei medizinische Hochschuleinrichtungen weiterführen kann, ({3}) wird die Medizinische Fakultät der Friedrich-SchillerUniversität Jena ausgebaut und um die von der Medizinischen Hochschule Erfurt zu übernehmenden medizinischen und zahnmedizinischen Arbeitsgruppen erweitert. ({4}) Zweitens. Der Versorgungsauftrag beider Hochschulen, also der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Medizinischen Hochschule Erfurt, als Krankenhäuser der Maximalversorgung wird in den Thüringer Krankenhausplan aufgenommen und nicht in Frage gestellt. ({5}) Drittens. Im Rahmen der Umwandlung der Medizinischen Hochschule Erfurt in ein Krankenhaus der Maximalversorgung wird ein biologisch-medizinisch orientiertes Forschungszentrum eingerichtet. Viertens. Das Personal, also die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Medizinischen Hochschule Erfurt, wird bevorzugt auf andere Dienststellen umgesetzt. Die Praxis und Betriebsgründung werden gefördert. Angesichts der nur begrenzt verfügbaren finanziellen Mittel, auch im Hinblick auf den Haushalt 1993, muß Thüringen mit hoher Verantwortung entscheiden und diesen Standpunkt möglicherweise erneut prüfen. ({6}) Ich wünsche von Herzen, daß die Entscheidungen zum Wohl der Betroffenen, der Arbeitskräfte und Patienten, möglichst vorteilhaft gefunden und umgesetzt sowie geeignete Anpassungsmaßnahmen getroffen werden. Danke. ({7})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herrren, ich erteile jetzt das Wort unserer Frau Kollegin Gisela Schröter.

Gisela Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002086, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestern hat der Thüringer Landtag den Kabinettsbeschluß der Regierung über die Schließung der Medizinischen Hochschule Erfurt zum 31. Dezember 1993 bestätigt. Die Auflösung dieser traditionsreichen und renommierten Akademie hat in Thüringen für erhebliche Aufregung gesorgt. ({0}) Obwohl die Bildungseinrichtungen der Kulturhoheit der Länder unterstehen, ist es gelungen, eine Aktuelle Stunde dazu auf die Tagesordnung des Bundestages zu setzen. Allein dieser bisher wohl einzigartige Vorgang zeigt, wie brisant die Entscheidung des Thüringer Landtags ist. ({1}) In der Tat ist durch diesen Beschluß auch der Bund berührt. Mitte 1991 hat sich der Wissenschaftsrat in seinem Gutachten über Forschung und Lehre zu der Empfehlung entschlossen, in den neuen Bundesländern acht medizinische Ausbildungsstätten in Berlin - die Charité -, Greifswald, Rostock, Halle, Magdeburg, Leipzig, Jena und Erfurt weiterzuführen und zu konkurrenzfähigen Einrichtungen der Forschung und Lehre sowie der dazugehörigen Krankenversorgung weiterzuentwickeln. - Dem Wissenschaftsrat sollte nicht unterstellt werden, ein Gefälligkeitsgutachten verfaßt zu haben. ({2}) Die Medizinische Hochschule Erfurt ist und war in die deutsche Forschungslandschaft gut integriert. Dies wird durch längerfristige, medizinisch orientierte Forschungsprojekte belegt, die das Bundesministerium für Forschung und Technologie der Hochschule bewilligt hat. Außerdem wurden vom Bundesministerium für Gesundheit Kollaborationszentren und Beratungsdienste der Weltgesundheitsorganisation an der Medizinischen Hochschule Erfurt mitfinanziert. Was wird nach der Abwicklung aus diesen Projekten? - Der Verdacht liegt nahe, daß Bundesmittel hier leichtfertig zum Fenster hinausgeworfen werden. ({3}) Die Umwandlung des Hochschulklinikums in ein Krankenhaus der Maximalversorgung provoziert doch geradezu die Abwanderung hochqualifizierter Hochschullehrer und Forscher. Wer sollte daran ein Interesse haben? ({4}) Die geförderten Projekte werden sich also - wenn überhaupt - nicht in der geplanten Dimension aufrechterhalten lassen. Die Abwanderung von hochspezialisierten Forschern und ihren Schülern wird von der Landesregierung aus Ersparnisgründen bewußt in Kauf genommen. ({5}) Was ist das für eine Sparpolitik? Auch die alten Bundesländer haben ihre Finanzschwierigkeiten. Trotzdem käme wohl niemand auf die Idee, traditionsreiche Bildungseinrichtungen aus Kostengründen aufzulösen. ({6}) Gleich hinter der Thüringer Landesgrenze leistet sich das Land Hessen in Gießen und Marburg zwei Universitätskliniken, die eigentlich nur einen Steinwurf voneinander entfernt liegen. Kein hessischer Landespolitiker käme auf die Idee, eine der beiden Einrichtungen zu schließen, auch nicht mit der Begründung, daß es in Hessen mit der Frankfurter Medizinischen Fakultät noch eine dritte - nicht eben kleine - Einrichtung gibt. ({7}) Baden-Württemberg, das Stammland von Herrn Späth, der jetzt mehr oder weniger die Geschicke von Jena in der Hand hält, leistet sich nicht weniger als fünf medizinische Ausbildungsstätten. ({8}) Vielleicht sollte man Herrn Späth, dessen Verhandlungsgeschick ja bekannt ist, dafür gewinnen, eine dieser Einrichtungen aufzulösen, damit in Thüringen Erfurt neben Jena bestehen bleiben kann. ({9}) Die Berichterstattung im Fernsehen über einen solch ungewöhnlichen Vorgang möchte ich gern erleben. Die Abwicklung der Medizinischen Hochschule Erfurt scheint aber überregional niemanden wirklich zu stören. Wo sind die vielgepriesenen, hellwachen überregionalen Medien, wenn Erfurter Studenten in den Hungerstreik treten, wenn Zehntausende auf der Straße gegen die Auflösung der Akademie protestieren? Noch nicht einmal der angedrohte Rücktritt des Oberbürgermeisters von Erfurt ist ihnen mehr als eine kleine Meldung auf Seite zehn unter „ferner liefen" wert. ({10}) - Das habe ich nicht gewußt. Schönen Dank, Herr Kollege Otto. - Was muß denn in den neuen Bundesländern eigentlich noch passieren, ehe irgend jemand aufmerksam wird? Denn dieser Bürgermeister, der, wie ich soeben hörte, zurückgetreten ist, ist ja nicht irgendein Dorfschulze, sondern er vertritt oder vertrat eine Stadt mit 200 000 Einwohnern. ({11}) Die Rücktrittsdrohung des CDU-Oberbürgermeisters bzw. ihr zwischenzeitlich eingetretener Vollzug wirft ein allzu bezeichnendes Licht auf die kopflose Politik der Landesregierung. Sie ist nicht in der Lage, die Interessen der Bevölkerung zu vertreten, regiert sogar gegen die eigenen Repräsentanten vor Ort und - das möchte ich hier ausdrücklich hinzufügen - auch im Bundestag, die den Ernst der Lage genauso einschätzen wie die Opposition im Thüringer Landtag.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Schröter, nur noch einen Satz.

Gisela Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002086, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, danke. - Was darf sich eine Regierung eigentlich noch leisten, ehe ihr Mißachtung des Parlaments vorgeworfen werden kann? Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Nächster Redner ist jetzt unser Kollege Dr. Karlheinz Guttmacher.

Dr. Karlheinz Guttmacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Dr. Fischer, in der Formulierung des Themas der Aktuellen Stunde haben Sie von den Folgen der Gesundheitspolitik der Bundesregierung gesprochen, meinen aber, wenn Sie die Schließung der Medizinischen Hochschule Erfurt erwähnen, sicherlich die Folgen der Gesundheitspolitik des Landes Thüringen. ({0}) Seitens des Wissenschaftsrates wurden die sechs Medizinischen Fakultäten und drei Medizinischen Hochschulen in den Beitrittsländern unter den Gesichtspunkten ihrer wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit, Entwicklungsmöglichkeit und Finanzierbarkeit geprüft. Der Wissenschaftsrat schätzt, daß für ein Hochschulklinikum etwa ein Finanzbedarf von 100 Millionen DM pro Jahr für einen Zeitraum von 10 bis 15 Jahren angesetzt werden muß. Er stellt weiter fest, daß das jeweilige Land nach Erfahrungen der alten Bundesländer den gleichen Betrag aufbringen muß. Nach der im Einigungsvertrag - Art. 38 - festgelegten Begutachtung der medizinischen Hochschuleinrichtungen im Land Thüringen kommt der Wissenschaftsrat zu der Feststellung, daß die Medizinische Fakultät der Universität Jena für eine qualitativ hochwertige Ausbildung der Medizin- und Zahnmedizinstudenten geeignet ist und vom Land weitergeführt werden sollte. Ebenso stellt er fest, daß die Medizinische Akademie Erfurt geeignet ist, zu einer Medizinischen Hochschule ausgebaut zu werden, sofern dem Wissenschaftsrat zum 22. oder spätestens 23. Rahmenplan ein Finanzierungskonzept vorgelegt wird, wonach der Ausbau beider medizinischer Ausbildungsstätten gleichzeitig in den nächsten 10 bis 15 Jahren möglich ist. Neben einigen wichtigen Entscheidungskriterien wie den Aufgaben in der Krankenversorgung und den Forschungsaktivitäten ({1}) wurde die Ausbildungskapazität herangezogen. Die Ausbildungsplatzkapazität in der Human- und Zahnmedizin wird durch den Staatsvertrag über die Vergabe der Studienplätze geregelt, dem Thüringen beigetreten ist. So würde Thüringen bei Weiterführung beider Hochschulen in der bisherigen Größe eine doppelt so hohe klinische Ausbildungsplatzkapazität im Humanmedizinstudium aufweisen, wie es der Landesgröße angemessen wäre. Die Thüringer Ministerien für Wissenschaft und Kunst, für Soziales und Gesundheit und der Finanzen stellten fest, daß bei einer Umwandlung der Medizinischen Hochschule Erfurt in ein Krankenhaus der Maximalversorgung und ein biologisch-medizinisch orientiertes Forschungszentrum 150 bis 160 Millionen DM jährlich für den Landeshaushalt eingespart werden. ({2}) Den Grundsatzbeschluß des Kabinetts des Landes Thüringen zur Gestaltung der Hochschulmedizin in Thüringen und zur Umstrukturierung der Medizinischen Hochschule Erfurt hat mein Kollege Jork bereits angesprochen; ich möchte dies nicht wiederholen. Die Landesregierung Thüringen, meine Damen und Herren, hat sich ihre Entscheidung nicht leicht gemacht und übernimmt damit folgende Aufgaben: Den in Erfurt immatrikulierten Studenten wird die Möglichkeit eines erfolgreichen Abschlusses ihres Studiums gegeben. ({3}) - Meine Damen und Herren, ich verstehe Ihre Emotionen. Aber es wäre gut, wenn Sie sich, bevor Sie hier einen Streit entfachen, sachkundig machen und die Rede, die Herr Minister Fickel gestern im Landtag gehalten hat, gründlich durchlesen würden. Es ist einfach, hier entsprechende Forderungen zu stellen, ({4}) ohne letztendlich zu sagen, wie wir das bezahlen sollen. ({5}) Das klinisch-theoretische Forschungsvorhaben soll in einem neu zu strukturierenden Forschungszentrum gewährleisten, daß die beiden BMFT-Verbundprojekte „Präventive Zahnheilkunde" und „ Hämostaseologie " in Thüringen weitergeführt werden. Der Versorgungsauftrag der Medizinischen Hochschule als Krankenhaus der Maximalversorgung wird sichergestellt. Dieser Krankenhaustyp wird auch Hochleistungsmedizin anbieten, die einem Vergleich mit einem Hochschulklinikum standhalten wird, Frau Kollegin Fischer. ({6}) Die Finanzierung dieses Krankenhauses der Maximalversorgung ist ab 1994 - unabhängig von der Trägerfrage - durch das Krankenhausfinanzierungsgesetz geklärt. Für die derzeit 3 200 Mitarbeiter der Medizinischen Hochschule Erfurt - es erscheint mir sehr wesentlich, auch das in diesem Zusammenhang zu sagen - werden in einem Versorgungskrankenhaus der Maximalversorgung mit 1 592 Planbetten in Erfurt und einer Weiterbeschäftigung im Forschungszentrum in Erfurt neben Überleitungen nach Jena 2 900 Arbeitsplätze erhalten bleiben. Der Landtag des Landes Thüringen hat gestern in seiner Sitzung diesen Beschluß gefaßt. Er ist von der Koalition ernstzunehmen. Meine Damen und Herren, zum Schluß: Auch ich würde mir zwei solcher Hochschuleinrichtungen wünschen - und als Jenaer Kollege will ich hier keinen Lokalpatriotismus für die Universität Jena an den Tag legen -, allerdings müßten wir dann auch sauber entscheiden und überlegen, wie wir diese beiden Konzepte finanzieren könnten. ({7})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich rufe jetzt den nächsten Redner auf. Wenn ich das tue, dann hoffe ich auch, daß er überwiegend das Wort hat. ({0}) Die nächste Rednerin ist Frau Vera Wollenberger.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die angekündigte Schließung der Medizinischen Hochschule in Erfurt stößt auf den vehementen und berechtigten Protest der Bevölkerung und der Studenten. Ich finde, man muß an diesem Ort einmal sagen, daß es nicht angeht, daß Studenten, die aus Protest gegen die Schließung ihrer Hochschule in den Hungerstreik getreten sind, von Landtagsabgeordneten als Terroristen beschimpft werden. ({0}) Schon das allein zeigt, daß diese Debatte unsachlich, in schlechtem Stil geführt wird. Mit dem Vorhaben, die Medizinische Hochschule in Erfurt zu schließen, tritt die Thüringer Landesregierung in eine neue Phase der wissenschaftspolitischen Abwicklung ein. Aus der Medizinischen Hochschule soll künftig ein medizinisches Forschungszentrum werden. Das geplante Abstreifen des Lehrbetriebes fügt sich in einen in Westdeutschland seit etwa zehn Jahren vorherrschenden Trend ein. Dieser Trend ist gekennzeichnet durch die organisatorische Umwidmung von Hochschulbereichen durch die Länder, die mit einer Schwerpunktsetzung durch gezielte Drittmittelförderung durch die Bundesministerien, die Wirtschaft und die Deutsche Forschungsgemeinschaft einhergeht. Vor der Schließung und der Umwandlung hätte ein Vergleich der Kosten bei Weiterführung der Medizinischen Hochschule erfolgen müssen. Daran war die Landesregierung jedoch offensichtlich in keiner Weise und zu keinem Zeitpunkt interessiert. ({1}) Die Schließung der MHE geschieht keineswegs im Rahmen einer tragfähigen Hochschulentwicklungsplanung, sondern sie folgt ausschließlich haushaltspolitischen Erwägungen. So sind von den heute ca. 5 400 Stellen im gesamten Thüringer Wissenschaftsbereich bereits 2 100 nur noch sogenannte kw-Stellen, die nach dem Ausscheiden der Stelleninhaber nicht wieder besetzt werden können. Aus dem Thüringer Haushaltsentwurf für 1993 geht nun hervor, daß von diesen 2 100 kw-Stellen 750 auch noch auf das Jahr 1993 befristet werden sollen. Die Landesregierung argumentiert im Hinblick auf diese Auszehrung des Personalbestands immer wieder gern mit den Betreuungszahlen. In der Tat ist in Westdeutschland das durchschnittliche Betreuungsverhältnis an den Hochschulen erheblich ungünstiger. Hierin liegt jedoch ein nachahmenswerter Vorzug der ostdeutschen Hochschulen, der die Qualität der wissenschaftlichen Ausbildung fördert. So ist der Studienabbruch an ostdeutschen Hochschulen wesentlich seltener als an westdeutschen Hochschulen. ({2}) Trotzdem wird die Anpassung in der umgekehrten, eindeutig ungünstigeren Richtung vorgenommen. Die Landesregierung legitimiert sich in der Hauptsache mit einem Gutachten des Wissenschaftsrats. Dieses Gutachten ist jedoch keineswegs eine Empfehlung, die MHE zu schließen. ({3}) Der Wissenschaftsrat weist darin vielmehr auf das Problem der Vorklinik, die bislang in Erfurt nur Modellcharakter hat, und der Sanierung hin. Die Vertretbarkeit einer Weiterführung der MHE wird in dem Gutachten von einem tragfähigen Finanzierungskonzept abhängig gemacht. Um ein solches hat sich die Landesregierung jedoch gar nicht erst bemüht. ({4}) Vor diesem Hintergrund ist es besonders befremdlich, daß parallel zur Schließung der MHE die Landesregierung die geplante Neugründung der Universität Erfurt forciert und eindeutig entgegen den Empfehlungen des Wissenschaftsrats bereits 1995 den dortigen Lehrbetrieb aufnehmen lassen will. Auch für dieses ehrgeizige Projekt liegen keine seriösen wissenschaftspolitischen und finanzpolitischen Konzepte vor. ({5}) Die angekündigte Neugründung ist daher mit großer Skepsis zu werten. Fest steht jedoch, daß das beträchtliche wissenschaftliche Potential der heutigen MHE für Erfurt voraussichtlich verlorengehen wird. Die Abwanderung des qualifizierten Personals wird zunehmen. Bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind nicht alle Planstellen, z. B. Professuren, besetzt. Es gibt zur Stunde auch kein Konzept der Landesregierung, wie die Weiterführung der Ausbildung der ca. 600 in Erfurt immatrikulierten Studentinnen und Studenten in qualitativ hochstehender und sozial verträglicher Weise gewährleistet werden kann. Fest steht bisher nur, daß 1993 keine neuen Studentinnen und Studenten aufgenommen werden sollen. Die angebliche Verzahnung mit der Jenaer Fakultät ist noch nicht gesichert und wird zu einer zusätzlichen Belastung für die betroffenen Studentinnen und Studenten werden, Die Landesregierung hat zugesagt, daß laufende Promotions- und Habilitationsvorhaben durch die geplante Schließung nicht abgebrochen werden müssen. ({6}) Wie dies jedoch praktisch gewährleistet werden kann, bleibt nach wie vor völlig offen. Es bleibt weiterhin ungeklärt, was aus den Beschäftigten der MHE werden soll. Der geplante Personalabbau kann nicht präzise quantifiziert werden. Täglich werden neue Zahlen genannt, wodurch die Verunsicherung der Betroffenen wächst. Auch das weitere Schicksal der potentiell von Arbeitslosigkeit Betroffenen scheint aus der Sicht der Landesregierung relativ irrelevant zu sein. Die postulierte Umwandlung der Klinik in ein sogenanntes Krankenhaus der Maximalversorgung und der Hochleistungsmedizin mit 1 560 Betten bleibt vor diesem Hintergrund eine leere Floskel. Weder ist ein Träger für diese neue Einrichtung gefunden, noch ist die Übernahme der durch die Umwandlung entstehenden zusätzlichen Kosten geklärt. Der Wissenschaftsminister behauptet, die Finanzierung des Krankenhauses sei geklärt. Dies muß aber erheblich bezweifelt werden. ({7}) Die Landesregierung wünscht sich private Investoren für das neue Krankenhaus. Sie liegt insofern sowohl wissenschaftspolitisch als auch gesundheitspolitisch voll auf der Linie der Bundesregierung. Es ist noch nicht absehbar, welche kurz- und mittelfristigen Folgen die geplante Schließung für die medizinische Versorgung in Erfurt und im weit größeren Einzugsbereich der MHE hervorbringen wird. Mit dem simplen Postulat -

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Wollenberger, noch einen Satz bitte.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Einen Satz noch. Mit dem simplen Postulat, ein Krankenhaus der Maximalversorgung einrichten zu wollen, ist es nicht getan. Die diesbezügliche offensichtliche Konzeptionslosigkeit der Thüringer Landesregierung ist erschreckend. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich erteile der Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten im Lande Thüringen, Frau Christine Lieberknecht, das Wort. Ministerin Christine Lieberknecht ({0}): Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das ist die Demokratie, die wir wollten, die uns aber auch ein großes Maß an Toleranz abnötigt, vor allem dann, wenn demokratische Rechte, z. B. das der Beantragung einer Aktuellen Stunde hier im Deutschen Bundestag, von Gruppierungen genutzt werden, die mit dem föderalen Staatsaufbau der Bundesrepublik Deutschland offensichtlich noch Schwierigkeiten haben. ({1}) Sehr geehrte Kollegen der antragstellenden Gruppe, der sozialistische Staatszentralismus ist vorbei, und dies ein für allemal! ({2}) Weder die Bundesregierung noch der Deutsche Bundestag haben etwas mit der Entscheidung der Landesregierung in Thüringen und des Thüringer Landtags zu tun. Diese Entscheidung über die Zukunft der Medizinischen Hochschule in Erfurt ist einzig und allein in die Souveränität der Abgeordneten des Thüringer Landtags gestellt. Da es hier um Entscheidungen von großer Tragweite geht - ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich bitte, die Rednerin zu Wort kommen zu lassen. ({0}) Zwischenrufe sind gestattet, Störungen nicht. - Bitte. Ministerin Christine Lieberknecht ({1}): Danke. Da es hier um Entscheidungen von großer Tragweite geht, wurde außer der Begutachtung durch den Wissenschaftsrat auch eine Kommission eingesetzt, deren Aufgabe es war, Lösungen zur Entscheidungsfindung vorzulegen. Dies ist geschehen. Im Ergebnis ist festzuhalten: Bereits in seiner Regierungserklärung am 26. Februar 1992 stellte Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel die Frage, ob sich das Land Thüringen zwei medizinische Hochschulklinika leisten könne. Dementsprechend berief er eine Arbeitsgruppe, die den Entscheidungsträgern Konzeptionen für die Gestaltung der medizinischen Ausbildung in Jena und Erfurt unterbreiten sollte. Dieser Abschlußbericht liegt den Abgeordneten des Thüringer Landtages und damit auch der Thüringer Öffentlichkeit seit dem Sommer dieses Jahres vor. ({2}) An der Ausarbeitung waren u. a. beteiligt: die Ausschüsse des Thüringer Landtags für Soziales und Gesundheit sowie für Wissenschaft und Kunst, die Oberbürgermeister der Städte Jena und Erfurt, die ärztlichen Direktoren der Medizinischen Hochschule Erfurt und des Universitätsklinikums Jena, das Ministerium für Soziales und Gesundheit, das Finanzministerium und das Ministerium für Wissenschaft und Kunst in Thüringen. Des weiteren arbeiteten hervorragende Medizinprofessoren und Beamte von Hochschulen und Landesregierungen verschiedener Länder mit. Die Landesärztekammer und die Landeszahnärztekammer arbeiteten ebenfalls mit. Dem gemeinsamen Bericht dieser Gruppe folgend, sprach sich das Kabinett am 30. Juni dieses Jahres gegen einen Vollausbau zweier medizinischer Hochschuleinrichtungen in Thüringen aus, aber auch gegen eine Schließung aller Forschungseinrichtungen in Erfurt. Es beauftragte den Minister für Wissenschaft und Kunst, zwei der aufgezeigten Alternativen nochmals auf ihre Kosten und ihre Realisierbarkeit hin zu untersuchen ({3}) und ein Konzept zu erarbeiten, das nicht zu Lasten der übrigen Hochschullandschaft Thüringens gehen soll. Alle weiteren Überlegungen basieren auf diesem Abschlußbericht. Eine zentrale Rolle bei der Entscheidungsfindung nehmen die Fragen nach der Ausbildungskapazität und nach den Kosten ein, also ob es die Landesregierung verantworten kann, eine 200%ige Ausbildungskapazität vorzuhalten und die damit verbundenen erhöhten Kosten zu tragen. ({4}) Damit bin ich wieder bei den Kosten. Obwohl es in der Öffentlichkeit verschiedentlich anders dargestellt war: Ein Hochschulklinikum ist und bleibt teurer als ein gleichgroßes Krankenhaus der Maximalversorgung, und zwar mindestens doppelt so teuer. ({5}) Ministerin Christine Lieberknecht ({6}) Diese Aussage des Abschlußberichts kann nach wiederholter Prüfung nur nachhaltig bestätigt werden. Dazu liegen einheitliche Aussagen des Thüringer Finanzministeriums, des Wissenschaftsministeriums und des Sozialministeriums vor. ({7}) - Das wollte ich hier sogleich ergänzen: Es geht nicht um den Rücktritt als Oberbürgermeister, sondern als stellvertretender CDU-Vorsitzender. Das steht aber auf einem anderen Blatt. Eine Einsparung bis zu 150 Millionen DM im Jahr ist festzustellen. Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden, daß die Fördermittel entsprechend dem Hochschulbauförderungsgesetz dieses Defizit mehr als ausgleichen würden. Das ist aber ein Trugschluß. Bis auf wenige Ausnahmen sind alle Universitäten und Hochschulen sowie Fachhochschulen Einrichtungen eines Landes und damit durch das Land zu finanzieren; so auch in Thüringen. ({8}) Doch der Bund gibt für Hochschulbauten und Großgeräteerwerb einen Zuschuß im Rahmen seiner haushaltsrechtlichen Möglichkeiten. Bei insgesamt 1,6 Milliarden DM pro Jahr im Bundeshaushalt hat Thüringen ca. 60 Millionen DM zu erwarten - und dies für alle Hochschuleinrichtungen in Thüringen. Demgegenüber sind Papiere von hochdotierten Professoren der Medizinischen Hochschule Erfurt bis zum heutigen Tag schlichtweg falsch. ({9}) Als Beispiel möchte ich die letzte Vorlage aus der Medizinischen Hochschule vom 11. November anführen. Hier heißt es: Eine Entscheidung für die Schließung der Erfurter Hochschule ist nicht denkbar, weil das Land erstens auf die Bundeszuschüsse verzichten und zweitens für den Erhalt des Krankenhauses in etwa gleiche Beträge aufwenden muß. Dies ist und bleibt falsch. Weiterhin wird auf Brandenburg hingewiesen; es wird als vorbildlich hingestellt, daß dort drei Universitäten gegründet werden. Dabei wird allerdings verschwiegen, daß nicht eine einzige dieser Universitäten eine medizinische Fakultät hat. In diesem Papier ist man auch der Meinung, im gesamten Bundesgebiet seien bisher keine Hochschuleinrichtungen liquidiert worden. Auch dies ist falsch. Als unser heutiger Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel seinerzeit in Trier eine Universität gegründet hat, ({10}) hat er als erstes die Pädagogische Hochschule in Trier geschlossen. Särge wurden durch die Straße getragen - wie das so ist -, Totenbilder wurden gemalt. Heute, nach 15 Jahren, ist man stolz auf die damals gegründete Universität. Das zeigt: Hochschulpolitik muß für die Zukunft angelegt sein. Unter Beachtung aller vorliegenden Materialien faßte die Thüringer Landesregierung deshalb am 3. November 1992 einen Grundsatzbeschluß zur Gestaltung der Hochschulmedizin in Thüringen und zur Umstrukturierung der MHE. Das erste Ziel dieses Beschlusses ist der Aufbau eines Krankenhauses der Maximalversorgung aus dem Bereich der stationären Krankenversorgung der MHE. Auf die Aufzählung der weiteren Punkte kann ich jetzt verzichten. Dieser Beschluß bedeutet in finanzieller Hinsicht, daß bei Garantierung des medizinischen Versorgungsauftrages und Erhaltung der vorhandenen Forschungskapazitäten - aber bei Reduzierung der Ausbildungskapazitäten auf die Bedürfnisse Thüringens - Einsparungen bis zu 150 Millionen DM pro Jahr für den Landeshaushalt zu erwarten sind. In diesem Grundsatzbeschluß erklärte die Landesregierung ihren Willen, die Voraussetzungen für die Berufung des Gründungsausschusses der Universität Erfurt im Jahr 1993 zu schaffen. Das bedeutet in der Tat einen Schritt in der Thüringer Hochschullandschaft. ({11}) Wir haben eben nicht nur an heute zu denken, sondern auch an morgen. Diese Verantwortung übernehmen wir. Nach alldem ist festzuhalten: Die Schließung der Medizinischen Hochschule in Erfurt ist gewiß keine Frage der Gesundheitspolitik, schon gar nicht der Bundesregierung. Ein gemeinsamer Nenner mag jedoch sein, daß es zum erklärten Ziel der Gesundheitspolitik der Bundesregierung gehört, eine Kostenkonsolidierung herbeizuführen, ({12}) ohne dabei die medizinische Versorgung zu gefährden oder soziale Probleme auftreten zu lassen. Davon haben sich die Thüringer Landesregierung und der Landtag in Erfurt leiten lassen. Ich danke Ihnen. ({13})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich erteile unserem Kollegen Josef Hollerith das Wort.

Josef Hollerith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste hat diese Aktuelle Stunde unter dem Deckmantel und dem falschen Etikett der Gesundheitspolitik erschwindelt. ({0}) Die Gesundheitsreform ist nicht in Kraft; sie kann deshalb auch keine Auswirkungen auf die medizinische Versorgung haben. Dies wissen wir in diesem Hohen Hause. Die heutige Debatte ist auch deshalb überflüssig, da die alleinige Zuständigkeit, ({1}) über die Hochschulstruktur zu entscheiden, beim Bundesland Thüringen liegt. ({2}) Der Deutsche Bundestag hat keine Kompetenz, darüber zu entscheiden. Diese Debatte ist deshalb eine Farce, an der ich mich nicht beteiligen werde. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, Sie kennen das Zulassungsverfahren. Wenn die Zuständigkeit der Bundesregierung nicht gegeben wäre, gäbe es hier keine Aktuelle Stunde. ({0}) Außerdem wird nicht etwa über die Gesundheitsreform eine Aktuelle Stunde verlangt, sondern über die Folgen der Gesundheitspolitik der Bundesregierung. Gesundheitspolitik haben wir immer gemacht. Als nächste hat unsere Frau Kollegin Dr. Helga Otto das Wort.

Dr. Helga Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001667, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Abwicklung, ein negativ besetztes Wort, sorgt seit der Wende überall in den neuen Bundesländern für Verunsicherung. Für den einzelnen bedeutet es einen Bruch im Lebenslauf, wenn nicht das Ende seiner Berufslaufbahn. Für die Region wiegt es - in der Menge gesehen - sehr schwer: wieder Ausfälle im Steuerbereich für Kommune, Land und Bund, Belastung des Arbeitsamtes, Stillstand in dem so viel gepriesenen Aufschwung Ost. Wir sind nicht mehr still. Wir wehren uns gegen die kurzsichtige Politik der Verantwortlichen; und immer mehr fragen wir nach den Hintergründen einer Abwicklung. War sie unvermeidbar, vorwiegend politisch oder finanziell? Denn in diesem Falle, in dem es um eine Medizinische Akademie geht, fällt den Politikern im Bund und in den Ländern doch eine besondere Verantwortung zu. Die Akademien in der ehemaligen DDR waren kleine Einrichtungen. Erfurt hatte inzwischen begonnen - mit Erfolg -, sich ein Vorklinikum aufzubauen. Der Vorteil dieser kleinen Einrichtungen bestand in einer gründlichen, praxisnahen Ausbildung. Wohnraumprobleme wurden so gemindert. Die Medizinische Akademie in Erfurt wurde denn auch positiv evaluiert. Sie besaß das Recht zur Promotion und Habilitation. Es wurde auch intensiv genutzt. Besonders stark war die Akademie auf dem Gebiet der Herz-Kreislauf-Forschung und der Onkologie; sie hatte aber auch andere Forschungsschwerpunkte. Die „Erfurter Woche" war eine vielgenutzte, hochqualifizierte Weiterbildung für uns Ärzte aus der ganzen Republik. ({0}) Die Hochschulrektorenkonferenz forderte am 17. und 18. Februar 1992 die Landesregierung auf, angesichts der unbestrittenen Notwendigkeit wissenschaftlicher Weiterbildung und Nachqualifizierung vieler Hochschulabsolventen, das Weiterbildungspotential der Hochschulen zu erhalten und zu erweitern. Einem Abbau unter kurzfristigen finanziellen Aspekten würde ein Neuaufbau mit höheren Kosten folgen. Weiter heißt es: Auch für die neuen Bundesländer gilt, daß Wissenschaft und Forschung entscheidende Faktoren für wissenschaftliches Wohlergehen und Prosperität sind. ({1}) Fachliche Abstimmung zwischen den beiden Ausbildungsstätten Jena und Erfurt wäre bei klarer Schwerpunktbildung und Aufgabenteilung eine echte Alternative gegenüber der Abwicklung der Medizinischen Akademie Erfurt gewesen. ({2}) Finanziellen Engpässen, die der einzige Grund der Schließung der Medizinischen Akademie Erfurt sind, stehen gute Gründe für die Erhaltung dieser Einrichtung gegenüber: Sicherung der hochqualifizierten medizinischen Versorgung der Bevölkerung in Erfurt und Umgebung; Erhalt und Erhöhung der Attraktivität des Standorts Erfurt für die medizinische Forschung und Lehre. Standorte mit Forschung und Lehre ziehen hochqualifizierte Arbeitskräfte an und schaffen Arbeitsplätze auch in Zukunft für andere Wissensgebiete. Das Studium an kleinen, hochqualifizierten Einrichtungen bringt volkswirtschaftlich einen höheren Gewinn - für Dozenten und Studenten - und bedeutet Humanisierung des .Arbeitslebens. Die Disqualifizierung von Hochschulen in den alten Bundesländern zu Volkshochschulen - im wahrsten Sinne des Wortes - kann für uns Ostdeutsche höchstens ein abschreckendes Beispiel sein. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den Artikel im „Spiegel" vom 2. November 1992 unter der Überschrift „Das macht dich echt fertig". Eine so schwerwiegende Entscheidung wie die Schließung einer Medizinischen Hochschule sollte deshalb mit Überlegungen über die Auswirkungen auf die Zukunft verbunden sein. Einsparungen von einigen Millionen DM auf der einen Seite können Verluste viel höheren Ausmaßes für die ganze Region bedeuten. Wir sollten endlich aufhören, unsere akademische Jugend aus dem Land zu jagen und großzügig auf Forschungskapazität zu verzichten. ({3}) Mit dem gestrigen Entschluß des Thüringer Landtags zur Schließung der Medizinischen Akademie wurden die Weichen für den Zug in die Zukunft falsch gestellt. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Der nächste Redner ist unser Kollege Dr. Bruno Menzel.

Dr. Bruno Menzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001474, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beschäftigen uns in dieser von der PDS beantragten Aktuellen Stunde mit der geplanten - jetzt kann ich sagen: vollzogenen - Schließung der Medizinischen Ho-schule Erfurt. In Thüringen ist das sicher ein Thema von allgemeinem und aktuellem Interesse. Natürlich ist der Deutsche Bundestag nicht unbedingt das geeignete Forum für die Erörterung dieses landesspezifischen Problems, auch wenn ein wenig angestrengt ein Bezug zur Gesundheitspolitik der Bundesregierung hergestellt werden kann. Aber wenn wir schon diskutieren, dann ist es uns trotzdem nicht verwehrt, unsere Gedanken dazu zu äußern. Der Bund stellt über das Hochschulbauförderungsgesetz in den kommenden Jahren dem Land Thüringen für Investitionsvorhaben im Hochschulbereich Mittel zur Verfügung. Die Verwendung dieser Mittel und die konkrete Ausgestaltung der medizinischen Hochschullandschaft liegen unbestritten einzig und allein in der Kompetenz des Landes Thüringen. Ausgehend von dieser Überlegung, liegt es mir persönlich natürlich fern, auf Entscheidungen der thüringischen Landesregierung in irgendeiner Weise einwirken zu wollen. Ich möchte dennoch diese Aktuelle Stunde nutzen, einige grundsätzliche Gedanken zur Schließung der Medizinischen Hochschule Erfurt zu äußern. In verschiedenen Untersuchungen wird festgestellt, daß die Fortführung zweier Hochschulkliniken in Jena und Erfurt im derzeitigen Umfang weder bedarfsgerecht noch finanzierbar sei und eine Entscheidung der Landesregierung über den künftigen Standort herbeigeführt werden müsse. Dies ist nun zugunsten Jenas geschehen. Für eine solche Entscheidung sprechen sicher zahlreiche Gründe. Der Wissenschaftsrat hat aber neben dem Hochschulklinikum Jena auch die Medizinische Hochschule Erfurt positiv evaluiert. Beide Einrichtungen haben in der Vergangenheit ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Erfurt hat dabei die höchste Quote an promovierten Hochschulabsolventen zu verzeichnen - ein Hinweis auf die Güte der medizinischen Ausbildung. ({0}) Überlegungen hinsichtlich Erhalt dieses Leistungsniveaus in Erfurt sollten trotz der Entscheidung für Jena nicht ausgeklammert bleiben. Auch wenn die Qualität der medizinischen Versorgung in Erfurt durch die Umwandlung der Medizinischen Hochschule in ein Krankenhaus mit Maximalversorgung nicht zwingend beeinträchtigt würde, hätte die Forschung dort in Zukunft nur noch eine untergeordnete Rolle inne. Die Abwanderung von Fachkräften ist sicher unvermeidlich. ({1}) Ich hoffe, daß die thüringische Landesregierung das Engagement der Erfurter Bevölkerung und der Studenten für den Erhalt der Medizinischen Hochschule berücksichtigt. Für unsere Menschen in den neuen Bundesländern ({2}) ist erlebte Demokratie die beste Hilfe, sich in die Demokratie hineinzuleben. ({3}) Angesichts der Konzentration von Lehre und Forschung auf die Friedrich-Schiller-Universität Jena und des dort dadurch erwachsenden erhöhten Baubedarfs sollten sich die Verantwortlichen alternativen Planungen und der Frage nicht verschließen, ob nicht doch größere Teile des Lehrangebots und der Forschungseinrichtungen in Erfurt verbleiben könnten, als derzeit vorgesehen ist. In diesem Zusammenhang ist vielleicht auch zu bedenken, daß mit Blick auf überfüllte Universitäten in den alten Bundesländern attraktive Ausweichmöglichkeiten in den neuen Bundesländern durchaus als möglich und sinnvoll anzusehen sind. Auch wenn hier gesagt wird, daß die Studenten, die jetzt dort noch ihre Ausbildung erhalten, diese auch in Zukunft haben werden, sollten wir bedenken: Wenn eine Unsicherheit über einer Einrichtung schwebt, unterliegen die Ergebnisse, die aus der Forschung dann zu erwarten sind, wenn sich jeder schon weg orientiert, natürlich einer Beeinträchtigung. Ich möchte zum Schluß meiner Hoffnung Ausdruck verleihen - und in diesem Sinn an die Verantwortlichen appellieren -, daß Lösungen gefunden werden können, die sowohl den finanziellen Möglichkeiten des Landes als auch den Interessen der Erfurter und der Erfurter Studenten und jenen in Jena Rechnung tragen. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich erteile jetzt das Wort des Herrn Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, unserem Kollegen Norbert Lammert.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem Antrag der Partei des Demokratischen Sozialismus verdanken der Deutsche Bundestag und die deutsche Öffentlichkeit die Befassung mit einem Thema, das unzweifelhaft aktuell ist, aber genauso unzweifelhaft außerhalb der Zuständigkeit des Bundestages und der Bundesregierung liegt. ({0}) Ein Zusammenhang mit der Gesundheitspolitik der Bundesregierung besteht selbstverständlich nicht. Das hat bemerkenswerterweise auch in dieser Debatte überhaupt keine Rolle gespielt. ({1}) Dieser Zusammenhang ist schlicht und ergreifend deswegen behauptet worden, um die vom Präsidenten vorhin angedeuteten formalen Mindestvoraussetzungen für die Herbeiführung einer Plenardebatte zu erzwingen. ({2}) Ob die Medizinische Akademie Erfurt aufgelöst wird oder fortbesteht, entscheidet ausschließlich die Landesregierung und der Landtag von Thüringen. Die Bundesregierung hat überhaupt nicht die Absicht, sich in diese ausdrückliche und gut begründete Zuständigkeit der verfassungsmäßigen Organe des Landes Thüringen einzumischen. Nun ist in der Diskussion aus guten Gründen mehrmals auf die Stellungnahme des Wissenschaftsrats und auf die Bedeutung dieser Stellungnahme für den Entscheidungsprozeß der Thüringer Verfassungsorgane Bezug genommen worden. Tatsächlich gibt es keine Empfehlung des Wissenschaftsrats, die die jetzt getroffene Entscheidung in Thüringen zwingend gemacht hätte. Das ist wahr. ({3}) Richtig ist allerdings, daß der Wissenschaftsrat die Notwendigkeit einer möglichst baldigen Entscheidung ausdrücklich reklamiert hat. Daher ist, wie ich denke, mit Respekt anzuerkennen, daß Landtag und Landesregierung von Thüringen diesem aus vielen Gründen nun offensichtlichen Entscheidungsbedarf jedenfalls nachgekommen sind. Es gibt möglicherweise in der Diskussion einen Zusammenhang - so ist dies von einzelnen angedeutet worden -- zwischen der Entscheidung über die Fortführung der Medizinischen Akademie und den ja noch nicht abgeschlossenen Überlegungen im Land Thüringen, eine Universität in Erfurt zu betreiben. ({4}) Auch hier - darüber ist bisher nicht gesprochen worden - hat der Wissenschaftsrat auf einen Sachzusammenhang aufmerksam gemacht, den ich in diese Diskussion einführen möchte. In der Stellungnahme zur Gründung einer Universität in Erfurt vom 24. Januar 1992 hat der Wissenschaftsrat darauf hingewiesen - ich zitiere: Die Sanierung der Medizinischen Akademie und ihr möglicher Ausbau zu einer medizinischen Fakultät einschließlich Vorklinik würde nach der derzeitigen Finanzplanung und deren Perspektiven die für den Hochschulsektor des Landes Thüringen verfügbaren Mittel überfordern. Dies würde die Sanierung und den Ausbau der anderen Hochschulen des Landes gefährden. Der Wissenschaftsrat weist darauf hin, daß unter solchen Umständen der Aufbau einer Universität in Erfurt hochschulpolitisch nicht zu verantworten wäre. Eine Entscheidung über die Medizinische Akademie sollte deswegen nicht weiter aufgeschoben werden. In ähnlicher Weise hat der Medizinausschuß des Wissenschaftsrats wegen der notwendigen Empfehlungen für den Ausbau von medizinischen Fakultäten auf eine möglichst baldige Entscheidung der Thüringer Verfassungsorgane gedrängt. Diese Entscheidung ist jetzt getroffen worden. Nun kann man zu dieser Entscheidung sicher unterschiedlicher Meinung sein. Dies ist ja nicht nur, aber auch in dieser Debatte deutlich geworden. Aber offensichtlich gibt es auch vor Ort keineswegs nur die hier mit einem gewissen Eifer transportierte allgemeine Empörung über die getroffene Entscheidung, sondern es gibt natürlich auch Stimmen, die mindestens Verständnis für diese Art von Entscheidung haben. Jedenfalls ist mir ein Kommentar einer thüringischen Tageszeitung von gestern aufgefallen, in dem es heißt: Man kann nicht alle Bildungsstätten, alle Theater, Orchester und Kinderkrippen erhalten und von dem gleichen Geld Investoren anlocken und den Mittelstand fördern wollen. ({5}) Es ist Zeit, daß sich Politiker auch zu unbequemen Wahrheiten bekennen. Meine Damen und Herren, man kann mit jeweils beachtlichen Argumenten die vom Thüringer Landtag und von der Thüringer Landesregierung getroffene Entscheidung für falsch halten. Aber daß es eine bequeme Entscheidung wäre, wird man nicht ernsthaft behaupten können. Insofern verdient diese Entscheidung Respekt. Ich meine, daß es ein Gebot der Redlichkeit und des Respekts gegenüber der Verfassungsordnung des Grundgesetzes ist, der der PDS möglicherweise nach wie vor schwerfällt, ({6}) den Deutschen Bundestag nicht für sachverständiger und nicht für zuständiger zu halten als die politisch verantwortlichen Verfassungsorgane des Landes Thüringen, die diese Entscheidung in Wahrnehmung ihrer Verantwortung getroffen haben. ({7})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, die nächste Rednerin ist Frau Kollegin Dr. Else Ackermann.

Dr. Else Ackermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Universitäten fallen zweifelsohne unter die Kompetenz der Länder, wenn auch vom Bund erhebliche Mittel für Bauinvestitionen und Großgeräte zur Verfügung gestellt werden. Die Schließung einer Hochschule, in diesem Fall einer medizinischen in Erfurt, erregt aber verständlicherweise die Gemüter der Abgeordneten aus den neuen Bundesländern. ({0}) Niemand verkennt, daß Universitäten und Hochschulen viel Geld kosten, aber die höchsten Bildungseinrichtungen eines Staates waren zu allen Zeiten immer die besten Investitionen in die Zukunft. ({1}) Jeder Landesfürst war stolz, eine Universität zu haben, an der junge Menschen aus vielen Ländern studierten. Sie boten allerdings auch häufig Grund für Ärgernisse, weil sie Brutstätten neuer Ideen waren, die zu allen Zeiten als gefährlich galten und deshalb nicht immer mit Wohlgefallen gesehen wurden. Universitäten sind aber vielleicht gerade deshalb in der Regel dem Zeitgeist voraus, und jede Stadt kann sich glücklich preisen, universitäre Bildungsstätten zu besitzen. Erfurt verlor seine mittelalterliche Universität in den Wirren der napoleonischen Kriege, als man aus finanziellen und ökonomischen Gründen nur noch die Universität in Jena bestehen ließ - ein Schicksal, dem auch die Universität Frankfurt/Oder unterlag. Als Keimzelle einer späteren Universität wurde die Medizinische Akademie Erfurt 1954 zeitgleich mit den Medizinischen Akademien in Dresden und Magdeburg gegründet. Die Schließung der Medizinischen Akademie in Erfurt bzw. aller drei Medizinischen Akademien aus finanziellen Gründen ist bereits in den siebziger Jahren in der DDR diskutiert, aber nie ausgeführt worden. Im Gegenteil: 1975 wurde in Erfurt sogar eine moderne Zahnklinik gebaut, die in einem wesentlich besseren Zustand ist als das Zahnmedizinische Institut der Charité. Es gibt natürlich auch für eine Weiterführung dieser Medizinischen Hochschule Gegenargumente. Das Land verfügt einfach nicht über genügend Finanzmittel, wie wir heute erfahren haben, Darüber hinaus gibt es bereits, so wurde mir gesagt, zu viele Ärzte, und die Universität von Jena befindet sich in nur 50 km Entfernung; somit könnte diese Universität die Medizinstudenten aus Erfurt übernehmen. Als Konsequenz ergibt sich, daß die Hochschule geschlossen werden muß und ein Krankenhaus mit Maximalversorgung favorisiert wird. Dieser Empfehlung steht aber das thüringische Hochschulgesetz entgegen, das den Erhalt der Erfurter Hochschule sichert. ({2}) Geld ist knapp, und man muß zweifelsohne Prioritäten setzen. Bevor man aber Einrichtungen schließt oder abwickelt - „abwickeln" ist in den neuen Bundesländern ja ein ungeliebtes Wort -, sollte man Kompromisse suchen. Denkbar wäre doch auch ein langfristig angelegter Finanzierungsplan. Es ist unklar, warum nur Lösungen betrachtet werden, die sich gegenseitig ausschließen. Eine auf weite Sicht geplante Integration der Medizinischen Hochschule in die neu zu gründende Universität zu Erfurt sollte auf jeden Fall angestrebt werden. ({3}) Die Vorzüge eines Studiums universale haben unsere Vorfahren schon vor 400 Jahren erkannt. Sollten sie damals weiser gewesen sein als wir heute? ({4}) Auch sollte uns zu denken geben, daß mit der Schließung der Erfurter Hochschule der fakultätsübergreifende Bildungsauftrag einer Universität nicht mehr erfüllt wäre. Es darf ferner nicht vergessen werden, daß auch der Staat einen Bildungsauftrag zu erfüllen hat. Die Einführung eines Numerus clausus ist als Regulierungsmechanismus durchaus legitim, nicht aber die Schließung einer Hochschule. Auch die Argumentation, daß die Universität zu Jena für das Land Thüringen ausreichend sei, ist nicht gerade überzeugend. Dahinter vermute ich ein Relikt einer leider noch verbreiteten DDR-Mentalität. Tatsächlich konnte man in der ehemaligen DDR nur in den seltensten Fällen im westeuropäischen Ausland studieren; doch dies ist seit der Vereinigung vollkommen anders. Die Medizinische Hochschule in Erfurt bzw. die spätere Universität wäre eine deutsche Universität, an der auch Abiturienten aus anderen Bundesländern oder aus dem Ausland studieren könnten. ({5}) Außerdem könnte die Erfurter Universität für viele Studenten, die der überfüllten Hörsäle an westdeutschen Universitäten überdrüssig sind, als Zufluchtsort dienen. Der Reiz einer kleinen Universität oder auch Hochschule darf nicht zu gering bewertet werden. Abschließend möchte ich noch sagen, daß nach 1949 in den alten Bundesländern insgesamt 13 neue medizinische Fakultäten oder Hochschulen gegründet wurden. Danke schön. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, ich erteile unserem Kollegen Dr. Hans-Hinrich Knaape das Wort.

Dr. Hans Hinrich Knaape (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf Antrag der PDS beschäftigen wir uns erneut mit einem sensiblen Thema in den neuen Bundesländern als Folge der Wiedervereinigung. Ich will folgendes vorwegnehmen: Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag bewegt die gestern vom Landtag in Thüringen mit Mehrheit beschlossene Schließung der Medizinischen Hochschule Erfurt zum 31. Dezember 1993. Wir sehen die Auflösung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen, den Abbruch von Forschungen an wissenschaftlich ausgewiesenen Kliniken und Instituten und besonders das Leid und die Verzweiflung über persönliche Schicksale. Es macht uns betroffen. Frau Dr. Fischer als gesundheitspolitische Sprecherin der PDS zieht aber eine Verbindung zwischen der Schließung der medizinischen Einrichtung und der Gesundheitspolitik der Bundesregierung. Ihre Kritik setzt mehr emotional-destruktiv als konstruktiv-sachlich an. Gehen wir diesen Aspekten nach. Erstens: Die Beziehung soll doch wohl so verstanden werden, daß die Bundesregierung für alles verantwortlich ist, was in den neuen Ländern geschieht, auch wenn die Kompetenz, wie in diesem Fall, bei der Landesregierung und dem Landtag in Thüringen liegt. Da der Kanzler und der Ministerpräsident der gleichen Partei angehören, ist die Analogie zum Kanzlerwort bei der Wiedervereinigung „Keinem soll es schlechter gehen" gegeben. Übersehen wird, daß die SED in der DDR es versäumt hat, die Medizinische Akademie Erfurt von 1954 bis 1989 zu einem modernen Klinikum mit räumlich verbundenen Kliniken und Instituten zu entwickeln, unter Einbeziehung einer vorklinischen Ausbildung der Studenten. Zweitens: Der sich ergebende finanzielle Investitionsbedarf zum Erhalt der Studieneinrichtung aus diesem Versäumnis überfordert das Land Thüringen und stünde in keiner Relation zur Befriedigung des Bedarfs an Studienplätzen in anderen, für die Landesentwicklung notwendigen Fachrichtungen, wie den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften und auch einer philosophischen Fakultät. Dies widerspricht dem Geist des von den Koalitionsparteien und der SPD jetzt im Gesundheitsausschuß abgestimmten Gesundheits-Strukturgesetzes, Überkapazitäten an Ärzten und ihre Folgen, wie die Unmöglichkeit einer individuellen Berufsausübung nach langjähriger Ausbildung, zu vermeiden. Die PDS mag anderer Ansicht sein, aber das wäre die Vertretung einer emotional gefärbten Ansicht ohne rationale Sachlichkeit. ({0}) Drittens. Was nun, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesgesundheitsminister? Draußen vor sind sie beide nicht. In den neuen Bundesländern besteht in medizinischen Kliniken ein enormer investiver Nachholbedarf über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren, an dem sich der Bund mit erklärter Zustimmung der Regierungskoalition im Gesundheitsausschuß beteiligen sollte, gesprochen wird von einem Drittel der Investitionen. Kommen Sie nun rüber, nicht mit Absichtserklärungen und ungenauen Versprechungen, sondern mit einer klaren Offenbarung! Das heißt, es muß in das nun zu verabschiedende Gesundheits-Strukturgesetz ein Paragraph aufgenommen werden, der den Anteil des Bundes an diesem Investitionsbedarf regelt. So ist es in der Ministerpräsidentenrunde beim Kanzler am 22. Oktober 1992 von diesen gefordert worden. ({1}) Eine beabsichtigte Regelung über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern bedeutet eine Verschiebung auf unbestimmte Zeit, da dieser erst 1995 geregelt wird. Hiermit wäre dem Land Thüringen und Erfurt bei der Umstrukturierung der Medizinischen Hochschule in ein Krankenhaus der Maximalversorgung nicht geholfen. Folglich muß eine verbindliche Entscheidung des Kanzlers und des Finanzministers über den investiven Nachholbedarf noch vor Verabschiedung des Gesundheits-Strukturgesetzes am 9. Dezember 1992 durch den Bundestag erfolgen. Dem stimmen Sie zu, Herr Sopart, nicht? Damit möchte ich schließen. Auch die protestierenden Betroffenen in Erfurt sollten in dieser Hinsicht ihren Ministerpräsidenten in Thüringen an die Landespflicht erinnern, auf den Bundeskanzler in dem beabsichtigten Gespräch am 1. Dezember 1992 dahin gehend einzuwirken, den Investitionstransfer auch mit dem Bundesfinanzminister zu klären, um auch für Erfurt die Folgen der schmerzhaften Entscheidung abzuschwächen. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich erteile das Wort unserem Kollegen Dr. Gerhard Päselt.

Dr. Gerhard Päselt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Aktuelle Stunde zum Thema „Die Folgen der Gesundheitspolitik der Bundesregierung am Beispiel der geplanten Schließung der Medizinischen Akademie Erfurt" beinhaltet zwei verschiedene Aspekte: die Gesundheitspolitik und die Hochschulpolitik der Bundesregierung. Mit dieser Aktuellen Stunde verfolgt die PDS ja nicht die Rettung bzw. Weiterführung der Medizinischen Hochschule Erfurt, sondern es sollen vor dem Hintergrund der gegenwärtig stattfindenden Auseinandersetzung zum Gesundheits-Strukturgesetz die Bundesregierung herabgesetzt und Unruhe in der Bevölkerung erzeugt werden. In der Tat sorgt die Schließung der Medizinischen Hochschule Erfurt aber für beträchtliche Unruhe in Thüringen und verstärkt den Eindruck, daß hier eine Einrichtung allein aus finanziellen Gründen geschlossen werden soll. Die heutige Aktuelle Stunde müßte eigentlich im Thüringer Landtag geführt werden, da die Finanzierung der Hochschulen und die Hochschulstrukturen eine Sache des Landes sind. Der Bund beteiligt sich zu 50 % am Hochschulbau. Die Situation der Medizinischen Hochschule Erfurt sei kurz skizziert. Seit 1954 als Medizinische Akademie auf- und ausgebaut, erwarb sie sich in Lehre und Forschung und medizinischer Betreuung einen sehr guten Ruf. Nach dem Sturz des SED-Regimes und einer positiven Einschätzung durch den Wissenschaftsrat, die dem Ausschuß für Bildung und Wissenschaft als Ausschußdrucksache vorliegt, hoffte die Medizinische Akademie auf eine Erneuerung und Modernisierung in jeglicher Form. Gestatten Sie, daß ich aus dem Votum des Wissenschaftsrats nur folgendes zitiere - das meiste ist schon zitiert worden -: Der Wissenschaftsrat hat jedoch erhebliche Bedenken hinsichtlich der Finanzierbarkeit durch das Land. Das ist eigentlich der entscheidende Satz. Man spricht sich dafür aus, daß sie erhalten bleibt, man lobt sie, aber am Ende macht man hier nicht Fisch und nicht Fleisch. Es heißt auch: Unerläßlich ist eine enge fachliche Abstimmung zwischen beiden medizinischen Ausbildungsstätten. Das heißt: zwischen Jena und Erfurt. Das Thüringer Hochschulgesetz vom 7. Juli 1992 - man beachte das Datum! - verzeichnet unter § 1 Abs. 2: Hochschulen des Landes sind 1) die Medizinische Hochschule Erfurt . . In Abs. 3 heißt es: Die Errichtung, die Zusammenlegung und die Aufhebung von Hochschulen des Landes erfolgt durch Gesetz. Vorgestern ist in der Landtagssitzung meines Wissens eine Empfehlung oder eine Entschließung über die endgültige Aufhebung beschlossen worden, die aber noch keinen Gesetzescharakter im eigentlichen Sinne hat. Es fällt mir schwer, aus der Fülle der mir vorliegenden Meldungen und Berechnungen ein vollständiges und gerechtes Bild über die Notwendigkeit und die Art und Weise der Schließung zu gewinnen. Ich hätte mir gewünscht, daß durch eine öffentliche Anhörung die konträren Standpunkte nochmals hätten ausgetauscht werden können. Der Rektor der Medizinischen Hochschule Erfurt hat sich in einem Telefonat darüber beklagt, daß er kaum und der Senat nicht in diese schwerwiegende Entscheidung einbezogen wurde; dies betrifft auch das Gespräch über die Zukunft der Einrichtungen und der Studenten. Den Bürgern meines Wahlkreises ist die Entscheidung schwer verständlich zu machen. Für sie ist die Medizinische Hochschule Erfurt aus der medizinischen Versorgung nicht wegzudenken, da die Ausstattung der Kreiskrankenhäuser nicht dem Weststandard entspricht. Für eine weitere Verbitterung sorgen Gerüchte - ich betone: Gerüchte - unter der Bevölkerung, siehe „FAZ", daß im benachbarten Hessen, in Kassel, eine Medizinerausbildung aufgebaut werden soll. Da appellieren meine Landsleute in Thüringen doch an die Solidarität der anderen Länder, lieber erst einmal Thüringen zu helfen. Nicht von der Hand zu weisen ist die Tatsache, daß es die erste Schließung einer Medizinischen Hochschule in Deutschland ist. Die medizinische Hochschullandschaft ist dadurch ärmer geworden. Die medizinischen Akademien in Dresden und in Magdeburg konnten in anderer Form erhalten werden. Wäre in Erfurt nicht die gleiche Lösung möglich gewesen? Herr Präsident, meine Damen und Herren, als Student der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der aber auch Erfurt genau kennt, möchte ich keine Vergleiche zwischen Jena und Erfurt anstellen. Ich bin für einen vernünftigen Erhalt beider Einrichtungen. Danke. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, der letzte Redner in der Aktuellen Stunde ist unser Kollege Dr. Hans-Joachim Sopart.

Dr. Hans Joachim Sopart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Art der Formulierung dieses ernsten Themas der heutigen Aktuellen Stunde hat die Gruppe der PDS in diesem Haus wieder einmal einen Tiefpunkt ihrer politischen Polemik erreicht. Es ist wohl wahr, die thüringische Landesregierung hat in einem Kabinettsbeschluß festgelegt, eine Medizinische Hochschule in ein Krankenhaus der Maximalversorgung mit angegliederten wissenschaftlichen Instituten umzuwandeln. Das bedeutet, daß sich am Status der medizinischen Versorgungsleistung dieser Einrichtung nichts ändert. Ein Krankenhaus der Maximalversorgung verliert seinen Hochschulstatus. Ich möchte nicht mißverstanden werden. Auch ich halte die Abwicklung einer ostdeutschen Hochschule für einen dramatischen Vorgang mit den entsprechenden bildungs- und forschungspolitischen Konsequenzen. Hier aber einen ursächlichen Zusammenhang mit der Gesundheitspolitik der Bundesregierung herstellen zu wollen kann bei einigem Sachverstand, den ich Ihnen, Frau Fischer, zweifelsfrei unterstelle, ({0}) nur mit der Zielstellung einer irreführenden Polemik geschehen, dies besonders auch mit Blick auf das neue Gesundheits-Strukturgesetz, das ja von ganz anderer Seite verwendet worden ist, um Unruhe in die Bevölkerung und unter die Patienten zu tragen. Dies ist auch kaum dadurch entschuldbar, daß Sie eine mögliche Schließung der Hochschule in Erfurt bedauern oder daß Sie sich ernstlich um die zukünftige Krankenhausfinanzierung in den neuen Ländern sorgen. Nein, die Kompetenzlage ist eindeutig, es wurde mehrfach gesagt: Die Entscheidung über die Hochschulstruktur des Landes Thüringen liegt allein bei der Landesregierung dieses Bundeslandes. Natürlich sind auch bundespolitische Gesichtspunkte berührt. Das betrifft im wesentlichen die Rahmenplanung für den Hochschulneubau, aber auch hier muß die Bundesregierung bestrebt sein, eine Hochschulstruktur zu installieren, die auch langfristig finanzierbar bleibt. Was nun aber die Gesundheitspolitik der Bundesregierung betrifft, so ist gerade die Krankenhausfinanzierung einschließlich der Finanzierung von Hochschulkliniken sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft gesichert. ({1}) - Ich erkläre Ihnen das noch. Schon jetzt hat sich gerade als Folge der Gesundheitspolitik der Bundesregierung die medizinische Versorgung im stationären Bereich in den neuen Ländern deutlich verbessert. Ich denke da z. B. an die Versorgung mit allen notwendigen Arznei- und Hilfsmitteln, aber auch an die Nutzung qualitativ hochwertiger Verbrauchsmaterialien. Die Verwendung mobiler Großgeräte und die Anschaffung kleiner, aber höchst effizienter medizinischer Apparate war möglich. Mannigfaltige Großinvestitionen sind im Stadium der Realisierung. Und wie sieht die Zukunft nach Inkrafttreten des Gesundheits-Strukturgesetzes aus? - Wie Sie wissen, war seinerzeit das Aushandeln von Pflegesätzen im ersten Jahr der Pflegesatzverhandlungen in den neuen Ländern höchst kompliziert. Dennoch war es gelungen, Pflegesätze festzuschreiben, die es den Krankenhäusern - auch den Universitätskliniken durch den um 15 % erhöhten Pflegesatz - ermöglichten, ihr gesamtes Leistungsspektrum aufrechtzuerhalten oder teilweise sogar zu erweitern. Im Jahre 1992 stiegen die Pflegesätze durchschnittlich um 26 %. Unter Beachtung aller neuen Regelungen des GSG wird sich auch das Krankenhausbudget für 1993 durch die Koppelung an die Grundlohnsummenentwicklung wahrscheinlich um mindestens 15 % erweitern. Zusätzlich laufen - Herr Kollege Knaape deutete dies an - gegenwärtig Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und den Ministerpräsidenten der neuen Länder zum beschleunigten Abbau des Investitionsstaus in den ostdeutschen Krankenhäusern. Das, meine Damen und Herren, sind die Auswirkungen der Gesundheitspolitik dieser Bundesregierung. Somit dürfte auch die Finanzierung des klinischen Bereichs der medizinischen Hochschule Erfurt eben durch diese Gesundheitspolitik gesichert sein. Dies wird auch ausdrücklich von der thüringischen Landesregierung bestätigt. Damit ist die These, die in der Thematik dieser Aktuellen Stunde steckt, irreführend, und, wie ich meine, der Sache wenig dienlich. Hier geht es nicht um eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit des ostdeutschen Gesundheitswesens im universitären klinischen Bereich, sondern um die geplante Abwicklung einer vom Wissenschafsrat zweifellos positiv beurteilten thüringischen Hochschule. Dies ist ein schwerwiegender Vorgang, der hoffentlich auf Landesebene sehr wohl überlegt und nochmals diskutiert wird, hat aber mit der Gesundheitspolitik der Bundesregierung absolut nichts zu tun. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 24. November 1992, 9.00 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.