Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/28/1991

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Meine Damen und Herren, ich eröffne die Sitzung. Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, möchte ich doch ausdrücken, daß wir alle erleichtert sind darüber, daß am Golf die Waffen schweigen, daß die UNO-Resolutionen vom Irak angenommen worden sind. Wir haben die Hoffnung, daß dieser Krieg beendet ist und daß es gelingen möge, im Nahen Osten miteinander eine Friedensordnung zu erarbeiten. ({0}) Dann möchte ich heute morgen zwei Geburtstagskindern gratulieren: zunächst Herrn Kollegen Ewen - ich weiß nicht, ob er heute morgen anwesend ist -, der am 23. Februar 1991 seinen 60. Geburtstag feierte; sodann Herrn Kollegen Rode ({1}), der heute seinen 60. Geburtstag begeht. Ich spreche beiden die herzlichsten Glückwünsche des Hauses aus. ({2}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: 1. Aktuelle Stunde Haltung der Bundesregierung zur Ausbildungsplatzsituation in den neuen Bundesländern ({3}) 2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta Braband und der Abgeordneten der Gruppe PDS/Linke Liste: Hilfe für die Kinder von Tschernobyl - Drucksache 12/170 3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Johannes Gerster ({4}), Wolfgang Zeitlmann, Dr. Paul Laufs, Meinrad Belle, Dr. Josef-Theodor Blank, Dr. Heribert Blens, Monika Brudlewsky, Hartmut Büttner ({5}), Joachim Clemens, Günter Klein ({6}), Hartmut Koschyk, Franz Heinrich Krey, Dr. Rolf Olderog, Dr. Peter Paul Paziorek, Otto Regenspurger, Dr. Andreas Schockenhoff, Werner Skowron, Erika Steinbach-Hermann, Michael Stubgen, Dr. Roswitha Wisniewski, Dr. Alfred Dregger, Dr. Wolfgang Bötsch und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch, Dr. Jürgen Schieder, HeinzDieter Hackel, Wolfgang Lüder, Hans-Joachim Otto ({7}), Manfred Richter ({8}), Gerhart Rudolf Baum, Dr. Hermann Otto Solms und der Fraktion der FDP: Auf- und Ausbau der öffentlichen Verwaltung und der Justiz in den neuen Bundesländern - Drucksache 12/162 4. Erste Beratung des von den Abgeordneten Egon Susset, Richard Bayha, Peter Bleser, Peter Harry Carstensen ({9}), Albert Dell, Dr. Dionys Jobst, Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein, Dr. h. c. Adolf Herkenrath, Sigfrid Hornung, Ulrich Junghanns, Bartholomäus Kalb, Hans-Ulrich Köhler ({10}), Dr. Rudolf Karl Krause ({11}), Günter Marten, Dr. Martin Mayer ({12}), Dr. Hedda Meseke, Meinolf Michels, Kurt J. Rossmanith, Günter Schartz ({13}), Jochen Borchert, Hartmut Büttner ({14}), Ilse Falk, Susanne Jaffke, Rudolf Kraus, Heinz-Jürgen Kronberg, Helmut Johannes Lamp, Karl Josef Laumann, Walter Link ({15}), Dr. Reinhard Meyer zu Bentrup, Dr. Peter Ramsauer, Ortwin Lowack, Hans Peter Schmitz ({16}), Joachim Graf von Schönburg-Glauchau, Dr. Paul Laufs, Reinhard Freiherr von Schorlemer, Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten, Simon Wittmann ({17}), Elke Wülfing und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Johann Paintner, Günther Bredehorn, Ulrich Heinrich, Jürgen Türk, Dr. Sigrid Hoth, Lisa Peters, Jürgen Koppelin und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die strukturelle Anpassung der Landwirtschaft an die soziale und ökologische Marktwirtschaft in der Deutschen Demokratischen Republik - Landwirtschaftsanpassungsgesetz - und anderer Gesetze vom ... 1991 - Drucksache 12/161 5. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 1 zu Petitionen - Drucksache 12/129 6. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 2 zu Petitionen - Drucksache 12/130 7. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 3 zu Petitionen - Drucksache 12/131 8. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({21}) Sammelübersicht 4 zu Petitionen - Drucksache 12/132 9. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 5 zu Petitionen - Drucksache 12/133 Von der Frist für die Beratung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/161 soll abgewichen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Außerdem sollen heute nach der Aktuellen Stunde entsprechend einer interfraktionellen Vereinbarung Anträge der Fraktion der SPD und der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE zur Einrichtung eines baltischen Informationsbüros in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksachen 12/164, 12/166 - beraten werden. Sind Präsidentin Dr. Süssmuth Sie damit einverstanden? - Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht des Bundesregierung über die Umsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestages zum Bericht der Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie" - Drucksache 11/8520 -Überweisungsvorschlag des Altestenrates: Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung ({23}) Auswärtiger Ausschuß Innenausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuß Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Nach einer Vereinbarung im Altestenrat sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Dazu gibt es keinen Widerspruch? - Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Staatssekretärin Frau Dr. Bergmann-Pohl.

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000155

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die intensive Beschäftigung des Bundestages mit der Gentechnik geht jetzt in die dritte Wahlperiode. In der 10. Wahlperiode wurde die Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie" eingesetzt. In der letzten Wahlperiode hat die Kommission ihren Bericht vorgelegt. Der Bundestag hat ihn beraten, darüber beschlossen und die Bundesregierung zu einem Bericht über die Umsetzung seines Beschlusses bis Ende 1990 aufgefordert. Jetzt werden die Ausschüsse die Beratungen über den nun vorgelegten Bericht der Bundesregierung aufnehmen. Der Bundestag hat sich in der letzten Wahlperiode mehrfach mit der Gentechnik befaßt, z. B. aus Anlaß des Gentechnikgesetzes. Alle diese Beratungen betrafen wichtige Einzelaspekte der Gentechnik. Sobald die Problematik der Gentechnik insgesamt zur Diskussion steht, wird aber immer wieder an den Bericht der Enquete-Kommission angeknüpft. Das belegt, wie sorgfältig damals gearbeitet wurde. Auf der Rednerliste sind heute eine ganze Reihe früherer Kommissionsmitglieder zu finden. Ich erwarte deshalb, daß sich die sachliche Diskussion zur Gentechnik im Bundestag auch in der neuen Wahlperiode fortsetzt. Der Beschluß des Bundestages ist einerseits sehr breit und grundsätzlich angelegt, andererseits spricht er zahlreiche Einzelaspekte an. Der Bericht der Bundesregierung reflektiert diese Breite und Dichte des Beschlusses. Grundsätzlich wird zu jedem der fast 200 Teilbeschlüsse gesondert berichtet. Nur ausnahmsweise werden Stellungnahmen, wo es von der Sache her geboten ist, zusammengefaßt. Die immerhin 11 Ausschüsse, die sich mit dem Bericht befassen werden, sollten dadurch in die Lage versetzt sein, die einzelnen Themen sehr konkret und ausführlich zu diskutieren. Deshalb möchte ich mich jetzt auf die Bereiche beschränken, die in die Zuständigkeit des Bundesgesundheitsministeriums fallen bzw. dem Gesundheitsbereich besonders naheliegend sind. Meine Damen und Herren, vielleicht etwas langsamer als von manchem je nach Temperament erwartet oder befürchtet, aber sehr kontinuierlich hat sich die Gentechnik auch in den letzten Jahren fortentwickelt. Das betrifft nicht zuletzt den Gesundheitsbereich, wo die Gentechnik weitere Fortschritte auf den Gebieten der Diagnostik und der Arzneimitteltherapie, z. B. der Therapie des fortgeschrittenen Hautkrebses, oder bei der Entwicklung von Impfstoffen gebracht hat und die ersten Heilversuche im Bereich der somatischen Gentherapie offenbar hoffnungsvoll verlaufen. Die Bundesregierung sieht in der Gentechnik nach wie vor eine wichtige Schlüsseltechnologie. Die Bundesrepublik muß diese Technologie aktiv mitgestalten, wenn sie ihren Platz als wichtige Forschungs- und Industrienation sichern und damit die Grundlage des Wohlstandes und des sozialen Friedens erhalten will. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, am 1. Juli 1990 ist das Gentechnikgesetz in Kraft getreten. Seit dem 3. Oktober 1990 gilt es auch in den neuen Ländern. Die wichtigsten Verordnungen zum Gentechnikgesetz, insbesondere die Verordnung über Sicherheitsstufen und Sicherheitsmaßnahmen bei gentechnischen Arbeiten in gentechnischen Anlagen, gelten seit November letzten Jahres. Mit dem Inkrafttreten dieser Vorschriften sind zahlreiche und wichtige Anliegen des Bundestagsbeschlusses verwirklicht, insbesondere aus den Abschnitten Laborsicherheit, Arbeitssicherheit, Freisetzung und zivilrechtliche Haftung. Die Forderung nach rechtsverbindlicher Regelung des Umgangs mit der Gentechnik ist erfüllt. Vorrangiges Ziel des Gentechnikgesetzes und der auf seiner Grundlage erlassenen Verordnungen ist der Schutz von Mensch und Umwelt beim Umgang mit der Gentechnik. Um dieses Ziel zu erreichen, knüpfen die Regelungen an den international und auch bei uns im Vollzug der Richtlinien zum Schutz vor Gefahren durch in vitro neukombinierte Nukleinsäuren bewährten Strategien an. Ausgangspunkt ist die Forderung nach biologischer Sicherheit. Gentechnische Arbeiten sollen grundsätzlich mit Organismen durchgeführt werden, von denen Risiken für Mensch und Umwelt nicht zu erwarten sind. Im übrigen werden alle gentechnischen Arbeiten entsprechend ihrem Risikopotential in Sicherheitsstufen eingeteilt. An diesen Sicherheitsstufen knüpfen technische Sicherheitsmaßnahmen an, die um so strenger sind, je höher die Risiken der gentechnischen Arbeiten eingestuft werden. Dritte Säule der Sicherheit beim Umgang mit der Gentechnik neben den Maßnahmen der biologischen und technischen Sicherheit ist die Kompetenz der Menschen, die mit der Gentechnik umgehen. Die Regelungen zur Gentechnik verlangen deshalb von allen Beteiligten die für ihre jeweilige Aufgabe erforderliche Sachkunde und Zuverlässigkeit. Daß diese Voraussetzungen des sicheren Umgangs mit der Gentechnik erfüllt sind, wird grundsätzlich durch präventive staatliche Kontrolle in Genehmigungs- und Anmeldeverfahren gewährleistet. Die präventive Kontrolle wird unterstützt und ergänzt durch behördliche Überwachung, durch besondere Haftungsvorschriften und durch Straf- und Bußgeldvorschriften. Spätestens nach dem Beschluß des Verwaltungsgerichtshofs Kassel vom November 1989 zur Insulinanlage der Firma Hoechst mußte die Gentechnik in der Bundesrepublik auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden. Ich habe den Eindruck, daß mit dem Inkrafttreten des Gentechnikgesetzes die nach wie vor und zu Recht lebhafte Diskussion zur Gentechnik sich noch deutlich versachlicht hat. Ich begrüße das ausdrücklich. Das Gentechnikgesetz soll auch den Rahmen für die weitere Entwicklung und Nutzung der Möglichkeiten der Gentechnik schaffen. Auch diese Funktion scheint das Gesetz zu erfüllen. Die Akzeptanz der Gentechnik in der Bundesrepublik hat sich verbessert; das ist eine gute Nachricht. Auch aus Anlaß der Gentechnik darf in der Bundesrepublik keine Tradition der Wissenschafts- und Technikfeindlichkeit aufkommen. Angesichts der vielen Probleme, für die wir von der Gentechnik Hilfe erwarten dürfen, wäre eine solche Entwicklung nicht zu verantworten. Der Vollzug des Gentechnikgesetzes ist von den Behörden des Bundes und der Länder zügig in Angriff genommen worden. Das gilt, soweit sich das schon beurteilen läßt, grundsätzlich auch in den neuen Ländern, die dabei Unterstützung vom Bundesgesundheitsamt und aus den alten Ländern erhalten haben. Seit Juli letzten Jahres wurden der Geschäftsstelle der Zentralen Kommission für Biologische Sicherheit, ZKBS, von den zuständigen Behörden insgesamt 103 Anträge zur Begutachtung vorgelegt. Davon ist mehr als die Hälfte abgeschlossen. Die anderen Anträge sind noch in der Bearbeitung, weil meistens noch Unterlagen und Informationen vom Antragsteller nachgefordert werden mußten. Der von manchen befürchtete Antragstau hat sich nicht gebildet und zeichnet sich zur Zeit auch nicht ab. Es wäre aber gegen alle Erfahrungen, wenn es beim Vollzug des Gentechnikgesetzes nicht auch Probleme gäbe. Ein Problem sind z. B. die von den EG-Richtlinien vorgegebenen kurzen Fristen, die sich auch auf die Arbeit in der ZKBS auswirken. Die Kommission muß mittlerweile jeden Monat zusammentreten, wenn nicht die fristgerechte Bearbeitung der Anträge gefährdet werden soll. Für die einzelnen Mitglieder führt das zu einer hohen zeitlichen Belastung. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, den Mitgliedern der ZKBS für die gerade in den letzten Monaten des Übergangs geleistete Arbeit sehr herzlich zu danken. ({0}) Regelungen zur Gentechnik müssen konkret und detailliert genug sein, wenn sie den Adressaten, Bürger und Behörden, als Handlungsanleitung eine Hilfe sein sollen. Sie müssen aber auch, gerade im Technikbereich, flexibel und offen sein, damit sie schnell dem Fortschritt der Erkenntnisse angepaßt werden können. Ob das Gentechnikgesetz und die Verordnungen dazu hier den richtigen Mittelweg gefunden haben, läßt sich aus den bislang kurzen Erfahrungen noch nicht abschließend beurteilen. Wir werden die Erfahrungen mit dem Gentechnikrecht weiter aufmerksam beobachten und notfalls auch Änderungen am Gesetz oder den Verordnungen vorsehen. Mit dem Gentechnikgesetz und den Verordnungen dazu haben wir umfassende Vorschriften zum Umgang mit der Gentechnik im geschlossenen System zur Freisetzung und zum Inverkehrbringen von gentechnisch veränderten Organismen, die künftig nur noch verbessert und neuen Entwicklungen angepaßt werden müssen. Zur Anwendung gentechnischer Methoden am Menschen, zur Genomanalyse und Gentherapie, gibt es bislang nur punktuelle Regelungen. Wir sind hier genau in der Situation, in der wir uns für den Regelungsbereich des Gentechnikgesetzes vor seinem Inkrafttreten befanden. Es liegt nahe zu vermuten, daß hier ein künftiger Schwerpunkt für Regelungen zur Gentechnik liegt. Bislang ist nur der Eingriff in die menschliche Keimbahn gesetzlich geregelt. Am 1. Januar ist das Embryonenschutzgesetz in Kraft getreten. Nach § 5 des Gesetzes wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft, wer die Erbinformation einer menschlichen Keimbahnzelle künstlich verändert. Konkrete Überlegungen für eine umfassende gesetzliche Regelung der Gentherapie an somatischen Zellen, also an Zellen außerhalb der Keimbahn, gibt es bislang nicht. Zur Genomanalyse beim Menschen haben in letzter Zeit insbesondere die beim Bundesminister der Justiz eingerichtete Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Genomanalyse" und ein vom Bundesminister für Forschung und Technologie einberufener Arbeitskreis „Ethische und soziale Aspekte der Erforschung des menschlichen Genoms" das Meinungsfeld aufgearbeitet und wichtige Vorarbeiten für Entscheidungen geleistet. Ihre Ergebnisse stimmen in weiten Bereichen mit den Positionen überein, die der Bundestag im Beschluß zu den Empfehlungen der Enquete-Kommission eingenommen hat. Wie der Bericht deutlich macht, folgt auch die Bundesregierung im wesentlichen diesen Vorstellungen. Die ethischen Implikationen, die mit der Anwendung gentechnischer Methoden am Menschen verbunden sind, bedürfen noch umfassender gesellschaftspolitischer Diskussionen. Die Bundesregierung begrüßt deshalb auch entsprechende Initiativen z. B. der Europäischen Gemeinschaft und des Europarates und hat auch selbst Maßnahmen ergriffen, um die internationale Ethikdiskussion gerade auch zur Biotechnologie voranzubringen. Entscheidungen zu konkreten Gesetzgebungsmaßnahmen zur Genomanalyse hat die Bundesregierung bisher nicht getroffen. Sie wäre auch nur bedingt der richtige Adressat für entsprechende Forderungen. Die Gesetzgebungskompetenz für die hier relevanten Regelungsbereiche liegt überwiegend bei den Ländern. Ein Entwurf des Bundesrates zur Änderung des Grundgesetzes, der dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für „die Untersuchung und die künstliche Veränderung der menschlichen Erbinformation" geben sollte, ist in der letzten Wahlperiode nicht mehr zu Ende beraten worden. Die Bundesregierung hatte den Entwurf in ihrer Stellungnahme befürwortet. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Deutsche Bundestag hat sich in seinem Beschluß vom Oktober 1989 vorgenommen, den Prozeß der Bewertung der Gentechnik nicht als abgeschlossen zu betrachten, sondern fortzusetzen. Der jetzt vorliegende Bericht der Bundesregierung soll ein Beitrag zur Fortsetzung dieses Bewertungsprozesses gerade in den wenigen Bereichen sein, in denen der Beschluß des Bundestages und der Bericht der Bundesregierung nicht völlig übereinstimmen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster hat der Abgeordnete Herr Catenhusen das Wort.

Wolf Michael Catenhusen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000326, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Guten Morgen, meine Damen und Herren! Diese Gentechnikdebatte zu Beginn der neuen Legislaturperiode ist sinnvoll und auch notwendig; denn die Verabschiedung des Gentechnikgesetzes im letzten Jahr und auch die Verabschiedung entsprechender europäischer Richtlinien markieren durchaus einen Einschnitt in der politischen Auseinandersetzung um die Gentechnik, an der sich auch der Deutsche Bundestag seit 1984 aktiv beteiligt hat. Mit diesen Gesetzgebungen hier und auf der Ebene der EG hat auf der einen Seite die Politik ihren Anspruch, gestaltend in den Prozeß der Entwicklung und Anwendung der Gentechnik einzugreifen, in Ansätzen verwirklicht. Das heißt natürlich auch, daß etwa die Forderung der Sozialdemokraten nach einem vorläufigen gesetzlichen Stopp von Freisetzungsexperimenten auf Grund des neuen EG-Rechtes national nicht mehr durchzusetzen ist. Das gilt erst recht für das von manchen immer noch diskutierte absolute Nein zur Gentechnik. Solche Forderungen sind national nicht mehr zu verwirklichen. Wir Sozialdemokraten widersprechen aber denjenigen, die glauben, daß mit der Verabschiedung des Gentechnikgesetzes und dem Beschluß des Deutschen Bundestages, im Embryonenschutzgesetz den gezielten Eingriff in die Erbanlagen des Menschen zu untersagen, der Handlungsbedarf bei der Setzung von Maßstäben für einen verantwortlichen Umgang mit der Gentechnik bereits erledigt sei. Die Gentechnik als wissenschaftliche Methode, Erbanlagen zu identifizieren, zu analysieren und über alle Artengrenzen hinweg auszutauschen, gibt uns Menschen qualitativ neue Möglichkeiten, gezielt in die Natur und damit auch in den Menschen selbst als Teil der Natur einzugreifen. Das unglaubliche Tempo dieser Wissenschaft, die allein in Deutschland mittlerweile in mehr als 1 000 staatlich registrierten Labors betrieben wird und die auf Grund ihres innovativen Charakters im Bereich der biomedizinischen Forschung heute die Basis für die Vergabe von Nobelpreisen darstellt, vergrößert in atemberaubender Weise ständig unser Wissen und auch unsere Möglichkeiten ihrer Anwendung. Vor kurzem wurde etwa in Großbritannien gentechnisch manipulierte Backhefe für den Verkauf freigegeben. Damit wurde der Startschuß zur kommerziellen Nutzung dieser Technik im Lebensmittelsektor gegeben. Vor wenigen Jahren wurde eine Methode entwickelt, winzigste Mengen von DNA, dem Stoff, aus dem die Gene aller Organismen sind, milliardenfach exakt und schnell zu kopieren. Diese PCR-Technik brachte einen erstaunlichen Schub in der Entwicklung von Methoden der Genomanalyse auf DNAEbene, etwa zum Nachweis von Virusinfektionen, aber natürlich auch zum Einsatz in der schwierigen Frage der vorgeburtlichen Diagnostik und künftig sicher auch im Bereich der Arbeitsmedizin. Wissenschaftler, die uns noch vor wenigen Jahren gesagt haben: Das kommt alles gar nicht; jede Untersuchung wird Tausende von Mark kosten und dauert entsetzlich lange, sagen uns heute: Seht euch vor. Die technische Realisierung wird sehr viel schneller kommen und die Anwendung sehr viel billiger werden, als wir es noch vor wenigen Jahren eingeschätzt haben. - Drei Jahre nach Veröffentlichung des Berichts der Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnik " wurden im letzten Jahr die ersten Versuche der Gentherapie an Körperzellen des Menschen in den USA gestartet. Gene können mittlerweile auch durch Einspritzen in die Muskelzellen von Mäusen übertragen werden, wo sie in die Erbanlagen dieser Zellen integriert werden. Somit können alle unseren bisherigen Annahmen über die Schwierigkeit, Gene in menschliche Zellen zu übertragen, dramatisch verändert werden. Was technisch machbar ist, stellt sich heute, vier Jahre nach Vorlage des Berichts, schon wieder erheblich anders dar als damals. Wir Sozialdemokraten nehmen die Aussage des Philosophen Hans Jonas ernst, daß es in Demokratien in besonderer Weise unsere Aufgabe, die Aufgabe des Parlaments, ist, Maßstäbe für einen verantwortbaren und zurückhaltenden Umgang mit der Gentechnik festzulegen. Wir müssen dazu beitragen, daß durch Technikbewertung und Technikfolgenabschätzung ein rationaler öffentlicher Diskurs über Chancen und Risiken der Gentechnik möglich bleibt und daß dabei auch unsere Möglichkeiten zur Reflexion, zur Urteilsbildung und zur Entscheidung mit dem rapiden Zuwachs menschlichen Könnens in diesem Bereich Schritt halten. Wir bejahen die Aufgabe, Grundwerte und Grundrechte unserer Verfassung gegen ihre mögliche Gefährdung durch die Gentechnik aktiv zu schützen. Wir müssen auch die Verantwortung dafür tragen, daß die Chancen dieser Technik verantwortbar genutzt werden. Ich denke, diese Debatte bietet die Gelegenheit, deutlich zu machen, was vom Parlament und von der Regierung an Handlungsbedarf in dieser Legislaturperiode gesehen wird. Nach der Rede von Ihnen, Frau Bergmann-Pohl, bin ich ein bißchen enttäuscht darüber, wie allgemein politisch die Bundesregierung hier geblieben ist. Nach vier Jahren Debatte im Anschluß an den Bericht der Enquete-Kommission, nach den Empfehlungen des Bundestages, nach Vorlage der Ergebnisse einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe hätte es einige Bereiche gegeben, wo in den Koalitionsvereinbarungen oder zumindest in Ihrer Rede, Frau Bergmann-Pohl, mehr hätte gesagt werden können als nur: Wir behalten uns weitere Schritte vor; wir prüfen, wir prüfen, wir prüfen. Ich denke, es ist Zeit, konkreter zu werden. Nach unserer Vorstellung geht es in dieser Legislaturperiode vor allem um folgende Aufgaben: Erstens. Es geht um eine Überprüfung des Gentechnikgesetzes. Lösen die Bestimmungen des Gesetzes den Anspruch, Rechtssicherheit für alle Beteiligten zu schaffen, auch praktisch ein? Unter Rechtssicherheit verstehen wir allerdings mehr als nur einen wirksamen Schutz der Gentechnik vor ihren Kritikern und Kritikerinnen. Wir wollen uns mit den praktischen Erfahrungen der Bundesländer, der Wissenschaft, der Industrie und derjenigen auseinandersetzen, die versuchen, die wenigen und unzureichenden Möglichkeiten des Gesetzes zur Bürgerbeteiligung aktiv in Anspruch zu nehmen. Es bleibt auch die Frage: Sind die dem Gesetz zugrunde liegenden Modelle und Vorstellungen von biologischer Sicherheit und die im Gesetz und seinen Rechtsverordnungen festgelegten Verfahren und Kriterien ausreichend, um tatsächlich in jedem Einzelfall eine fundierte - dieses Wort betone ich - Risikoabschätzung eines gentechnischen Vorhabens durchführen zu können? Vor allem im Bereich der Freisetzungsexperimente bleiben nach wie vor offene Fragen und für uns begründete Vorbehalte. Es heißt etwa in einem Papier deutscher Wissenschaftler, das einer EG-weiten Konferenz zur Risikoforschung in der Gentechnik in Dijon im Dezember 1989 vorgelegt wurde - ich zitiere - : Die Freisetzung gentechnisch veränderter Mikroorganismen setzt diese einem unterschiedlichsten Bündel von Umweltfaktoren aus. Wir können aber ihre Sicherheit noch nicht zuverlässig abschätzen. Ich denke, meine Damen und Herren, wir müssen die Bestimmungen dieses Gesetzes auf Grund der Ergebnisse der in der EG und bei uns seit einigen Jahren durchgeführten biologischen Sicherheitsforschung überprüfen. Ich bin der Meinung, das sollte auch für Fragen des Arbeitsschutzes gelten. Dabei geht es auch um eine zweite wichtige Frage. Für uns bleibt die Frage eines umfassenden Verbots der Genforschung, die in Einrichtungen des Militärs durchgeführt oder von ihm finanziert wird, auf der Tagesordnung, auch und gerade für die Bundesrepublik Deutschland. Der Golfkrieg hat den Dritte-WeltLändern, die sich - wie der Irak - massiv mit konventionellen Waffen aufgerüstet haben, dramatisch ihre militärische Ohnmacht gegenüber einer HighTech-Kriegsführung, wie sie von den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten praktiziert worden ist, gezeigt. Meine Sorge ist, daß viele Länder nun versuchen werden, ihre militärische Ohnmacht gegenüber den Industriestaaten mit ihren High-Tech-Waffen durch verstärkte Anstrengungen, zu eigenen atomaren, chemischen oder auch biologischen Waffen zu kommen, überwinden wollen. Sie könnten hoffen, sich so vor einer militärischen Erpressung durch Industriestaaten der hochentwickelten Industriegesellschaft schützen zu können. Es könnte also einen neuen Druck geben, auch zu einer „Modernisierung" biologischer Waffen zu kommen, um sie endlich auch militärisch nutzbar zu machen. Dies wird nur durch Nutzung der Gentechnik möglich sein. Wir sollten durch ein drastisches und umfassendes Verbot der Genforschung zu militärischen Zwecken, ein Verbot, das darauf abzielt, daß kein Know-how im Bereich des Militärs, im Bereich der Gentechnik geschaffen wird, auch international und weltweit ein Zeichen setzen, denn nur auf diesem Wege können wir wirklich effektiv, wirksam verhindern, daß die militärische Nutzung der Gentechnik nicht nur in den Forschungslabors - etwa denen der USA - betrieben wird. Wir sollten uns dabei übrigens auch endlich einmal mit eigenen Vorschlägen daran beteiligen, in welchem Umfang künftig der Export von Dual-Use-Technologie im Bereich der Chemie und der Biotechnologie genehmigungspflichtig gemacht werden muß. Bei dieser Frage müssen wir davon ausgehen, daß die Regierung der Vereinigten Staaten in wenigen Wochen die Verbündeten mit eigenen Vorschlägen überraschen wird. Ich fürchte, es wird einmal wieder so sein, daß die Bundesrepublik Deutschland, die gerade im Bereich des Technologietransfers führend ist, zum Teil in sehr unerfreulicher Weise verdutzt zur Kenntnis nehmen muß, welche Vorschläge die Vereinigten Staaten ihren Verbündeten machen. Es wäre ja einmal ganz gut, wenn wir unsere Verantwortung auf diesem Gebiet durch die Vorlage eigener Vorschläge wahrnehmen würden. Drittens. Nachdem der Bundestag, die Bundesregierung und eine Bund-Länder-Kommission Empfehlungen zum Bereich der Genomanalyse vorgelegt haben, wird es nun Zeit, konkrete gesetzliche Bestimmungen für diesen Bereich vorzulegen. Wir werden uns mit eigenen Vorschlägen daran beteiligen. Wir schlagen ein Genomanalysegesetz vor, in dem der Einsatz dieser Methode vor allem dann, wenn Dritte eine Genomanalyse verlangen bzw. über Ergebnisse solcher Untersuchungen verfügen wollen, geregelt wird. Im Kern geht es vor allem natürlich darum, die Anwendung der Genomanalyse im Rahmen arbeitsvertraglicher Beziehungen, etwa bei Einstellungsuntersuchungen in der Arbeitswelt, auszuschließen. Hier bleibt uns der Bericht der Bundesregierung zu blaß und unverbindlich. Ich denke, es ist Zeit, bald die Beratungen in den Ausschüssen des Bundestages über konkrete Vorschläge zu gesetzlichen Regelun524 gen aufzunehmen. Wir werden auch eigene Vorschläge dazu einbringen. Viertens. Es wird höchste Zeit, daß Bundesregierung und Bundestag endlich Stellung zu den Bestrebungen beziehen, das Patentrecht - vor allem durch Vorschläge der Europäischen Kommission - uferlos auf Pflanzen und auf Tiere auszudehnen. Diese Strategie der Europäischen Gemeinschaft begegnet bei uns auch ethischen Bedenken. Fünftens. Es geht um die Schwerpunkte der weiteren öffentlichen Förderung der Gentechnik. Ich begrüße es sehr, daß das Bundesforschungsministerium in Übereinstimmung mit den Vorschlägen der SPD die öffentliche Förderung der Erforschung menschlicher Erbanlagen in einem sinnvollen finanziellen Rahmen gehalten und die Forschung an sinnvolle medizinische Fragestellungen gebunden hat. Ich denke, daß uns dies wohltuend von dem weltweiten Wettrennen, wer als erster eine Karte menschlicher Erbanlagen verwirklicht, unterscheidet. Nach wie vor vermissen wir insbesondere eine stärkere öffentliche Initiative, die Chancen der Bio- und Gentechnik stärker zur Abfallaufarbeitung und -beseitigung sowie zur Verwirklichung umweltfreundlicherer Produktionsverfahren vor allem im Bereich der chemischen Industrie zu nutzen. Es ist zehn Jahre nach Beginn des Aufbaues einer Reihe von Genzentren in der Bundesrepublik auch Zeit, Bilanz ihrer Arbeit zu ziehen und beim Aufbau einer gesamtdeutschen Forschungslandschaft den wichtigen Forschungseinrichtungen in den neuen deutschen Ländern, etwa den Einrichtungen in Berlin-Buch, eine vernünftige Perspektive für ihre Zukunft zu sichern. Es gibt für uns, meine Damen und Herren, keine pauschale Antwort auf die Frage, ob Gentechnik verantwortbar ist oder nicht verantwortbar ist. Ich denke, daß dies die Grundlage unserer gemeinsamen Bemühungen in diesem Bereich in dieser Legislaturperiode bleibt; denn zu unterschiedlich stellen sich Bewertungsfragen in den verschiedenen Bereichen von Forschung und Anwendung in der Gentechnik. Insbesondere die Anwendung der Gentechnik zur Identifizierung, Untersuchung und gezielten Beeinflussung der menschlichen Erbanlagen wirft nach wie vor eine Fülle von Fragen nach ihrer sozialen und ethisch-moralischen Verantwortbarkeit auf. Ich nenne etwa das schwierige Gebiet der vorgeburtlichen Diagnostik. Es wäre gut, wenn dieses Haus auch in dieser Legislaturperiode versuchen würde, im Schutz der menschlichen Würde und in der Bewahrung der Schöpfung eine gemeinsame Grundlage für wertbezogene Überlegungen und Entscheidungen des Bundestages in diesem Bereich zu sehen. Ich bin sicher, daß von dieser gemeinsamen Basis aus allerdings noch genug Raum dafür bleiben wird, darüber zu streiten, welche Schritte der Gesetzgeber zum Schutz der menschlichen Würde und zur Bewahrung der Schöpfung gegenüber den Möglichkeiten der Gentechnik unternehmen muß. Schönen Dank. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Herr Kohn.

Roland Kohn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001168, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will mit einer politischen Bewertung beginnen. Die deutsche Politik hat die Herausforderung durch die Probleme von Chancen und Risiken der Gentechnologie bestanden. Zu diesem Urteil komme ich, weil uns Politikern ja häufig vorgeworfen wird, daß wir uns erst dann mit einem Thema beschäftigen würden, wenn, salopp gesagt, das Kind gleichsam in den Brunnen gefallen sei. Hier, an diesem Problemzusammenhang der Gentechnologie, zeigt sich, daß die Politik in der Tat in der Lage ist, sich schon sehr früh mit einem Thema auseinanderzusetzen, und zwar zu einem Zeitpunkt, bevor überhaupt Vorstellungen von einem solchen gesetzgeberischen Regelungsbedarf in den Köpfen der meisten Bürger vorhanden sind. Ich will darauf hinweisen, daß bereits im Jahre 1978/79 im Bundestag über ein Gentechnologiegesetz nachgedacht wurde. Damals hat man von diesem Vorhaben Abstand genommen, weil noch zu wenig konkrete Vorstellungen darüber bestanden, welche politisch-gesellschaftlichen Probleme im Zusammenhang mit dieser neuen Technologie vom Gesetzgeber eigentlich zu lösen wären. Im September 1983 fand auf Einladung des Bundesministers für Forschung und Technologie ein Fachgespräch über ethische und rechtliche Fragen der Anwendung zellbiologischer und gentechnischer Methoden am Menschen statt. Im Frühjahr 1984 setzten der Bundesjustizminister und der Bundesforschungsminister eine Arbeitsgruppe „In-vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie" ein, um Empfehlungen zu erarbeiten, ob und gegebenenfalls welche Maßnahmen zur Verhütung eines Mißbrauchs und zum Schutz der menschlichen Würde ergriffen werden müssen. Diese Benda-Kommission hat im Jahre 1985 ihre Arbeitsergebnisse vorgelegt. Schließlich hat der Deutsche Bundestag - Kollege Catenhusen wies schon darauf hin - im Jahre 1984 auf Wunsch aller Fraktionen dieses Hauses eine Enquete-Kommission über Chancen und Risiken der Gentechnologie eingesetzt. In dem Arbeitsauftrag dieser Enquete-Kommission wurde auf besonderen Wunsch meiner Fraktion beschlossen, dem Grenzbereich der gentechnologischen Anwendung beim Menschen auch unter ethischen Aspekten besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Dieses Thema wurde damit zum Gegenstand der Beratung gemacht. Nach mehr als zwei Jahren intensiver Arbeit hat die Kommission im Januar 1987 einen 400seitigen Bericht der Öffentlichkeit übergeben. Der 1987 neu gewählte Bundestag hat in 13 Parlamentsausschüssen unter erneuter Einbeziehung parlamentsexternen Sachverstandes die rund 180 Einzelempfehlungen der Enquete-Kommission eingehend beraten und im Oktober 1989 in überarbeiteter Fassung beschlossen. Meine Damen und Herren, nachdem der Bundestag auf diese Weise die Enquete-Kommission Gentechnologie als Instrument zur Erarbeitung des Problemhaushalts für diese neue technologische Entwicklungslinie genutzt hatte, erfolgte die Beratung im ParKohn lament über die Beschlußempfehlungen der Enquete-Kommission. Wir haben im Oktober 1989 die Bundesregierung auch aufgefordert, dem Parlament bis Ende 1990 einen Bericht über die Umsetzung dieser Beschlüsse vorzulegen. Neben diesem intensiven Beratungsverfahren haben wir aber auch aus den Vorschlägen, die hier im Parlament erarbeitet wurden, Konsequenzen gezogen. Der Deutsche Bundestag hat im Jahre 1990 zwei maßgebliche Gesetze beschlossen, nämlich einmal das Gentechnikgesetz und zum anderen das Embryonenschutzgesetz. In Anbetracht dieser Abläufe, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist die Würdigung, die ich eingangs gegeben habe, nämlich daß die deutsche Politik ihre Hausaufgaben ordentlich erledigt hat, sicherlich gerechtfertigt. ({0}) Der heute zu diskutierende Bericht zeigt, daß in diesen beiden zentralen Bereichen die Bundesrepublik Deutschland eine Meinungsführerschaft erreicht hat. Wenn Sie, Herr Kollege Catenhusen, darauf hinweisen, daß durch Entscheidungen der Europäischen Gemeinschaft bestimmte Überlegungen, die seinerzeit in diesem Hause vorgetragen wurden, obsolet geworden sind, dann kann ich nur sagen: Das bedeutet, daß die deutsche Politik die Entwicklung in Europa richtig eingeschätzt und von Anfang an auf eine konsensfähige Lösung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft hingewirkt hat. ({1}) Herr Kollege Catenhusen, Ihre Fraktion muß sich jetzt endlich darüber klar werden, ob sie eine europäische Harmonisierung in allen wesentlichen Politikbereichen will oder ob sie einen deutschen Sonderweg auch in diesem Bereich will. ({2}) Wenn Sie dies nicht wollen, dann müssen Sie auch bereit sein, die intellektuellen Differenzen, die zwischen Ihren Positionen in der Europapolitik generell und in einzelnen Sachfragen bestehen, aufzulösen. ({3}) Meine Damen und Herren, wir haben den ethischen Problemen eines möglich werdenden Eingriffes in die menschliche Keimbahn durch das Embryonenschutzgesetz einen Riegel vorgeschoben und damit international ein Zeichen dafür gegeben, daß es nach unserer festen politischen Überzeugung in diesem Land und in Europa keine Menschenzüchtung geben darf.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Abgeordneter Kohn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Catenhusen?

Roland Kohn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001168, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mit großem Vergnügen.

Wolf Michael Catenhusen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000326, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da Sie nun im Bereich der Gentechnik die Absage an deutsche Sonderwege so mannhaft verkündet haben, fällt Ihnen nicht doch auf, daß wir gemeinsam etwa im Bereich der Humangenetik, was das Verbot des Eingriffs in die menschlichen Erbanlagen angeht, nun bewußt einen deutschen Sonderweg beschritten haben?

Roland Kohn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001168, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Catenhusen, wir haben dort keinen deutschen Sonderweg beschritten, sondern machen unseren Einfluß geltend, um die Europäische Gemeinschaft in einem Bereich, wo sie auf dem Wege war, eine falsche Entscheidung zu treffen, zu korrigieren. Ich bin dankbar, daß alle Fraktionen dieses Hauses gemeinsam darauf hingewirkt haben, daß wir diese Fehlentwicklung im Ansatz verhindern. ({0}) Ich darf bei dieser Gelegenheit noch darauf hinweisen, daß wir in einem weiteren Bereich die EG-Kommission korrigiert haben, nämlich als es um die Frage ging, wie man nach deren Meinung die Genomanalyse zum Zwecke von Einsparungen im Gesundheitsbereich einsetzen könnte. Dies haben wir in diesem Hause ebenfalls gemeinsam als Mißbrauch zurückgewiesen, indem wir gesagt haben: Ökonomische Kriterien dürfen hier ethische Gesichtspunkte nicht überlagern. Insofern bleibe ich bei meiner Position. Wir müssen gemeinsam eine konsensfähige europäische Lösung herstellen, aber nach Möglichkeit auf der Grundlage dessen, was wir hier im Deutschen Bundestag in über acht Jahren gemeinsam erarbeitet haben.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Gestatten Sie eine weitere Frage des Abgeordneten Catenhusen? - Bitte.

Wolf Michael Catenhusen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000326, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nur ganz kurz, Herr Kohn, da wir uns offensichtlich mißverstanden haben. Meine Frage geht in folgende Richtung. Sind Sie nicht auch der Meinung, daß die Bestimmung im Embryonenschutzgesetz, die den gezielten Eingriff in die menschliche Keimbahn strafrechtlich verbietet, eine Entscheidung für einen deutschen Sonderweg in diesem Bereich ist, weil es in keinem anderen Land in Europa zur Zeit eine Chance gibt, so etwas zu verwirklichen?

Roland Kohn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001168, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dies ist eine Position, die vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte richtig ist und die wir in die eben von mir beschriebene Strategie, solche Überlegungen in der Europäischen Gemeinschaft verbindlich zu machen, einbeziehen müssen. ({0}) Meine Damen und Herren, es gab aber einen zweiten Bereich, den wir zu behandeln hatten. Das waren die Fragen der Sicherheit der Gentechnologie bei Forschung, gewerblicher Nutzung und gezielter Freisetzung. All dies haben wir im Gentechnikgesetz, das wir ebenfalls noch in der letzten Legislaturperiode in Kraft gesetzt haben, geregelt. Mit diesem Gesetz und dem darauf basierenden Regelwerk haben wir das nach dem heutigen Stand des Wissens - ich betone: nach dem heutigen Stand - Mögliche getan, um Mensch und Umwelt zu schützen. Der Bericht der Bundesregierung zeigt, daß aber auch noch in bestimmten mit der Gentechnologie zusammenhängenden Fragen Handlungsbedarf besteht. Bevor ich darauf eingehe, möchte ich einige grundsätzliche Bemerkungen über die Rolle, die die Gentechnologie nach Auffassung der deutschen Liberalen spielen sollte, machen. Wir sind der Meinung, daß es die Aufgabe der Politik ist, die Chancen und die Risiken einer solchen technologischen Entwicklungslinie gleichgewichtig sorgfältig abzuwägen und die weitere Entwicklung dieser Technologie verantwortungsbewußt zu gestalten. Dies mag heute wie ein Allgemeinplatz klingen. Wenn ich aber an die heftigen Kontroversen in diesem Hause in den letzten beiden Legislaturperioden zu dieser Thematik denke, wo es ja mit den GRÜNEN mindestens eine Fraktion gab, aber auch maßgebliche Teile der sozialdemokratischen Fraktion, die am liebsten mit einem Moratorium die Gentechnologie generell zum Stillstand gebracht oder aber zu ihrer Abschaffung in der Bundesrepublik Deutschland beigetragen hätten, muß ich sagen: Es hat sich auch hier gezeigt, daß dann, wenn man einen klaren Kurs behält und sich an der Sache orientiert, vernünftige Entscheidungen zustandekommen. ({1}) Die Gentechnologie muß nach Auffassung der FDP - dies sind unsere Grundsätze - in vollem Umfang den ethischen Maßstäben unterworfen bleiben, die sich aus der Wertordnung unseres Grundgesetzes ergeben. Die Gentechnologie muß auch in Zukunft strenge Sicherheitsanforderungen erfüllen, um eine mögliche Gefährdung von Mensch und Umwelt auszuschließen. Die Gentechnologie muß sich ständig der Technikfolgenabschätzung auf ihre ethischen, sozialen, ökologischen und ökonomischen Konsequenzen hin stellen. In diesem Rahmen muß die Gentechnologie mit dem Ziel der Förderung der Gesundheit, der Welternährung und des Umweltschutzes weiterentwickelt werden. Die Methoden der Bildung neuer Kombinationen genetischen Materials mit Hilfe der Gentechnologie sind ja nun in der Tat zu einer Schlüsseltechnologie mit Auswirkungen in die verschiedensten Bereiche individuellen und gesellschaftlichen Handelns hinein geworden. Vor diesem Hintergrund ist es außerordentlich begrüßenswert, daß wir zu Beginn dieser Legislaturperiode die Chance haben, unsere Grundsätze noch einmal vorzutragen und die Bundesregierung dazu zu ermutigen, konsequent diejenigen Dinge, die noch nicht abgearbeitet sind, weiter zu verfolgen. ({2}) Handlungsbedarf besteht. Ich denke hier vor allem an das Problemfeld der genetischen Beratung und der pränatalen Diagnostik. Es ist richtig, wenn die Bundesregierung feststellt, daß die Adressaten der Empfehlung hierbei im wesentlichen die Bundesländer, aber auch die Kammern und die Standesorganisationen der Ärzte sind. Da in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Genomanalyse" Übereinstimmung mit den Forderungen des Deutschen Bundestages erzielt werden konnte, die genetische Beratung nach den Prinzipien „freiwillig", „nicht aktiv" und „nicht direktiv" zu gestalten, fordere ich insbesondere auch die Länder dazu auf, die notwendigen Konsequenzen in ihrem Zuständigkeitsbereich nun endlich zu ziehen. Meine Damen und Herren, die Liberalen sind in den Fragen der Genomanalyse eindeutig festgelegt. Wir sind der Meinung, daß wir vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die Genomanalyse es ermöglicht, genetisch bedingte Krankheiten, Anlagen für Anfälligkeiten, Personenidentität und andere individuelle Eigenschaften festzustellen, Veranlassung haben, diesen Bereich gesetzlich zu regeln, aber differenziert in den einzelnen Anwendungsbereichen. Wir sagen: Die Nutzung der Genomanalyse zur Erkennung von Erbkrankheiten vor und nach der Geburt sollte erlaubt werden. Wir sagen: Die Anwendung der Genomanalyse vor Gericht darf nur auf gesetzlicher Grundlage erfolgen, und sie darf nur zur Identitätsfeststellung zulässig sein. Wir sagen: Es muß sichergestellt werden, daß es beim Abschluß von Versicherungsverträgen keine Verpflichtung geben darf, sich genetisch untersuchen zu lassen. Diese Position muß damit verbunden sein, daß jedermann das Recht haben muß, genetische Anlagen verschweigen zu dürfen. Wir sagen: Die Anwendung der Genomanalyse im Arbeitsrecht darf nur auf Wunsch des Arbeitnehmers erfolgen. Der Arbeitgeber darf sie nicht verlangen. Die Ergebnisse der Genomanalyse dürfen nicht an den Arbeitgeber weitergegeben werden. Wir sagen schließlich: Die Anwendung der Genomanalyse muß im Einzelfall gesetzlich erlaubt sein. Ohne gesetzliche Erlaubnis ist ihre Verwendung in gerichtlichen Verfahren unzulässig. ({3}) Dies, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind konkrete Positionen, die die Freien Demokraten festgelegt haben. Wir werden uns bei der weiteren Beratung über dieses Politikfeld von diesen Prinzipien leiten lassen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, für uns Liberale steht die Selbstbestimmung des Menschen im Vordergrund. Deshalb muß klar sein, daß Arbeitnehmer nicht das Objekt einer genetischen Ausforschung durch den Arbeitgeber werden dürfen. Ohne hier auf Einzelheiten einzugehen, will ich doch betonen, daß eine überzeugende Gesamtregelung in diesem Bereich, d. h. bei der Genomanalyse im Bereich des Arbeitsrechts, dringlich ist. ({4}) Im übrigen muß weiter beobachtet werden, ob gesetzgeberisches Handeln bei einer möglich werdenden Anwendung der Genomanalyse im Versicherungswesen angezeigt ist. Ganz besonders liegt mir folgendes am Herzen: Wir müssen erreichen, daß der Mißbrauch der Gentechnologie zu militärischen Zwecken verhindert wird. ({5}) Ich fordere deshalb an dieser Stelle die Bundesregierung dazu auf, ihre Bemühungen im Rahmen der UNO und anderer dazu geeigneter internationaler Institutionen noch weiter zu intensivieren. Gentechnologie als Waffe muß weltweit geächtet werden. ({6}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, neben den Problemen, auf die ich hier im besonderen eingegangen bin, müssen wir aber auch wissen, daß die Gentechnologie erhebliche Chancen in sich birgt. Wir sind deshalb der Meinung, daß die Gentechnologie zur Entwicklung neuer Diagnose- und Therapieverfahren in der Hand des Arztes genutzt werden muß. Wenn ich daran denke, daß wir noch nicht einmal die Chance haben, über so schwierige Themen wie Aids oder Krebs erfolgreich wissenschaftlich zu arbeiten, falls wir das gentechnologische Handwerkszeug nicht einsetzen, wird klar, daß diejenige Strategie, die die Fraktion DIE GRÜNEN im letzten Deutschen Bundestag vertreten hat, nämlich die Gentechnologie in Deutschland zu zerschlagen, gerade unter diesen Gesichtspunkten unmoralisch gewesen ist. ({7}) - Erfreulicherweise, Herr Kollege Weng. Leider ist aber die Reaktion der Wähler auf Fehlentscheidungen von Politikern nicht immer schnell genug. ({8}) - Vielen Dank, Herr Kollege Vergin, für Ihre freundliche Zustimmung zu dieser These. Weiterhin möchte ich darauf hinweisen, daß die Gentechnologie neben dem Gesundheitsaspekt auch einen Umweltaspekt beinhaltet. Wir sind der Meinung, daß die Gentechnologie genutzt werden muß, um die Umweltbelastung zu mindern und die Beseitigung von Schadstoffen zu ermöglichen. Dies darf allerdings nicht bedeuten, daß wir die Gentechnologie gleichsam als Reparaturanstalt mißverstehen und bedenkenlos mit der Umwelt umgehen. Nein, es muß klar sein, daß Vorsorge im Umweltbereich Priorität hat. Aber dort, wo Probleme entstehen, entstanden sind oder unvermeidlich sind, müssen wir das Potential der Gentechnologie nutzen, um solche Probleme zu lösen. Meine Damen und Herren, daß es bei der Frage der Forschungsförderung für die Gentechnologie zu solchen gesellschaftlich definierten positiven Zwecken notwendig ist, auf die Einbeziehung kleiner und mittlerer Unternehmen zu dringen, versteht sich, wie gesagt, für einen Liberalen eigentlich von selbst. Ich erwähne es hier nur, um deutlich zu machen, daß gerade auch unter ökologischen Gesichtspunkten eine ganze Reihe von kleinen und mittleren Unternehmen besonders wertvolle Arbeit leistet. ({9}) Wir als Parlamentarier haben im weiteren die Verpflichtung, die Entwicklung der Gentechnologie in ihren Chancen und in ihren Risiken sorgfältig zu beobachten. Ich möchte uns dazu auffordern, also gleichsam an uns selber appellieren, daß wir dafür sorgen, daß die deutsche Politik im Umgang mit diesem Thema so sensibel, aber auch so differenziert und effizient bleibt wie bisher, und daß wir, Herr Kollege Catenhusen, gemeinsam dafür sorgen, daß in diesem Sinne möglichst rasch einheitliche europäische Lösungen gefunden werden, damit wir nach einer gewissen Zeit hoffentlich gemeinsam feststellen können, daß nicht nur Deutschland, sondern auch Europa die Herausforderung durch die Gentechnologie bestanden hat. Vielen Dank. ({10})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Fischer.

Dr. Ursula Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000557, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es fällt mir sehr schwer, den Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestages zum Bericht der Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie" einzuordnen. Der Deutsche Bundestag hat die Bundesregierung aufgefordert, ihm bis Ende 1990 einen Bericht vorzulegen. Dieser Pflicht kommt die Bundesregierung nun nach. Ich merke beim Lesen, beim Durchsehen aller Materialien, daß es tatsächlich nur Pflicht, aber offensichtlich oft kein Bedürfnis der Bundesregierung war, sich dem Handlungsbedarf in dieser Problematik voll zu stellen. Das ist verständlich; denn das alles ist so umfassend und baut auf Gesetze und Verordnungen auf, die alle in so geharnischter Kritik stehen, daß eine Reaktion der Bundesregierung zumindest darin bestehen müßte, erneut über das Gentechnikgesetz zu diskutieren. Da das nicht geschieht, muß ich die Stellungnahme der Bundesregierung zu den einzelnen Bereichen natürlich in Relation dazu bewerten und beurteilen. In der 171. Sitzung des Bundestages der 11. Wahlperiode sagte bei der Beratung über die Beschlußempfehlung des Berichtes des Ausschusses für Forschung und Technologie zum Bericht der EnqueteKommission Frau Blunck, SPD: Wir müssen uns bewußt sein: Wir sind für das verantwortlich, was wir tun; aber wir sind genauso für das verantwortlich, was wir nicht tun. In diesem Punkt ist die Bundesregierung wohl oft für das verantwortlich, was sie nicht tut. Nun bin ich mir bewußt, daß dieser oft zitierte Satz auch eben so oft interpretiert wird. Genau da liegt mein Problem, das ich bei der Durchsicht aller Materialien, auch der Diskussionen dazu und der Stellung528 nahmen der Bundesregierung, jetzt festgestellt habe. Ich frage Sie: Ist unter den Bedingungen einer Gesellschaft, in der der Markt und seine Mechanismen geradezu heiliggesprochen werden und die Gesetze des Marktes sichtlich sämtliche gesellschaftlichen Prozesse regeln, überhaupt ein ausreichender Schutz vor Mißbrauch im komplexen Problemfeld der Gentechnologie möglich? Ich überlege hier laut, auch wenn Sie mir Vorwürfe machen, ob dadurch nicht alle Gesetze und Vorschriften unzulänglich sein müssen, sozusagen offengehalten werden müssen, um die Marktmechanismen nicht zu beeinträchtigen. Zumindest ist auch bei größtmöglichem persönlichen Engagement - das ich hier jedem zugestehe - , dem Mißbrauch in der Gentechnologie entgegenzuwirken, in der Praxis der Erfolg in Frage gestellt. Der Golfkrieg zeigt für mich sehr deutlich, daß Geld über die Moral gestellt werden kann und vor allem auch wird. Das beste Beispiel sind die Rüstungsexporte, von denen mehr und mehr öffentlich wird - aber halt erst nach dem Sündenfall. ({0}) - Mit dem hatte ich nichts zu tun; darüber sollten sich vielleicht einmal einige Herren von der CSU unterhalten. ({1}) - Ich habe nicht Sie persönlich angesprochen, sondern auf den Zwischenruf reagiert. Wissenschaftliche Möglichkeiten im medizinischen Bereich sind auch für mich, für eine Kinderärztin, die in der Neonatologie arbeitete, ausgesprochen verlokkend. Wissenschaftliche Möglichkeiten, die zugleich Chancen und Gefahren für die Menschheit in sich bergen, sind aber nicht durch noch so gute Gesetze, auch nicht durch Strafgesetze, wirksam zu unterbinden. ({2}) - Darüber wäre eine eigene Veranstaltung nötig. Am 9. November brachte die Bundesregierung den Entwurf eines Gengesetzes im Bundestag ein und peitschte ihn in höchster Eile durch. ({3}) Der Grund - für mich, symptomatisch - : das Verbot der gentechnischen Insulinproduktion des Pharmakonzerns Hoechst durch den Hessischen Verwaltungsgerichtshof auf Grund einer Klage von Bürgern. Bei diesem Schnellverfahren ging es der Bundesregierung nicht darum, ein ausgewogenes Gesetz zum Schutz vor den Gefahren der Gentechnik zu entwikkeln, sondern es galt vorrangig, der Industrie rasch einen Rahmen zu schaffen. Im Gesetz selbst findet man praktisch nur allgemeine Aussagen, während die entscheidenden Einzelheiten in gesonderten Rechtsvorschriften enthalten sind. Die sind in der Regel natürlich weniger bekannt, und eine breite Diskussion wird eher vermieden. Die Berichterstattung der Bundesregierung kann nur in allen diesen Zusammenhängen gesehen werden. Ich will nur einen Punkt anreißen: Im Gegensatz zu vielen anderen Umweltgesetzen wird im Gentechnikgesetz auf einen Schutz der Nachbarschaft verzichtet. Das bedeutet, das Beschreiten des Verwaltungsrechtsweges wird erschwert. Nicht minder zweifelhaft ist, daß bei Haftungsansprüchen der Geschädigten Betreiber und Behörden nicht zur Auskunft verpflichtet sind, wenn ein überwiegendes Interesse der Betreiberin einer Auskunft entgegensteht. Auch dadurch relativieren sich für mich die Stellungnahmen der Bundesregierung. Absurderweise wird die Haftungsregelung gerade im Gentechnikgesetz mit unabschätzbaren Risiken begründet. Im selben Moment, aber genau mit diesem Argument werden Betreiber und Anwender von der Haftung praktisch freigestellt. Restrisiken sind immer vorhanden. Ja, meine Damen und Herren; aber hier geht es aus meiner Sicht nicht nur um Restrisiken. Die Rechtsverordnungen des bundesdeutschen Genrechts enthalten noch mehr Details, die im Zusammenhang mit der Stellungnahme der Bundesregierung berechtigte Zweifel aufkommen lassen. Nur eine kurze Anmerkung zur Gentechnik-Sicherheitsverordnung, die mich natürlich besonders betroffen macht: Bedenklich ist dabei vor allem, daß diese Sicherheitsverordnung nur immunkompetente Menschen schützen soll. Das bedeutet aber für mich und meine Abgeordnetengruppe, daß Kinder, Schwangere, alte Menschen und solche, deren Immunsystem auf Grund einer Krankheit eingeschränkt ist, z. B. durch die Genomforschung erkennbar, aus dem Schutzkonzept ausgeschlossen sind. Vergleiche mit dem Grundgesetz sind rein zufällig. Mir sträuben sich doch die Haare! Auch die Schädigung einzelner Arten wird ausdrücklich in Kauf genommen. Die Ausschüsse für Frauen und Jugend und für Familie und Senioren werden sich offensichtlich nicht mit dieser Berichterstattung der Bundesregierung beschäftigen. Ich halte aber gerade das für dringend geboten und stelle einen entsprechenden Antrag. Gentechnologie betrifft alle Lebensbereiche, von A wie agroindustrielle Nutzung gentechnisch manipulierter Pflanzen bis Z wie Zervixkarzinombehandlung zur Gentherapie. Ob die mit der Anwendung gentechnischer Verfahren verbundenen Chancen das Eingehen von unkalkulierbaren Risiken rechtfertigen, muß in jedem Einzelfall in einer breiten gesellschaftlichen Debatte unter Berücksichtigung aller potentiellen Gefahren diskutiert werden. Im Zweifelsfall haben aber andere Verfahren Vorrang vor einer derart risikobehafteten Technologie. Tatsächlich leitet sich das Interesse an einer möglichst unbeschränkten Nutzung gentechnischer Verfahren nicht zuletzt aus Überlegungen zur kurz- und mittelfristigen Profitmaximierung ab. In der Auseinandersetzung um die Gentechnologie muß deshalb nicht nur nach den mit ihrem Einsatz verbundenen Gefahren, sondern vor allem auch nach den beteiligten Interessen gefragt werden. Wer profitiert, und wer trägt die Risiken? Parallelen zu Rüstungsindustrie und Steuerpraxis sind nur scheinbar zufällig. Die Betrachtung von Anwendungen im Einzelfall zeigt immer wieder eine typische Verteilung - auch für mich als Arzt - : Beschränkung des Nutzens und des Profits auf eine vergleichsweise sehr kleine Gruppe, globale Vergesellschaftung der Risiken. Meine Damen und Herren, der Bericht der Bundesregierung erscheint in erschreckender Weise wie ein Tanz auf dem Vulkan. Alle kennen die Gefahren und wiegen sich dennoch in der Illusion, daß entweder kein Handlungsbedarf besteht oder Sicherungen bereits vorhanden sind. Im übrigen prüft die Bundesregierung; sie prüft und prüft. Ob das auch der Vulkan weiß? Dieser Bericht und das ihm zugrunde liegende Gentechnikgesetz muß in den Ausschüssen einer nochmaligen ernsthaften, kritischen Prüfung unterzogen werden, um die Chance zu erhalten, dem Mißbrauch der Wissenschaft auf diesem hochbrisanten Gebiet entschieden entgegentreten zu können. Ich glaube, wir als Deutsche kennen alle Gefahren und haben allen Grund dazu, das noch einmal auf die Tagesordnung zu setzen. Ich bedanke mich. ({4})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster hat der Abgeordnete Herr Seesing das Wort.

Heinrich Seesing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002142, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch dieser Bericht und der bisherige Verlauf der Debatte machen deutlich, daß die Gentechnologie eine der modernsten Technologien ist, die mit Sicherheit großen Einfluß in der Zukunft und auf die Zukunft gewinnen wird. Es genügt nicht - das ist heute morgen Gott sei Dank schon mehrfach deutlich geworden - , wenn wir dabei nur Deutschland betrachten. Wir haben den rechtlichen Rahmen für die Anwendung gentechnischer Verfahren in Forschung, Freisetzung und Produktion mit dem Gentechnikgesetz geschaffen. Nur werden wir die rasante weltweite Entwicklung der Gentechnologie mit unserem Gesetz nicht steuern. Vielleicht sind noch andere Länder dafür zu gewinnen, die Probleme dieser Technologie durch ein Gesetz ähnlich unserem zu regeln. Die unterschiedliche Bewertung der Gentechnologie in den einzelnen Staaten und bei uns in den verschiedenen Teilen der Bevölkerung veranlaßt mich, einige grundsätzliche Bemerkungen zum Gesamtkomplex zu machen. Mich beschäftigt schon sehr die Frage, ob die Gentechnologie an sich verantwortbar ist, vor allem aber ob sie verantwortbar ist im Hinblick auf die Zukunft der Menschen, der Tiere, der Pflanzen, der Mikroorganismen, der Viren, der Erde insgesamt. Die Gestaltung der Zukunft ist eine ethische Frage. Die Zukunft hängt vom ethischen Verhalten heute ab. Für viele Menschen sind Technik und Ethik nicht leicht in Einklang zu bringen. Das mag daran liegen, daß wir zwar alle von der Ethik sprechen, aber doch nicht so ganz genau wissen, was eigentlich gemeint ist. Ich glaube, ich habe das früher hier schon einmal ausgeführt und angesprochen; ich will es aber nochmals sagen, weil es mir so wichtig erscheint. Wenn man den Begriff der Ethik auf das altgriechische Wort „ethos" zurückführt, dann erfährt man, daß „ethos" den Bereich bezeichnet, in dem der Mensch lebt, wohnt und sich aufhält. „Ethik" ist dann das Bedenken des Aufenthaltes und das Verhalten, das dem menschlichen Wohnen und Tun entspricht. So gewinnt die Frage nach der Gestaltung der Zukunft eine neue Dimension. Es geht auch um das moralische Verhalten des einzelnen. Jeder hat da seine eigenen Ansätze und Grundsätze. Ich persönlich versuche, mich nach den Maßstäben des Christentums auszurichten. Ich erwarte aber nicht, daß das jeder in diesem Hause tut. Erwarten kann man aber, daß jeder sein Verhalten und Handeln danach ausrichtet, ob es den Menschen in Bonn, Berlin, Aachen, Leipzig, Schwerin und Trier, aber auch in London, Moskau, Kairo und Rio de Janeiro gerecht wird. Die Ethik, von der ich spreche, muß also die Menschheit im Auge haben, die uns umgreifende Natur, den Umgang mit den Schätzen der Natur und der Erde, den Umgang mit der Technik, die der Mensch geschaffen hat und weiter schaffen wird. Wissenschaft und Technik haben die Bedingungen für den Menschen, auf dieser Erde existieren zu können, bisher immer mehr und immer schneller verbessert. In den letzten 100 Jahren haben sie die Grundlagen für unseren heutigen Wohlstand, für den bisher schon erreichten Grad der sozialen Sicherheit und für die Verbesserung von Wohnen und Ernährung gelegt. Je mehr ich über die Notwendigkeit der Weiterentwicklung von Wissenschaft und Technik nachdenke, um so mehr komme ich zu der Erkenntnis, daß es dazu keine Alternative gibt. Nur sie werden die Voraussetzungen für ein Weiterbestehen der Menschheit und der Erde schaffen können. Nach meiner Überzeugung gehört auch die Gentechnologie zu diesen Voraussetzungen. Wenn das so ist, müssen wir uns aber auch die Frage stellen, ob es notwendig ist, Schranken zu bauen und Grenzen z. B. in Forschung und Entwicklung zu ziehen. Wenn wir die Weiterentwicklung von Technologie und Techniken wollen, dann müssen wir auch uns, die Menschen, darauf einstellen. Dazu einige Anmerkungen und Forderungen: Erstens. Für den Umgang mit dem Menschen, seinem Leben und seiner Würde brauchen wir, wie es aussieht, ein neues Bewußtsein. Dann lernen wir auch, richtig mit der Natur und Technik umzugehen. Gelegentlich habe ich den Eindruck, daß bei uns mehr an die Würde des Tieres und der Pflanzen gedacht wird als an die Würde des menschlichen Lebens. Ich schäme mich immer noch, daß wir uns z. B. vor einer Woche in der Bundestagsdebatte am 21. Februar 1991 für die Diskussion über das „Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes" ganze 36 Minuten zugebilligt haben und ich mich nicht für mehr Zeit engagiert habe. Wir haben über Mikroorganismen in diesem Hause schon viel länger debattiert. Es scheint mir wichtig zu sein, daß wir selbst erst wieder einmal die Werteskala richtig setzen. Zweitens. Technik muß dem Menschen, seiner Umwelt und seiner Zukunft dienen. Ohne politische Vorgaben, Wolf-Michael Catenhusen, z. B. für die Gestaltung der Umwelt oder für die Anwendung neuer Technologien kommen wir nicht mehr aus. Da gebe ich Dir vollkommen recht. Schon deshalb haben wir das Gentechnikgesetz und das Embryonenschutzgesetz verabschiedet und in Kraft gesetzt. Drittens. Die Menschen werden den klügsten Umgang mit der Welt, in der wir leben und in der unsere Enkel leben sollen, finden, wenn die, die Verantwortung tragen, die richtigen Wegweiser aufstellen. Manchmal frage ich mich allerdings, ob wir, die ja auch diese Verantwortung tragen, den richtigen Mut dazu haben, Wegweiser zu sein. ({0}) Viertens. Angst halte ich allerdings nicht für den richtigen Wegweiser in die Zukunft. ({1}) Das gilt auch für uns, wenn wir aus Angst vor dem vorübergehenden Verlust von Wählerstimmen das Richtige in uns behalten und das „Sowohl-Als auch" aussprechen. Als Christ habe ich den Auftrag angenommen, die Natur zu beherrschen und sie dem Menschen dienstbar zu machen. Das heißt aber nicht Ausbeutung, Plünderung oder gar Zerstörung der Natur. Wenn die Erde der Garten Gottes ist, freilich durch einen Sündenfall ramponiert, so gehört in diesen Garten weniger die Planierraupe als der Gärtner und, wenn man so sagen will, der Techniker der Natur. Die Technik wird uns helfen müssen, z. B. Boden, Wasser und Wald für die nachkommenden Generationen zu retten. Ich bin fest davon überzeugt, daß das ohne Gentechnik nicht mehr möglich sein wird. Aus der Geschichte wissen wir, daß die Welt und das Tun der Menschen in ihr begrenzt sind. Die Welt ist verletzlich, bedroht und vergänglich. Das können wir tausendfach erfahren, gerade in diesen Tagen. Dennoch brauchen wir nicht in Hoffnungslosigkeit zu verfallen. Wer in einer solchen Stimmung an die Probleme herangeht, für den werden die Probleme nicht lösbar. Ich behaupte sogar: Wer nicht immer die neuesten Erkenntnisse der Menschheit aufgreift, bewertet und, wenn sinnvoll, anwendet, der tut für die Lösung des Menschheitsproblems recht wenig. Denn die Techniken, auch die neuesten, sind nicht schädlich an sich. Ob sie schädlich oder gut sind, liegt nicht in den Techniken, sondern in der Verantwortung des Menschen, wie er sie nutzt. ({2}) Ich meine, mit der Zahl der Chancen wächst auch das Maß der Freiheit. Aber die Freiheit kann ohne ein hohes Maß an Verantwortung zum Bösen führen. Die Gentechnologie gewinnt erst langsam, wie mir scheint, einen besseren Ruf in unserem Lande. Ich frage mich oft, wie es zu einer solchen Abwehrhaltung bei uns gekommen ist. Es kann ja nicht nur an den Politikern gelegen haben, die ihre Botschaft, die sie selbst erarbeitet haben, nicht richtig „überbringen" konnten, wenn man das so sagen darf. Vielleicht liegt es aber daran, daß wir alle dazu neigen, zunächst ethisch-moralische Prinzipien zu formulieren und dann die Sachaufklärung wegen dieser Prinzipien zu verweigern. Ich frage: Muß der Weg nicht eigentlich genau umgekehrt sein? Zuerst muß eine fundierte Sachaufklärung erfolgen. Dann kann man zur ethischen Bewertung kommen, durchaus in dem erweiterten Sinne, den ich vorhin angesprochen habe. Ich spreche mich dafür aus, zu jedem geeigneten Punkt des Berichts der Bundesregierung zunächst die wissenschaftliche Ermittlung der Technikfolgen vorzunehmen, uns dann aber vor einer ethischen Bewertung nicht zu drücken. Wir gehen dabei davon aus, daß wir nicht alles dürfen, was wir eigentlich könnten. Aber wir stellen uns auch die Frage, ob wir uns nicht schuldig machen, wenn wir etwas verhindern, was wir können und was für die Menschen, die anderen Lebewesen und die Umwelt von Wichtigkeit wäre. ({3}) Eines muß aber ganz klar sein: Die von vielen geforderte Nullbelastung des Ökosystems wird es nie geben können. Auch die Gentechnologie wird das nicht schaffen. Die Verwirklichung dieser Forderung würde nämlich die Entfernung des Menschen aus dieser Welt bedeuten. Und das kann nicht das Ziel menschlichen Lebens, Arbeitens, Denkens und Betens sein. Also bleibt uns die Aufgabe, die Gefahrenabwehr in unserer modernen Industriegesellschaft durch eine Schadensvorsorge mit vielen politischen und technischen Maßnahmen zu ergänzen. Ich halte die Gentechnik dabei für unerläßlich. Nach wie vor bin ich der Auffassung, daß ihre Förderung wegen der immer noch offenen Chancen bei der Bekämpfung von Krankheiten, Hunger und Umweltschäden - das hat Roland Kohn vorhin sehr deutlich angesprochen - eine durchaus wichtige Aufgabe unserer Technologiepolitik darstellt. Aber es gibt Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Ich gebe Wolf-Michael Catenhusen und auch Roland Kohn recht, wenn sie ein einschneidendes Verbot der Anwendung der Gentechnologie zu militärischen Zwecken einschließlich des Verbots der Produktion von Waffen in dieser Richtung verlangen. ({4}) Ich meine, das ist eine Forderung, hinter der das ganze Haus stehen müßte. ({5}) Die Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie" hat in ihrem Bericht solche Grenzen aufgezeigt und entsprechende Empfehlungen erarbeitet. Der Deutsche Bundestag hat nach eingehenden Beratungen in den Fachausschüssen und im federführenden Ausschuß für Forschung und Technologie das Anliegen dieser Empfehlungen in zahlreichen Beschlüssen aufgenommen. Ich bin der Bundesregierung sehr dankbar, daß sie sehr eingehend auf die einzelnen Beschlüsse reagiert hat. Das zeigt die Breite ihres Berichts. Es ist gut, daß der vom Bundestag mit neuer Kompetenz ausgestattete Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung die weitere Beratung federführend übernimmt. Es scheint an der Zeit zu sein, die zahlreichen Einzelanwendungsbereiche der Gentechnologie auf ihre Auswirkungen auf Mensch und Umwelt zu betrachten, nachdem die Gentechnologie insgesamt, auch wegen ihrer weltweiten Entwicklung, nicht mehr in Frage gestellt werden kann. Das wird gleich Herr Kollege Dr. Lischewski aus Halle für den Bereich der Pflanzenzucht tun. Unser junger Kollege Christian Schmidt aus Fürth sollte hier heute zu den Problemen der Anwendung der Gentechnik am Menschen sprechen. Da er aber gestern zum erstenmal Vater geworden ist, ({6}) kann er heute nicht hiersein. Aber ich meine, wir sollten seiner Frau und ihm gratulieren, auch dazu, daß er sich richtig entschieden hat, ({7}) nämlich bei seiner Frau zu bleiben und uns nicht hier die Dinge klarzulegen. Das kann in der Ausschußberatung alles nachgeholt werden. ({8}) Ich kann natürlich nicht auf die vielen Hinweise eingehen, die von der Bundesregierung gegeben werden. Aber zu einigen will ich doch ein paar Bemerkungen machen - dies ist vorhin schon gefordert worden - , so besonders zu den rechtlichen Problemen, die die Anwendung der Genomanalyse beim Menschen aufwirft. Erstens. Es scheint mir notwendig zu sein, über eine Änderung des Art. 74 des Grundgesetzes dem Bund eine Gesetzgebungskompetenz für die Fragen der Fortpflanzungsmedizin und für die Untersuchung und künstliche Veränderung der menschlichen Erbinformationen zu geben. Nur dadurch kann eine bundeseinheitliche Regelung der Problematik erreicht werden. Der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages hat beschlossen, zu versuchen, die Gesetzentwürfe des Bundesrates und der SPD-Fraktion in dieser Wahlperiode wieder aufleben zu lassen. Zweitens. Ich halte es für sinnvoll, wenn ein Genomanalysegesetz alle im Bericht genannten Bereiche umfaßt. Ich spreche mich auch dafür aus, ein solches Gesetz im Parlament recht bald einzubringen. ({9}) Ich habe meine Zweifel, ob die augenblickliche Zurückhaltung, etwa im Bereich der Arbeitsmedizin und des Versicherungswesens, noch sehr lange anhält. Auf Arbeitstagungen wird z. B. die Anwendung von DNA-Analysen vor dem Abschluß von Lebensversicherungen durchaus diskutiert und befürwortet. Für den Abschluß von Krankenversicherungsverträgen mit Privatpatienten will man so lange auf DNA-Analysen verzichten, wie es sie auch nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung gibt. Die Anwendung dort werden wir doch wohl verhindern können, wenn wir es nur wollen. ({10}) Drittens. Eine eigene rechtliche Regelung erwarte ich für die Anwendung genetischer Analysen im Strafverfahren, z. B. des DNA-Fingerprinting. Ich bitte auch hier - bei aller Sorgfalt und bei aller Liebe der gestandenen Juristen zu vorhandenen Gesetzestexten - , die Arbeit zügig anzugehen. Ich schlage dabei vor, die in einer Anhörung des Rechtsausschusses zur Genomanalyse im Strafverfahren von den dort beteiligten Richtern geäußerten Wünsche nach weiteren Änderungen der Strafprozeßordnung zu erfüllen. In den Ausschußberatungen werden wir zu prüfen haben, ob die Mitteilungen der Bundesregierung weitere Aktivitäten des Parlaments erfordern. Wir sind auf jeden Fall zu jeder sachlichen Arbeit bereit. ({11})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Bulmahn.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Der von der Bundesregierung vorgelegte Bericht kann nicht zufriedenstellen. Selbst dort, wo es um Grundfragen unseres Menschseins und das Selbstverständnis unserer Gesellschaft geht, wo konkrete Maßnahmen und Entscheidungen nötig sind, bleibt er unverbindlich. Mit dem Bericht übt sich die Bundesregierung erneut in dem von ihr bereits bekannten Aussitzen von Problemen und Entscheidungen, obgleich die verantwortungsbewußte Gestaltung der Gentechnik frühzeitige Initiativen erfordert. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Genomanalyse, den auf absehbare Zeit wichtigsten medizinischen Anwendungsbereich der Gentechnologie. Die Genomanalyse bietet die Möglichkeit, Erbkrankheiten, genetisch bedingte Veranlagungen zu bestimmten Krankheiten oder genetisch bedingte Empfindlichkeiten gegenüber Umwelteinflüssen wie gefährlichen Arbeitsstoffen, Chemikalien oder Nahrungsmitteln festzustellen, aber auch die Möglichkeit, die Auswirkungen von Umwelteinflüssen auf das menschliche Erbgut festzustellen. Sie eröffnet damit sicherlich neuartige Chancen der rechtzeitigen Erkennung und Behandlung von Krankheiten, neue Therapiemöglichkeiten und die Chance, vorbeugende Maßnahmen zu treffen. Die Anwendung der Genomanalyse birgt aber auch zugleich erhebliche Risiken in sich; sie kann unser Menschsein und unsere Einstellung zu unseren Mitmenschen in erheblicher Weise beeinflussen. Sie greift unmittelbar in die vom Gesetzgeber zu schützende Würde des Menschen ein. Sie kann zur Ausgrenzung und Diskriminierung von Behinderten und Krankheiten, zur Einengung, ja zur Verweigerung von Lebens- und Arbeitschancen führen. Sie enthält zugleich die Gefahr, daß Menschen auf einzelne Merkmale ihrer genetischen Ausstattung reduziert und entsprechend klassifiziert werden. Dies ist mit dem Menschenbild des Grundgesetzes genausowenig zu vereinbaren wie die letztendlich dahinterstehende Auffassung, der ideale Mensch müsse frei von körperlichen Defekten und Leiden sein. Wer den Menschen als technisch manipulierbares, perfektioniertes Objekt versteht, entmenschlicht ihn. Die Würde des Menschen ist unteilbar, und deshalb setzen wir uns auch, Herr Seesing, für eine Änderung des Art. 74 des Grundgesetzes ein. Viel zu kurz ist in der bisherigen Debatte die Diskussion über die Ziele, die mit Hilfe der Genomanalyse verfolgt werden sollen, gekommen. Was wollen wir, und was wollen wir nicht? Völlig unzureichend sind bisher auch die Bemühungen um eine breit angelegte Technikfolgenabschätzung, in der neben offensichtlichen Risiken auch die langfristigen unbeabsichtigten Folgen betrachtet und bewertet werden müssen - sicherlich kein leichtes, aber ein notwendiges Unterfangen, das von der Bundesregierung aber bisher weitgehend vernachlässigt worden ist und zu dem auch heute wiederum nichts gesagt worden ist. Dringend notwendig sind eindeutige Regelungen zur Anwendung der Genomanalyse. ({0}) Sie müssen unseres Erachtens in einem eigenständigen Genomanalysegesetz vorgenommen werden. Jeder Mensch hat ein Recht auf Leben, auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Dies muß die Maxime unseres Handelns bleiben. Konsequent müssen wir deshalb der Gefahr einer eugenisch orientierten Gesundheitspolitik entgegentreten. Bestrebungen und Überlegungen, wie sie etwa von zwei leitenden Ministerialbeamten aus dem bayerischen Justizministerium und aus dem Bundesjustizministerium in einem gemeinsam verfaßten Buch dargelegt werden, dürfen niemals Wirklichkeit werden. Bedenkt man, - so die beiden Ministerialbeamten daß 40 % aller Fälle von Mongolismus rechtzeitig erkannt werden könnten, würde nur jede über 35jährige Schwangere der pränatalen Diagnostik zugeführt, ... liegt es nahe, die Genomanalyse darüber hinaus sogar für alle Schwangeren als Pflichtuntersuchung einzuführen ... Es bietet sich zum Beispiel an, jene, die sich der Maßnahme verweigern, etwa weil sie sich nicht der Zwangslage aussetzen wollen, über Abtreibung oder Geburt des Kindes entscheiden zu müssen, mit Kostennachteilen zu belegen. Weshalb sollte die Gesellschaft, die Solidargemeinschaft der Versicherten bezahlen müssen, wenn ein Paar sich den vermeidbaren Luxus eines erbkranken Kindes leistet? Solche Eltern, so wäre zu argumentieren, verspielen aus eigenem Verschulden den Anspruch auf Hilfe. Soweit das Zitat. Das, was diese beiden Herren für vernünftig halten, halte ich für pure Unvernunft, Herr Kohn. Deshalb werden wir weiter darüber streiten müssen, was vernünftig ist und was „vernünftig" heißt. ({1}) - Es geht darum, daß „vernünftig" per se nichts sagt, sondern daß wir darüber streiten werden und müssen, was in diesem Zusammenhang vernünftig ist. Diese Vernunft, die die beiden Herren in ihrem Buch darlegen, kann ich nicht teilen, und ich hoffe, daß ein großer Teil dieses Parlaments diese Vernunft auch nicht teilen kann. ({2}) Meine Herren und Damen, wenn wir das Recht auf Selbstbestimmung ernst nehmen und zur Grundlage unseres politischen Handelns machen, dann darf es keine, Pflicht und keinen Zwang zur Durchführung von Genomanalysen geben. Die strikte Anbindung von Genomanalysen an das Prinzip der Freiwilligkeit muß ohne Wenn und Aber verankert werden. Das ökonomische Interessse am optimalen Menschen - gesund, leistungsfähig bis ins hohe Alter, resistent gegenüber Arbeitsplatzbelastungen, Umweltgiften, Streß, emotionalen Belastungen - ist nicht zu leugnen. Ob es aber zum alleinigen Maßstab der Entwicklung wird, liegt auch an uns. Wir müssen den Mut haben, darüber eine Entscheidung zu treffen. Derzeit spielen Genomanalysen an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Bundesrepublik im Gegensatz zu den USA noch keine nennenswerte Rolle. Mit der weiteren Entwicklung, Vereinfachung und Standardisierung der Testverfahren wird jedoch der Druck zunehmen, dieses Untersuchungsverfahren auch im Rahmen von Einstellungs-, Eignungs- und Vorsorgeuntersuchungen zu nutzen. Die sich in dem hier zur Debatte stehenden Bericht niederschlagende abwartende Haltung der Bundesregierung ist deshalb in keiner Weise zu rechtfertigen. Meine Fraktion - wir haben dies bereits in unserem Änderungsantrag vom 25. Oktober 1989 deutlich zum Ausdruck gebracht - spricht sich in weitgehender Übereinstimmung mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund und der Bund-Länder-Arbeitsgruppe Genomanalyse für ein gesetzliches Verbot von Genomanalysen bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Rahmen der arbeitsrechtlichen Beziehungen aus. Die möglichen Chancen solcher Untersuchungen werden unseres Erachtens durch die damit verbundenen Risiken deutlich übertroffen. Da, wie die Bundesregierung selbst in ihrem Bericht feststellt, sowohl die Gesellschaft für Arbeitsmedizin als auch der Verband deutscher Betriebs- und Werksärzte entsprechende DNA-Analysen im Rahmen der Prävention für nicht erforderlich halten, sprechen auch medizinische Gesichtspunkte nicht gegen ein Verbot. Die durch das Grundgesetz geschützte Menschenwürde läßt die durch eine Genomanalyse mögliche - oder besser: scheinbar mögliche - Erhebung eines umfassenden Gesundheits- und Persönlichkeitsprofils durch die Arbeitgeber nicht zu. Genomanalysen von Beschäftigten greifen in einem durch nichts zu rechtfertigenden Umfang in das Persönlichkeitsrecht des einzelnen ein. Sie können die Möglichkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung und freier Entfaltung der Persönlichkeit erheblich beschneiden. Insbesondere besteht die Gefahr, daß Arbeitgeber genetische Dispositionen mit in ihre Entscheidungen einbeziehen, die mit den für den Arbeitsplatz geforFrau Bulmahn derten Qualifikationen und Eignungen in keinem ursächlichen Zusammenhang stehen, oder daß sie sich möglicher gesundheitlicher Risikofälle entledigen. ({3}) Dadurch kann die Möglichkeit, sich einen bestimmten Beruf auszuwählen oder überhaupt eine Anstellung zu finden, erheblich eingeschränkt werden, und zwar selbst dann, wenn die Betroffenen völlig gesund sind. Der Braunschweiger Arbeitsrechtler Bernd Klees hat in diesem Zusammenhang ein instruktives Beispiel angeführt, und zwar den Fall einer Sekretärin, die nicht eingestellt wurde, da sie Trägerin des HLAMarkers B 27 war. In engem Zusammenhang mit diesem Marker steht eine relativ seltene rheumatische Krankheit. Insgesamt sind ca. 10 % der Bevölkerung Träger dieses Markers, aber an der Krankheit selbst leiden nur ca. 0,1 %. Mit anderen Worten: Von 1 000 HLA-B-27-Positiven erkrankt durchschnittlich nur eine Person, 999 aber nicht. ({4}) Dieses Beispiel zeigt eindringlich die Fragwürdigkeit derartiger Verfahrensweisen. Herr Lenzer, diese Frau war nicht erkrankt, sondern nur Trägerin. Macht dieses Beispiel aber Schule und werden solche Analysen grundsätzlich zugelassen, so besteht eben die Gefahr, daß Menschen mit genetischen Abweichungen „ausgelesen" und gesellschaftlich diskriminiert werden, ({5}) daß Arbeitsplätze eben nur noch mit Menschen ohne oder mit einem nur geringen genetisch bedingten Krankheitsrisiko besetzt werden. Das, Herr Lenzer, wollen wir nicht. Wir halten das für zutiefst unmenschlich. ({6}) Das Interesse von Arbeitgebern, über besondere Erkrankungsrisiken ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer informiert zu sein, ist auch mit dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes nicht vereinbar. Nach geltendem Recht müssen Arbeitgeber das Risiko ihrer Beschäftigten, zu erkranken, mittragen. Die einseitige Verlagerung der Risiken auf die Beschäftigten ist mit dem geltenden Recht nicht in Einklang zu bringen. Eine Zulassung der Genomanalyse würde den Vorrang des objektiven Arbeitsschutzes aushöhlen und letztendlich zu einer Umkehrung der jetzigen Prinzipien des Arbeitsschutzes führen. Deshalb ist es unhaltbar, wenn die Bundesregierung einerseits sagt, daß „es bei einem persönlich bedingten Gesundheitsrisiko ... dem Arbeitnehmer vorbehalten bleibt zu entscheiden, ob er die Tätigkeit auf dem gefährdenden Arbeitsplatz fortsetzt oder nicht", aber dann fortfährt, es „wird geprüft, inwieweit die Interessen der Solidargemeinschaft eine davon abweichende Regelung rechtfertigen" . Meine Damen und Herren, eine davon abweichende Regelung ist nicht zu rechtfertigen. Die Auswahl von Beschäftigten darf sich nicht an ihrer Widerstandskraft gegenüber besonderen Belastungen am Arbeitsplatz orientieren. Gentechnische Ausmusterungsverfahren für unzumutbare Arbeitsbedingungen kommen nicht in Frage. Oder wollen Sie etwa krank machende Arbeitsplätze schützen statt die Menschen vor gesundheitsschädigenden Arbeitsplätzen? Nein, wir brauchen keine widerstandsfähigeren Arbeitskräfte, wir brauchen bessere Arbeitsbedingungen. Und hier gibt es mehr als genug zu tun.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Frau Bulmahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kohn?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das wird doch nicht auf meine Redezeit angerechnet?

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Nein.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dann gestatte ich sie.

Roland Kohn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001168, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, können Sie dem Hause mitteilen, an welchem Feindbild Sie sich im Augenblick orientieren und auf wen Sie gerade einschlagen? ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich orientiere mich zum einen daran, daß nach wie vor weder im Enquete-Bericht noch von den Vertretern der Regierung ausdrücklich ausgeschlossen wird, Genomanalysen in arbeitsrechtlichen Beziehungen zuzulassen. Bisher gibt es dazu keine eindeutige Formulierung seitens der Bundesregierung. Ich orientiere mich zum anderen daran, daß es in der Bundesrepublik Deutschland, in der EG nach wie vor durchaus nicht unwichtige Personen gibt, die sich für die Zulassung von Genomanalysen in arbeitsrechtlichen Beziehungen einsetzen. Ich bin der Meinung - das habe ich bereits eingefordert -, daß wir hier vorangehen und Verantwortung übernehmen müssen. Wir müssen klipp und klar sagen, daß wir keine Genomanalysen in arbeitsrechtlichen Beziehungen zulassen und daß wir uns für ein Verwertungsverbot von derartigen freiwilligen Untersuchungen einsetzen. Auch dies ist in dieser Debatte seitens der Regierung nicht deutlich formuliert worden; es steht ebenfalls nicht eindeutig im Bericht der Bundesregierung.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Gestatten Sie noch eine Zusatzfrage?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Roland Kohn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001168, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, sind Sie bereit, zuzugeben, daß ich vor wenigen Minuten in meinen eigenen Ausführungen ausdrücklich darauf hingewiesen habe, daß der Arbeitgeber solche Informationen nicht verlangen darf und daß Informationen, die auf Grund freiwilliger Entscheidungen von Arbeitnehmern zustande kamen, nicht an den Arbeitgeber weitergegeben werden dürfen?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kohn, meiner Meinung nach gehört ein Satz, wie ich ihn eben vorgetragen habe: „Es wird geprüft, inwieweit die Interessen der Solidargemeinschaft eine davon abweichende Regelung rechtfertigen", nicht in einen Bericht der Bundesregierung. Dagegen wehre ich mich. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit einem Zitat des Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft, des Evolutionsbiologen Professor Dr. Hubert Markl, schließen. Er sagt: Die moralische Verantwortung der Gemeinschaft wird angesichts der neuen humangenetischen Kenntnismöglichkeiten eine ganz andere und durch die Rechtsordnung sicherzustellende sein: Von jedem Zwang auf die Bürger Abstand zu nehmen, sich einer Genanalyse zu unterwerfen oder Entscheidungen nach einem wie immer definierten Gemeinschaftsinteresse zu treffen! . . . Keine, aber auch gar keine staatliche oder gesellschaftliche Maßnahme, die der Eugenik, der „Gesunderhaltung" oder gar der „Verbesserung" des Genpools der Bevölkerung dienen soll. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen und hoffe, Sie etwas nachdenklich gemacht zu haben. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Lischewski.

Dr. Manfred Lischewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001354, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Programm der Bundesregierung „Biotechnologie 2000" zeigt neue Möglichkeiten zum besseren Verständnis von Lebensvorgängen auf, die noch vor wenigen Jahrzehnten unvorstellbar waren. Zum besseren Verständnis des immer größeren Wissens dienen neue Erkenntnisse der Chemie, Biochemie, Molekularbiologie, Mikrobiologie, Zellbiologie, Genetik und Verfahrenstechnik. Verwendbar in biologischen Systemen sind Mikroorganismen, Zellkulturen oder Teile davon, Enzymreaktionen und andere biologische Reaktionen bis hin zu vielzelligen Organismen wie Pflanzen und Tieren. Meine Damen und Herren, ich möchte mich an dieser Stelle in meinen Ausführungen auf das Gebiet der Pflanzen und Mikroorganismen beschränken. Als Beispiel für die integrale Nutzung gentechnischer Forschung kann das Gebiet der nachwachsenden Rohstoffe angesehen werden. Dabei werden folgende Schwerpunkte und übergeordnete Ziele angestrebt: Schonung der fossilen Rohstoffreserven; Beseitigung zunehmender Umweltprobleme, die aus dem Einsatz fossiler Rohstoff- und Energieressourcen entstehen; Rohstoffsicherung durch nachwachsende Rohstoffe für die Schlüsselbereiche der Industrie; Ackerflächennutzung statt Stillegung landwirtschaftlicher Flächen; Schaffung neuer Absatzpotentiale für Agrarprodukte. Diese Schwerpunkte bieten einen Ansatz für die Forschungsförderung, wobei die Erschließung innovativer technischer Anwendungsfelder für biologische Rohstoffe ein zentraler Ansatzpunkt ist. Es sollen solche Forschungsrichtungen gefördert werden, die mittel- als auch langfristig gute Möglichkeiten in wissenschaftlicher als auch in wirtschaftlicher Hinsicht erfüllen, wie z. B. die Pflanzenzüchtung und die Naturstoffchemie. Förderschwerpunkte können dabei sein: Einsatz von Stärke und Zucker als chemische Rohstoffe; Gewinnung von bioabbaubaren Kunststoffen; Verwendung von Naturfasern, z. B. Flachs, überwiegend für technische Verwendungszwecke; Einsatz von pflanzlichen Olen und Fetten zur Verwendung als Kraft- und Schmierstoffe sowie Herstellung von Waschmitteln, Kosmetika, Farben und Harzen; Züchtung von Pflanzen mit hohem Gehalt der von der Industrie benötigten Inhaltsstoffe unter Einsatz moderner biotechnologischer Verfahren. Auch die Nutzung natürlich vorkommender Pflanzensorten aus den verschiedensten Regionen der Erde und ihr biologisch-chemisches Screening bieten große Möglichkeiten in der industriellen Nutzung. Nachfolgende züchterische und gentechnische Forschung können den Einsatz und die Verwendung für die Industrie - und damit auch für die Landwirtschaft - lohnend erscheinen lassen. Für die Forschung und die industrielle Nutzung der Biotechnologie kann die Stammsammlung von Mikroorganismen, pflanzlichen und tierischen Zellkulturen sowie pflanzenpathogenen Viren daher auch von außerordentlichem Nutzen sein. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt ist die Gewinnung von Sekundärstoffen aus Pflanzen und Pflanzenzellkulturen. Hierbei können wertvolle Naturstoffe gewonnen werden, die sowohl in der Medizin als auch in der Landwirtschaft angewandt werden können. Ziel der Agrarchemie muß es sein, geringe Hektaraufwandmengen von Sekundärmetaboliten mit beispielsweise akariziden bzw. herbiziden Wirkungen zu erreichen. Im Rahmen der internationalen Agrarforschung ist es wichtig, die gen- und biotechnologische Forschung den Bedürfnissen der Dritten Welt anzupassen. Besondere Schwerpunkte sind die Mais- und Reiszüchtungen. Nicht zu vergessen sind die gewaltigen Probleme der Versalzung der Böden in den Entwicklungsländern. Pflanzen zu finden, die unter Salzstreßbedingungen gute Erträge bringen, sind von großer Wichtigkeit für diese Regionen. Ein weiterer wichtiger Aspekt für die zukünftige Forschungspolitik ist die photosynthetische Stoffproduktion und die biologische Wasserstofferzeugung. Die Grundlagenforschung hat in den letzten Jahren gewaltige Fortschritte beim Verständnis elementarer Vorgänge der Photosynthese erzielt. Es ist aber noch ein langer Weg vom Verständnis dieses Prozesses hin zur gezielten Steigerung der Photosyntheserate und zum natürlichen Energiegewinnungsverfahren. Wichtig ist die Erschließung umweltfreundlicher regenerativer Energiequellen, wobei mit Hilfe der Biotechnologie eine biologische Wasserstoffproduktion zu erzielen ist. Zahlreiche Mikroorganismen bilden bei der Verwertung von Biomasse als Nahrungsquelle in geringfügigem Maße Wasserstoff als sogenanntes Abfallprodukt. Hierbei sind im besonderen Cyanobakterien und Grünalgen zu nennen, die die Fähigkeit der Photosynthese nicht nur zur Synthese organiDr. Lischewski scher Moleküle besitzen, sondern auch mit Hilfe der Lichtenergie Wasserstoff erzeugen können. Das Wissen über diese Prozesse ist noch nicht sehr groß. Hier ist noch ein großer Anteil an Grundlagenforschung nötig, um die Stoffwechselprozesse dieser Mikroorganismen auf eine optimale Wasserstofferzeugung hin zu beeinflussen. Ich bin der Meinung, daß mit dem Förderkonzept zur biologischen Wasserstoffgewinnung künftige Forschungsschwerpunkte auf diesem Gebiet formuliert werden müssen. Die Vorteile der Biophotolyse liegen in der direkten Umwandlung der Solarenergie in den speicherbaren Energieträger Wasserstoff. Der niedrige Wirkungsgrad der Biophotolyse und die schwierige Trennung von Wasserstoff und Sauerstoff stellen die Probleme für die derzeitige Grundlagenforschung dar. Die Möglichkeit des gezielten Transfers von Genen, Pflanzen mit neuen Eigenschaften auszustatten, ist heute eine große wissenschaftliche Herausforderung. Beispielsweise ist es vorteilhaft, Pflanzen durch Einbau von speziellen Genen resistenter gegenüber Schädlingsbefall zu machen, damit Pflanzenschutzmittel einzusparen und den Ertrag zu erhöhen. Nach zahlreichen Versuchen im geschlossenen Labor wurden in der Bundesrepublik zum erstenmal gentechnisch veränderte Pflanzen vom Labor ins Freiland ausgesetzt; ich meine hierbei das Beispiel der Petunie. Es ist das Ziel dieser Grundlagenforschung, die entsprechenden Gene für eine bestimmte Erbanlage zu bestimmen und deren günstige Eigenschaften auf Nutzpflanzen zu übertragen. Interessant ist es beispielsweise, die Eigenschaft der Knöllchenbakterien auf Pflanzen zu übertragen, die Stickstoff direkt aus der Luft aufnehmen können und somit keinen Dünger mehr benötigen. Es gibt natürlich auch Kritiker der Gentechnik, die befürchten, daß gentechnisch veränderte Pflanzen als konkurrierende gefährliche Unkräuter die Felder überwuchern. Unsere Kulturpflanzen, aber auch die genetisch veränderten Pflanzen sind ohne die menschliche Pflege den Wildformen der Pflanzen nicht gewachsen. Die neugezüchteten Pflanzenspezies werden zuerst im Labor, danach im Gewächshaus und in einem dritten Stadium in einem kontrollierten Versuchsfeld im Freien ausgesetzt. Bei diesem Vorgehen sind keine größeren Risiken als bei der klassischen Züchtung zu erwarten. Die Verwendung der Gentechnik führt aber schneller zu hochwertigen Pflanzen mit besonderen Eigenschaften. So sollte das Welthungerproblem auch mit Hilfe von gentechnisch veränderten Pflanzen gelöst werden können.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Abgeordneter Dr. Lischewski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schumann?

Dr. Manfred Lischewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001354, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte am Ende. - Hingegen muß man auch die Risiken der Gentechnik betrachten. Eine Antwort zum ökologischen Risiko, speziell der Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen, muß immer verantwortungsvoll betrachtet und kann nur in einer umfassenden Technikfolgenabschätzung bewertet werden. Millionen gentechnischer Experimente in den letzten 15 Jahren zeigen, daß gentechnische Veränderungen durchweg mit einem Verlust an Überlebungsfähigkeit gekoppelt waren. Im Konkurrenzkampf mit den natürlichen Spezies sind diese genveränderten Organismen hoffnungslos unterlegen. In vielen Laboratorien und technischen Anlagen ist es das größte Problem, gentechnisch veränderte Bakterienzellkulturen z. B. vor einer Infektion durch die Wildformen zu schützen. So sollten auch wir diese Schlüsseltechnologie zum Wohl des Menschen nutzen und sie niemals mißbrauchen. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Schumann.

Dr. Fritz Schumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002114, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich habe Ihre Ausführungen mit Interesse verfolgt. Welchen Standpunkt beziehen Sie dazu, daß z. B. Resistenzzüchtungen, die in der ehemaligen DDR gerade bei Pflanzen gemacht wurden, gegenwärtig alle vernichtet werden, und zwar im Interesse der chemischen Industrie, weil es für sie besser ist, chemische Mittel einzusetzen?

Dr. Manfred Lischewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001354, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich ordne diese Forschungsrichtung nicht so hoch ein, weil ich glaube, daß es besser ist, die resistenten Gene in Pflanzen einzusetzen und diese Pflanzen dann zu benutzen, als anstelle dessen große Mengen an Chemikalien auf die Felder zu streuen. ({0}) Schönen Dank. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Blunck.

Lieselott Blunck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Anwendung gentechnologischer Methoden erfaßt immer schneller immer weitere Bereiche des täglichen Lebens, angefangen bei der Medizin und den Versicherungen bis hin zur Landwirtschaft und der Lebensmittelproduktion. Allen Erfolgsmeldungen zum Trotz können die bisherigen Erfahrungen mit der Gentechnik nicht darüber hinwegtäuschen, daß die grundsätzlichen Bedenken gegen die Anwendung dieser neuen Technologie noch nicht ausgeräumt sind. Das ist bedauerlich; denn dies hätte eigentlich am Anfang der Diskussion stehen müssen. Nun haben wir aber - da stehe ich im Gegensatz zu meinem Vorredner - im vergangenen Jahr im Rahmen des ersten Freilandversuches des Kölner MaxPlanck-Institutes die Erfahrung machen müssen, daß eben dieses Petunien-Experiment anders ausgefallen ist, als sich die Wissenschaftler das vorgestellt haben. Ich sage das überhaupt nicht mit Schadenfreude, sondern mir geht es allein darum, daß endlich eingesehen wird, daß die neue Technologie keineswegs so beherrschbar ist, wie es uns Wissenschaft und Industrie gerne vormachen wollen. Das muß Anlaß sein, dies immer wieder kritisch zu hinterfragen. Das gilt ganz besonders auch für die Anwendung der Gentechnik in der Lebensmittelproduktion. Wir erleben hier einen förmlichen Ansturm auf den Markt. Das ist an sich nichts Schlechtes. Nur: In diesem sensiblen Bereich der Ernährung ist der Mensch unmittelbar betroffen. Und da habe ich meine Zweifel, ob wirklich alle Aspekte der Sicherheit und der Ausschaltung von Risiken beachtet werden. Im Bereich der Pflanzenproduktion sind durch die Gentechnik Veränderungen bei der Qualität - einschließlich der Inhaltsstoffe - , bei der Resistenz und bei den Erträgen möglich. Bei der „Tierproduktion" ermöglicht die Gentechnik Veränderungen hinsichtlich der Reproduktionsrate, des Wachstums, der Streß- und Krankheitsanfälligkeit. Bei der Verarbeitung von Lebensmitteln geht es um die Minimierung der Zusatzstoffe, um den Ersatz von Konservierungsstoffen, um Veränderungen, die die Produkte über weite Wege hinweg transportfähig, haltbarer, stapelbarer machen - kurz: darum, den Anforderungen des Produzenten und der Lebensmittelindustrie und des Handels gerechter zu werden. Aber wo bleibt dabei der Verbraucher? Auf den ersten Blick sind das ja sehr tolle Sachen, die damit gemacht werden. Nur sei es noch einmal gesagt: Welche Auswirkungen dies auf das Wohlbefinden der Verbraucher hat - Wohlbefinden heißt dabei nicht nur, daß er sich im Moment wohl befindet, sondern daß er sich auch in Einklang mit Natur und Umwelt befindet - , wissen wir eben noch lange nicht, auch wenn die Beherrschbarkeit der neuen Technik einmal unterstellt wird. Ebensowenig kennen wir die möglichen Folgewirkungen gentechnisch veränderter Nahrungsmittel auf den Menschen. Sind diese Lebensmittel tatsächlich so rein, und was bedeutet diese Reinheit für die Gesundheit des Menschen? Schon gar keine Erkenntnisse besitzen wir über die möglichen Kumulationseffekte. Es gibt darüber keine Untersuchungen. Wo ist hier eigentlich, Herr Seesing, die Bundesregierung, die die Technologiefolgenabschätzung betreibt, zumindest aber anfängt? Wo ist sie in Brüssel vorbeugend tätig? Wo ist sie mit den Verboten, wo Nichtwissen für uns alle nicht erträglich ist, wo das Nichtwissen zu groß ist? Denn wir haben alle gelernt, daß die Schadensvorsorge Vorrang haben muß, weil wir eben auch gelernt haben, daß der Schaden manchmal nicht begrenzbar und erst recht nicht behebbar ist. Neben der Prüfung der Sicherheit, der Wirksamkeit und der Qualität muß auch der soziale Nutzen berücksichtigt werden. Meine Kollegin Frau Adler wird im Zusammenhang mit BST noch darauf eingehen, was dort sozialer Nutzen sein kann. Für ganz selbstverständlich halte ich die Kennzeichnungspflicht für gentechnisch veränderte Lebensmittel, und zwar auf allen Ebenen, um eine Gefährdung des Verbrauchers und um eine Täuschung auszuschließen. Die Verbraucher müssen selbst entscheiden können, ob sie solche Produkte kaufen oder nicht. Was nottut, ist vorsorgendes politisches Handeln einschließlich Kontrolle und natürlich öffentliche Wachsamkeit. Zu der Stellungnahme der Bundesregierung im Bereich Genomanalyse im Versicherungswesen kann man nur sagen: Entweder mißachtet die Bundesregierung die Arbeit der Enquete-Kommission, indem sie deren Empfehlungen überhaupt nicht ernst nimmt, oder aber läßt die Verbeugung vor der Lobby der Versicherung die Bundesregierung in diesem Bereich handlungsunfähig werden? Anders kann man sich diese Stellungnahme nicht erklären. Denn sie ist eine totale Abkehr von der Vorsorgepolitik. Die Bundesregierung sagt in ihrer Stellungnahme, daß sie erst handeln will, wenn der Schaden bereits eingetreten ist. Das kann wohl nicht angehen. Deswegen fordere ich die Bundesregierung auf, nicht weiter im Unverbindlichen Bedenken zu streuen, sondern ihre Möglichkeiten zum Handeln zu nutzen. Sorgen Sie sich, bevor etwas passiert! ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat jetzt Frau Adler.

Brigitte Adler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Milliardenumsätze erwartet die Industrie von der Gentechnologie. Ist das der Grund, warum so fleißig geforscht wird, warum soviel Steuergeld dafür ausgegeben wird? Sollten die recht haben, die davon sprechen, daß die Gentechnologie Heilung von Krankheiten, die Behebung der Nahrungsmittelnot auf der Welt verspricht? Wie so oft ist die Beantwortung der Frage, ob die Gentechnik Chancen und/oder Risiken birgt, nicht leicht. Die berühmte Mitte festzulegen, also von jedem etwas, ist nicht möglich. Ist die Gentechnik nicht eine faszinierende Herausforderung für uns Menschen, um hinter das Geheimnis der Schöpfung zu kommen? Denn die Chance, alles Lebende zu enträtseln, steckt hinter der Neugier der Forscher. Was aber, wenn das Rätsel gelöst ist? Können wir das ungeschehen machen? Können wir auf das erforschte Wissen, wenn nötig, auch verzichten? Oder sind ethische Grundsätze nur etwas für Sonntagsreden? Halten sich wirklich alle Forscher daran, keine Forschung über die menschliche Keimbahn und mögliche Eingriffe dort zu betreiben? Wir wissen: nein. Es wird geforscht, mit und ohne Erlaubnis des ZKBS. Das Gentechnikgesetz, das diese Bundesregierung so industriefreundlich gestaltet hat, hat die berechtigten Interessen der Bürger nicht berücksichtigt. Kann Gentechnik aber abgeschafft werden? Ich denke, das ist eine Illusion. Wie aber gehen wir mit ihr um? Wer gibt die Ziele vor? Welche Mechanismen sind vorhanden, die den gesellschaftlichen Dialog in Gang setzen? Ist der überhaupt erwünscht? Das sind Fragen über Fragen, die oft nur unzureichend beantwortet werden, denn entscheidet die Kartoffelindustrie alleine, welche Genmanipulationen zur angeblichen Verbesserung des Produktes Kartoffel eingesetzt werden? Stimmt es, daß herbizidresistente Pflanzen weniger Pflanzenschutzmittel brauchen, wie die betroffene chemische Industrie uns glauben maFrau Adler chen will, und ist dieses Schutzmittel dann auch weniger toxisch? Liest man den Bericht der Bundesregierung, so kann man sich schon heute die Spuren, die die Gentechnologie bei uns hinterlassen wird, ausmalen. In jeder Zeile spürt man mehr als ein Wohlwollen gegenüber dieser Technologie. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Es geht nicht um die Verteufelung dieser Technologie, die sicher auch positive Möglichkeiten eröffnet, sondern es geht um die kritische Distanz, die notwendig ist, Gefahren zu erkennen. Bedauerlicherweise mangelt es der Bundesregierung an dem nötigen Abstand. Warum z. B. muß ein genmanipuliertes Hormon - BST z. B. - eingesetzt werden, um die Milchleistung der Kuh - angesichts der Milchüberschüsse - zu erhöhen, ganz abgesehen von den Wirkungen für die Tiere selbst und von den Nebenwirkungen für die Menschen? Der Bericht der Enquete-Kommission „Technikfolgenabschätzung" und weitere wissenschaftliche Untersuchungen belegen beides. Nicht tierartgerechte Leistungssteigerungen, so z. B. Experimente mit Riesenschweinen in den USA, zeigen, daß diese Tiere unter Knochenverformungen, rheumatischen Erscheinungen und schweren Augenfehlern leiden. Den Schweinen wurde ein Gen eingeschleust, das die Herstellung bestimmter Wachstumshormone erzeugt. Aber was soll das transgene Schwein? Auch hier haben wir Überschüsse. Warum wollen Wissenschaftler weiter daran forschen, obwohl kein Bedarf besteht? Wissenschaftler haben auch eine Verantwortung für ihr Tun und Handeln. Sie können sich nicht immer hinterher davon lossagen, wenn sie erkennen, was sie erforscht haben. Die Freiheit der Forschung ist kein Freibrief. Ist nicht die Erzeugung nachwachsender Rohstoffe mit erwünschten Rohstoffqualitäten durch gentechnologisch veränderte Nutzpflanzen von Bedeutung und ein mögliches Standbein für die deutsche Landwirtschaft? Zweifelhafter Erfolg auf diesem Gebiet rechtfertigt meines Erachtens bestehende Risiken nicht, denn es kommt immer darauf an, wie wir unsere landwirtschaftlichen Produkte erzeugen. Positiv beurteile ich z. B. die Produktion für den Ersatz von Erdölprodukten. Aber diese Produkte müssen umweltverträglich erwirtschaftet werden. Die Freisetzungsproblematik zeigt, wie schwierig es ist, zu Antworten zu kommen. Wer kann wirklich die Verantwortung für die bestehenden Restrisiken übernehmen? Schon das Petunienexperiment des Max-Planck-Instituts in Köln hat gezeigt, daß es so harmlos und dem Willen der Wissenschaftler unterworfen nicht geht. An diesem Punkt kann die Frage nach der Öffentlichkeitsbeteiligung mit dem Hinweis auf das Bundes-Immissionsschutzgesetz nicht erledigt werden. Die Grenze zwischen harmlos und nicht harmlos ist nicht leicht zu ziehen. Wie sieht es mit dem Eigentumsrecht an Bakterien und Viren aus? Gibt es da keine Verantwortung, sondern gibt es nur eine Verantwortung für die Kulturpflanze und das Tier, das dann, durch ein Patent geschützt, seinem Eigentümer wirtschaftlichen Nutzen verspricht? Bei den konventionellen Hybridpflanzen haben wir bereits heute die Erfahrung der Abhängigkeit von den Saatgutherstellern. Der Konzentrationsprozeß und die Monopolisierung sind nur die Folge dieser Vorgehensweise. Aber ist die Forschung überhaupt aufzuhalten? Will sie jemand aufhalten? Wer kann sich gegen das Argument behaupten, das lautet: Willst du den Krebs, AIDS und andere Krankheiten nicht besiegen? Ja, aber muß das im Tierversuch geschehen, bei dem die Tiere Objekte und Laboratorien zugleich sind? Zu Recht kritisieren Tierschützer, daß das Gengesetz solche Tierversuche zuläßt. Böte aber nicht gerade diese Technik andere Methoden, um zum Ziel zu gelangen? Es gibt Chancen für Mensch, Tier und Pflanze. Aber es muß ein Abwägungsprozeß darüber stattfinden, was wir wollen. Wir wollen Blutern, Zuckerkranken und anderen helfen, wir wollen, daß sie in ihrer Krankheit Hilfe erfahren. Dazu ist Forschung nötig. Ich will aber nicht, daß z. B. durch Eingriffe in die menschlichen Gene Umweltgefährdungen geduldet werden, weil man sie angeblich reparieren kann. Da ist eine Grenze. Die krankheitsresistente Pflanze, das Pflanzenschutzmittel, das wie ein Medikament wirkt, wären wünschenswert. Wer möchte nicht die Nahrungsmittelprobleme der Dritten Welt u. a. auf diese Weise lösen? Wenn aber Ernährungssicherheit dadurch erkauft wird, daß diese Länder zur Genreserve für die Industriestaaten werden, ist dies abzulehnen. Die Verarmung der Welt erzwingt Genbanken, um Material zu sichern. Die internationalen Saatmultis als Helfer in der Not erweisen sich als diejenigen, die uns erst recht in Not und Degeneration führen. Auch da ist eine Grenze überschritten. Der Einfluß auf die Agrarstruktur ist nämlich ebenfalls nicht bedacht. Die Anwendung gen- und biotechnologischer Methoden führt zur ständigen Rationalisierung und Technisierung in der Landwirtschaft. Die Anfälligkeit für Streß und Krankheiten bei Pflanzen und Tieren ist auf die nicht artgerechte Behandlung beider zurückzuführen. Gentechnologie in der Landwirtschaft führt nicht zu einer Ursachenbekämpfung, sondern nutzt systemimmanente Fehler aus. Folgeprobleme, wie z. B. soziale Kosten und ungeklärte Risiken, die dem wirtschaftlichen Nutzen gegenüberstehen, werden nicht quantifiziert. Gentechnologie ist deshalb nicht geeignet, die Probleme der Landwirtschaft zu lösen. Die Bundesregierung versucht in ihrer Antwort auf die Empfehlungen des Bundestages über den Enquete-Bericht, ihre Anstrengungen auf diesem Gebiet zu beweisen. Ob sie die Grenzen ihrer Möglichkeiten und die Grenzen dieser Technologie richtig erkannt hat, ist fraglich. Wir Bürger entscheiden durch unser Verhalten über den Erfolg. Wir entscheiden letztlich als Verbraucher im umfassenden Sinn über den wirtschaftlichen Erfolg, der der Motor des Ganzen ist. Hoffen wir, daß die Bundesregierung, die Wirtschaft und die Wissenschaft die nötige kritische Distanz wahren, um die Chancen und Risiken für uns Menschen und die Natur richtig einzuschätzen, damit nicht Fluch, sondern Segen von dieser Technologie ausgehen kann! ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 11/8520 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Zusätzlich soll die Vorlage an die Ausschüsse für Frauen und Jugend sowie für Familie und Senioren überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist dies so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie den Zusatztagesordnungspunkt 2 auf: 4. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Hilfe für die Kinder von Tschernobyl - Drucksache 12/165 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({0}) Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta Braband und der Abgeordneten der Gruppe PDS/Linke Liste Hilfe für die Kinder von Tschernobyl - Drucksache 12/170 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({1}) Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß Für die gemeinsame Beratung ist interfraktionell eine Stunde vereinbart worden. Ich eröffne die Aussprache. Als erste hat die Abgeordnete Frau Mehl das Wort.

Ulrike Mehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001454, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! In ziemlich genau 8 Wochen jährt sich zum fünften Mal ein Tag, von dem allgemein, genauer: von den Atomkraftbefürwortern, behauptet wurde, so etwas gebe es nicht. Da es aber im wirklichen Leben nicht nach dem Motto geht, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, geschah es eben doch. Das Atomkraftwerk bei Tschernobyl ging durch. Ein Gebiet von rund 10 000 km2 - das entspricht etwa zwei Dritteln des Landes Schleswig-Holstein oder einer Fläche viermal so groß wie das Saarland - ist hochgradig verstrahlt. Betroffen waren dort über 2 Millionen Menschen, davon 500 000 Kinder, die nun diese Katastrophe und ihre Folgen dieser nicht beherrschbaren Technologie auszubaden haben. Nun könnte man sagen: Das ist Sache der Sowjetunion; was schert es uns? Seit diesem Ereignis dürfte aber wohl auch den Hardlinern klargeworden sein, daß nicht nur Umweltschutz, sondern auch gewisse Technologien grenzüberschreitende Folgen haben können. Nur ein Unfall reichte aus, um ganz Europa radioaktiv zu belasten. Was nützen uns halbwegs sichere Atomkraftwerke im Westen, wenn 400 km weiter im Osten ein Müllreaktor steht, der jeden Tag durchgehen könnte? In diesem Zusammenhang ist übrigens außerordentlich zu begrüßen, daß die Reaktoren der ehemaligen DDR inzwischen alle stillgelegt sind. Man muß allerdings auch wissen, daß noch 69 Reaktorblöcke à la Greifswald laufen, 49 davon in der UdSSR. Nun könnten wir uns auch hier darauf zurückziehen, daß uns dies nichts angeht. Dies kann man aber nur, wenn man nicht weiß oder ignoriert, daß der Kampf um Wohlstand bisher maßgeblich von Energie abhing - sicher gilt dies aber für die Dritte Welt - und daher in industrieschwächeren und ärmeren Ländern Technologien akzeptiert bzw. praktiziert werden, die eigentlich unverantwortlich sind. ({0}) Dies tun diese Länder in einem mörderischen Wettlauf um bessere Lebensverhältnisse, bei denen die reichen Länder das Tempo angeben. Ein Viertel der Weltbevölkerung in den reichen Ländern verbraucht drei Viertel der gesamten Energie, und dies, obwohl längst bekannt ist, daß mit heute vorhandenen Mitteln bis zu einem Drittel dieses Energieverbrauchs eingespart werden könnte. Diesen Wohlstand und Luxus glaubt die Bundesregierung sich anscheinend nur mit Hilfe der Kernenergie nebst Restrisiko leisten zu können, obwohl wir inzwischen wissen, was dies bedeutet. Vielleicht sollten diese Herren mal mit den Menschen in Tschernobyl reden. Statt der weiteren Förderung einer jahrtausendelang gefährlichen Großtechnologie erwarte ich angesichts der Kenntnisse zu diesem Thema von der Bundesregierung einen Ausbau der Förderung und Entwicklung erneuerbarer Technologien in großem Stil und deren Anwendung. Genau dieser Punkt ist typischerweise auf dem Weg vom Entwurf zum endgültigen Koalitionspapier verlorengegangen. ({1}) Im übrigen halte ich es für verantwortungsvoller, auf den weltweiten Export eben solcher Technologien zu setzen statt auf den von Kernkraftwerken. ({2}) Bei ersterem muß die Zukunft der Energietechnologie liegen. Was Kernkraftwerke in Ländern mit niedrigem Sicherheitsstandard schon vor Ablauf der hypothetischen Unfallwahrscheinlichkeit von zehntausend Jahren, die ja auch bei uns gilt, anrichten können, haben wir ja erlebt. Wie wir wissen, sind Kernkraftwerke nicht erst gefährlich, wenn sie explodiert sind, sondern auch dann, wenn Unfälle geschehen, die man „besondere Vorkommnisse" nennt. In der Bundesrepublik waren es 1989 302. Allein die Anwesenheit eines laufenden Atomkraftwerks bedeutet erhöhte Strahlung. Laut UNEP 1985 gibt es keine radioaktive Strahlung, das heißt keinen Grenzwert, bei dem Gesundheits- oder Erbschäden ausgeschlossen werden können. Schon deshalb, aber auch aus Gründen des hohen Risikos der Atomtechnologie, der kaum lösbaren Fragen einer sicheren Endlagerung radioaktiven Mülls - das ist nicht ein Problem von Niedersachsen, sondern das ist ein technisches und Sicherheitsproblem - und den enormen Kosten, wenn man alles einrechnet, lehne ich diese Technologie grundsätzlich ab. ({3}) Statt dessen muß grundsätzlich, insbesondere aber beim Aufbau in den fünf neuen Ländern, die Energiepolitik maßgeblich auf Energiespartechnik sowie umweltfreundliche Technologien und deren Anwendung setzen. Dies ist zu meinem Bedauern in der Politik der Bundesregierung nicht zu finden. ({4}) Politik wird nicht um ihrer selbst willen betrieben, sondern zum Nutzen der Menschen. Deshalb muß sie sich auch daran messen, wie die Schwachen in unserer Gesellschaft damit leben können. In diesem Fall sind Schwache vor allem Kinder. Kinderkörper haben viel schwerer an den vielfältigen Umweltbelastungen zu tragen als wir Erwachsene. Deshalb kann nicht der Maßstab sein, wann einem gesunden Erwachsenen wegen zu hoher Strahlendosis die Haare ausfallen, sondern der Maßstab muß sein, wann Radioaktivität für die Schwachen folgenreich für die Gesundheit und das Leben wird. ({5}) Noch einmal zu Tschernobyl. Dort haben sich dramatische Dinge ereignet, die nicht nur im physikalischen Bereich lagen und liegen, sondern vor allem im menschlichen. Dieses Land war und ist nicht ansatzweise in der Lage, eine Katastrophe dieses Ausmaßes zu bewältigen. Ich bezweifle allerdings auch, daß wir dazu in der Lage wären. Unser Antrag zielt auf die Milderung der Probleme ab und darauf, angesichts unserer grundsätzlichen Mitverantwortung Solidarität in Form von praktischer Hilfe zu leisten, dies auch, um den fünfhunderttausend Kindern eine Chance auf Zukunftshoffnung zu geben. Ich danke Ihnen. ({6})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Braband.

Jutta Braband (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000239, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin davon überzeugt, daß dieser Antrag der SPD-Fraktion in diesem Hause ungeteilte Zustimmung findet. Auch wir unterstützen die Forderung nach einem umfassenden Hilfsprogramm für die Menschen, die von dem furchtbaren Reaktorunglück und seinen Folgen noch heute betroffen sind und auf lange Zeit betroffen sein werden. Worin aber besteht eine wirksame Hilfe bei einer Katastrophe, die in diesem Umfang und mit diesen Konsequenzen einmalig in der Welt ist? Ich halte ein Hilfsprogramm für nötig, das im wesentlichen aus zwei Teilen besteht. Erstens. Es sollte aus einer direkten Hilfe für die betroffenen Menschen bestehen und nicht nur in der Lieferung von Lebensmitteln, medizinischen Gütern und technischem Gerät. Es sollte verstärkt die Hilfe zur Selbsthilfe einerseits durch Zusammenarbeit mit den Bürgerinitiativen, die sich im Zusammenhang mit dem Reaktorunglück, aber auch im Zusammenhang mit der Anwendung von Atomenergie gebildet haben, fördern, und andererseits durch Wirtschaftshilfe an die Sowjetunion dazu beitragen, daß längerfristig genügend unverseuchte Lebensmittel aus dem eigenen Land zur Verfügung stehen. Zweitens. Sosehr ich die solidarische Haltung und das Mitgefühl vieler Menschen hier in der Bundesrepublik achte, die 1990 mit ihren Paketen den Menschen in der Sowjetunion halfen, so sehr bin ich überzeugt, daß diese Art Hilfe nur ein Teil sein kann: Den anderen Teil muß dieser so reiche Staat leisten. ({0}) Und ich behaupte: Er ist in der Verantwortung, nicht nur wegen seines Reichtums, den er auch auf Kosten der zweiten und Dritten Welt geschaffen hat, sondern auch in seiner Eigenschaft als Atomenergieanwender. Dieser Teil des Hilfsprogramms sollte Mittel bereitstellen, damit durch gemeinsame Forschungs- und Entwicklungsprogramme Möglichkeiten entdeckt bzw. geschaffen werden, radioaktiv verseuchte Umwelt so zu sanieren, daß Menschen dort ungefährdet leben und sich ernähren können. Ebenso sollten Mittel für Forschungen zur Verfügung stehen, um Möglichkeiten der Heilung zu finden. Im Zusammenhang mit diesem Antrag der SPD, dem die Abgeordneten der PDS/Linke Liste zustimmen werden, sehe ich mich allerdings auch gezwungen, für uns alle ein Hilfsprogramm zu fordern, das in aller Zukunft solche Umweltkatastrophen unmöglich macht. Dieses Programm heißt: Ausstieg aus der Anwendung von Atomenergie. Das Beispiel von Tschernobyl zeigt, wie wichtig dies ist. Sie wissen, daß die Katastrophe von Tschernobyl in einem dünn besiedelten Gebiet geschehen ist. Sie wissen, daß z. B. die Umgebung von Greifswald oder von Mülheim-Kärlich sehr viel dichter besiedelt ist. Das bedeutet, daß, wenn ein ähnlicher Unfall hier in der Bundesrepublik geschähe, im Gebiet um Greifswald 20 Millionen Menschen betroffen wären. In dem Gebiet um Mülheim-Kärlich wären es sogar 40 Millionen. ({1}) Ich werde jetzt nicht alle fachlichen Begründungen wiederholen, die man überall nachlesen kann. Nur so viel: Mir ist nicht bekannt, daß jemals ein Mensch außer in der Kunst etwas Vollkommenes geschaffen hätte. Auch wenn die Technologie der Anwendung wesentlich verbessert wurde, also die AKWs hier im Westen sicherer sind als das von Tschernobyl, so sind sie aber dennoch nur sicherer, aber nicht sicher. Nur ein Minimum an Unsicherheit reicht aus, um viele Menschen zu töten, weite Landstriche unbewohnbar zu machen und das Leben in ganzen Regionen absterben zu lassen. ({2}) Die vertuschte „Beinahekatastrophe" im AKW Biblis A im Jahre 1988 hat nicht nur die Legende von der Überlegenheit deutscher Ingenieurkunst zerstört, sondern auch die offizielle Sicherheitsphilosophie endgültig ad absurdum geführt. Ich denke, daß der Ausstieg aus der Atomenergie unabwendbar ist. Die GRÜNEN haben sehr wohl ein Konzept dafür vorgelegt, in welchem Umfang und wie schnell das geschehen muß. Sie haben die Möglichkeiten aufgezeigt, die dafür zur Verfügung stehen. Sie haben auch bewiesen, daß eben nicht Arbeitsplätze verlorengehen, sondern neue geschaffen werden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, bitte geben Sie keine Beispiele mehr! Sie haben Ihre Redezeit schon weit überschritten.

Jutta Braband (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000239, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Okay. Ich wollte nur den letzten Satz noch sagen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Bitte sehr.

Jutta Braband (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000239, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Das AKW Stendal ist ein Beispiel dafür, daß man den Ausstieg machen kann. Es ist im Bau und kann umgerüstet werden. Ich bitte Sie, sich dafür einzusetzen. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Werner.

Herbert Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002484, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! An die Adresse der Vorredner möchte ich sagen: Wenn ich die vermeintlichen Grundsatzausführungen zu diesem wirklich ernsten Thema jetzt von Ihnen so höre, dann wird ganz deutlich, daß es Ihnen weniger um die konkrete Hilfe für die Betroffenen geht als zumindest in gleichem Ausmaß auch darum - ich drücke mich vorsichtig aus -, die Not dieser Menschen als Vehikel zu benützen, um hier innenpolitische Ziele durchzusetzen. ({0}) Ich finde, das wirft Zweifel an der Glaubwürdigkeit Ihrer Forderungen auf. Meine Damen und Herren, wir haben alle mit Entsetzen festgestellt, was sich 1986 in Tschernobyl vollzogen hat. Wir waren alle besorgt, auch wir, die wir hier von den radioaktiven Wolken bedroht und teilweise betroffen waren. Wir haben erlebt, welche rational, aber auch irrational begründeten Argumentationen und Diskussionen hier stattfanden. Wir haben erlebt, daß auch bei uns Eltern ihre Kinder nicht im Regen spielen ließen. Der eine schmunzelte darüber, der andere hatte Verständnis dafür. Ich will das nicht werten. Erst langsam ist damals auch nach dem Westen hin deutlich geworden, welch ungeheures Ausmaß an Schädigungen und menschlichem Leid die Reaktorkatastrophe in der Sowjetunion selber verursacht hat. Es geht uns darum, immer wieder zu überlegen, in welcher Art und Weise wir das menschliche Leid, das immerhin fast 2 Millionen Menschen und annähernd 500 000 Kinder betroffen hat, mildern können. Wir können jeweils nur Beiträge zur Milderung leisten. Denn wir dürfen uns nicht vorstellen, daß es mit einem wie auch immer gearteten deutschen Hilfsprogramm möglich wäre, völlige Abhilfe zu schaffen. Städte und Gemeinden mußten evakuiert werden, und noch immer leiden die Menschen im unmittelbaren Bereich des Reaktors ganz konkrete Not. Schon damals, 1986, hat sich eine breite Welle der Hilfsbereitschaft aus der Bundesrepublik und aus den westlichen Staaten Europas in die Sowjetunion bewegt. Den Betroffenen ist heute und auch in Zukunft aus einem ganz elementaren humanitären Verständnis heraus Hilfe zu leisten. Die Bundesrepublik hat bereits 1986 Hilfe geleistet. Die Fachleute haben allerdings schon damals darauf hingewiesen, daß das Problem insbesondere für die Kinder sein wird, in welcher Form die Langzeitschädigungen festgestellt, therapiert und beseitigt werden können. Diese Herausforderung besteht weiter, nicht nur für die Medizin, sondern für die gesamte Wissenschaft. Diese Herausforderung besteht aber auch insgesamt für die Gesellschaft in der UdSSR und zudem für unsere Gesellschaft. Die Erwachsenen waren - in Anführungszeichen gesprochen - wenigstens noch in etwa in der Lage, psychisch zu verarbeiten, was über sie gekommen war, die Kinder nicht. Deswegen besteht hier die Herausforderung an uns, den Kindern nach Kräften zu helfen. Strahlenmediziner - auch die Strahlenschutzkommission der Bundesrepublik Deutschland - haben sich in dieser Richtung betätigt. Die deutschen Fachleute arbeiten weiter engstens mit internationalen Behörden und auch unmittelbar - bilateral - mit den sowjetischen Behörden zusammen, um im Bereich der Therapie, der medizinischen Diagnose und auch der Analyse von Umweltschäden, soweit es möglich ist, Abhilfe zu schaffen und um festzustellen, inwieweit wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit bei der weiteren friedlichen Nutzung der Kernenergie möglich ist. Eines steht fest: Der Unfall in Tschernobyl geht auf unmittelbares menschliches Versagen zurück und ist deswegen nicht ein genereller Beweis dafür, daß Atomenergie nicht beherrschbar ist. ({1}) Meine Damen und Herren, in der Zwischenzeit ist auf Grund der angestellten Untersuchungen deutlich geworden, daß wir zwar im weißrussischen Raum eine Häufung von Krankheiten festzustellen haben. Die Fachleute, insbesondere die Mediziner, streiten sich aber darüber, was nun die Ursache ist. Ich will mich hier nicht festlegen; denn wir wollen ja in den Ausschüssen intensiv darüber beraten. Die einen sagen, dies sei die Rückwirkung der Strahlenexposition, der der einzelne ausgesetzt war, mit der Folge erhöhter Leukämie- und erhöhter Krebserkrankungen. Andere Fachleute sagen, dies seien auch Folgen der psychischen Belastungen, der psychischen Angstzustände, in die diese Bevölkerungsteile hineinversetzt wurden. ({2}) Werner ({3}) - Das ist nicht eigenartig, sondern das ist insbesondere für ein Kind belastend, ({4}) in regelmäßigen Abständen untersucht werden zu müssen, unter widrigen Gesamtumständen leben zu müssen, von einem Ort zum anderen bewegt werden zu müssen. Dies belastet die Psyche eines Erwachsenen und insbesondere die eines Kindes. Aber, liebe Frau Blunck, ich will mich hier nicht festlegen; ich will mich nur von den Fachleuten im Ausschuß belehren lassen, im Unterschied zu manchem hier im Raum, der das Ergebnis offenbar schon kennt, weil er mit einer vorgefaßten Meinung in die Diskussion hineingeht. Es ist ganz eindeutig, daß wir medizinische Hilfe geleistet haben und daß die Bundesrepublik Deutschland bereit sein wird, medizinische Hilfe und medizinische Einrichtungen dort, wo sie ganz konkret im Hinblick auf ein Projekt angefordert werden, auch in Zukunft zur Verfügung zu stellen. ({5}) - Nur, verehrte Kollegin, dürfen wir uns nicht vorstellen, daß wir jetzt in der Lage wären, die gesamte medizinische Situation in Weißrußland oder sogar in der Sowjetunion im Rahmen eines Hilfsprogrammes in Ordnung zu bringen. Es wird in Ihren Anträgen gefordert, gesunde Nahrung, Kinderernährung und ähnliches zu liefern. In diesem Punkt haben wir in der ersten Phase gehandelt, und es handeln zahlreiche Initiativen, soziale Organisationen und private Träger noch heute. Eine Vielzahl von Patenschaften sind auf dem Wege und leisten gute Arbeit. Ich möchte diesen allen namens der CDU/CSU recht herzlich Dank sagen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Werner, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Herbert Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002484, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Werner, Sie sagten, die Informationen seien unklar. Sind Sie sich eigentlich dessen bewußt, daß es sich dabei um Angaben des Obersten Sowjets der Republik Weißrußland handelt - und zwar geschlossen - und daß das insofern nicht unautorisierte Quellen sind?

Herbert Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002484, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Kollege Müller, für mich ist bis heute eine Aussage irgendeines Obersten Sowjets noch nicht die letzte Wahrheit, vielleicht für Sie, aber für mich nicht. ({0}) Deswegen möchte ich fortsetzen und darauf hinweisen, daß es sicherlich richtig und notwendig ist, dort, wo akute schwere Erkrankungen an Kindern festgestellt werden, im Rahmen der Möglichkeiten, die wir hier haben, diese Kinder auch in der Bundesrepublik Deutschland zu behandeln. Aber ich sage auch: Es ist fast schon eine Illusion, jetzt anzunehmen, wir wären in der Lage, pro Jahr 5 000 erkrankte Kinder nach Deutschland in einen medizinisch begleiteten Ferienaufenthalt zu bringen. Das ist nicht nur eine Frage der Kapazitäten, sondern auch eine Frage des Umgangs mit den betroffenen Kindern. Denn grade die Organisationen, die sich damit in den vergangenen Monaten befaßt haben, machen überaus deutlich, daß es sinnvoller und richtiger, auch medizinisch begründeter ist, die Kinder in der Sowjetunion, in Weißrußland, in der Ukraine, zu behandeln, sie dort medizinisch zu betreuen und, wenn Ferienaufenthalte zur Verfügung gestellt werden können, dies mit unserer Mithilfe zu tun, und zwar in jenen unbelasteten Räumen der Sowjetunion, wo dies schon heute teilweise geschieht. Dies ist, so meine ich, ein menschlicherer Weg, als Kinder einfach für fünf, sechs Wochen über weite Entfernungen in eine völlig andere Welt zu versetzen. ({1}) Deswegen sind wir der Auffassung, daß wir Ihre Anträge gründlichst beraten müssen. Wir erkennen darin ein wichtiges Element allgemein humanitären Umgangs mit den Mitmenschen in Not. Wir sehen darin eine medizinische Herausforderung, eine umweltpolitische Herausforderung. Wir sehen in unserer konkreten Mithilfe an der Beseitigung der Not auch und gerade der Kinder in der Umgebung von Tschernobyl eine wichtige außenpolitische Aufgabe, um auch auf diesem Wege einen Beitrag zur Förderung der deutschsowjetischen Freundschaft, der Freundschaft zwischen den Völkern der Sowjetunion und unserem Volk, zu leisten. Vielen Dank. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat Frau Köppe.

Ingrid Köppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001159, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir begrüßen sehr, daß der Bundestag darüber nachdenkt, wie den Kindern von Tschernobyl geholfen werden kann. Die SPD hat in der vergangenen Legislaturperiode schon einmal einen Versuch unternommen, aber leider ohne Erfolg. In der Zwischenzeit - das möchte ich besonders dem Abgeordneten von der CDU sagen; ich kenne Ihren Namen noch nicht - haben die Bürger in der damaligen DDR und in der BRD längst gehandelt. Der Initiative weniger engagierter Familien in Minsk und in Berlin war es zu verdanken, daß im vergangenen Jahr über 5 000 Kinder aus den belasteten Gebieten in den verschiedensten europäischen Ländern zu Gast waren. ({0}) Interessant dabei: über 3 000 allein in der DDR. Die Leute, die das organisiert haben, haben ehrenamtlich gehandelt. Sie sind schon längst wieder dabei, auch in diesem Jahr Kinder hierherzuholen. Die ersten 500 Kinder sind bereits wieder glücklich zu Hause angekommen. Schon jetzt liegen im Büro des Berliner Vereins „Kinder von Tschernobyl" über 2 000 konkrete Einladungen für 1991 vor. Auch über das Thema Umsiedlung denken die Bürger nicht nur nach, sie haben bereits gehandelt. Erste Baumaschinen sind nach Belorußland unterwegs, sorgfältig ausgewählt, denn das Budget der Bürgerinitiative ist recht schmal, ausgewählt aber auch so, daß die betroffenen Menschen aus den belasteten Gebieten im Süden Belorußlands selbst gemeinsam mit ihren Nachbarn damit Häuser in sauberen Gebieten bauen können. Wir sollten bewußt jene Menschen in der Sowjetunion unterstützen, die es satt haben, zu warten, die die Initiative ergreifen wollen, um sich selbst zu helfen, denen dazu aber das richtige Handwerkszeug fehlt. ({1}) Eine solche Hilfe wird sich ganz gewiß mehr auszahlen, als das sicher gutgemeinte Verschicken von Care-paketen. ({2}) Die medizinische Hilfe scheint besonders einfach zu sein, und wir sind immer sofort und gern dazu bereit, dafür Mittel zur Verfügung zu stellen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich dann aber, daß es nicht ausreicht, wenn der reiche Onkel und die reiche Tante aus dem Westen ab und zu einen Sack voller Medikamente verschenken. ({3}) Großes Einfühlungsvermögen, Takt und eine nahezu grenzenlose Einsatzbereitschaft sind erforderlich, wenn wir die Strukturen des sowjetischen Gesundheitswesens beeinflussen wollen. Auch hier kommt es entscheidend darauf an, vertrauenswürdige und kompetente Partner zu finden. Bei der Suche nach Partnern hat sich der Weg von unten nach oben vielfach bewährt. Der Anruf von Minister zu Minister ist zwar vergleichsweise schnell und einfach, wird aber das Problem nicht lösen. Heute müssen die Regierungen in Moskau und Minsk unter dem Druck der Bürger zugeben, daß ein wesentlicher Anteil des Leids, das jetzt so viele Familien trifft, durch das Schweigen der zuständigen Stellen verursacht worden ist. Wir sollten uns die Mühe machen, sorgfältig zu überprüfen, auf welche Weise wir von außen helfen, wem wir die Verteilung von Hilfsgütern, die Auswahl von bedürftigen Kindern anvertrauen können. Ich bezweifle, daß der KGB, der die Verteilung der jüngsten großen Hilfssendungen in die Sowjetunion überwacht hat, ein geeigneter Partner für uns ist. Auch die Regierungsstellen haben bisher kaum erkennen lassen, daß sie gewillt sind, begangene Fehler zu korrigieren. So wird heute noch in vielen Orten in der Zone um Tschernobyl gebaut. Menschen werden durch materielle Anreize dahingehend beeinflußt, daß sie in der Zone bleiben und die dortigen Betriebe am Leben erhalten. Es wird in den verseuchten Gebieten immer noch Landwirtschaft betrieben, und die Planziffern steigen von Jahr zu Jahr. Die Regierung will das verseuchte Land nicht aufgeben. Ich denke, wir sollten uns mit jenen kleinen Vereinen in Belorußland und in Deutschland an einen Tisch setzen, die trotz leerer Taschen schon so viel bewegen konnten. Sie verfügen über eine intime Kenntnis der Verhältnisse und können uns die Garantie dafür bieten, daß jede Mark mit höchstem Effekt für die Betroffenen eingesetzt wird. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat Frau Dr. FunkeSchmitt-Rink.

Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000625, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Die Anträge der SPD und der PDS sind ehrenwert, aber die Begründungen passen nicht zu den Anträgen. ({0}) Als Lehrerin würde ich sagen: Thema verfehlt. Die Kinder werden von Ihnen - ich möchte nicht sagen: mit tropfender Moral, aber fast so - instrumentalisiert. Meine Herren und Damen, im Leben der Kinder von Tschernobyl ist eine für uns eigenartige Philosophie entwickelt worden, nämlich: Natur ist Gift, Asphalt ist sauber. Das kann man sehr gut im neuesten Heft von „Geo" nachlesen. Dort wird ein erschütternder Bericht über die Situation gebracht. Für die Kinder von Tschernobyl stellt dieser Satz eine lebenswichtige Grundlage dar, d. h. Angst und Mißtrauen vor allen Dingen, die mit der freien Natur zu tun haben, Vorsicht vor dem Schritt nach draußen. Diese wichtigste Überlebensregel müssen Kinder lernen, die vielleicht zum Zeitpunkt des Unglücks noch gar nicht geboren waren. Sind diese nicht gerade deshalb die eigentlichen Opfer des Reaktorunglücks? ({1}) - Ich habe gesagt, die Anträge sind ehrenwert, aber die Begründung paßte nicht zu den Anträgen. Vielleicht passen Sie mal auf, was ich jetzt sage! ({2}) Wir alle wissen, daß Strahlenschäden zu einem großen Teil Spätschäden sind. So können die vielen Berichte und Zahlen über bereits diagnostizierte Krebserkrankungen bei Kindern, ob vor oder nach dem Unglück geboren, noch keinen Aufschluß über das wirkliche Ausmaß der Schädigungen und der ausgelösten Krebserkrankungen geben. Schwerlich kann von einer Zukunft für die fast 450 000 Kinder, die mit ihren Eltern auf dem verseuchten Boden der betroffenen Region leben, gesprochen werden. Wieviel Menschen noch an den Folgen sterben werden, vermag kein Wissenschaftler/Wissenschaftlerin abzuschätzen. Nur so viel ist sicher: Besonders die Kinder der 273 000 Belorussen in diesen Siedlungen der - ein schreckliches Wort - „Zone der permanenten Kontrolle " sind einer akuten Gefahr ausgesetzt, der man vor Ort nicht entrinnen kann. Sie führen ein Leben auf Böden mit einer Cäsium-Belastung von 555 000 Becqerel, die Straßen sind kontaminiert, und die meisten Schutzmaßnahmen für die Kinder dienen mehr der Beruhigung als einem wirklichen Strahlenschutz. Viele internationale nichtstaatliche - auch deutsche - Hilfsprogramme sind in die Wege geleitet worden. Ich nenne nur die Weltgesundheitsorganisation in Genf oder auch die Internationale Atomenergiebehörde IAEO in Wien, Weißrußland und Ukraine. Die Bundesrepublik Deutschland ist in all diesen internationalen Gremien hervorragend vertreten, aber auch in der Bundesrepublik Deutschland sind es vor allem die freien Träger, denen hier an dieser Stelle für ihr unermüdliches Engagement gedankt werden soll. ({3}) Ich nenne da vor allem das Rote Kreuz. Hätten Sie gründlich recherchiert, hätten Sie das jetzt gewußt: Zahlreiche Kinder wurden in hiesigen Krankenhäusern mit modernen medizinischen Geräten behandelt. Allein 1990 waren 5 000 Kinder aus den betroffenen verstrahlten Gebieten zu Ferienaufenthalten in der Bundesrepublik. Die Idee Ihres Antrags, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und auch von der PDS, ist also nicht neu, aber natürlich auch nicht falsch. Selbstverständlich müssen diese unverzichtbaren Aktivitäten bei uns fortgesetzt werden. Aber eines ist auch klar: Es ist vor allem die sowjetische Regierung, die gefordert ist, konkrete Pläne vorzulegen, und die gegenüber der belorussischen Bevölkerung geäußerten Versprechungen einzulösen. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Köppe?

Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000625, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, erst am Ende. Es ist der sowjetischen Regierung bisher nicht gelungen, der nicht umgesiedelten Bevölkerung Vertrauen in die Zukunft zu geben. Wir Liberalen unterstützen alle Hilfsmaßnahmen zur Verbesserung insbesondere der medizinischen Situation. Bei all diesen Maßnahmen muß die Kooperation mit den freien Trägern und Gruppen im Vordergrund stehen. Deren wertvolle Erfahrungen sind auch für die weitere Hilfsarbeit von größter Wichtigkeit. ({0}) Die hier behandelten Anträge von SPD und PDS erweisen sich nämlich bei gründlicher Recherche als überflüssig; denn viele der angesprochenen Maßnahmen wurden von der Bundesregierung bereits durchgeführt und gehen über seine Forderungen hinaus. Ich möchte als ein Beispiel die Bereitstellung von Behandlungsplätzen für strahleninduzierte Blutbildveränderungen in Bundeswehrkrankenhäusern nennen, aber auch die engagierte Beteiligung an Arbeiten zur Schaffung des von sowjetischer Seite initiierten Forschungszentrums „Tschernobyl" anführen. In der Sowjetunion soll auch ein internationales Zentrum für radiologische und medizinische Probleme in Obninsk eingerichtet werden. Auch da ist die Bundesrepublik einbezogen. Zur Zeit werden mögliche deutsche Beiträge zwischen den Bundesressorts abgeklärt. Es wurden bereits verschiedene Seminare im Krankenhausbereich zur Verbesserung der Zusammenarbeit abgehalten. Den Krankenhäusern, der Gesundheitsministerkonferenz und der Deutschen Krankenhausgesellschaft sollte weiterhin empfohlen werden, den vielfachen Wünschen nach Krankenhauspartnerschaften nachzukommen. ({1}) Nicht zu vergessen ist die intensive deutsche Beteiligung am IAEO-Projekt zur Einschätzung der radiologischen Folgen des Reaktorunfalls von Tschernobyl. Ein wichtiger Aspekt wurde hier bei den Messungen in der Überwachung von Kindern gesehen. Die Dosiskontrollen helfen, die Lebensbedingungen für diese sensible Bevölkerungsgruppe erheblich zu verbessern, und können damit positive Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der Kinder haben. Eine weitere umfangreiche Beteiligung deutscher Forschungseinrichtungen wird angestrebt. Wir Liberalen halten es für zweckmäßiger, Hilfe am Ort zu leisten und den Kindern, so schwer dies auch ist, Perspektiven in ihrer Heimat zu geben. ({2}) Viele der angeführten Maßnahmen wurden aus rein humanitären Überlegungen und nicht auf Grund nachgewiesener strahlenhygienischer Notwendigkeit durchgeführt. Die Beurteilung der gegenwärtigen Situation in betroffenen Gebieten durch die Strahlenschutzkommission hat gezeigt, daß die Hauptursachen der wachsenden Probleme in diesen Gebieten in Unsicherheiten und Angsten bezüglich der kontaminierten Nahrungsmittel und dem verständlichen Mißtrauen der Bevölkerung gegen die offiziellen Meßwerte und Risikoeinschätzungen liegen. Nicht zuletzt deshalb hat die Bundesrepublik Deutschland als erste Maßnahme sechs Meßfahrzeuge für das Gebiet bereitgestellt. Mit Hilfe dieser Fahrzeuge wird die Bevölkerung über mehrere Jahre hin eine regelmäßige Messung der inkorporierten Aktivität erhalten. Fazit: Der Vorstoß der SPD und der PDS geht ins Leere, da bereits über ihre Forderungen hinaus Hilfe geleistet worden ist. Vielen Dank. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Elmer.

Dr. Konrad Elmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000463, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren! Wenn das soeben keine Funktionalisierung war! ({0}) Nicht selten, denke ich, vergessen wir, die Erwachsenen, daß sich die Höhen und Tiefen unseres gesellschaftlichen Lebens, im besonderen die Ängste, bei unseren Kindern niederschlagen und sich dort potenzieren; denn Kinder sind sensibler als wir. ({1}) Ich erinnere mich noch deutlich, meine Herren von der CDU/CSU, wie eine meiner Töchter vor acht Jahren auf dem Höhepunkt der Diskussion über die Stationierung von Pershings und SS-20 so betroffen war, daß sie abends nicht einschlafen konnte, weil sie dauernd von Raketen träumte, die auf sie zuflogen. Ähnliche Ängste äußerte sie 1986, als die Medien von der furchtbaren Katastrophe in Tschernobyl berichteten und radioaktive Wolken zu uns herüberflogen. Ebenso war es in den letzten Tagen und Wochen des Krieges am Golf. Unsere Kinder verspürten, daß vor allem ihresgleichen dort in schrecklicher Weise zu leiden haben: in Kuwait, in Bagdad, aber auch in Israel. Mit ihnen allen atmen wir heute auf, hoffend, daß der Waffenstillstand hält. ({2}) Wenn schon unsere Kinder, die von solchen Katastrophen nicht direkt betroffen sind, allein durch die Medien in Angst und Schrecken versetzt werden, um wieviel mehr lastet solches Geschehen auf Kindern, die davon selber betroffen sind, wie die Kinder von Tschernobyl. „Rettet mich! ", schreibt der 13jährige Schüler Anton Lüskow unter das von ihm gemalte Bild: Im Hintergrund steht die Ruine des Unglücksreaktors, von dem in konzentrischen Kreisen eine todbringende Strahlenaura ausgeht. Der Wald ist verdorrt, die Bauernhäuser im Dorf sind vernagelt, ein Totengerippe reitet einen Fisch im Wasser, ein Vogel, kraftlos am Boden, breitet vergebens seine Schwingen aus, und im Vordergrund ist Stacheldraht, hinter dem sich Anton selber malt, um Hilfe flehend die Arme erhoben. An solchen Bildern aus Minsk ist abzulesen, wie tief sich das Trauma von Tschernobyl in die Psyche der Kinder gesenkt hat. Diesen Kindern in ihrer inneren und äußeren Bedrängnis ein wenig Luft zu verschaffen ist das Anliegen unseres Antrags. Wenigstens 5 000 kranke Kinder aus den verseuchten Gebieten sollten jährlich bei uns Urlaub machen können, und zwar zusätzlich, Frau Kollegin von der FDP. ({3}) Wir folgen damit den Aktivitäten verschiedener Bürgerbewegungen, die wir würdigen, indem wir sie verstärken. Beispielhaft möchte ich hier nennen: erstens das Minsker Bürgerkomitee „Die Kinder von Tschernobyl", gegründet von Irina und Genadi Gruschewoi; zweitens „Kinder von Tschernobyl", gegründet von Christine und Sebastian Pflugbeil, Neues Forum, Ost-Berlin; drittens „Die Wertinger Mütter gegen radioaktive Bedrohung". Als Mitglied des Ausschusses für Frauen und Jugend sei mir erlaubt, zu erwähnen, daß es bei diesen Bürgerbewegungen wieder einmal die Frauen waren, die sich hier besonders engagierten. Wir Männer sollten uns nicht wundern, wenn Frauen im Blick auf Tschernobyl formulieren: „Die Männer haben versagt, jetzt müssen endlich Frauen mehr öffentliche Verantwortung übernehmen. " ({4}) - Daß sie dabei an die Vorrednerin gedacht haben, wage ich zu bezweifeln. ({5}) Wir in der Bundesrepublik wurden bisher zum Glück von keinem Atomreaktorunglück heimgesucht. Aber wer in diesem Hohen Hause kann dies wirklich für immer garantieren? - Auch Sie nicht, Herr Kollege Werner, es sei denn, Sie schalten den Reaktor ab. ({6}) Wir in den neuen Bundesländern leiden, in Bitterfeld und anderenorts, unter verheerenden industriellen Umweltkatastrophen. Das hat bezeichnenderweise wiederum eine Frau, Käthe Woltemath, bewegt, eine ähnliche Urlaubsaktion für die Kinder von Bitterfeld zu organisieren. ({7}) Ich denke, Frauen und Männer, wir alle sind gebrannte Kinder von Tschernobyl. Wir sollten darum nichts unversucht lassen, das tragische Kapitel der Kernenergie möglichst bald zu schließen. ({8}) Darum ist es für mich unerklärlich, warum die derzeitige Bundesregierung auf den Ausbau der Kernenergie in den neuen Bundesländern, in Stendal und Greifswald, noch immer nicht endgültig verzichtet hat. ({9}) Der Griff nach der Energie in den Atomen, so hat sich spätestens seit Tschernobyl erwiesen, ist ein für uns Menschen unangemessener Griff nach den Sternen. ({10}) Homo faber, der Mensch, für den alles machbar erscheint, der alles in den Griff bekommen möchte, ist an seine Grenze geraten. Mit Tschernobyl müßte nun endlich auch dem letzten Optimisten klar geworden sein, daß wir uns übernommen haben. Wenn wir uns bei der Aufarbeitung dieses Sachverhalts heute zuerst und vor allem um die betroffenen Kinder von Tschernobyl bemühen, so liegt in dieser Aktion zugleich eine tiefe Symbolik. Die Not, die hier vor unserer Haustür liegt, weist uns weg von den großen Machern in Wissenschaft und Technik auf jene Lebensform, die wesentlich nicht von der eigenen Leistung lebt, sondern vom Geschenk des Angenommenseins: durch die Mutter, den Vater, die Familie. Sie verweist uns auf die Existenz des Kindseins, von der wir herkommen und auf die wir spätestens im Alter wieder hingeführt werden. Ein Tor, wer meint, daß alles dazwischen nur in seinen eigenen Händen liegt. Die Kinder von Tschernobyl mahnen uns, vom Machbarkeitswahn Abschied zu nehmen. Es gilt, in Abarbeitung der gemeinsamen Verantwortung - und die Anfänge der Atomenergie wurden bekanntlich auch in Deutschland gelegt -, diesen Kindern zu helfen, sich als Kinder ihres Lebens freuen zu können. Auch wenn es uns Erwachsenen kaum noch gelingt, der Wahrheit des Satzes „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder ... " zu entsprechen, so sollten wir dies doch wenigstens den Kindern selbst ermöglichen. ({11}) Ermöglichen wir den Kindern von Tschernobyl mit der Annahme der vorliegenden Drucksache gemeinsam, meine Damen und Herren, daß sie als Kinder leben können! ({12})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Höll.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin sehr wohl der Meinung, daß es angesichts der Umweltkatastrophe notwendig ist, politische Grundsatzentscheidungen betreffs der Vermeidung und Bewältigung solcher Katastrophen zu überdenken und dies mit Soforthilfe zu verbinden. Als Teil einer komplexen bundesdeutschen Hilfe unterstützen wir den Antrag der SPD und möchten ihn durch einen konkreten Antrag, der Kapazitätsprobleme löst, ergänzen. Der PDS-Antrag, 1 000 Kindern von Tschernobyl 1991 pro Monat einen Erholungsurlaub mit medizinischer Betreuung im Kinderland Werbellinsee zu ermöglichen, versteht sich in einem solchen humanistischen Komplexprogramm als eine empfehlenswerte Sofortmaßnahme. Im Interesse der Kinder von Tschernobyl bitte ich das Hohe Haus, diesem Antrag zuzustimmen. Ich danke. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Abgeordnete Müller.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will auf drei Punkte eingehen, die die Motive dieses Antrags sind. Ich will mich weniger mit den Vorrednern beschäftigen, das wäre zu emotional. Das will ich vermeiden, dafür ist mir die Sache zu wichtig. ({0}) Erstes Motiv: Es geht konkret um ein Menschenrecht, nämlich um die humanitäre Hilfe. Der Aufruf zur humanitären Hilfe richtet sich nicht nur an die Bundesregierung, er richtet sich an uns alle. Beispielsweise finde ich es sehr gut, daß der Oberbürgermeister der Stadt Düsseldorf einen ähnlichen Aufruf gemacht hat und daß sich spontan 150 Bürger der Stadt bereit erklärt haben, Kinder von Tschernobyl aufzunehmen. ({1}) Das zweite Motiv ist, ein beschämendes Mißverhältnis zu beseitigen. Im letzten Jahr hat die Bundesrepublik etwa 500 Kinder von Tschernobyl aufgenommen, die ungleich kleinere und „ärmere" ehemalige DDR mehr als 3 000. Ich finde, dies ist beschämend. ({2}) Der dritte Punkt - er ist mehrfach angesprochen worden - : Wir wollen natürlich auch an den Reaktorunfall von Tschernobyl erinnern, der jetzt vor bald fünf Jahren geschehen ist und der in dramatischer Weise den Glauben an die technologische Allmacht unserer Zeit zerstört hat. ({3}) Ich gehe nicht weiter auf die Problematik der Radioaktivität ein. Wir haben häufig darüber diskutiert, und ich gehe davon aus, daß wir im Zusammenhang mit Tschernobyl erneut darüber diskutieren. Die drei konkreten Motive Hilfe, die Aufforderung zum Umdenken und die Beseitigung eines beschämenden Defizits sollten, ganz egal, aus welcher weltanschaulichen Grundposition heraus, vom Bundestag gemeinsam getragen werden. ({4}) Es ist nicht so, wie hier mehrfach gesagt wurde, daß uns nicht genug Fakten zur Verfügung stehen. Ganz im Gegenteil, seit Anfang des letzten Jahres ist der große Schleier der Geheimnisse über die Folgen von Tschernobyl gelüftet worden - übrigens auch durch den zähen Kampf der Bürgerbewegung gegen die Zentrale in Moskau. Das ist der entscheidende Ausgangspunkt, heute zu helfen, weil wir wissen, was passiert ist, was übrigens die betroffene Bevölkerung selbst lange Zeit nicht gewußt hat. Insofern - Entschuldigung, wenn ich das sage - ist es schlicht falsch, zu sagen, man habe vor Ort konkrete Messungen, konkrete Untersuchungen gemacht. Ganz im Gegenteil, die sowjetische Zentrale hat lange Zeit gerade diese Fakten der Bevölkerung verheimlicht, ({5}) um sie auf der einen Seite zu verschweigen und auf der anderen Seite die erheblichen Kosten, die mit noch erforderlicher Hilfeleistung verbunden wären, nicht aufbringen zu müssen. Dies hat u. a. dazu geführt - und das ist eine sehr drastische Formulierung - , daß Volksdeputierte im Obersten Sowjet von Minsk von bewußtem Genozid der Moskauer Zentrale gegen das Volk in Belorußland geredet haben. Ich will diese Formulierung nicht bewerten, aber sie macht deutlich, mit welch unglaublicher Wut die lange geheimgehaltene Verseuchung diskutiert wurde und noch immer wird. Lange Zeit ist verschwiegen worden, und wir sind erst richtig aufmerksam geworden, als der „Hilferuf aus Weißrußland" kam. Dieser Hilferuf aus Weißrußland kommt nicht von irgend jemandem, Herr Kollege Werner, sondern er ist u. a. unterzeichnet von dem Müller ({6}) Metropoliten von Minsk, Herrn Filaret,, er ist unterzeichnet von den Wissenschaftlern der Universität Minsk, er ist unterzeichnet von Volksdeputierten, er ist unterzeichnet von kritischen Journalisten und aus der Bürgerbewegung. Erst durch diesen Hilferuf ist die Weltöffentlichkeit wirklich wach geworden. Daher habe ich in diesen Fragen ein gewisses Mißtrauen gegenüber staatlichen Stellen, und ich bleibe bei diesem Mißtrauen; denn hier wird in erster Linie verschleiert, und das gilt auch für die Internationale Energieagentur. In diesem Hilferuf heißt es auszugsweise: Wir sehen, daß es nach der großen Katastrophe von Tschernobyl zu einer verheerenden radioaktiven Verseuchung in unserer Region gekommen ist. Große Landstriche Weißrußlands sind betroffen. Mehr als 2,2 Millionen Menschen wohnen dort. Besonders 500 000 Kinder sind betroffen. In der letzten Zeit steigt die Zahl chronischer Erkrankungen dramatisch an. Insbesondere nehmen Immunschwächen zu, in dieser Region als „Tschernobyl-AIDS" bezeichnet. Hinzu kommt eine wachsende Zahl von Kindersterblichkeit und von Mißbildungen. Hier zeigt sich: Durch den Reaktorunfall von Tschernobyl wurden vor allem die Kinder zu Geiseln einer atomaren Verseuchung. ({7}) Wer dort nicht hilft, hat aus meiner Sicht zutiefst nicht verstanden, was es heißt, für Menschenrechte einzutreten. ({8}) Deshalb wollen wir helfen. Ein Ziel dieser Hilfe besteht darin, Kinder aus der Region in eine andere, unbelastete Region zu schikken. Sie haben gesagt, das solle in erster Linie in der Sowjetunion selbst gelöst werden. Im Prinzip richtig; und seit dem Reaktorunfall haben die Kinder in Weißrußland einen Anspruch darauf, mindestens zwei Wochen im Jahr in einer anderen, unbelasteten Region Ferien machen zu können. Die Zahl der Kinder, die das aber auch tatsächlich machen können, ist verschwindend gering. ({9}) Leider sind bisher alle Appelle erfolglos gewesen, auch mit dem Hinweis darauf, daß die entsprechenden Kapazitäten fehlen. Wenn wir Kapazitäten in unserem Land haben, sollten wir es machen. Wenn die Bürger in unserem Lande bereit sind, Hilfe zu leisten, sollten wir die Möglichkeiten dafür schaffen, daß diese Hilfe auch tatsächlich geleistet werden kann. ({10}) Ich muß sagen: Ich kann nicht begreifen, wie mit äußerst kleinkarierten Argumenten versucht wird, sich an dieser meines Erachtens sehr einfachen Aufgabe vorbeizudrücken. ({11})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe dieser Diskussion mit großer Aufmerksamkeit zugehört. Ich glaube, es wäre der ernsten Sache sehr gedient, wenn wir die drei Teilbereiche, die hier mit hineinspielen, sauber auseinanderhielten, damit nicht wechselseitige Verdächtigungen das gute Ziel in Frage stellen. ({0}) Da gibt es den einen Teilbereich, über den wir uns sicher weiter unterhalten müssen: Das ist die Frage der Verantwortbarkeit moderner Technik. ({1}) Da haben wir unterschiedliche Meinungen. Ich bin der festen Überzeugung, daß wir, solange auch in der Sowjetunion noch Kernkraftwerke betrieben werden, die wir in unserer Verantwortung abgeschaltet haben, massiv daran mitarbeiten müssen, diese betriebenen Kernkraftwerke wenigstens so sicher zu machen, wie das nur irgend möglich ist. Lassen Sie uns das dann bitte auch festhalten. ({2}) Das ist keine wie auch immer geartete alternativlose Einbindung in die Kernenergiestrategie, sondern es ist eine ganz wichtige, eine ganz notwendige Maßnahme, die uns ebenfalls an die Entwicklungen nach Tschernobyl erinnern sollte. Dann gibt es ein zweites Thema. Dieses Thema hat etwas damit zu tun, daß es diktatorische Systeme offenbar nicht aushalten können, mit der Wahrheit umzugehen. ({3}) Auch das muß an dieser Stelle massiv gerügt werden. Hier haben wir ja nicht nur Erfahrungen mit Tschernobyl, sondern wir haben in ganz unmittelbarer Nachbarschaft, in den fünf neuen Bundesländern in massiver Weise die Erfahrung gemacht, ({4}) daß es dort, wo Wahrheit, wo Information unterdrückt wurde, allein durch die verschwiegene Information kranke Menschen gibt; sie werden wegen der Unsicherheit über ihre Belastungen psychisch krank. ({5})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Elmer?

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Gerne.

Dr. Konrad Elmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000463, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, könnten Sie mit mir derselben Meinung sein, daß es hinsichtlich der alten Atomreaktoren in der Sowjetunion noch besser wäre, wenn wir der Sowjetunion helfen könnten, ein anderes Energiekonzept zu entwickeln, das es ermöglicht, diese Reaktoren gänzlich abzuschalten? ({0})

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Herr Abgeordneter, ich bin vor nicht langer Zeit in der Sowjetunion gewesen und habe dort mit dem für die Energieversorgung zuständigen Minister Konovalow lange gesprochen. Wenn wir diesen Satz sagen, dann müssen wir schlicht und einfach auch feststellen, daß die Situation in der Sowjetunion gegenwärtig eher so ist, daß bereits stillgelegte Kernkraftwerke wieder ans Netz genommen werden, als daß weitere vom Netz genommen werden. Wenn wir sagen, wir wollen ein alternatives Konzept mit der Sowjetunion entwickeln, und wir dies ganz ernst meinen, dann sprechen wir über Dimensionen, die dem Jahr 2000 folgen. Wenn ich dieses Ziel erreichen will, dann bin ich heute verpflichtet, mit den technischen Kenntnissen, die wir einbringen müssen, soweit wie irgend möglich zu helfen: national und in der internationalen Umweltpartnerschaft. Das ist meine feste Überzeugung. Das eine schließt das andere nicht aus, sondern bedingt es; das ist die entscheidende Frage. Es gibt also dieses Zweite. Ich sage das deswegen, weil es unmittelbar in unser Thema, in den dritten Teilbereich, eingeht. Wir haben durch die Strahlenschutzkommission - Sie haben darauf aufmerksam gemacht - versucht, daran mitzuwirken, Informationen zu vermitteln, weil man den offiziellen Informationen aus der Sowjetunion nicht glaubt und weil es tatsächlich so etwas wie Strahlenphobie gibt. Damit diskutiere ich die Probleme nicht weg, sondern nenne nur die verschiedenen Ursachen, die wir auch weiterhin mitzubewältigen haben. Deswegen ist es richtig, daß wir dort auf staatlicher Ebene - ich habe darüber mit dem Vorsitzenden des entsprechenden Staatskomitees, mit Herrn Gubanow, in Moskau gesprochen - , mit unseren Meßkapazitäten vorhanden sind - nicht weil wir glauben, daß durch Messungen die Probleme gelöst werden, sondern weil mit einer vernünftigen Information Ängste abgebaut werden können. Deswegen werden in dieser Region sechs Meßfahrzeuge von der Bundesregierung, von meinem Ministerium, ab Mai mit entsprechenden analytischen und diagnostischen Möglichkeiten eingesetzt. Dies ist der zweite Teilbereich. Dann kommt der dritte Teilbereich: Wie können wir zusätzlich helfen? Ich kann mich dem, was die Abgeordnete Frau Funke-Schmitt-Rink gesagt hat, fast nahtlos anschließen. Es gibt eine außerordentlich breite Aktivität, die in der Vergangenheit von der Bundesregierung durchgeführt worden ist. Meine Damen und Herren, wir haben im Gesundheitsbereich Medikamente und medizinische Hilfsgüter im Wert von etwa 220 Millionen DM der Sowjetunion zur Verfügung gestellt. Wir sind, was die Lebensmittelhilfe betrifft, gegenwärtig mit 80 % aller Lebensmittel, die in die Sowjetunion geliefert werden, beteiligt; das sind nahezu 100 000 Tonnen. Die Lieferungen werden insgesamt etwa 250 000 Tonnen ausmachen. Herr Abgeordneter Müller, dies kann doch nicht gezielt auf Tschernobyl erfolgen. ({0}) Wir müssen diese Hilfe in eine desolate Wirtschafts- und Versorgungssituation der Sowjetunion hineinbringen, die natürlich dadurch auch und gerade den Menschen in Tschernobyl zugute kommt. ({1}) Dies ist eine ganz breite Aktivität, die wir natürlich über die Ministeriengrenzen hinaus auch im medizinischen Bereich durchführen. Solange leukämiekranke Kinder in der Sowjetunion eine Heilungschance von 10 %, bei uns aber eine Heilungschance von 90 % haben, gibt es offenbar eine dramatische Wissens-und Ausstattungslücke, die wir aufarbeiten. Wir haben entsprechende Programme nicht erst jetzt erfunden, sondern in der Zwischenzeit verwirklicht. Wir werden im April dieses Jahres ein kinderonkologisches Seminar durchführen und vieles andere mehr. Lassen Sie mich also festhalten: Die Bundesregierung nimmt alle drei Komplexe, die ich nur ganz kurz ansprechen konnte, außerordentlich ernst. Wir haben vielen Bürgerinnen und Bürgern in der gesamten Bundesrepublik Deutschland, im alten und im neuen Teil, dafür zu danken, daß sie aus eigener Verantwortung heraus initiativ geworden sind. Wir danken den karitativen Organisationen für die unglaublich breite humanitäre Hilfe. Die Bundesregierung wird alles daran setzen, diese Initiativen nicht nur fortzuführen, sondern sie auch zu fördern, wo immer die Möglichkeit besteht. ({2}) Wir werden dies hier in Bonn in wenigen Tagen mit dem Kollegen Woronzow - er wird uns besuchen - weiterführen und damit ganz sicherlich gezielt helfen, wo dies unumgänglich notwendig ist. Ich danke Ihnen sehr herzlich. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/165 und den Antrag der Gruppe der PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/170 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu überweisen und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß, an den Ausschuß für Gesundheit, an den Ausschuß für Frauen und Jugend sowie an den Haushaltsausschuß. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Vizepräsident Klein Ich rufe den heute morgen aufgesetzten Tagesordnungspunkt auf: Einrichtung eines baltischen Informationsbüros in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksachen 12/164, 12/166 Für die Aussprache ist eine Zehn-Minuten-Runde vorgesehen. - Ich sehe auch dazu keinen Widerspruch. Dann ist das ebenfalls so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Professor Weisskirchen.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die frei gewählten Parlamente der baltischen Republiken haben sich mit der Bitte an den Deutschen Bundestag gewandt, wir mögen sie in ihrem Wunsche unterstützen, daß sie - Estland, Lettland und Litauen - in Deutschland ein gemeinsames Informationsbüro eröffnen können. Wer ein Europa will, das sich integriert, wer ein Europa will, das sich miteinander regional vernetzt, ein Europa, das von unten wächst, ein Europa, das die Eigenwilligkeiten seiner vielen Völker und die Differenz seiner Kulturen als Chance sieht, der kann nicht anders, der muß diesen Wunsch erfüllen. Ein anderer Wunsch ist an uns nicht herangetragen worden. Aber ich bin mir ganz sicher: Wenn beispielsweise die Slowakei - Teilrepublik der CSFR - sich mit einer ähnlichen Bitte an uns wendete, dann würden wir auch dies begrüßen. Vor einigen Jahren hat beispielsweise der Freistaat Bayern in Slowenien ein vergleichbares Büro eingerichtet. Dies alles sind Widerspiegelungen des Vereinigungsprozesses unseres Kontinents. Solange der Wunsch nach Vernetzung von Staaten, Regionen und Kulturen untereinander als Politikum erster Ordnung und auch noch als eines behandelt wird, das als Störung bilateraler Beziehungen empfunden wird, so lange werden wir es - darüber muß man sich im klaren sein - mit einem Vereinigungsprozeß Europas zu tun haben, der noch nicht geglückt ist, der erst in seinen Anfängen steht. So ist es auch in diesem Fall. Dieser Antrag gewinnt seine Brisanz vor dem Hintergrund der laufenden Ereignisse im Baltikum. Mit dem völkerrechtlichen Aspekt will ich mich an dieser Stelle nicht befassen; da liegt das Unrecht klar auf der Hand. Das Verbrecherische am Hitler-Stalin-Pakt ist vom Obersten Sowjet der Sowjetunion selbst deutlich genug kritisiert worden. Die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches trägt eine historische Mitverantwortung. Mir geht es jetzt darum, daß mit diesem Antrag ein doppeltes Signal deutlich werden kann: Zum einen wollen wir im Rahmen des KSZE-Prozesses alle Prozesse des friedlichen Ausgleichs der Interessen fördern und zum anderen die gesellschaftlichen Kräfte ermutigen, die sich am friedlichen Dialog auch im Innern in ihren eigenen Ländern beteiligen. Wenn wir im Auge haben, an einem gemeinsamen Europa in seiner Vielgestaltigkeit zu bauen, dann setzt dies auch die Fähigkeit voraus - zugleich ist das für mich und für uns alle eine unverzichtbare Bedingung - , über die staatlichen Grenzen hinweg an den gemeinsamen Problemen unseres Kontinents zu arbeiten. Wenn wir so etwas wie eine zivile Gesellschaft Europas, eine Bürgergesellschaft aller Regionen Europas, aufbauen wollen - das wollen wir - , dann müssen wir diesen Dialog auch über die Grenzen hinweg führen, dann müssen wir diesen Dialog mit den demokratischen Kräften, den neuen wie auch den alten sozialen Bewegungen in der Gesamtheit Europas, fördern. Das wäre mit der Einrichtung eines solchen Büros der Fall. ({0}) Wenn wir aber an diesen gemeinsamen Problemen Europas, wenn es sein muß, auch im Konflikt, arbeiten wollen, dann richte ich jetzt eine deutliche Adresse an Vytautas Landsbergis, an denjenigen, der in Litauen eine nicht immer sehr glückliche Rolle spielt. Wer für die Freiheit ist, der muß auch für die Freiheit des Andersdenkenden sein. Nicht das starre Festhalten an Rechtspositionen allein bringt den Prozeß zur Selbstbestimmung und demokratischer Selbstregierung voran, den wir wollen. Wir wollen, daß die baltischen Republiken ihre Unabhängigkeit erringen können. Aber es gibt auch einen Radikalismus der nationalen Unabhängigkeit, der - für sich selbst betrachtet - vielleicht in sich stimmig sein kann und auch verständlich ist, der sich aber auch gegen die unverzichtbaren Rechte von Minderheiten richten kann. Das muß man Herrn Landsbergis deutlich sagen: Wer Gesetze verabschiedet, die die Minderheitenrechte verletzen, der wird von uns ganz hart und scharf kritisiert. Das wollen wir nicht hinnehmen. ({1}) Dazu gehört auch: Wer die Einrichtungen der KP Litauens verbietet, der erfährt von uns die gleiche harte und scharfe Kritik. Wer Demokratie will, der muß bereit sein, Kommunisten wie allen andern die gleiche Chance zur Erringung der Mehrheit zu lassen. Das muß man auch den radikalen nationalen Kräften in Litauen deutlich sagen. Da müssen alle Parteien die gleichen Chancen haben. Das heißt, die Kommunisten müssen in Litauen die gleiche Chance haben wie alle anderen Parteien auch. ({2}) Wir verurteilen in diesem Punkt jede Einschränkung von Freiheit, gleich wem gegenüber. Das ist genauso klar gesagt worden, als es darum ging, daß die frei gewählten Parlamente von - von wo auch immer her gesteuerten - militärischen Kräften, den „Black berets", bedrängt worden sind. Ich selbst war in Vilnius und in Riga und habe den demokratisch frei gewählten Parlamenten meine Solidarität deutlich ausgesprochen. Das muß man in der gleichen Weise auch dann tun, wenn falsch gelenkte Radikale - auch solche, die nationale Selbstbestimmung wollen - die gleichen Fehler machen. In diesem Punkt muß man Weisskirchen ({3}) klar sehen: Freiheit heißt Freiheit für alle, auch für den Andersdenkenden! ({4}) Wir verurteilen also jede Einschränkung der Freiheit, und wir setzen auf Verhandlungen. Der Verhandlungsprozeß muß mit dem innergesellschaftlichen Verzicht auf Gewalt beginnen. Das gilt in diesem Konflikt für alle Seiten. Die Sezessionsbestrebungen sind, glaube jedenfalls ich, zuallererst Ausdruck des Willens, eine andere Antwort zu geben als diejenige, die es vor Jahren und Jahrzehnten bei der verfehlten, falschen staatlichen Nationalitätenpolitik von Stalin gegeben hat. Das Ergebnis der litauischen Volksbefragung vor wenigen Wochen ist voraussehbar gewesen. Ich glaube auch, daß in Estland und in Lettland am kommenden Sonntag ein vergleichbares Ergebnis - wenn auch nicht in der gleichen Höhe - herauskommen wird und zu erwarten ist. Ich möchte an dieser Stelle auch diejenigen, die jetzt darüber zu entscheiden haben, ob deutsche Bundestagsabgeordnete bei diesen Volksbefragungen Beobachter sein können, doch herzlich darum bitten, dies möglich zu machen. Wir werden jeden einladen, der bei uns demokratische Prozesse verfolgen und beobachten will, und wir bitten darum, daß wir in allen Teilen und Regionen Europas das Recht haben, uns an diesen demokratischen Prozessen mit zu beteiligen. Deswegen die Bitte an die sowjetische Botschaft, uns diese Gelegenheit zu geben. ({5}) Weil im Baltikum die Bereitschaft aller, sowohl der Vertreter der Mehrheitsgruppen als auch der Gruppen der nationalen Minderheiten, erkennbar ist wie sonst selten in der Sowjetunion, ihre Konflikte ohne Anwendung von Gewalt durch Dialog auszutragen, könnte diese traditionsreiche europäische Region zum Symbol eines neuen Beginns für die gesamte Union werden. Im Baltikum wird über die Zukunft der Demokratie und über eine neue Balance zwischen den Republiken in der Sowjetunion, aber auch über die Erneuerung der Beziehungen zwischen den Regionen in Europa mitentschieden. Eine friedliche Lösung der Konflikte könnte im Einigungsprozeß unseres Kontinents wie ein Katalysator wirken. Das einzurichtende Informationsbüro sollte diesem Ziel dienen. Es sollte eine Stätte des Dialogs werden, eine Stätte, in der das volle Spektrum der reichen Kulturen des Baltikums wie auch seine inneren Widersprüche zur Geltung kommen kann. Und es sollte ein Ort der Begegnung mit allen nationalen Minderheiten sein. Das Baltikum war immer Transit zwischen Ost und West, Brücke zwischen den Völkern. In den langen Zeiträumen war es auch Platz der scharfen Auseinandersetzungen und nicht frei von deutscher Schuld. Das muß vergangen bleiben, weil wir werden wollen, was Europa werden kann: ein Kontinent des Friedens. Herzlichen Dank. ({6})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten von Schorlemer.

Reinhard Schorlemer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute, am Tag des von Präsident Bush verkündeten Waffenstillstandes in dem im August 1990 von Saddam Hussein brutal eröffneten Krieg im Nahen Osten diskutieren wir über Anträge der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE zur Errichtung eines baltischen Informationsbüros in der Bundesrepublik Deutschland. Bei den baltischen Republiken werden wir aber auch daran erinnert, daß Vereinbarungen von brutalen und verbrecherischen Diktatoren wie Hitler und Stalin niemals Frieden und Befriedung bringen. ({0}) Jetzt eine Vorwegbemerkung. Eigentlich wollte ich zum jetzigen Zeitpunkt über Moskau auf dem Weg nach Tallinn sein. Durch die Kürze meiner Visabeantragung sind hier Schwierigkeiten aufgetreten. Gleichwohl glaube ich, daß Information und Gespräche in Moskau und z. B. auch in Estland jetzt und in Zukunft wichtige Voraussetzungen sind, um die gesamte Komplexität der Probleme im Baltikum zu erfahren und zu bewerten. Durch die räumliche und geschichtliche Nähe sind die skandinavischen Länder natürlich besonders mit der Frage beschäftigt: Wie geht es weiter im Baltikum? Auch wir Deutschen haben über Jahrhunderte andauernde kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen zu diesem nordöstlichen Teil Europas. Das segensreiche Hineinwirken z. B. der evangelischen Kirche nach Estland, die Einbeziehung dieser baltischen Ostseeanrainer in die Hanse belegen jahrhundertealte deutsche und europäische Verbindungen. In seiner Regierungserklärung vom 30. Januar 1991 hat unser Bundeskanzler im europäischen Zusammenhang und konkret zum Baltikum folgendes gesagt: Es darf kein Zurück mehr geben auf dem Wege zu einem größeren Europa in Frieden und Freiheit, daß in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Stabilität zusammenwächst. Die jüngsten Ereignisse im Baltikum waren ein schwerer Rückschlag auf diesem Weg. Ich habe an Präsident Gorbatschow mit großem Ernst und Nachdruck appelliert, jeder weiteren Gewaltanwendung Einhalt zu gebieten. Das Protokoll verzeichnet hier: Beifall bei der CDU/ CSU, der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE. Weiter sagte der Bundeskanzler damals, auch in bezug auf die Resolution des Deutschen Bundestages. Wir haben im Deutschen Bundestag alle politischen Kräfte der Sowjetunion nachdrücklich aufgefordert, das Recht der baltischen Völker auf Selbstbestimmung, freie Meinungsäußerung und die Wiederherstellung der Legalität zu garantieren; eine Lösung der anstehenden Probleme ausschließlich auf friedlichem Wege zu suchen; größtmögliche Zurückhaltung zu üben und umgehend den politischen Dialog wieder aufzunehmen. Wir haben zugleich unsere tiefste Überzeugung zum Ausdruck gebracht, daß nur Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit die Zukunft gehört; nur auf sie kann eine dauerhafte und gerechte Friedensordnung in Europa gegründet werden. Diese Passage aus der Regierungserklärung ist für uns, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Richtschnur unseres Agierens und unseres Handelns zu diesem Thema. Das heißt, was zu sagen war und was gesagt werden mußte, ist Präsident Gorbatschow von Bundeskanzler Kohl gesagt worden. Wir bewerten auch die Abstimmung in Litauen und die bevorstehenden Abstimmungen in Lettland und Estland als ein den baltischen Völkern zustehendes Recht auf Selbstbestimmung und freie Meinungsäußerung, ein Recht, wie es besonders in der Schlußakte von Helsinki und den Nachfolge-KSZE-Dokumenten zum Ausdruck kommt. Wir sehen dieses Recht ebenfalls in der von allen europäischen Staaten in der Charta von Paris für ein neues Europa bekräftigten Verpflichtung, die Demokratie als einzige Regierungsform aufzubauen und die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu schützen und zu fördern. Gleichwohl wissen wir, daß eine Regelung über die staatliche Zukunft im Baltikum nur mit der Sowjetunion möglich ist. Außenpolitisch messen wir den Beziehungen zur Sowjetunion eine zentrale Bedeutung bei. Nicht nur die Tatsache, daß an einem Tag im Sommer 1990 im Kaukasus Präsident Gorbatschow Bundeskanzler Kohl ein klares Ja zur Vollendung der Einheit Deutschlands gab, in dessen Folge wichtige Verträge mit der Sowjetunion unterschrieben wurden, sondern auch die letzten Monate haben bewiesen, wie wichtig es ist, daß der Ost-West-Konflikt der Vergangenheit angehört. Wir wissen aber auch, daß die weitere Entwicklung in Europa nur in engem Zusammenwirken und in engen Beziehungen zur Sowjetunion möglich ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich uns natürlich die Frage, ob ein, wie wir das zur Zeit meinen bewerten zu müssen, gegen den erkennbaren Willen der Zentralregierung in Moskau gefordertes Informationsbüro, durch die Bundesrepublik finanziert, den baltischen Republiken Litauen, Lettland und Estland die Möglichkeit gibt, sich hier darzustellen, bzw. ob es für ihre politischen Vorstellungen und Ziele hilfreich ist. Nach unserem derzeitigen Informationsstand haben wir hier große Bedenken. Alle Informationen, die wir aus diesen Republiken erhalten wollen, haben wir bisher zu einem großen Teil erhalten können. Auch das, was mein verehrter Herr Vorredner sagte, besagt ja, daß er in Gesprächen dort die Informationen bekommen hat, die ihm gleichsam das Fundament geben, seine politischen Ausführungen hier zu machen. Ich glaube auch, daß Litauer, Letten und Esten heute schon ähnliche Informationsmöglichkeiten haben. Wir sollten uns wirklich politisch überlegen, ob die Errichtung einer derartigen Einrichtung eine kluge politische Entscheidung wäre. Ich glaube, es ist doch wichtiger, daß die Bundesregierung - wie bisher - , fußend auf dem Entschließungsantrag der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE vom 14. Januar 1991, diskret, verantwortungsbewußt und klug und ohne großes Getöse das, was zu sagen ist, der Sowjetführung zum Thema Baltikum sagt. Das bedeutet meines Erachtens sogar ein Mehr für die Republiken im Baltikum. Meine Damen und Herren, zur Zeit muß man sich wirklich die Frage stellen, ob es klug wäre, ein solches Informationsbüro einzurichten. Wir werden gleich ja die Überweisung dieses Antrags an den Ausschuß beantragen und unterstützen. Wir werden im Ausschuß weiter darüber reden. Ich möchte an dieser Stelle bei der Anerkennung des Rechts der baltischen Völker auf Selbstbestimmung, freie Meinungsäußerung, der Garantie der Wiederherstellung der Legalität, der Suche nach einer Lösung der anstehenden Probleme ausschließlich auf friedlichem Wege die Verantwortlichen in Litauen, in Lettland und in Estland aber auch bitten, bei der Behandlung ihrer schicksalhaften Zukunftsfragen, Klugheit und Augenmaß als Maxime ihres Handelns zu setzen. Gleichzeitig möchte ich von dieser Stelle aus alle Betroffenen - insbesondere die Zentralregierung in Moskau - noch einmal bitten, größtmögliche Zurückhaltung zu üben und den politischen Dialog wiederaufzunehmen. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die baltischen Republiken im Nordosten Europas sind in ihrer Geschichte und Entwicklung von den Ländern Europas entscheidend mitgeprägt worden. Aber auch sie haben alle europäischen Nachbarn in Nord, in Ost, in West und Süd und weit darüber hinaus mitgestaltet. Dies ist auch ein entscheidender Grund dafür, daß viele europäische Länder, auch wir, der Bevölkerung aus den baltischen Republiken mit menschlicher Sympathie begegnen. Diese Sympathie sollte für die Völker dort verantwortungsbewußt eingesetzt werden. Das sollten wir bei der Behandlung der Anträge der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE beachten. Dies ist meines Erachtens auch der Grund dafür, daß wir dem Anliegen der Antragsteller zur Zeit nicht zustimmen werden. Ich bedanke mich. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Abgeordnete Poppe.

Gerd Poppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001736, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur Begründung des AnPoppe traps des Bündnisses 90/GRÜNE möchte ich Sie in aller Kürze an seine Vorgeschichte erinnern. Im vorigen Jahr haben die baltischen Völker ihren Willen zur Unabhängigkeit und zur demokratischen Umgestaltung durch Wahlergebnisse zum Ausdruck gebracht, die in den westlichen Demokratien durchweg begrüßt wurden. Als Spezialeinheiten der sowjetischen Regierung zu Beginn dieses Jahres versuchten, die Wahlergebnisse durch Anwendung von Gewalt zu revidieren, als sie Pressehäuser, Fernsehzentren und mittlerweile auch Ministerien besetzten, war der Sturm der Entrüstung in ebendiesen Demokratien groß. Aus allen politischen Lagern waren Ermahnungen an die sowjetische Führung wie auch die Bereitschaft zur Unterstützung der Demokratiebewegung zu vernehmen. Der Deutsche Bundestag erklärte am 14. Januar in seltener Einmütigkeit „das Recht der baltischen Völker auf Selbstbestimmung, freie Meinungsäußerung und die Wiederherstellung der Legalität" wie auch die Verpflichtung der europäischen Staaten, „die Demokratie als einzige Regierungsform aufzubauen und die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu schützen und zu fördern". Das wurde alles erklärt ungeachtet der Unklarheit über die Rolle von Präsident Gorbatschow nach seiner unzureichenden Distanzierung vom Blutvergießen aus Gründen der Staatsräson, auch angesichts der Ungewißheit über die Möglichkeiten der Fortsetzung von Perestroika und Glasnost. Allen, die seinerzeit dem Entschließungsantrag zugestimmt haben, sollte klar sein, daß es im Baltikum um anderes geht als um den Separatismus einer kleinen Zahl von Nationalisten dreier kleiner Republiken gegenüber einem wohlgeordneten, demokratischen Kriterien genügenden Rechtsstaat. Klar sein sollte auch, daß der Deutsche Bundestag nicht ein beliebiges Parlament ist, das sich aussuchen kann, ob und wie es sich zu den baltischen Völkern verhält. Die Bundesrepublik Deutschland ist Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches und trägt deshalb eine historische Mitverantwortung für die Situation im Baltikum. Noch heute ist der Hitler-Stalin-Pakt die Grundlage für den Anspruch der Sowjetunion auf die baltischen Republiken. Sein völkerrechtswidriger Charakter ist zugleich Bestandteil der Argumentation dieser Republiken für ihren Anspruch auf staatliche Souveränität. Dieser Zusammenhang ist einer der Gründe für unser besonderes Verhältnis zu den baltischen Republiken. Heute geht es hier um nicht mehr und nicht weniger als einen Schritt hin zur Vertiefung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den baltischen Republiken. Diese haben die Eröffnung eines gemeinsamen baltischen Informationsbüros in Deutschland und ähnlicher Einrichtungen, beispielsweise in Gestalt von Goethe-Instituten, in Litauen, Lettland und Estland angeregt. Das Bündnis 90/GRÜNE hat diese Anregung aufgegriffen und den entsprechenden Antrag eingebracht. Derartige Informationsbüros gibt es bereits anderswo, beispielsweise in Stockholm und Kopenhagen. In anderen Ländern sind sie in Vorbereitung. Wir wären also nicht die ersten und einzigen, die eine derartige Initiative unterstützen. Ich komme zu einem zweiten Grund für die Notwendigkeit, gerade hier in Deutschland die Völker des Baltikums zu unterstützen. Die Wahlen im vorigen Jahr, die bisherigen Umfragen und mit besonderer Eindringlichkeit das Referendum vom 9. Februar in Litauen haben gezeigt, daß es hier nicht nur um staatliche Souveränität geht. Die Mehrheit der in den baltischen Republiken lebenden Angehörigen aller nationalen Gruppen sprechen sich für die Unabhängigkeit aus. Der Grund ist einfach: der Vormarsch der Konservativen, die Gefahr der Restaurierung des stalinistischen Regimes, die deutliche Schwächung der demokratischen Kräfte und der offenkundige Machtverlust Gorbatschows. Die Menschen haben kein Vertrauen mehr in die Kraft der Perestroika. Die Hoffnung auf die Möglichkeit ihrer Durchsetzung in der ganzen Sowjetunion ist geschwunden. Die Erwartungen nicht nur der Litauer, der Letten und der Esten, sondern auch der Russen, der Polen und aller anderen Minderheiten in den baltischen Republiken richten sich auf die demokratischen Kräfte, die dort bereits regieren. Nationalistische Töne, noch vor einem Jahr sehr häufig, sind inzwischen seltener zu hören. Statt dessen geht es um Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Parteienpluralismus und um Marktwirtschaft. Weil es eben nicht um bloßen Separatismus geht, unterstützen auch andere Teilrepubliken das Baltikum. Man sieht, daß dort über das Schicksal der Perestroika und über die Chancen tiefgreifender Demokratisierung für die ganze Sowjetunion entschieden wird. In diesem Zusammenhang geht es natürlich auch um die Rolle von Gorbatschow. Es ist hier nicht der Ort für Spekulationen. Die Einschätzungen gehen an diesem Punkt weit auseinander. Zitiert sei jedoch die Meinung des lettischen Außenministers Jurkans: Wenn die europäischen Staaten die Unabhängigkeitsbewegung in den baltischen Staaten unterstützen, die die treibende Kraft in der gesamten Sowjetunion sind, dann helfen sie Gorbatschow; denn heute ist Gorbatschow eine Marionette in den Händen der Militaristen. Was auch immer Gorbatschows Interesse sein mag: Auf den Vormarsch der Stalinisten in der Sowjetunion mit Zurückhaltung hinsichtlich der Bemühungen um Demokratisierung zu reagieren ist genau der falsche Weg. Wie sollte - das gilt nicht nur für das Baltikum - der Grundkonflikt zwischen den Verfechtern des Status quo eines in jeder Hinsicht maroden Restimperiums und den Befürwortern von Demokratie und Menschenrechten gelöst werden, wenn nicht durch nachdrückliches Bestehen auf dem Anspruch der Selbstbestimmung der Völker? Die der Entschließung vom 14. Januar zugrunde liegende Übereinstimmung sollte uns eigentlich nahelegen, uns schnellstmöglich mit diesem Antrag weiter zu befassen, um zum frühestmöglichen Zeitpunkt die Einrichtung solcher Informationsbüros zu erreichen. Im Vorfeld ist ja einige Verwirrung entstanden. Der Antrag war auf eine für uns nicht akzeptable Weise zeitweise verschwunden. Nachdem sich nun die SPD dankenswerterweise der Substanz unseres Antrages angenommen hat, um daraus eine modifizierte eigene Version herzustellen, was, wie ich mir inzwischen habe erklären lassen, in diesem Hause ein gängiges Verfahren ist, haben wir abseits von allen urheberrechtlichen Erwägungen die Hoffnung geschöpft, daß deutsche Demokraten nicht, wie so oft in der Vergangenheit, der Geschichte hinterherlaufen, sondern rechtzeitig ein Thema von europäischer Bedeutung aufgreifen und Ernst machen mit ihrer Betonung der Priorität von Demokratie und Menschenrechten. ({0}) Nachdem mir inzwischen auch mehrere Abgeordnete der Regierungsparteien versicherten, daß im Grunde genommen alle den Wunsch der baltischen Länder verstehen und ihm aufgeschlossen gegenüberstehen, verstärkte sich bei mir der Eindruck, daß es eigentlich keine stichhaltigen Gründe gibt, gegen solche Einrichtungen zu sprechen, und ich bin jetzt über die Meinung von Herrn Schorlemer etwas verwundert. ({1}) Wir halten es nicht für angemessen, wenn sich der Deutsche Bundestag eine eher den diplomatischen Gepflogenheiten entsprechende Zurückhaltung gegenüber den Demokratien Osteuropas auferlegt; denn parteitaktische und Opportunitätsgründe dürfen nicht gegen elementare Menschen- und Bürgerrechte aufgewogen werden. ({2}) Die Behandlung des Antrags ist schon deshalb dringlich, weil von seiner Einbringung bis zu seiner praktischen Umsetzung ohnehin eine lange Zeit der Verhandlung, der Präzisierung und der technischen Vorbereitung vergehen wird. Zeit ist aber nicht unbegrenzt vorhanden. Die baltischen Länder sind auf die schnelle Unterstützung durch die westlichen Demokratien angewiesen, besonders seit die Konservativen gegen Gorbatschow und die Perestroika angetreten sind. Gerade um weitere Gewalt zu verhindern, ist es notwendig, der Entschließung des Bundestages vom 14. Januar Taten folgen zu lassen, und zwar so bald wie möglich. Ein Entschluß, Informations- und Kulturzentren einzurichten, ist angesichts der Situation im Baltikum und der gesamten Sowjetunion kaum mehr als eine Geste der Aufmerksamkeit, kaum mehr als eine geringfügige Tat, die wir der Demokratiebewegung Osteuropas schuldig sind. Ich bitte Sie deshalb darum, diese Anträge der SPD und von Bündnis 90/ GRÜNE, wenn sie den Ausschüssen überwiesen sind, dort so schnell wie möglich zu behandeln und dem Wunsch der baltischen Republiken zu entsprechen. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Abgeordneter Dr. Menzel, Sie haben das Wort.

Dr. Bruno Menzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001474, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 3. März werden in Estland und Lettland Volksbefragungen stattfinden. Ich glaube, ohne Prophet sein zu wollen, kann man wohl davon ausgehen, daß das Ergebnis nicht wesentlich von dem in Litauen erreichten abweichen wird. Hier zeigt sich einmal mehr, daß der Wunsch nach Freiheit, Menschenrechten, nationaler Identität und Selbstbestimmung stärker ist als eine fünfzigjährige Diktatur. Wer könnte dies besser verstehen als wir, die selbst die bittere Erfahrung einer vierzigjährigen Diktatur in einem Teil unseres Vaterlandes erlebt haben! Wir wissen aus dieser Erfahrung aber auch, wie wichtig und unverzichtbar es ist, daß einen gute Freunde auf diesem Weg begleiten. Es ist in diesem Hause in den letzten Monaten immer und immer wieder zum Ausdruck gebracht worden, welchen Anteil unsere europäischen Nachbarn, die USA und die Sowjetunion Gorbatschows an dieser Entwicklung ebenso hatten wie die zielstrebige, kontinuierliche, Vertrauen aufbauende und auf die euroäische Integration ausgerichtete Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Aus diesen Erfahrungen heraus und auch der geschichtlichen Tatsache Rechnung tragend, daß der skandalöse Handel zwischen Ribbentrop und Molo-tow 1940 den baltischen Staaten ihre nationale Existenz entzogen hat und sie erst in die Lage brachte, heute um ihre nationale Selbstverwirklichung ringen zu müssen, gilt ihnen unser Verständnis, unsere Sympathie und unsere Freundschaft. Wir werden helfen, wo immer wir können, sowohl ideell als auch mate-dell. ({0}) Wir stehen unverändert hinter der gemeinsamen Erklärung des Bundestages zum Selbstbestimmungsrecht der baltischen Völker und ihr Recht auf Wiederherstellung der Legalität. Freunde, meine Damen und Herren, haben aber auch die Pflicht, kritische Begleiter zu sein; und wer sonst, wenn nicht sie, haben die Verpflichtung, auf vermeidbare Risiken hinzuweisen. Für jedes Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit ist eine stabile, auf Ausgleich, auf Verständigung und auf Vertrauen basierende Ordnung in Europa und in der Welt unverzichtbar. Nur in einem solchen Klima können sich Demokratie, Menschenrechte und Freiheit entwickeln und behaupten. Dafür steht die Europäische Gemeinschaft und für Gesamteuropa die KSZE. Deshalb bemühen wir uns alle auf diesem Kontinent, Gemeinsamkeiten zu fördern, die Grenzen zu überwinden und Vertrauen zu schaffen bei gleichzeitiger Wahrung der nationalen Identität. Meine Damen und Herren, bei allem Verständnis für das Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit und bei allem Verständnis für Ungeduld muß man aus dieser Sicht, denke ich, trotzdem und gerade zur Geduld mahnen. ({1}) Die jetzt vorhandenen Freiheiten und Artikulationsmöglichkeiten der baltischen Staaten basieren auf der Entwicklung in der Sowjetunion, auf der von Gorbatschow eingeleiteten Politik von Glasnost und Perestroika, die insgesamt den Wandel in Europa möglich machte und die auch die Voraussetzung für die Wiedervereinigung Deutschlands war. Übereifer und Ungestüm könnten diese positive Entwicklung in Frage stellen und damit den Demokratisierungs- und Autonomieprozeß in den baltischen Staaten um Jahre zurückwerfen. Eine weitere Schwächung der Position Gorbatschows zum jetzigen Zeitpunkt hätte unübersehbare Folgen für ganz Europa und darüber hinaus für das Entstehen einer neuen, friedlichen Weltordnung. Auch die Balten, denke ich, werden nur mit und nicht ohne Gorbatschow mehr Freiheit erlangen können. Es ist sicher auch legitim, in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, daß in 50 Jahren vor allen Dingen wirtschaftliche Strukturen und föderative Bindungen und auch menschliche Beziehungen entstanden sind, die eine Loslösung von der Sowjetunion erschweren und daher zur Behutsamkeit Veranlassung geben. Wir sollten jede Gelegenheit nutzen, von allen politischen Kräften in der Sowjetunion nachdrücklich zu fordern, das Selbstbestimmungsrecht der baltischen Völker zu akzeptieren und eine Lösung der anstehenden Probleme auf ausschließlich friedlichem Wege zu suchen. Dabei sollte größtmögliche Zurückhaltung geübt und ausschließlich der politische Dialog genutzt werden. ({2}) Gleiches, denke ich, gilt für unsere baltischen Freunde. Maßnahmen, wie das Verbot der KP Litauens, sind nur geeignet, den Konflikt zu verschärfen, aber nicht dazu, ihn einer Lösung näher zu bringen. ({3}) Auch auf dem Weg zur Demokratie ist, denke ich, Rechtsstaatlichkeit unverzichtbar. Der vorliegende Antrag vom Bündnis 90/GRÜNE weist mit Recht darauf hin, daß auch der schwierigen Situation der Sowjetunion Rechnung getragen werden muß. Darüber hinaus betonen wir, die Liberalen, noch einmal mit allem Nachdruck, das jede Anwendung von Gewalt, gleich von welcher Seite, kein geeignetes Mittel zur Lösung eines solchen Problems darstellt. Vielmehr sollten wir alle vorhandenen Instrumente, wie sie im KSZE-Prozeß und insbesondere in der Charta von Paris zum Ausdruck kommen, anwenden. Hierzu gehören der friedliche Dialog und der Interessenausgleich zwischen allen Beteiligten, um die schwierige Situation zu meistern. Die vorliegenden Anträge des Bündnisses 90/ GRÜNE und der SPD entsprechen durchaus dem grundsätzlichen Anliegen von Glasnost und den KSZE-Prinzipien hinsichtlich der notwendigen Transparenz, der ausreichenden Information sowie des kulturellen Austausches zwischen den Völkern. ({4}) Im Rahmen der politischen Gesamtschau sind wir aber der Meinung, daß dies einer sehr sorgfältigen Prüfung bedarf. Der Antrag hat auf die politischen Rahmenbedingungen und die Besonderheiten der Entwicklung in der Sowjetunion Rücksicht zu nehmen. In den Ausschüssen des Deutschen Bundestages sollte eine sorgfältige Prüfung unter diesen Aspekten erfolgen. Ich danke Ihnen. ({5})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Modrow.

Dr. Hans Modrow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001518, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte sollte nicht nur von der Betroffenheit über die Lage in den baltischen Republiken bestimmt sein. Die verständlichen Hoffnungen und Erwartungen, nationale Identität wiederzufinden und zu mehr Wohlstand und Freizügigkeit zu gelangen, stehen in einem größeren Zusammenhang. Es geht um den inneren Frieden, um den künftigen Bestand des sowjetischen Vielvölkerstaates und damit letztendlich um die Stabilität in Europa und in der Welt. Auch die Abgeordneten der PDS/Linke Liste sind besorgt über die tragische Wende in den baltischen Republiken. Gewiß verbietet sich jeglicher Vergleich mit den grauenhaften Ereignissen am Golf. Dennoch haben wir an den Präsidenten und die Regierung der UdSSR wie der baltischen Republiken appelliert, alles zu tun, um weiteres Blutvergießen zu verhindern und einen konstruktiven Dialog zwischen allen Beteiligten aufzunehmen, weiterzuführen und zu gestalten. Denn wo immer militärische Gewalt an die Stelle von Politik tritt, werden Probleme nicht dauerhaft gelöst, sondern letztendlich nur verschärft. Die Sowjetunion durchläuft eine der kompliziertesten Phasen ihrer Entwicklung. In diesem Zusammenhang hat der sowjetische Präsident für jede Republik das verfassungsmäßige Recht bekräftigt, aus der Union auszutreten, ohne aber Anarchie oder Willkür seitens der gewählten Organe zuzulassen. Ein Austritt könnte durch Willensbekundung der Bevölkerung, durch ein Referendum - ein solches ist ja bekanntlich für den 17. März ausgeschrieben - , entsprechend dem vom Gesetz vorgesehenen Prozeß erfolgen. Hier ist nicht nur Moskau, sondern hier sind auch die baltischen Republiken in der Verantwortung. Herr Landsbergis stellt sich dieser Verantwortung gegenwärtig nicht in entsprechender Weise. Niemand hat das Recht, sich in die inneren Angelegenheiten der Sowjetunion einzumischen. Wir sind deshalb auch dagegen, von außen her Fakten zu schaffen, die die Entwicklung in den baltischen Republiken bzw. der gesamten Sowjetunion zuspitzen bzw. ihr vorgreifen könnten. Das wäre aber der Fall, wenn ein Informationsbüro Elemente einer offiziellen politischen Vertretung ausüben würde. Lassen Sie uns aus dieser Sicht die Dinge emotionslos und mit Augenmaß betrachten und den Charakter von Information und kulturellem Austausch in diesem Zusammenhang nicht überschreiten. Für Zurückhaltung und Vernunft unseres Landes spricht eine Reihe weiterer Gründe. Eine stabile Entwicklung der UdSSR als Zusammenschluß souveräner Staaten, der dem Recht auf nationale Selbstbestimmung gerecht wird und die Menschenrechte für alle Bürger wahrt, ist von grundlegender Bedeutung für die Geschicke der Welt, nicht nur Europas. Erschütterungen und bürgerkriegsähnliche Zustände in diesem Land würden uns alle in einen Strudel sicherheitspolitischer Unwägbarkeiten hineinreißen. Das wäre angesichts der Größe der vorhandenen militärischen Kräfte und vor allem auch der Vielzahl taktischer und strategischer Waffen in seinen Auswirkungen unvorstellbar. Auch im fünfzigsten Jahr nach dem Beginn des Überfalls Hitler-Deutschlands ist die Erinnerung der Völker der Sowjetunion daran sehr lebendig. Der Blutzoll von über 20 Millionen Toten verpflichtet zu höchstem Respekt. Mit der Zustimmung zur Lösung der äußeren Aspekte der deutschen Einheit hat unser Land einen ungeheuer großen Vertrauensvorschuß erhalten. Er sollte nicht leichtfertig verspielt werden. Die Einbeziehung und die Mitwirkung der Sowjetunion bei der Gestaltung einer gerechten Friedensregelung in der Golfregion muß zugesichert sein, um der sowjetischen Staats- und Militärführung Vertrauen auch in eine friedliche Entwicklung in Europa, in den Abbau der Feindbilder und der Konfrontation zu vermitteln. Die Chance, jetzt zu einer dauerhaften Friedensordnung im Nahen Osten insgesamt zu gelangen, darf nicht durch Vormachtstreben vertan werden. Falsch und verheerend wäre es, wenn - wie es mitunter anklingt - die Zusammenarbeit mit der SU seitens der Bundesrepublik oder der EG einschränkend gestaltet werden sollte. Vergessen wir nicht: Weder die politischen noch die ökonomischen Reformen verwirklichen sich im Selbstlauf. Die Bundesregierung wäre daher gut beraten, weitere politische und ökonomische Schritte zu tun, die die Lage in der Sowjetunion stabilisieren helfen und damit der Perspektive eines friedlichen demokratischen gemeinsamen Europäischen Hauses dienen. Wir sind dazu auch durch mit der Sowjetunion erarbeitete und zur Ratifizierung anstehende Verträge verpflichtet. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort Herrn Staatsminister Schäfer.

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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundesregierung ist der Wunsch der baltischen Staaten bekannt, in der Bundesrepublik Deutschland Informationsbüros einzurichten. Dem steht nichts im Wege, wenn solche Büros - ich betone das - nach den Regeln des Privatrechts, des Vereinsrechtes sowie des Ausländerrechtes organisiert werden. Ein diplomatischer Status, fiskalische Privilegien sowie Betrauung mit quasi konsularischen Aufgaben können allerdings nicht in Betracht kommen. Zur Begründung sind einige grundsätzliche Bemerkungen erforderlich: Die Bundesregierung hat die Annexion der baltischen Staaten nie anerkannt. Sie hat daher bei Aufnahme der diplomatischen Beziehungen mit der Sowjetunion einen Vorbehalt hinsichtlich des beiderseitigen territorialen Besitzstandes ausgesprochen und ihn seither stets berücksichtigt. Dieser Rechtsstandpunkt ist bekannt und hat unverändert Gültigkeit. Seit den Republikwahlen in Litauen am 24. Februar 1990 sowie in Estland und in Lettland am 18. März 1990 existieren im Baltikum demokratisch legitimierte Regierungen und Parlamente, die danach streben, das Selbstbestimmungsrecht der baltischen Völker zu verwirklichen. Litauen, Estland und Lettland haben sich - bei leichten Unterschieden im prozeduralen Vorgehen, auf die hier schon hingewiesen worden ist - im Frühjahr 1990 für souverän erklärt. Die Bundesregierung hat gemeinsam mit ihren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft mehrmals dazu aufgerufen, daß zwischen der sowjetischen Zentralregierung und den gewählten Vertretern der baltischen Länder baldmöglichst Verhandlungen aufgenommen werden, um durch eine friedliche Lösung die legitimen Erwartungen der baltischen Völker zu erfüllen. Die Bundesregierung geht davon aus, daß - wie es in einem Schreiben von Bundeskanzler Kohl und Staatspräsident Mitterrand an Präsident Landsbergis vom 29. April des vergangenen Jahres heißt - die Geschichte eine komplexe Situation geschaffen hat, die sich aus zahlreichen politischen, juristischen und wirtschaftlichen Bindungen zusammensetzt. Ihre Entflechtung braucht Zeit und Geduld und wird die klassischen Wege des Dialoges einschlagen müssen. Unabhängigkeit läßt sich nicht durch einseitige Erklärungen verwirklichen. Was die finanzielle Ausstattung oder Unterstützung eines eventuellen baltischen Informationsbüros durch die Bundesregierung angeht, so würde das eine politische Abhängigkeit von der Bundesregierung oder Verantwortlichkeit seitens der Bundesregierung für dieses Informationsbüro unterstellen, die keiner wollen kann. Dagegen könnte eine Finanzierung durch andere Mittel, die den Balten etwa durch die Organisation ihrer Volksgemeinschaften im Ausland und auch in Deutschland zu Gebote stehen, die echte Unabhängigkeit eines als privatrechtlicher Verein organisierten baltischen Organisationsbüros von staatlichen Stellen im Land der Registrierung auch nach außen dokumentieren. Was die Einrichtung analoger deutscher Kultur- und Informationsbüros in den drei baltischen Republiken betrifft, so sieht die Bundesregierung derzeit noch keine Möglichkeit, über die jüngsten Neugründungen in Mittel- und Osteuropa - nebenbei bemerkt, sehr kostspieligen Neugründungen in Moskau, Warschau, Krakau, Prag und Bratislava - hinaus weitere Zweigstellen des Goethe-Institutes zu errichten. Um dem wachsenden Interesse an kultureller Zusammenarbeit mit Deutschland entgegenzukommen, ist aber eine verstärkte Förderung deutsch-baltischer Kulturgesellschaften vorgesehen, ich darf hinzufügen: auch des Austausches von Politikern. Ich darf sagen, was ich gestern im Auswärtigen Ausschuß des Deutschen Bundestages angeregt habe und hier wiederholen möchte: Es wäre auch sehr gut, wenn sich unsere politischen Stiftungen diese Zusammenarbeit gerade im Vorfeld der Unabhängigkeit der baltischen Staaten zunutze machen würden, Veranstaltungen zu organisieren, den Gedankenaustausch zu pflegen und Menschen zusammenzubringen. Das erscheint uns im Augenblick wichtiger und besser als jetzt, kaum nachdem wir fünf Goethe-Institute gegründet haben, drei weitere zu fordern, die natürlich auch finanziert werden müßten, was uns allen, glaube ich, angesichts der großen Finanzierungslücken, die wir vorfinden, sehr schwerfallen würde. Vielen Dank. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Die vereinbarte Rederunde ist damit abgeschlossen. Meine Damen und Herren, die Anträge der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/164 und der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE auf Drucksache 12/166 sollen an den Auswärtigen Ausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr mit der Fragestunde fortgesetzt. Ich unterbreche die Sitzung. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, ich eröffne die unterbrochene Sitzung. Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Fragestunde - Drucksache 12/159 Wir behandeln zunächst den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Grünewald zur Verfügung. Zunächst rufe ich die Frage 13 des Abgeordneten Stockhausen auf: Ich frage die Bundesregierung, ob es zutrifft, daß Beschäftigte in volkseigenen landwirtschaftlichen Betrieben bei Entlassungen bis zu 36 000 DM Übergangsgeld erhalten? Herr Staatssekretär, ich bitte Sie, die Frage zu beantworten.

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Lieber Kollege Stockhausen, im Zusammenhang mit den der Treuhandanstalt übertragenen volkseigenen Gütern wurden noch im August 1990 zwischen den damaligen Tarifpartnern auf der Grundlage eines Manteltarifvertrages Empfehlungen für den Abschluß betrieblicher Vereinbarungen über die Zahlung von Abfindungen ausgehandelt. Nach diesen konnten sich Abfindungen von in der Tat über 30 000 DM ergeben. Diese Sozialpläne wurden jedoch nicht von der Treuhandanstalt bestätigt. Inzwischen wurde ein neuer Tarifvertrag abgeschlossen. Die Neuregelung reduziert im Durchschnitt die Abfindungen, weil nunmehr die Abfindung auf maximal neun Monatsgehälter begrenzt wird. Dabei haben Um-, Fortbildungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Vorrang vor einer Abfindung. Mit dem Vorrang dieser Maßnahmen wird die Zahl der Anspruchsberechtigten reduziert. Im übrigen werden gegenwärtig Maßnahmen ergriffen, um bei allen Unternehmen der Treuhandanstalt den Umfang der Sozialplanleistungen auf Grund einheitlicher Kriterien nach oben zu begrenzen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage, bitte schön, Herr Abgeordneter Stockhausen.

Karl Stockhausen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002254, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, aus welchem Topf kamen die Mittel, die vorher ausbezahlt wurden? Kamen sie aus dem eigenen Vermögen der staatseigenen Betriebe, oder war das auch Geld, das im Rahmen der Aufbauhilfe in den neuen Ländern zur Verfügung gestellt wurde?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Die Mittel kamen aus dem Topf der Treuhandanstalt; denn diese Betriebe waren zuvor der Treuhandanstalt übertragen worden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine weitere Zusatzfrage.

Karl Stockhausen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002254, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es gibt aber keine Rückforderungsrechte von denen, die diese erhöhte Abfindung bekommen haben?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Nein. Es ist geleistet worden - wie ich eben versucht habe darzulegen - auf Grund einer gültigen tarifrechtlichen Absprache.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Danke schön. Weitere Fragen werden dazu nicht gestellt. Dann kommen wir zur Frage 14 des Abgeordneten Stockhausen: Welche Gründe sind maßgebend, daß an den früheren innerdeutschen Grenzübergängen die sehr verschwenderische Beleuchtung auch heute noch aufrechterhalten wird?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

An den früheren innerdeutschen Grenzübergängen sind teilweise Binnenzollämter eingerichtet, die rund um die Uhr internationalen Straßengüterverkehr aus den östlichen Nachbarstaaten abfertigen. Dies ist erforderlich, weil die Abfertigungsanlagen an den Grenzen zu Polen und zur CSFR noch nicht in einem Umfang ausgebaut sind, daß dort der gesamte eingehende Güterverkehr reibungslos abgefertigt werden könnte. Zur Verkehrssicherung ist eine Beleuchtung der Außenanlage dieser Zollämter erforderlich. Es wurde jedoch veranlaßt, daß die Beleuchtungsstärke künftig das notwendige Maß nicht übersteigt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage, des Abgeordneten Stockhausen.

Karl Stockhausen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002254, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es geht nicht nur um die Beleuchtung des Umschlags und der Kontrolle, sondern auch mitten auf der Straße sind die Beleuchtun556 gen bisher noch in sehr ausgiebiger Form vorhanden. Ist auch hier eine Reduzierung vorgesehen?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Es ist insgesamt eine Reduzierung vorgesehen. Aber wenn Sie näher fragen, müßte man differenzieren. Es gibt z. B. einen Übergang bei Wartha/Thüringen, wo Objektschutz von einer Firma betrieben wird, die diese Grundstücke erworben hat. Deswegen ist das da so ausgeleuchtet. Ich weiß aber nicht, ob Sie diesen konkreten Fall meinen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine weitere Zusatzfrage.

Karl Stockhausen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002254, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe das vor allen Dingen bei Wartha angesprochen, weil wir dort sehr oft waren.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Weitere Zusatzfragen werden nicht gestellt. Dann kommen wir zur Frage 15 des Abgeordneten Wallow: Wie beurteilt die Bundesregierung das Resultat des von der Stadt Bonn in Auftrag gegebenen Prognos-Gutachtens, nach dem die Verlegung des Sitzes von Deutschem Bundestag und Bundesregierung nach Berlin bis zu ca. 60 Milliarden DM kosten soll, und welche Konsequenzen werden daraus gezogen?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Herr Kollege Wallow, die Stellungnahme der Prognos AG zu den Kosten der Verlegung des Parlaments- und Regierungssitzes von Bonn nach Berlin ist der Bundesregierung übersandt worden. Die darin enthaltenen Berechnungen werden sorgfältig geprüft. Unabhängig davon ist die Frage des Sitzes von Parlament und Regierung von den zuständigen Organen zu entscheiden. Die Bundesregierung tritt dafür ein, daß diese Entscheidung möglichst rasch vom Gesetzgeber getroffen wird. Dabei wird sicherlich auch die Kostenfrage berücksichtigt werden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage, bitte schön.

Hans Wallow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002417, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung bisher eigene finanzielle Erhebungen im Hinblick auf einen möglichen Umzug von Bonn nach Berlin gemacht?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Nein. Die Bundesregierung hat solche Erhebungen nicht gemacht. Die von der Stadt Bonn und vom Land Nordrhein-Westfalen in Auftrag gegebene Stellungnahme kann aber eine durchaus geeignete Entscheidungsgrundlage sein.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine weitere Zusatzfrage, bitte.

Hans Wallow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002417, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wie beurteilt die Bundesregierung die Sozialverträglichkeit eines Umzuges von Bonn nach Berlin für die Betroffenen - dies ist immerhin ein sehr großer Personenkreis - und die wirtschaftlichen Schäden für die Stadt Bonn und das Umland?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Auch dazu enthält diese Stellungnahme der Prognos sehr gut verwertbare Erkenntnisse. In ihr sind gewisse Bereiche wie beispielsweise die schwer quantifizierbare Sozialverträglichkeit und die Notwendigkeit weiterer Infrastrukturkosten oder - worauf Ihre Frage ja auch zielt - insbesondere Wertschöpfungsverluste in der gesamten Region von Bonn und Umland bewußt nicht quantifiziert worden. Darüber werden also noch Untersuchungen im weiteren Verfahren anzustellen sein.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage des Abgeordneten Lüder.

Wolfgang Lüder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001390, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, wird die Bundesregierung bei den Überlegungen, die sie beim Nachvollzug dieses Papiers anstellen wird, die der Untersuchung zugrunde liegende pessimistische Prognose von Prognos teilen, daß alles, woraus man hier wegzieht, ersatzlos leer bleibt, oder wird die Bundesregierung Varianten des Ausgangsszenarios in ihre Überlegungen einbeziehen?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Herr Kollege Lüder, der Entscheidungsfindungsprozeß wird sicherlich noch sehr schwer sein. Dabei werden sicher auch die - wenn Sie so wollen - ganzen Sekundärwirkungen in die Berücksichtigung einbezogen werden müssen. Aber mein erster subjektiver Eindruck von diesem Gutachten ist: Es ist wirklich umfassend angelegt und kann eine sehr geeignete Entscheidungshilfe auch für Ihre Frage geben.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage des Abgeordneten Sperling.

Dr. Dietrich Sperling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, nachdem Sie uns namens der Bundesregierung versichert haben, daß der Gesetzgeber bald entscheiden wird, frage ich: Wie schnell wird denn die Bundesregierung zu einem Urteil kommen, was sie dem Gesetzgeber raten soll? ({0})

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Ich nehme an, daß es noch im Laufe dieses Jahres zu einem Vorschlag kommen wird. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Opel, eine Zusatzfrage.

Dipl. - Ing. Manfred Opel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung geneigt, bei ihren umfassenden Erwägungen in Betracht zu ziehen, daß in Berlin ohnehin Kosten für die Überwindung der Teilung anfielen, und ist sie bereit, diese in die Umzugsbetrachtungen einzubeziehen?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Selbstverständlich. Wie immer die Entscheidung auch ausfallen mag, die finanziellen und strukturellen Wirkungen für beide Standorte werden berücksichtigt werden müssen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Beucher.

Friedhelm Julius Beucher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ist Ihren des Lobes vollen Betrachtungen über das Prognos-Gutachten zu entnehmen, daß sich die Bundesregierung dieses Gutachten zu eigen macht?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Nein, das ist dem nicht zu entnehmen. Ich habe sehr bewußt und sehr gezielt die Einschränkung einer subjektiven Wertung gemacht, weil das Gutachten erst seit wenigen Tagen im Hause auf dem Tisch liegt und offiziell noch nicht umfassend geprüft worden ist. Ich habe mir lediglich die Mühe gemacht, mir in Vorbereitung auf diese Diskussion das Gutachten etwas vorzeitig und gut anzusehen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Schily.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kann ich Ihren Äußerungen entnehmen, daß im gegenwärtigen Zeitpunkt subjektive Erwägungen eine größere Rolle als objektive Gesichtspunkte spielen? ({0})

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Nein, das kann ich nicht bestätigen, Herr Schily.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Wir kommen zur Frage 16 des Abgeordneten Dr. Rose. - Der Abgeordnete ist nicht anwesend. Wir kommen zur Frage 17 der Abgeordneten Frau Caspers-Merk: Kann die Bundesregierung bestätigen, daß bei der Entscheidung über die weitere Nutzung von Liegenschaften, die durch den Abzug der französischen Streitkräfte frei geworden sind, in Baden-Baden in einem konkreten Fall die Städtische Wohnungsbaugesellschaft trotz ihres Bemühens, diese Liegenschaft für den sozialen Wohnungsbau zu erwerben, gegenüber einem privaten Interessenten nicht zum Zuge gekommen ist?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Sind Sie einverstanden, daß ich zugleich Frage 18 beantworte?

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Die Fragestellerin ist einverstanden. Ich rufe daher auch die Frage 18 der Abgeordneten Frau Caspers-Merk auf: Wie vereinbart die Bundesregierung dieses Verhalten der Bundesvermögensverwaltung mit ihrer Versicherung, daß bei einem bestehenden kommunalen Bedarf entsprechende Liegenschaften bei Nutzung für den sozialen Wohnungsbau bevorzugt und mit einem Nachlaß von bis zu 15 % von ihrem Verkehrswert abgegeben werden?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Frau Kollegin Caspers-Merk, der Bund hat sich erst entschlossen, ein von den französischen Streitkräften kurzfristig freigegebenes Wohngebäude zum Verkauf an Dritte öffentlich auszuschreiben, nachdem mit der Stadt Baden-Baden geführte Verhandlungen nicht einvernehmlich abgeschlossen werden konnten. Der Bund wäre bereit gewesen, das Gebäude im übernommenen Zustand an die Stadt sofort zu vermieten und den Mietzins so lange auf 4 DM pro Quadratmeter abzusenken, bis sich die Herrichtungskosten der Stadt amortisiert hätten. Dies lehnte die Stadt ebenso ab wie das Angebot, die Liegenschaft zum Verkehrswert zu erwerben. Ein Kaufantrag der Städtischen Wohnungsbaugesellschaft lag nicht vor. Über die öffentliche Ausschreibung wurde die Stadt rechtzeitig unterrichtet; sie hat sich an der Ausschreibung nicht beteiligt. Eine von der Stadt getragene gemeinnützige Baugenossenschaft hat ein erheblich unter dem Höchstgebot liegendes Gebot abgegeben. Die Liegenschaft soll zum Höchstgebot an eine private Wohnungsbaugesellschaft veräußert werden. Dieses Höchstgebot entspricht dem nach der Bundeshaushaltsordnung zu fordernden vollen Wert.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Glauben Sie nicht, daß damit ein Präzedenzfall geschaffen wird, der vielen Kommunen Sorge bereitet? Denn es ist doch so, daß viele Kommunen vom Truppenabzug unmittelbar betroffen sind und auf diesen Grundstücken sozialen Wohnungsbau verwirklichen wollen. Angesichts dieser einen Entscheidung, die auch im Südwestfunk ein nachhaltiges Echo fand, hat man den Eindruck, daß von der Zusage abgerückt wird, diese Liegenschaften für den sozialen Wohnungsbau 15 % unter dem Verkehrswert zur Verfügung zu stellen.

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Präjudizielle Auswirkungen werden von diesem Einzelfall nach Meinung der Bundesregierung überhaupt nicht ausgehen können. Denn was sollte der Bund noch anderes tun? Schon vor der Freigabe des Grundstückes durch die französischen Streitkräfte wurden - unter Einschluß von Ortsbesichtigungen - Verhandlungen mit der Stadt geführt. Die Stadt hat sich dem Angebot, das ja doch wohl fair war - 4 DM pro Quadratmeter so lange, bis das Grundstück amortisiert sein würde -, verweigert. Auch hat sie dann öffentlich nicht mitgeboten. So gesehen wird es dabei bleiben, daß bei der Verfügung über solche Liegenschaften zuerst grundsätzlich mit den Belegenheitsgemeinden Kontakt aufgenommen wird, um zu prüfen, ob man zunächst den Ansprüchen der Belegenheitsgemeinden gerecht werden kann.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Sperling.

Dr. Dietrich Sperling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, da Sie den Gesetzgeber namens der Bundesregierung in Frageform gefragt haben, was die Bundesregierung in diesem Fall anderes tun sollte, würde ich Ihnen gern eine Antwort in Frageform zukommen lassen mit der Frage, ob Sie denn - angesichts der bedauerlichen Umstände, die in diesem Fall herbeigeführt worden sind - bereit sind, die Bundeshaushaltsordnung zu ändern, und dem Finanzministerium schon einen entsprechenden Wunsch vorgetragen haben.

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Die Bundeshaushaltsordnung hat schon zwei Änderungen erfahren, und zwar zunächst die Änderung, daß der Bund unbebaute Grundstücke zum Verkehrswert mit einem Abschlag von 15 % veräußern darf. Des weiteren ist, wie Sie sicher wissen, ein neuer Haushaltsvermerk für das gemeinsam mit den Ländern zu tragende Studentenwohnraumprogramm vorgesehen, das sich auf bebaute und unbebaute Grundstücke beziehen wird mit derselben Maßgabe: Verkehrswert mit einem Abschlag von 15 %.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Wir kommen zur Frage 19 des Abgeordneten Erler: In wie vielen Fällen hat die Bundesvermögensverwaltung bereits bisher privaten Interessenten den Vorzug gegenüber kommunalen Wohnungsbaugesellschaften gegeben beim Erwerb von Liegenschaften, die durch den Abzug von alliierten Streitkräften oder durch Standortentscheidungen im Zusammenhang mit dem künftig reduzierten Umfang der Bundeswehr frei geworden sind?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Herr Kollege Erler, nach den Verwaltungsvorschriften des Bundes sind alle für eine Veräußerung vorgesehenen bundeseigenen Grundstücke vor der Einleitung von Verhandlungen mit sonstigen Bewerbern zunächst den Belegenheitsgemeinden bekanntzugeben. Damit soll den Gemeinden ermöglicht werden, zu prüfen, ob sie das Grundstück erwerben wollen oder ob Gemeindeinteressen gegeben sind, die eine Veräußerung an einen bestimmten Bewerber sachdienlich erscheinen lassen. Den Vorstellungen der Gemeinden ist im Rahmen der Veräußerungsgrundsätze des Bundes zu entsprechen, wenn die Gemeinde das Grundstück unmittelbar zur Durchführung der ihr obliegenden Aufgaben benötigt. Zu diesen Aufgaben zählt auch die Errichtung von Wohnungen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus durch die kommunale Wohnungsbaugesellschaft. Ein Verkauf an die Gemeinde oder an eine von ihr getragene oder kontrollierte Wohnungsbaugesellschaft läßt sich allerdings nur verwirklichen, wenn ein Kaufpreis erzielt werden kann, der dem Verkehrswert des Grundstücks entspricht. Ein Preisnachlaß - ich durfte schon darauf hinweisen - in Höhe von 15 des Verkehrswertes kann gewährt werden, wenn das Grundstück für den sozialen Wohnungsbau oder den von Bund und Ländern gemeinsam geförderten Studentenwohnraumbau verwendet werden soll. Falls auf der genannten Grundlage mit der Gemeinde oder der von ihr benannten kommunalen Wohnungsbaugesellschaft eine Einigung nicht zustande kommt, sind andere Kaufbewerber zu berücksichtigen. Angaben darüber, in wie vielen Fällen die Bundesvermögensverwaltung andere Interessenten als kommunale Wohnungsbaugesellschaften bei der Veräußerung bundeseigener Liegenschaften berücksichtigt hat, liegen der Bundesregierung nicht vor. Die Ermittlung dieser Daten durch Nachfrage bei den örtlich zuständigen Bundesvermögensämtern würde einen Verwaltungsaufwand verursachen, der nicht zu vertreten wäre.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Erler, bitte schön.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, darf ich Sie so verstehen, daß für die Bundesregierung die Frage, wie viele dieser Liegenschaften tatsächlich zur Minderung der Wohnungsnot den hiervon betroffenen Gemeinden zur Verfügung gestellt werden können, kein besonderes Anliegen ist?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Doch, das ist schon ein Anliegen für uns. Man wird abzuwägen haben, ob man trotz des immensen Verwaltungsaufwandes - das war so schnell nicht zu leisten; wir haben ja eine Vielzahl von Vermögensämtern - diese Nachfrage noch nachholt. Ich stelle das in Aussicht.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Erler.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, darf ich Ihre Antwort so verstehen, daß Sie bereit sind, mir eine Aufstellung der Fälle zur Verfügung zu stellen, in denen bisher - und das entspricht der von mir gestellten Frage - die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften, die sozialen Wohnungsbau betreiben wollen, trotz eines Interesses nicht zum Zuge gekommen sind und andere Anbieter oder Kaufwillige zum Zuge gekommen sind?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Ich könnte mir denken, Herr Kollege - ohne daß ich das verbindlich sagen will - , daß man in einem vereinfachten Verfahren - das sage ich auch als alter Verwaltungsmann - diese Daten von den Vermögensämtern abruft, indem man nur die Sache problematisiert und dazu Erklärungen wünscht. Vielleicht sind Sie damit einverstanden. Ob das eine lückenlose Erfassung gewährleistet, darüber müssen wir uns noch verstndigen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Müntefering.

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, diese Geschäfte werden auf der Grundlage von Vorschriften abgewickelt, die für ganz andere Vorgänge, zumindest für ganz andere Dimensionen vorgesehen waren. Könnte sich die Bundesregierung der Vorstellung nähern, daß man eine besondere Vereinbarung trifft, die speziell regelt, in welcher Weise die Vielzahl von Grundstücken, die bisher militärisch genutzt wurden, aber nicht mehr genutzt werden müssen, den Kommunen für gemeinnützige Zwecke überlassen werden könnten, also eine Sonderregelung speziell für diese Frage?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Herr Kollege Müntefering, ich sehe im Augenblick für eine Sonderregelung keinen Bedarf. Denn schon heute gilt der Grundsatz, daß die Belegenheitskommune vorrangig Zugriff auf die frei werdenden Immobilien hat. Wenn Sie allerdings fragen, ob der Bund zu einem größeren finanziellen Engagement bereit sein könnte, dann muß ich das verneinen; denn dazu besteht kein Bedürfnis. Das ist eine Aufgabe der Länder. Dafür zahlen wir den Ländern Finanzhilfen, und dafür verzichten wir auch auf erhebliche Rückflußmittel, wie Ihnen bekannt ist.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Iwersen. Bitte sehr, Frau Abgeordnete.

Gabriele Iwersen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000998, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, es gibt auch Kommunen, die bei einer Reduzierung der Standorte vorrangig wirtschaftliche Probleme zu bewältigen haben. Ist die Bundesregierung bereit, aus dem Bundesvermögen Gelände oder Liegenschaften auch für gewerbliche Nutzung mit entsprechenden Abschlägen zur Verfügung zu stellen?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Nein. Das ergibt sich aus der soeben gegebenen Antwort.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Opel.

Dipl. - Ing. Manfred Opel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, Ihnen ist sicherlich nicht verborgen geblieben, daß vor allem in den fünf neuen Bundesländern in erheblichem Ausmaße Liegenschaften aufgegeben werden, Hunderttausende von Hektar. Es sind allein über 1 100 der ehemaligen NVA und erhebliche Flächen von sowjetischen Truppen, die sich in Kürze zurückziehen werden. Es ist zu befürchten, daß diese Liegenschaften ungenutzt bleiben, wenn die Gemeinden nicht die Finanzkraft haben - und das gilt auch bei uns in der Fläche -, um diese Liegenschaften zu erwerben. Im Einzelfall würde sich dann möglicherweise auch kein gewerblicher Erwerber finden, der die Eigentumsrechte ausüben könnte und wollte. Könnte die Bundesregierung in diesem Fall - ich erinnere an das Gespräch im Finanzausschuß - nicht regional differenziert Abschläge gewähren, die 15 % wie im Falle von Abrüstungsfolgen übersteigen? Gedacht war ja an 50%.

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Herr Kollege Opel, das immense Areal, das der Bundesvermögensverwaltung, dem Bund in den fünf neuen Bundesländern zugewachsen ist, muß, wenn es gewerblich oder sonstwie genutzt werden soll, zunächst einmal der gemeindlichen Planung unterworfen werden. Wenn das geschehen ist, wenn das also für Gewerbezwecke, wie Sie meinten, oder auch für Wohnraumzwecke - was Gegenstand der vorherigen Fragen war - verwendet wird, dann greifen unsere vielschichtigen Förderinstrumentarien: die regionale Wirtschaftsförderung, das Existenzgründungsprogramm, die ERP-Programme und und und. Das wird dann ausreichend sein. Konkret: Der Bund ist nicht bereit - und kann bei der verfassungsrechtlichen Situation auch nicht bereit sein - , diese Vermögensgegenstände unzuständigerweise an Dritte unentgeltlich oder mit erheblichen Abschlägen zu übertragen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Sperling.

Dr. Dietrich Sperling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, da Sie Herrn Müntefering gesagt haben, es gebe unter Sozialstaatsgesichtspunkten keinen Bedarf für eine Sonderregelung, was die Abgabe von Wohnungen aus Bundesvermögen in andere Hände angeht, möchte ich Sie bitten, Ihren Blick nach rechts zu wenden. Dort sitzt der Parlamentarische Staatssekretär des Wohnungsbauministeriums Echternach, der den sozialen Wohnungsbau tief in den Keller fahren half. Lassen Sie sich dadurch überzeugen, daß die Bundesregierung in Ihrer Gesamtheit dieser törichten Auffassung ist? ({0})

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Herr Kollege, ich weise die etwas spitze Formulierung mit aller Freundlichkeit ein wenig zurück. ({0}) Ich darf wiederholen: Wenn für den sozialen Wohnungsbau Bedürfnisse vorhanden sind, werden diese Bedürfnisse gegenüber den Belegenheitsgemeinden und ihrem meist öffentlich-rechtlichen Wohnungsbaugenossenschaften vorrangig befriedigt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Lucyga.

Dr. Christine Lucyga (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001381, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, Sie hatten eben die Güte, aus dem Nähkästchen zu plaudern und uns zu erzählen, daß dem Bund durch das Vermögen der ehemaligen DDR ein enormer Vermögenszuwachs zugekommen ist. Wäre es möglich, bei der Aufrechnung der Kosten des Aufbaus für die neuen Länder dieses Vermögen mit zu berücksichtigen?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Selbstverständlich. Das entspricht auch den Grundintentionen des Einigungsvertrages und des grundlegenden Vertragswerks aus dem vergangenen Jahr, daß das Verwaltungsvermögen primär auch für die neuen Länder zur Verfügung zu stellen ist.

Dr. Christine Lucyga (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001381, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Könnte diese Kostenaufrechnung unter Umständen etwas mehr in die öffentliche Debatte gebracht werden, um das Problem etwas zu relativieren?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Wir wollen uns gerne darum bemühen. Die Flächen, die dem Bundesfinanzminister mit seiner Bundesvermögensverwaltung zugewachsen sind, sind allein im land- und forstwirtschaftlichen Bereich größer als die Gesamtflächen, die wir in den westlichen Ländern in der Bundesvermögensverwaltung zu verwalten haben.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Abgeordnete, ich bekäme großen Ärger, wenn ich jetzt versäumte, Sie auf die Regeln der Geschäftsordnung aufmerksam zu machen. Sie hatten im Grunde genommen nur eine Zusatzfrage. Aber der freundliche Staatssekretär hat trotzdem geantwortet. Das wollen wir ihm hoch anrechnen. Herr Abgeordneter Stockhausen.

Karl Stockhausen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002254, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, würden Sie mir - das ist das erste - zustimmen, daß die Verantwortlichen der Neuen Heimat den sozialen Wohnungsbau zu Tode geritten haben? Und wie beurteilen Sie zum zweiten das Verhalten der Neuen Heimat München, einen erheblichen Teil des sozialen Wohnungsbaus einem privaten Makler zu verkaufen, damit der aus dem sozialen Wohnungsbau aussteigen kann?

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Stockhausen, der Sachzusammenhang zur Frage muß gegeben sein. Es gehört schon verdammt viel Interpretationsfähigkeit dazu, den direkten Sachzusammenhang herzustellen. Ich stelle es dem Staatssekretär frei, kurz zu antworten. Aber ich wäre dankbar, wenn auch Sie künftig die Spielregeln beachten würden.

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Ich will dazu nur den einen Satz sagen, daß wir in der Beurteilung der skandalösen Vorgänge bei der Neuen Heimat ja weitgehend übereinstimmen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Wir kommen zur Frage 20 des Abgeordneten Erler: Wie wird die Bundesregierung sicherstellen, daß Liegenschaften, die durch den Abzug von alliierten Streitkräften oder durch Standortentscheidungen im Zusammenhang mit dem künftig reduzierten Umfang der Bundeswehr frei geworden sind, tatsächlich bevorzugt zur Lösung von Engpässen beim Angebot von Sozialwohnungen in den Kommunen bereitgestellt werden? Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Ob durch Truppenreduzierungen freiwerdende Liegenschaften für den sozialen Wohnungsbau verwendet werden können, hängt in erster Linie davon ab, ob die Belegenheitsgemeinde als Planungsträger im Bebauungsplan eine solche Nutzung zuläßt. Der Bund hat auf die Bauleitplanung der Gemeinden bekanntlich keinen Einfluß.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ich möchte Sie noch einmal fragen, in welcher Weise die Bundesregierung ihre löbliche Absicht umsetzen will, über die Bundesvermögensverwaltung und deren Praxis nun tatsächlich die Wohnungsnot in den Gemeinden zu lindern. Ich frage nach den Anweisungen an die Bundesvermögensverwaltung, hier dem Bedarf von Kommunen im Einzelfall entgegenzukommen. Welche Anweisungen gibt es da?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Es gibt in diesem Zusammenhang der Übertragung bundeseigener Liegenschaften die schon von mir erwähnte Anweisung, daß zunächst und zuvörderst mit der Belegenheitsgemeinde ob ihrer Ansprüche - oder auch für Dritte, wie eben schon einmal erwähnt - Kontakt aufzunehmen und sie zum Angebot aufzufordern ist.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, wir haben vorhin am Beispiel Baden-Baden gehört, daß es zu konkurrierenden Angeboten und im Einzelfall auch zu Schwierigkeiten beim Abschluß von solchen Verträgen mit Gesellschaften kommen kann, die eigentlich Wohnungen errichten wollen. Welche Anweisung hat die Bundesvermögensverwaltung für diese Fälle, in denen konkurrierende Angebote vorliegen? Wie läßt sich da der politische Wille umsetzen, den Kommunen tatsächlich mehr Wohnraum zu verschaffen?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Herr Kollege, Sie nehmen es mir bitte nicht übel, wenn ich Ihnen sage, daß der Hinweis auf den Fall Baden-Baden unzutreffend ist. Dort lag eben kein konkurrierendes Angebot vor. ({0}) - Nein, die Stadt hat kein Angebot gemacht. Erst ist verhandelt worden, dann ist öffentlich ausgeschrieben worden - daran hat sich die Stadt nicht beteiligt - , und dann ist die städtische Wohnungsbaugenossenschaft gekommen. Sie hat aber ein Angebot gemacht, das so gering war, daß es nicht mehr in der Konkurrenz lag. So war der Tatbestand. Jetzt zurück zum Kern Ihrer Frage. Eine solche Konkurrenzsituation wird es meiner Ansicht nach bei den geltenden Verwaltungsvorschriften nicht geben können, weil die Kommune und auch ihre Wohnungsbaugenossenschaft bei gleichwertigen Angeboten immer den Vorrang haben.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Dann kommen wir zu Frage 21 des Abgeordneten Beucher: Ist die Bundesregierung bereit, auf die Treuhand einzuwirken, damit anstelle des Feriendienstes ({0}), der größtenteils als einziger Anbieter die Verpflegung der Gäste vor Ort sicherstellte, nun andere Unternehmen diese Aufgabe übernehmen, z. B. indem die Ansiedlung kleiner und mittlerer Betriebe unterstützt wird? Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Die Feriendienst GmbH wird von der Treuhandanstalt als Teil des Vermögens des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes treuhänderisch verwaltet. Für die Veräußerung von Teilen der Feriendienst GmbH ist eine Reihe rechtlicher Fragen in Zusammenarbeit mit der „Unabhängigen Kommission für die Erfassung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen in der ehemaligen DDR" zu klären. Die Treuhandanstalt ist dazu übergegangen, im Rahmen ihrer treuhänderischen Verwaltung die Feriendienst-Objekte zu verpachten. Sie hat bislang rund 100 Pachtverträge abgeschlossen und befindet sich mit zahlreichen weiteren Bewerbern in aussichtsreichen Verhandlungen. Grundsätzlich schließt sie Verträge nur mit den Bewerbern ab, die die Gewähr für eine ordnungsgemäße Führung des Geschäftsbetriebes und die Aufrechterhaltung der Arbeitsplätze bieten, zu Investitionen bereit sind und starkes Interesse am endgültigen Erwerb der Liegenschaften haben.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage, bitte schön, Herr Abgeordneter Beucher.

Friedhelm Julius Beucher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, welche der Unternehmen, die sich organisatorisch von der FEDIZentrale bereits gelöst haben, laufen nun Gefahr, in diesen Konkurs hineingezogen zu werden? Inwieweit vermögen Sie in diesem Zusammenhang die Sorgen insbesondere vieler thüringischer Bürgerinnen und Bürger zu teilen, daß jetzt nach der Steuerlüge der Bundesregierung auch noch die Treuhandlüge folgen könnte?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Von einer Treuhandlüge kann überhaupt nicht die Rede sein. ({0}) - Nein, entschuldigen Sie, ich habe gestern in der Regierungsbefragung schon gesagt, daß Sie, was die Steuerlüge betrifft, auf dem falschen Bein hurra schreien. Zurück zur „Treuhandlüge". Ich hatte ganz gezielt und bewußt gesagt, daß die Treuhandanstalt diese Vermögenswerte nur treuhänderisch verwaltet und dafür sorgt, daß sie auf der einen Seite jetzt in diesen neuen Sparten werbend am Markt tätig sein können und auf der anderen Seite nicht dem Verfall ausgesetzt sind. Das sind ja teilweise große Hotelanlagen, die der Pflege bedürfen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Weitere Zusatzfrage, bitte sehr.

Friedhelm Julius Beucher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, welche Schritte gedenkt die Bundesregierung zu tun, um Betriebe, die sich bereits von der FEDI gelöst und ein eigenes unternehmerisches Konzept entwickelt haben, wirkungsvoll zu unterstützen?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Ich hatte eben bereits gesagt, daß schon im Vorfeld der Verpachtung - wohlgemerkt: durch den Treuhänder; wir sind ja noch nicht Eigentümer - immer auf die erkennbare Absicht des Pächters Rücksicht genommen wird, diesen Betrieb in der Zukunft weiterzuführen, ihn zu übernehmen und darin zu investieren.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Danke schön. Ich rufe Frage 22 des Abgeordneten Dr. Sperling auf: Wie viele der von der Treuhandanstalt durch Verkauf privatisierten Betriebe sind von inländischen ({0}) und von ausländischen Unternehmen bzw. Großunternehmen und von kleinen/mittleren Unternehmen erworben worden?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Herr Kollege Dr. Sperling, nach Auskunft der Treuhandanstalt sind von der Treuhandzentrale in Berlin - also ohne ihre Niederlassungen - bislang insgesamt rund 260 Unternehmen sowie mehr als 15 000 Handelseinrichtungen und Gaststätten privatisiert worden. Käufer der Unternehmen waren zu knapp zwei Dritteln Großunternehmen, zu einem Drittel kleinere und mittlere Unternehmen. Von den Käufern entfallen rund 16 v. H. auf die neuen Bundesländer, ({0}) der Rest auf die alten Bundesländer. ({1}) Lediglich in rund 15 Fällen wurden ausländische Unternehmen, u. a. aus Großbritannien, Frankreich, Schweden und Norwegen, zu Käufern. Insgesamt hat die Treuhandanstalt-Zentrale zusammen mit ihren Niederlassungen 700 ehemals volkseigene Unternehmen privatisiert und einen Privatisierungserlös von brutto über 3 Milliarden DM erzielt. Eine Aufteilung nach verschiedenen Käuf ergruppen dieser gesamten Privatisierungen ist mangels statistischer Unterlagen derzeit nicht möglich; deshalb auch ergänzend diese Unterscheidung zwischen der Zentrale und ihren Niederlassungen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, Herr Dr. Sperling.

Dr. Dietrich Sperling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, muß man davon ausgehen, daß die Tortenstücke und die Rosinen des von der Treuhand verwalteten Vermögens weg sind?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Nein, das kann man wohl nicht. Allein schon aus der Tatsache, daß die Privatisierung der kleinen Unternehmungen nahezu abgeschlossen ist, ersehen Sie, daß von einer Rosinenpickermethode nicht die Rede sein kann. Bei den größeren Unternehmen darf es das auch nicht geben; dieses Thema wird ja gleich noch Gegenstand der Aktuellen Stunde sein. Hierbei müssen wir über Instrumentarien nachdenken, wie man sanierungsfähige Teile, die im Augenblick vielleicht noch nicht privatisierbar sind, erhält, um sie demnächst breit anbieten zu können, damit die Treuhandanstalt nicht auf den notleidenden Unternehmen hängenbleibt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Staatssekretär, Sie überraschen mich ein wenig: Sie kündigen eine Aktuelle Stunde an, die bei mir noch nicht angemeldet ist und die, wenn sie beantragt wird, unterstellt, daß Sie nicht ausreichend Auskunft geben. ({0}) Wenn ich das richtig beurteile, handeln Sie sich damit unter Wert.

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Verehrter Herr Präsident, ich darf mich höflich entschuldigen. Mir ist diese Erkenntnis erst auf dem Weg hierher zugegangen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Dr. Sperling, eine Zusatzfrage.

Dr. Dietrich Sperling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben richtig erkannt, daß Ihre Antwort unbefriedigend ist; das ist mit der Vorwegnahme der Ankündigung einer Aktuellen Stunde gewissermaßen nachgewiesen.

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Nein.

Dr. Dietrich Sperling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte gerne wissen, ob denn auch in den Betrieben, die die Treuhand inzwischen abgegeben hat und deren Zahl Sie genannt haben, eine große Zahl von versteckten Arbeitslosen steckt; denn nach ihrer eigenen Auskunft im Wirtschaftsausschuß des Bundestages bewirkt die Treuhand zur Zeit, daß die Arbeitslosenziffer um 1 bis 2 Millionen - ich gebe zu, das ist eine große Schwankungsbreite, aber immerhin - kleiner ist, als sie wäre, wenn es die Treuhandaktivitäten mit ihren Zahlungen nicht gäbe. Deswegen möchte ich gerne wissen: Wieviel versteckte Arbeitslosigkeit saß wohl in den schon veräußerten Betrieben?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Zunächst darf ich zu Ihrer ersten Bemerkung sehr höflich anmerken: Meine Höflichkeit, aus sitzungsökonomischen Gründen auf anschließende Vorgänge hinzuweisen, dürfen Sie bitte nicht als Eingeständnis einer unbefriedigenden und ausweichenden Antwort werten. Zur Sache selber: Ich durfte Ihnen die Zahl der inzwischen privatisierten Unternehmen nennen und darf Ihnen sagen, daß das inzwischen schon zu privaten Arbeitsplätzen in einer Größenordnung von 290 000 geführt hat. Daß bei der weiteren Privatisierung mit Sicht auf die Marktlage und die mangelnde wirtschaftliche Führung dieser Unternehmen in der Vergangenheit ganz unstreitig weitere Arbeitsplätze freigesetzt werden müssen, ist eine allgemein bekannte Tatsache.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Weiler.

Barbara Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, zuerst möchte ich eine Bestätigung, ob ich richtig gehört habe, daß 16 % der Neuinvestoren aus den neuen Bundesländern, d. h. 84 % aus dem Westen kommen. - Sie nicken. Das bestätigt unsere Sorge, daß die Meinung der Bevölkerung, der Westen übernehme praktisch große Teile des Ostens, zum Teil doch zutreffend ist. Können Sie vielleicht die Ursache erklären, warum sich so wenige Investoren aus dem Osten bereit erklärt haben? Liegt das nur am dortigen Kapitalmangel, oder gibt es noch andere Gründe, warum sich so wenige Ostdeutsche zu Investitionen bereit erklärt haben?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Die Zahl von 16 % bezog sich wohlgemerkt nur auf die großen Unternehmen. Bei den kleinen und mittleren Betrieben, bei Einzelhandelsunternehmen und auch Apotheken sind weit über 70 % von Bürgern aus den neuen Ländern übernommen worden. Zum zweiten Teil Ihrer Frage: Natürlich fehlt es drüben auch am Kapital, um die großen Unternehmen zu übernehmen. Aber auf der anderen Seite sind so viele größere Unternehmen noch gar nicht privatisiert. So schnell ging das alles nicht. Sie stehen noch zur Privatisierung an. Wir hoffen sehr, daß unsere Landsleute und die Wirtschaft aus den neuen fünf Ländern an diesem Privatisierungsprozeß nachhaltig beteiligt sein werden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Schwanhold.

Ernst Schwanhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002122, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, neben dem Prinzip Hoffnung, welches Sie uns hier verkauft haben, gibt es noch das Prinzip Verantwortung. Danach will ich Sie gerne fragen. Von den 8 000 Betrieben, die ehemals im Besitz der Treuhand waren, sind annähernd 7 500 mit 4 Millionen Arbeitnehmern zur Zeit noch bei der Treuhand. Herr Wild hat gesagt, daß davon mindestens 2 Millionen Arbeitnehmer in Arbeitslosigkeit verfallen würden. Das bedeutet, daß 50 % der Betriebe geschlossen werden müssen. Was gedenken Sie dagegen zu tun?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Zunächst erhoffen wir uns vom Gesetz zur Beseitigung von Hemmnissen bei der Privatisierung von Unternehmen, das noch Ende März im Gesetzblatt stehen soll, daß der Privatisierungsprozeß ganz nachhaltig beschleunigt werden kann. Zum anderen hat die Treuhand ein breites Instrumentarium erdacht, wie sie auf sozial verträgliche Weise auf längere Sicht sanierungsfähige, aber im Augenblick noch nicht privatisierbare Betriebe weiterführen kann. Im übrigen schließt sie eine ganze Reihe von Sozialplänen ab.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Opel.

Dipl. - Ing. Manfred Opel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, darf ich aus Ihrer für mich überraschenden Antwort, daß die Rosinen noch nicht verkauft seien, schließen, daß die Treuhand noch Rosinen hat?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Ja. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, Herr Dr. Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Staatssekretär, an Ihre Bemerkung, daß bisher relativ wenig ausländisches Kapital an den Privatisierungen beteiligt ist, möchte ich die Frage anschließen: Ist es so, wie in der Volkskammer einmal gesagt worden ist, daß das Kapital ein so furchtbar scheues Reh ist und sich nicht traut, in die DDR zu kommen, oder liegt es vielleicht daran, daß die Treuhand ein Interesse daran hat, den Wert, der dort nun einmal vorhanden ist, ausschließlich oder überwiegend dem westdeutschen Kapital zu übereignen?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Bei unserer marktoffenen Wirtschaftspolitik sind der Treuhandanstalt und genauso der Bundesregierung in- und ausländische Investoren in gleicher Weise lieb und wert.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Dr. Jens, Sie haben jetzt die Möglichkeit, eine Zusatzfrage zu stellen.

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, stimmen Sie der Aussage des Justizministeriums, also eines Ministeriums, das mit dem Ihren befreundet ist, zu, daß die Privatisierung überhaupt nicht möglich ist, weil das entsprechende Personal gar nicht vorhanden ist?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Ja, jedenfalls nicht so schnell. Wir wissen - ich persönlich möchte das besonders hervorheben - , daß das primäre Problem seit Monaten nicht das fehlende Geld, sondern die mangelnde Veranstaltungskraft leistungsfähiger Verwaltungen auf allen Ebenen ist. Da Sie auf den Justizminister Bezug nehmen: Deswegen haben wir gerade gestern im Wirkungsbereich des Bundesministers der Justiz erste Maßnahmen eingeleitet. In anderen Bereichen - bei den Kommunen - wurden, wie Sie wissen, entsprechende Maßnahmen getroffen. Auch bei uns wurden derartige Maßnahmen ergriffen, um den dringenden Bedarf an qualifiziertem Verwaltungspersonal alsbald befriedigen zu können.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage des Abgeordneten Schulz ({0}).

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, könnten Sie etwas erhellen, warum bisher so wenige ausländische Käufer zum Zuge gekommen sind bzw. warum sich das Interesse im Ausland in Grenzen hält?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Nein, aber bitte berücksichtigen Sie, daß dieser Privatisierungs- und Repriviatisierungsprozeß ja auch erst seit einigen Monaten angelaufen ist. Ich darf wiederholen: Wir sind guter Hoffnung, daß sich bald auch mehr ausländische Investoren für die fünf neuen Bundesländer interessieren werden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Wollen Sie noch eine Zusatzfrage stellen? - Bitte schön, Frau Dr. Skarpelis-Sperk.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, nachdem die Arbeitsgerichte nach Auskunft im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung etwa Ende des Jahres einigermaßen arbeitsfähig sein werden, frage ich Sie: Wann schätzen Sie, daß die nötigen Justizdienste imstande sein werden, Dienstleistungen für die Privatisierung zu erbringen? Sie haben dies soeben mit dem Wort „alsbald" tituliert. Könnten Sie einen Hauch präziser werden?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Nur sehr ungern, ({0}) weil nur sehr schwer absehbar ist - das hat auch der Kollege Kinkel gestern hier im Hause erklärt - , wie sich unser außerordentlich attraktives Programm gerade für den Bereich juristischer Kollegen in der Praxis tatsächlich auswirken wird. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Erstens haben Sie keine zweite Zusatzfrage, und zweitens hat der Staatssekretär schon zu Recht darauf hingewiesen, daß man schon sehr viel Phantasie braucht, um den Sachzusammenhang zur ursprünglichen Frage noch herstellen zu können. ({0}) Deswegen rufe ich nunmehr Frage 23 des Abgeordneten Dr. Sperling auf: Worin liegen die Hauptschwierigkeiten für die Treuhandanstalt bei der Privatisierung ({1}) ihrer Betriebe bzw. ihrer Grundstücke?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Neben der schwierigen wirtschaftlichen Situation vieler Unternehmen in den neuen Bundesländern wurde die Privatisierung und Reprivatisierung bislang durch Rechtsunsicherheiten bei der Anwendung des Gesetzes zur Regelung offener Vermögensfragen behindert. Mit dem von der Bundesregierung eingebrachten Gesetz zur Beseitigung von Hemmnissen bei der Privatisierung von Unternehmen und zur Förderung von Investitionen werden Investitionen in den neuen Bundesländern nunmehr erleichtert und wird die ins Stocken geratene Rückgabe enteigneter Unternehmen an investitionswillige Alteigentümer wieder in Gang gesetzt. Wichtig ist, daß die mit der Bearbeitung und Abwicklung beauftragten Behörden in den neuen Bundesländern diesen rechtlichen Rahmen in der Praxis umsetzen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, Herr Dr. Sperling, bitte schön.

Dr. Dietrich Sperling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, haben Sie Verständnis für die Auffassung, daß das von der Bundesregierung vorgelegte Gesetz als Paragraphengebilde überhaupt keine Hemmnisse beseitigt, sondern eher als Gesetz zur Schaffung eines Vollbeschäftigungsprogramms für pensionierte Juristen und für Rechtsanwälte und Notare dienen wird und uns langwierige Prozesse bescheren wird, so daß es zu der Privatisierung mit Hilfe dieses Gesetzes auf absehbare Zeit nicht kommt?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Herr Kollege Sperling, das Gesetz ist in der Schmiede. Sie sind herzlich gerne aufgefordert, Ihre Beiträge dazu zu leisten, daß das Gesetz auch den Erfolg haben wird, den wir uns von ihm erhoffen. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Sperling.

Dr. Dietrich Sperling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, haben Sie nicht auch den Eindruck, daß es, wenn man dieses Gesetz erst jetzt vorlegt und erkennt, daß die Bundesregierung seit anderthalb Jahren geschlafen hat, geradezu blasphemisch wirkt zu erklären, daß man nach einem so langen Schlaf „alsbald" eine Privatisierung erwarte?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Ich habe diesen Eindruck nicht. Im übrigen waren wir vor anderthalb Jahren noch sehr unsicher darüber, ob wir die Wiedervereinigung überhaupt erlangen würden. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Schwanhold, bitte schön.

Ernst Schwanhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002122, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir darin zu, daß es neben den gesetzlichen Hemmnissen auch Hemmnisse anderer Art gibt, nämlich dergestalt, daß sich zu den alten Seilschaften möglicherweise neue Beziehungen gebildet haben, die im Zuge der Privatisierung auch gerne „Marktbereinigungen" vornehmen möchten?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Korrumpierten Seilschaften ist leider eigen, daß sie sich über das ursprüngliche Maß hinaus auch noch ausdehnen. So muß ich Ihnen leider zugestehen, daß ich Ihre Frage nicht einfach mit Nein beantworten kann.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage des Abgeordneten Grünbeck.

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, würden Sie mir zustimmen, daß der Kollege Sperling der Regierung den Vorwurf macht, geschlafen zu haben, während er mit seinen Vorschlägen noch immer schläft?

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, ich mache Sie auf unsere Geschäftsordnung aufmerksam, wonach Dreiecksfragen nicht zulässig sind, so reizvoll das für Sie auch sein mag. ({0})

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bitte das letzte Mal für diese Stunde um Nachsicht. - Würden Sie mir zustimmen, daß wir mit dem Gesetzentwurf des Justizministers bei der Übertragung von Eigentum an den Rand unserer rechtsstaatlichen Möglichkeiten gegangen sind?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Uneingeschränkt ja.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Jens.

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ich hatte Sie eben so verstanden, daß Sie nun bereit sind, die schon lange vorliegenden Vorschläge der Sozialdemokraten zu übernehmen. Können Sie sich denn damit anfreunden, in diesem Gesetz endlich den Grundsatz zu verwirklichen, daß die Entschädigung absoluten Vorrang vor der Naturalrestitution hat und daß auch eine klare Entschädigungsregelung in das Gesetz hineinkommen muß?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Ich kann nur wiederholen: Das Gesetz ist in der Schmiede. Sie sind herzlich aufgefordert, sich zu diesen existentiell wichtigen Fragen, die, wie der Kollege Grünbeck zu Recht gesagt hat, die Grundfesten unserer Eigentumsordnung berühren, zu äußern, damit wir im Meinungsaustausch eine sachgerechte Lösung finden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun meldet sich zur Geschäftsordnung der Herr Abgeordnete Müntefering.

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, wie der Herr Staatssekretär vorhin schon geahnt hat, können uns seine Antworten zum Bereich Treuhand nicht befriedigen. Deshalb beantrage ich für die SPD-Bundestagsfraktion auf Grund der Anlage 5.1 b unserer Geschäftsordnung, daß im Anschluß an diese Fragestunde eine Aktuelle Stunde zum Thema „Verhalten der Bundesregierung im Zusammenhang mit der Treuhandanstalt" stattfindet.

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Sie sehen mich überrascht, Herr Kollege. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Der Herr Staatssekretär ist nicht überrascht, das übrige Haus, vermute ich, auch kaum. Selbstverständlich findet die Aktuelle Stunde im Anschluß an die Fragestunde statt. Der Herr Abgeordnete Opel hat die Möglichkeit, eine Zusatzfrage zu stellen.

Dipl. - Ing. Manfred Opel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, könnte es sein, daß angesichts des Beispiels Interflug hier auch andere Schwierigkeiten mit hineinspielen? Ich erinnere mich nämlich, daß beispielsweise die Lufthansa rechtzeitig ein Übernahmeangebot für die Interflug gemacht hat. Könnte es sein, daß es da auch innerhalb der Bundesverwaltung gewisse Hemmnisse gibt?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Man kann nichts ausschließen. Ich meine aber, daß der Fall Interflug doch singulärer Natur ist. Es ist ein Fall, der nicht ohne weiteres Vergleiche mit anderen Unternehmen und anderen Branchen erlaubt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Staatssekretär, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß der Herr Abgeordnete Dr. Sperling nach der Privatisierung von Rückgaben gefragt hat. Wenn ich mich dunkel erinnere, kann es sich bei Interflug nicht um eine Rückgabe handeln. Die Fragen 24 und 25 des Herr Abgeordneten Pfuhl sowie die Fragen 26 und 27 der Abgeordneten Frau Dr. Leonhard-Schmid werden auf deren Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Wir kommen zu Frage 28 der Abgeordneten Frau Dr. Skarpelis-Sperk: Nach welchen Kriterien und mit welchen Maßnahmen beteiligt sich bzw. wird sich die Treuhandanstalt an der Sanierung von Betrieben beteiligen?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Frau Kollegin, die Treuhandanstalt geht bei der Umstrukturierung und Strukturanpassung ihrer Unternehmen nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen vor. Sie beachtet dabei die Vorgabe des Treuhandgesetzes, die Strukturanpassung der Wirtschaft nach den Erfordernissen des Marktes zu fördern und auf die Entwicklung sanierungsfähiger Betriebe zu wettbewerbsfähigen Unternehmen Einfluß zu nehmen. Dabei steht die Privatisierung im Vordergrund. Die Treuhandanstalt hält die zu sanierenden Unternehmen an, soweit es irgend geht, alle Maßnahmen zur Beschaffung von finanziellen Mitteln für die Sanierung von Dritten zu treffen. Im einzelnen prüft die Treuhandanstalt die betriebswirtschaftliche Tragfähigkeit des Sanierungskonzepts danach, ob alle Möglichkeiten einer Finanzierung ohne Unterstützung der Treuhandanstalt ausgeschöpft wurden. Darüber hinaus kommen für die Sanierung als weitere Finanzierungsinstrumente die Einräumung von Ausgleichsforderungen, Entschuldungen nach Einzelfallprüfung, Bürgschaften, Kredite und Kapitalzuführungen in Betracht.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort zu einer Zusatzfrage hat Frau Dr. Skarpelis-Sperk.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung angesichts der großen Probleme der Industrie in der DDR der Treuhand weitere Kriterien für ihre Arbeit an die Hand gegeben - etwa regionalpolitische, strukturpolitische oder sektorale Kriterien -, damit nicht, wie das jetzt in einzelnen Regionen der Fall ist, mit dem Schließen von ein oder zwei Betrieben möglicherweise Arbeitslosenraten von weit über 25 oder 30 %, ja von über 50 % entstehen können?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

An neuesten Weisungen gibt es u. a. die, daß alle bei der Treuhandanstalt befindlichen Betriebe bis Ende Januar dieses Jahres aktualisierte Sanierungskonzepte vorzulegen hatten. Im übrigen steht die Treuhandanstalt mit dem Bundesminister für Finanzen, aber auch etwa mit der Bundesanstalt für Arbeit, den Kommunen und den Ländern im ständigen Dialog, um solche sektoralen und regionalen Verwerfungen zu vermeiden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Weitere Zusatzfrage, bitte schön, Frau Dr. Skarpelis-Sperk.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, Sie haben in der Beantwortung einer früheren Frage davon gesprochen, daß die Bundesregierung über weitere Kriterien nachdenke. Jetzt haben Sie davon gesprochen, daß Sie in einem ständigen Dialog mit den genannten Institutionen stehen. Wann meinen Sie, daß der Dialog und das Nachdenken so weit abgeschlossen sind, daß Sie verbindliche Kriterien an die Treuhand geben können, die ein regionalpolitisches Desaster in den neuen Bundesländern verhindern?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

So schnell wie nur eben möglich. Aber die historische Aufgabe dieser Treuhandanstalt verträgt auch wegen der Folgewirkungen keine irgendwie gearteten Schnellschüsse.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Mischnick.

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, halten Sie es in diesem Zusammenhang für vertretbar, daß in einem Betrieb, der nach Meinung der Treuhand sanierungsfähig ist, über vier Monate keine Entscheidung gefällt wird, ob eine Altlast abgenommen wird, deshalb keine Neuinvestitionen vorgenommen werden können und deshalb die Konkursfähigkeit kurz vor der Tür steht?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Nein, Herr Kollege Mischnick, das halte ich nicht für vertretbar. Wir müssen ganz dringlich, gerade in solchen Fällen, zu schnelleren Handlungen und Entscheidungen auch bei der Treuhand finden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Dann kommen wir zu Frage 29 der Abgeordneten Frau Dr. Skarpelis-Sperk: Hat die Treuhandanstalt die Möglichkeit, sich konzeptionell und finanziell an Sozialplänen sowie an Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften zu beteiligen, und inwieweit nutzt sie diese Möglichkeiten?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Frau Kollegin, die Unternehmen der Treuhandanstalt haben wie andere Unternehmen die Möglichkeit, Sozialpläne zu vereinbaren. Als alleinige Eigentümerin hat die Treuhandanstalt Gestaltungsspielräume, auf die betrieblichen Sozialpläne einzuwirken. Bei der Nutzung dieses Gestaltungsspielraums werden die Eigenständigkeit der Unternehmen und die Notwendigkeit, zu wirtschaftlich und sozial gleichermaßen verträglichen Lösungen zu kommen, beachtet.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, bitte schön, Frau Dr. Skarpelis-Sperk.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, wie viele Sozialpläne hat es denn im Bereich der Treuhand bisher gegeben, und welche Mittel hat die Treuhand für solche Sozialpläne bisher ausgeworfen?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Eine Vielzahl. Ich kann die Frage natürlich nicht aus der Erinnerung beantworten. Es geschieht jeden Tag etwas Neues. Ich hoffe, Sie sind damit einverstanden, wenn ich Ihnen diese Frage schriftlich beantworte und die Informationen nachreiche.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich. Aber ich bitte in diesem Fall um schriftliche Beantwortung.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Weitere Zusatzfragen zu dieser Frage liegen nicht vor. Die Fragen 30 und 31 des Abgeordneten Dr. Brecht werden auf dessen Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt. Wir kommen nunmehr zu Frage 32 des Abgeordneten Herrn Bierling: Bin ich richtig informiert, daß die ehemalige DDR, ihrer Gigantomanie und ihrem internationalen Reputationsbedürfnis geschuldet, im Ausland zahlreiche aufwendige Botschaften, Missionen, Handelsvertretungen und Kulturinstitute unterhielt, und wäre es nicht als Signal richtig, die aus dem Verkauf dieser Liegenschaften erzielten z. T. erheblichen Einnahmen den neuen Bundesländern öffentlichkeitswirksam zur Verbesserung ihrer derzeit ungenügenden Finanzausstattung zu übergeben?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Herr Kollege Bierling, die ehemalige DDR unterhielt im Ausland zahlreiche Botschaften, Missionen, Handelsvertretungen und Kulturinstitute. Nach Auffassung der Bundesregierung handelt es sich dabei nicht um aufwendige Objekte. Die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aktivitäten waren in staatlicher Hand konzentriert. Hieraus entstand ein im Vergleich zur Bundesrepublik größerer Raumbedarf, der vorzugsweise in einem Gebäudekomplex gedeckt wurde. Nach Art. 21 Abs. 4 des Einigungsvertrages ist Verwaltungsvermögen, das nunmehr Bundesvermögen wurde bzw. wird, für die Erfüllung öffentlicher Auf gaben im Beitrittsgebiet zu verwenden. Dies gilt ebenfalls für die Verwendung der Erlöse aus Veräußerungen von Vermögenswerten. Somit kommen auch die Erlöse aus Veräußerungen von im Ausland gelegenen Vermögenswerten der ehemaligen DDR den neuen Bundesländern zugute.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, bitte schön.

Hans Dirk Bierling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000179, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, meine Frage zielte auch darauf hin, ob es nicht politisch sinnvoll ist, dies gegenüber den Bürgern in den neuen Bundesländern, d. h. in der ehemaligen DDR, zu quantifizieren und ihnen klarzumachen: das, was ihr einmal finanziert habt, fließt euch auf diesem Wege wieder zu. Halten Sie es nicht auch für sinnvoll, dies quantifiziert und deutlich den Bürgern der neuen Bundesländer zu sagen?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Aber selbstverständlich ist es unsere gemeinsame Aufgabe, die im Einigungsvertrag insoweit getroffenen Regelungen auch nach draußen an die interessierte Bevölkerung zu tragen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine weitere Zusatzfrage wünschen Sie nicht? - Dann der Herr Abgeordnete Toetemeyer.

Hans Günther Toetemeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002336, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, würden Sie mir bestätigen können, daß beispielsweise im Bereich der Kulturinstitute die von der ehemaligen DDR übernommenen Einrichtungen uns bei der Lösung vieler Probleme, etwa im Bereich der Goethe-Institute, haben helfen können?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Ja.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Danke schön. Weitere Wortmeldungen zu der Frage des Abgeordneten Bierling liegen mir nicht vor. So rufe ich die Frage 33 des Abgeordneten Schily auf: Haben Mitglieder der Bundesregierung Einfluß darauf genommen, daß von der Treuhandanstalt die Chemnitzer „Freie Presse" der Medien Union GmbH des Verlegers Dieter Schaub, Ludwigshafen, und die Mitteldeutsche Zeitung in Halle dem Kölner Verleger Alfred Neven DuMont, Herausgeber des Kölner Stadtanzeigers, überlassen wurden ({0})?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Herr Kollege Schily, die Bundesregierung hat hinsichtlich der Verkaufsverhandlungen mit der Medien Union GmbH bzw. dem Verleger Alfred Neven DuMont zu keinem Zeitpunkt Einfluß auf den Vorstand der Treuhandanstalt genommen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Dies veranlaßt den Abgeordneten Schily zu einer Zusatzfrage. Bitte schön.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ist denn der Bundesregierung, Herr Staatssekretär, bekannt, daß die Verleger Schaub und Neven DuMont von der Treuhandanstalt bei der Zuteilung ostdeutscher Verlage, also der Verlage, die in der Frage genannt sind, bevorzugt worden sind, und führt es die Bundesregierung auf einen bloßen Zufall zurück, daß es sich bei den Verlegern Schaub und Neven DuMont um gute Freunde von Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher handelt?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Sie haben ja schon im gemeinsamen Schulterschluß mit Herrn Kollegen Klose in der letzten Fragestunde am 20. Februar hier sehr intensiv insistieren wollen und mit Unterstellungen operiert, die teilweise ja auch im „Spiegel" zu finden sind. Ich kann Ihnen nur sagen, die Bundesregierung hat keinerlei Weisungen vorgenommen und hat keinerlei Veranlassung, von ihrem Instrument der Rechts- und der Fachaufsicht gegenüber der Treuhandanstalt in den besagten Fällen Gebrauch zu machen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich gehe davon aus, daß Sie eine weitere Zusatzfrage stellen wollen. - Bitte sehr.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, auf welche Gründe führen Sie es denn zurück, daß die beiden Verleger Schaub und Neven DuMont - ich gehe ja nach Ihren Antworten davon aus, daß Sie sich sehr eingehend mit diesen Vorgängen beschäftigen - die Vorfahrt vor anderen Interessenten erhalten haben?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Ob überhaupt Wettbewerber damals, zum Zeitpunkt der Überführung, da waren - der eine Fall war ja schon im September 1990, der andere im Dezember 1990 - , ob, wenn überhaupt, Wettbewerber angemessene Angebote unterbreiteten und welche Gründe die Treuhandanstalt in diesem ganzen Spektrum der wettbewerbspolitischen Berücksichtigung von Momenten gerade in diesem sensiblen Bereich der Medien zu ihrer Entscheidung bewogen haben, das alles kann ich von hier aus nicht beantworten. Das ist eine Frage, die unmittelbar an die Treuhand zu stellen ist, es sei denn, Sie würden darauf abzielen, dem Bundesfinanzminister eine Verletzung der Rechts- und Fachaufsicht vorzuwerfen. Dann müssen Sie es aber bitte tatbestandlich untermauern und einen solchen Vorwurf nicht einfach mit Unterstellungen zu belegen versuchen. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, wir sind kurz vor Ende der Fragestunde. Ich lasse noch zwei Zusatzfragen zu; dann ist die Fragestunde beendet. Dr. Sperling, bitte.

Dr. Dietrich Sperling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, nachdem Sie mit soviel Emphase vorgetragen haben, daß das Finanzministerium der Treuhand keine Weisung gegeben hat, können Sie dann verstehen, daß gerade dies zu bedauern ist? Sie hätten ja nicht Weisung im Einzelfall geben dürfen; wohl aber hätten Sie Weisung geben müssen, daß gerade der, wie Sie gesagt haben, sensible Pressebereich möglichst breit gestreut wird, daß unter möglichst vielen konkurrierenden Bewerbern verkauft wird und daß nicht einzelne, die ganz früh gemerkt haben, was für Geschäfte sich machen lassen, in eine Vorzugsposition gerieten. Die Tatsache, daß Sie keine Weisung erteilt haben, zeigt also, daß Sie Ihre Aufsichtspflicht nicht wahrgenommen haben.

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Nein, das muß ich strikt zurückweisen. Das ist eine völlige Verkennung dessen, wie die Treuhandanstalt ihre Arbeit ausführen soll, nämlich in eigener Verantwortung, mit eigenen Aufsichtsgremien und, was die parlamentarische Begleitung angeht, mit einem eigenen Unterausschuß „Treuhand", angesiedelt beim Haushaltsausschuß.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Die letzte Zusatzfrage. Bitte schön, Herr Abgeordneter Struck.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, darf ich Ihre unbefriedigende Antwort auf die Frage des Kollegen Schily so verstehen, daß sich der Bundeskanzler höchstpersönlich in gar keiner Weise in diese Vorgänge eingeschaltet hat?

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Ja. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Fragestunde.*) Entsprechend dem Antrag des Abgeordneten Müntefering, der für die SPD-Fraktion eine Aktuelle Stunde beantragt hat, treten wir nun in die Aktuelle Stunde zum Thema Verhalten der Bundesregierung im Zusammenhang mit der Treuhandanstalt ein. Ich eröffne die Aktuelle Stunde. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jens.

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Treuhandanstalt wird in Mecklenburg-Vorpommern von Bürgern besetzt. Die Treuhand wird zum Beelzebub in den neuen Bundesländern. Überall gibt es Protest gegen die Treuhand. Verantwortlich für die Treuhand ist diese Bundesregierung. Wer denn sonst? - Kein anderer! ({0}) Die Treuhand ist aus unserer Sicht nur ein wirtschaftspolitisches Instrument, das man richtig und falsch einsetzen kann, und die Bundesregierung setzt dieses wirtschaftspolitische Instrument falsch ein. Ich füge hinzu - in diesem Punkt stimme ich Herrn Möllemann zu - : Die Treuhand gehört eigentlich in den Verantwortungsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft. Des weiteren füge ich hinzu: Auch die Abteilung Geld und Kredit des Finanzministeriums hätte schon längst wieder in das Bundeswirtschaftsministerium integriert werden müssen, denn der amtierende Finanzminister Waigel hat jeden Kredit in der Öffentlichkeit seit geraumer Zeit verspielt. ({1}) Im Wirtschaftsausschuß des Bundestages, meine sehr verehrten Damen und Herren, haben wir vorge- *) Die nicht aufgerufenen Fragen werden bis auf die Fragen 66 und 67 des Abgeordneten Henn, die zurückgezogen wurden, schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. stern das Gesetz über die Beseitigung von Investitionshemmnissen besprochen und ausführlich diskutiert. Dazu sage ich Ihnen: Der Vertreter der Treuhand hat an diesem Gesetz kein gutes Haar gelassen. Es ist in der Tat, wie eben schon gesagt wurde, ein Gesetz zur Beschäftigung von Rechtsanwälten und von Beamten. Es fehlt eine klare Vorfahrtsregelung für Investitionen, um die es doch geht. Es muß endlich gesetzlich geregelt werden, daß Entschädigung absoluten Vorrang vor der Naturalrestitution hat. ({2}) Die einzelnen Ansprüche müssen im Interesse der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zurückgedrängt werden. Wir brauchen hier eine klare Regelung. Wenn Sie dies versäumen, dann schieben Sie gewissermaßen die Treuhand wieder vor das Loch. Sie wird mit Versäumnissen belastet, die eigentlich die Regierung zu verantworten hat. ({3}) Ich wollte in diesen fünf Minuten kurz zwei Probleme ansprechen, bei denen wir Sozialdemokraten, glaube ich, uns grundsätzlich von der Regierungskoalition unterscheiden. Es geht einmal um die Privatisierung. Auch wir sind für Privatisierung, wo immer das geht. Das will ich Ihnen ehrlich sagen. Ich weiß auch, daß es einige Unternehmen gibt, die überhaupt nicht zu privatisieren sind. Sie müssen dann, wenn es gar keine Alternative gibt, geschlossen werden. Aber es gibt eine breite Latte von Unternehmen, die sehr wohl mittelfristig eine Zukunftschance haben, und um die müssen wir uns kümmern. Sie müssen auch eine Chance bekommen. So wie das VW-Werk, als es mit der Bundesrepublik Deutschland losging, oder der Salzgitter-Konzern damals in Bundesbesitz gehalten wurden, so müssen wir, glaube ich, auch in Zukunft Unternehmen in Brennpunkten im Besitz der Landesregierung, der Bundesregierung oder der Treuhand behalten, wenn wir kein Chaos verursachen wollen. ({4}) Hier stimmen wir mit Ministerpräsident Duchac überein, der auch dafür sorgen will, daß Jena Optik Carl Zeiss in Landesbesitz bleibt. Viele Betriebe können nicht jetzt sofort konkurrenzfähig sein. Das geht überhaupt nicht. Aber mittelfristig hätten sie eine Chance, und diese Chance müssen wir ihnen geben, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({5}) Die Treuhand hat, wie ich meine, struktur- und regionalpolitische Verantwortung, und die muß sie mit Hilfe der Bundesregierung auch wahrnehmen. Gestatten Sie mir ganz kurz eine Bemerkung zu einem zweiten Punkt. Wir können, glaube ich, in strukturschwachen Regionen die einzelnen Unternehmen, die letzten, die es da noch gibt, nicht einfach in den Konkurs treiben. Da gibt es einerseits große Aufgaben im Umweltschutz und im Bereich der Infrastruktur. Andererseits gibt es da Leute, die arbeitslos werden, wenn die Unternehmen pleite gehen. Da dies so ist, ist es doch nur eine Frage der Organisation, ob es uns gelingt, diese Leute mit solchen Aufgaben zu beschäftigen. Da muß die Regierung und da muß auch die Treuhand helfen, damit kein Chaos in bestimmten Regionen entsteht. Nein, meine Damen und Herren, ich bin zutiefst davon überzeugt, daß die Weichen bisher falsch gestellt worden sind und daß wir noch viel zur Wiederbelebung tun müssen. Dies darf aber auf keinen Fall zu Lasten des Umweltschutzes gehen. Ich glaube auch, daß die Kritik in der Regierungskoalition Gott sei Dank immer deutlicher wird. So hat Herr Doss vor kurzem gesagt, es fehlt eine Analyse der Schwachstellen. Das ist ja positiv. Sie sollten noch viel mehr über die Regierung schimpfen, die auf diesem Gebiet bisher eklatant versagt hat. Schönen Dank, meine Damen und Herren. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Roth ({0}).

Adolf Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001889, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich wäre eigentlich gerne davon ausgegangen, daß diese von der SPD jetzt eilig beantragte Aktuelle Stunde das eine Ziel verfolgt: der Treuhandanstalt bei ihrem historisch einmaligen Vorhaben zu helfen, Geburtshelfer beim Übergang von einer in sich verrotteten und zusammengebrochenen sozialistischen Kommandowirtschaft zu einer marktwirtschaftlichen Dynamik zu sein. Diesen Übergang müssen wir schaffen. Deshalb braucht die Treuhandanstalt mit ihrer zentralen Aufgabenstellung die Unterstützung dieses Parlaments. ({0}) Die Treuhandanstalt ist nicht Teil der Staatsbürokratie, sondern sie ist als weltgrößte Industrieholding und vor allem als unternehmerisch handelnde Sachwalterin eines großen Vermögens auch im Liegenschaftsbereich nicht nur für den wirtschaftlichen Fortgang in den neuen Bundesländern verantwortlich; sie trägt vielmehr auch ein hohes Maß an Verantwortung für die Menschen, für die Betriebe und für neue berufliche Perspektiven. Das ist Sinn und Zielrichtung des Treuhandgesetzes vom 17. Juni 1990. Es ist als Ziel auch im Einigungsvertrag scharf umrissen worden. Aufgabe der Treuhandanstalt ist die Überwindung der Staatswirtschaft durch rasche und zügige Privatisierung, der Erhalt und die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit möglichst vieler Einheiten und damit auch möglichst vieler Arbeitsplätze und die Verfügbarmachung von Grund und Boden für investive Zwecke. Herr Kollege Jens, ich muß sagen, ich hätte mir eigentlich gewünscht, daß Sie in Ihrem die Aktuelle Stunde begründenden Eingangsbeitrag auf dieses Ziel hingewiesen hätten. Denn hier, meine ich, tragen wir im Parlament eine gemeinsame Verantwortung. Wenn man die Umstände, unter denen die Treuhandanstalt mit ihrem unvergleichlichen Auftrag angetreten ist, vernünftig und fair wertet, dann, meine ich, sollte ihr ein positives Zwischenzeugnis ausgestellt werden, obwohl noch sehr viele Schwachstellen bemerkbar sind und obwohl noch sehr viele Ungereimtheiten in der Praxis zutage treten. Immerhin war es zunächst einmal wichtig, daß Vorstand und nachgeordnete Bereiche, die Zentrale und die Niederlassungen eine organisatorische Struktur bekommen haben, daß sie handlungsfähig geworden sind. Ich meine schon, daß hier sehr viel unternehmerisches Denken, entsprechende Bereitschaft und Initiativkraft eingesetzt worden sind. Wir haben Leitlinien für die Geschäftspolitik und für die Praxis der Treuhandanstalt aufgestellt. Es war immer Auffassung der CDU/CSU, bei der Umstrukturierung der Wirtschaft in den neuen Bundesländern insbesondere dem mittelständischen Element drüben einen besonderen Vorrang einzuräumen, damit vor allem selbständige Unternehmer in den neuen Bundesländern zum Zuge kommen. Ich denke, hier liegt ein großes Defizit, das wir alle zu beklagen haben, und der zuständige Unterausschuß für die Treuhandanstalt des Deutschen Bundestages muß hier noch eine große Aufgabe erledigen. Wir haben uns immer zum Vorrang der Privatisierung vor einer Sanierung bekannt. Das heißt, wir müssen die Betriebe geschäftsfähig erhalten; wir müssen so rasch wie möglich und so durchschaubar wie möglich auch unter Beteiligung regionaler Planungsinstanzen der neuen Bundesländer die Privatisierung vorantreiben. Dabei geht es um den Zeitfaktor. Wir müssen, wenn in Einzelfällen Betriebe stillgelegt werden müssen - das ist ja dann die bitterste Konsequenz - , dies sozial verträglich tun, und wir müssen hierbei auch die Landesregierungen beteiligen. Meine Damen und Herren, sicher gibt es ein Spannungsverhältnis zwischen der Eigentumsrestitution und den Investitionen in den neuen Bundesländern. Wir haben mit den Gesetzen in der letzten Woche den Weg dazu ebnen wollen, daß sich in der Praxis manches verbessert. Wir brauchen die Unterstützung aller, damit die Gründungswelle, die jetzt begonnen hat und die leider in Einzelbereichen schon wieder abzubröckeln beginnt, untermauert wird und damit möglichst rasch eine dynamische marktwirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern möglich wird. Herzlichen Dank. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Briefs.

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor unseren Augen ereignet sich ein politischer Skandal allerersten Ranges. ({0}) Den 16 Millionen Schwestern und Brüdern in der früheren DDR ist versprochen worden: Keinem und keiner wird es schlechtergehen, aber vielen wird es bessergehen. Heute, noch nicht einmal ein halbes Jahr nach dem Anschluß der DDR, wird sichtbar, wie wenig fundiert diese Verheißung war. Nur sehr wenigen Privilegierten einer kleinen Neubourgeoisie geht es heute im Osten besser. Den meisten geht es schlechter. Angst und Perspektivlosigkeitsgefühle, soziale Härten und steigende Selbstmordzahlen charakterisieren die soziale Szene in der früheren DDR. Die Bundesregierung sieht dem tatenlos zu. Statt Soforthilfeprogramme hält sie für die Millionen betroffenen Menschen abgestandene Beschwörungsformeln zur sogenannten Sozialen Marktwirtschaft bereit. Statt das zentrale Mittel, die Treuhand, das größte Monopol der BRD-Geschichte, zum Mittel aktiver, beschäftigungs- und produktionssichernder und -erweiternder Strukturpolitik zu machen, läßt sie sie vor sich hinprivatisieren. Statt der Treuhand neben Privatisierungszielen auch Ziele der Sicherung - das ist nämlich ansonsten durchaus üblich - von Beschäftigung und Sozialleistungen vorzugeben, verfolgt sie eine Politik der Privatisierung, der ausschließlichen Privatisierung. ({1}) Statt eine Politik der Sanierung betreibt sie eine Politik der Ruinierung. Verschleuderung von Vermögenswerten an wirtschaftlich mächtige Interessengruppen im Westen beherrschen die Tätigkeit der Treuhand. ({2}) Die Treuhand ist so zur Abwicklungsgesellschaft degeneriert, zur „Untreuhand" gegenüber der Bevölkerung im Osten und im Westen. Die Planlosigkeit der Bundesregierung und in der Folge die Planlosigkeit der Treuhand rächt sich jetzt: im Osten durch Massenelend und Massenarbeitslosigkeit, im Westen durch Steuererhöhungen für die Massen der Bezieher von kleinen und mittleren Einkommen. Ohne Frage: Es ist fünf Minuten vor zwölf. Jetzt, spätestens jetzt muß umgesteuert werden. Die Treuhand muß sofort mit kompetenten Vertretern der einzelnen Branchen und insbesondere mit Vertretern aus den Industriegewerksçhaften und Gewerkschaften des DGB - natürlich auch mit den anderen Gewerkschaften - Konzepte erarbeiten und praktizieren, Konzepte zur Überleitung der Produkte und Verfahren der noch bestehenden DDR-Betriebe auf die Bedingungen des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs. Dazu ist ein zahlenmäßig zu fixierender Rahmen für die zu erhaltenden und umzustrukturierenden Arbeitsplätze in den noch bestehenden Betrieben auf dem Gebiet der früheren DDR und für neue Arbeitsplätze in den einzelnen Branchen zu entwickeln. Wir brauchen also Branchenstrukturkonzepte, und zwar regional aufgegliedert. Im Verwaltungsrat und in den Stäben der Treuhand müssen Vertreter und Vertreterinnen der Belegschaften und der Gewerkschaften mitberaten und mitbestimmen können. Das Halbdunkel der Treuhandinformationen - gelegentlich muß man eher von Desinformationen sprechen - muß durch Rechenschaftspflichten der Treuhand-Verantwortlichen vor den Belegschaften aufgehellt werden. Der Bund muß sofort branchen- und regionenbezogene Soforthilfeprogramme auflegen. Die Mittel müssen durch Streichung bei den Subventionen und durch eine Solidarabgabe aus dem Reichtum der westdeutschen Wirtschaft aufgebracht werden. Der Katastrophe im Osten muß mit höchster Verantwortung durch die Bundesregierung entgegengewirkt werden. Dazu fordern wir, die PDS/Linke Liste, die Bundesregierung auf. Sonst gilt: Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Danke. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Grünbeck.

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, daß wir in einer politischen Epoche leben, wie sie in dieser Dimension nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik noch nie dagewesen ist. Der Golfkrieg, die Entwicklung in Osteuropa, aber auch die deutschdeutsche Entwicklung sind für uns eine Herausforderung, und zwar nicht nur eine politische Herausforderung; für uns Freie Demokraten ist es eine große humane Herausforderung, die wir zu bestehen haben. Wir stehen in der Verantwortung, in der gesamtdeutschen Verantwortung. Ich bin dankbar, daß die große Debatte um diese Entwicklung weniger von gegenseitiger Schuldzuweisung als von dem Bewußtsein begleitet ist, daß wir gefordert sind, mehr konstruktive Vorschläge zu erarbeiten. Die Solidarität aller Demokraten ist in diesen Zeiten gefordert. Ich darf skizzieren, wie die FDP die Herausforderung der letzten Tage und Wochen bestehen will: Unser Wirtschaftsminister hat eine Vorwärtsstrategie für die Entwicklung in den neuen Bundesländern erarbeitet. Ich bin dankbar - auch der Wirtschaftsminister - für alle Ergänzungen und konstruktiven Vorschläge. Der Bundesjustizminister hat ein Gesetz vorgelegt, das ich schon erwähnt habe, das bei der Eigentumsübertragung an die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit geht. Ich bitte darum, daß wir nicht über Überschreitungen der Grenzen spekulieren und an eine Grundgesetzänderung in Eigentumsfragen denken. Das wird mit den Freien Demokraten nicht gehen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Nein, wir müssen dieses Gesetz schnell verabschieden, und wir müssen handeln, damit die notwendigen Schritte in den neuen Bundesländern getan werden können. Die Wohnungsbauministerin hat Vorfahrt für die Privatisierungsmaßnahmen im Wohnungsbau gegeben. Wir müssen prüfen, ob die Treuhand das vielleicht in die Kompetenz eines einzigen Hauses geben muß. Die Treuhand muß zu einer Entwicklung kommen, die dadurch gekennzeichnet ist, daß nicht verwaltet, sondern in den neuen Bundesländern gestaltet wird. Das Steuerpaket zu verabschieden ist uns allen nicht leichtgefallen. Das war ein schwieriger Prozeß. Aber dennoch stehe ich, stehen wir alle dazu jetzt, nachdem es verabschiedet und heiß diskutiert wurde; denn das Wichtige an diesem Steuerpaket ist für mich die sofortige Verfügbarkeit von 5 Milliarden DM Komplementärmitteln für die Kommunen, damit sie sofort handeln und die ihnen zugewiesenen Mittel bei der Bundesbank abrufen können. Wer Erfahrungen mit der Übertragung oder Privatisierung von Betrieben in den neuen Bundesländern hat, weiß, daß eines sehr schwer zu lösen ist, aber dennoch schnell gelöst werden muß: Das ist die Frage der Bewertung der Betriebe. Ich mache noch einmal den Vorschlag, daß wir 1 000 Betriebsprüfer mit Erfahrungen in unserem Steuerrecht in die neuen Bundesländer schicken, damit wir endlich zu einer vernünftigen Verhandlungsgrundlage für die Veräußerung oder Übertragung von Unternehmen kommen. Was wollen Sie denn machen, wenn Sie nicht wissen, über welche Größe Sie eigentlich verhandeln? Dann ist es gleich, ob der Investor aus den neuen Bundesländern kommt, ob er aus der alten Bundesrepublik kommt oder ob er aus dem Ausland kommt. Uns ist jeder Investor für die Neuentwicklung der Wirtschaft in den neuen Bundesländern herzlich willkommen. ({0}) Was wir machen müssen, ist ausloben; ausloben heißt aber auch, daß wir die Betriebe endlich anbieten, ausschreiben müssen, damit möglichst viele Bewerber kommen können. Wenn wir es schaffen, die Privatisierung zu dynamisieren, werden wir durch Privatisierung mehr Beschäftigung schaffen. Mehr Beschäftigung schafft mehr Steuereinnahmen und weniger soziale Folgekosten. Meine Damen und Herren, die Alternativen sind nicht allzu groß. Große Programme und große Sprüche helfen nichts. Was wir jetzt brauchen, ist, etwas abzuschwächen, einzudämmen, was mir große Sorgen macht: Ich war neulich in Sachsen und Thüringen und habe gehört, daß in jedem Monat 20 000 Menschen aus den neuen Bundesländern in die alte Bundesrepublik abwandern. Hier muß man die Herausforderung erkennen und sagen: Das muß man abschwächen, abbremsen; denn sonst machen wir die neuen Bundesländer blutarm, und wir werden bei uns in den alten Bundesländern einen sozialpolitischen Überdruck erzeugen, mit dem wir dann nicht mehr fertig werden. Deshalb fordere ich alle auf: Arbeiten Sie doch an der Verbesserung der gegebenen Vorschläge mit. Finden wir uns zusammen in einer Solidargemeinschaft der Demokratie, damit wir diese schwere Herausforderung auch bestehen. Vielen Dank. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schulz.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die jüngsten Demonstrationen in Thüringen, Sachsen und wohl auch heute in Berlin belegen, daß man mit Anschubfinanzierung zur Sozialversicherung, mit viel zu knapp bemessenen Investitionszulagen oder Sonderabschreibungen, mit einigen Standardinstrumenten aus dem Werkzeugkasten der bundesdeutschen Mittelstandsförderung, mit Zuweisungen aus dem Fonds „Deutsche Einheit" und, wie ich befürchte, sogar mit den jüngst beschlossenen Steuererhöhungen der Krise in den neuen Bundesländern nicht Herr wird. Wir haben es hier mit der Ablösung einer sozialistisch-zentralistischen Planwirtschaft durch die Marktwirtschaft zu tun, wenn es denn eine Ablösung wäre. Es ist in diesem Fall eher ein schockartiger Prozeß. Der Staat ist gefordert, Industrie- und Strukturpolitik zu betreiben, und die scheint offenbar jedem wirtschaftsliberalen Denken, jedem reinen Marktwirtschaftler zuwider zu sein. Das zeigt sich ganz symptomatisch an der Treuhand, denn aus dem Treuhandgesetz geht hervor, daß nicht nur ein Privatisierungsziel gesteckt ist, sondern eindeutig auch ein Sanierungsauftrag an die Treuhand gegeben worden ist. Unter Sanierung verstehe ich nicht, wenn man sich die drei Ziele im Treuhandgesetz einmal vor Augen führt, die Sanierung des Staatshaushalts oder die Auszahlung der abgewerteten Sparbeträge bei der Währungsumstellung. Auch hier sind Sie eine Antwort schuldig. Ich denke, Sie sollten ganz deutlich, klipp und klar sagen, daß keiner der Sparer in der ehemaligen DDR hier überhaupt noch einen Pfennig von seinem Volkseigentum sehen wird. Am Beispiel der Treuhand wird die verheerende Situation deutlich, daß im nachhinein der Beweis angetreten wird, daß es in diesem Land nie Volkseigentum gegeben hat. Welches Volk läßt sich auf diese Art und Weise denn sein Eigentum so ohne weiteres wegnehmen? Das ist vielleicht der größte Schaden, der in unserem Land hinterlassen worden ist. Das „unser" mögen Sie verzeihen; ich fasse diese fünf Länder immer noch zusammen; das entspricht meinem Gefühl. Daß uns dieses Eigentumsbewußtsein abhanden gekommen ist, halte ich für eine sehr tragische Hinterlassenschaft. Die heutige Aktuelle Stunde zeigt erneut, was wir im Grunde schon wissen: Mit der Treuhand kann es so wie bisher nicht weitergehen. Die Treuhand ist in ihrer jetzigen Konstruktion nicht in der Lage, ihre Aufgaben zu erfüllen. Die Weichen sind mit der Wirtschafts- und Währungsunion grundlegend falsch gestellt worden. Zu der vom Staatsvertrag aufgezwungenen Verschuldung von 108 Milliarden DM mußte die Treuhand eine weitere Belastung ihres Vermögens mit 28 Milliarden DM durch höchst fragwürdige Liquiditätskredite hinnehmen, um die vom DMSchock ausgelöste Zahlungsunfähigkeits-Kettenreaktion aufzufangen. Mit diesem Vorzeichen fehlen der Treuhand von Anfang an die Mittel zu einer konsequenten Sanierungspolitik. Unter der Überschrift „Vorrang für die Privatisierung" ging die Treuhand folglich zur Abwicklung des Volkseigentums über. Das ursprünglich auf über eine Billion geschätzte Volksvermögen bezifferte Herr Rohwedder im November auf 600 Milliarden DM. Ich fürchte, auch diese Zahl wird nicht mehr zu halten sein, wenn man sieht, wie jetzt der Osthandel, der Handel mit den RGW-Ländern, wegbricht. Ich habe heute der Antwort in der Fragestunde entnommen, daß bisher ganze 3 Milliarden DM eingelöst worden sein sollen. Wir müssen uns darauf einstellen, Schulz ({0}) daß die Treuhand per saldo keine Erlöse einbringen wird, sondern in heute noch nicht abschätzbarem Ausmaß Zuschüsse benötigen wird. Die Treuhand kann und darf so wie bisher nicht weitermachen. Die Chancen für rasche, erfolgreiche Privatisierung eines Großteils der Treuhandunternehmen stehen schlechter als schlecht. Also wird die Treuhand in vielen Fällen vor der Alternative stehen: Zumachen oder selbst sanieren. Mit ihrer heutigen Konstruktion und Ausstattung kann sie aber gar nicht im notwendigen Umfang sanieren. Dafür fehlen ihr vor allem die Mittel. Diese müssen wir, falls wir die Aufgaben der Treuhand neu bestimmen wollen, in den nächsten Monaten beschaffen. In diesem Zusammenhang eine Bemerkung an den Bundesfinanzminister: Man gewinnt, wenn man die öffentliche Debatte über die Treuhandproblematik verfolgt, mitunter den Eindruck, als sei für all das, was da geschieht und häufig schiefläuft, einzig und allein Herr Rohwedder verantwortlich. Ich muß darauf hinweisen: Die Bundesregierung, namentlich der Finanzminister, hält sich da eher zurück. Ich betone deshalb, daß die politische Verantwortung für jeden Arbeitsplatz, der nicht erhalten wird, und für jedes Unternehmen, das dichtgemacht wird, bei der Bundesregierung liegt. Ich fordere Sie deswegen auf: Sorgen Sie dafür, daß alle Arbeitsplätze, die erhalten werden können, erhalten werden. Die volkswirtschaftlichen Kosten hoher Arbeitslosigkeit, hoher Bevölkerungsabwanderung, hoher Subventionen für die Ansiedlung neuer Industrie sind allemal höher als die Kosten der Sanierung und Umstrukturierung bestehender Betriebe. Ich sehe, daß meine Redezeit abgelaufen ist.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, ich bin gezwungen, in der Aktuelle Stunde sehr darauf zu achten, daß die Redezeit eingehalten wird. Die ortsbekannte Großzügigkeit kann also in diesem Fall nicht gelten.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gut. Ich danke Ihnen. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Skarpelis-Sperk.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Roth, wir alle wollen heute gewiß nicht auf den Mitarbeitern der Treuhand herumprügeln, die ohne Zweifel in einem gewaltigen Arbeitseinsatz mit unzureichenden Arbeitsmitteln eine in der deutschen Nachkriegsgeschichte unerhörte Aufgabe gestellt bekommen haben. Aber wir dürfen die Augen auch nicht davor verschließen, daß mit der Treuhand eines der wichtigsten Instrumente zur Erhaltung der Arbeitsplätze und der Produktionskapazitäten in den östlichen Bundesländern unzureichend eingesetzt wird, daß sie ohne klare Richtlinien arbeitet und in vielen Fällen leider kläglich versagt. Tatsache ist: Wir stehen nicht mehr vor, sondern mitten in dem größten wirtschaftspolitischen, industriepolitischen und regionalpolitischen Desaster der deutschen Nachkriegsgeschichte. ({0}) Dieses Desaster war nicht nur vorhersehbar; es wurden auch präzise Informationen über die Problemregionen und die Problembranchen ignoriert und bewußt politisch beiseite geschoben. ({1}) Schon Mitte August des vergangenen Jahres lagen dem Wirtschaftsausschuß nach einer Reise in die Gebiete der damaligen DDR verbindliche und eher zu optimistische Informationen vor, daß unter Konkurrenzbedingungen 41 To der elektrotechnischen und der Elektronikindustrie und 37 % des Erzbergbaus, der Metallurgie und der Kaliindustrie akut konkursgefährdet seien. Als bedingt sanierungsfähig galten immerhin 47 % der chemischen Industrie, 45 To des Maschinenbaus, des Erzbergbaus und der Metallurgie sowie 43 % der Kaliindustrie. Die heutigen regionalen Krisenbereiche, in denen sich die sektoralen Katastrophen konzentrieren, waren damals schon bekannt. Es war bekannt, daß es der Süden der östlichen Bundesländer sein werde. ({2}) Für Kohle und Energie waren es die Länder Sachsen, Thüringen und Brandenburg mit den Standorten Cottbus und Leipzig, für den Erzbergbau, die Metallurgie und Kali die Standorte Henningsdorf, Thale, Gröditz, Mansfeld, Merken, Sondershausen und Strelitz, für die Chemie die Standorte Bitterfeld, Buna, Wolfen, Schwarza, Böhlen. Müssen Sie denn erst jetzt von der Treuhand erfahren, daß die Chemie dort nicht überlebensfähig sein werde? ({3}) - Dr. Sperling [SPD]: Nicht die Leute belügen, es würde allen bessergehen!) War denn nicht klar, daß sich in Buna und Leuna die Katastrophe ankündigte? ({4}) In der Elektrotechnik und der Elektronik, im Maschinenbau und in der Leichtindustrie sind alle Länder betroffen. Auch daß die Textilindustrie und die Glasindustrie betroffen sein würden, war klar. Daß allerdings sogar Carl Zeiss in Jena akut konkursgefährdet sein werde, ist damals selbst den größten Pessimisten nicht eingefallen. Bereits im Sommer des vergangenen Jahres war absehbar und ist kritisiert worden, daß die unterschiedslose kontigentierte Zuweisung der Betriebsmittelkredite bei den sanierungsfähigen Betrieben nicht richtig helfen und bei den Konkursbetrieben das Sterben nur verlängern würde. Aber indem Sie allen Mittel gegeben haben, wollten Sie das Ganze nur herauszögern, damit das Sterben möglichst erst nach dem Wahltermin beginnt. ({5}) Das ist die Realität. Das bedeutet: Sie haben allen die Sanierungsmittel so verkürzt, daß sie kaum mehr sanierungsfähig und privatisierungsfähig waren. Unglaubliche Summen öffentlicher Gelder wurden für Kurzarbeit verschleudert, statt sie über die Treuhand oder für regionale Wirtschaftsförderung oder für die Kommunen für regionale Bau- und Infrastrukturprogramme sinnvoll einzusetzen und wenigstens die Bauindustrie zu aktivieren. ({6}) Sagen Sie nicht, daß es keine Alternativen gegeben habe; denn sie sind Ihnen in diesem Hause vorgetragen und hier diskutiert worden. ({7}) Aber wegen ideologischer Scheuklappen haben Sie nun einen gewaltsamen Deindustrialisierungsprozeß in den östlichen Bundesländern, eine fast systematische Zerstörung der alten Industriestandorte der ehemaligen DDR und finanziell und ökonomisch das Herabsinken ganzer DDR-Regionen zu einer Sozialtransferkolonie mit einem heute schon miserablen Regionalimage. Und die Wanderungsbewegungen, von denen Sie, Herr Kollege Grünbeck, so besorgt gesprochen haben: Mit welcher Strategie wollen Sie sie denn aufhalten? ({8}) - Herr Kollege, Sie haben doch vor den Wahlen erklärt, das gehe alles ohne Steuern, das gehe mit der Übertragung der Wirtschafts- und Währungsunion.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Skarpelis-Sperk, den Dialog mit dem Abgeordneten Grünbeck müssen Sie an anderer Stelle fortsetzen. Es tut mir leid, aber Ihre Redezeit ist abgelaufen. Ich muß darauf achten.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich werde das mit Vergnügen tun und bitte die Bundesregierung, ihr löbliches Vorhaben, jetzt immerhin über Kriterien der Industriepolitik nachzudenken, ({0}) auch wirklich durchzuführen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Kriedner.

Prof. Dr. h. c. Arnulf Kriedner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001217, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir doch eine persönliche Eingangsbemerkung: Für alte Hasen mag der Weg hierher ein leichter und ein kurzer sein. Für jemanden, der hier das erste Mal spricht, ist es sicher etwas nervenaufreibender. ({0}) - Vielen Dank. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will doch mit einigen Bemerkungen auf die Vorredner eingehen. Ich glaube, dies ist notwendig, weil wir hier in einer für diesen Bundestag sehr typischen Weise zwei Redebeiträge, und zwar der Form wie dem Inhalt nach, erlebt haben, die sicher von sehr kritischen Beobachtern dieser Bundesregierung kommen: einmal den Beitrag, der hier von der PDS abgeliefert worden ist, und zum anderen den Beitrag von Herrn Schulz. Man kann ja anderer Meinung sein, aber das, was Herr Briefs hier vorgetragen hat, war schon an der Grenze des Erträglichen; das möchte ich einmal ganz deutlich sagen. ({1}) Herr Briefs, es ist hier von der Verantwortlichkeit der Bundesregierung für das gesprochen worden, was „drüben" passiert. Daran, daß diese Verantwortlichkeit gegeben ist, haben wir alle keinen Zweifel. Aber die Urverantwortung tragen diejenigen, Herr Briefs, denen Sie nachfolgen, für die Sie hier sitzen. Das sollten Sie sich einmal vergegenwärtigen! ({2}) - Herr Briefs, da nützen auch unqualifizierte Zwischenrufe nichts; mit der Verantwortung müssen Sie leben. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Dr. Briefs, Sie haben das Wort zur Zeit nicht. ({0})

Prof. Dr. h. c. Arnulf Kriedner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001217, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Briefs, wir haben zumindest nicht in Holland gesessen, wie das zur Zeit andere tun, die von dort aus ihre Weisheiten über Deutschland verkünden. ({0}) - Auch du lieber Gott, ich bitte Sie! Das war ein billiger Zuruf.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Dr. Briefs, lassen Sie den Redner seine fünf Minuten ausnutzen; das war bei Ihnen auch der Fall.

Prof. Dr. h. c. Arnulf Kriedner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001217, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will nun noch etwas zur Semantik in dieser Debatte sagen. Ich habe mir ein paar Begriffe aufgeschrieben, die insbesondere in der Fragestunde benutzt worden sind. Meine Damen und Herren, liebe Kollegen von der SPD, nun machen Sie es sich nicht so leicht, ein von Ihnen erfundenes aktuelles Wort hier bis zur Perversion überzustrapazieren, nämlich das Wort „Lüge". Herr Sperling, Sie haben soeben ganz kurz und schlicht gesagt: Nicht die Leute belügen! Und dabei neigen Sie selbst dazu, als Sie nämlich von eineinhalb Jahren sprachen, die die Bundesregierung die Verantwortung trage. Da haben Sie es mit der Wahrheit nicht ganz so genau genommen. ({0}) - Da haben Sie es mit der Wahrheit nicht so genau genommen; denn rechnen können wir schließlich alle noch. Aber lassen Sie mich etwas zum Thema Treuhand selbst sagen, meine Damen und Herren: Die Treuhand ist zu Recht mit einer Reihe von kritischen Beiträgen überzogen worden. Es gibt eine ganze Reihe von Punkten, in denen gerade wir Abgeordnete von „drüben" uns mit der Treuhand sehr kritisch auseinandersetzen. Ich will es an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Mir ist in einem großen Bereich viel zuviel Zentralismus. Mir sind die Schwierigkeiten bekannt, die dort auch in der personellen Zusammensetzung bestehen. Da sitzen an einigen Stellen bei der Treuhand noch Leute aus dieser ganz linken Richtung, die da nicht hingehören und die ein Gutteil Verantwortung wieder mittragen, aber nach meiner Meinung nicht tragen sollten. ({1}) - Auch gar nicht tragen können, selbstverständlich. Es ist in der Tat so - und das müssen wir kritisch beleuchten; in der nächsten Woche findet im Rechtsausschuß dazu noch eine Betrachtung statt -, daß dieses Gesetz mich wegen seiner überaus starken Bürokratisierung nicht befriedigt. Aber, meine Damen und Herren, wir tun uns alle gemeinsam doch keinen Gefallen - und da appelliere ich insbesondere an die Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion - , wenn wir nun nach dem alten Strickmuster Regierung/Opposition versuchen, diese Aufgabe in Grund und Boden zu reden. Ein Mindestmaß an gemeinsamer Verantwortung muß schon vorhanden sein. ({2}) Wenn hier ein SPD-Abgeordneter vom Prinzip Verantwortung gesprochen hat, dann möchte ich Sie beim Portepee fassen: Tragen Sie ein bißchen Mitverantwortung, und zerreden Sie dieses Thema nicht in der Art und Weise, wie Sie es heute getan haben! Das ist meines Erachtens ein Schuß, der nach hinten losgeht. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat Herr Abgeordneter Zywietz. ({0})

Werner Zywietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002612, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe die Begrüßung schon vernommen; ich werde darauf zurückkommen. Ich meine, diese Debatte könnte uns zumindest zweierlei lehren, und ich begrüße recht herzlich die Freunde der Marktwirtschaft auf der Seite der SPD, die kleine Gruppe, die hier ist. Diese Debatte sollte uns doch eigentlich zu der Einsicht bringen, wie schlecht Staats- und Planwirtschaft ist und wie schwierig es ist, von einer verkorksten Staats- und Planwirtschaft zu einer vernünftigen, modernen Marktwirtschaft zu kommen; darüber sollte man doch wohl nachdenken. Diejenigen, die hier sind - so habe ich sie zumindest verstanden - , machen sich auch Gedanken darüber, wie wir diese schwierige Veränderung zum Nutzen der Bevölkerung insbesondere in den fünf neuen Bundesländern, aber auch zu unserem eigenen Nutzen bewerkstelligen können. Da nutzt es überhaupt nichts, sich allzusehr an der Treuhand-Anstalt zu reiben. ({0}) Dieser Versuch, der eigentlich ins Guinness-Buch der Rekorde gehört, heißt schlicht, von der Staatswirtschaft auf kurzem Wege, ohne viel Verschnitt, zu einer funktionierenden Marktwirtschaft zu kommen. ({1}) - Sie als Giftmischer sind am wenigsten geeignet, um sich hier als Hausdoktor aufzuspielen. ({2}) Der Brandstifter weiß immer am ehesten, wo das Feuer gelegt ist. Also hören Sie doch auf! - Ich will nicht weiter darauf eingehen. ({3}) Wir haben hier eine Aufgabe zu erfüllen, und einiges, was hier von der SPD gesagt worden ist, ist auch für uns durchaus nachdenkenswert. Es wäre zwar fast schlimm, wenn es keine Kritik an der Treuhandanstalt gäbe, wenn da sozusagen eine perfekte Ruhe herrschte. Worum es hier geht, ist das mühsame Suchen danach, wie wir von der Staatswirtschaft zur Marktwirtschaft kommen. Die Einsicht, die wir haben sollten, ist, wo eigentlich die Mängel, Nachteile und Fehler dieser Staatswirtschaft liegen. Stichworte sind hier genannt worden, aber ich will es aus meiner Sicht und aus der Sicht der FDP auf den Punkt bringen. ({4}) Ein Fehler der alten Wirtschaftsform ist, daß es die verkehrten Eigentümer gab. Der Staat als Eigentümer taugt nicht, um marktnahe und marktfähige Produkte in einer großen Zahl zu erzeugen. ({5}) Das heißt, die erste Schlußfolgerung ist: Eigentümer Staat weg, private Eigentümer her! Und das macht die Treuhandanstalt, und wir werden sie darin unterstützen. Bei der Gesetzgebung - die Stichworte sind genannt worden -, bei der Beratung und hinsichtlich der Mitarbeiter sowie dort, wo noch bottlenecks sind, hat sie unsere Hilfe - bei aller Kritik, die es hier und da gibt. Das ist die Marschrichtung. Der Eigentümer Staat hat es noch nicht einmal geschafft, im Wege der Zuteilung die Menschen mit dem Lebensnotwendigsten zu versorgen, geschweige denn, marktgängige Produkte herzustellen. Mit einem Trabi können Sie keine Rallye fahren, damit können Sie international nicht antreten. Dann gibt es Arbeitslose, weil kein Mensch so ein Produkt haben will; das ist doch das Problem. Deswegen ist der zweite Schritt, daß die Treuhand-Gesellschaft aus Großkonzernen, die nicht marktfähige Produkte und Leistungen erbracht haben, kleinere Einheiten macht, die Qualifizierung vorantreibt, Unterstützung gibt und marktfähige Leistungen und Produkte auf den Weg bringt. Da gibt es nicht den marktwirtschaftlichen Urknall - gestern nichts, heute alles - , sondern daran muß man sich langsam heranarbeiten. Darüber diskutieren wir strittig, das ist in Ordnung. ({6}) Sie sind eingeladen, da mitzumachen. Es gibt einiges, das stört: mangelnde Kooperation mit Kommunen, Mängel in Sozialplänen, vielleicht fehlt hier und da auch noch eine Mark. Aber das dritte, größte Hemmnis - das möchte ich in diesen fünf Minuten noch sagen dürfen - ist die Marktferne. Es gibt zu viele Seilschaften, die Verantwortung tragen und die von Markt noch nie etwas gehört haben - höchstens als Wendehälse. ({7}) Sie taugen nicht dafür, diese Umsteuerung vorzunehmen. Wenn die guten Leute in der Zentrale sicherlich schon vertreten sind, dann ist das gut. Aber in den Zweigstellen und auf den unteren Ebenen sind sie zahlenmäßig noch lange nicht in dem Maße vertreten, wie das sein müßte. Auf diese Dinge werden wir achten. Diesen Weg - Beseitigung von Hemmnissen und Mängeln, aber schnurstracks auf eine mittelständisch orientierte Marktwirtschaft gerichtet - werden wir gehen. ({8}) Alle, die bei der SPD einer anderen Idee, um nicht zu sagen Ideologie anhängen - ich habe auch manches Positive gehört, aber es gibt auch viele, die diesem Weg nicht folgen -, sind herzlich eingeladen, der FDP zu folgen. Denn wir sind die marktwirtschaftliche Führungskraft! Vielen Dank. ({9})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Schwanhold.

Ernst Schwanhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002122, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Arbeit der Treuhandanstalt ist vielfältiger öffentlicher Kritik ausgesetzt. Dies ist richtig. Dabei wird die Treuhand eigentlich nur vorgeschoben; der Kritik ausgesetzt sein müßte die Bundesregierung, ({0}) weil sie für das verantwortlich ist, was die Treuhand macht. Die Kritik der Treuhand - ich will sie auf die Seilschaften beziehen - besteht zu Recht. Ich habe in einer Zwischenfrage schon darauf hingewiesen: Ich will die Kritik an der Treuhand ausdrücklich auf die Bundesregierung erweitern, weil ich mich des Eindrucks nicht erwehren kann, daß sie auch Verbindungen zwischen Wirtschaftsunternehmen hier und Wirtschaftsunternehmen sowie Verantwortlichen aus der Vergangenheit dort zuläßt. Die im Zuge des deutschen Einigungsprozesses mit der Gründung der Treuhand-Anstalt durch die Bundesregierung geweckten Erwartungen waren zu hoch gesteckt. Das Instrumentarium für einen wirtschaftlichen Sanierungsprozeß ist nicht ausreichend, und die Einschätzung des Zustandes der Wirtschaft Ostdeutschlands war völlig falsch, und ist es zum Teil heute noch. Zwischenzeitlich wird der Sack geprügelt, obwohl eigentlich der Hund gemeint ist. ({1}) - Oder der Esel. Die Treuhand, die Landesregierungen - alle sind sie schuld, nur die Bundesregierung ist es nach ihrem eigenen Verständnis nicht. Deshalb möchte ich nach meiner Einschätzung zwei wesentliche Ursachen für den Niedergang und die wirtschaftliche Ineffektivität der Aufgaben der Treuhand beschreiben. Dies kann im wesentlichen mit zwei Zielen umschrieben werden. Erstens: Teilen und Privatisieren. Das, was sich nicht teilen und privatisieren läßt, wird - zweitens - abgewickelt, d. h. liquidiert - ohne Rücksicht auf Arbeitsplätze. Denn Sanierungskonzepte im eigentlichen Sinne haben Sie nicht vorgelegt. Ich will Ihnen ein Sanierungsbeispiel nennen, von dem ich denke, daß man gemeinsam darüber nachdenken könnte: Wir finanzieren im Bereich Leipzig bei unterschiedlichen Unternehmen Arbeitslosigkeit in Form von Kurzarbeit null. Ich will drei Chemiebetriebe nennen: die VEB Lakufa, die Bussard-Werke in Radebeul und die Leuna-Werke. Diese Arbeitslosigkeit zu finanzieren heißt, Kapazität zur Sanierung der Umweltschäden in diesem Bereich brachliegen zu lassen. Gleichzeitig gibt es in Leipzig eine Gesellschaft, die Chemieanlagen baut, der VEB Chemie-Anlagen-Bau. Dieser Betrieb hat die Planungskapazität, Umweltsanierung vorzunehmen. Aber auch dort wird Kurzarbeit null finanziert. Es gibt kein Sanierungskonzept. Würde man nun die Planungskapazität dieses Betriebes und die Sachkompetenz der drei Betriebe, die zu Hause brachliegen, zusammennehmen und versuchen, in diesen drei Betrieben Umweltsanierung vorzunehmen, dann wären sie sanierungsfähig, sie hätten Produktinnovation, und sie hätten am Markt eine Chance. Aber dieses Modell wird nicht durchgeführt, weil einfach die Konzeption gefehlt hat. ({2}) Statt dessen sind Sie dabei, Arbeitslosigkeit zu finanzieren und die Mitmenschen dort in die Verzweiflung zu treiben. Am Ende werden alle vier Betriebe keine Überlebenschance haben, weil ihnen die Konzeption und die Chance, Innovation zu betreuen, genommen wird. Dr. Wild von der Treuhand in Berlin hat dies im Wirtschaftsausschuß sehr glaubwürdig dargestellt. ({3}) - Für mein Verständnis hat er die Chancen und die Risiken hinsichtlich der Arbeitsplatzsituation - 2 Millionen Menschen sind in der ehemaligen DDR konkret von Arbeitslosigkeit bedroht - sehr glaubwürdig dargestellt. Sie kommen aus den vier Betrieben, die ich Ihnen gerade genannt habe. Ich weiß, wann der erste Betrieb dicht gemacht wird, weil ihm nicht die Chance gegeben wird, sich im Bereich der Umweltpolitik zu sanieren. Ich will Ihnen einen zweiten Punkt nennen, den ich für noch viel schlimmer halte: Die Schäden und die Risiken, die sich dort aus der ökologischen Katastrophe ergeben, kommen in den nächsten Jahren unweigerlich auf die öffentlichen Hände zu. Wir haben trotzdem zu bezahlen: Erst zahlen wir Arbeitslosigkeit und machen keine Sanierung, hinterher finanzieren wir dann die ökologische Sanierung der ehemaligen DDR. Dies kann doch nicht das Prinzip sein. Da gibt es doch einen Ansatzpunkt, wo wir zu arbeiten haben. ({4}) Lassen Sie mich deshalb sagen, daß es sinnvoll wäre, den Auftrag der Treuhand deutlich in Richtung Sanierung zu erweitern und ihr dazu die Chance geben und die Mittel an die Hand zu stellen. Gestatten Sie mir, mit einem polemischen Satz zu enden: Wenn ich Imbißbudenunternehmer wäre, würde ich dieser Bundesregierung auf Grund der wirtschaftlichen Fehleinschätzungen nicht die Sanierung meines Betriebes überlassen, wobei ich mich bei allen Imbißbudenbesitzern entschuldige. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Grünewald. - Entschuldigen Sie, Herr Staatssekretär, daß man Sie nicht unterrichtet hat, aber das hängt auch mit der Geschäftsordnung zusammen; denn die Sozialdemokraten und die anderen Oppositionsparteien müssen, soweit sie noch Redezeit haben, die Möglichkeit haben, auf die Bundesregierung zu antworten.

Dr. Joachim Grünewald (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000739

Danke schön, Herr Präsident. Ich beklage mich auch nicht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kollegen von der Opposition, für die Bundesregierung darf ich sagen: Es ist schon ein wenig betrüblich, ja besorgniserregend, in welcher Weise Sie hier Kritik üben. Da war nichts Konstruktives, sondern Kritik - teilweise in einer ausgesprochen unangemessenen Form, Herr Briefs. Herr Kollege Zywietz hat schon recht, wenn er sagt: Wir mögen diese Brandstifter nicht als Feuerwehrmänner. ({0}) Lassen Sie mich vorab eines sagen dürfen: Zur Treuhandanstalt gibt es keine Alternative. Sie haben hier auch nichts Konstruktives an Vorschlägen vorgetragen. Zur marktwirtschaftlichen Umstrukturierung und damit zur Belebung der Wirtschaft brauchen wir Investitionen in- und ausländischer Investoren. Da hat die Treuhandanstalt eine Schlüsselrolle. Sie ist auf der einen Seite die Abwicklungsstelle für die gescheiterte Planwirtschaft und auf der anderen Seite das Entscheidungszentrum, wenn Sie so wollen, für die marktwirtschaftliche Neustrukturierung. Die Aufgaben und Probleme, denen sich die Treuhandanstalt gegenübersieht, sind einmalig in der Geschichte. Deswegen sollte man ein bißchen vorsichtiger mit dieser Anstalt umgehen. Ihre Arbeit ist schwer, aber mit unser aller Hilfe auch lösbar. Dies kann aber nicht, wie viele meinen, in wenigen Tagen oder Monaten geschehen. Deshalb ist derzeit eine pauschale Kritik an der Arbeit der Treuhandanstalt unberechtigt, wenn sie auch in Einzelfällen - das sei gar nicht geleugnet - noch so berechtigt sein mag. Es ist nun einmal so: Wo gehobelt wird, gibt's Späne. Und bei der Treuhandanstalt wird gehobelt und muß augenblicklich gehobelt werden, damit es vorangeht. Die erste Aufgabe der Treuhandanstalt ist die Privatisierung von Unternehmen. Ihren vorrangigen Privatisierungsauftrag hat die Treuhandanstalt bereits mit ganz bemerkenswertem Erfolg angenommen. Bislang sind allein im Bereich der Treuhandzentrale rund 260 Unternehmen privatisiert worden, durch die Niederlassungen weiterer 426. Insgesamt werden damit 290 000 Arbeitsplätze in nunmehr privatwirtschaftlichen Unternehmen geführt. Von den privaten Investoren wurden bei den Privatisierungen Investitionen von, man höre und staune, insgesamt 47 Milliarden DM zugesagt. Die Treuhandanstalt hat damit einen Privatisierungserlös von brutto rund 3,8 Milliarden DM erzielt. Die Privatisierung von Einzelhandelsbetrieben ist nahezu abgeschlossen. Mittlerweile sind die kleinen Einzelhandelsbetriebe voll privatisiert. Die Privatisierung der größeren Einzelhandelsbetriebe wird in naher Zukunft abgeschlossen sein. Insgesamt werden durch die Privatisierung von Einzelhandelsbetrieben, Gaststätten und Apotheken über 16 000 selbständige Existenzen gegründet. Der überwiegende Teil dieser Betriebe ist an Interessenten aus den neuen Bundesländern gegangen. Ich finde, die genannten Privatisierungserfolge sind einfach beachtlich und anerkennenswert. Dennoch ist eine Beschleunigung natürlich wünschenswert. Hierum bemühen sich der Bundesminister der Finanzen und der Vorstand der Treuhandanstalt redlich in gleicher Weise. Beschleunigt werden muß vor allem die Reprivatisierung. Hierzu hat die Bundesregierung die erforderlichen Gesetzesänderungen eingebracht. Ich bin sicher, mit diesen Maßnahmen wird zumindest ein größerer Teil der derzeitigen legislativen Hemmnisse aus dem Weg geräumt. Jetzt kommt es darauf an, den rechtlichen Rahmen in die Praxis umzusetzen. Dazu bedarf es einer schnellen Verbesserung der personellen Ausstattung bei den zuständigen Behörden in den neuen Bundesländern. Denn dort fehlt es im Augenblick weniger an Geld als vielmehr an der Gestaltungskraft einer leistungsfähigen, korruptionsfreien Verwaltung über alle Ebenen, bei Bund, Ländern und Gemeinden. Hier müssen insbesondere die alten Bundesländer, aber auch die Kommunen noch mehr leisten. In gleichem Maße sind auch bei den Treuhand-Niederlassungen weitere organisatorische und personelle Maßnahmen erforderlich, um die Landesbehörden bei der zügigen Reprivatisierung zu unterstützen. Nach den bisherigen Erfahrungen wird deutlich: Die rasche Privatisierung der gesamten ehemals volkseigenen DDR-Unternehmen ist in ihrer heutigen Struktur ganz einfach nicht möglich. Die Treuhandanstalt muß deshalb verstärkt auch die Strukturanpassung der unter marktwirtschaftlichen Bedingungen zwar lebensfähigen, aber nicht sofort privatisierungsfähigen Unternehmen in die Wege leiten. Zukünftige Privatisierungserfolge werden maßgeblich vom Erfolg der Sanierungsfortschritte sowie der Entflechtung und raschen Stillegung der nicht lebensfähigen Unternehmensteile abhängen. Der Vorstand der Treuhandanstalt ist sich dieses Zusammenhangs sehr wohl bewußt. Er hat bereits verschiedene Instrumente entwickelt, wie die unternehmerische Führung von lebensfähigen, aber noch nicht sofort privatisierungs- und verkaufsfähigen Unternehmen verbessert werden kann. Das vom Bundeskanzler initiierte Gemeinschaftswerk für den Wiederaufbau der Wirtschaft in den neuen Bundesländern wird neue Investitionsanstöße für die Schaffung von Arbeitsplätzen bringen. Darin ist auch eine enge Abstimmung von Länder- und Gemeindebehörden, Bundesanstalt für Arbeit und Treuhandanstalt bei der Stillegung von Betrieben vorgesehen. Die Arbeit der Treuhandanstalt trägt entscheidend dazu bei, daß privates Engagement und unternehmerische Initiative zum Motor des wirtschaftlichen Neuaufbaus werden können. Hören wir deswegen bitte mit allzu schneller, allzu voreiliger Kritik auf! Greifen wir gemeinsam in die Räder! Unterstützen Sie diese unsere Treuhandanstalt für einen alsbaldigen, glücklichen Erfolg für uns alle, insbesondere für unsere Landsleute in den neuen fünf Bundesländern! Ich danke Ihnen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordneten Austermann. ({0})

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist, glaube ich, dem Thema angemessen, daß man es vernünftig behandelt. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir unterhalten uns heute über die Situation in der Treuhandanstalt. Es gibt in einigen Bereichen durchaus Auffassungen, die mit denen übereinstimmen, die von der Seite der Opposition, soweit sie von der SPD repräsentiert wird, geäußert wurden. Worin es überhaupt keine Übereinstimmung gibt, ist die These, daß die Treuhandanstalt selbst oder gar die Bundesregierung ursächlich für die gegenwärtige Situation sei. Ursächlich für das, was dort zu verzeichnen ist, ist - dies ist mehrfach unterstrichen worden - die sozialistische Kommandowirtschaft der letzten 40 Jahre. Es zeichnet sich nicht ein Niedergang in den letzten Wochen ab, sondern es ist offenkundig, daß der Niedergang über Jahre hinweg durch die damalige Regierung bewirkt worden ist; dies muß deutlich gesagt werden, um die Verhältnisse nicht zu verschieben und um die Ursache zu erkennen. Wenn dann manch einer der Regierung vorwirft, sie hätte zu spät erkannt, wie sich das Ganze entwickelt, mag man ihn an ein Wort von Lafontaine vom Juli 1990 erinnern, als er vom blühenden Industrieland der DDR sprach, das in Gefahr geraten würde. Dieses Zitat kann man gar nicht oft genug wiederholen. ({0}) Die Treuhandanstalt ist in der Tat Abwicklungsstelle für gescheiterte Planwirtschaft und Entscheidungszentrum für marktwirtschaftliche Umstrukturierung. Dabei ist nach unserer Auffassung die Privatisierung vorrangig. Sie hängt natürlich mit der Abwicklung zusammen, die Schwierigkeiten verursachen kann, auch deshalb, weil es noch alte Seilschaften gibt. Hier liegen wir gar nicht so weit auseinander. Wir müssen allerdings feststellen, daß einiges an den Führungsstrukturen in der Tat korrigiert worden ist. Das Management mit neuen Vorstandsmitgliedern ist jetzt komplett. Auch die nachgeordneten Ebenen sind vernünftig besetzt, zumindest an der Spitze. Obwohl in der Zentrale inzwischen tausend Mitarbeiter arbeiten, muß man davon ausgehen, daß das für kurze Zeiträume noch zu wenig ist. Immerhin verwaltet die Treuhand fünf Millionen Arbeitsplätze in den unterschiedlichsten Branchen. Man weiß, was das für Probleme verursachen kann, wenn man sich vor Augen führt, welche Probleme allein die Werftregionen haben - auch die Werftregionen in der Bundesrepublik haben solche Probleme gehabt -, welche Probleme die Kohle auch heute in der Bundesrepublik noch hat, vernünftige Strukturen zu behalten. Ich glaube, daß es vernünftig ist, die Treuhandanstalt und ihre Mitarbeiter arbeiten zu lassen. Auch von dort muß mehr Einsatz gebracht werden. Ich finde, daß dort manch einer vielleicht zuviel auf Interviews reflektiert, anstatt sich tatsächlich um die Dinge zu kümmern. Manches ist sicher auch dadurch in Schwierigkeiten geraten, weil im letzten Jahr einige der Herren in der Leitung alles allein machen wollten und dadurch manche Dinge vertrödelt haben. Ich gehe davon aus, daß manch ein Projekt, ob das Interflug ist, ob das die Hotelketten sind, ob das andere Dinge etwa im Bereich der Industrie in Thüringen sind, besser hätte bewältigt werden können. Aber immerhin ist es gelungen, die regionale Verantwortung durch neu gebildete Beiräte stärker zu betonen. Ich möchte dabei unterstreichen, daß sich die Ministerpräsidenten der fünf neuen Bundesländer nicht darauf verständigt haben, bei bestimmten Entscheidungen der Treuhandanstalt ein Vetorecht einzuführen. Sie gehen also auch davon aus, daß in erster Linie die Fachkompetenz der Unternehmensführung in der Treuhand die Entscheidung treffen sollte. Ich meine, daß insgesamt regional- und sozialpolitische Ziele durchaus mehr zum Durchbruch kommen sollten. Die Versuche des letzten Jahres, die Wettbewerbspolitik zu antizipieren, sind meines Erachtens allesamt gescheitert. Wir müssen auch aufpassen, daß nicht oberstes Ziel ist, möglichst lange zu hökern. Manchmal ist so lange gehökert worden, bis kein Bewerber mehr da war. Vorrang hat die Privatisierung von Unternehmen. Dabei sind schnelle Entscheidungen gute Entscheidungen. Die Höhe des Erlöses ist meines Erachtens nicht immer ausschlaggebend. Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang ist die Bereitstellung von Grund und Boden. Hier gibt es in der Tat einen zweiten eklatanten Unterschied zwischen den Auffassungen der Union und sicher auch der FDP auf der einen Seite und der Opposition auf der anderen Seite, die die Meinung vertritt, die Grundstücksenteignung müsse in erster Linie durch Entschädigung und nicht durch Rückübertragung von Grundstücken korrigiert werden. 45 Jahre Willkür im Bereich des Eigentums können nicht durch Entschädigungszahlungen, durch neues Unrecht und durch eine Verletzung der Verfassung, eine Mißachtung des Grundrechtes des Eigentums gutgemacht werden. ({1}) Wir sind der Meinung, das Grundrecht auf Eigentum muß beachtet werden. Das bedeutet, daß auch dort schnellere Entscheidungen getroffen werden sollten. Das heißt, wir müssen die Grundbuchämter, die Katasterämter, die Verwaltungen unterstützen. Wenn dann von allen Seiten gefordert wird, in den neuen Bundesländern würden mehr Beamte gebraucht, aus dem Westen müsse mehr geholfen werden, dann frage ich, weshalb beispielsweise das Land Schleswig-Holstein bis heute lediglich 200 Mitarbeiter in bestimmten Bereichen abgestellt hat. Ich glaube, daß hier durchaus noch mehr getan werden kann. Eines muß bei den Diskussionen um die Treuhand klar sein: Wir lösen die Probleme nicht, indem wir auf die Führung der Treuhand prügeln. Wir lösen sie nur dann, wenn wir möglichst rasch marktwirtschaftliche Grundsätze mit der Bejahung des wesentlichen Prinzips Eigentum durchsetzen helfen. Vielen Dank. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Müller ({0}).

Christian Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mir ist bewußt, daß die Treuhandanstalt in den fünf neuen Ländern geradezu eine Jahrhundertaufgabe zu lösen hat. Sie verwaltet einen Koloß von 8 000 Betrieben. Diese Zahl wurde heute genannt. Den Privatisierungen und stillen Liquidationen stehen wohl gegenwärtig 1 500 mehr oder weniger ausgereifte Sanierungskonzepte gegenüber, die bisher noch nicht zur Wirkung gekommen sind. Entlassungen und Kurzarbeit sind gegenwärtig folglich die vorwiegend leider negative Bilanz bei der Lösung dieser schwierigen Aufgabe. Es ist offenkundig, daß die zu fällenden Entscheidungen von schwerwiegender Konsequenz für die betroffenen Regionen sind, vor allem aber für die dort lebenden Menschen. ({0}) Dabei habe ich neulich im Wirtschaftsausschuß mit Interesse zur Kenntnis genommen, daß die Treuhand nicht ausdrücklich als Instrument regionaler Strukturpolitik angesehen wird. Das ist ja wohl auch nicht ihre per Gesetz verordnete Aufgabe. Dennoch ist völlig klar, daß die Treuhandanstalt die künftigen Strukturen wesentlich beeinflußt, im negativen wie im positiven Sinne. Keine ihrer Entscheidungen bleibt ohne Folgen für den einzelnen, die Gemeinschaft, für Kommunen, Regionen und Länder. Die davon direkt Betroffenen kommen gar nicht zu Wort, es sei denn, sie griffen zum einzigen Mittel, welches Öffentlichkeit für ihre Probleme herstellt, und das sind Demonstrationen und Besetzungen. So etwas erleben wir gegenwärtig. Dies ist offenbar die unmittelbare Folge des Eindrucks, niemand sei für sie zuständig, schlimmer noch, man wolle sowieso erst einmal alles kaputtgehen lassen. Die negativen Erscheinungen wie Konkurse oder stille Liquidationen haben die bekannten Folgen. Sie sind für bestimmte Regionen von dramatischer Bedeutung. Allgemeine Politikverdrossenheit ist nur eine der Folgen. Aber gerade diese Folge ist schädlich für die Entwicklung der Demokratie im Osten Deutschlands. ({1}) Nachdem auch Herr Blüm letzte Woche seiner Erwartung Ausdruck verlieh, daß in den neuen Bundesländern mit weit über 3 Millionen Arbeitslosen zu rechnen sei, und Herr Möllemann zugab, man habe sich hinsichtlich der Entwicklung verschätzt, muß man sich als Oppositionspolitiker wohl nicht schämen, Müller ({2}) wenn man für seine Heimatregion - das ist in meinem Fall die Oberlausitz - eine Arbeitslosenquote von vielleicht 60 % im wahrsten Sinne des Wortes befürchten muß. Daher sehe ich keine Alternative dazu, Treuhandpolitik gezielt als wesentliches Mittel der regionalen Strukturpolitik zu betreiben. ({3}) Das kann natürlich die Institution Treuhand nicht selbst leisten. Die Bundesregierung muß die Verantwortung dafür übernehmen. Wesentliche Voraussetzung für die Einbindung der Treuhand in die regionale Strukturpolitik ist, daß endlich ein klares Gesamtkonzept für Infrastruktur und Investitionsförderungsmaßnahmen vorgelegt wird. Dazu gehören eindeutige Präferenzen in der Investitionsförderung für die seit Jahrzehnten benachteiligten Gebiete. Gerade wenn man daran denkt, Länder wie Polen und die CSFR künftig in die EG zu integrieren, kann man die östlichen Grenzregionen nicht zu wirtschaftlichen Jammertälern verkommen lassen. ({4}) Diese Gebiete sollen doch einmal eine Brückenfunktion - auch im Sinne des Arbeitskräfteaustausches - nach Osten erfüllen können. Die Wahrheit aber ist, daß ebendiese Regionen, z. B. meine Oberlausitz, aber auch andere östliche Grenzregionen gegenwärtig in doppeltem Sinne gestraft sind: Es gab schon zu Zeiten des SED-Regimes keine Förderung von Grenzgebieten. Die Folgen sind bekannt. Fluktuation zu Zehntausenden war nur eine davon. Wenn keine Sonderförderungsmaßnahmen für diese bedrohten Regionen - z. B. eine deutlich höhere Investitionszulage als anderswo - vorgesehen werden, ist der Traum von einer besseren Zukunft schon im Ansatz erstickt. ({5}) - Ja, ja, zum Beispiel. - Die Oberlausitz darf nicht zu einer Art Mezzogiorno des Ostens werden. Ich persönlich würde jedoch Investitionsförderungsmaßnahmen vorziehen. ({6}) - Beispielsweise Steuerpräferenzen und dergleichen. Sieht man die Wirkung der Entscheidungen der Treuhand unter dem Blickwinkel der regionalen Strukturpolitik, so muß die Entscheidung über Sanierung oder Liquidation in ein gesamtpolitisches Konzept eingeordnet sein. Es geht aus meiner Sicht ganz einfach um die Erhaltung von Industriestandorten. Dabei ist es auch wichtig, daran zu denken, daß mit den wenigen um ihre Existenz ringenden mittelständischen Betrieben die Arbeitslosigkeit nicht abzufangen ist. Auf welche Kaufkraft werden denn die Mittelständler treffen, wenn bei permanenter Abwanderung wegen Arbeitslosigkeit - Sie haben das ja vorhin sehr eindrucksvoll geschildert und die Zahl 20 000 genannt - die regionalen Märkte verlorengehen? Ich will noch ein Beispiel erwähnen. In Zittau beispielsweise gibt es 3 000 erfahrene Automobilwerker. Ist es nicht sinnvoller, dort einen Produktionsstandort für Nutzfahrzeuge mit Hilfe eines Sanierungskonzepts im Rahmen von Fördermaßnahmen zu erhalten, als fast alle Betroffenen ins Nichts zu schicken? Ich sehe keine Alternative dazu. Die Treuhand sollte aus meiner Sicht regionalisiert und in ein gesamtpolitisches Konzept eingebunden werden. Das ist die Aufgabe, die ich sehe. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, das Wort hat nunmehr Frau Jaffke.

Susanne Jaffke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001008, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch wenn ich hier vor halbleerem Hause stehe, bin ich bei meiner Debütrede vor diesem Hohen Hause nicht weniger aufgeregt. Ich freue mich, als zweiter gebürtiger Ossi nach dem Kollegen Schulz vom Bündnis 90/GRÜNE hier einmal das Wort nehmen zu dürfen. ({0}) Ich habe natürlich bei meiner Partei sofort die Chance dafür bekommen. Ich wundere mich, warum die Kollegen von der SPD nur einem Import nehmen. Ich muß ihn gleich fragen, welches Automobilwerk er in Zittau meint. Oder meint er vielleicht das in Zwickau? ({1}) - Gibt es da auch eines? Das weiß ich gar nicht. Ich komme aus der entferntesten entfernten Grenzregion, die noch weiter als weit ist, nämlich schon fast in Polen. Ich bin also eine von diesen ganz armen gebeutelten Vorpommern, die bis zum vergangenen Jahr nicht einmal ihren Namen tragen durften. Auch das hatten wir den Kommunisten zu verdanken. ({2}) - Nein, bei Hitler gab es schon Vorpommern. Herr Professor Heuer, stellen Sie sich vor, bis 1815 war Vorpommern sogar schwedisch. ({3}) Wir stehen hier am 28. Februar 1991. Glauben Sie mir, vor einem Jahr war ich noch ein ganz normaler Landpraktiker, eine Tierärztin. 18 Jahre lang habe ich diesen Beruf in meiner vorpommerschen Heimat ausgeübt. Ich muß Ihnen sagen, daß ich in der Volkskammer die ganze Diskussion um die Treuhand mitgemacht habe. Ich weiß noch sehr genau, liebe Kollegen von der SPD - Sie waren damals mit uns in der Koalition -, daß Sie es nicht besser konnten, als Sie es heute können. Ich habe manchmal das Gefühl, daß wir, wenn wir die Stasi-Diskussion einmal abgeschlossen haben werden, uns das nächste Pünktchen vornehmen werden, und das wird die Treuhand sein. Wenn wir in zwei oder drei Jahren die Treuhand ein bißchen zu schnell abgehandelt haben werden, dann werden Sie uns vorwerfen, was wir alles verkehrt gemacht haben. Ich werde mich dann hoffentlich daran erinnern. Jetzt kann ich auf Grund meiner kurzen politischen Erf ah-rung natürlich noch nicht mit so vielen Zitaten von vor fünf oder zehn Jahren glänzen, wie das die Kollegen links und rechts - da nehme ich überhaupt keinen aus - vielleicht schon tun konnten. Ich möchte Sie aber einmal folgendes fragen: Wer oder was ist denn die Treuhand? Sind Sie das, sind wir das, ist das die Regierung, ist das Herr Rohwedder, ist das Frau Breuel? Wer ist denn das überhaupt? - Wir haben die Treuhand gebildet, wir haben sie zehnmal umgebildet. Sie soll funktionieren und kann nicht funktionieren. Objektive Gründe dafür sind genannt worden, subjektive Gründe dafür sind genannt worden. Ich habe das Gefühl, daß man hinter diesem Namen Treuhand sehr viel verstecken kann, nicht zuletzt auch eigene Inkompetenz. ({4}) Auch das ist sehr wichtig. Das muß ich Ihnen einmal so sagen. ({5}) Ich muß Ihnen auch einmal folgendes sagen: Wenn die Treuhand die Regierung ist und die Regierung die gewählte Exekutive, dann sind Sie als Abgeordneter genauso in der Pflicht, das zu kontrollieren, wie alle anderen auch. Wir haben ja einen Treuhandausschuß gebildet und kontrollieren die Finanzen der Treuhand. Deshalb sehe ich das gar nicht so verbissen, daß diesbezüglich nun unbedingt der Herr Waigel als Finanzminister der böse Bube ist. ({6}) Da meine Zeit fast abgelaufen ist, möchte ich noch einmal an meine Vorredner erinnern und Sie herzlich einladen, den Kenntnisstand der Kollegen, die eigentlich recht konstruktiv im Haushaltsausschuß und im Treuhandausschuß mitarbeiten, aufzunehmen und zu einer sachlichen Diskussion zu kommen, damit wir nunmehr das Mantelgesetz zur Anwendung bringen können, um endlich in den neuen Bundesländern arbeiten zu können. ({7})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, als letzter Redner hat in der Aktuellen Stunde das Wort Herr Rossmanith.

Kurt J. Rossmanith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001887, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man heute manche Beiträge von der Opposition gehört hat, dann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier eine Art Ball verkehrt gespielt wurde. Denn worum geht es heute eigentlich? Sie prügeln die Treuhand und meinen damit die Regierung. Wenn wir heute über eine Anstalt diskutieren - ich bin an sich sehr dankbar für die Aktuelle Stunde, die Sie auf den Weg gebracht haben - , die genau das in einer relativ kurzen Zeit - je kürzer die Zeit ist, desto dankbarer wären wir alle in diesem Hohen Haus - realisieren soll, was in 40-, 45jähriger Kommando- und Planwirtschaft in einer Art und Weise kaputtgemacht wurde, wie sie, glaube ich, im europäischen Raum als einmalig zu nennen ist. Wir alle sind aufgefordert - ich danke den Kolleginnen und Kollegen, die dazu Stellung genommen haben - , daß wir dieses Problem bei aller Kritik, an der Treuhand, die in diesem und in jenem Punkt natürlich berechtigt ist, gemeinsam angehen. Das liegt vielfach natürlich an dem Auftrag, den sie zu erfüllen hat. Ich stimme Ihnen durchaus zu, Herr Jens, wenn Sie sagen, daß - natürlich in Teilen - die Treuhand auch struktur- und regionalpolitische Verantwortung trägt. Man kann sie nicht völlig freimachen und sagen: Das ist jetzt Sache der Wirtschaftspolitik allein. Natürlich hat die Treuhand hier eine gewisse Verantwortung. Gerade weil wir Haushälter immer von den Prinzipien der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit reden und danach handeln, muß sich die Treuhand daran erinnern, daß das Prinzip der Wirtschaftlichkeit im Vordergrund zu stehen hat. Daß das Beschäftigungsproblem, das hier angesprochen ist - ich habe bisher leider keine Vorschläge oder Alternativen von Ihnen gehört - , d a s Problem werden wir, davon, glaube ich, kann sich keiner freisprechen, der mit der Marktwirtschaft bisher auch nur einigermaßen zu tun hatte oder sich damit beschäftigt hat. Ich brauche nicht einmal das eklatante Beispiel des Wartburg zu nennen: Produktionskosten 14 000 DM, Erlös maximal 9 000 DM, zum Teil noch geringer. Daß das auf Dauer nicht Bestand haben kann, dürfte, glaube ich, jedem von uns klar sein. Deshalb bin ich für diese Aktuelle Stunde ein weiteres Mal dankbar. Nur, die Anwesenheit der Mitglieder der Fraktion der SPD ist leider sehr gering. Ich kann nur unterstreichen, was Kollege Zywietz gesagt hat: Ich bin dankbar dafür, daß hier ein deutliches Bekenntnis zur Marktwirtschaft ausgesprochen wurde. Ich hoffe, daß Sie das tatsächlich in Verantwortung auch für Ihre Fraktion ausgesprochen haben. Die Treuhand hat neben der Privatisierung natürlich auch die Aufgabe, die Betriebe, die jetzt nicht privatisiert werden können, unverzüglich den Strukturanpassungs- und Sanierungsmaßnahmen zuzuführen, die erforderlich sind. Wir werden mit dem Gesetz zur Beseitigung von Hemmnissen bei der Privatisierung von Unternehmen auch diesen Auftrag entsprechend herausstellen. Nur, wer jetzt jammert oder den Vorwurf vorbringt, wie es die Frau Kollegin Skarpelis-Sperk in ihrem Beitrag getan hat, die an der Debatte jetzt leider nicht mehr teilnimmt, ({0}) daß Geld verschenkt worden sei, der muß sich natürlich daran erinnern, daß es gerade Ihre Fraktion und Ihr damaliger Kanzlerkandidat, Oskar Lafontaine, waren, ({1}) die der Bundesregierung wüste Vorwürfe gemacht haben, daß sie Herrn Modrow nach seinem Besuch nicht mit einem Scheck von 15 Milliarden DM, für den er keinerlei Nachweise bringen konnte und wollte, wieder zurück in die damalige DDR geschickt hat. Ich glaube, das sollte einer, der hier den Stein hebt, zunächst einmal bedenken, bevor er in dieser Art und Weise diskutiert. ({2}) Deutsche Einheit - lassen Sie mich das als letzten Satz sagen - bedeutet nicht nur, daß, was ein sehr wichtiger und für mich mit der wichtigste Aspekt überhaupt war, Mauer und Stacheldraht gefallen sind und daß die Freiheit für unsere 17 Millionen Landsleute östlich der Elbe wieder Realität geworden ist. Einheit der Deutschen bedeutet auch finanzielle Solidarität. Sie im Sinne und mit den Werkzeugen und den Maßstäben der Sozialen Marktwirtschaft zu bewältigen wird unsere Aufgabe sein. Ich glaube, daß wir alle - die demokratischen Parteien - in diesem Hohen Hause daran mitarbeiten sollten. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Aktuellen Stunde. Entsprechend einer Übung des Hauses während der Haushaltsberatungen wird interfraktionell vorgeschlagen, in der Woche vom 12. März keine Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunden, keine Aktuellen Stunden durchzuführen, weil Themen von aktuellem Interesse während der Haushaltsberatungen angesprochen werden können. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen. Nunmehr rufe ich Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung des Endberichts der Enquete-Kommission „Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung" gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 8. Mai 1987 und vom 5. Februar 1988 - Drucksachen 11/244 ({0}), 11/1754, 11/7200 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Gesundheit ({1}) Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Ich erteile das Wort Herrn Dr. Voigt, CDU/CSUFraktion.

Dr. Hans Peter Voigt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002387, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Enquete-Kommission „Gefahren von Aids und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung" hat im Juni letzten Jahres, drei Jahre nach ihrer Einsetzung und zwei Jahre, nachdem sie den Zwischenbericht vorgelegt hat, den Endbericht dem Deutschen Bundestag übergeben. Wir erwarten, daß die Empfehlungen und Diskussionen, die wir in diesem Bericht zusammengefaßt haben, nicht nur im Deutschen Bundestag, sondern auch in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert werden, vor allem von denjenigen, die bei dieser Krankheit als Betroffene oder als Betreuende anzusehen sind. Lassen Sie mich damit beginnen, daß ich dem Sekretariat, das unter der Leitung von Ministerialrat Dr. Lichtenberg uns während dieser Jahre begleitet hat, ein herzliches Dankeschön für eine sehr konstruktive und sachkundige Arbeit sage. Sie mußten manchmal Diskussionen innerhalb der Kommission in emotionsfreie Sätze überführen. Es ist Ihnen gelungen, und wir bedanken uns für die Toleranz im Umgang mit uns. ({0}) Ein ähnlicher Dank gilt den Kollegen des Deutschen Bundestages und den wissenschaftlichen Sachverständigen der Kommission, die in einer sehr schwierigen Materie immer kompromißbereit waren. Mein dritter Dank gilt denjenigen, die wir als Sachverständige während 78, überwiegend ganztägigen Anhörungen geladen hatten und die bereit waren, unsere Fragen geduldig zu beantworten, und bereit waren, was ich für sehr wesentlich halte, uns ihre wissenschaftlichen Ergebnisse zum Teil auch vor ihrer Publikation zur Verfügung zu stellen, damit wir in die Lage versetzt wurden, einen Bericht zu schreiben, der in der Bestandsaufnahme sehr detailliert und zeitnah war. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich beginne mit einer politischen Bewertung. Ich glaube, die Untersuchungen während der Kommissionsarbeit haben bestätigt, daß es sowohl die Länder als auch die Bundesregierung in einer schwierigen Phase, wo sie sich nicht auf sehr viele Erfahrungen stützen konnten, geschafft haben, einen Weg im Umgang mit Aids, eine Strategie gegen diese Krankheit zu finden, die sich an den wissenschaftlichen Daten orientiert hat und zeitgemäß war. Ich glaube, daß wir heute alle mit dem zufrieden sein können, was damals von der Bundesregierung - zunächst von der damaligen Ministerin Professor Süssmuth - auf den Weg gebracht und als Strategie entsprechend den Erkenntnissen, die man international und national gesammelt hat, entworfen und auf den neuesten Stand gebracht wurde. Es hat in dieser Phase - das haben die Untersuchungen in der Enquete-Kommission ergeben - einen intensiven Kontakt, eine intensive Zusammenarbeit zwischen den Betroffenen und der Politik, der Ärzteschaft, den Betreuenden und den Bürgern gegeben, wie es das in der Vergangenheit selten gegeben hat. Daß vor allem sehr früh von allen Seiten die Betroffenen einbezogen wurden, die den politisch Handelnden wichtige Hinweise und Erkenntnisse vermitteln konnten, ist, glaube ich, ein Novum und für die Entwicklung einer zeitnahen Strategie wichtig gewesen. Der Zwischenbericht, meine sehr verehrten Damen und Herren - ich glaube, das sollte man einmal als Lob an die Mitglieder dieser Kommission formulieren -, hat zu einer Ruhe in einer kontroversen Diskussion geführt, die wohltuend war, und hat dazu geführt, daß denjenigen, die an den Ergebnissen interessiert waren, eine Orientierungshilfe zur Verfügung stand, die dann bei der weiteren Arbeit, bei dem weiteren Umgang mit dieser Krankheit sehr wichtige Marksteine gesetzt hat. Der Endbericht, der Ihnen jetzt vorliegt, befaßt sich mit den Fragen, die in dem Zwischenbericht noch nicht angeschnitten wurden. Der Zwischenbericht Dr. Voigt ({1}) war primär auf die Primärprävention und auf die Fragen im Umgang mit Drogenabhängigen ausgerichtet. Der Endbericht hat sich mit den Fragen Aids und Ethik, Betreuung und Versorgung von Menschen mit HIV und Aids, mit Zielgruppen spezifischer Prävention, mit der Frage Aids und Recht, mit den Maßnahmen der Bundesregierung, mit der Forschung im weitesten Sinne und mit der Frage Aids in anderen Ländern befaßt. Meine Kollegen, Geis und Blank werden über die Fragen sprechen, die ich persönlich nicht ansprechen möchte. Ich möchte einige Bemerkungen machen zu der Frage Aids und Ethik, zu der Frage der Betreuung und Versorgung von Menschen mit HIV und Aids, zu der Forschungslandschaft und dann zum Schluß zu der Frage Aids und die Dritte Welt. Dem Bereich Aids und Ethik ist in dem Bericht ein eigenes Kapital vorangestellt. Hier haben wir versucht, eine Antwort auf die Fragen zu finden, die sich aus dem Gesamtkontext heraus ergeben. Sie sind zusammenzufassen unter den drei Bezeichnungen: Ethik und staatliches Handeln, Ethik und ärztliches Handeln sowie Ethik und individuelles Handeln. Wenn wir diese Berichte zusammenfassen - ich möchte sie nicht im einzelnen zitieren - , können wir feststellen, daß aus der Sicht der von uns befragten Ethiker, Moraltheologen und der Philosophen der Grundansatz der Aidsstrategie, so wie er von der Regierung und den Ländern formuliert worden ist, richtig ist und daß er im Konsens zu denjenigen steht, die sich mit dieser Frage aus ethischer Sicht befassen. Unser Bericht bekennt sich also zu den Grundsätzen der Aidspolitik der Bundesregierung, so wie sie von der damaligen Gesundheitsministerin formuliert worden sind. Sie räumt der Lernfähigkeit der betroffenen Menschen und der Aufklärung Priorität gegenüber staatlichem Handeln ein. Ganzheitliche Prävention und Hinführung zu eigenverantwortlichem Tun mit der eigenen Gesundheit müssen auch in Zukunft die Gesundheitsförderungspolitik der Bundesregierung bestimmen. Die Aufklärung über die HIV-Infektion und über Aids muß ein Bestandteil dieser auf ganzheitliches Denken ausgelegten Politik sein. Lassen Sie mich zu dem zweiten Fragenkomplex kommen, zu dem Fragenkomplex, der sich mit der Versorgung der Menschen befaßt, die entweder eine HIV-Infektion erlitten haben oder die bereits an Aids erkrankt sind. Bei der Betreuung der Menschen mit HIV und Aids, haben wir vieles gelernt und bereits in die Praxis umgesetzt, das auch auf andere Krankheiten und generell auf das Verhältnis Ratsuchender zum Arzt übertragen werden kann. Der Ratsuchende muß als mündiger und informierter Bürger in eigener Verantwortung bei allen ärztlichen Handlungen mit entscheiden können. Das setzt ein hohes Maß an persönlicher Zuwendung des Arztes und Bereitschaft zu detaillierter Aufklärung voraus. Diese Frage ist bei der HIV-Infektion das erste Mal so deutlich und kontrovers diskutiert worden, weil hier der Zeitpunkt der Diagnose HIV-positiv zeitlich weit entfernt von dem Zeitpunkt liegt, wo die Erkrankung an Aids eintritt. In der Zwischenzeit, also zwischen der Diagnose und dem Auftreten erster symptomatischer Erscheinungen, muß aber eine intensive persönliche, psychische und soziale Betreuung erfolgen, während die kurative, medikamentengestützte Behandlung erst viel später einsetzt. Wir alle wissen, daß gerade die Möglichkeiten, die ausgebrochene Krankheit zu therapieren, nach wie vor außergewöhnlich gering sind. Sie haben maximal die Chance, lebensverlängernd und die persönliche Situation verbessernd zu wirken. Dies alles macht deutlich, daß die herkömmlichen Begriffe Gesundheit und Krankheit nicht ausreichen, bestimmte Zustände eines HIV-Infizierten ausreichend zu beschreiben und in keinem Fall diese beiden Begriffe als Gegensatz zu sehen sind. Die Betreuung der Menschen mit HIV und Aids macht das Zusammenwirken verschiedener Berufe aus dem medizinischen und dem erziehungswissenschaftlichen Bereich sowie mit Selbsthilfegruppen im Interesse der Betroffenen notwendig. Die hier gefundenen Kooperations- und Betreuungsformen sollten in Zukunft überall dort akzeptiert und angewandt werden, wo ein langer Zeitraum zwischen einer Dispositionsanalyse und den ersten symptomatischen Erkrankungen liegt. Die durch die Gentechnik ermöglichte Genomanalyse mit der Chance, im Erbgut Dispositionen für Krankheiten sehr früh zu erkennen, wird uns alsbald vor diese sehr wichtige Frage stellen und uns Betreuungsformen gerade für diese Menschen abverlangen. Lassen Sie mich dabei erwähnen: Im Kontext mit dem, was wir heute morgen gesagt haben, meine ich mit Genomanalyse maximal eine Analyse auf freiwilliger Basis. Die Aidsforschung in der Bundesrepublik Deutschland - das ist das dritte Kapitel, zu dem ich mich äußern möchte - hat zu vielversprechenden Ergebnissen geführt und sollte in der von Forschungsminister Dr. Riesenhuber formulierten Zielrichtung weiterentwickelt werden. Die Kenntnisse auf Grund der Forschung über HIV und Aids kann man in folgende fünf Bereiche untergliedern: naturwissenschaftliche Grundlagenforschung, sozialwissenschaftliche Forschung, Epidemiologie, „public health" , klinische Forschung und Therapie. Die Kenntnisse, die wir hier erwerben, werden in Zukunft nicht nur bei der Prophylaxe dieser Krankheit und bei möglicher Therapie angewandt werden können, sondern sie sind auch auf Krankheiten zu übertragen, die ein ähnliches Übertragungsmodell haben und auf andere Krankheiten, die entweder als sexuell übertragbare Krankheiten zu werten sind oder die durch unkonventionelle Erreger entstehen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Nachlassen dieser Anstrengungen auf dem Gebiet der Forschung gereicht in meinen Augen nicht nur der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa zu einem großen Schaden, sondern gerade auch den Menschen in den Entwicklungsländern, vor allem in den Ländern südlich der Sahara, über die wir dringend neue Informationen brauchen, um dieser katastrophalen Entwicklung entgegentreten zu können. Ich komme darauf später noch zu sprechen. Dr. Voigt ({2}) Lassen Sie mich zum Schluß noch einige Bemerkungen zu dem Themenkomplex Aids und HIV in anderen Ländern, insbesondere in den Ländern der Dritten Welt machen. Die Entwicklungsländer sind von Aids außergewöhnlich stark betroffen. Das dramatische Hereinbrechen der HIV-Infektion und von Aids ist für die Gesundheitsdienste zu einer ungeheuren Herausforderung geworden. Das gilt besonders für die strukturell-materiell ohnehin schwachen Gesundheitsdienste in den Entwicklungsländern. Es ist ebenso ein soziales Problem. Es besteht kein Zweifel, daß bei einem unkontrollierten Fortschreiten von Aids in den Entwicklungsländern deren soziale und ökonomische Strukturen äußerst gefährdet sind. Aids betrifft gerade die bevölkerungspolitisch so wichtige Altersgruppe der 20- bis 40jährigen und hier vor allem die politisch, wirtschaftlich und soziokulturell maßgeblichen Eliten in den Städten. Die schlimmsten Auswirkungen werden Familien vorausgesagt, denen nicht nur der Verlust des Lebensunterhalts droht, sondern die auch von der gesamten Wucht der sozialen Auswirkungen der Aidsproblematik, nämlich Isolation, Stigmatisierung und Arbeitslosigkeit, betroffen sind. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Enquete-Kommission hat Empfehlungen erarbeitet, die die Bundesregierung auffordern, bezogen auf die Aidsepidemie in Afrika neue Akzente zu setzen. Die Entwicklung in den letzten Jahren und Monaten hat auch gezeigt, daß ein schnelles und unkonventionelles Handeln der Industrieländer dringend geboten ist. In meinen Augen und nach dem, was wir vor Ort während einer Informationsreise gesehen haben, reichen die Anstrengungen, die wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt unternehmen und die die Bundesregierung in der Vergangenheit unternommen hat, nicht aus, um die Verantwortung gegenüber den betroffenen Ländern wirksam wahrzunehmen. ({3}) Wir alle haben Verständnis dafür, daß uns große Probleme in unserer Region im Augenblick fesseln und beschäftigen. Trotz alledem müssen wir dem Problem der Aidsentwicklung in den Ländern der Dritten Welt zunehmend mehr Aufmerksamkeit schenken. Die Zahl der Aidsinfizierten und der Aidskranken in diesen Ländern steigt. Die Zahlen steigen nicht nur in den Bereichen, in denen wir sie in den letzten Jahren vermehrt beobachtet haben; Aids greift vielmehr auch auf andere Länder südlich der Sahara über. Ich glaube, daß es nicht damit getan ist, daß wir materielle Hilfe für den Aufbau oder für die Unterhaltung der noch vorhandenen Gesundheitsstrukturen verbessern, sondern es muß darum gehen - hier sehe ich eine besondere Verantwortung gerade der Bundesrepublik Deutschland - , daß wir sachkundige Menschen aus dem pflegenden und dem ärztlichen Bereich in diese Region schicken. Das setzt voraus, daß wir diesem Personenkreis eine fundierte zusätzliche Ausbildung ermöglichen, die ihn in die Lage versetzt, vor Ort, orientiert an den historischen und kulturellen Gegebenheiten, seine Arbeit mit Einfühlungsvermögen innerhalb der vorgegebenen Gesundheitsstrukturen wahrzunehmen. Alle wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen auf, daß die Wahrscheinlichkeit der Übertragung von Infizierten auf nicht Infizierte, also die Transmissionsrate, immer dann am höchsten ist, wenn der unmittelbar Betroffene bereits an anderen Infektionen leidet. Es muß daher die vorrangige Aufgabe sein, dafür zu sorgen, daß die primäre Gesundheitsversorgung erheblich verbessert wird. Es wäre zumindest falsch, angesichts der hohen prognostizierten Zahlen für den afrikanischen Raum vor dieser Aufgabe zu resignieren. Ein zweiter Bereich, der uns in diesem Zusammenhang nicht gleichgültig sein darf, betrifft die Aidswaisen, deren Zahl von Tag zu Tag zunimmt. Hunderttausende von Kindern leben ohne Bezug zu einer Familie; sie sind als Aidswaisen von infizierten Eltern zurückgeblieben. Die Zeitungsberichte der letzten Wochen haben. aufgezeigt, daß diese Zahlen außergewöhnlich schnell steigen. Die Eltern dieser Waisen sind fast immer zur gleichen Zeit infiziert worden, was auch bedeutet, daß sie etwa zur gleichen Zeit erkranken und sterben. Sie hinterlassen fünf, sechs bis zehn Kinder, die sehr häufig losgelöst von ihren familiären Bindungen sich selbst überlassen bleiben. Wegen materieller Not ist ihnen der Schuldienst versagt. Sie sind nicht in der Lage, sich die für den Schuldienst notwendige Uniform zu besorgen. Ich bitte von dieser Stelle aus noch einmal, diese Fragen ernst zu nehmen und die Anstrengungen zur Hilfe für diese Menschen zu verbessern. Wir haben als Europäer, als Bundesrepublik Deutschland diesen Menschen gegenüber eine besondere Verantwortung. Ich komme zum Schluß: Aids und HIV haben in Europa die Schlagzeilen der großen Boulevardzeitungen und des Fernsehens verlassen. Es bleibt dennoch nach wie vor eine große Gefahr. Keiner hat ein Interesse, daß die hysterischen Informationen, die die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland vor einigen Jahren verunsichert haben, wieder die Schlagzeilen füllen. Es scheint mir aber dringend notwendig zu sein, gegen eine Verharmlosung des Problems anzukämpfen. ({4}) Am 31. Januar 1991 hat das Bundesgesundheitsamt 43 200 Infizierte in der Bundesrepublik registriert. Bei einem Zuwachs von etwa 500 Infizierten pro Monat bedeutet das, daß glücklicherweise nicht die dramatischen Zahlen, die vor vier und fünf Jahren prognostiziert wurden, erreicht worden sind. Es wird aber auch deutlich, daß die Krankheit weiterhin um sich greift; denn 43 000 Infizierte heute bedeuten in wenigen Jahren 43 000 Aidskranke. Das ist für uns, für die medizinische Versorgung und für die Wissenschaft eine Herausforderung und dokumentiert, daß das Thema Aids auch weiterhin ernst genommen werden muß. Lassen Sie mich zum Schluß noch eine Bitte äußern. Der Ältestenrat hat vorgeschlagen, daß wir den Bericht im Ausschuß für Gesundheit, im Rechtsausschuß und im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung beraten. Ich bin der Meinung - ich glaube, das ist in meinen Ausführungen deutlich geworden - , daß dieser Dr. Voigt ({5}) Bericht auch im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie im Ausschuß für Frauen und Jugend beraten werden soll. Ich trage. dies im Konsens mit meinem Kollegen Herrn Großmann vor, der als stellvertretender Vorsitzender im Ausschuß gewirkt hat. Ich bedanke mich für Ihre Geduld. ({6})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Großmann von der SPD-Fraktion.

Achim Großmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000735, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Überweisung des Endberichts der Enquete-Kommission Aids an die Ausschüsse sollte noch einmal Anlaß sein, die dreijährige Arbeit der Kommission und ihr Ergebnis zu würdigen. Die Heftigkeit und die emotionale Färbung, mit der das Thema anfänglich in der Öffentlichkeit wie in der Kommission behandelt wurde, hat unsere Arbeit zunächst erschwert. Die Mitglieder der SPD-Fraktion sahen insofern von Anfang an eine wichtige Aufgabe der Kommissionsarbeit darin, die Diskussion um Aids zu versachlichen und der ständigen Gefahr der Eskalierung dieses Themas entgegenzuwirken. Der Endbericht zeigt, daß dieses Bemühen gelungen ist und wir schließlich Mehrheiten für unsere Linie gefunden haben. Die Forderungen der SPD-Fraktion nach Vertrauen, Freiwilligkeit und Menschlichkeit als Grundsätze für die erfolgreiche Bekämpfung dieser Immunschwächekrankheit haben sich gegen die Forderungen einer Minderheit, die mit einer Politik aus Restriktion und Strafe ein Klima der Angst erzeugten, durchgesetzt. So lehnt die Mehrheit der Kommission eine namentliche Meldepflicht ab. Sie stellt sich darüber hinaus entschieden gegen allgemeine Zwangstests und hat der Aufnahme der HIV-Infektion in das Geschlechtskrankheitengesetz nicht zustimmen können. Die Empfehlungen, die wir in unserem Endbericht ausgesprochen haben, legen den Schwerpunkt klar auf die Vorbeugung gegen die HIV-Infektion. Die Linie dieser Politik muß in den nächsten Jahren weiter präzisiert und ganz gezielt auf einzelne Betroffenengruppen angewandt werden. Sie muß darüber hinaus auf die neuen Bundesländer ausgeweitet werden. Aufklärung und Vorbeugung machen nur Sinn, wenn sie die spezifischen Probleme einer Zielgruppe berücksichtigen und deren Sprache aufnehmen. Gruppen, für die eine gezielte Prävention empfohlen wird, sind, abgesehen von den Hauptrisikogruppen, die ausländischen Mitbürger, Bundeswehr, Behinderte und Strafgefangene, Gruppen, mit denen wir uns auch in unserer Enquete-Kommission beschäftigt haben. Die Aidsproblematik hat ein sehr vielschichtiges Erscheinungsbild. Die Betonung der zielgruppenspezifischen Prävention spiegelt diese Erkenntnis. Bei der Überweisung des Endberichts an die Ausschüsse - und ich stimme dem Vorschlag einer Überweisung an noch mehr Ausschüsse in der Art, wie Sie, Herr Voigt, es gerade vorgeschlagen haben, ausdrücklich zu - möchte ich mit besonderem Nachdruck betonen und für die Beratung in den Ausschüssen erneut fordern: Der Erfolg der Bekämpfung von Aids hängt maßgeblich von dem gesellschaftlichen Klima ab, in dem sie stattfindet. ({0}) Hier sehe ich eine der ganz wichtigen Leistungen der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages. Ich freue mich, Herr Voigt - auch Sie haben das eben gesagt - , daß wir da einer Meinung sind. Als wir die Diskussion um Aids anfingen, war sie geprägt von Emotionen, Vorurteilen und Ängsten. Daß dieses Thema nun in fast allen gesellschaftlichen Bereichen sachlich diskutiert wird, ist, glaube ich, auch ein Ergebnis unserer Arbeit. Die Kommission hat sich eng an ihrem 1987 formulierten Auftrag orientiert - ich zitiere -, durch Verbesserung des Informations- und Wissensstandes des Deutschen Bundestages über die Immunschwächekrankheit Aids, ihre Gefahren und Bekämpfungsmöglichkeiten seine politischen Beratungen und Entscheidungen vorzubereiten und wissenschaftlich abgesichert zu fundieren. Dabei ging es vor allem darum, die von Aids ausgehenden Gefahren zu analysieren und ihre Folgen für die Gesellschafts- und Gesundheitspolitik zu bewerten. Diesen Auftrag haben wir erfüllt. Wir haben zu einer Versachlichung der Diskussion über die gesundheitlichen, sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Krankheit in großem Maße beigetragen. Es ist, denke ich, auch gelungen, das Klima der Angst abzubauen und die Betroffenen vor Stigmatisierung sowohl in rechtlicher wie in sozialer Hinsicht zu schützen. Wir haben im Empfehlungsteil aufgezeigt, wo dies ergänzt und verbessert werden kann und muß. Nach der zunächst massiven Verunsicherung war es nötig, die Rahmenbedingungen für das Leben der Betroffenen neu zu gestalten und über die medizinische Hilfe hinaus die Betreuung und Versorgung der Infizierten und Erkrankten adäquat sicherzustellen. Das weitverzweigte Netz fachlicher, sozialer, rechtlicher und psychischer Hilfe, auf das die Betroffenengruppen heute zurückgreifen können, ist auch durch die Arbeit der Kommission möglich geworden. Wir sprechen uns in unseren Empfehlungen für die Gruppe der symptomlos HIV-Infizierten geschlossen für den Schwerpunkt der Beratung aus und betonen die Unterstützung bereits bestehender frei arbeitender Beratungseinrichtungen. In der Frage der Betreuung und Versorgung von erkrankten Aids-Patienten konnten sich die Kommissionsmitglieder nicht auf eine gemeinsame Linie verständigen. Die SPD hat ein Sondervotum eingebracht, das die Notwendigkeit eines umfassenden Angebots sowohl ambulanter wie stationärer Pflege unterstreicht. Dieses Pflegeangebot sollte eine medizinische, psychologische und soziale Betreuung in einem integrierten interdisziplinären Konzept ermöglichen. Ein weiterer ganz wesentlicher positiver Effekt der fast vierjährigen Arbeit in der Kommission war die intensive Diskussion über Themen, die in unserer Gesellschaft weitgehend tabuisiert sind. In der Meinungs-, aber auch Vorurteilsvielfalt stellten die Kommissionsmitglieder, glaube ich, sicher einen repräsentativen Querschnitt unserer Bevölkerung dar. Daß trotz dieser Vorbedingungen letztlich eine objektive und rationale Auseinandersetzung mit Aspekten von Drogenabhängigkeit, Prostitution, Homosexualität möglich war, erscheint mir auch unter dem Aspekt der wegbereitenden Arbeit, die die Kommission leisten sollte, bemerkenswert. Die Enttabuisierung von Bereichen unserer Gesellschaft war die Grundlage dafür, daß hier von der Politik überhaupt ein brauchbarer Beitrag zum Thema Aids geliefert werden konnte. Mit dem Beispiel, das die Kommission in dieser Hinsicht gegeben hat, verbinde ich die Hoffnung, daß sich auch die Ausschüsse der Thematik so wie wir stellen und Zeichen der Offenheit setzen. Früher schien einigen die Brisanz der Krankheit willkommener Anlaß zu einer neuen Wertediskussion und dem Ruf nach der Abwehr von vielen wichtigen gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zu sein. Aber Aids eignet sich nicht als Hebel für die, die das Rad der Geschichte deshalb zurückdrehen wollen, weil sie Homosexualität für eine Perversion halten und Sexualität für etwas, was man lieber unterdrücken sollte. Wir mußten dagegenhalten und hatten es schwer, unsere abwägende und teilweise geradezu deeskalierende Position durchzuhalten. Die Wogen glätteten sich erst, als sich herauskristallisierte, daß Horrorvisionen vom Fortschreiten der Krankheit nicht der Realität entsprachen. Gleichzeitig damit zeichnete sich jedoch eine Tendenz ab, die beinahe symptomatisch für unsere Gesellschaft ist: Die schlimmsten Visionen bestätigen sich nicht, also kann das Thema abgehakt werden. In unserer Mediengesellschaft hat nur die Katastrophe eine Chance. Genau wie wir hier vor drei Jahren vor einer Aids-Hysterie gewarnt haben, so müssen wir heute auf die Gefahr einer Bagatellisierung dieses Themas hinweisen. ({1}) Obwohl die Zahl der gemeldeten Aids-Fälle in der Bundesrepublik erstmals seit Beginn der Epidemie rückläufig ist, obwohl etwa in Berlin die Zahl der Erkrankungen im letzten Jahr auf 212 gesunken ist, also 65 weniger als im Jahre 1989, obwohl der Zeitraum zwischen der Infektion und dem Ausbruch der Krankheit dank medizinischer Fortschritte größer wird, erscheint mir eine Verharmlosung des Problems überhaupt nicht angebracht. Im Gegenteil, die Anstrengungen müssen vergrößert werden, damit diese Tendenz anhält. Wenn wir Aids weiter wirksam bekämpfen wollen, dürfen wir auch einen langsameren und leisen Anstieg der Infektionen nicht zulassen. Doch bietet die nun eingekehrte Ruhe die Möglichkeit eines sachlichen Herangehens an einige Problembereiche. Damit ergibt sich auch die Chance für eine neue Diskussion der bereits angesprochenen gesellschaftlichen Randbereiche, etwa der Drogenabhängigkeit und der Prostitution, die in den letzten Jahren weitgehend festgefahren schienen. Ein gutes Beispiel hierfür scheint mir in begründeten und kontrollierten Einzelfällen die Methadon-Behandlung bei Fixern zu sein, eine Frage, in der sich die Fronten vorübergehend bis zur Bewegungslosigkeit verhärtet hatten. Mit der Möglichkeit einer Abwendung der Aids-Infektion im Falle der Drogensubstitution durch Methadon hat diese Diskussion eine andere Qualität bekommen, die von der Enquete-Kommission wesentlich mitgetragen wurde. Auf diese Weise ist den Bundesländern, die bisher Methadonprogramme initiiert hatten, der Rücken gestärkt und dem Vorwurf einer allzu liberalen Drogenpolitik die Spitze genommen worden. Ich sehe aber auch in anderer Hinsicht eine große Gefahr bei der Bagatellisierung des Themas. Die politischen Entscheidungsebenen könnten dies sofort zum Anlaß nehmen, auf diesem Gebiet Geld einzusparen. Dies würde bedeuten, daß Forschungsvorhaben nur reduziert oder gar nicht weitergeführt werden können und daß Neuvorhaben erst gar nicht bewilligt werden. Ich glaube, wir sind einer Meinung darüber, daß ein Rückgang der Forschungstätigkeit sicherlich schwerwiegende Konsequenzen für die Bekämpfung von Aids hätte; denn rasche Erfolge bei der Ätiologie, bei der Diagnostik sowie rasante Fortschritte der Medizin bei der Behandlung von Patienten waren auch ein Ergebnis der relativ schnellen und breit angelegten Freigabe von Forschungsgeldern. Dies nun durch Kürzung der Gelder zurückschrauben zu wollen würde ein Risiko für die Aids-Bekämfpung in unserem Lande, in der Bundesrepublik bedeuten. Ich sehe hier jedoch auch eine ganz große Gefahr für das Vorgehen gegen Aids in der Dritten Welt. Auch die Forschungstätigkeit bei uns hat Konsequenzen für die Bekämpfung dieser Seuche außerhalb unserer Landesgrenzen. Die Wichtigkeit dieses Teilaspektes haben wir im Endbericht zum Ausdruck gebracht, indem wir - Herr Voigt hat bereits darauf hingewiesen - ein eigenes Kapitel zu Aids in anderen Ländern, insbesondere in den Ländern der Dritten Welt, verfaßt haben. Die zunehmende Brisanz und Gefahr von Aids für eine Reihe afrikanischer Länder war in diesen Wochen auch Thema eines erschütternden Artikels im „Spiegel" . Vieles von dem, was man dort lesen konnte, war schon vor einem Jahr in unserem Endbericht zu lesen. Während bei uns die Zahl der Infizierten und Erkrankten zurückgeht, teilweise stagniert, in Einzelfällen aber auch steigt, also ein sehr differenziertes Bild abgibt, doch im Grunde genommen nicht die anfänglichen Horrorvisionen bestätigt, steigt sie in einigen Ländern des afrikanischen Kontinents dramatisch und hat gravierende Folgen nicht nur für die Gesundheitspolitik, sondern auch für die Volkswirtschaften dieser Länder. Die uns vorliegenden Erkenntnisse über Aids in diesen Ländern zeigen, daß das Erscheinungsbild der Krankheit sich dort in einigen Punkten wesentlich von unseren Erfahrungen unterscheidet. Das ErscheiGroßmann nungsbild der Infektion selbst ist vielfältiger als bei uns; aber vor allem sind es die Übertragungswege und damit die Risikogruppen, die sich wesentlich unterscheiden. Es sind oft ebenso viele Frauen wie Männer betroffen. Die Ausbreitung findet hier hauptsächlich - im Unterschied zu den westlichen Ländern - durch heterosexuellen Geschlechtsverkehr statt. Die Zahl der infizierten Neugeborenen ist dadurch sehr groß; die Fortschritte in der Bekämpfung der Kindersterblichkeit werden zunichte gemacht. Darüber hinaus zeigt sich als Folge der Aidserkrankungen ein starker Neuanstieg von beispielsweise Tuberkulose, die auch in diesen Ländern als schon beinahe besiegt galt. Sekundärsymptome dieser Art führen zu schnellerer Erkrankung und erhöhen die Sterberate in unvorstellbarem Ausmaß. Sie führen zu kaum lösbaren Folgeproblemen. Herr Voigt hat darauf hingewiesen. Daß auch ich dies tue, zeigt, daß wir in diesem wichtigen Punkt derselben Meinung waren, wie wir überhaupt in sehr großen Teilen unserer Arbeit in den Meinungen sehr nah beieinander waren. Die Zahl der Kinder, die auf Grund des Aids-Todes beider Elternteile verwaist sind, wird allein in Schwarzafrika auf 250 000 geschätzt. Eine amerikanische Studie geht davon aus, daß wir bis zum Jahr 2015 mit weit über 10 Millionen Vollwaisen in Afrika rechnen müssen. Es ist kaum ermeßbar, welches Problem da auf uns zukommt. Das ist kein afrikanisches Problem, sondern ein Problem, von dem auch wir betroffen sein werden. Die Betreuung und die Versorgung der Kranken ist katastrophal. Ich richte daher heute erneut einen dringenden Appell an die Bundesregierung und an das Parlament - denn auch wir können bei den Haushaltsberatungen etwas bewegen - , einen Betrag von mehreren Millionen Mark für die tagtägliche Betreuung und Versorgung dieser Kranken bereitzustellen. Es fehlt an allem, an Spritzbestecken, Handschuhen und anderen hygienischen Grundvoraussetzungen für Behandelnde und an Medikamenten für Behandelte. Herr Voigt, Frau Conrad und ich haben bereits im letzten Jahr versucht, die Wichtigkeit dieser Maßnahmen klarzumachen. Aber - wir wissen es alle - andere Themen haben unsere Diskussion völlig überlagert. Vielleicht führen die dramatischen Szenarios, die jetzt bekannt werden, dazu, daß wir stärker als bisher Verantwortung für die Bekämpfung von Aids in anderen Ländern übernehmen. Wenn wir diese Epidemie zurückdrängen wollen, können wir unsere Verantwortung nicht an nationalen Grenzen enden lassen. Einen Appell muß ich auch an die katholische Kirche richten. Deren offizielle Haltung zu Familienplanung, Verhütungsmitteln und Sexualkundeunterricht kann schlimme Auswirkungen auf die Ausbreitung der Epidemie haben. Der Endbericht der Enquete-Kommission zu Aids wird heute an die zuständigen Ausschüsse überwiesen. Sorgen Sie mit dafür, daß er seinen Zweck erfüllt, daß unsere Empfehlungen in die Gesetzgebung und die weitere politische Arbeit einfließen und dort umgesetzt werden und daß wir unserer großen Verantwortung national wie international gerecht werden! Danke. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Nun hat der Abgeordnete Eimer von der FDP-Fraktion das Wort.

Norbert Eimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000458, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als im April 1987 diese Enquete-Kommission eingesetzt wurde, begann ich meine Rede mit den Worten: „Ich gebe zu, daß wir nicht mit großer Begeisterung in diese Enquete-Kommission gehen." Diese Begeisterung ist auch während der Arbeit der Enquete-Kommission nicht gestiegen. Im Gegenteil. So bewerte ich das Ergebnis dieser Enquete-Kommission etwas anders. Meine Rede endete mit den Worten: „Ich will hoffen, daß dieses Verfahren besser enden wird, als es heute beginnt. " Jetzt, knapp vier Jahre später, muß ich feststellen, daß sich diese Hoffnung jedenfalls für mich nicht erfüllt hat. Schon am Anfang wurde darüber gestritten, was man untersuchen und was man nicht untersuchen solle. Die ideologischen Vorbehalte, die sich damals andeuteten, haben die Arbeit in der Enquete-Kommission nicht immer befruchtet. Ich gestehe offen, daß ich froh bin, daß diese Arbeit nun mit der heutigen Debatte - für mich zumindest - zu Ende ist. Dennoch will ich diesen Endbericht alles in allem nicht so schlecht beurteilen, wie es in den Eingangsworten vielleicht zum Ausdruck kam. Ich will ihn als befriedigend bezeichnen. Es sind in ihm sicher eine Reihe von positiven Ansätzen enthalten. Ich denke z. B. an das Votum für die anonymisierten Tests. Ich denke an die Einführung einer Schweigepflicht und eines Zeugnisverweigerungsrechts für die Berater, die diese Kommission empfohlen hat. Ich denke auch an all die Punkte, die meine beiden Vorredner vorhin angesprochen haben, in denen wir uns, glaube ich, alle - quer durch die Fraktionen - einig waren. Ich will das jetzt nicht wiederholen. Trotzdem ist auch dieser Bericht ein neuerliches Zeichen dafür, daß sich Enquete-Kommissionen in ihren Berichten nicht auf die wesentlichen Punkte konzentrieren können. Umfang und Gliederung sind kaum geeignet, das Interesse von Politikern aus anderen Bereichen für die Arbeit der Kommission zu wekken. Das gleiche gilt für die interessierte Öffentlichkeit und für den größten Teil der Presse. Diesen hat die Kommission es schwer gemacht; denn sie läßt nur die Wahl zwischen Expertentum und Oberflächlichkeit. Dazu kommt, daß sich die Erkenntnisse der Wissenschaft über diese Krankheit so stark vermehren und ändern, daß dieser Bericht in weiten Teilen in Kürze nicht mehr aktuell genug sein wird. Wer die letzten Meldungen über die Zahl der Infizierten in Afrika zur Kenntnis genommen hat, kann nur erschrecken. Aber der Golfkonflikt hat die Aufmerksamkeit in den letzten Monaten wohl auf andere Schrecken gelenkt. Die Ausbreitung der HIV-Infektion ist nicht gebremst. Ich bin sehr dankbar, daß meine beiden Vorredner auch darauf hingewiesen haben, daß wir in der Eimer ({0}) Warnung vor dieser Seuche um Gottes Willen nicht nachlassen dürfen. Wenn wir heute den Endbericht diskutieren, dürfen wir eines nicht vergessen: Unsere Informationen und unser Wissen über Aids und über die HIV-Infektion sind immer noch begrenzt. Unsere Informationen über die Übertragungswege sind lückenhaft. Zuverlässige therapeutische Methoden, auch Impfstoffe, sind ebenfalls noch nicht hinlänglich erforscht. Beinahe täglich werden neue Entdeckungen gemacht, wird neues Wissen über diese Krankheit gefunden. Es kann deshalb an dieser Stelle auch heute nur das wiederholt werden, was oft genug gesagt wurde, nämlich: Um dieser Krankheit erfolgreich zu begegnen, verbleibt uns vor allem die Prävention. Das ist, glaube ich, auch wieder ein Punkt, über den wir uns in weiten Bereichen Gott sei Dank geeinigt haben. Hier setzt der Endbericht auch einen Schwerpunkt, der wohl etwas länger Bestand haben wird als andere Teile. Informationen können Ängste der Bevölkerung abbauen helfen; Informationen über Ansteckungsmöglichkeiten stehen dabei an erster Stelle. Diese Information muß aber sachlich sein und darf nichts verschweigen. Überreaktionen in der Bevölkerung zu Lasten Betroffener können nur dann vermieden werden, wenn der Bürger weiß, daß nichts beschönigt wird, sondern daß er immer mit der besten, neuesten Information rechnen kann. Aidskranke brauchen unsere Solidarität. Sie dürfen aus unserer Gesellschaft nicht ausgeschlossen werden; denn die Krankheit ist zwar ansteckend, aber, soweit wir heute wissen, nicht bei normalen Körperkontakten, in normalen sozialen Gegebenheiten. Ich glaube, hier hat der Endbericht gute Maßstäbe gesetzt. Irrationale Ängste, die am Anfang des Aufkommens von Aids bestanden haben, konnten zumindest zum Teil abgebaut werden. Auch hier, Gott sei Dank, Einigkeit. Ich meine, es gibt einen weiteren Bereich, in dem gute Arbeit geleistet wurde. Wir haben es mit Unterstützung aller Fraktionen in diesem Haus fertiggebracht, über unsere Haushälter genügend Geld zur Verfügung zu stellen, damit notwendige Projekte bei der Aufklärung und der Forschung nicht an Geldmangel scheitern. Hier, meine ich, müssen wir weiter aufpassen. Sie, Herr Großmann, haben dankenswerterweise darauf hingewiesen. Aber ich will heute nicht nur über die Güte dieses Endberichts sprechen, sondern auch auf das hinweisen, worin ich Mängel sehe. Ich hätte mir gewünscht, daß die notwendige und vor allem klare Aussage, für eine höhere freiwillige Testbereitschaft in der Bevölkerung zu werben, noch deutlicher ausgesprochen worden wäre. Nur der Test bringt Klarheit über den eigenen Infektionsstatus. Von den Gegnern des Tests wird immer wieder darauf hingewiesen, daß es niemanden mehr hilft, wenn das Testergebnis „HIV-positiv" lautet, und daß man leichtsinnig werde, wenn es „HIV-negativ" ist. Das ist nur zum Teil richtig. HIV-negativ signalisiert auch: Ich habe Glück gehabt; es lohnt sich, sich vorsichtig zu verhalten. Natürlich kann ich bei einer Infektion diese durch den Test nicht mehr rückgängig machen. Aber ich kann durch mein Verhalten nach Kenntnis von dieser Infektion und durch medizinische Betreuung den Ausbruch der eigentlichen Krankheit hinausschieben. Wichtig ist der Test für mich aber vor allem deswegen, weil er mir meinen Status sagt und ich mich dann meinen Mitmenschen gegenüber entsprechend verantwortlich verhalten kann. Der liberale Grundsatz „Meine Freiheit hört dort auf, wo die des Nächsten beginnt" gilt selbstverständlich auch im Zusammenhang mit Aids. Wer infiziert ist oder dies begründet nicht ausschließen kann, muß sich seinen Partnern gegenüber verantwortlich verhalten und sie gegebenenfalls informieren. Ein freiwilliger Test - und ich betone den Begriff: freiwillig - hilft mir persönlich möglicherweise nicht mehr, aber hilft meinem Partner, wenn ich bereit bin, mich entsprechend zu verhalten. Leichtsinniges Verhalten vor einer Infektion gefährdet in erster Linie mich selbst, unverantwortliches Verhalten nach einer Infektion andere. Deswegen, meine ich, ist es notwendig, daß wir den freiwilligen Test mehr propagieren, als das bisher der Fall ist. Der Konflikt um den Datenschutz zeigt sich aber auch an einer anderen Stelle. Wenn ich in der Vergangenheit zum Arzt gegangen bin und er mir empfahl, eine Blutprobe zur Untersuchung entnehmen zu lassen, dann war klar: Er sucht nach den Ursachen einer Krankheit und nannte, nachdem das Ergebnis feststand, den Befund. Die Beratung der Juristen in der Enquete-Kommission brachte folgendes Ergebnis. Im Zeitalter von Aids muß der Arzt vorher sagen: Ich entnehme ihnen Blut, möglicherweise auch zu einem Aids-Test. Sind Sie einverstanden? - Dann wird getestet, und ich lebe als Patient vielleicht eine Woche in Angst. Und dann kommt der Befund: Es war nichts, ich bin nicht infiziert. - Man stelle sich vor, wir würden dieses Verfahren überall dort verlangen, wo der Verdacht einer anderen tödlichen Krankheit besteht, z. B. von Krebs. Ist es denn wirklich menschlich und ist es denn wirklich aus Datenschutzgründen unbedingt notwendig, daß man so verfährt? Wichtig ist doch, daß die Beratung über einen HIV-Test erfolgen muß, wenn der Patient ausdrücklich zu einem HIV-Test zum Arzt kommt. Will ich aber die Ursache einer Krankheit wissen, um sie behandeln zu können, dann ist es doch besser, wenn nicht vorher alle die Schrekkensmöglichkeiten aufgezählt werden, die es möglicherweise im entferntesten gibt; ich jage den Patienten unnötig in Angst. Was wichtig ist, meine Damen und Herrn, auch gerade wegen Aids, ist der Datenschutz. Das heißt, daß ich mich auf die ärztliche Schweigepflicht verlassen kann. Das ist besonders deswegen wichtig, weil heute mit der Genomanalyse zusätzlich sensible Daten in die Hände von Unbefugten gelangen können; Herr Voigt hat auch darauf hingewiesen. Hier hat sich meiner Meinung nach die Kommission zu sehr auf die Erörterung der Auslegung vorsichtiger Juristen beschränkt und weniger an die Not der Patienten gedacht, wenn sie durch diese Rechtsauslegung unseligerweise in Schrecken gehalten werden. Auch hier ist es meiner Meinung nach notwendig, daß man sich Gedanken darüber macht, wie man die Unsicherheit Eimer ({1}) bei den Patienten, aber auch beim Arzt so beseitigt, daß der Datenschutz gesichert ist und daß die notwendige Beratung nicht verweigert wird. Lassen Sie mich noch ein Argument zur Verantwortung nennen; es fällt mir ein bißchen schwer, das so auszusprechen. Die Wissenschaft hat es in den letzten Monaten geschafft, daß der Ausbruch der Krankheit durch Medikamente hinausgezögert werden kann. Das ist gut so. Das heißt, daß ein Infizierter jetzt länger leben kann. Das heißt aber auch, daß er länger infektiös ist und Personen infizieren kann, wenn er sich nicht verantwortungsbewußt verhält. Damit man mir nicht etwas Falsches unterstellt: Ich freue mich über jeden Tag, den ein Infizierter länger leben kann. Aber wir müssen ihm auch sagen: Sie tragen mit jedem Tag, den sie länger leben, auch mehr Verantwortung. Sicher gibt es bei Aids einen Konflikt zwischen Grundrechten, auf der einen Seite dem Recht auf die informationelle Selbstbestimmung, auf der anderen Seite dem Recht auf körperliche Unversehrtheit. In diesem Konfliktfall halte ich das Recht auf körperliche Unversehrheit für das höherwertige Rechtsgut. Ich bin nicht glücklich über die vorsichtigen Aussagen im Enquete-Bericht, was den Schutz des Personals vor Ansteckung in einer Klinik betrifft: Ärzte und Klinikpersonal, aber auch Patienten können betroffen sein. Weiterhin bin ich nicht sehr glücklich darüber, daß es uns nicht gelungen ist, eine einheitliche Aussage über die Notwendigkeit von zuverlässigen Daten zur Verbreitung von HIV in unserer Bevölkerung zu machen. Wer wissen will, wieviel Prozent der Bevölkerung infiziert sind, darf bei einer Labormeldepflicht nicht nur die erkrankten HIV-Fälle melden, sondern muß auch die Zahl der getesteten Personen kennen. Denn nur wenn ich Zähler und Nenner eines Bruches kenne, kann ich die Prozentzahl errechnen. Das Datenmaterial, das uns vorliegt, ist unvollkommen. Das sollten wir hier auch ehrlicherweise zugeben. Eine unangenehme Wahrheit darf nicht unausgesprochen bleiben. Wir haben im Bericht propagiert, daß man sich mit Kondomen schützen muß. Ich halte das auch für richtig. Aber Kondome sind nicht die sichere Vorbeugung vor einer möglichen Ansteckung, für die sie oft gehalten werden. Sicheren Schutz gibt es ausschließlich bei Partnertreue. Damit auch hier kein falscher Eindruck entsteht: Dies ist keine moralische Wertung, sondern nur eine sachliche Feststellung. Ich werde keinen moralischen Zeigefinger erheben. Aber jeder sollte wissen, welche Risiken er bei der Wahl seines Partners eingeht. Kondome schützen, das ist richtig. Aber die Sicherheit wird überschätzt. Solange wir nichts Besseres haben, müssen wir sie all denen empfehlen, die promisk leben wollen. Der Endbericht, meine Damen und Herren, muß auch zu einigen Folgerungen in der Gesetzgebung führen. So meine ich, daß sowohl das alte Seuchenrecht als auch das Gesetz zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten überholt sind und durch neue Gesetze - vielleicht durch ein neues Gesetz - ersetzt werden müssen. Auch hier war sich die Kommission Gott sei Dank einig, daß die alten Gesetze zur Bekämpfung dieser Krankheit nichts taugen. Wir müssen nach meiner Überzeugung auch daran denken, das Sexualstrafrecht neu zu überdenken, einschließlich des § 175 StGB. Auch das ist zumindest ansatzweise im Endbericht enthalten, aber eben nur ansatzweise. ({2}) - Der letzte Punkt ist schon in der Koalitionsvereinbarung enthalten; das ist richtig. Ich bin auch ganz froh, daß es gelungen ist, dies einzubringen. Ich will schließen mit einer Bitte an die Ministerin für Gesundheit. Bitte achten Sie mehr als bisher auf die Pluralität des Angebotes bei der Beratung. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Zum einen gibt es die Aids-Hilfen, die von Ihrem Haus gefördert werden. Ich halte das für gut; das muß so bleiben. Aber es gibt zum anderen z. B. auch die Aids-Aufklärung aus Frankfurt, der Wissenschaftler angehören, die sich um die Erforschung dieser Krankheit verdient gemacht haben und die zum Teil auch Mitglieder der Enquete-Kommission waren. Diese Aufklärungsstelle wird nicht unterstützt - angeblich, weil sie nicht auf der Linie der Prävention der Bundesregierung liegt. Das stimmt so nicht. Beide Organisationen sprechen unterschiedliche soziologische Gruppen an: die eine Homosexuelle, Drogenabhängige, Prostituierte, die andere in erster Linie solche Bürger, die solchen Gruppen nicht angehören. Der einzige Unterschied in der Konzeption der Prävention liegt darin, daß die einen, nämlich die Aids-Hilfen, von einem freiwilligen Test offen oder versteckt abraten und die anderen, die Frankfurter Organisation, zu einem freiwilligen Test - ich betone: freiwilligen Test - aus der Verantwortung der Infizierten denen gegenüber, die noch nicht infiziert sind, raten. Wenn eine Konzeption auf der Linie der Bundesregierung liegt, dann ist es dieser Verein aus Frankfurt. Ich meine aber, wir sollten beide unterstützen. Ich möchte Sie, verehrte Frau Minister, weiter sehr herzlich bitten: Gehen Sie mit den Informationen, die Sie bekommen, kritisch um, ganz gleich, von welcher Stelle sie kommen - sei es aus der Umgebung der Aids-Hilfen, sei es aus der Richtung, die man gemeinhin mit dem Namen Gauweiler in Verbindung setzt, seien es auch Informationen aus dem eigenen Haus. Dem Überweisungsvorschlag, den meine beiden Vorredner gemacht haben, schließe ich mich im Namen der FDP an. ({3}) Vielen Dank.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, ich erteile das Wort nunmehr der Frau Abgeordneten Jelpke ({0}).

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Meine Damen und Herren! Die Aids-Aktionsgruppen haben einen kurzen und leider treffenden Slogan zum Zustand der Aids-Politik in diesem Staat gefunden: Schweigen gleich Tod. Wer die Berichte der Aids-Enquete-Kommission gelesen hat, weiß, wozu die Bundesregierung bislang geschwiegen hat und wo das Sterben von Menschen durch dieses Schweigen mitverantwortet wird, weil notwendige Initiativen nicht ergriffen wurden. Die Kommission kommt in zahlreichen Punkten ihres Berichtes zu tendenziell richtigen Empfehlungen, die oftmals allerdings weder präzisiert sind noch die Forderungen der von HIV und Aids Betroffenen tatsächlich artikulieren. Wir sind mit diesen Forderungen solidarisch und bedauern, daß der Kommissionsbericht diese nur halbherzig und verwässert aufgenommen hat. Deutlich wird der Bericht bei der Empfehlung, den in Knästen einsitzenden Drogenabhängigen saubere Spritzbestecke zur Verfügung zu stellen. Die Justizminister der Länder haben hierauf allerdings noch nicht reagiert und tragen somit die Verantwortung für Infektion und Erkrankung in Gefängnissen, die steigen. Schweigen der Verantwortlichen führt hier zum Tod derer, die geschützt werden sollen. Gefangene mit HIV werden in zahlreichen Gefängnissen einer repressiven Sonderbehandlung unterzogen. ({0}) - Das weiß ich, weil ich in Hamburg seit zehn Jahren Knastarbeit mache. Ich weiß beispielsweise, wie Gefangene isoliert werden oder daß Gefangene, die nur noch wenige Monate zu leben haben, nicht aus der Haft entlassen werden. Ich wollte auch das genau sagen: Dies ist unbedingt nötig. Solange dies nämlich nicht gewährleistet ist, müssen Gefangene zumindest das Recht haben, von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Aids-Hilfen begleitet zu werden. Auch das wird oftmals nicht gemacht. ({1}) - Das ist keine Kritik an dem Bericht, sondern an der bisherigen Politik in Sachen Aids; Sie müssen einmal richtig zuhören. In der Gruppe der drogenkonsumierenden Menschen steigen die Zahlen der Infizierten und Erkrankten rapide an. Das jedenfalls sagen die Gruppen, die dort praktisch arbeiten und Hilfe leisten. Diese logische Folge einer verfehlten Drogenpolitik, deren Merkmale die Kriminalisierung und Verelendung drogenkonsumierender Menschen sind, kann eben nicht über einzelne Veränderungen und kleine Modelle in der Drogenberatung behoben werden. Notwendig ist eine grundsätzlich andere Drogenpolitik. Ein humaner und akzeptierender Umgang mit den Drogenabhängigen ist notwendig. Deren Zusammenschlüsse sind finanziell zu fördern, ohne daß man inhaltlich Einfluß nimmt. Das Betäubungsmittelgesetz hat in überhaupt keiner Weise die Drogen bekämpft, sondern leider immer nur die Konsumsierenden, die Drogenabhängigen. Sie können übrigens in jedem Rauschgiftdezernat verfolgen, daß 85 % der Ermittlungen gegen Verbraucher und nicht gegen Dealer oder andere Vertreiber laufen. Der internationale Krieg gegen die Drogen ist bisher in Wirklichkeit eine Kriegserklärung an Drogenabhängige gewesen. All dies wirkt sich nun sowohl in der Präventionsarbeit als auch bei der Betreuung aidskranker Menschen aus. Obdachlosigkeit, Verschuldung, gesundheitliche Verelendung sind für Aids-Hilfen alltägliche Probleme. Produziert wurden sie unter anderem auch in diesem Hohen Haus durch Nichthilfe. Die PDS-Bundestagsgruppe wird dieser Politik des kalkulierten Todes entgegentreten. Die Enquete-Kommission fordert die Abschaffung des § 175 StGB, eines inhumanen Sondergesetzes gegen schwule Männer. Wir erklären, daß die PDS/ Linke Liste die ersatzlose Streichung des § 175 für lange überfällig hält und eine Rehabilitierung der Opfer dieses Schandparagraphen unbedingt erfolgen muß. ({2}) Die Abschaffung des § 175 ist allerdings, unabhängig von der Aids-Prävention, eine Notwendigkeit, und wir bedauern, daß dies im Endbericht der Aids-Kommission nicht deutlich geworden ist. Gleichwohl wissen wir, daß die Verfolgung schwuler Männer durch diesen Staat die Präventionsbemühungen der Selbsthilfegruppen erschwert. Um so höher ist die geleistete Arbeit der Aids-Selbsthilfegruppen und ihrer Dachverbände zu bewerten. Dieser Selbsthilfe wurden und werden zahlreiche Steine in den Weg gelegt: Immer noch gibt es kein Zeugnisverweigerungsrecht für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Aids-Hilfen. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf das Vertrauensverhältnis zwischen Beraterinnen und Beratern und Ratsuchenden. Die Empfehlung der Aids-Enquete-Kommission ist hier präzise und muß sofort umgesetzt werden. Hierbei muß das Zeugnisverweigerungsrecht insbesondere auch für ehrenamtlich Tätige festgeschrieben werden. Seit 1987 stagniert der Haushalt der Deutschen Aids-Hilfe, des Dach- und Fachverbandes der Aids-Selbsthilfe. Ich möchte noch mal betonen - auch die praktisch arbeitenden Gruppen sehen es so: Der Haushalt stagniert trotz der Vergrößerung der Bundesrepublik um 17 Millionen Menschen; also findet faktisch eine Kürzung des Haushalts statt. Bis jetzt steht immer noch nicht fest, wieviel Geld die Deutsche Aids-Hilfe in diesem Jahr zur Verfügung gestellt bekommen wird. Von 1992 möchte ich erst gar nicht sprechen. Auch die lobenden Worte der Enquete-Kommission an die Adresse der Aids-Selbsthilfe helfen wenig weiter, wenn keine praktische Hilfe kommt. Heute müssen von hier, Frau Hasselfeldt, deutliche Signale der finanziellen Unterstützung an die Aids-Hilfen gehen. Mit schönen Worten ist die Arbeit nicht finanzierbar. Dies gilt auch für die Bundesmodellprogramme Aids, die bis zum 30. September diesen Jahres auslaufen. Besonders im Bereich der ambulanten Versorgung und Betreuung ist von den Selbsthilfegruppen, die nun vor dem Aus stehen, hervorragende Arbeit geleistet worden. Länder und Kommunen werden zur alleinigen Fortführung der Programme nicht in der Lage sein, gerade angesichts ihrer zunehmenden Schröpfung durch die Bundeskassen. Wenn nicht weiter Mittel des Bundes zur Verfügung gestellt werden, wird z. B. die Arbeit der Selbsthilfeprojekte von HIV e. V., ad hoc und ZiK in Berlin zusammenbrechen. Dies sind nur einige Beispiele. In anderen Städten sieht es sicher nicht anders aus. In den neuen Bundesländern sind zusätzliche Mittel zum Aufbau der Aids-Hilfen zur Verfügung zu stellen. Länder und Kommunen sind dort erst recht überfordert. Das Bundesgesundheitsministerium und der Bundestag müssen die Verantwortung für die Sicherung gerade der Selbsthilfeprojekte übernehmen und können sich ihr nicht entziehen. Völlig unbeachtet bleiben im Bericht der EnqueteKommission die Forderungen der Aids-Hilfen zur Forschungspolitik. Betroffene werden in Forschungsprojekten zu Objekten der Pharmaindustrie. Die Aussicht auf Heilung und Gesundheitserhaltung, die von Forscherinnen und Forschern immer wieder vermittelt wird, ist für medizinische Laien nicht überprüfbar. Die Konzeptionen der Forschungsvorhaben werden ohne Beteiligung von Betroffenenverbänden entwickelt. Es ist kein Wunder, daß die Interessen derjenigen, um die es angeblich geht, immer wieder mißachtet werden. Forschungsvorhaben dienen leider in erster Linie der Profitmaximierung der Pharmaindustrie. Die PDS-Bundestagsgruppe fordert in diesem Bereich die Beteiligung der Betroffenenverbände von Anfang an. Wir fordern ein Veto-Recht der Betroffenen gegen menschenverachtende Forschungsvorhaben. Wir verlangen eine strikte Kontrolle darüber, ob Betroffene objektiv über Risiken und Chancen einer Teilnahme an Forschungsvorhaben informiert werden. Und wir fordern die Bundesregierung auf, Forschungsprojekte nur dann zu bezuschussen, wenn eine enge Koordination mit anderen Forschungsvorhaben gewährleistet ist. Anderenfalls werden Prestige und Profit über das Leben der Betroffenen gestellt werden. Das aber kann nicht zugelassen werden. Die PDS-Bundestagsgruppe wird sich in ihrer Aids-Politik an den Forderungen der Betroffenen orientieren. Danke. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, das Wort hat nunmehr Frau Parlamentarische Staatssekretärin Geiger.

Michaela Geiger (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000649

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir einige Anmerkungen zum 9. Kapitel Ihres Berichtes „AIDS in anderen Ländern, insbesondere in Ländern der Dritten Welt". Aids hat sich längst zu einer furchtbaren Geißel für die Menschen in weiten Teilen Afrikas, Lateinamerikas und Asiens entwickelt. Heute wird allein in Afrika die Zahl der HIVinfizierten Personen auf mindestens 5 Millionen Menschen geschätzt. In einigen Städten Tansanias ist bis zu 40 % der erwachsenen Bevölkerung aidsinfiziert. In den Krankenhäusern Sambias sind 80 % der Patienten aidskrank. Genauso düster sind die Zukunftsprognosen. Für das Jahr 2015 rechnet man mit 70 Millionen aidserkrankten Menschen in Schwarzafrika, falls die Seuchenausbreitung und das Bevölkerungswachstum ungebremst weitergehen. Jeder zwölfte Einwohner würde dann HIV-positiv sein. Dies ist nicht nur eine ungeheure menschliche Tragödie, das gefährdet auch all unsere Bemühungen um soziale und wirtschaftliche Entwicklung in den Ländern der Dritten Welt. Für uns ist die Hilfe bei der Aidsbekämpfung in den Entwicklungsländern ein Gebot christlicher Ethik, aber auch der politischen Weitsicht. Die Bundesrepublik hat die Gefahren, die von Aids für die Entwicklungsländer ausgehen, frühzeitig erkannt. Bereits 1986 haben wir im Rahmen unserer Entwicklungszusammenarbeit als eines der ersten Geberländer auf diesem Gebiet mit der Förderung von Projekten zur Aidsbekämpfung begonnen. Bis heute haben wir für Aidsbekämpfungsprojekte der staatlichen bilateralen Entwicklungshilfe, für Projekte der deutschen Nicht-Regierungsorganisationen und der Kirchen, der Weltgesundheitsorganisation und der Europäischen Gemeinschaft mehr als 70 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Schon Anfang 1987 hat die Bundesregierung ihre Vorstellungen für Maßnahmen zur Bekämpfung von Aids in Entwicklungsländern dem Parlament vorgelegt, die mit der erst später entwickelten Strategie der Weltgesundheitsorganisation übereinstimmt. Schwerpunkte unserer Maßnahmen sind die Aufklärung der Bevölkerung über Möglichkeiten der Verminderung des Übertragungsrisikos und die Prävention von HIV-Übertragungen im Gesundheitswesen. Die Bundesregierung bedankt sich ausdrücklich bei allen Mitgliedern der Enquete-Kommission für die wirklich wertvolle Arbeit, die geleistet wurde. Wir begrüßen die die Entwicklungsländer betreffenden Feststellungen und Empfehlungen im Bericht der Enquete-Kommission. Sie zeigen uns, daß wir mit unseren bilateralen Projekten und mit wesentlichen Elementen unserer Aidsbekämpfungsstrategie auf dem richtigen Weg sind. Wir setzen bereits weitgehend die Empfehlungen der Enquete-Kommission in unseren Projekten um. So haben wir z. B. Sondermittel zur besseren Ausstattung von Krankenhäusern und Primärgesundheitsdiensten in Uganda und Ruanda bereitgestellt. In unsere Aidskontrollmaßnahmen werden verstärkt Programme zur Eindämmung von Geschlechtskrankheiten einbezogen. Alle von uns unterstützten Maßnahmen in diesem Bereich werden mit der Weltgesundheitsorganisation, die alle ausländischen Geberleistungen koordiniert, abgestimmt. Herr Voigt, auch 1991 erhöht die Bundesregierung ihre Mittel für Aidsprojekte. In diesem Jahr werden wir voraussichtlich für Projekte der Aidsbekämpfung in Entwicklungsländern insgesamt etwa 30 Millionen DM bereitstellen. Einer Empfehlung der Enquete-Kommission werden wir allerdings nicht folgen können. Es handelt sich um den Vorschlag, den Aidstest für ausländische Stipendiaten abzuschaffen. Wir sind nach wie vor der Auffassung, daß neben der fachlichen Qualifikation auch die gesundheitliche Eignung für die erfolgreiche Teilnahme an Fortbildungsmaßnahmen ausschlagge590 bend ist, so bitter das im Einzelfall ist. Jede andere Regelung wäre nicht vertretbar. ({0}) - Wenn ein Aidserkrankter in sein Heimatland zurückgeht und nach kurzer Zeit stirbt, hilft er seinem Land auch nicht viel. ({1}) Das ist der Grund dafür. Wir werden unsere Anstrengungen zur Bekämpfung von Aids in den Entwicklungsländern weiter intensivieren. Ein besonderer Schwerpunkt wird die Zusammenarbeit mit Selbsthilfeorganisationen in den Entwicklungsländern sein. Diese Organisationen sind besonders wichtig, weil sie die sozialen Folgen von Aids mildern helfen. Sie kümmern sich um die Aidserkrankten und besonders auch um die Kinder, deren Eltern an Aids gestorben sind. Nach Schätzungen von UNICEF wird es allein in Afrika im Jahr 2000 5,5 Millionen Aidswaisen geben. Eines muß uns dabei klar sein: Mit Entwicklungshilfe allein kann die Ausbreitung von Aids nicht gestoppt werden. Entwicklungshilfe von außen kann auch bei der Aidsbekämpfung immer nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. Entscheidend ist, was das Land selbst will. Wir bieten unsere Gesundheitsprojekte an. Wir würden sehr gern öfter helfen. Sehr oft setzt das Land andere Prioritäten. Wir haben das zu akzeptieren. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Das Wort hat nunmehr Frau Abgeordnete Schmidt, SPD-Fraktion.

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, ich habe mich sehr über diese Worte aus Bayern gefreut, und ich wünsche mir, daß auch andere Empfehlungen der EnqueteKommission in Bayern in demselben Umfang so ernst genommen werden. Hinsichtlich eines Punktes, den Sie angesprochen haben und in dem ein Dissens zwischen uns besteht, möchte ich noch einmal schildern, was die EnqueteKommission bewegt hat: Erstens - mein Kollege Großmann hat es gerade schon gesagt - ist die Bundesrepublik das einzige Land, das solche Tests fördert. Zum zweiten ist es so, daß viele afrikanische Länder Stipendiaten, die sie in andere Länder schicken, von sich aus testen und es deshalb als eine Diskriminierung empfinden, wenn wir das von ihnen verlangen. Zum dritten ist der Test immer nur eine Momentaufnahme. Er macht uns zwar ein bißchen sicherer, kann uns aber nicht sicher machen, daß dann tatsächlich keine Infizierung vorliegt. Zum vierten haben wir in der Zwischenzeit eine Latenzzeit von annähernd zwölf Jahren; das heißt: Selbst wenn jemand hier ausgebildet worden ist, kann, bis er dann tatsächlich erkrankt, ein sehr langer Zeitraum vergehen. Auch deshalb halten wir es nicht für notwendig. Wir bitten Sie deshalb ganz herzlich, dies noch einmal zu überprüfen. ({0}) Ich möchte nun auf einige grundsätzliche Punkte zu sprechen kommen. Hier ist schon vieles gesagt worden; manches werde ich in wenigen Worten wiederholen müssen. Herr Kollege Eimer, ich bin nicht ganz Ihrer Auffassung, daß diese Enquete-Kommission sogar entsetzlich gewesen sei. Ich habe ihr allerdings nicht bis zum Ende angehört. Lieber Kollege Geis, es gab auch ein paar sicherlich heftige Auseinandersetzungen. Dennoch, glaube ich, ist es uns gelungen, den parteipolitischen Streit und auch einige Störmanöver, die vor allen Dingen aus südlichen Landesteilen kamen, einigermaßen vernünftig zu überwinden und dies alles letztendlich aus der Arbeit der Enquete-Kommission und deren abschließenden Empfehlungen herauszuhalten. Selbstverständlich hat die Enquete-Kommission nicht im luftleeren Raum gearbeitet. Von Anfang an war klar, daß eine Spannung zwischen den beiden in der Öffentlichkeit diskutierten Grundlinien der Strategie gegen Aids auch in der Arbeit der Kommission ihren Niederschlag finden würde und finden muß, nämlich auf der einen Seite das aufklärend-kooperative Konzept und auf der anderen Seite das repressivseuchenpolizeiliche Konzept. Von Anfang an - das hat sich sehr schnell herausgestellt - war aber auch klar, daß eine große fraktionsübergreifende Mehrheit und eine große Mehrheit der sachverständigen Kommissionsmitglieder für einen wirkungsvollen Kampf gegen Aids nur eine Chance im aufklärerisch-kooperativen Konzept sah. Meine sehr geehrten Kollegen und liebe Kolleginnen, Aids ist nach wie vor eine besondere Krankheit. Wir müssen - wie zu Beginn unserer Arbeit - auch heute von zwei Grundannahmen ausgehen: Erstens. Es besteht nach wie vor keine ausreichende Möglichkeit, Aids erfolgreich zu therapieren. In den vergangenen vier Jahren - der Kollege Eimer hat es bereits gesagt - sind allerdings medikamentöse Behandlungsformen entwickelt worden, die die Oberlebensdauer erkrankter Infizierter zum Teil spürbar erhöhen. Gerade das macht es nötig, auf eine weitere Besonderheit und die sich daraus ergebenden Konsequenzen hinzuweisen. Weil Aidsinfizierte im Regelfall viel jünger sind als andere so schwer erkrankte Menschen, z. B. an Krebs oder vergleichbaren Krankheiten Erkrankte - aber auch da gibt es Ausnahmen - , bestehen kaum oder nur geringe soziale Absicherungen. Annähernd 50 % der Infizierten und Erkrankten - ich habe vor wenigen Tagen noch einmal mit der Aids-Stiftung hier in Nordrhein-Westfalen gesprochen - leben von Sozialhilfe. Nach wie vor ist die Krankheit - auch dies hat der Kollege Voigt schon gesagt - mit einem Stigma behaftet. Deshalb sind unsere Hilfe und Phantasie besonders gefordert, z. B. für die ambulante Betreuung, für besondere Wohnformen von Aids-Infizierten Frau Schmidt ({1}) und für die Betreuung der Pflegenden, die man nicht oft genug erwähnen kann und denen, glaube ich, auch besonders zu danken ist. Zweite Grundannahme. Es gibt nach wie vor keine Möglichkeit, eine Infektion durch eine Impfung zu vermeiden. Überlegungen, wann ein solcher Impfstoff zur Verfügung steht, gehören auch heute noch in den Bereich der Spekulation. Beide Tatbestände unterstreichen die Kernempfehlung der Enquete-Kommission: Ausschließlich über den Weg der Infektionsprophylaxe kann einer Ausbreitung der HIV-Infizierung in ständig wachsende Bevölkerungsgruppen erfolgreich entgegengewirkt werden. Dabei muß, wie gesagt, die Aufklärung die entscheidende Rolle spielen. Aids ist - das wissen wir - eine zuallerst sexuell übertragbare Krankheit. Das erfordert besondere Aufklärungsstrategien, die auf eine Veränderung - das ist eines der schwierigsten Dinge überhaupt - von sexuellen Verhaltensweisen abzielen müssen. Wer durch eine Aufklärungsstrategie sexuelle Verhaltensweisen ändern will, der muß Sexualität erst einmal so akzeptieren, wie sie ist. Er hat sich vor Bewertungen oder gar Abwertungen der unterschiedlichen Formen menschlicher Sexualität zu hüten. Notwendig ist dabei die Vermittlung eines Klimas von Toleranz, Humanität und Solidarität. Eigenverantwortliches Handeln muß zentrales Gebot im Interesse aller und daher vordringlichster Aufklärungsinhalt sein. Neben der allgemeinen muß besonderes Gewicht auf zielgruppenspezifische Aufklärung gelegt werden; denn Minderheiten in unserer Gesellschaft sind in besonderem Maße betroffen. Sie sind heute schon erwähnt worden, wie z. B. der Bereich der Prostitution. Dabei möchte ich an dieser Stelle noch einmal betonen, daß die Gefahr nicht von den Prostituierten ausgeht, die registriert sind, sondern da im Regelfall vor allen Dingen von ihren Kunden, die verlangen, daß sie mit ihnen ungeschützt verkehren. Dies muß in aller Deutlichkeit noch einmal betont werden. Natürlich geht außerdem die Gefahr von denen aus, die nicht registriert sind und aus dem Bereich der Drogenabhängigen kommen. Ferner geht es um die Drogenabhängigen und selbstverständlich nach wie vor um die männlichen Homosexuellen. Die bisherigen Aufklärungskampagnen der Bundesregierung offenbaren gerade hier in meinen Augen eine Reihe von Mängeln, die unbedingt ausgeräumt werden müssen. Das Ziel der Aufklärung macht selbst auferlegte moralische Schranken ebenso kontraproduktiv wie eine unklare oder gar schüchterne Sprache. Wir sollten endlich Beispiele aus der Schweiz oder aus anderen Ländern zum Anlaß nehmen, vielleicht auch bei uns ein bißchen an Betulichkeit endlich abzulegen. In dem richtigen Bestreben, Aids nicht als eine Krankheit von sogenannten Randgruppen erscheinen zu lassen, darf aber nicht in den Fehler verfallen werden, z. B. Homosexuelle überhaupt nicht mehr oder höchstens als zu pflegende Erkrankte darzustellen, also die besonderen Probleme der bisherigen Hauptbetroffenengruppen unter den Tisch zu kehren. Gerade die besonderen Zielgruppen, die bei einer Kampagne angesprochen werden müssen, verfügen in der Regel über eingespielte Informationsstrukturen, die es sonst in der Gesellschaft nicht gibt. Ich möchte die Bundesregierung ganz im Sinne der Empfehlungen der Enquete-Kommission ermuntern, diese Informationsstrukturen entschiedener als bisher zu nutzen, ob es sich um Selbsthilfegruppen von Prostituierten oder männliche Homosexuellengruppen handelt. Diese Informationsstrukturen dürfen nicht mutwillig oder leichtfertig zerstört werden; denn sie sind in vielen Fällen die einzige Möglichkeit, diese Gruppen und die Menschen, die dort ihren Ansprechpartner haben, überhaupt zu erreichen. Die Zerschlagung von sogenannten Szenetreffpunkten ist daher auch unter diesen Gesichtspunkten unsinnig. Dies einmal wieder an eine eher südliche Adresse gerichtet. ({2}) - Ich meine Bayern, lieber Kollege Geis. Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, Aufklärung wird Stückwerk bleiben, wenn wir sie nicht mit einem Angebot zu einer verbesserten gesellschaftlichen Integration von Minderheiten verbinden. Wir müssen lernen, auch andere als die eigenen Lebensformen zu akzeptieren. Nur dann werden wir denjenigen, die in diesen Lebensformen ihr Zuhause finden, eine erfolgversprechende Möglichkeit zum Ausstieg aus bestimmten sozialen Randsituationen bieten. Ausstiegsangebote brauchen eine glaubwürdige soziale Perspektive. Nur wenn die geboten wird, werden wir Betroffene zum Ausstieg aus der Drogenszene oder aus dem Prostituiertenmilieu gewinnen können. Menschen mit sozialer Perspektive entwickeln mehr Verantwortung - ich gebe dem Kollegen Eimer recht, daß sie notwendig ist - für sich selbst und für andere. Repression schadet auch hier, soziale Unterstützung dagegen hilft. Besondere Ansprechpartner für eine Kampagne gegen Aids müssen auch die Jugendlichen sein. Gerade hier ist der Informationsbedarf groß. Das Informationsbedürfnis der Jugendlichen ist in der Zwischenzeit aber nicht mehr so groß. Gerade deshalb muß dem entgegengewirkt werden. Die Enquete-Kommission weist nicht zu Unrecht auf die hier den Schulen oder den Einrichtungen der allgemeinen Jugendhilfe zukommenden Aufgaben hin. Daraus müssen jetzt praktische Konsequenzen gezogen werden. Die in der Jugendhilfe Tätigen und die Lehrerinnen und Lehrer brauchen vernünftige Hilfe. Mein Appell geht hier besonders an die Kultusminister der Länder: Nutzen Sie die Angebote, die die Institutionen des Bundes bieten, und entwickeln Sie eigene ergänzende Informationen. Gerade weil AIDS aus den Schlagzeilen verschwunden ist, ist Aufklärung der Jugendlichen noch dringender nötig, als sie vorher gewesen ist. Allerdings möchte ich die Bundesregierung bitten, ihre spezifischen, unter dem Aspekt partnerschaftlicher Treue durchgeführten Aufklärungs- und Informationsmaßnahmen zu überprüfen. Daß dies eine Möglichkeit ist, Infektionen zu vermeiden, steht außer Zweifel. Aber wir müssen von der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgehen und dürfen den Menschen nicht bestimmte Vorstellungen von Moral überstül592 Frau Schmidt ({3}) pen. Gerade bei Jugendlichen, die erst versuchen, Partnerschaften aufzubauen, und die dabei sind, ihre eigene Sexualität zu entwickeln und zu testen, ist es völlig lebensfremd, unter dem Aspekt partnerschaftlicher Treue durchgeführte Aufklärungskampagnen zu starten. Sie werden wirkungslos bleiben und bestenfalls Ratlosigkeit heraufbeschwören. Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, wenn ich mir die Aufklärungskampagnen der Bundesregierung in den letzten vier Jahren vor Augen führe, so habe ich nicht den Eindruck, daß das Problem Frauen und Aids in besonderem Maße angesprochen worden wäre. Das Thema Frauen und Aids rangierte vorwiegend unter der Überschrift „Prostitution", und hin und wieder waren die Frauen Opfer oder wurden als Opfer eines Seitensprunges ihres Mannes dargestellt. Verändertes Sexualverhalten auch von Frauen hat in den Kampagnen zu wenig Niederschlag gefunden. Auch hier meine Bitte an die Bundesregierung, sich entsprechend den Empfehlungen der Enquete-Kommission dieses Themas anzunehmen und ein speziell für Frauen entwickeltes Beratungs- und Aufklärungsprogramm aufzulegen, in dem sie nicht dauernd Opfer, sondern aktiv Handelnde und sich selbst Schützende sind. ({4}) Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, vielfach wurde vor allen Dingen von Vertretern der repressiv-seuchenpolizeilichen Linie bei der Bekämpfung von Aids so getan, als könne ein HIV-Antikörpertest präventive Wirkung haben. Ich hatte vorhin bei der Rede des Kollegen Eimer den Eindruck, daß auch er dies so meint. Aber ich kenne ihn gut genug, daß ich weiß, daß es so nicht ist. ({5}) Das ist selbstverständlich falsch. Der HIV-Antikörpertest ist diagnostisches Mittel und hat keinerlei präventive Funktion. Er ist eine Hilfe - diese Hilfe sollte auch verstärkt wahrgenommen werden - , die Infektion zu erkennen, aber nicht, andere Infektionen zu verhüten. Es wäre gut, wenn sich dies mittlerweile auch bis in die Flure der bayerischen Staatsregierung herumgesprochen hätte. ({6}) - Selbstverständlich, Herr Kollege Geis.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte, Herr Kollege Geis.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne komme ich Ihrer freundlichen Aufforderung nach. Frau Kollegin, würden Sie mir zugeben, daß ein Test bei dem Getesteten zumindest das Wissen hervorruft, daß er infiziert ist oder nicht, daß, wenn er infiziert ist, ein besonderes Verantwortungsgefühl, das er vorher vielleicht nicht hat, geweckt werden kann, sich gegenüber seiner Partnerin entsprechend zu verhalten und sie zu schützen, und daß durch dieses verantwortliche Verhalten des Getesteten natürlich eine Unterbrechung der Infektionskette erreicht werden kann.

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Geis, Sie haben mich offensichtlich mißverstanden. Ich spreche hier nicht gegen Tests. Ich spreche nur gegen die Absicht, daß Tests eine präventive Funktion haben könnten. Ich habe gerade in Erwiderung auf die Frau Staatssekretärin darzustellen versucht, daß ein Test immer nur eine Momentaufnahme ist, daß das Ergebnis nur etwas über den momentanen Zustand sagt. Wir wissen, wie lange es dauert, bis man Antikörper feststellt. Ein Testergebnis kann falsche Sicherheit erzeugen. Insoweit würde ich Sie bitten, einfach von der Idee Abstand zu nehmen, daß man dadurch Prävention erzeugen könnte. Wenn es Menschen gibt, die, wie immer man das nennen will, mit anderen Personen, von denen sie nicht wissen, ob sie infiziert waren, Geschlechtsverkehr hatten, dann ist es gut, sich mit oder ohne Test anschließend zu schützen, bis man Klarheit hat. Deshalb ist nicht der Test, sondern der Schutz und das verantwortliche Verhalten an sich die Prävention und nicht etwa etwas anderes. ({0}) Es macht keinen Sinn, den Test als Mittel einer medizinischen Routineuntersuchung einsetzen zu wollen, ganz davon abgesehen, daß dies ohnehin nicht zulässig wäre. Der Test darf nur nach ausführlicher Information über seinen begrenzten Aussagewert und bei einer anschließenden Beratung und Betreuung mit Zustimmung der Betroffenen erfolgen. Hier scheint, wie ich Zeitungsberichten entnommen habe, vor allem in den fünf neuen Bundesländern, noch vieles im argen zu liegen. Deshalb müssen gerade dort Beratungsstellen aufgebaut werden. Die Aidshilfe und Stiftungen, denen für ihre Arbeit besonders gedankt werden sollte, brauchen unsere Unterstützung für den Aufbau dort. Nachdem ich nun beim Danken bin, möchte ich mich dem Dank, den der Herr Vorsitzende an alle Mitglieder der Enquete-Kommission, an das Sekretariat und an alle Beteiligten gerichtet hat, vollinhaltlich anschließen und mich vor allem bei Ihnen, Herr Voigt, bedanken, weil Sie diese Kommission in einer Art und Weise geführt haben, die beispielhaft ist. Ich danke schön. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, das Wort hat nunmehr Herr Abgeordneter Dr. Blank, Fraktion der CDU/CSU.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen ! Zehn Jahre nach der ersten offiziellen Feststellung eines Aidsfalles in der Bundesrepublik, vier Jahre nach Einsetzung der Aids-Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages und zwei Jahre nach Vorlage des Zwischenberichts diskutieren wir heute über den Endbericht der EnqueteKommission. Als im Mai 1987 der Bundestag der Kommission die Aufgabe zuwies, den Informations- und Wissensstand des Parlaments über die Immunschwächekrankheit Aids zu verbessern, Gefahren und Bekämpfungsmöglichkeiten aufzuzeigen und politische Entscheidungen vorzubereiten und wissenschaftlich abzusichern, stritten um Aids und die Möglichkeiten seiner Bekämpfung nicht nur die Gesundheitspolitiker; Aids war in den Schlagzeilen der Medien. Gesellschaftspolitische Meinungsverschiedenheiten prägten die Auseinandersetzung, wie der nach wie vor unheilbaren Krankheit beizukommen sei. Der Streit um staatliche Eingriffe - ich nenne hier nur die Stichworte Zwangstest, Aidsmeldepflicht, Kondompflicht und sogar Tätigkeitsverbote für Prostituierte und Freier, ja, selbst Absonderung von HIV-Kranken - war heftig und wurde emotional geführt. Nicht weniger Kritik war insbesondere die Aidspolitik der Bundesministerin Rita Süssmuth ausgesetzt, die 1987 mit einer Strategie der Aufklärung, der Unterstützung und Betreuung von Infizierten und Kranken begann und versuchte, Panik und Hysterie in unserer Bevölkerung abzubauen und ein solidarisches Klima zu schaffen, in dem Gesunde und Kranke miteinander statt gegeneinander leben können. Heute, meine Damen und Herren, ist Aids aus den Schlagzeilen verschwunden. Die damals hochschlagenden Wellen sind verebbt. Aids ist in der öffentlichen Diskussion zu einem Randthema geworden. Das, denke ich, ist positiv und negativ zugleich. Positiv ist, daß die Panik, die in unserer Gesellschaft aufzukommen drohte, abgebaut worden ist. Positiv ist sicher auch, daß heute ein breiter politischer und gesellschaftlicher Konsens - die Debatte hier macht das ja deutlich - über die richtige, wirkungsvolle Strategie in der Aidsprävention besteht, nämlich Aufklärung und Beratung haben Vorrang vor solchen rechtlichen Maßnahmen. Negativ ist aber, daß bei vielen Menschen der Eindruck entstanden ist, Aids bedrohe sie nicht persönlich. Diese Einstellung ist gefährlich. Die Zahlen der festgestellten Erkrankungen verdoppeln sich immer noch in 21 Monaten. Besorgniserregend ist auch der Umstand, daß unter jungen Homosexuellen die HIV-Infektionen zunehmen. Bei der Beratung des Zwischenberichts unserer Kommission im Oktober 1988 habe ich hier an dieser Stelle in meinem Debattenbeitrag den Wunsch geäußert, daß es uns im Interesse der von Aids betroffenen Menschen gelingen möge, auch über die Empfehlungen des Abschlußberichts einen möglichst breiten Konsens zu erzielen. Heute kann ich feststellen: zwar enthält der Abschlußbericht auf über 700 Seiten eine Reihe von Minderheitenvoten, und auch die Mehrheitsvoten sind nicht selten im Kompromiß zustande gekommen; aber über die wesentlichen Elemente der Aidspräventionsstrategie bestand Einigkeit unter den Kommissionsmitgliedern. Das war, meine Damen und Herren möglich, weil sich die Mehrheit der Kommission darüber einig war, daß zu den tragenden Grundsätzen einer Gesellschaft, die sich zu einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennt, die Eigenverantwortlichkeit seiner Bürger gehört. Sie ist und bleibt Ausgangspunkt und Ziel staatlichen Handelns. Sie setzt gesetzlichen Reglementierungen Grenzen. Sittliche Verantwortung, solidarisches Verhalten gegenüber den Mitmenschen und der Gesellschaft und ein daran orientiertes Sexualverhalten können nicht allein durch staatlichen Zwang erreicht, sondern müssen vom einzelnen letztlich aus innerer Einsicht heraus entwickelt werden. Eine autoritäre oder repressive Moral, eingebettet in gesetzliche Vorschriften, bewirkt langfristig nicht genug. Daher war und ist es richtig, daß die Aidspolitik in erster Linie auf die Eigenverantwortung des Menschen setzt. Richtig war und ist auch dies: Will die Politik den Bezug zur Realität wahren, so muß sie in einer pluralistischen Gesellschaft den Menschen weiten Raum zur Verwirklichung ihrer eben auch pluralen Wertvorstellungen lassen, soweit sie nicht wesentlichen im Grundgesetz verankerten Werten und Rechten der menschlichen Person und der Gemeinschaft in schwerwiegender Weise widersprechen. Von daher waren wir mehrheitlich der Auffassung, daß vor dem Einsatz rechtlicher Instrumente bis hin zu strafrechtlichen Sanktionen der Staat auf die sexuelle Eigenverantwortung des einzelnen setzen muß und darf. Ausgehend von diesen Erkenntnissen und Prämissen haben wir in Deutschland, so denke ich, in den letzten Jahren eine erfolgreiche Strategie gegen die Immunschwächekrankheit Aids in Gang setzen können. Die Erfahrungen, die wir in diesem Zusammenhang gewonnen haben, waren nicht nur für die Aids-Strategie von Gewinn, sondern sie werden auch in anderen Bereichen staatlicher Gesundheitspolitik künftig hilfreich sein, so z. B. im Bereich der Drogenpolitik. Der Ruf nach mehr Rechtsvorschriften und nach mehr Staat garantiert nicht immer automatisch den Erfolg. Aufklärung und das Setzen auf Eigenverantwortung führen oftmals eher zum Ziel. Meine Damen und Herren, die demoskopischen Untersuchungen belegen, daß die überwältigende Mehrheit unserer Bevölkerung in Sachen Aids von der Aufklärung her erreicht worden ist. Wenn der erreichte Informationsstand aber gehalten werden soll, ist es nach wie vor unverzichtbar, auch weiterhin zielgruppenspezifische Aufklärung zu betreiben. Jugendliche, die leichter als Erwachsene etwa in Versuchung kommen, mit Drogen zu experimentieren, die sich auch in sexueller Hinsicht noch in einer Orientierungsphase befinden und die dabei sind, ihre eigene Sexualität zu entdecken und zu erforschen, sind aus epidemiologischer Sicht Risiken einer HIV-Infektion nach wie vor ausgesetzt. Das Forschungsprojekt der Bundesregierung „Jugend und Aids" hat uns wichtige Erkenntisse über effektivere zielgruppenspezifische Aufklärungskonzepte geliefert. Frau Kollegin Schmidt, ich bin mit Ihnen nachdrücklich der Meinung und wiederhole es deswegen hier: Gerade die Schule ist der Ort, an dem alle Jugendlichen von Aufklärungsmaßnahmen erfaßt werden. ({0}) Hier geschieht nach meiner Meinung nach wie vor zu wenig. ({1}) Das gilt nach meinem Eindruck auch für die sozialpädagogische Jugendarbeit. Auch in der sozialpädagogischen Jugendarbeit kann und muß in dieser Hin594 sicht mehr getan werden. Es liegt nun an den Ländern, die Ergebnisse der Studie „Jugend und Aids" wie auch die der übrigen Modellmaßnahmen des Bundes in die praktische kommunale Präventionsarbeit umzusetzen. Aber nicht nur die Länder und die Gemeinden sind aufgefordert, die aus dem Aidsprogramm des Bundes hervorgegangenen Ergebnisse in ihrer Gesundheitspolitik zu berücksichtigen. Ich appelliere in diesem Zusammenhang auch an die Krankenkassen, ihrer gesetzlich verankerten Pflicht, ihre Versicherten umfassend über Gesundheitsgefährdung und über die Verhinderung von Krankheiten - auch unter dem Aspekt von Aids - aufzuklären, stärker als bisher nachzukommen. Aidsprävention muß langfristig in ein Konzept der allgemeinen Gesundheitsförderung und -erziehung einfließen. Sie muß integraler Bestandteil der Gesundheitsfürsorge auch durch unsere Krankenkassen werden. Meine Damen und Herren, insgesamt - so denke ich - weisen die Empfehlungen der Enquete-Kommission einen wirkungsvollen und von verantwortbaren Weg, um den Herausforderungen zu begegnen, die Aids an den einzelnen und an die Gesellschaft stellt. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, nunmehr hat Herr Abgeordneter Dr. Pick von der SPD-Fraktion das Wort.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001715, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, bei der Beurteilung dieses Endberichts der Enquete-Kommission, Herr Kollege Eimer, kommt es darauf an, was man von einem solchen Bericht erwartet oder sinnvollerweise erwarten kann. Er ist mit Sicherheit nicht die Bibel dessen geworden - das wollten wir auch gar nicht - , was Therapie und was Eindämmung und andere Wege der Verhinderung dieser Krankheit angeht. Aber ich glaube, er ist eine Dokumentation dessen, was der Bundestag mit Hilfe des Sachverstandes vieler daran Interessierter und Beteiligter hat ermitteln können. Sinn und Zweck dieser Dokumentation müßte natürlich auch sein, daß sie fortgeschrieben wird und daß gefragt wird: Welche weiteren Erkenntnisse gibt es, und wie gehen wir mit dem Thema um? Ich kann es vielleicht auch deswegen sagen, weil ich erst gegen Ende der Beratungen in diese Kommission gekommen bin und zunächst einmal einen sehr intensiven Lernprozeß habe durchmachen müssen, um das zu lernen, was Sie sich in jahrelanger Arbeit erarbeitet haben. Daher muß ich sagen, ich habe große Hochachtung vor denen, die vor mir diese Arbeit geleistet haben. Ich möchte mich einem Kapitel besonders widmen, das das Thema Aids und Recht zum Gegenstand hat. Schon allein aus der Quantität dieses Kapitels von 180 Seiten - wenn man die Sondervoten noch einbezieht, sind es 200; rund 25% dieses Berichts sind also diesem Thema gewidmet - geht die Bedeutung dieses Aspekts hervor. Die Quantität zeigt auch, daß Aids ohne die rechtlichen Implikationen nicht beurteilt werden kann. Sie zeigt zum zweiten, welche Bedeutung den Rechtsfragen zukommt. Es geht hier z. B. nicht nur um die Frage, ob die HIV-Infektionen nach seuchenrechtlichen Gesichtspunkten beurteilt werden sollen oder dürfen, sondern es geht um sehr viel wichtigere Fragen, nämlich inwieweit unser Recht zur Behandlung Betroffener und zum Schutz Nichtinfizierter geeignete Instrumente zur Verfügung stellt oder auch nicht. Es hat sich herausgestellt, daß unser Rechtssystem durchgängig mit all seinen Ausfächerungen, vom Zivil- über das Strafrecht bis zum öffentlichen Recht und zum Verfassungsrecht, involviert ist. Mit anderen Worten, man kann sagen: Aids und Recht, das ist ein zentrales Thema, ob man es will oder nicht. Es beschäftigt unser gesamtes Rechtssystem vom Ordnungswidrigkeitenrecht bis zum materiellen Verfassungsrecht. Es hat sich auch gezeigt - darin bestand Übereinstimmung - , daß die hysterischen Rufe nach dem Gesetzgeber, die anfangs zu hören waren, unter anderem auch im Sinne von zusätzlichen strafrechtlichen Sanktionen bei sexuellen Kontakten mit Nichtinfizierten, abgeklungen sind. Auch das mag auf die Tätigkeit der Enquete-Kommission zurückzuführen sein. Sie zeigt uns aber eine allgemeine Lehre, nämlich daß man immer vorsichtig sein muß, wenn von uns gesetzgeberische Schnellschüsse erwartet werden. Es muß sorgfältig abgewogen werden. Ich möchte mich auf drei Punkte konzentrieren, die im Mittelpunkt der Überlegungen gestanden haben, zum einen auf die Frage: Inwieweit ist unser Recht überhaupt geeignet, auf das Verhalten von Menschen einzuwirken? Das ist ja eine der Kernfragen der Rechtspolitik überhaupt. Es war zum anderen auch eine der umstrittenen Passagen dieses Berichts. Einig war man sich - ich zitiere - , daß als Ziel anzustreben sei, ein Optimum an ansteckungs- und krankheitsverhütendem Verhalten zu entwickeln; dies gelte gleichermaßen für die einzelne Person wie für die Gesellschaft insgesamt. Die Kommission war meines Erachtens mit Recht in der Prognose zurückhaltend, ob und in welcher Weise Rechtsnormen wirken können, die eine gesundheitsschützende Funktion haben. Es war eher ein tastender Ansatz, aber meines Erachtens auch richtig, daß wir die Erfahrungen aus anderen Bereichen wie Seuchenbekämpfung, Geschlechtskrankheitengesetz und Homosexualität herangezogen haben. Alle Bereiche zeigen, wie problematisch und zweifelhaft strafrechtliche Mittel und vor allen Dingen Sanktionen sind. Unabhängig davon ist anerkannt worden, daß das Recht durchaus eine maßstabbildende Funktion hat und wir auf sie nicht verzichten können. Der Gesetzgeber ist aufgerufen, präzise deutlich zu machen, welches Verhalten er jeweils mißbilligt und was er von den Betroffenen und gegenüber Betroffenen erwartet. Zum zweiten: Dieser Ansatz ist im Strafrecht sehr deutlich gewesen und hat auch längere Zeit im Mittelpunkt der Diskussionen gestanden, konkret z. B. unter der Fragestellung, ob der ungeschützte GeDr. Pick schlechtsverkehr HIV-Infizierter strafbar ist oder nicht und nach welchen Regeln er zu beurteilen ist. Wir erinnern uns der entsprechenden Rechtsprechung, die zu dem Ergebnis gekommen ist, daß bei einem solchen Verhalten eines Infizierten, wenn er seine Krankheit kennt, gefährliche Körperverletzung bzw. auch der Versuch dazu in Betracht kommt. Im Ergebnis war die Auffassung der Kommission richtig, daß das geltende Strafrecht ausreichend ist und daß in dieser Richtung kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht. Es ist auch immer darauf hingewiesen worden, daß die Strafbarkeit eines solchen Verhaltens eines HIV-Infizierten nicht zum Verzicht auf die eigene Vorsicht, auf die eigene Sorgfalt des nicht Infizierten führen darf. Ich darf zum dritten noch die Frage der Einführung eines Zeugnisverweigerungsrechts für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Aids- bzw. Drogen- und Suchtberatungsstellen ansprechen. In diesem Punkt hat die Kommission mehrheitlich eine entsprechende Aufnahme in die Strafprozeßordnung zu dem Katalog, den wir bereits haben, empfohlen. Ich erspare mir, die entsprechende Formulierung vorzutragen, die sich mit dem deckt, was die SPD und was auch die Fraktion der GRÜNEN in der letzten Legislaturperiode an Vorschlägen gemacht haben. Man muß darauf hinweisen, daß ein solches Zeugnisverweigerungsrecht deswegen notwendig ist, weil das Vertrauensverhältnis zwischen den Beraterinnen und Beratern und den Infizierten bzw. möglicherweise Infizierten ein hohes Gut ist. Wir müssen das natürlich mit dem Anspruch des Staates auf die Wahrheitsfindung in jedem Verfahren, insbesondere auch in Strafverfahren, in Beziehung setzen und abwägen. Aber ich denke, in diesem Bereich muß der Schutz des Vertrauensverhältnisses aus den Gründen der Prävention Vorrang haben. Ich vermag z. B. nicht einzusehen, daß etwa das Verhältnis eines Klienten zu einem Buchprüfer - so wertvoll diese Menschen in unserer Gesellschaft auch sind - ein höheres Rechtsgut sein soll als das Vertrauensverhältnis zwischen dem, der von Aids betroffen oder möglicherweise betroffen ist, und den Beratungspersonen. ({0}) Für uns jedenfalls steht fest, daß wir diese Initiative wieder einbringen werden. Wir freuen uns, daß auch bei Teilen der FDP ({1}) - bei der ganzen FDP, danke schön - die Vorbehalte mittlerweile abgebaut wurden und damit offensichtlich die Mehrheit in diesem Hause gesichert ist, um eine Regelung einzuführen. Sie erscheint uns jedenfalls sinnvoller als neue strafbewehrte Verhaltensregeln. Zusammenfassend möchte ich sagen, daß ich die Funktion und die Wirkung dieser Kommission positiv beurteile, weil sie uns weiterhin, meine ich, zum Umgang mit diesem Thema auffordert. Mein Wunsch wäre, daß diese Ergebnisse, die gefunden worden sind, jetzt nicht in den Ausschüssen versanden und dann in einigen Jahren irgendwo als Akten, für interessierte Medizinhistoriker etwa, wieder auftauchen, sondern daß man in der Tat mit diesem Pfund wuchert, das wir hier erarbeitet haben. In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile das Wort dem Abgeordneten Geis, CDU/ CSU-Fraktion.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Endbericht gibt eine umfassende Darstellung nahezu aller Fragen, die auch nur entfernt mit der Seuche Aids in Zusammenhang stehen. In den meisten Punkten war sich die Kommission einig. Das geht auch aus den Empfehlungen hervor, welche die Kommission an den Deutschen Bundestag richtet. Es kann aber nicht verschwiegen werden, daß wir in einzelnen wichtigen Fragen unterschiedlicher Meinung gewesen sind und daß sich die Kommission in der Diskussion in einzelnen Fällen auch dort sehr schwer tat, wo eine einheitliche Meinung gefunden worden ist. Dies ging aus dieser Debatte, die ja sehr einträchtig geführt worden ist und hoffentlich auch weiter so geführt werden wird, hervor. Das Entwicklungshilfeministerium wurde deswegen kritisiert, weil ein Aidstest für Studienbewerber, die aus den tropischen Ländern kommen, bei uns vorgesehen ist. Wenn wir die Studienbewerber aus den tropischen Ländern auf alle möglichen Krankheiten untersuchen, dann ist es wohl auch richtig, sie einem solchen Test zu unterziehen. Wenn wir einen Bewerber auf Grund irgendeiner Krankheit nicht bei uns studieren ließen, aber einen, der infiziert ist, zuließen, wäre dies wohl auch eine Diskriminierung dessen, der auf Grund irgendeiner Krankheit nicht bei uns studieren kann. Das sollte man bedenken. Zum anderen ist bei uns das Verhalten der katholischen Kirche kritisiert worden. Lassen Sie mich darauf ganz kurz eingehen, weil dies auch einmal Anlaß einer heftigen Auseinandersetzung in der Kommission gewesen ist. Die katholische Kirche richtet ihren Appell an ihre Mitglieder, nicht an die Nichtmitglieder, die darauf auch gar nicht hören. Sie appelliert an ihre Mitglieder, sich durch partnerschaftliche Treue zu schützen. Es kann überhaupt kein Zweifel sein, daß die partnerschaftliche Treue der beste Weg ist, sich vor dieser Krankheit zu schützen. Deswegen verstehe ich diese Kritik nicht. Sie ist für mich irrational. Lassen Sie mich noch auf ein paar andere Punkte eingehen, die im Zusammenhang dieses Berichtes erwähnt werden müssen und die auch innerhalb der Diskussion in der Kommission zu unterschiedlichen Meinungen geführt haben: Ich meine, das das Grundanliegen richtig gewesen ist, dafür Sorge zu tragen, die Ängste, Ausgrenzungen und Diskriminierungen der Hauptbetroffenen ins Licht zu bringen und zurückzudämmen. Mit Recht haben wir auch größten Wert darauf gelegt, die Betroffenheit, die Angst und die mögliche Betroffenheit von bereits an Aids erkrankten Mitmenschen in den Blick zu bringen. Dabei geriet aber, wie ich meine, ein weiterer wichtiger Auftrag der Kommission ins Hintertreffen und fand nur noch in Minderheiten- und Sondervoten Berücksichtigung. Bei der Frage nach wirksamen Wegen zur Eindämmung der Gefahren von Aids, wäre es nach meiner Auffassung auch Aufgabe der Kommission gewesen, darüber nachzudenken und entsprechende Vorschläge zu unterbreiten, wie die Verantwortung der Infizierten gegenüber den Nichtinfizierten herausgestellt werden kann und wie die Nichtinfizierten vor einem verantwortungslosen Verhalten der Infizierten zu schützen sind. Diese für die Aufgabenbeschreibung der Kommission zentrale Frage wurde nach meiner Auffassung zuwenig, fast gar nicht behandelt. Dies hat natürlich seinen Grund: Anfangs wurde die Bedeutung des Schutzes der Nichtinfizierten vor der Ansteckungsgefahr im zuständigen Ministerium nicht voll erkannt, wie ich meine. Dies geht auch aus dem Vorwort von Frau Bundestagspräsidentin Süssmuth zum Endbericht hervor, die damals die verantwortliche Ministerin gewesen ist. Dort wird mit Recht an die Mitmenschen appelliert, die Betroffenen nicht auszugrenzen, die Infizierten nicht zu diskriminieren und die an dieser furchtbaren Krankheit Erkrankten in die Gesellschaft aufzunehmen und ihnen in Liebe zu begegnen. Aber es ist kein Wort darüber zu finden, wie wir mit denen, die infiziert sind, sich aber verantwortungslos verhalten - das kommt im täglichen Leben zweifellos vor -, umgehen sollen. Der Appell auch an die Verantwortung der Infizierten ist in der Diskussion und auch im Endbericht zu kurz gekommen. Ich meine, daß dies an dem Punkt besonders deutlich wird, den Kollege Pick angesprochen hat, nämlich bei der Diskussion über die steuernde Wirkung des Rechts auf Verhalten und Gesellschaft. Dieser Punkt enthält die zentrale Auseinandersetzung zur Frage, ob eine Verhaltensänderung bezüglich der HIV-Prävention nur mit Hilfe der Aufklärung erreicht werden kann, oder ob einem Fehlverhalten auch durch Androhung und Anwendung von strafrechtlichen Sanktionen zu begegnen ist. Die Kommissionsmehrheit bleibt bei ihrer Überzeugung: Allein durch Aufklärung und durch psychosoziale Unterstützung der Betroffenen ließe sich eine Verhaltensänderung erreichen, die zu einer Minderung des Infektionsrisikos führte. Die Androhung von Sanktionen, die sich der Natur der Sache nach in dieser Frage in erster Linie an die Infizierten richtet, ist nach Ansicht der Kommission - wörtlich - „kontraproduktiv". Ich halte diese Auffassung für falsch. Wer so denkt, geht, wie ich meine, auch von einem falschen Verständnis der Aufgabe des Strafrechtes in einer modernen Gesellschaft aus. Eine solche Vorstellung denkt noch zu sehr an die Zeit zurück, als Strafe vor allem zur Sühne für eine bestimmte Tat gefordert wurde. Ohne diesen Sühnegedanken zu vernachlässigen, ist zu sagen: Die Strafe hat heute vor allen Dingen präventiven Charakter. Das zeigt jetzt die Tatsache, daß wir uns damit beschäftigen, wie wir den Strafrahmen im Kriegswaffenkontrollgesetz und in dem Außenwirtschaftsgesetz erhöhen. Wir wollen doch damit eine präventive Maßnahme treffen. Im übrigen befindet sich die Kommission, wie ich meine, in dieser Ablehnung des Strafrechtes als einer Möglichkeit, Verhalten zu steuern, in einem tiefgreifenden Widerspruch zu ihren eigenen Vorstellungen. Wenn es nämlich richtig ist, daß mit Normen aus dem Sexualstrafrecht Verhalten nicht verändert werden kann - wie das in der Kommission immer wieder behauptet wird und wie dies auch im Bericht nachzulesen ist - , dann muß dies letztlich auch für die Aufklärung gelten. Schließlich hat die Aufklärung das Ziel, den einzelnen dazu anzuhalten, seinen Partner nicht mit der tödlichen Krankheit zu infizieren. Es ist nun überhaupt nicht nachvollziehbar, weshalb der einzelne diesen Appell nicht beachten wird, wenn dieser Appell in Form eines Straftatbestandes ausgesprochen wird, also in der stärksten Form, zu der der Staat jeweils mächtig ist. Es ist nicht einzusehen, daß sich der, der dem Appell dieses Straftatbestandes nicht folgt, ausweicht, ausgerechnet dann, wenn es um einfache Aufklärung geht, die im Grunde genommen zu nichts verpflichtet, dann gesellschaftskonform verhält. Dies ist ein Widerspruch; für mich nicht nachvollziehbar, so aber die Mehrheitsmeinung. Auch der Unterabschnitt 2 des 6. Kapitels - „Seuchenrecht und verfassungsrechtliche Vorgaben" - wird, wie ich meine, von der Absicht der Kommissionsmehrheit bestimmt, die Infizierten von der Verantwortung für die Weitergabe der Seuche freizustellen. Nachdem zunächst einmal lange umstritten war, Frau Schmidt, ob das Bundes-Seuchengesetz auf die HIV-Infektion anwendbar ist, und nachdem Bayern deswegen im Bundestag und auch in der Öffentlichkeit hart angegriffen worden ist, ist es inzwischen unstreitig, daß ebendieses Bundes-Seuchengesetz auch auf diese Infektionskrankheit Anwendung findet. Darüber bestand auch zum Schluß in der Kommission keinerlei Streit mehr. Aber in dem Augenblick, wo es konkret wird, gingen die Meinungen bereits wieder auseinander. Ich meine § 31 des Bundes-Seuchengesetzes, der vorsieht, daß Ermittlungen eingeleitet werden müssen. Hier schlägt die Mehrheit vor, es in das Ermessen der Länder zu stellen, ob solche Ermittlungen eingeleitet werden können bzw. sollen, was im Grunde genommen nichts anderes ist als die Aufforderung zum Verfassungsbruch; denn die Länder sind ja verpflichtet, Bundesgesetze auszuüben, und haben insoweit natürlich keinen Ermessensspielraum. Lassen Sie mich zum Schluß noch ein Wort zur Frage des Testes sagen, weil er angesprochen worden ist. Ich nehme auf die Zwischenfrage Bezug, die ich vorhin gestellt habe. Ich verstehe nicht, daß die Mehrheit der Kommission die Empfehlung des Tests abgelehnt hat. Nach meiner Auffassung hat der Test natürlich präventiven Charakter; denn wer weiß, daß er infiziert ist, ist, wenn er verantwortungsbewußt handelt, selbstverständlich von vornherein viel eher in der Lage, sich auch gegenüber seiner Partnerin und seinem Partner verantwortungsbewußt zu verhalten. Das ist eigentlich eine Binsenwahrheit. Darüber brauchen wir nicht zu streiten. Hinzu kommt aber ein zweiter Aspekt. Wer infiziert ist und dies durch Test weiß, ist viel eher in der Lage, sich zu schützen und den Ausbruch der Krankheit hinGeis auszuzögern oder vielleicht sogar zu verhindern. Man muß wissen, daß der Kommission seit Anfang 1990 natürlich das aus Amerika kommende Mittel AZT bekannt ist, das für Aidskranke eine Hilfe ist. Dieses Mittel kann, früh eingesetzt, selbstverständlich das Leben verlängern. Deshalb kann ich die Mehrheitsmeinung nicht teilen. Ich finde, wir sollten zu einer Empfehlung des Tests kommen. Zum Schluß noch ein Wort. Alles in allem hat die Kommission fruchtbare Arbeit geleistet. Sie hat in weiten Teilen gemeinsame Empfehlungen ausgesprochen. Wir konnten die Entwicklung der Krankheit nicht verhindern. Das wäre von der Kommission zuviel verlangt gewesen. Ich meine aber, wir haben gemeinsam viele Wege aufgezeigt, wie die Ausbreitung der Krankheit vielleicht doch einzudämmen ist. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Nun hat Frau Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Bergmann-Pohl das Wort.

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000155

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin dankbar, zu dem unverändert wichtigen Thema Aids und zugleich zu dem inhaltsreichen Endbericht der Enquete-Kommission Aids des Deutschen Bundestages Stellung nehmen zu können. Allen Mitgliedern der Kommission möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich für die intensive, engagierte Arbeit danken, die Sie in den vier Jahren des Bestehens der Kommission geleistet haben. Mein besonderer Dank gilt Ihnen, Herr Dr. Voigt, der Sie durch Ihre sachliche Leitung immer wieder zwischen den mitunter divergierenden Meinungen über den besten Weg der Aidsbekämpfung vermittelt haben. Mit ihrem Zwischenbericht und Endbericht hat die Enquete-Kommission Aids ein Kompendium der Aidsbekämpfung vorgelegt, das inzwischen zu den Standardwerken für alle in diesem Bereich Tätigen gehört. Medizinische, epidemiologische und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse finden sich darin ebenso wie ethische, juristische, gesundheits- und gesellschaftspolitische Überlegungen zur praktischen Umsetzung des von der Enquete-Kommission Aids aufgearbeiteten Kenntnisstandes. Besonders freut mich, daß viele, ja die meisten der von der Enquete-Kommission gezogenen Folgerungen mit der Aidspolitik der Bundesregierung übereinstimmen. Viele Überlegungen und Vorschläge, die sich im Zwischenbericht und im Endbericht der Enquete-Kommission finden, entsprechen Maßnahmen, die im Rahmen des 1987 beschlossenen Sofortprogramms der Bundesregierung zur Bekämpfung von Aids eingeleitet worden sind. Den früheren Bundesgesundheitsministern, Herrn Geißler, Frau Süssmuth und Frau Lehr, möchte ich für die geleistete Arbeit in der Aidsbekämpfung Dank sagen. Sie haben durch Innovation und Kontinuität das Ihre dazu beigetragen, daß das Aids-Bekämpfungsprogramm der Bundesrepublik Deutschland heute im internationalen Vergleich ausgesprochen gut dasteht. Auch möchte ich an dieser Stelle dem Hohen Haus für seine Bereitschaft danken, sich früh und intensiv mit dem Thema Aids zu beschäftigen und die Mittel für die Realisierung des Aids-Sofortprogramms bereitzustellen. Hinsichtlich der derzeitigen epidemiologischen Situation möchte ich zunächst feststellen, daß die Zahl der HIV-Neuinfektionen offensichtlich nicht in dem von manchen befürchteten Ausmaß steigt: Auf Grund der Laborberichtsverordnung waren dem Aidszentrum beim Bundesgesundheitsamt am 31. Januar 1991 insgesamt 43 244 HIV-Infektionen gemeldet; Aidsfälle seit 1982 insgesamt 5 821, davon verstorben 2 740. Weiterhin bilden - das haben wir heute mehrfach gehört - homosexuelle Männer, intravenös Drogenabhängige und Hämophile die Hauptbetroffenengruppen. Zunehmend - wenn auch in geringerem Umfang - sind allerdings auch heterosexuelle Männer und Frauen gefährdet. Es wird auch in Zukunft unser aller Ziel bleiben, die Zahl der HIV-Neuinfektionen so gering wie nur irgend möglich zu halten. Bei dieser Präventionsarbeit stellen Aufklärung und Beratung sowie konkrete Hilfen für Gefährdete und Betroffene zweifellos das Mittel der Wahl dar. Präventionsarbeit muß vor allem zielgruppenspezifisch sein; auch das ist heute schon mehrfach betont worden. Schon im Zwischenbericht der Enquete-Kommission heißt es - ich zitiere Aids-Aufklärung muß auf die Situation jedes einzelnen Menschen zugeschnitten sein, sie muß ihn dort abholen, wo er ist. Prävention ist nur da effizient, wo sie individuelle Eigenarten der speziell anzusprechenden Gruppe mit einbezieht und deren Grundhaltung nicht a priori als negativ beurteilt. Zielgruppenspezifische Präventionsarbeit ist im besonderen Maße und in besonderer Form in den Gruppen notwendig, die von Aids nach wie vor am meisten betroffen sind: die Gruppe der homosexuellen Männer und die Gruppe der intravenös Drogenabhängigen. In Übereinstimmung mit der Empfehlung der AidsEnquete-Kommission fördert das Bundesministerium für Gesundheit die Deutsche Aids-Hilfe jährlich mit mehreren Millionen D-Mark. Ihnen, Frau Kollegin Jelpke, muß ich sagen - sie ist nicht mehr da; es interessiert sie wahrscheinlich auch nicht - , daß Sie doch nicht ganz informiert sind. Ihre Rede hat das auch zum Ausdruck gebracht. ({0}) Trotz der angespannten Haushaltslage ist beabsichtigt, diese Förderung auch 1991/92 im wesentlichen fortzuführen. Insgesamt möchte ich festhalten, daß sich der von der Bundesregierung eingeschlagene Weg intensiver Aufklärungsarbeit, die über Infek598 tionsrisiken wie Schutzmöglichkeiten informiert und zu eigenverantwortlichem Handeln ebenso wie zu solidarischem Umgang mit Betroffenen auffordert, als richtig erwiesen hat. Umfragen zeigen, daß der allgemeine Wissensstand über Infektionsrisiken und Schutzmöglichkeiten sehr hoch ist. Auch spricht sich die überwältigende Mehrheit der Befragten dafür aus, Menschen mit HIV oder Aids nicht auszugrenzen, sondern ihnen beizustehen und ihnen zu helfen. Hatte der Zwischenbericht der Enquete-Kommission noch bemängelt, daß die staatlichen Präventionskampagnen „oft eine klare, offene und verständliche Sprache vermissen" lassen, so sind, denke ich, diese Defizite in der Zwischenzeit im wesentlichen aufgeholt und unsere Maßnahmen insgesamt effektiver, professioneller geworden. Ich habe den Eindruck, daß wesentliche Einsichten und Erfahrungen im Bereich der Aids-Prävention dazu geeignet sind, in einem allgemeineren Konzept der Gesundheitsförderung berücksichtigt zu werden. Neben der Aufklärung ist nach wie vor die Forschung ein wichtiger Bereich der Aidsbekämpfung. Hier geht es zum einen um die Suche nach einem Heilmittel und Impfstoff, zum anderen um die Erforschung negativer und positiver Faktoren des Krankheitsverlaufs, aber auch der Infektionsverbreitung. Die hier von der Enquete-Kommission gegebenen Empfehlungen gehen vielfach in den Bereich Grundlagenforschung und richten sich deshalb an den Bundesminister für Forschung und Technologie. Es wird zu klären sein, welche von der Enquete-Kommission angeregten Studien gefördert werden können. Das Bundesministerium für Gesundheit wird dafür Sorge tragen, daß die Ergebnisse unserer verschiedenen Forschungsprojekte in geeignetem Rahmen der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Es ist dann Sache von Bund und Ländern, die aus den Forschungsprojekten gewonnenen Erkenntnisse in praktische Gesundheitspolitik umzusetzen. Hinsichtlich der im Rahmen des Sofortprogramms zur Bekämpfung von Aids eingeleiteten Modellprogramme empfiehlt die Enquete-Kommission dem Deutschen Bundestag, die Bundesregierung zu ersuchen, für die Weiterförderung der Modellprogramme und Projekte auch nach 1991 die Mittel im notwendigen Umfang zur Verfügung zu stellen, um sich entwickelnde Stukturen nicht zu gefährden und um Auswertungen zu ermöglichen, soweit diese bis Ende 1991 nicht vorliegen, damit die Länder in die Lage versetzt werden, über die Übernahme bzw. Weiterführung der Modellprogramme und Projekte zu entscheiden. Zu dieser Empfehlung möchte ich betonen, daß der Bund angesichts der Zuständigkeit der Länder in den Bereichen Gesundheitsvorsorge und -versorgung schon aus verfassungsrechtlichen Gründen weder flächendeckend noch langfristig tätig werden kann. Er kann durch Modellförderung Impulse setzen und zeitlich begrenzte Beiträge dazu leisten, daß Beratungs- und Betreuungskonzepte entwickelt und erprobt werden. Diese Beiträge sind im Rahmen des Aids-Sofortprogramms geleistet worden. Da die Modellprogramme zum größten Teil schon vor dem 31. Dezember 1991 auslaufen, ist das Bundesgesundheitsministerium im Rahmen seiner finanziellen Möglichkeiten bereit, Modellmaßnahmen im Bereich „Sozialstationen" , „Streetwork" sowie „Aids und Drogen" bis zum Ende des Jahres zu finanzieren, sofern die jeweils zuständigen Länder ihre Bereitschaft zur Fortsetzung der entsprechenden Maßnahmen ab dem 1. Januar 1992 erklären. Im Bereich der Versorgung, die bisher vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung gefördert wurde, wurden durch die Finanzierung von zusätzlichen Personalstellen und medizinischen Geräten 22 Behandlungsschwerpunkte unterstützt. Dem vorbildlichen Einsatz insbesondere der hier tätigen Pflegekräfte ist es zu danken, daß die personalintensive Versorgung der Patienten trotz zunehmender Personalprobleme vor allem in den Ballungszentren sichergestellt werden konnte. Die gesetzlichen Krankenkassen haben sich inzwischen bereit erklärt, die zusätzlichen Stellen in die Regelfinanzierung zu übernehmen. Die Ziele dieses Modellprogramms sind damit in vollem Umfang erreicht worden. In einer zweiten Stufe sollen insbesondere die Fortbildungs- und Qualifizierungsprogramme verstärkt werden, um für die zunehmende Zahl Aidskranker weitere Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte in die Versorgung einbeziehen zu können. Diese Maßnahmen decken sich mit den Empfehlungen der Enquete-Kommission für diesen Bereich. Abschließend möchte ich festhalten, daß die bundesdeutsche Aidspolitik durch die vielfältigen Anregungen der Enquete-Kommission wesentlich bereichert worden ist. Als zentrales Anliegen nehme ich aus ihrer Arbeit mit, daß wir den Kampf gegen Aids und für die Betroffenen nach Kräften fortsetzen müssen. ({1})

Dr. Christa Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002001

Meine Herren und Damen, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage Drucksache 11/7200 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Zusätzlich soll die Vorlage - wie gerade von allen Fraktionen vorgeschlagen - an den Ausschuß für Frauen und Jugend sowie an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Franz Müntefering, Achim Großmann, Norbert Formanski, Iris Gleicke, Gabriele Iwersen, Dr. Ulrich Janzen, Dr. Christine Lucyga, Dieter Maaß ({0}), Walter Rempe, Otto Reschke, Dieter Schloten, Erika Simm, Dr. Hans-Jochen Vogel und der Fraktion der SPD Vizepräsidentin Schmidt Nutzung mietenpolitischer Verordnungsermächtigungen für die neuen Länder durch die Bundesregierung - Drucksache 12/156 - b) Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/ Linke Liste Mietstopp in den neuen Bundesländern - Drucksache 12/158 Im Ältestenrat ist dafür eine Aussprachezeit von einer Stunde vereinbart worden. Gibt es dagegen Widerspruch? - Ich sehe keinen. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Großmann.

Achim Großmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000735, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die SPD stellt den Antrag, den Deutschen Bundestag über die Wohnungs- und Mietenpolitik für die neuen Bundesländer beraten und entscheiden zu lassen. Die Bundesregierung soll ihre Verordnungsermächtigungen nicht nutzen. Es kann kein vernünftiger Zustand sein, wenn die wohnungs- und mietenpolitischen Entscheidungen für die alten Bundesländer vom Gesetzgeber getroffen werden und die angesichts der Problemlage fast wichtigeren Entscheidungen für die neuen Bundesländer von der Regierung gefällt werden. Die Verbesserung der Wohnungssituation in der ehemaligen DDR und die Entwicklung der Mieten gehören zu den Fragen, die die Menschen dort am meisten bewegen. Nur, das frei gewählte gesamtdeutsche Parlament, also dieser Bundestag ist nach den Bestimmungen des Einigungsvertrages mit diesen Entscheidungen gar nicht zu befassen. Er hat damit nichts zu tun; er kann nur diskutieren, ohne parlamentarische Rechte. Das ist ein schlechter Start für die Wohnungs- und Mietenpolitik. Ein selbstbewußtes Parlament kann dies nicht hinnehmen. ({0}) Wir haben dem Einigungsvertrag zugestimmt, weil er die politische Einheit Deutschlands besiegelt und grundsätzlich richtige Weichen gestellt hat. Uns war damals schon klar - wir haben das hier auch verbalisiert - , daß der zweite Schritt, die Herstellung einheitlicher Lebensbedingungen im Westen wie im Osten unseres Landes, der viel schwierigere Schritt werden würde. Wir haben die Fehler des Einigungsvertrages früh benannt. Er enthält stark korrekturbedürftige Teile, wie das derzeitige wirtschaftliche Fiasko in der ehemaligen DDR und der ungeheure Korrekturbedarf in der Finanzausstattung der neuen Länder und der Kommunen immer mehr zeigen. Teilweise regelt der Einigungsvertrag Kleinigkeiten im Detail. Ein Beispiel: In der Anlage I, Kap. XIV, Abschnitt II legt er fest, daß „vor dem Wirksamwerden des Beitritts rechtmäßig errichtete Gartenlauben", die die nach dem Kleingartenrecht der alten Länder zulässige Größe überschreiten, „unverändert genutzt werden" können und daß Kleintierhaltung zulässig ist, „soweit sie die Kleingärtnergemeinschaft nicht wesentlich stört". Zur Erhöhung der Wohnungsmieten, zu den Rahmenbedingungen der Wohnungsbauförderung und zu anderen wohnungspolitisch bedeutsamen Eckdaten sagt der Vertrag nichts. Er behält sich auch Nicht eine spätere Regelung durch den Gesetzgeber vor, sondern er überläßt sie der Entscheidung der Bundesregierung. Dies ist eine Selbstaufgabe wichtiger Rechte des Parlamentes, die nach der Konstituierung des Bundestages keine Rechtfertigung und Begründung mehr hat. ({1}) - Wie soll man einen Gesetzentwurf einbringen, wenn wir als Parlament gar nicht gefragt sind? ({2}) Es gibt keinen Zeitdruck mehr, der es notwendig machen würde, diese Entscheidungen der Regierung zu überlassen. Wir haben in diesem Haus im letzten Jahr darüber diskutiert, ob in repräsentative statistische Erhebungen Fragen nach den Mietenbelastungen der Haushalte aufgenommen werden sollen oder nicht. Ich fürchte, wir machen uns lächerlich, wenn wir über diese Frage streiten und die Mietenpolitik - den eigentlichen Gegenstand der Statistik - der Exekutive überlassen und uns da heraushalten. ({3}) Es gibt weitere Gründe. Die Bundesregierung hat ihre Ermächtigungen bisher nicht genutzt. Sie hat im Wahlkampf versucht, das Thema Mieten, das ja erheblichen sozialen Sprengstoff birgt, zu verstecken, und hat Erklärungen abgegeben, die sich nach dem Wahltag als Mogelpackung erwiesen haben. ({4}) Das hat Methode. Das haben die Bürgerinnen und Bürger in den letzten Tagen schmerzhaft erleben müssen. Vor den Wahlen hat die Regierung Steuererhöhungen völlig ausgeschlossen; vorgestern hat sie das dickste Steuererhöhungspaket verkündet, das wir je erlebt haben. ({5}) Ähnliches hat sie mit den Mieten vor. Bis zum heutigen Tag fehlen schlüssige Konzepte zur Wohnungs- und Mietenpolitik für die neuen Länder. Obwohl nun inzwischen wirklich jeder weiß, daß die Verwaltungen der Städte in den fünf neuen Ländern die Arbeit nicht schaffen können, sorgt die Bundesregierung für noch mehr Verwirrung. Am 1. Januar 1991 ist das Wohngeld eingeführt worden. Zunächst hieß es, am 1. April sollten die Mieten erhöht werden; jetzt heißt es, vielleicht am 1. August, vielleicht am 1. September. Eine weitere Steigerung ist für den 1. Oktober vorgesehen. Das bedeutet: dreimal Hunderttausende von Anträgen. Ein völlig unmögliches Unterfangen. ({6}) Es kommt noch schöner. Gestern hat die Ministerin diesen Terminplan vor Pressevertretern bestätigt. Im Bauausschuß des Deutschen Bundestages, also vor uns, hat ihr Staatssekretär zur gleichen Zeit erklärt, man wolle die Mietenerhöhungstermine jetzt doch zusammenlegen. Die rechte Hand weiß nicht, was die linke tut. ({7}) Fragen, wie die Bundesregierung zu den Vorschlägen der Länderbauminister stehe, die Mietpreisobergrenzen und je nach Wohnqualität differenzierte Mieterhöhungen wollen, hat der Staatssekretär im Ausschuß erst gar nicht beantwortet. So können Investitionen natürlich nicht in Gang kommen, weil finanzielle Anstöße fehlen, weil - wie wir wissen - Eigentumsfragen immer noch ungeklärt sind und weil die Entwicklung der Mieten und der Wohnkostenbelastung nach wie vor im dunkeln liegen. Die bisher bekanntgewordenen Absichten und Pläne der Bundesbauministerin sind allesamt wieder zurückgezogen und einkassiert worden. ({8}) Sie waren allesamt sozial unausgewogen und nicht in ein überzeugendes wohnungspolitisches Konzept eingebettet. ({9}) Ich muß es wiederholen: Der Investitionsbedarf in eine durch 40jährige SED-Herrschaft vernachlässigte und völlig verkommene Bausubstanz beträgt Hunderte von Milliarden DM. Die Arbeit liegt also förmlich auf der Straße. Nur, die Investitionen kommen nicht in Gang, Bauarbeiter werden arbeitslos, die Bausubstanz verfällt weiter. ({10}) Auch die Tatsache, daß die Bundesregierung die Subventionen für die Wohnungswirtschaft über Nacht gestrichen hat, zeigt fatale Konsequenzen. Instandsetzungs- und Modernisierungsaufträge sind in zweistelliger Milliardenhöhe storniert worden. Dutzende von Wohnungsunternehmen stehen vor dem Konkurs. Die Städte und Gemeinden haben Schulden bis über die Ohren, so daß selbst kleinste Aufträge an die Bauwirtschaft nicht vergeben werden können. Überall herrscht bedrückende Unklarheit. Sicher scheint nur zu sein, daß nicht nur die Steuern und die Abgaben erhöht werden, daß nicht nur die Arbeitslosigkeit explosionsartig wächst, sondern auch die Mieten in den neuen Ländern drastisch steigen werden. ({11}) Wenn wir heute beantragen, die Entscheidungen über die Wohnungs- und Mietenpolitik endlich wieder vom Parlament treffen zu lassen, dann tun wir dies in der Überzeugung, daß das Parlament, also wir, zu besseren Lösungen beitragen können. Wir haben in der Vergangenheit gezeigt, daß wir als Gesetzgeber schnell handeln können, selbst nach gründlichen Diskussionen in den Fachausschüssen. Es wäre eine völlig unzulässige Selbstaufgabe des Parlamentes, über Mietenstatistiken zu diskutieren und die tatsächlichen politischen Entscheidungen der Exekutive zu überlassen. Ich traue dem Deutschen Bundestag, d. h. Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch mehr Kenntnis über die Situation in den neuen Ländern und mehr soziales Einfühlungsvermögen und Rücksichtnahme zu als den Beamten dieser Regierung. ({12}) Zentrale Fragen der Herstellung einheitlicher Lebensbedingungen in unserem Land gehören nach Auffassung der SPD in das Parlament. ({13}) Alles andere wären Brüsseler Verhältnisse. Die können wir ernsthaft nun wirklich nicht wollen. Deshalb bitte ich um Unterstützung unseres Antrages. Danke. ({14})

Dr. Christa Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002001

Das Wort hat der Kollege Dr. Kansy.

Dr. - Ing. Dietmar Kansy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001064, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die schrittweise Anpassung der Mieten in den neuen Bundesländern, angelehnt an die schrittweise Verbesserung der Einkommen und Renten, ist tatsächlich, Herr Kollege Großmann, ein hochsensibles Thema, das ein hohes Maß an Ernsthaftigkeit und Kooperationsbereitschaft aller Beteiligten verlangt. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat deswegen gestern in ihrer Arbeitsgruppensitzung durchaus Ihren Vorschlag diskutiert, ob es nicht zweckmäßig sei, diese Verordnungsermächtigung des Einigungsvertrages nicht zu nutzen und statt dessen gesetzliche Regelungen anzustreben. Aber wir sind dabei zu der Überzeugung gekommen, daß Ihr Antrag, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, die Mitwirkungsrechte der Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern über ihre Landesregierungen eher verschlechtert als verbessert. Heute legt die Bundesregierung den Bundesländern nach informeller Abstimmung mit dem Fachausschuß des Deutschen Bundestages ihre Konzeption vor und ist auf Zustimmung angewiesen, um diese Verordnung wirksam werden zu lassen. Eine gesetzliche Regelung, wie sie die SPD vorschlägt, würde, da Mietrecht Bundesrecht ist, den Einigungszwang zwischen Bundesregierung und Länderregierung vermindern, weil das Gesetz nicht voll zustimmungspflichtig ist. ({0}) Ihr Hauptargument, Herr Kollege Müntefering, geht an der Realität vorbei. Um hier eine Show abzuziehen, verzichten Sie auf eine wirkungsvolle Kontrolle der neuen Bundesländer und damit auf ein vernünftiges Mietrecht. ({1}) Wir werden deswegen in den nächsten Tagen noch einmal mit unseren Parteifreunden in den neuen Bundesländern Kontakt aufnehmen und dazu abschließend in der Ausschußberatung Stellung nehmen. Wichtig erscheint mir allerdings, schon heute auf die materiellen Probleme einer sozialverträglichen Mietrechtsanpassung einzugehen, um den Menschen in den neuen Bundesländern unnötige Ängste zu nehmen und auch um den Angstmachern das Handwerk zu legen. ({2}) Vor welcher Situation stehen wir? Die Wohnungsbaupolitik in der bisherigen DDR war entsprechend den Beschlüssen der 10. Tagung des ZK der SED vom 2. Oktober 1973 „in erster Linie durch den Klassencharakter unserer sozialistischen Gesellschaft bestimmt" . In der Praxis wurde das so umgesetzt, daß der Neubau unter weitestgehendem Ausschluß von privaten Investoren forciert und der vorhandene Gebäudebestand trotz anderslautender Vorschriften der Ex-DDR-Verfassung - Art. 37 - de facto dem Verfall preisgegeben wurden. ({3}) Bis heute gilt in Ostdeutschland - nur unwesentlich verändert - die Mietpreisstopp-Verordnung vom 26. November 1936 mit Mieten im Altbau zwischen 40 und 80 Pfennig je Quadratmeter, in Großstädten etwas mehr. Diese angeblich soziale Politik hatte folgende Ergebnisse: 23 % der rund 7 Millionen Wohnungen in Ostdeutschland verfügen nicht über ein Bad oder eine Duschgelegenheit, 30 % dieser Wohnungen über keine Innentoilette. Etwa die Hälfte aller Wohnungen wird noch mit Einzelöfen beheizt, was bei der schlechten Braunkohle wiederum eine riesige Umweltbelastung zur Folge hat. Fast ein Viertel der Altbausubstanz ist nicht mehr bewohnbar oder so stark baufällig, daß ihr Erhalt stark gefährdet ist. ({4}) Im Jahr der Vereinigung Deutschlands lagen rund 750 000 Anträge auf Wohnraumzuweisung bei den ostdeutschen Bundesländern vor. Frau Kollegin von der PDS, Ex-SED, 1990 ist übrigens das Jahr, ({5}) für das Sie vor zwei Jahrzehnten angekündigt hatten, die Wohnungsfrage als soziales Problem gelöst zu haben. ({6}) - Solange ich mich selbst verstehe, Herr Conradi, werde ich mir heute erlauben weiterzusprechen. Der zentrale Punkt in dieser katastrophalen Situation ist, wie schon gesagt, das geltende Mietrecht. Im Einigungsvertrag wurde deswegen festgelegt, daß eine Anpassung notwendig ist, aber im Gleichklang mit der Erhöhung der Einkommen und Renten passieren sollte. Die Vorschläge der Koalition entsprechen genau diesem Auftrag. Sie bestehen aus zwei gleichen Teilen, von denen die Angstmacher immer einen weglassen. Der erste Teil sind die angesprochenen Verordnungen. Das sind die Grundmieten-Verordnung, die Betriebskostenumlage-Verordnung und die Instandsetzungskosten-Verordnung, die es den Wohnungseigentümern schrittweise ermöglichen, von den heute ungefähr nur 15 % der Kosten deckenden Mieten langsam zu kostendeckenden Mieten überzugehen. Aber der zweite Punkt - ich sage es noch einmal: der gleichgewichtige zweite Punkt - dieser Koalitionsbeschlüsse - für uns mit geschätzten 3 Milliarden DM mehr Wohngeld allein für die ostdeutschen Länder sogar der kostenträchtigste Punkt - ist ein spezielles Wohngeld ({7}), das im übrigen kein Almosen ist, sondern ein bewährtes Instrument unserer Wohnungspolitik, ({8}) welches diesen Prozeß sozial flankiert, um eine Überforderung der Mieter zu verhindern. Unsere Vorgabe für das noch im Parlament - dort ist es richtig angesiedelt - zu beratende Wohngeldgesetz ist, daß die Bruttokaltmiete unter Einbeziehung des Wohngeldes im Schnitt etwa 10 % des Nettohaushaltseinkommens betragen soll. Über die Jahre bis zur Anpassung der Einkommen und Renten an den westlichen Standard wird sich dies dann - das ist auch gerechtfertigt - auf das Niveau der westlichen Bundesländer einpendeln, was im Schnitt gut über 20 % liegt. Ich möchte klar sagen - da gab es einige Kritik, auch aus den westlichen Bundesländern - : Die am Anfang nur halb so hohe Belastung des Haushaltsbudgets einer Familie in den neuen Bundesländern gegenüber dem westlichen Teil ist keine Bevorzugung, sondern gerechtfertigt, weil andere Haushaltsposten wie Lebensmittel, Kleidung, Energie, Post usw. bereits in die Nähe des Westniveaus kommen oder es schon haben, ohne daß die Einkommen bereits Westniveau hätten. Das ist das, was der Geist und der Buchstabe des Einigungsvertrages von uns verlangen. Meine Damen und Herren, der Weg über das Wohngeld als wesentliches Element dieses Gesamtprozesses ist nach unserer Auffassung gleichermaßen sozial wie gerecht. Wir haben bereits heute in den neuen Bundesländern eine erhebliche Spreizung der Tarifeinkommen von 35 % bis 65 % der Westeinkommen, im Einzelfall sogar mehr. Jeder wird es deswegen als gerechtfertigt und damit auch als gerecht empfinden, wenn z. B. einer Rentnerin aus Leipzig, die zu alten Zeiten 330 Mark Mindestrente erhielt und jetzt mit sozialer Aufstockung rund 550 DM Mindestrente bekommt - ({9}) - Ja, vorher waren es 330 Mark. Davon sollten Sie zuerst reden und dann von den heutigen 550 DM. ({10}) - Entschuldigen Sie, Herr Kollege. Wir tun zwar viel, aber vierzig Jahre Sozialismus in vier Monaten auszugleichen, übersteigt doch unsere Möglichkeiten. ({11}) Jeder wird es als gerechtfertigt und damit auch als gerecht empfinden, wenn diese Rentnerin einen erheblichen Teil ihrer Wohnkosten erstattet bekommt. Aber Gerechtigkeit bedeutet eben auch - es gibt ja auch noch über 60 Millionen Bürger in den westlichen Bundesländern - , daß z. B. ein Potsdamer Maurer, der im früheren West-Berlin arbeitet und wie sein Kollege aus Berlin-Schöneberg 3 000 DM verdient, den gleichen prozentualen Anteil für seine Miete ausgibt wie sein westlicher Kollege. ({12}) Auch das gehört zum Thema Gerechtigkeit. ({13}) Deswegen kann nach unserer Meinung die staatliche Stützung des Wohnens gerechter und treffsicherer über das Wohngeld gestaltet werden als über eine Pauschalsubvention des Wohnraums, die im übrigen auch in der Ex-DDR - aber nicht nur dort - teilweise zu mißbräuchlichen Inanspruchnahmen führte : Unterbelegung; Wohnungen, die freistanden, weil der Mieter bei seiner Freundin wohnte, usw. Ich bedaure deswegen meine Kollegin vom Bündnis 90/GRÜNE - sie ist die einzige, die jetzt da ist - , daß sie diese Politik als angebliche Erniedrigung der Bürger Ostdeutschlands diffamiert. Ich bedaure das außerordentlich. ({14}) Nein, meine Damen und Herren, auch in den westdeutschen Bundesländern ist der Wohngeldposten mit 5 Milliarden DM wesentlich größer als der Bundesanteil am sozialen Wohnungsbau: weil wir eine Politik machen, die staatliche Mittel möglichst zielgerichtet sozial einsetzt und nicht mit der Gießkanne über Gerechte und Ungerechte verteilt. ({15}) Bedanken möchte ich mich deswegen bei allen, die sich seriös und ernsthaft an dieser Diskussion beteiligen, z. B. beim brandenburgischen Landtag, der zwar nicht mit jedem Detail der Verordnungen einverstanden ist, Herr Staatssekretär, aber dennoch eine Brücke baut und nicht Konfrontation sucht. Wir ermuntern die Bundesregierung, bei den Verhandlungen mit den ostdeutschen Bundesländern Flexibilität zu zeigen, ein möglichst großes Einvernehmen zu schaffen, Härteklauseln, die bei der Instandsetzungsumlage u. ä. bereits im Gespräch sind, zur Diskussion zu stellen, aber schnell eine Einigung zu suchen, damit wir aus der auch für die Wohnungsunternehmen und Eigentümer mißlichen Situation herauskommen. Die Mieter in den neuen Bundesländern sollten - entgegen dem, was die zumindest im Deutschen Bundestag wortgewaltige PDS verbreitet - wissen: Um aus dem Teufelskreis „verfallene Häuser, fehlender Wohnraum, mangelnde Investitionsbereitschaft wegen fehlenden Geldes auf Grund niedriger Mieten" auszubrechen, brauchen wir diese Anpassung. Sie soll im Spätsommer in Kraft treten. Eine Unsicherheit besteht, weil wir nicht wissen, wann wir mit den ostdeutschen Ländern klarkommen. Zum gleichen Zeitpunkt wird die Wohngeldregelung in Kraft gesetzt. Wir werden niemanden überfordern und den Auftrag des Einigungsvertrages dem Geist und dem Buchstaben nach erfüllen. Vielen Dank. ({16})

Dr. Christa Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002001

Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Mit der Wohnung kann man einen Menschen genauso erschlagen wie mit einer Axt. " Das sagte Heinrich Zille. ({0}) Ich möchte hinzufügen: Ohne Wohnung ist man genauso erschlagen. Heute haben wir als Parlament die Chance, ein deutliches Zeichen zu setzen: erstens indem wir den Menschen in der DDR eine Atempause verschaffen, indem wir ihnen nämlich zeigen, daß es uns nicht kalt läßt, daß gegenwärtig so viele finanzielle, materielle und psychologische Belastungen auf sie zukommen, daß kaum einer oder eine von ihnen in der Lage ist, das alles zu tragen. Die Lawine ist ja längst losgetreten. Versuchen wir doch, wenigstens einen Pfeiler der Sicherheit zu stützen! Zweitens könnten wir ein Zeichen setzen, indem wir Parlamentarier selbst die Verantwortung tragen, die uns als Legislative zukommt - in diesem Punkt stimme ich dem SPD-Vorschlag uneingeschränkt zu -, und indem wir die Mietfrage, also die Wohnungsfrage, nicht an die Verwaltung, an die Exekutive, delegieren. Das Zeichen kann und sollte darin bestehen, für ein Jahr eine Art Moratorium zu beschließen, das den Menschen die Sicherheit gibt, daß sie zumindest ein Jahr lang keine Mieterhöhung erwarten müssen. Die durch den einzelnen nicht zu beeinflussenden Lebenshaltungskosten steigen ohnehin schon stärker als die meisten Einkommen, und sie steigen weiter im gleichen Mißverhältnis. Die „Neue Zeit" , eine wahrlich nicht PDS-freundliche Zeitung, schrieb z. B. gestern, daß die Lebenshaltungskosten im letzten Monat um 7,4 % stiegen. Das ist, glaube ich, ein deutliches Warnsignal. Unser Vorschlag ist natürlich weder blauäugig noch populistisch. Wir sehen durchaus - Herr Kansy, ich sagte das gestern auch schon im Bauausschuß - , daß die Kostendeckung im Bereich der Wohnungswirtschaft, ob sich diese nun in genossenschaftlichem oder in privatem Eigentum befindet, selbstverständlich erDr. Seifert forderlich ist; deshalb unser Vorschlag, das Wohngeld, das ja offenbar das Wunderheilmittel sein soll, als Subvention direkt an die Besitzer zu zahlen. Die Atempause für die Nutzer wäre in fünf verschiedenen Richtungen auszugestalten: Erstens. Für die Menschen träte zumindest in einem wichtigen Bereich Ruhe ein. Ich finde, das wäre etwas sehr Wichtiges. Zweitens. Wir, der Gesetzgeber, hätten Zeit, die Schlampereien des Einigungsvertrages gründlich zu revidieren, so daß man mit diesem Vertrag wirklich eine Weile leben kann. Drittens wäre genügend Zeit, die erforderlichen Verwaltungsstrukturen in Ruhe aufzubauen. Viertens bestünde die Möglichkeit, die Bevölkerung gründlich aufzuklären, ja, sie sogar aktiv in die Diskussion um die Verbesserung der Wohnsituation einzubeziehen. Ich denke, das wäre ein äußerst demokratischer Akt. Fünftens könnten die technischen Voraussetzungen für die individuelle Regulierung, Messung und Berechnung des Verbrauchs an Wärmeenergie geschaffen werden. Ich denke, gerade das sind wichtige Dinge. An dieser Stelle sei mir eine Anmerkung gestattet. Ich finde es sehr gut, daß die Bundesregierung beschlossen hat, Sozialhilfeempfängern und Empfängern einer Kriegsopferversorgung ab 1. April ohne Antrag Wohngeld zu zahlen. Aber warum werden z. B. Menschen, deren Behinderung zivile Ursachen hat, davon ausgenommen? Warum diese Ungleichbehandlung? Hier könnte die Bundesregierung eine Regelung, die in der DDR bestand, einfach fortschreiben und sie sogar auf das gesamte Bundesgebiet ausdehnen. Ansonsten, nämlich wenn die jetzige Regelung, die Sie hier vorgetragen haben, Wirklichkeit wird, befürchte ich eine neue und anhaltende Auswanderungswelle von Ost nach West. Lassen Sie mich zusammenfassen: Wir sollten den Menschen weder durch seine miese Wohnung erschlagen noch durch Wohnungslosigkeit und natürlich auch nicht durch die Kosten des Wohnens. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Christa Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002001

Das Wort hat Herr Kollege Dr. Hitschler.

Dr. Walter Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei meinem Naturell muß man schon an sich halten, wenn man das ruhig ertragen soll, Herr Kollege Dr. Seifert, was Sie hier eben ausgeführt haben. Lassen Sie mich dazu nur eine Bemerkung machen: Es steht gerade Ihnen nicht an, von „Schlampereien beim Einigungsvertrag" zu reden. ({0}) Der Einigungsvertrag ist das Bemühen, die 40jährige Schlamperei, die Sie hinterlassen haben, heute zu bereinigen. ({1}) Der ökonomische Schwachsinn, den Sie hier verkündet haben, hat die DDR in den Konkurs getrieben. ({2}) Meine Damen und Herren, für das Begehren der Opposition - damit meine ich unsere sozialdemokratischen Partner in diesem Parlament - , auf die im Einigungsvertrag vorgesehenen Verordnungsermächtigungen der Bundesregierung zur Festsetzung und Gestaltung von Kalt- und Warmmieten zu verzichten und dies auf dem Gesetzeswege zu betreiben, damit das Parlament mitentscheiden kann, muß man im Sinne der Gewaltenteilung in der Tat großes Verständnis haben. ({3}) Dennoch gibt es eine Reihe von guten Gründen, Herr Müntefering, in diesem Fall bei dem vertraglich vereinbarten Verfahren zu bleiben. Der gewichtigste der Gründe ist gewiß die Dringlichkeit und Eilbedürftigkeit, mit der die Umlagefähigkeit der Betriebs- und Instandsetzungskosten und die Anhebung der NettoKaltmieten bewerkstelligt werden muß, um den Bedarf an Subventionen der öffentlichen Hand einerseits zu verringern bzw. andererseits die allmähliche Funktionsfähigkeit der Wohnungsmärkte in diesen Bundesländern zu gewährleisten. Eigentlich sind wir schon viel zu spät dran. Es ist ja bedauerlich, daß die ehemalige Volkskammer es bei zwei Anläufen nicht geschafft hat, das zu beschließen, was wir heute auf dem Verordnungswege nachholen müssen. Die Volkskammer hat da nach dem Motto gehandelt: Täten hätten wir schon mögen, aber dürfen haben wir uns nicht getraut. ({4}) Einer Verfahrensdauer von ca. zehn Wochen via Verordnung steht eine solche von ca. sechs Monaten per Gesetz gegenüber. Soll eine erste Mietanpassung zum 1. August möglich sein, muß eine entsprechende Erklärung des Vermieters im Juni, auf einer entsprechenden Rechtsgrundlage fußend, abgegeben werden. Dies ist im Gesetzgebungsverfahren zeitlich nicht zu schaffen. Es ist aber erforderlich, diesen Zeitpunkt einzuhalten. Jede Verzögerung um einen Monat würde den Bedarf an Subventionen der öffentlichen Hand um 1,4 Milliarden DM erhöhen. Wenn Sie das mit Ihrem Antrag verantworten wollen, ist dazu zu sagen, daß gegenüber einem Wirksamwerden per Gesetz am 1. Januar 1992 die öffentliche Hand immerhin rund 7 Milliarden DM zusätzliche Subventionen spart. Das Nachdenken, das Sie uns auch gestern im Ausschuß empfohlen haben, würde also den Bundesgesetzgeber oder die Länder - je nachdem, bei wem es hängenbleibt - 7 Milliarden DM kosten. Wenn Sie das verantworten können - wir können es nicht. Auf dem Verordnungswege ist im übrigen gewährleistet - Herr Kollege Kansy hat bereits darauf hingewiesen -, daß die Länder mitentscheidend eingebunden sind. Die Bundesregierung garantiert im übrigen eine frühzeitige Information des Bauausschusses des Deutschen Bundestages, wie das bereits gestern geschehen ist, und bekundet auch ihren Willen, sinnvolle Anregungen aufzugreifen und zu berücksichtigen, was für den einheitlichen Umlagetermin zuzutreffen scheint, zumal eine zweifache Wohngeldberechnung kurz hintereinander wenig Sinn ergibt. Insofern, Herr Kollege Großmann, sollten Sie hier keine weitere Verunsicherung betreiben, sondern ganz einfach zur Kenntnis nehmen, daß die Bundesregierung erklärtermaßen einen einheitlichen Termin anstrebt. Im übrigen meinen wir - bei allem Respekt vor grundsätzlichen Erwägungen - , daß für die Übergangszeit der mietrechtlichen Anpassung eine Treppengesetzgebung, Gesetz für Gesetz für jede Anpassungsstufe jeder Kostenart, nicht nur zu einer allmählich ermüdenden Prozedur hier im Hause geführt hätte, sondern wohl auch zu mehr Unsicherheit denn Klarheit in der Öffentlichkeit. ({5}) Das, was per Gesetz zu regeln ist, die für alle grundsätzlich gültigen Rahmenbedingungen, wurden und werden auch in Zukunft per Gesetz geregelt, die Zwischenschritte für das Beitrittsgebiet aus Zweckmäßigkeitsgründen per Rechtsverordnung, ohne daß irgend jemand Angst haben muß, die Parlamentsmehrheit hier würde etwas anderes beschließen, wenn sie denn könnte. Es liegt uns ferner ein Antrag vor, auf eine Anpassung sowohl der Kalt- als auch der Warmmieten auf absehbare Zeit ganz zu verzichten und statt dessen die dann erforderlichen mindestens 17 Milliarden DM Subventionen aus allgemeinen Steuermitteln zu finanzieren. Wenn wir diesem Petitum folgen würden, würde die sozialistische Mißwirtschaft, deren katastrophales Erbe wir auch mit Hilfe dieser Verordnung bereinigen möchten, fröhlichen Herzens wieder neue Urständ' feiern. Dies ist mit verantwortungsbewußten Demokraten nicht zu machen. Dazu zähle ich auch sie; denn offensichtlich sind Sie bereit, die Anpassungsschritte mitzugehen. Wir streiten uns hier wohl nur um die Höhe der Anpassung. Die Antragsteller sind völlig schief gewickelt, wenn sie glauben, daß ihnen dies angesichts der „Erfolgsbilanz", welche sie auf diesem Gebiet vorzuweisen haben, außer ein paar Unbedarften wie Herrn Briefs in diesem Lande noch jemand abnehmen würde. Unsere Mitbürger wissen, daß die Mietnebenkosten auf die Mieten umgelegt werden müssen, und sie wissen auch, daß eine Erhöhung der Kaltmiete Zug um Zug erforderlich ist. Nur auf diesem Wege ist es möglich, über Instandsetzung und Modernisierung von Wohnungen die Baukonjunktur anzukurbeln und schließlich auch den Neubau auf den Weg zu bringen. Ohne Kostenumlage und Mieterhöhung gibt es keine Investitionen und keine Beschäftigung, wobei die Verordnungen selbst ja schon Härteklauseln zur Verringerung der Belastungen vorsehen. Unsere Mitbürger - das hat Kollege Kansy hier sehr ausführlich dargelegt - können darüber hinaus zuversichtlich und sicher sein, daß zeitgleich eine Wohngeldregelung wirksam wird, die unzumutbare Belastungen des einzelnen Mieterhaushaltes sozial abfedert. Das ist die frohe Botschaft des von Ihnen so viel geschmähten Kapitalismus, daß in ihm die Fähigen Leistungen für die Schwächeren erbringen, um derentwillen der Sozialismus die Nivellierung der Leistungsfähigkeit betreibt. ({6})

Dr. Christa Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002001

Das Wort hat die Kollegin Frau Schenk.

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde es schon höchst merkwürdig, wenn die SPD beantragt, die Regierung dazu aufzufordern, von den Verordnungsermächtigungen, denen die SPD im Rahmen des Einigungsvertrages schließlich selbst zugestimmt hat, jetzt keinen Gebrauch mehr zu machen und die wohnungs- und mietenpolitische Kompetenz an das Parlament zurückzugeben. ({0}) Ich frage die Damen und Herren von der SPD: Was meinen Sie denn, warum die Regierungskoalition im vergangenen Jahr so vehement darauf bestanden hat, gerade diesen Passus in den Einigungsvertrag mit aufzunehmen? Doch sicher nicht, um ihn jetzt auf Ihre höfliche Bitte hin zu den Akten zu legen. Ich meine, die SPD hätte die Möglichkeit gehabt, diesen und anderen verheerenden Bestimmungen im Einigungsvertrag nicht zuzustimmen. Sie hätte die Möglichkeit gehabt, ihre Zustimmung zum Einigungsvertrag davon abhängig zu machen, daß diese und andere schädliche Bestimmungen geändert werden, wenn sie nur den Mut dazu gehabt hätte und nicht vor lauter Angst, nicht mitspielen zu dürfen, jegliche Spielregel akzeptiert hätte. ({1}) Wir, die Abgeordneten von Bündnis 90/GRÜNE, werden dem Antrag der SPD dennoch zustimmen, ({2}) hauptsächlich deshalb, weil wir das, was die Regierung mit diesen Verordnungsermächtigungen in den Ländern der Ex-DDR vorhat, nämlich die Vervierfachung der Wohnkosten, für verheerend halten. Bei den jetzigen Mehrheiten in diesem Bundestag befürchte ich allerdings, daß die Rückgabe der mieten- und wohnungspolitischen Kompetenz an das Parlament den Mieterinnen und Mietern in der ehemaligen DDR nicht viel nützen würde. Schon deswegen kommt das Gefühl auf, daß der SPD-Antrag im Grunde genommen eine Farce ist. ({3}) Den Mieterinnen und Mietern in der ehemaligen DDR ist es schließlich egal, ob ihre Wohnkosten von der Regierung oder vom Parlament erhöht werden. Sie können im Moment die vorgesehenen Erhöhungen nicht bezahlen. So viel ist sicher; da hilft auch kein Diskutieren. Aufschlußreich ist im übrigen auch die Begründung der SPD für ihre Forderung, von den Verordnungsermächtigungen der Regierung jetzt keinen Gebrauch mehr zu machen. In der Begründung des Antrages wird versichert, der Deutsche Bundestag sei wieder arbeitsfähig, woraus sich für mich schon die Frage ergibt, ob die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag der Auffassung ist, daß dieser Bundestag in der ach so historischen Stunde der deutschen Vereinigung nicht arbeitsfähig war, oder ob sie das nur auf sich selbst bezieht. Aber das nur nebenbei. Meine Damen und Herren, wenn die Bundesregierung ihre Drohung wahrmacht und mit Hilfe ihrer Verordnungsermächtigungen die Mieten erhöht, indem sie die Betriebskosten, die Energiekosten und auch die Instandsetzungskosten auf die Mieterinnen und Mieter umlegt, dann werden für Wohnungen, die bisher ca. 100 Mark warm gekostet haben, auf einmal Beträge zwischen 400 und 800 Mark aufzubringen sein. Diese Steigerung will Frau Adam-Schwaetzer über das Wohngeld abfangen, wofür sie dann in der Ex-DDR ca. 3,3 Milliarden Mark ausgeben will. Dabei wird es allerdings nicht bleiben. Ich denke, es wird so kommen wie in Westdeutschland: Die Mieten steigen viel stärker als die Einkommen. Jede Wohngelderhöhung wird durch eine neue Mieterhöhung aufgefressen, und das ist dann eine Spirale ohne Ende mit dem Resultat, daß die Regierung von Jahr zu Jahr mehr Wohngeld wird ausgeben müssen. Die Mieterinnen und Mieter werden in immer größere Abhängigkeit von Wohngeld geraten. So meinen wir, daß die Forderung nach einem Mietstopp zum jetzigen Zeitpunkt auf jeden Fall richtig ist und auch unsere Zustimmung finden muß. Ich kann an dieser Stelle nur wiederholen: Die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR sollten von den wohnungspolitischen Fehlern, die die Bundesregierung hier bereits gemacht hat, verschont bleiben. Es ist schlimm genug, daß Mietenexplosion und Umwandlungsverträge im westlichen Teil Deutschlands gang und gäbe sind. Bitte, bewahren Sie uns in der ehemaligen DDR wenigstens auf dem Wohnungssektor vor dem Moloch der Privatisierung. Wir hatten bereits Gelegenheit, uns hier anzugucken, was passiert, wenn der Wohnungsmarkt von Privatinvestoren beherrscht wird. Ich kann schon sagen, das ist abschreckend. In der Ex-DDR geht es im Moment hauptsächlich um den Erhalt des kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsbestandes. Diese Wohnungen müssen mit Hilfe von Bundesmitteln als bezahlbare Mietwohnungen erhalten bleiben. Alles andere - lassen Sie mich das mit aller Deutlichkeit sagen - würde an den Interessen und Möglichkeiten der Mieterinnen und Mieter vorbeigehen. - Danke. ({4})

Dr. Christa Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002001

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, der Kollege Echternach.

Jürgen Echternach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000429

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um gleich mit einer Legende aufzuräumen, Herr Kollege Großmann: Die Bundesregierung hat keineswegs die Subventionen für die Wohnungswirtschaft drüben in den neuen Bundesländern gestrichen; vielmehr ist in dem gemeinsam vereinbarten und gemeinsam beschlossenen Einigungsvertrag vorgesehen, daß diese Aufgabe von den Ländern zu tragen ist. ({0}) - Herr Müntefering, ich kann Ihnen die erfreuliche Botschaft machen - auch im Hinblick auf das, was der Kollege Kansy eben gesagt hat - , daß dies die Länderministerpräsidenten heute nachmittag ausdrücklich anerkannt haben ({1}) und daß die Länder diese Subventionen auch tatsächlich übernehmen werden. Wir haben heute nachmittag auch die finanziellen Voraussetzungen dafür geschaffen, daß die Länder dies tatsächlich tun können. Dieses Problem ist also vom Tisch. Hier hat der Einigungsvertrag jetzt endlich auch die entsprechende Anerkennung durch die Länder gefunden. ({2}) Wir haben gerade vor acht Tagen an dieser Stelle über die Lage der Wohnungswirtschaft in den neuen Bundesländern diskutiert. 24 Stunden später hat die SPD-Fraktion hier einen Antrag vorgelegt, für den ich nur wenig Verständnis habe. Verstehen kann ich ja noch, daß die Opposition bei den anstehenden Mietreformentscheidungen im Bundestag mitreden will. Was die Opposition dann aber mindestens hätte sagen und offenlegen müssen, ist, was sie inhaltlich verwirklichen würde, wenn sie denn mitentscheiden könnte. Genau das verschweigt sie bedauerlicherweise. Die Opposition redet zwar nach draußen gelegentlich davon, daß Mieterhöhungen prinzipiell notwendig seien, läßt aber offen, was dies konkret bedeutet und wie es nach ihrer Auffassung mit der Mietenpolitik und mit der Wohnungswirtschaft in den neuen Bundesländern weitergehen soll. ({3}) Da ist die PDS mit ihrem Antrag schon klarer, denn sie sagt offen heraus, worauf es ihr ankommt, nämlich um einen Mietenstopp. Ich kann nur hoffen, daß die SPD nicht den gleichen Weg einschlagen will, ({4}) denn dies liefe auf eine Blockade gegenüber jeglicher Verbesserung der Wohnverhältnisse hinaus. Mit ihrem Antrag sagt sich die SPD von der Regelung los, die wir im Einigungsvertrag gemeinsam beschlossen haben, und sie entfacht einen Kompetenzstreit, der auf dem Rücken der Betroffenen in den neuen Bundesländern ausgetragen würde. ({5}) Denn dieser SPD-Antrag, Herr Kollege Großmann, hätte zur Folge, daß den Regierungen der neuen Bundesländer das Mitentscheidungsrecht über das neue Mietrecht weggenommen würde. Die Bundesgesetze auf mietrechtlichem Gebiet bedürfen nun einmal nicht der Zustimmung des Bundesrates. Auch wenn Sie das in Ihre Anträge hineinschreiben, können Sie durch einen solchen Antrag diese Zustimmungspflicht des Bundesrates nicht einseitig einführen. Es wäre auch wirklich ein paradoxes Ergebnis, wenn auf diese Weise die Mitwirkungsrechte der Länder, die im Einigungsvertrag verankert wurden, plötzlich ausgehebelt und die neuen Länder bei dieser wichtigen Entscheidung ausgeschaltet würden. Wir jedenfalls wollen dies nicht. Die Länder müssen mitentscheiden können. Aber wir suchen auch genauso die enge Zusammenarbeit mit diesem Hause. Wir haben, noch bevor die Bundesregierung überhaupt Beschluß gefaßt hatte, das Gespräch mit dem zuständigen Ausschuß gesucht, haben ihn über die vorgesehenen Entwürfe unterrichtet und haben sie eingehend mit ihm diskutiert. Insofern kann von einer Verkürzung von Mitwirkungsrechten überhaupt nicht die Rede sein. Wichtig ist aber vor allem, daß wir uns mit den Mietreformverordnungen nicht nur an das Verfahren, sondern auch an das Ziel des Einigungsvertrages halten. Diese Mietanpassungen, die Gegenstand der Verordnungen sind, sind von der Sache her notwendig und angesichts der Einkommensentwicklung und wegen der vorgesehenen Wohngeldverbesserungen auch sozial vertretbar. Ich möchte das gern an Hand unserer Vorstellungen erläutern, die, Herr Kollege Großmann, keineswegs von der Bundesbauministerin, um einer weiteren Legende entgegenzuwirken, zurückgezogen worden sind; wir bleiben vielmehr unverändert bei unseren Vorstellungen. Einer Erhöhung der Grundmieten um eine DM pro Quadratmeter steht ein Anstieg der Tariflöhne schon in der letzten Hälfte des vergangenen Jahres um Durchschnittlich 200 bis 300 DM gegenüber. Das DIW in Berlin - das nun wahrlich kein Institut der Bundesregierung ist - hat festgestellt, daß allein auf Grund der Tarifanpassung des letzten Jahres die Einkommen in diesem Jahr in den neuen Bundesländern um 25 To steigen. Hinzu kommen wesentliche zusätzliche Tariferhöhungen, die gerade in diesen Wochen und Monaten vereinbart worden sind oder werden; teilweise werden dann 70 % und mehr des westlichen Gehaltsniveaus erreicht werden. Für Mieter mit niedrigen Einkommen sehen wir - das ist sozialpolitisch entscheidend - ein wesentlich verbessertes Wohngeld vor, um sie damit uneingeschränkt zu unterstützen. Ein anderer Schritt ist die vorgesehene Umlage der Betriebskosten auf die Mieten. Es ist nicht zu rechtfertigen, daß die Vermieter mit den von den Mietern verursachten Kosten belastet werden. In unzähligen Briefen an uns klagen private Vermieter, daß sie mit ihrer knappen Rente auch noch für die Betriebskosten gutverdienender Mieter aufkommen müssen. Auch dies gehört zur Wirklichkeit in den neuen Bundesländern. Es ist bedauerlich, daß die Schwierigkeiten der privaten Vermieter in den letzten 40 bis 45 Jahren in dieser mietenpolitischen Diskussion kaum eine Rolle gespielt haben. Schon in der Vergangenheit reichten die Mieten nicht aus, um damit den Wohnungsbestand ordnungsgemäß instand zu halten. Auch ein immenser Subventionsaufwand konnte nicht verhindern, daß sich viele Wohnungen in den neuen Bundesländern heute in einem traurigen Zustand befinden, auf den tatsächlich das Wort von Zille Anwendung finden kann, daß Sie, Herr Dr. Seifert, hier zitiert haben. Das dürfen wir aber so nicht fortführen. Wir jedenfalls wollen dies nicht. Deshalb wird die Bundesregierung von der Ermächtigung des Einigungsvertrages Gebrauch machen, in einer Übergangszeit auch die Umlage von Instandsetzungskosten auf die Miete zuzulassen. Wir werden hier aber Netz und doppelten Boden einziehen. Um die Mieter nicht zu überfordern, werden wir dies nur im Rahmen bestimmter Höchstgrenzen zulassen und diese Umlage auch mit der Erhöhung der Grundmieten abbauen. Außerdem wird eine Härteklausel Mieter mit niedrigen Einkommen vor unzumutbaren Mieterhöhungen schützen. Die Wohnkostensteigerungen werden durch das verbesserte Wohngeld im übrigen sozial wirkungsvoll abgefedert. Damit helfen wir gezielt denen, die Hilfe wirklich nötig haben. Gänzlich unsozial wäre es jedoch, an der bisherigen Subventionspolitik bei staatlich eingefrorenen Mieten festzuhalten. Denn dies würde gutverdienende Mieterhaushalte auf Kosten der Allgemeinheit privilegieren. Dieser Mißstand würde im Zuge steigender Einkommen immer unerträglicher. Wie nicht anders zu erwarten, machen gegenwärtig Horrorzahlen von durchschnittlichen Mieterhöhungen in einer Größenordnung von 8 DM pro Quadratmeter die Runde. Einer der Wortführer dieser Angstkampagne ist der Deutsche Mieterbund mit einem bekannten SPD-Mitglied an der Spitze. Worum es dem Mieterbund tatsächlich geht, zeigen die letzten beiden Sätze des Flugblattes, das ich hier habe. Dort heißt es: Helfen Sie mit, in einer starken Mieterorganisation gegen Mietenexplosion und Mietervertreibung. Darum: Jeder Mieter gehört in den Mieterverein! ({6}) Ich kann nur an alle Beteiligten und auch an Sie verehrte Kollegen von der Opposition, appellieren, den Menschen drüben in den neuen Bundesländern nicht mit unseriösen Rechnungen zu verunsichern, und das allein aus durchsichtigen verbandsegoistischen Motiven heraus. ({7}) Nehmen Sie besser die wirklichen Zahlen zur Hand. In den allermeisten Wohnungen wird die Nettomiete auch am Ende dieses Jahres nicht über 2 DM pro Quadratmeter liegen. In mehr als der Hälfte der Mietwohnungen werden die Nebenkosten einschließlich der Heizkosten nur um rund 2 DM pro Quadratmeter steigen, und all dies noch vor Wohngeld. Ich versichere auch an dieser Stelle: Wir lassen die Mieter nicht allein; wir lassen sie nicht die gesamte notwendige Mietanpassung selber zahlen. Wir helfen ihnen direkt über das Wohngeld. Und wir helfen ihnen auch indirekt über das starke finanzielle Engagement des Bundes. Ich nenne das KfW-Programm und die Finanzhilfen an die Länder für den sozialen Wohnungsbau in Höhe von 1 Milliarde DM jährlich. Sie können bei Bestandsverbesserungen zugleich zur Verminderung von Mieterhöhungen eingesetzt werden. Das gleiche gilt für die Städtebauförderungsmittel in Höhe von 380 Millionen DM. Wir werden jedenfalls unseren Weg der Verbesserung der Rahmenbedingungen für mehr Investitionen bei einer gleichzeitigen sozialen Absicherung fortsetzen. ({8}) Die Anträge von SPD und PDS würden dies blockieren. Und deshalb lehnen wir sie ab. ({9})

Dr. Christa Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002001

Das Wort hat die Kollegin Frau Gleicke.

Iris Gleicke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000687, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Immer wieder wird der Begriff der Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse strapaziert und wieder- und wiedergekäut. Bis jetzt ist er eine Worthülse und in keiner Weise mit Leben erfüllt. Ich persönlich sehe auch keine Anstrengungen, die tatsächlich in diese Richtung unternommen werden. ({0}) Im Gegenteil: Die Schuldzuweisungen an die Ossis sind unüberhörbar. Ständig wird davon gesprochen, die Bürger aus den neuen Ländern sollten doch endlich etwas tun und nicht nur fordern. ({1}) Dabei fordern sie jetzt nur die Einhaltung des Versprechens: Keinem wird es schlechter, aber vielen bessergehen. ({2}) Die Wirklichkeit sieht anders aus und lähmt die Menschen. Die uneingeschränkte Umlage von Investitionsmitteln, die zur Modernisierung eingesetzt werden, führt zu einer unkalkulierbaren Mietpreisexplosion. Der bauliche Zustand der Häuser vor allem im Altbaubereich ist so schlecht, daß Vermieter sehr hohe Mittel aufwenden müssen, um diese Häuser zu erhalten. Diese Kosten z. B. für eine Dachsanierung darf der Vermieter bis zu einer Höchstgrenze von 325 DM pro Quadratmeter umlegen. Aber wer will es diesem Vermieter verübeln, wenn er etwa den Einbau neuer Fenster nicht als Werterhaltungsmaßnahme, sondern als Modernisierung deklariert und diese Kosten damit zusätzlich auf den Mieter umlegt? Wer will widersprechen, daß der Einbau von Isolierglasfenstern im Vergleich zu den Einfachfenstern vorher eine Verbesserung des Wohnkomforts ist? Das würde beispielsweise folgendes bedeuten: Wenn ein Vermieter mit einer Investitionssumme von 200 000 DM modernisiert, kann er 110/e, also 22 000 DM, pro Jahr umlegen. Das bedeutet eine monatliche Mehrbelastung von 1 833,33 DM zusätzlich zur Werterhaltungs- und Betriebskostenumlage. Diese Umlagemöglichkeit treibt die Mieten über die Miethöchstbeträge des Wohngeldes hinaus. ({3}) - Bei der Modernisierung gibt es diese Kappungsgrenze nicht. ({4}) Dabei könnten Belastungen entstehen, die nicht mehr zu tragen sind. Uns wird vorgeworfen, daß wir die Menschen verunsichern, wenn nicht gar verängstigen. Das tun wir eben nicht. Das schafft diese Bundesregierung durch solche Verordnungen ganz alleine. ({5}) Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, von der Verordnungsermächtigung keinen Gebrauch zu machen. Sie sind es gewesen, die mit der Predigt von der angeblich Sozialen Marktwirtschaft Ihre Konzeptionslosigkeit verdeckt haben. Das haben die Menschen jetzt begriffen; daher kommt die Angst. Die hätten auch Sie; denn das ist nicht das einzige Problem, vor dem die Bürger in den neuen Ländern stehen. Ich gebe zu, Sie hatten nicht viel Zeit. Aber als sozial kann man solche Auswüchse gerade nicht bezeichnen. Vor allem aber haben Fachleute unabhängig von parteipolitischen Diskussionen auf solche Probleme immer wieder hingewiesen und erklärt, daß sie auf uns zukämen. Deshalb waren solche Dinge vorhersehbar und damit vermeidbar. Private Vermieter können auf Grund der Belastungen aus den Altschulden nicht investieren. Dabei fragt auch die Arge Bau nach der Rechtmäßigkeit der Zuweisung von Altschulden. Eine Folge ist, daß die Bautätigkeit immer weiter zu608 rückgeht. Deshalb muß die von Ihnen propagierte Baukonjunktur einfach ins Stocken kommen. Es kann und darf aber nicht sein, daß dieses Problem von den Vermietern auf die Mieter in der Form abgewälzt wird, wie ich das gerade geschildert habe. Der Bund muß sich endlich mehr engagieren und zur Anschubfinanzierung bereit sein. Es müssen endlich konkrete Schritte, und zwar nicht nur auf dem Papier, unternommen werden. Die Versprechen, die ich täglich von Ministern aller Ressorts höre, müssen eingehalten werden. Aber ich befürchte, daß diese Versprechungen ebensolche bleiben werden. Es tut sich ein neuer Abgrund auf: Immer wieder wird betont, daß alle zur Verfügung stehenden Finanzmittel als Hilfe in die neuen Länder gehen. Damit werden Streichungen für Projekte in Altländern begründet. Tatsächlich passiert aber sehr wenig. Diese Aussagen sollen wohl dazu angetan sein, den Unmut der Ossis zu befrieden. Aber dieser Beschwichtigungsversuch hat schlimme Folgen. Denn nun fühlen sich die Wessis ungerecht behandelt und finden die Forderungen aus den neuen Ländern unverschämt.

Dr. Christa Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002001

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hitschler?

Iris Gleicke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000687, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, vielleicht erübrigt sie sich nach meiner Rede. ({0}) - Er kann ja nachher noch einen Versuch machen. ({1}) Dieser Beschwichtigungsversuch hat also schlimme Folgen; denn er führt dazu, daß sich die Wessis ungerecht behandelt fühlen und die Forderungen aus den neuen Ländern unverschämt finden. Das ist kein Wunder; denn ihnen ist immer wieder suggeriert worden, daß die Einheit zum Nulltarif zu haben sei. - Ich denke an Steuererhöhungen. ({2}) Die Spaltung unseres gemeinsamen Vaterlandes wird sich dadurch noch nachhaltiger ausprägen, als es Mauer und Stacheldraht je zu bewirken vermochten. ({3}) Darin zeigt sich die Unfähigkeit der Bundesregierung, in dieser Sache vernünftige Entscheidungen zu treffen. Deshalb können wir auch dem Antrag der PDS/ Linke Liste nicht zustimmen, obwohl in ihm einige richtige Ansätze enthalten sind; denn Sie, meine Damen und Herren, beziehen sich in dem Antrag darauf, daß abermals die Bundesregierung entscheiden soll. Gerade das wollen wir nicht. Es wird Zeit, dem Parlament die Entscheidungsgewalt über diese Probleme zurückzugeben. Vielen Dank. ({4})

Dr. Christa Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002001

Das Wort hat Frau Kollegin Wiechatzek.

Gabriele Wiechatzek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002499, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man die mietenpolitische Diskussion wieder auf die eigentlichen Kernfragen reduziert, also wegkommt von den üblichen Aufgeregtheiten und der vordergründigen Polemik, wie sie heute vor entsprechendem Publikum in der Öffentlichkeit natürlich stärker waren als gestern im Ausschuß, stellt man fest, daß die Gemeinsamkeiten zwischen Koalition und SPD eigentlich doch größer sind, als es zunächst den Anschein hat - auch wenn Ihnen das jetzt vielleicht peinlich ist. ({0}) Das, meine Damen und Herren, ist auch gut so; denn nichts wäre verwerflicher, als wenn in einer Zeit der existentiellen Ängste und Nöte das komplizierte Thema Mieten zu jeweiliger parteipolitischer Profilierung mißbraucht würde. ({1}) Unstrittig ist doch - das haben Sie jedenfalls gestern im Ausschuß auch zugegeben - : Es muß eine Erhöhung der Mieten geben, aber - und darin stimmen wir überein - sie muß sozial abgefedert sein. Es geht also gar nicht mehr um das Ob, sondern es geht allein um das Wie. Und hier ist die SPD, wie man auch nach aufmerksamem Verfolgen der heutigen Debatte feststellen muß, bisher eine Antwort schuldig geblieben. ({2}) Wie bereits gesagt: Schon heute ist die Bundesregierung laut Einigungsvertrag gehalten, Verordnungen zu erlassen. Diese Verordnungen treten aber erst nach Zustimmung der Länder in Kraft. Es gilt also, dies unverzüglich auf den Weg zu bringen; denn, meine Damen und Herren, wir alle stehen unter einem enormen zeitlichen Druck. Jeder Tag, der ohne eine entsprechende Regelung vergeht, kostet die neuen Länder, kostet die Kommunen Geld, das dringend für andere Vorhaben benötigt wird. Wenn wir aber Ihrer Auffassung, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, folgten und die bereits geleisteten Vorarbeiten stoppten, um nun den Bundestag tätig werden zu lassen, bedeutete dies eben eine zeitliche Verzögerung. Verzögerungen aber, die finanzielle Verluste bedeuten, können die neuen Länder nicht verkraften. Sie könnten sie womöglich in den finanziellen Kollaps treiben. Gerade auch vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Bauministerkonferenz in der vorigen Woche, wo in vielen Punkten Einigung erzielt wurde, übrigens auch mit den Stimmen Ihrer Länder, der A-Länder, sieht eine Ihrem Antrag folgende Regelung nach einer Entmündigung, ich sage sogar: nach einer BrüskieFrau Wiechatzek rung derer aus, die sich vor Ort, nämlich in den neuen Ländern, mit den entsprechenden Problemen auseinandersetzen müssen. Nein, meine Damen und Herren, die sechs neuen Länder brauchen Hilfe, und sie brauchen sie schnell. Lassen Sie mich das an einem Beispiel aus Berlin verdeutlichen: Bei unveränderter Miete im Ostteil der Stadt werden in diesem Jahr 600 Millionen DM eingenommen. Diesen Einnahmen stehen Ausgaben von 1,9 Milliarden DM gegenüber. Das heißt, 1,3 Milliarden DM Subventionen müssen aus dem Landeshaushalt allein für Wohnungskosten, also nur um den Status quo zu erhalten, aufgebracht werden. Hinzu kommt noch eine runde halbe Milliarde DM, um bereits begonnene Reparaturarbeiten zu beenden. Als Faustregel gilt in Berlin wie übrigens allgemein: Nur bis zum 10. eines jeden Monats reichen die Mieteinnahmen, um die laufenden Kosten zu decken. Dies ist für die neuen Länder nicht hinnehmbar. Der Streit zwischen Bund und Ländern, wer die Subventionen denn zu tragen habe, muß endlich beendet werden, ({3}) auf keinen Fall aber auf dem Rücken der Betroffenen; ({4}) denn viele Bürger in den neuen Ländern sind - das muß man feststellen - durch eine ungewisse berufliche Zukunft, durch Umstellungs- und Anpassungsprobleme sowieso schon in einem psychologischen Tief. Deshalb ist es nach meiner Meinung wichtig und auch richtig, daß wir ihnen Ausgleichsmöglichkeiten aufzeigen, wie es die Koalition mit der beabsichtigten Wohngeldregelung plant. Es gilt aus meiner Sicht festzuhalten: Die Erhöhung der Mieten, ob zum 1. August oder zum 1. September sei dahingestellt, muß zeitgleich mit Schaffung eines Anspruchs auf erhöhtes Wohngeld erfolgen. Es kann nicht angehen, daß die Mieter erst einmal über längere Zeit im Vorschuß zur Kasse gebeten werden. Dies setzt aber wiederum zwingend Aufbaumaßnahmen im Verwaltungsapparat voraus und muß, wie auch zugesagt, von der Bundesregierung und den Ländern sichergestellt werden. Ich halte in diesem Zusammenhang die bisher von der Bundesregierung geplante zeitlich versetzte, mehrstufige Mietenerhöhung, die immer wieder ins Spiel gebracht wird, für problematisch, weil sie sowohl eine im Aufbau begriffene Verwaltung als auch die Mieter überfordert. ({5}) Insofern schafft die Festlegung auf nur einen Termin, wie der Herr Staatssekretär gestern im Ausschuß auch deutlich gemacht hat, mehr Klarheit und vereinfacht das Verfahren. ({6}) Fazit aus dem Ganzen: Wir werden als CDU/CSUFraktion die von der Bundesregierung beabsichtigten Regelungen sehr aufmerksam begleiten, um sicherzustellen, daß es nicht durch Kumulation der einzelnen Auflagen zu sozialen Härten kommt. Lassen Sie mich abschließend noch ein paar Worte zum Antrag der PDS sagen. Es hat mich doch schon sehr überrascht, mit welcher Kaltschnäuzigkeit und Lässigkeit hier einmal wieder in die Mottenkiste des Sozialismus gegriffen wurde. ({7}) - Unterstützen Sie die PDS, Herr Conradi? Das ist interessant. Das wird die Wähler draußen sehr interessieren. Sie setzen das fort, was Lafontaine früher schon immer in der DDR gemacht hat. Ihr Konzept, meine Damen und Herren von der PDS, die Subventionspolitik à la DDR einfach fortzusetzen, ist doch nach mehr als 40jähriger Erprobung wirklich gründlich gescheitert. Unsere Landsleute kennzeichnen diese bauliche Mißwirtschaft, die hinterlassen wurde, deshalb zu Recht als „Ruinen schaffen ohne Waffen". ({8}) Wenn Sie noch Zweifel haben sollten, empfehle ich Ihnen - wahrscheinlich kenne ich Ost-Berlin und die neuen Länder besser als Sie, denn ich höre, Sie halten sich sehr viel in Holland auf - einen Rundgang z. B. im Bezirk Prenzlauer Berg. Da sollten Sie sich einmal mit den Leuten unterhalten. Dort hätten Sie übrigens auch eine gute Chance, Ihr Milliardenvermögen sinnvoll, vor allem aber volksnah anzulegen, ({9}) z. B. statt in hohen Abfindungen für Ex-Mitarbeiter in Eigentumsmodellen für Mieter. ({10}) Das wäre ein guter Gedanke. Das böte Ihnen das erste Mal in Ihrer langen Politikkarriere die Möglichkeit, wirklich und wahrhaftig Volkseigentum zu bilden. ({11}) Vielleicht denken Sie einmal darüber nach, bevor Sie uns im Bundestag mit Ihren Anträgen hier weiter die Zeit rauben. ({12})

Dr. Christa Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002001

Das Wort hat der Abgeordnete Kollege Müntefering.

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte, als wir diesen Antrag formuliert haben, gehofft, wir könnten uns sehr schnell einig werden, daß die Forderung, die wir stellen, daß nämlich das Parlament über die Dinge entscheidet, allgemein anerkannt wird. Bei Herrn Hitschler tauchte das ja auch ein bißchen auf. So einem richtigen Liberalen muß bei dem, was hier nun stattfindet, auch ganz komisch sein. Die wichtigen Dinge, um die es da geht, werden nicht im Parlament, sondern im Halbdunkel der Administration vorbereitet; dann dürft ihr das im Ausschuß lesen, und dann wird entschieden, und es wird mitgeteilt. Das ist doch kein Parlamentarismus. Wir dürfen uns nicht wundern, daß die Leute draußen fragen: Was ist denn das für ein Parlament?, wenn wir es als Parlamentarier zulassen, daß die Bundesregierung mit ihren Beamten faktisch über die Dinge entscheidet und die Parlamentarier im Parlament nur noch mit informiert werden. Wenn Ihre Wählerinnen und Wähler das gehört hätten, was Sie heute gesagt haben, können sie sich nur noch fragen, weshalb sie Sie eigentlich ins Parlament gewählt haben ({0}) wenn die Beamten im Bauministerium und in den anderen Ministerien über die Dinge entscheiden. Ich finde, Sie sollten noch einmal darüber nachdenken, wie das mit dem Parlamentarismus eigentlich ist, ehe Sie unseren Antrag ablehnen. Wir haben an dieser Stelle schon manches Mal darüber gesprochen, wie das Ansehen des Parlaments verbessert werden kann. Das Ansehen des Parlaments bei den Menschen wird sicher nicht besser, wenn wir sagen: Wir entscheiden gar nicht, wir diskutieren gar nicht, sondern wir lassen das die Bundesregierung, die Administration machen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, denken Sie noch einmal darüber nach.

Dr. Christa Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002001

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hitschler?

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, klar.

Dr. Walter Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Müntefering, Sie wissen, daß ich viel Verständnis für Ihre Argumentation habe, aber wie können Sie eigentlich die Haltung Ihrer Partei hier verdeutlichen, die doch als Vertragspartner in der Regierung der ehemaligen DDR mit dazu beigetragen hat, daß es zu dieser Regelung im Einigungsvertrag gekommen ist?

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege, dazu kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung sagen: Ich habe damals mit Herrn Kinkel eingehend darüber gesprochen, daß die Sozialdemokraten das nicht wollen. Aber damals ist uns diese Bedingung vorgegeben worden. Nun war die Entscheidung, die wir zu treffen hatten: Ist der Einigungsvertrag so wichtig, daß er trotzdem zustande kommen muß? Da haben wir ja gesagt. Aber wir haben im Ausschuß und im Plenum immer darauf hingewiesen: Es kann nicht die Regel sein, daß eine so zentrale und existentielle Frage wie das Wohnen und Mieten über die Administration geregelt wird. Fragen Sie einmal Herrn Kinkel. Er wird das noch wissen; der kann Ihnen das gerne sagen. ({0}) Nun zu der Leistungsfähigkeit dieser Bundesregierung, die das jetzt alles regeln soll. Aus den 120 Antworten der Bundesregierung auf Fragen in den neuen Bundesländern - damals noch DDR -, herausgegeben am 17. September 1990, lese ich Ihnen vor: Der Einigungsvertrag sieht vor, daß Mieten und Pachten, soweit sie sich auf Wohnraum beziehen, bis 31. Dezember 1991 nicht erhöht werden können. ({1}) - Ja, das war vor der Bundestagswahl; am 17. September 1990 verteilt. Dann kam die Bundestagswahl. Kassiert! Am 31. Dezember teilte Herr Waigel mit, er bezahle die Subventionen für die Kosten nicht mehr, die der Wohnungswirtschaft in den neuen Bundesländern entstehen; das müßten jetzt, bitte schön, die Länder machen. Diese Länder haben zwei Monate lang überhaupt kein Geld von hier bekommen. Heute nachmittag haben Sie, Herr Echternach, zugeben müssen, daß Sie zuständig sind. Sie hätten sagen sollen, wie das mit dem Geld geregelt ist, Herr Echternach. Denn die Art und Weise, wie Sie da den Ländern vor den Knoten gefahren sind, war nicht gerade anständig. Aber die Sache mit dieser Bundesregierung geht noch weiter. Am 21. Januar 1991 - das ist gerade fünf Wochen her - erklärt die Frau Ministerin: Zum 1. April 1991 gibt es den ersten Schub zur Erhöhung der Betriebskosten. Man kann darüber streiten, ob das in der Sache richtig ist. Aber das, was Sie am 21. Januar 1991 mitgeteilt hat - groß; Schwarz-RotGold obendrauf -, ist inzwischen überholt. Nun heißt es: Nein, nicht zum 1. April! Sie stellen nämlich fest, das ginge überhaupt nicht so schnell. Der Bundesrat, der ja gefragt werden muß, kann gar nicht so schnell tagen. Also muß man das auf ein paar Monate später verschieben. Nun sage ich, auch weil das so ist, Herr Kansy & Co.: ({2}) Das kann die Bundesregierung doch gar nicht. Gukken Sie sich doch einmal an, was Sie in den letzten Monaten gemacht haben. Sie sind doch unfähig, hier überhaupt ein Konzept zu basteln, das uns und den Menschen in den neuen Bundesländern und ihren Sorgen gerecht wird. ({3}) Also laßt uns unser parlamentarisches Verständnis wecken und sagen: Darum kümmern wir uns selber. Das ist sehr wichtig. Das müssen Sie alle in den Wahlkreisen zu Hause vertreten. Alle müssen das vertreten. ({4}) Es kann doch nicht sein, daß wir in den Wahlkreisen der neuen Länder sagen: Das hat die Bundesregierung gemacht und vorgedacht. Jetzt noch zu einem Punkt, damit Sie wissen, was die Bundesregierung in dieser Hinsicht tut. In der alten Bundesrepublik können Modernisierungskosten mit 11 % überwälzt werden, Instandsetzungskosten aber nicht. ({5}) Nur in den neuen Bundesländern können jetzt Instandsetzungskosten überwälzt werden. ({6}) Nun sagt der Herr Kansy: Das ist ja begrenzt, und zwar auf 325 DM, im nächsten Jahr auf 500 DM. Ich habe es soeben umgerechnet. Für eine Wohnung mit 50 qm, für die die 325 DM in Anspruch genommen werden, bedeutet das 150 DM im Monat mehr. Das ist eine Menge Müll für jemanden, der nur 1 200 oder 1 400 DM zur Verfügung hat. 150 DM! ({7}) Das sind aber nur die Instandsetzungskosten. Dazu kommen die Modernisierungskosten, dazu kommen die Mieterhöhungen, dazu kommen die Betriebskosten. Sie müssen sich doch einmal daran gewöhnen: Die Menschen in der ehemaligen DDR waren die Wohnkosten nicht in dieser Differenzierung gewohnt. Wenn Sie sagen: Wir erhöhen nicht die Mieten, sondern die Betriebskosten, dann sagen sie: Was nutzt mir das, bezahlen müssen wir das alles. - Und wenn das alles zusammenkommt, wird im Laufe des Jahres das eintreten, was wir hier kritisiert haben. ({8}) Anlaß für diesen Antrag ist die Bitte: Ein bißchen mehr Selbstbewußtsein der Parlamentarier! Dann lassen Sie uns miteinander gescheite Gesetze machen. Denn Sie können das offensichtlich nicht. Zumindest haben Sie es bis jetzt nicht bewiesen. ({9})

Dr. Christa Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002001

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 12/156 und 12/158 an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu überweisen. Sind sie damit einverstanden? - Dies ist der Fall; ich sehe keinen Widerspruch. Damit sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Privatisierung von Bundesbeteiligungen hier: Veräußerung der Aktienmehrheit an der Prakla-Seismos AG - Drucksache 12/73 Überweisungsvorschlag des Altestenrates: Haushaltsausschuß ({0}) Ausschuß für Wirtschaft Im Ältestenrat ist dafür eine Aussprache von 30 Minuten vereinbart worden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. Als erster hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär Carstens das Wort.

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich, ergänzend zu der Ihnen vorliegenden Drucksache 12/73, folgendes bemerken: Die Veräußerung der Aktienmehrheit der PraklaSeismos AG an die internationale SchlumbergerGruppe ist für die Prakla selbst und für ihre Arbeitnehmer letztlich vorteilhaft. Auch nach Aussage des Vorstandes war das Unternehmen auf dem von einem starken Konzentrationsprozeß gekennzeichneten Markt für geophysikalische Leistungen allein nicht mehr lebensfähig. Wegen ihrer zu geringen Unternehmensgröße konnten die steigenden Aufwendungen für Forschung und Entwicklung sowie für weltweite Akquisition und Logistik nicht im international nötigen Umfang erbracht werden. Die Einbindung der Prakla in einem größeren Konzernverbund war also vom Unternehmensinteresse her dringend geboten. Dabei verkenne ich nicht, daß die anstehenden personellen Einschnitte bei der Prakla für jeden einzelnen Betroffenen schmerzhaft sind. Es geht immerhin um bis zu 231 Mitarbeiter. In den Verhandlungen mit Schlumberger hat der Bund aber stets darauf geachtet, daß der Abbau von Arbeitsplätzen auf ein unbedingt notwendiges Maß begrenzt wurde. Im Interesse der Lebensfähigkeit der Prakla und der Erhaltung der ganz überwiegenden Mehrheit der Arbeitsplätze war aber ein gewisser Abbau unvermeidbar. Eine solche Personalreduzierung wäre auch unter mehrheitlicher Beteiligung des Bundes mindestens in dieser Höhe unausweichlich geworden. - Ich darf darauf hinweisen, daß der Sozialplan heute nachmittag unterschrieben werden sollte. Ich nehme an, daß die Unterschriften geleistet wurden. Mit der Privatisierung der Prakla wurde nun auch das letzte vom Bundeskabinett bereits 1985 beschlossene Vorhaben verwirklicht. Die Bundesregierung kann damit eine sehr erfolgreiche Zwischenbilanz ihrer Privatisierungspolitik ziehen.

Dr. Christa Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002001

Herr Staatssekretär, darf ich Sie kurz unterbrechen. - Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Bulmahn?

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Ja.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär Carstens, Sie haben darauf hingewiesen, daß sich der Bund, der nach wie vor Anteilseigner ist, dafür eingesetzt hat, die Zahl der zu Entlassenden möglichst gering zu halten. Können Sie hier versichern, daß sich der Bund auch dafür einsetzen und Sorge tragen wird, daß Entlassungen nur im Zusammenhang mit einem Sozialplan stattfinden werden, und die Bundesregierung darauf bestehen wird, daß ein Sozialplan verabschiedet wird?

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Verehrte Kollegin, ich habe darauf hingewiesen, daß der Sozialplan heute nachmittag unterzeichnet werden sollte. Ich nehme an, daß er zwischenzeitlich unterzeichnet worden ist. Da ich es aber nicht sicher bestätigen kann, mußte ich mich so ausdrücken, wie ich es getan habe. - Wir werden also diese erfolgreiche Privatisierungspolitik auch in der Zukunft konsequent fortsetzen. Der Verkauf der Prakla-Beteiligung war aber auch für den Bundeshaushalt - das sollte man nicht vergessen - recht vorteilhaft. Wäre der Verkauf nicht zustande gekommen, hätte der Bund der Prakla noch aus dem Haushalt 1990 Kapital zuführen müssen. Der Verlust der Prakla dürfte für 1990 bei ca. 40 Millionen DM liegen. ({0}) So aber wurde der Haushalt 1990 nicht mehr belastet, und im Haushalt 1991 konnte der Bund die erste Kaufpreisrate von ca. 36 Millionen DM einnehmen. Die zweite Rate für die vorerst beim Bund verbliebene Restbeteiligung von 49 % wird spätestens Ende 1992 fällig. Wäre der Verkauf gescheitert, so hätte der Bund der Prakla mit Sicherheit auch in diesem und in den nächsten Jahren Haushaltsmittel in zweistelliger Millionenhöhe zuführen müssen. Sie sehen, daß der Verkauf der Prakla zu einer beträchtlichen Entlastung des Haushalts geführt hat. Erlauben Sie mir zum Schluß noch einige Bemerkungen zur parlamentarischen Behandlung des Prakla-Verkaufs: Am 7. November 1990 hat das Bundeskabinett den Finanzminister ermächtigt, in konkrete Verkaufsverhandlungen einzutreten. Hierüber habe ich noch am gleichen Tag den Vorsitzenden des Haushaltsausschusses, die Haushaltsobleute und die zuständigen Berichterstatter schriftlich unterrichtet. Bereits damals habe ich darauf hingewiesen, daß bei einem erfolgreichen Verlauf der Verhandlungen die Terminlage nur eine nachträgliche Unterrichtung des Parlaments gemäß § 65 Absatz '7 der Bundeshaushaltsordnung zuläßt. Eine ernsthafte Aussicht auf Einigung mit Schlumberger zeichnete sich erstmals am 4. Dezember 1990 ab. Nach zähen Verhandlungen wurde aber erst am Abend des 28. Dezember eine endgültige Einigung über den Kaufvertrag erzielt. Dies macht deutlich, daß eine Zustimmung des Bundestages nicht mehr rechtzeitig eingeholt werden konnte. Für Fälle dieser Art läßt § 65 Absatz 7 Satz 2 der Bundeshaushaltsordnung eine nachträgliche Unterrrichtung zu. Ich glaube nachgewiesen zu haben, daß wir sehr sorgfältig gehandelt haben. ({1})

Dr. Christa Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002001

Das Wort hat die Kollegin Frau Bulmahn.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Die heutige Debatte über den Verkauf der Aktienmehrheit des Bundes an der Prakla-Seismos AG ist im Grunde genommen eine Farce. Hätte die Bundesregierung sich strikt an die in der Bundeshaushaltsordnung vorgeschriebene Verfahrensweise gehalten, so hätte der Bundestag heute eine Entscheidung zu fällen gehabt, nämlich darüber, ob und unter welchen Bedingungen die Prakla-Seismos AG privatisiert werden soll. Die Bundesregierung hat jedoch bereits vollendete Tatsachen geschaffen. So bleibt uns nur noch, von dem Vorgang Kenntnis zu nehmen. Dies, meine Damen und Herren, ist eine Entmündigung des Parlaments, die wir so nicht hinnehmen werden. Die Art und Weise, wie die Bundesregierung bei dem Verkauf dieses Unternehmens vorgegangen ist, schlägt - lassen Sie mich dies so deutlich sagen - dem Faß den Boden aus, und da nützen auch Ihre Erklärungen nichts, Herr Staatssekretär Carstens, die Sie hier abgegeben haben. Die Bundeshaushaltsordnung schreibt in § 65 eindeutig vor: Haben Anteile an Unternehmen besondere Bedeutung und ist deren Veräußerung im Haushaltsplan nicht vorgesehen, so dürfen sie nur mit Einwilligung des Bundestages und des Bundesrates veräußert werden, soweit nicht aus zwingenden Gründen eine Ausnahme geboten ist. Über diese Regelung der Haushaltsordnung hat sich die Bundesregierung kaltschnäuzig hinweggesetzt und versucht nun, sich in der Art und Weise eines Winkeladvokaten aus der Affäre zu ziehen. ({0}) Nachdem die Privatisierung des Unternehmens ursprünglich bereits für 1986 vorgesehen war, gibt es für die Hast und Überstürzung, mit der die Verkaufsverhandlungen jetzt geführt wurden, keinerlei Veranlassung. Wenn die Bundesregierung in der heute zur Debatte stehenden Unterrichtung des Bundestages ausführt: Eine Einigung mit dem Erwerber bis zum Jahresende 1990 lag im besonderen Interesse des Bundes, der bei einem fortgesetzten Alleingang der Prakla beträchtliche Haushaltsmittel hätte aufwenden müssen, um die anhaltenden Verluste auszugleichen so ist dies alles andere als ein zwingender Grund. Oder steht der Bundesregierung etwa das Wasser schon so bis zum Hals, daß sie jede müde Mark zusammenkratzen muß, um wegen ihrer unsoliden Haushaltspolitik nicht Bankrott anmelden zu müssen? Wie groß ist denn eigentlich der Verlust, wenn der Verkauf erst zum 1. März oder 1. April 91 stattgefunden hätte? Welchen zwingenden Grund können Sie denn anführen, weshalb eine solche Terminsetzung nicht möglich war? Im übrigen, meine Damen und Herren: Was ist das für ein Unternehmensverständnis, das die Bundesregierung hier praktiziert? Wo würden wir denn hinkommen, wenn jeder sein Unternehmen Hals über Kopf verkauft, nur weil es gerade Verlust abwirft? Eine Veräußerung der Prakla-Seismos AG nur zum Zwecke der kurzfristigen und einmaligen Finanzierung von Lücken im Bundeshaushalt lehnen wir jedenfalls ab. Eine derartige wirtschaftspolitische Konzeptionslosigkeit und unternehmerische Verantwortungslosigkeit können wir nicht mittragen. Geradezu haarsträubend ist es, was die Bundesregierung noch als zwingenden Grund anführt, weshalb die als Regelfall gesetzlich festgeschriebene Einwilligung des Bundestages nicht eingeholt wurde - Zitat: Eine Aussicht auf Einigung mit dem Bewerber zeichnete sich erstmals Anfang Dezember ab. Zu diesem Zeitpunkt war es wegen der Bundestagswahl am 2. Dezember nicht mehr möglich, die Zustimmung des Deutschen Bundestages rechtzeitig einzuholen. Eine Legislaturperiode, meine Herren und Damen, endet keinesfalls, wie die Bundesregierung glauben machen will, mit einer Wahl, sondern, wie sie bei einem Blick in Artikel 39 des Grundgesetzes unschwer hätte feststellen können, mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages. Der Bundestag war also zu dem genannten Zeitpunkt durchaus existent und selbstverständlich auch arbeitsfähig. Außerdem hätten auf jeden Fall die Mitglieder des Haushaltsausschusses informiert werden müssen und können, ({1}) da für die Zeit der sitzungsfreien Wochen eigens ein Umlaufverfahren vorgesehen ist. Angesichts der Bedeutung des Vorganges dürfte es zudem - der Obmann meiner Fraktion im Haushaltsausschuß, Helmut Wieczorek, hat den Herrn Bundesfinanzminister ja bereits darauf hingewiesen - unstrittig sein, daß der Haushaltsausschuß sicher bereit gewesen wäre, eine Sondersitzung durchzuführen. Sachlich unrichtig ist schließlich auch die Behauptung, daß sich „eine Aussicht auf Einigung mit dem Erwerber erstmals Anfang Dezember abgezeichnet" habe. Hannoveraner Zeitungen waren da offensichtlich wesentlich besser informiert als die Bundesregierung. Sie meldeten den bevorstehenden Verkauf an den Schlumberger Konzern bereits am 8. November 1990, nachdem der Vorstand der Prakla-Seismos AG am Vortage eine entsprechende Verlautbarung herausgegeben hatte. ({2}) Auch kein Verständnis habe ich für die Informationspolitik der Bundesregierung gegenüber den Beschäftigten und den Aufsichtsratsmitgliedern des Unternehmens. Laut Bericht der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" vom 30. November 1990 hat beispielsweise Ministerialdirigent Kurt Lauenstein, der das niedersächsische Finanzministerium im Aufsichtsrat vertritt, von dem geplanten Verkauf erst aus der Zeitung erfahren. Betriebsrat und auch Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat wurden gleichfalls erst informiert, als die Verhandlungen bereits vor dem Abschluß standen. Eine solche Informationspolitik nach Gutsherrenart ist mit der besonderen Verantwortung des Bundes bei der Wahrnehmung unternehmerischer Aufgaben nicht zu vereinbaren. ({3}) Fragwürdig ist meines Erachtens nicht nur die Vorgehensweise der Bundesregierung bei der Privatisierung der Prakla-Seismos AG, sondern auch der Verkauf an einen ausländischen Konkurrenten des Unternehmens. Das „wichtige Interesse des Bundes" nach § 65 Bundeshaushaltsordnung an der Beteiligung an der Prakla-Seismos AG ist keinesfalls entfallen. Eine gesicherte Rohstoffversorgung ist für die deutsche Wirtschaft angesichts der weitgehenden Abhängigkeit von ausländischen Vorkommen nach wie vor unverzichtb ar. Die Prakla-Seismos AG hat in den vergangenen Jahrzehnten ganz wesentlich zur Versorgungssicherheit der Bundesrepublik mit mineralischen, vor allem aber mit Energierohstoffen beigetragen. Das Unternehmen ist in wesentlichen Bereichen der Lagerstättenerkundung und Bodenforschung Weltspitze und verfügt über ein hervorragendes internationales Renommee. Das Ansehen des Unternehmens und die erfolgreiche Verwendung in Deutschland hergestellter Geräte und Apparaturen haben zugleich in erheblichem Umfang zu der erfolgreichen Vermarktung deutscher Spitzentechnologie im Ausland beigetragen. Der vorgesehene Verkauf der Prakla-Seismos ist deshalb sowohl unter dem Gesichtspunkt der Rohstoffversorgung als auch aus industriepolitischer Sicht kontraproduktiv. Die Übergabe der unternehmerischen Führung an die US-amerikanische Schlumberger-Gruppe stellt meines Erachtens keinen Beitrag zum Fortbestand des Unternehmens in Hannover und zur Sicherung der dortigen Arbeitsplätze dar. Im Gegenteil: Die Erfahrungen mit derartigen Übernahmen lassen vielmehr eine vollständige Einpassung der Prakla-Seismos AG in die Konzernstrategie der Schlumberger-Gruppe und damit eine entscheidende Schwächung des Standortes Hannover mit der Ausgliederung und Schließung einzelner Unternehmensbereiche sowie der Vernichtung von Arbeitsplätzen erwarten. Die Ankündigung, der zufolge 231 der 1 700 Arbeitsplätze des Unternehmens mit der Übernahme durch Schlumberger zur Disposition stünden, hat bei der Prakla-Seismos AG und in der Stadt Hannover - wie ich meine zu Recht - große Unruhe hervorgerufen. Ein derartiger drastischer Abbau von Arbeitsplätzen ist mit der sozialpolitischen Verantwortung des Bundes, dem bisherigen Eigner des Unternehmens, nicht zu vereinbaren. Entlassungen allein können und dürfen kein Mittel nötiger und bisher versäumter Strukturanpassungen sein. Letztere dürfen zudem nicht einseitig auf dem Rücken derjenigen ausgetragen werden, die mit ihrer bisherigen Arbeit den hervorragenden Ruf dieses Unternehmens begründet haben. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, alles zu tun, um die Arbeitsplätze bei der Prakla-Seismos AG in Hannover zu sichern und die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen. Sofern Entlassungen unumgänglich sein sollten, müssen soziale Härten durch die Vereinbarung eines mit dem Betriebsrat des Unternehmens abgestimmten Sozialplans unbedingt vermieden werden. Ich hoffe, daß diese Unterschrift heute nachmittag tatsächlich getätigt worden ist. Bei den beabsichtigten Stellenstreichungen handelt es sich nahezu ausschließlich um Stellen der zentralen Bereiche und des Datenzentrums, also um dispositive Unternehmensfunktionen. Dies macht nur dann Sinn, wenn es das erklärte Ziel des neuen Eigners ist, ledig614 lich Einzelbereiche des bisherigen Unternehmens fortzuführen. Wir fordern demgegenüber von der Bundesregierung, sich mit ganzer Kraft dafür einzusetzen, den Standort Hannover und die bisherige Struktur des Unternehmens zu erhalten. Hannover ist mit der Prakla-Seismos AG, der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, dem Niedersächsischen Landesamt für Bodenforschung, den entsprechenden Instituten der Universität Hannover und den Unternehmen BEB Erdgas und Erdöl GmbH und der Preussag AG ein weltweit anerkannter und einzigartiger Standort im Bereich der geowissenschaftlichen Forschung und Unternehmenstätigkeit. Eine Aufgabe des Standorts Hannover durch die Prakla-Seismos AG wäre mit erheblichen strukturpolitischen Rückwirkungen verbunden und hätte notgedrungen eine Schwächung des Gesamtstandorts Hannover zur Folge. Meine Damen und Herren, der Bund trägt auch nach dem Verkauf von 51 % der Prakla-Aktien weiterhin unternehmerische Verantwortung in dem Unternehmen. Der Bundesfinanzminister muß deshalb im Interesse der Beschäftigten der Prakla-Seismos und der Landeshauptstadt Hannover unmißverständlich erklären, daß die Bundesregierung bereit ist, dieser Verantwortung auch weiterhin Rechnung zu tragen. Er muß dafür Sorge tragen, daß der Bund, wie ich bereits gefordert habe, Entlassungen bei der PraklaSeismos nur im Zusammenhang mit einem Sozialplan zustimmt. Er muß dafür sorgen, daß der Bund keinen Entscheidungen zustimmt, die die Funktion des Unternehmens und den Standort Hannover gefährden könnten. Er muß dafür sorgen, daß vor einem Verkauf der restlichen Bundesanteile an der Prakla-Seismos AG der neue Alleininhaber Garantien zur Sicherung des Standortes Hannover, der Arbeitsplätze, der Struktur und der Funktion des Unternehmens abgibt. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. Christa Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002001

Das Wort hat der Kollege Müller ({0}).

Hans Werner Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001550, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Frau Kollegin Vorrednerin, das, was Sie hier gesagt haben, war sehr nett vorgetragen. Es ist vielleicht Ihre Sicht der Dinge; sie ist Ihnen unbenommen, aber deswegen nicht unbedingt richtig. Ich will versuchen, dies einmal so darzustellen, wie es wirklich war. ({0}) Die Sache ist genau so abgeschlossen, wie es die rechtlichen Bestimmungen in der Bundeshaushaltsordnung vorsehen. ({1}) Die Bundesregierung verhält sich haargenau völlig korrekt nach § 65 Abs. 7 der Bundeshaushaltsordnung. ({2}) Ich will diese Vorschrift kurz zitieren: Soweit bei zwingenden Gründen eine Ausnahme geboten ist und die Zustimmung des Parlaments nicht hat eingeholt werden können, so sind Bundestag und Bundesrat alsbald von der Veräußerung zu unterrichten. Dies ist schlicht und ergreifend geschehen. Da der Fall, den wir debattieren, bereits Gegenstand einer Anfrage von Ihnen, Frau Kollegin, im Dezember gewesen ist, in der Sie das Ganze kritisch hinterfragt haben, möchte ich doch noch zwei Sätze zum Grundsatz sagen: Zum einen - da unterscheiden wir uns ganz sicherlich - soll sich nach unserer Auffassung der Staat in aller Regel nicht als Unternehmer betätigen. ({3}) Der Private macht es in nahezu allen Fällen wesentlich besser als der Staat. ({4}) Es gehört zu unseren ordnungspolitischen Maximen, daß sich der Staat auf seine Aufgaben beschränkt. Hier immer wieder den Eindruck zu erwecken, daß immer dann, wenn sich der Staat einer Sache bemächtigt, dies auch gleich eine Arbeitsplatzgarantie ist, ist schlicht und ergreifend falsch. Zum anderen haben wir in dieser bereits zitierten Bundeshaushaltsordnung eine Bestimmung, die sinngemäß lautet: Der Bund soll nur dann Beteiligungen halten, wenn ein wichtiges Bundesinteresse besteht. Dies bedeutet im Umkehrschluß: Besteht kein wichtiges Bundesinteresse, so hat sich der Bund von seiner Beteiligung zu trennen. Genau das ist in diesem Fall geschehen. Die Drucksache 12/73 beschreibt den Werdegang genau. Die Prakla betreibt seismische Exploration. Die weltweite Nachfrage nach solchen Explorationen wird durch den internationalen Wettbewerb voll befriedigt. Das dies so ist, ist unbestritten. Deswegen hat auch die Bundesrepublik Deutschland auf diesem Gebiet Versorgungssicherheit. Hinzu kommt: Die Prakla geht mit einem großen Explorationsunternehmen zusammen, das international tätig ist. Dies sichert die Wettbewerbsfähigkeit dieses Unternehmens. Die Bundesregierung hat den Aufsichtsrat nachweislich rechtzeitig unterrichtet. Noch am Tag der Kabinettsentscheidung wurde die Gesamtbelegschaft informiert, daß die Absicht bestehe, sich von Anteilen zu trennen. Ich bin als Berichterstatter im Einzelplan 08, im Haushaltsausschuß, genauso rechtzeitig schriftlich informiert worden. Es gehört zu den Usancen in unserem Ausschuß, daß sich die Berichterstatter, wenn sie keine Einwände haben, auch nicht melden. Der Kollege Berichterstatter aus Ihrer Fraktion hat sich in dieser Frage mit mir überhaupt nicht in Verbindung gesetzt, so daß das also nach den Gepflogenheiten unseres Ausschusses so lief. Hier daraus einen Vorwurf zu konstruieren ist schlicht und ergreifend falsch. Mit dem Erwerber konnte man bis Ende 1990 handelseinig werden. Damit lag der Abschluß im Interesse des Bundes. Wir hatten, wie wir alle wissen, am Müller ({5}) 2. Dezember Bundestagswahl. Es war nicht möglich, die Einwilligung des Parlamentes rechtzeitig einzuholen. ({6}) Der Abschluß war auch vor folgendem Hintergrund geboten, worauf bereits der Herr Staatssekretär hingewiesen hat: Wir haben von 1986 bis 1989 in dieses Unternehmen immerhin 62 Millionen DM aus der Staatskasse hineingepumpt. Auch in den Folgejahren wäre eine Menge Staatsgelder fällig gewesen. Wenn man das in Rechnung stellt, ist der Verkaufserlös, der in seiner ersten Tranche eben genannt worden ist, doch sehr beachtlich. Ein allerletztes Wort zur Belegschaft: Es ist so, daß die Prakla 1 700 Leute beschäftigt. Davon sollen jetzt etwa 230 sozialverträglich entlassen werden; das hat der Erwerber zugesagt. Auch eine weiter existierende, sich voll im Staatsbesitz befindende Prakla hätte in beachtlichem Umfang Arbeitsplätze abbauen müssen. So meine ich, daß es den Arbeitnehmern hilft, sich an eine finanzstarke Gruppe anzuschließen. Mit einem Wort: Hier ist nichts zu kritisieren. Wir begrüßen die von der Bundesregierung getroffene Entscheidung. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Christa Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002001

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Briefs. ({0})

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist gelegentlich offensichtlich Pflicht der Haushälter in diesem Parlament, sich mit sehr beschränkten punktuellen Maßnahmen der Wirtschaftspolitik der Regierung zu befassen. Dazu gehört die zur Debatte stehende Veräußerung der Aktienmehrheit der Prakla-Seismos AG. Als wirtschaftlicher Vorgang ist der Verkauf sicherlich nicht sonderlich bedeutsam, also vom Volumen und vom Verfahren her. Es wird ja auch nur um nachträgliche Genehmigung des Parlaments nachgesucht. Es geht allerdings auch hier um Arbeitsplatzverluste. Ein Sozialplan ist gut. Er kann aber kein Ersatz für sichere Arbeitsplätze sein. Es wäre Aufgabe der Bundesregierung gewesen, ein beschäftigungssicherndes Konzept für die Prakla-Seismos AG zu entwickeln. Im Kleinen fehlt es hier daran wie im Großen in den östlichen Bundesländern. Der Verkauf von 51 % der Aktien der Prakla-Seismos AG an den internationalen Technologiekonzern Schlumberger - die restlichen 49 % werden spätestens am 1. Januar 1993 ebenfalls von Schlumberger, erworben - gibt Gelegenheit, etwas zur fehlenden Industriepolitik und zur konzeptionslosen Wirtschaftspolitik der Bundesregierung zu sagen und Fragen aufzuwerfen. Erster Fragenkomplex: Hat die Bundesregierung geprüft, inwieweit die Aufrechterhaltung des öffentlichen Eigentums an der Prakla-Seismos AG vom Produktionsprogramm und vom technologischen Knowhow her geradezu geboten wäre? ({0}) Wäre es nicht an der Zeit, die Bundesregierung würde ein zukunftsorientiertes Technologie- und Strukturkonzept vor allem nach Kriterien der Sozial- und Umweltverträglichkeit entwickeln und in diesem Zusammenhang dann auch Lösungen für solche Fälle wie bei der Prakla-Seismos FAG ansteuern? Zweiter Fragenkomplex: Warum die Veräußerung an einen internationalen Technologiekonzern, der sich im Rahmen seiner Entscheidung wie andere internationale Konzerne prinzipiell der politischen Transparenz und, wenn nötig, auch Kontrolle entziehen kann? Gab es wirklich keine andere Möglichkeit, die Produktions- und Entwicklungskapazitäten dieses Unternehmens in einen neuen ökonomischen Dispositionsverbund einzubringen, der zugleich die politischen Kontrollmöglichkeiten erhalten und eine kostenmäßige Sanierung erlaubt hätte? Dritter Fragenkomplex: Stellt sich angesichts der Bedeutung der Explorationstechnik für die ökologischen Bedingungen nicht schon von daher die Aufgabe, diese Produktionsbereiche und die Arbeitsplätze in öffentlichem Eigentum und in der BRD zu erhalten? Dahinter taucht noch ein ganz anderes Problem auf: ob es nicht geradezu Aufgabe einer sozial- und umweltverantwortlichen Wirtschaftspolitik sein muß, auch die Entwicklung einer vorwärtsweisenden industriepolitischen Konzeption, insbesondere mit Kriterien der Sozial- und Umweltverträglichkeit, allgemein zu realisieren und auch die Aufrechterhaltung einer Vielfalt von Eigentumsformen zu garantieren, also privatwirtschaftliches Eigentum, öffentliches Eigentum, insbesondere kommunales Eigentum, Genossenschaftseigentum, gegebenenfalls spezifische Eigentumsformen, z. B. von Alternativbetrieben, ökologisch besonders zu schützendes Eigentum usw.? Ich denke, diese Differenzierungen und auch die praktische Realisierung solcher Differenzierungen sollten im Zusammenhang mit den hier angesprochenen Strukturfragen umgesetzt werden. Es darf nicht, wie das jetzt geschieht, holterdiepolter und noch dazu mit dem Verlust von 230 Arbeitsplätzen - davon sind immerhin etwa tausend Menschen betroffen - ökonomisch und technologiepolitisch in der Landschaft herumgeholzt werden. ({1})

Dr. Christa Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002001

Das Wort hat der Kollege Zywietz.

Werner Zywietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002612, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ein Bundesunternehmen verkauft wird, hat man zumindest drei Dinge zu prüfen: erstens ob es entbehrlich ist, zweitens ob der Preis stimmt und drittens ob das Verfahren eingehalten wird. Ich stelle nach all dem, was ich hier gehört habe und was ich gerne versucht habe nachzuvollziehen, fest: Die Sicherheit und die Wohlfahrt unserer schönen Republik sind nicht gefährdet oder geschädigt durch den Verkauf dieses Unternehmens. ({0}) Das ist die schlichte Feststellung. Die Entbehrlichkeit ist gegeben. Es wäre vielleicht anders, wenn wir ein seismisches Unternehmen verkauften, das geeignet wäre, politische Lagerstätten zu erschließen. Das könnte etwas bedenklicher sein. Aber hier geht es um die Erschließung von Rohstofflagerstätten. Kollegin Bulmahn, ich habe Ihren sehr intensiven Schriftverkehr mit dem Ministerium und Ihre Fragen nachvollzogen. Sie haben Zweifel an der Entbehrlichkeit geäußert. Vielleicht kann ich Sie auch ein wenig nachdenklich machen. Mit diesen Worten haben Sie, wenn ich mich recht erinnere, heute schon eine Rede beendet. Vielleicht kann ich Ihnen Argumente liefern und insofern ein wenig Nachdenklichkeit erzeugen. Die Tatsache, daß Sie in der Lage sind, Lagerstätten aufzusuchen, gibt Ihnen noch lange keine Versorgungssicherheit. Dazu gehört mehr. Wenn Sie wissen, wo Geld ist, gehört es Ihnen noch nicht. Wenn Sie wissen, wo Kohle, Öl oder Gas sind, gehört Ihnen das auch noch nicht. Die Sicherheit der bundesdeutschen Bevölkerung ist durch diese Fähigkeit keineswegs gesichert. So verhält es sich auch hier. Wenn Sie weltweit in der Exploration tätig sind, haben Sie noch keine Ausbeutungsrechte und damit keine Versorgungssicherheit. Diese Explorationsfähigkeit bleibt im Grunde erhalten, wenn dieses Unternehmen vom Eigentümer Bund zum Eigentümer Schlumberger Unternehmensgruppe überführt wird. ({1}) Ich stelle also schlichtweg fest: Hier ist die Entbehrlichkeit gegeben. Zweitens könnte man Preisüberlegungen anstellen. Was ist dazu zu sagen? Wenn man verkauft - keiner will einen Notverkauf -, überprüft man: Wie ist der Substanzwert, und wie sind die Ertragsaussichten des Unternehmens, das man zum Verkauf anbietet? Über die Ertragsaussichten haben wir gehört, daß in der Zeit von 1986 bis heute etwa 62 Millionen DM Steuergeld in dieses Unternehmen hineingegeben worden ist. Diese Summe würde mit großer Wahrscheinlichkeit noch höher werden, wenn der Bund noch für ein, zwei oder drei Jahre Eigentümer des Unternehmens bliebe. Das macht also keinen Sinn. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Ich meine sogar: Hätte man das Unternehmen, wie geplant, bereits 1986 veräußert, wäre es besser gewesen. Hätte man mit etwas mehr Mut diese Entscheidung getroffen, wäre es garantiert richtig gewesen. Ich möchte von diesem Einzelfall ausgehend für andere Privatisierungsfälle sagen: Mehr Mut bei der Privatisierung zahlt sich in der Regel aus. Zu warten, daß die Situation besser wird, hat sich nur selten bewährt. Wir haben hier Geld hinterhergereicht und verkaufen nun doch, weil der Bund diesen Service als alleiniger Eigentümer nicht benötigt und weil die Verkaufschancen nicht besser werden. Nun könnten Sie zu Recht fragen: Warum kauft jemand ein solches Unternehmen, das nicht mehr zu 100 % im Besitz des Eigentümers Bund sinnvoll verbleiben soll? Er kauft es, weil er eine andere Unternehmensstruktur hat. Schlumberger - ich bin in dieser Branche beruflich tätig gewesen - ist weltweit tätig, exploriert für Shell, Esso, BP und was weiß ich rund um den schönen großen Globus. In ein solches Unternehmen paßt das Know-how und der Service dieser 1 500 Mann viel besser hinein. Die haben noch andere Betätigungsfelder, andere Aufträge für dieses Personal, die ihnen der Eigentümer Bund nicht bieten kann. Vielleicht wird Sie ein wenig nachdenklich machen, daß gerade der Verkauf an eine technologisch und finanziell leistungsfähige Unternehmensgruppe die Zukunftsaussichten und die Arbeitsplatzsicherheit in der Grundlinie und in der Perspektive sichern helfen, ({2}) die der Eigentümer Bund nicht eröffnen kann. ({3}) - Ich kann Ihnen nicht jeden einzelnen Arbeitsplatz garantieren, aber die Perspektive ist garantiert besser in einer internationalen Konzernstruktur und nicht in dem Bereich des alleinigen Eigentümers Bund eingebettet. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Frau Bulmahn, Sie haben das Wort.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben erwähnt, daß Sie sich in der Branche auskennen. ({0}) - Dann werden Sie sicherlich auch wissen, daß die Schlumberger-Gruppe nach dem Aufkauf eines ähnlichen Unternehmens in Norwegen dieses Unternehmen in sehr kurzer Zeit mehr oder minder aufgelöst hat; dieses Unternehmen in Norwegen ist auch nicht das einzige Unternehmen gewesen. Woher nehmen Sie Ihre Hoffnung, daß dieser Kauf nicht dazu führen wird, daß eben doch sehr große Teile der Prakla-Seismos AG in Hannover über kurz oder lang aufgelöst werden und daß es nicht bei der Entlassung von 217 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bleibt?

Werner Zywietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002612, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, vielen Dank. Ich wiederhole: Man kann keine Arbeitsplatzgarantie für jeden Mitarbeiter oder für eine spezielle Gruppe von Mitarbeitern geben. Aber vielleicht können Sie nachvollziehen, daß es für ein Unternehmen keinen Sinn macht, 70 Millionen DM aufzuwenden, um den Laden anschließend abzuschließen und die Leute ohne Beschäftigung zu lassen. Sie kaufen das Know-how der Leute und deren Arbeitskraft, um sie in ihrer neuen Struktur und den Kunden gegenüber, die bereits vorhanden sind, oder neuen Kunden gegenüber sinnvoll einzusetzen. Das ist doch die Absicht, die den Preis von 70 Millionen DM rechtfertigen kann. Das heißt schlichtweg: in der Tendenz Beschäftigungsgarantie; in der Tendenz, nicht für jeden einzelnen. ({0}) Der Bund ist nicht der beste Arbeitgeber. Ich möchte Ihnen dafür gern Argumente zur Verwendung in Ihrem Wahlkreis geben, denn ich schätze die Intensität, mit der Sie hier für Ihren Wahlkreis kämpfen. Nur sollten Sie nicht der Versuchung erliegen, zu glauben, daß Sie hier sozusagen die großen Gründe für die Wohlfahrt und die Sicherheit des Staates Bundesrepublik Deutschland in Anspruch nehmen müßten, um in Ihrem Wahlkreis gute Argumente zu haben. Das ist schlichtweg nicht gegeben. Die Bundesrepublik wird keinen Schaden erleiden, wenn dieses Unternehmen für 70 Millionen DM an die SchlumbergerCooperation veräußert wird. Das ist der schlichte Tatbestand. Der Zeitablauf ist auch ein wenig dadurch begründet, daß die Tatsache des Preises von 70 Millionen DM aus der Sicht des Verkäufers kein schlechter Deal ist, denn Preise setzen sich zusammen aus dem Versuch, die Substanz, d. h. Gebäude, Grundstücke, Maschinen zu bewerten, und dem Versuch, die Ertragschancen zu bewerten, d. h.: Was kann ich im nächsten Jahr, im übernächsten Jahr, in zehn Jahren mit einem Unternehmen, das ich zu kaufen beabsichtige, verdienen? Aus beiden Elementen ergibt sich der Preis. Hier ist nachweislich gesagt worden, daß das Unternehmen vier Jahre lang in der Verlustzone war. Das heißt, daß die Ertragssituation so toll nicht aussieht. Dennoch gibt es Sinn, weil man Know-how einkauft und international die Sinnhaftigkeit des Gekauften einen anderen Stellenwert hat. ({1}) Ich bin auch offen genug, um Ihnen gegenüber zuzugeben: Der internationale Konzern hat auch steuerliche Vorteile, die beim Eigentümer Bund nicht gegeben sind. Der Bund kann keinen Verlustausgleich zwischen guten und schlechten Erträgen im geschäftlichen Sinne vornehmen. In der Wirtschaft ist das nach unserem Steuerrecht durchaus üblich. Das heißt: Es macht schon einen gewissen Sinn, daß jemand ein Unternehmen kauft, das im Augenblick vor Rentierlichkeit nicht gerade strotzt. Das ist kein Widerspruch. Was schlußendlich das Verfahren anbelangt: Nun gut, ein Überrraschungscoup war es ja wohl nicht, denn laut Privatisierungskonzept und gemäß der Liste der zu privatisierenden Unternehmen ist das ja seit 1986 bekannt. Das ist hier ja gesagt worden. ({2}) Jeder, der lesen konnte, konnte ja nachlesen, daß sich die Verkaufsverhandlungen zum Schluß ein wenig beschleunigt haben; das ist wohl wahr. Man hat in Grenzen versucht, auch den parlamentarischen Informations- und Zustimmungspflichten gerecht zu werden. Das ist nicht ganz optimal gelaufen. Aber immerhin weiß ich das Bemühen, die Obleute zu informieren, zu schätzen. Ich würde zwar nicht die Note eins geben, aber man muß mit dem Daumen auch nicht nach unten zeigen. Von der Entbehrlichkeit und von den Preisverhandlungen her - das ist das Wichtige - sind die Argumente voll auf unserer Seite. Auch sind die Verfahrensmängel nicht sonderlich groß. Verehrte Kollegen, wenn Sie diese guten Argumente im Wahlkreis Hannover und insbesondere denen, die sich an Sie gewandt haben, mitteilen, dann, glaube ich, werden Sie in Zukunft gute Karten haben. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlage auf Drucksache 12/73 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Meine Damen und Herren, wir kommen zum Zusatztagesordnungspunkt 3: Beratung des Antrags der Abgeordneten Johannes Gerster ({0}), Wolfgang Zeitlmann, Dr. Paul Laufs, Meinrad Belle, Dr. Josef-Theodor Blank, Dr. Heribert Blens, Monika Brudlewsky, Hartmut Büttner ({1}), Joachim Clemens, Günter Klein ({2}), Hartmut Koschyk, Franz Heinrich Krey, Dr. Rolf Olderog, Dr. Peter Paul Paziorek, Otto Regenspurger, Dr. Andreas Schockenhoff, Werner Skowron, Erika Steinbach-Hermann, Michael Stubgen, Dr. Roswitha Wisniewski, Dr. Alfred Dregger, Dr. Wolfgang Bötsch und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch, Dr. Jürgen Schieder, Heinz-Dieter Hackel, Wolfgang Lüder, Hans-Joachim Otto ({3}), Manfred Richter ({4}), Gerhart Rudolf Baum, Dr. Hermann Otto Solms und der Fraktion der FDP Auf- und Ausbau der öffentlichen Verwaltung und der Justiz in den neuen Bundesländern - Drucksache 12/162 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({5}) Rechtsausschuß Haushaltsausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gerster von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. h. c. Johannes Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer schnell hilft, hilft doppelt, wer langsam hilft, zahlt doppelt. ({0}) Ich möchte das Thema, das wir hier erörtern, unter diesen Vorspann stellen, denn in der Tat ist es dringend notwendig, daß wir alle Anstrengungen unternehmen, um zu funktionsfähigen Verwaltungen, die Gerster ({1}) nach rechtsstaatlichen Grundsätzen unser bundesdeutsches Recht auch anwenden können, in den fünf neuen Bundesländern zu kommen. Es war in den letzten Tagen sehr viel zu diesem Thema zu hören. Ich bin dem Bundesinnenminister dankbar, daß er selbst und seine Mitarbeiter unsere Initiative unterstützen, die ein erster Impuls ist. Wir möchten mit dem Zehn-Punkte-Programm, das man noch ergänzen, verbessern und intensivieren kann, gewissermaßen nur einen Stein ins Wasser werfen, der dann möglichst viele effektive Kreise ziehen soll. Ich bin auch Ihnen, Herr Justizminister Kinkel, sehr dankbar, weil Sie nach Ihrer Reise nach Sachsen und in andere Regionen, die einen sehr nachhaltigen Eindruck auf Sie hatte, gewissermaßen heißgelaufen sind und Sie dieses Thema mit erörtern. Dieses Thema betrifft aber nicht nur die Richter. ({2}) - Schönen Dank für den Beifall, Herr Hitschler. Die Rheinland-Pfälzer sind gut im Klatschen. Sie können mir gleich auch einmal Beifall klatschen. Ich will einige Zahlen an den Anfang stellen. Da völlig falsche Eindrücke entstehen, will ich zunächst einmal eine Zahl nennen. Ich hatte gerade ein Gespräch mit dem sächsischen Finanzminister Professor Milbradt. Er sagte mir, daß bisher überhaupt erst 0,9 Promille der bundesdeutschen Richter bereit seien, dort hinzugehen. Von 1 000 Richtern im Westen ist das nicht einmal einer. Ich will dazu eine andere Zahl nennen: Ich glaube, wenn wir nicht nur die Juristen für die Gerichte und die Verwaltung zusammenzählen, sondern auch das juristisch geschulte Personal wie Rechtspfleger und andere einbeziehen, die ebenfalls eine juristische Vorbildung haben, dann brauchen wir mindestens 30 000 Personen aus diesem Ausbildungsfeld, die relativ kurzfristig helfen müssen, dort die Verwaltung aufzubauen. Ich möchte in aller Deutlichkeit auch sagen, daß sich unsere Bürger in den neuen Bundesländern auch nicht von der PDS, die da von Besatzermentalität redet, verunsichern lassen sollten. Wenn es nämlich einen Lebensbereich gibt, in dem die Bürger der fünf neuen Bundesländer die sachverständige Hilfe aus dem Westen brauchen, dann ist dies der gesamte Bereich der Juristerei. Deshalb muß in diesem Bereich auch einiges geschehen. Natürlich will die PDS ihre alten Seilschaften halten, die ja nach dem Motto „blockieren statt motivieren" noch in den Verwaltungen tätig sind. Diese sind natürlich am wenigsten geeignet, rechtsstaatliche Grundsätze und Gesetze durchzusetzen. ({3}) - Wir wissen das sehr genau, weil wir sehr wohl wie die Menschen in den fünf neuen Bundesländern wissen, welchen Unrechtsstaat Sie in 40 Jahren praktiziert haben und welche Wunden Sie den Menschen zugefügt haben. Sie haben noch nicht einmal ein Verwaltungsgerichtsverfahren zugelassen, d. h. der Staatsakt war rechtsgültig, und der Bürger hatte keinerlei Gelegenheit, sich dagegen zu wenden. ({4}) Gehen Sie in Klausur, gehen Sie in Exerzitien, und lernen Sie noch Rechtsstaat und machen Sie dann Zwischenrufe. ({5}) Wir brauchen geeignete Bürger, die bereit sind, dort hinzugehen. Dabei ist ganz klar, daß in diesem Bereich unkonventionelle Methoden ergriffen werden müssen. Wir können hier nicht mit den alten, hergebrachten Methoden, die bei uns noch funktionieren, weil wir ein eingespieltes Rechtssystem haben, arbeiten. Wir müssen zu unkonventionellen Methoden greifen. Ich will ein Beispiel sagen, das ich mit meiner eigenen Heimatstadt zu praktizieren versuche und das nicht die Justiz betrifft: Ich bin der Meinung, daß eine Stadt wie Mainz, die eine Partnerschaft mit Erfurt hat, ohne Not in der Lage sein muß - ich nenne eine Zahl - , bei 3 500 Beschäftigten unmittelbar in der Verwaltung, ohne die Stadtwerke, 300 öffentlich Bedienstete im Austausch gegen Bedienstete aus Erfurt für Monate einzusetzen. Oft stehen sich im Westen die Schreibtische in den Büros gegenüber. Da muß im Ordnungsamt, im Sozialamt, im Gesundheitsamt, im Liegenschaftsamt und im Bauamt einer von drüben mitarbeiten. Es wird dadurch manches Verfahren bei uns ein bißchen langsamer; aber davon gehen wir nicht kaputt. Derselbe Mitarbeiter, der den Platz in Mainz freigemacht hat, muß in Erfurt das gleiche tun, muß helfen, die Dinge anzukurbeln, ({6}) wobei es drüben sehr oft - das sage ich nicht in altväterlicher Manier - wirklich an ganz einfachen Dingen fehlt. Ich will hier noch eine Zahl nennen: Der Bund hatte im letzten Jahr 10 Millionen DM zur Verfügung gestellt, um Bedienstete aus dem Westen im Osten tätig sein zu lassen und um dies zu finanzieren. Es sind von den 10 Millionen DM im letzten Jahr 27 000 DM abgerufen worden. Ich behaupte, nicht weil drüben der gute Wille fehlt, Leute zu holen, sondern weil einfach der Mitarbeiter gefehlt hat, der die Anträge richtig ausfüllt und richtig auf den Weg bekommt. Jetzt haben wir, wie Sie wissen, bedeutend mehr Mittel zur Verfügung gestellt. Hier fehlt es also gewissermaßen an allem. Wir brauchen, wenn Sie so wollen, zwei Schwerpunkte. Wir müssen - das ist mit dem Zehn-PunktePlan versucht - geschultes Personal für die Verwaltungen und Gerichte drüben bekommen. Es müssen eigene Ausbildungseinrichtungen aufgebaut werden. Wir brauchen Fachhochschulen und viele andere Dinge mehr. Das ist also der Bereich der Ausbildung. Wenn man weiß, daß ein Fachhochschulabsolvent drei Jahre studieren muß und daß ein Jurist, der an der Hochschule studiert hat, bis zu acht Jahren braucht, dann sieht man, daß das mittel- und langfristige Maßnahmen sind, die kurzfristig gar nicht wirken können. Deswegen der Austausch und die Spontanaktionen, die notwendig sind. Gerster ({7}) Aber, meine Damen, meine Herren, weil die Ausbildung nun einmal so lange dauert und sie sehr kompliziert ist, gerade wenn man Rechts- und Staatswissenschaften studiert, müssen wir Anreize schaffen. Das heißt, wir müssen Bedienstete, Beamte und Angestellte, aus dem Westen ermuntern, für drei, vier Jahre hinüberzugehen, um sofort anzupacken. Ich möchte in aller Deutlichkeit sagen: Man kann natürlich überlegen, ob man Zwangsversetzungen vornimmt. Nur habe ich den Eindruck: Es gibt drüben genug unmotivierte Bedienstete. Diese sollten wir nicht durch unmotivierte Bedienstete aus dem Westen, die gar nicht dort hinüber wollen, ergänzen. ({8}) Wir brauchen vielmehr Leute, die auf eine Pionieraufgabe wirklich brennen. Es ist auch nicht der 60jährige, der ausschließlich hinüber soll, so wichtig es auch ist, diese Möglichkeit zu bieten; auch dies ist denkbar. Nur, mit Pensionären bekommen wir keine 30 000 Mann hinüber. Es hat auch keinen Sinn, daß wir den Dienstanfänger, den Assessor oder den Regierungsrat z. A., hinüberschicken. Es muß der 30-, 35jährige hinüber, der den Marschallstab im Tornister und Verwaltungserfahrung hat, aber noch brennt, weil er etwas werden will. Deswegen wollen wir, daß er zu Beginn dieser Aktion befördert wird. Wenn er nach drei Jahren erfolgreicher Tätigkeit zurückkommt, wird er noch einmal befördert. ({9}) Der, der im Westen verharrt, sitzen bleibt und nicht den Mut hat, in die DDR zu gehen, wird eben nicht befördert. Ich brauche also noch nicht einmal mehr Planstellen. Das heißt, drüben aufbauen und mitwirken werden belohnt und nicht bestraft. Meine Damen, meine Herren, machen wir uns doch nichts vor - wir kennen doch Verwaltungen - : Wenn einer drei, vier Jahre aus seiner Heimatverwaltung heraus ist - aus den Augen, aus dem Sinn - , werden sämtliche Beförderungen von denen vorbereitet, die in der Verwaltung sind und nicht draußen. Ich sage das jetzt bewußt, verstehen Sie das nicht falsch. Wer draußen unter Inkaufnahme großer Opfer an der Front kämpft, der ist vergessen. Ich wollte das Wort vom „Frontschwein" nicht gebrauchen, ({10}) weil ich die Leute nicht herunterspielen will, Herr Kollege. Deswegen sage ich das natürlich nicht. Aber das ist damit gemeint. Das heißt, wer drüben wirklich an der Front arbeitet und mehr einsetzt, wer Trennung von der Familie und einen Umzug in Kauf nimmt, muß derjenige sein, der belohnt und tatsächlich in die Lage versetzt wird, seine eigene Karriere zu planen. Wenn ich mir vorstelle, daß wir in Nordrhein-Westfalen noch in den 60er Jahren bei einem Lehrernotstand mit „Mikätzchen" gearbeitet haben, um ein weiteres Stichwort zu nennen ({11}) - immerhin erfolgreich - , dann zeigt das, daß selbst die relativ etablierte Bundesrepublik Deutschland nach 20 Jahren in der Lage war, Unkonventionelles zu machen. Also müssen wir hier doch erst recht unkonventionelle Mittel ergreifen. Deswegen, Herr Staatssekretär Waffenschmidt und Herr Justizminister Kinkel, verstehen wir uns, die Koalitionsfraktionen, hier ein bißchen als Motor, als Unruheherd, um etwas Bewegung in die sehr rechtsstaatlich denkenden Gehirne sehr ordentlicher Beamter hineinzubringen, ({12}) die vor lauter Bedenken schon wieder die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Da soll es ja Bedenken- und Hosenträger geben. Hier brauchen wir wirklich neue Methoden. Wir müssen aus den alten Bahnen heraus, müssen diese Aufgabe sehen und gemeinsam anpacken. Allerletzte Bemerkung! Natürlich darf auch nicht der Appell an alle die fehlen, die in den öffentlichen Verwaltungen sind, sich zu überlegen, ob es nicht wirklich eine reizvolle Aufgabe ist, drüben anzupakken. Wir rufen dazu auf: Macht es, versucht es! Sie kriegen über die gesetzliche Schiene eine Reihe von Möglichkeiten und Mitteln, wobei ganz klar ist - das soll jeder auch wissen -, daß er nicht nur keine finanziellen Nachteile erleidet, wenn er hinübergeht, sondern daß wir dafür sorgen werden, daß natürlich Schritt für Schritt drüben das westliche Gehaltsniveau eingeführt wird. Die erste Verordnung vom Innenminister ist heraus; auch die zweite ist heraus. Es gibt jetzt schon 49 %, nicht 35 %, für Leute, die drüben arbeiten. Das muß man wissen und sagen. Natürlich kommen die auch auf 100 %, und natürlich können sie da auch ein Stück Lebensplanung machen und sich weiterentwickeln. Meine herzliche Bitte ist, daß wir hier unbefangen, unverkrampft und unkonventionell an die Lösung des Problems herangehen und aus den sehr eingefahrenen, ängstlichen Bahnen herauskommen. Wenn wir von den Menschen, die hinübergehen, Pioniergeist verlangen, können wir auch an uns selber die Forderung stellen, diese Aufgabe mit etwas mehr Pioniergeist unkonventionell zu lösen. Die Lebensqualität in Deutschland wird davon abhängigen, wie schnell wir drüben - übrigens auch im Interesse einer aufblühenden Wirtschaft - vernünftige Verwaltungen hinbekommen und ein vernünftiges Leben ermöglichen. Letzten Endes wird auch das Leben im Westen davon bestimmt, wie es den Menschen drüben in den neuen Bundesländern geht. Es ist wie beim Rennrudern. Wenn da beim Achter einer ausfällt, ist kein Rennen zu gewinnen. Wenn drüben ein Bundesland ausfällt, können wir insgesamt nicht gewinnen. Es liegt also in unserem ureigenen Interesse, dafür zu sorgen, daß wir drüben eine gute Verwaltung hinbekommen. Da ein bißchen Dampf zu machen und unsere Ministerien ein bißchen auf Trab zu bringen ist Sinn dieses ZehnPunkte-Plans. Ich sage Ihnen, meine Herren von der Bundesregierung: Macht schnell, sonst kriegt ihr Krach, und wenn das gemacht ist, langt es noch nicht einmal, das nächste Programm kommt gleich anschließend. Gerster ({13}) Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Das Wort hat nunmehr der Abgeordneten Schwanitz, SPD-Fraktion.

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kollege Gerster, Sie bezeichnen das, was hier heute zur Diskussion steht, als einen Impuls. Damit, nehme ich an, spielen Sie auf die Unvollständigkeit dieser Vorlage an. Dem kann ich nur zustimmen. Ich glaube, wir werden darauf heute noch zurückommen. Dieser Antrag, der sich mit der Unterstützung der öffentlichen Verwaltung und der Justiz beschäftigt - zum Problembereich Justiz wird mein Fraktionskollege Hans de With nachher noch einige Ausführungen machen - , soll von mir natürlich nicht nur eine inhaltliche Bewertung erfahren, sondern für mich als einen Abgeordneten, der aus den neuen Bundesländern kommt, natürlich auch Anlaß sein, einen Rückblick und eine kurze Zustandsbeschreibung des öffentlichen Dienstes in den neuen Bundesländern vorzunehmen. Bereits am 10. September 1990 war vom Sprecher der Bundesregierung, Dieter Vogel, zu hören - ich zitiere - : „Bund und Länder wissen, daß die DDR eine erhebliche personelle Unterstützung sowohl in den neuen Ländern wie bei den Kreis- und Gemeindeverwaltungen erwartet. Sie sind zu diesen personellen Anstrengungen bereit." Meine Damen und Herren, das waren tatsächlich ermutigende Äußerungen. Aber was hat sich in den Kreis- und Gemeindebehörden tatsächlich abgespielt? Was wurde hier tatsächlich an Unterstützung gewährt? Das blieb in der Tat hinter den Erwartungen zurück. ({0}) Dabei geht es in dem, was hier zur Diskussion steht, nicht in erster Linie um die Übergangsregelungen für die Umstrukturierungen laut Einigungsvertrag. Es geht mir nicht in erster Linie um das Problem Warteschleife, also um die Frage: Was wird mit den Beschäftigten aus den zentralen und ehemals bezirklichen Behörden? Es geht nicht um das Problem der Wartegeldregelung, die ist ja letztendlich umstritten genug. Es geht auch nicht um die besonderen Regelungen zur ordentlichen und außerordentlichen Kündigung. Wir und insbesondere die Bürger der DDR, die letztendlich vor den Kommunen als erste demonstrierten, wissen, daß die Effizienz der öffentlichen Verwaltung nicht durch die Übernahme jener zentralistischen Verwaltungsstruktur erreicht werden kann. Vielmehr geht es darum, in welcher Art und Weise diese Instrumentarien genutzt worden sind. Es geht darum, wie die hoffnungsvoll stimmende Absicht der Bundesregierung und der Altbundesländer in die Tat umgesetzt worden sind. Ich glaube, wir müssen uns darüber im klaren sein, daß die Probleme bis zum heutigen Zeitpunkt noch nicht vollständig sichtbar sind. ({1}) Die Anzahl jener, die sich in der Warteschleife befinden, liegt bereits bei über 100 000. Wenn keine Weiterverwendung erfolgt - so nach den entsprechenden Übergangsregelungen - , endet deren Arbeitsverhältnis nach Fristablauf von sechs bzw. neun Monaten automatisch. Es steht eine Beendigungswelle vor uns, die sukzessive ab dem 3. April dieses Jahres auf uns zukommen wird. Dabei interessiert uns schon, von der Bundesregierung zu hören, was aus jenen hehren Aufgaben und Absichten der Clearingstelle geworden ist, beispielsweise die Abstimmungs-, Qualifizierungs- und Weitervermittlungsmaßnahmen mit der Arbeitsverwaltung zu organisieren oder die Abstimmung der Verwaltungshilfe des Bundes und der Länder beim Aufbau der Landesverwaltungen zu betreiben. Hier haben wir natürlich einen wesentlich größeren Wissensdurst als die CDU/CSU- und die FDP-Fraktion. Aber die Warteschleifenproblematik - dieses Umstrukturieren der Bund- und Länderbehörden - ist natürlich nur die eine Seite. Die andere Seite - und zu der möchte ich auch noch ein paar Worte verlieren - betrifft die Umschichtungsprozesse, die sich im kommunalen Bereich selbst vollziehen. Aus meiner Heimatstadt Plauen im Vogtland, einer kreisfreien Stadt von mittlerweile 78 000 Einwohnern, mit einem Verwaltungspotential - und hier konzentriere ich mich einmal bloß auf das, was unmittelbar im Rathausbereich anzuordnen ist - von 250 Beschäftigten, hat sich in der Tat nicht allzuviel getan. Außer einem Dezernenten, der - das will ich an dieser Stelle durchaus einmal sagen - wirklich Pionierarbeit leistet, ist nur eine sporadische Unterstützung aus den Altbundesländern zu beobachten. Den personellen Umfang kann man an einer Hand abzählen. Es gibt große Rechtsunsicherheit. Es gibt einen Stau an nicht getroffenen Verwaltungsentscheidungen. Dies ist ein Hemmnis, nicht zuletzt für die kommunale Wirtschaftsentwicklung. ({2}) In Plauen stehen 8 000 Anträge auf Rückübertragung von Vermögenswerten auf der Tagesordnung. Von diesen Anträgen ist bisher nur ein einziger entschieden worden. Bisher werden die Anträge lediglich angearbeitet, Gespräche werden geführt, und grundbuchseitige Vorbereitungen laufen. Aber die Entscheidungen scheitern letztendlich an empfundener Rechtsunsicherheit - übrigens nicht nur in der Kommune, sondern auch in der Treuhand - in diesem Bereich. Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine bedeutungsvolle Ursache für diese Situation sind die mangelhafte personelle Unterstützung der Altbundesländer und der Bundesregierung sowie der nicht gedeckte Qualifizierungsbedarf in diesen Bereichen. Wir begrüßen es, wenn sich die CDU/CSU und die FDP-Fraktion in dem vorliegenden Antrag in den Punkten 1 bis 4 diesem Qualifizierungsproblem zuwenden. Aber: Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß es keine bloße Übertragung oder Nutzung bundesdeutscher Qualifizierungsverfahren geben kann. Für die kommunalen Bedingungen in den neuen Bundesländern sind diese nur bedingt geeignet. Es kann nicht darum gehen, einzelne wenige, sich in leitenden Positionen befindende Bedienstete in diesen Bereichen, beispielsweise über Praktikantenstellen, zu qualifizieren. Natürlich brauchen wir sachkundige Bürgermeister, Dezernenten und Beigeordnete. Das ist unstrittig. Aber es geht um eine Qualifizierung vor Ort, die in die Breite geht und vor allen Dingen auch den mittleren Bereich der Kommunalbediensteten erfaßt. ({3}) Dabei müssen wir aufpassen, daß wir nicht den Fehler begehen - in der Beziehung habe ich, glaube ich, vorhin auch Ihre Worte, Herr Kollege Gerster, im gleichen Sinne richtig verstanden - , daß wir keine kleine Bildungselite schaffen, noch dazu von Personen, die sich nach wie vor zum Teil aus Altkadern zusammensetzen. Hier ist das Bewußtsein der Bürger in den neuen Bundesländern nach wie vor sehr geschärft. Dieses Problem ist noch nicht vom Tisch. Es geht um eine Qualifizierungsoffensive mit Breitenwirkungen, die auch neuen, unbelasteten Personen eine Chance gibt. In den Punkten 5 bis 10 des Antrags werden Überlegungen zur Verstärkung der personellen Unterstützung geäußert. Ich glaube, dies ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber auch wenn die Erwartungen, die wir an die Rationalisierung und an die Effizienz der Einrichtungen in den Kommunen in den fünf neuen Ländern stellen, bisher noch erfüllt sind, will ich dennoch darauf aufmerksam machen, daß wir nicht die Augen vor dem Auseinanderklaffen der Einkommenssituation der Bediensteten aus den neuen und den alten Bundesländern in diesem Bereich verschließen dürfen. Nur annähernd gleiches Geld schafft eine annähernd gleiche Motivation, meine Damen und Herren. Dies darf bei den Regelungen der Aufwandsentschädigung und bei den Beschleunigungen des Aufstiegs in der bundesdeutschen Beamtenlaufbahn nicht vergessen werden. Wir vermissen in diesem Antrag Hinweise zur Finanzierung. Wir fragen: Wer finanziert die Aufwendungen zur Qualifizierung? Wer muß welchen Umfang der finanziellen Mehrbelastungen dieses Personaltransfers tragen? Diese Fragen muß die Bundesregierung den neuen Ländern und den Kommunen dort beantworten. Die SPD-Fraktion unterstützt daher den für uns fragmentarischen Berichtsauftrag und verbindet ihn mit einer Kleinen und mit einer Großen Anfrage an die Bundesregierung. Wir erwarten von der Bundesregierung, daß unsere zusätzlichen Fragen ebenfalls bis zum 18. April beantwortet werden und daß möglichst schnell jene Konzeption entwickelt wird, die uns der Regierungssprecher schon vor fünfeinhalb Monaten versprochen hat und die letztendlich auch in Ihre Koalitionsvereinbarung als noch nicht gelöstes Problem Eingang gefunden hat. Danke schön. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, das Wort hat nunmehr Herr Abgeordneter Dr. Hirsch von der FDP-Fraktion.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schwanitz, es handelt sich nicht nur um einen Berichtsauftrag - mit Berichten allein ist es nicht getan - , sondern wir fordern - das werden Sie feststellen, wenn Sie es lesen - die Bundesregierung auf, konkrete gesetzgeberische Maßnahmen vorzuschlagen, die wir in 10 Punkten skizzieren. Ich habe mit Interesse Ihre Analyse der Situation gehört. Es geht mir gar nicht darum, mich jetzt im einzelnen mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und zu sagen, was alles hätte geschehen können. Das ist für mich im Augenblick uninteressant. Es kommt darauf an, zu verstehen, daß Bund, Länder, Gemeinden, Kommunen, Wirtschaft und Wirtschaftsverwaltungen gemeinsam etwas tun, um ein Erfordernis zu erfüllen, das für uns alle ebenso gemeinsam elementar ist, nämlich schneller, als es bisher aussieht, zu einer Angleichung der Lebensverhältnisse in beiden Teilen Deutschlands zu kommen. Das ist das Entscheidende. Wir haben bei der Debatte über den Einigungsvertrag manche amüsierte Bemerkung darüber gehört, mit welcher Akribie bis in die letzten Einzelheiten hinein die Einigungsprobleme behandelt worden sind. Ich habe damals gesagt: Dieser Einigungsvertrag ist mit der Präzision von Nähmaschinen ausgehandelt worden. Wir haben zuwenig daran gedacht, daß die zahllosen Details ein Spiegelbild der außerordentlichen Kompliziertheit unseres Rechts- und Verwaltungssystems sind. Es kommt nicht darauf an, dies zu beklagen; denn diese Kompliziertheit ist nur die Folge des Versuchs, sich von schematischen Lösungen zu entfernen und zu mehr individueller Gerechtigkeit zu kommen. ({0}) - Richtig. Diese Kompliziertheit macht es schwierig, ein solches System ohne Reibungsverluste dort einzuführen, wo bisher andere Wertungen, andere Verfahren und andere Entscheidungsmechanismen geherrscht haben. Es gibt keine Verwaltung an sich, es gibt nicht nur abstrakte Rechtsregeln, sondern es kommt auf die Leute an, die das praktizieren, auf den Geist, mit dem sie in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Das kann nicht von heute auf morgen funktionieren. Darum kann eine nicht wirksame Verwaltung zu einem erheblichen Hemmnis für die dringend not622 wendige Angleichung der wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse werden. Es muß schnell und entschieden dafür gesorgt werden, daß geeignete Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes ganz oder auf Zeit in die Beitrittsländer überwechseln. Ich hoffe, daß das nicht nur aus finanziellen und wirtschaftlichen Interessen geschieht, sondern daß es auch noch Leute gibt, die begreifen, daß das eine elementare Aufgabe ist, eine Herausforderung, der man sich stellen muß. Wir können nicht einfach alle Beförderungsstellen mit Mitarbeitern aus den westlichen Bundesländern vollstopfen. ({1}) Wir müssen auch dafür sorgen, daß die Ausbildungskapazitäten von Bund und Ländern für Bewerber aus den Beitrittsländern drastisch vergrößert werden, und ihnen vor allen Dingen die Möglichkeit schaffen, auf Praktikantenstellen in den Verwaltungen von Bund, Ländern und Gemeinden, Unternehmen oder Wirtschaftsverwaltungen praktische Erfahrungen zu sammeln. Sie sollten nicht nur einen Kursus besuchen, an einem Seminar teilnehmen und dann wieder nach Hause gehen, sondern sie sollten die Möglichkeit haben, ein halbes oder dreiviertel Jahr neben einem Sachbearbeiter zu sitzen, dort wirklich zu arbeiten, um dann mit den gesammelten Erfahrungen zurückzugehen und diese anzuwenden. Mit dem Antrag tragen wir vor, wie das geschehen kann. Wer auf Zeit in eines der neuen Bundesländer geht, muß wissen, daß er schneller befördert wird. Die Durchlässigkeit der Laufbahnen muß verbessert werden. Es sollen Leistungszulagen gezahlt werden. Es muß selbstverständlich Umstellungen bei den Reisekosten-, Umzugs- und Trennungsgeldregelungen geben. Wir müssen Personalbörsen einrichten, um geeignete Bewerber dahin vermitteln zu können, wo ihre Fähigkeiten gesucht werden. Das alles hat nicht wahnsinnig viel Zeit, sondern muß schnell entwickelt und umgesetzt werden. Wir sind ungeduldig. Es darf keine Zeit mehr verlorengehen. Auch die Bevölkerung in den westlichen Bundesländern muß wissen, daß nichts so bleiben wird, wie es ist. Entweder gelingt es uns, vergleichbare und annehmbare Lebensbedingungen in den Beitrittsländern bald herbeizuführen, oder wir werden auch in den westlichen Bundesländern unseren bisherigen Lebensstandard nicht behalten können, sondern ihn verlieren. Diese Aufgabe ist kein Luxus, den man auch lassen könnte. Wir können nicht mehr zwischen denen da drüben und uns hier unterscheiden. Wenn wir dafür sorgen, daß sich die Lebensverhältnisse in den Beitrittsländern drastisch verbessern, dann helfen wir gleichzeitig uns selbst. Die Frist, die wir in unserem Antrag der Bundesregierung für die konkrete Umsetzung unserer Vorschläge setzen, ist knapp. Sie kann aber nicht länger sein. Wir sind sicher, daß in dieser Zeit wichtige und notwendige Ergebnisse erzielt werden können. Ich gehe davon aus, daß der Justizminister hier noch das Wort ergreifen und darstellen wird, was in seinem Ressort in diesem Bereich schon geschehen ist. Das zeigt, daß man etwas tun kann und tun muß. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Das Wort hat nunmehr Abgeordneter Dr. Heuer, Gruppe der PDS.

Prof. Dr. Uwe Jens Heuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000891, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir unterstützen das Anliegen des Antrages, eine funktionsfähige Justiz in der ehemaligen DDR zu sichern. Wir sind der Meinung, daß diese Maßnahmen im einzelnen sicher differenziert wirken werden, wir sehen auch ein Problem, was bei erheblich höherer Bezahlung für die, die aus dem Westen gekommen sind, die sozialen Auswirkungen auf die angeht, die aus der ehemaligen DDR sind, aber, wie gesagt, im ganzen unterstützen wir dieses Programm. Ich möchte allerdings auf eine Notwendigkeit hinweisen, und zwar auf die der beschleunigten Entscheidung über das Schicksal der ehemaligen Richter und Staatsanwälte aus der DDR, um ihnen eine wirkliche Voraussetzung für eine sachbezogene Arbeit zu geben, um die bestehende Unsicherheit zu überwinden, die bei ihrem schwierigen Zustand gegenwärtig unzweifelhaft besteht. Auch die zukünftige Arbeit auf Probe wird keine volle Sicherheit bieten. Aber die gegenwärtige Unsicherheit muß jedenfalls rasch überwunden werden. Der Rechtsausschuß war gestern und heute in Sachsen und hat dort verschiedene Gespräche geführt. Daraus ist die Schwierigkeit bei dieser Überprüfung deutlich geworden. Die Richterwahlausschüsse sind in Sachsen gebildet. In anderen Ländern ist das noch nicht der Fall. Die Überprüfung wird sicher nicht bis zum 15. April abgeschlossen sein können, wie es im Einigungsvertrag vorgesehen ist. Aber ich appelliere an alle Beteiligten, insbesondere auch an die, die Anfragen zu beantworten haben, diese Überprüfung möglichst schnell durchzuführen, wenn es geht, bis Mitte des Jahres. So etwas ist in Sachsen für möglich erklärt worden. Ich möchte zu einer Frage noch vier Bemerkungen machen, zu der Frage, warum ich es für notwendig halte, in einem höheren Ausmaß auch auf ehemalige Richter und Staatsanwälte der DDR zurückzugreifen. Meine erste Bemerkung: Ich halte es für wichtig, daß Richter und Staatsanwälte auch aus diesem Land kommen, die Kenntnis des Volkes, der dortigen Verhältnisse haben. Ich halte es für sozialpsychologisch und politisch wichtig, daß sie - wir waren 40 Jahre getrennt - auch Verständnis für spezifische Probleme dort haben. ({0}) - Zum Beispiel aus Sachsen. Ich meine, daß das notwendig ist, auch weil im Osten das Wort von der drohenden „Besatzerjustiz" die Runde macht. ({1}) - Nein, das habe ich heute in der „Frankfurter Rundschau" als ein Wort von Herrn Bräutigam, Justizminister in Brandenburg, gelesen. ({2}) Ich halte es auch für nicht gut, wenn sich hier jemand gegen Besatzermentalität wendet und gleichzeitig von „Front" und „Frontschweinen" spricht, die dann noch eine Frontzulage bekämen. Ich habe auch positive Erfahrungen bei meinen Gesprächen mit Leuten aus der ehemaligen Bundesrepublik gemacht, die sich nicht so aufgeführt haben. Ich muß das nach diesen Gesprächen gestern und heute sagen. Ich würde also Ausdrücke wie „Frontschweine" nicht für richtig halten. ({3}) Das zweite ist die These, daß die Bevölkerung das nicht wolle. In unseren Gesprächen wurde uns gesagt: Es gab und gibt Grund zu Mißtrauen, aber man darf das nicht pauschalisieren. Meine dritte Bemerkung: Es gibt Erklärungen zum Gesamtbild der Justiz unter der Begründung, daß es sich um einen Unrechtsstaat gehandelt habe. Es hat in der DDR erhebliche rechtsstaatliche Defizite gegeben, ({4}) vor allem im politischen Strafrecht, im Verwaltungs- und Verfassungsrecht. Ich halte aber die Bezeichnung Unrechtsstaat nicht für richtig ({5}) und auch nicht die Gleichsetzung mit der Nazi-Justiz, die Tausende von Todesurteilen ausgesprochen hat und deren Richter fast durchgängig in den Jahren 1948 und 1949 übernommen worden sind. ({6}) Ich möchte viertens bemerken, daß man den Richtern und Staatsanwälten der ehemaligen DDR das Recht zum Umdenken und Nachdenken zubilligen sollte. ({7}) Wir haben gestern die Diskussion geführt. Dabei ist gerade von denen aus der ehemaligen Bundesrepublik gesagt worden, daß sehr viele dieser Richter tatsächlich über ihre Erfahrungen nachdenken, daß sie bereit sind zum Umdenken. Ich meine, diese Möglichkeit sollte man unseren Richtern geben. Manche erklären heute, daß die Nachsicht gegenüber den Nazi-Richtern falsch gewesen sei, daß man gerade deshalb heute um so radikaler gegen die DDRJustiz vorgehen müsse. Aber sowenig Auschwitz durch ein Bombardement des Irak gutgemacht werden kann, ({8}) so wenig kann man heute die skandalöse Behandlung der Verbrechen der Nazi-Justiz durch eine ungerechtfertigte und undifferenzierte Ausgrenzung der DDR-Justiz ausgleichen. ({9}) - Lesen Sie es nach. Meine Damen und Herren, die DDR-Partei- und -Staatsführung hatte zu den Juristen der DDR ein Verhältnis, das in hohem Maße von Mißtrauen und Restriktionen gekennzeichnet war. ({10}) Beweisen Sie diesen Juristen, daß von ihnen nicht Anpassung verlangt wird, sondern daß sie heute bessere Möglichkeiten haben! ({11})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, es besteht bei uns allen kein Zweifel, daß „Frontschwein" kein parlamentarischer Ausdruck ist. Aber so wie er eben verwandt worden ist, gab es weder die Möglichkeit, einen Ordnungsruf zu erteilen, noch das zurückzuweisen. Als nächster hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Dr. Waffenschmidt, das Wort.

Dr. Horst Waffenschmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002403

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Heuer, zunächst möchte ich sagen: Es sollte endlich Schluß damit sein, ganz traurige Ereignisse der letzten 40 Jahre in der ehemaligen DDR hier noch entschuldigend darzustellen. ({0}) Es muß endlich dazu kommen, daß wir gemeinsam diese traurige Vergangenheit aufarbeiten. Nur damit werden wir auch den Menschen gerecht, die auf die Straße gegangen sind, um dem Unrecht zu wehren. ({1}) Nun komme ich zu dem Antrag, den CDU/CSU und FDP hier vorgelegt haben. Er ist nachdrücklich zu begrüßen. Ich will für die Bundesregierung ausdrücklich für die guten Impulse danken. Lassen Sie mich drei Schwerpunkte ansprechen, die bisher schon angegangen wurden und vertieft werden müssen. Erstens die Personalhilfe aus den westlichen Bundesländern: Ich möchte hier heute nach vielfältiger Erfahrung in den neuen Bundesländern noch einmal ausdrücklich die Städte, Gemeinden und Kreise in den alten Bundesländern ansprechen. Ich meine, die Städtepartnerschaften, die Kreispartnerschaften sind erneut in eine Stunde der Bewährung gerufen. Ich möchte noch einmal an unsere 8 500 Städte und Gemeinden appellieren, Fachleute herüberzuschicken. Das ist ganz wichtig. ({2}) Wir haben jetzt 100 Millionen DM mit Hilfe des Finanzministers und des Haushaltsausschusses zur Verfügung, um hier auch zu helfen. Die Bundesregierung wollte in dieser besonderen Situation gerade die Gemeinden in den neuen Bundesländern unterstützen. Ich appelliere hier ganz besonders daran, daß wir auch Experten aus dem gehobenen Verwaltungsdienst hinübersenden. Wir brauchen nicht nur Leute, die Leitungsfunktionen wahrnehmen, sondern wir brauchen auch die Leute, die die wichtige Sachbearbeiterfunktion wahrnehmen, und dafür wollen wir uns nachdrücklich einsetzen. ({3}) Meine Damen und Herren, es ist wichtig, daß es dazu eine Zentralstelle gibt. Wir brauchen die zentrale Personalbörse; sie ist jetzt mit Hilfe der kommunalen Spitzenverbände im Ernst-Reuter-Haus in Berlin eingerichtet. Wir geben dafür auch eine beträchtliche Finanzhilfe des Bundes. Jeder kann sich - ich sage das heute hier auch noch einmal - dort melden, und die Gemeinden und Kreise der neuen Länder können dort abrufen. Zweiter Punkt: Es ist ganz wichtig, daß wir Menschen drüben aus den Verwaltungen, die sich dafür als geeignet herausstellen, auch in den neuen Ländern ausbilden. Wir sollten hier Ausbildungskapazität in den alten Bundesländern bereitstellen für Mitarbeiter der Verwaltung der Städte, Gemeinden und Kreise und der Landesverwaltung in den neuen Ländern, aber wir sollten eben auch in den neuen Bundesländern ausbilden. Die Baköv hat mit der Clearingstelle, die hier schon einmal angesprochen wurde, und mit den alten Bundesländern ein Programm gemacht. Wir haben zehntausende von Ausbildungsmöglichkeiten zur Verfügung, die jetzt unter zentraler Verteilung in den neuen Bundesländern genutzt werden müssen. Ich trete auch nach den Erfahrungen, die ich in den Kommunalkonferenzen in den letzten Wochen habe machen können, dafür ein, daß wir unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern in den neuen Bundesländern die Chance geben, Verwaltungserfahrung und Expertenwissen zu gewinnen, damit sie als Menschen ihrer Heimat für ihre Heimat neben denen, die wir herüberschicken, arbeiten können. Das ist auch ganz wichtig. ({4}) - Ich will das durchaus unterstreichen. Die eigenen Leute sollten in die Lage versetzt werden, für ihre Städte, Kreise und Gemeinden zu schaffen. Ich will hier auch sagen, daß der Kollege Walter Priesnitz, der früher Staatssekretär im Innerdeutschen Ministerium war, jetzt mit einer Expertengruppe von Kreis zu Kreis, von Stadt zu Stadt in den neuen Bundesländern geht, um dort all die Angebote vor Ort noch einmal zu erläutern und dann zu vermitteln, wie man sie alle nutzen kann. Hier ist ein zusätzliches Angebot. Ich darf berichten, daß ich für die Bundesregierung in den letzten Wochen noch einmal fünf landesweite Kommunalkonferenzen mit rund 1 000 Bürgermeistern und Landräten gemacht habe, um die Angebote vorzustellen. Ich darf hier vermitteln, daß man sie auch dankbar aufgenommen hat. Oft fehlt es noch an der Information, wo man was alles machen kann. Das ist hier geleistet worden. Einen letzten Punkt will ich hier noch ansprechen. Wir müssen in wachsendem Maße sehen, daß wir Verwaltungsverfahren so vereinfachen, daß der Aufbau in den neuen Bundesländern zügig vorangehen kann. Heute hat die Bundesregierung mit den Regierungschefs der neuen Bundesländer dazu ein wichtiges Faktum gesetzt, und ich möchte das - beispielgebend - heute abend hier auch noch einmal sagen. Unsere Kolleginnen und Kollegen in den neuen Bundesländern können noch gar nicht all die schwierigen Antrags-, Bewilligungs- und Verwaltungsverfahren kennen, aber sie sollen für ihre Bürger jetzt schnell etwas leisten. Darum ist das Verfahren, das heute vom Bundeskanzler und den Regierungschefs unterschrieben wurde, ({5}) nämlich 5 Milliarden DM z. B. als Investitionspauschale zu gewähren, verteilt nur nach Einwohnerzahl und nur mit der einen Auflage, die Mittel sofort für kommunale Investitionen einzusetzen, ein beispielhaftes Verfahren, mit dem man schnell etwas erreichen kann. ({6}) So müssen wir verfahren; auch bei den Maßnahmegesetzen. Ich finde - da stimme ich dem Kollegen Gerster ({7}) nachdrücklich zu - , es sind unkonventionelle Verfahren gefordert. Wir müssen das sehr phantasiereich und ideenreich angehen. Wenn wir das gemeinsam tun, können wir es aber bewältigen. Ich meine, wir können alle miteinander ein Stück Freude über jeden Schritt des Erfolgs empfinden. Ich darf für die Bundesregierung sagen: Wir wollen jeden sachgerechten unkonventionellen Weg mitgehen. Das einzige Ziel, das uns vor Augen stehen muß, ist, schnell, fühlbar und effektiv für die Menschen etwas zu erreichen. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu dieser späten Stunde haben auf der Tribüne zwei Parlamentarier des tschechoslowakischen Parlaments Platz genommen. ({0}) Vizepräsident Becker Sie können aus dem Thema, das wir hier behandeln, sicherlich den einen oder anderen nützlichen Gedanken in Ihre Überlegungen einbeziehen. Das Wort hat nun Herr Abgeordneter Dr. de With von der SPD-Fraktion.

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da ich die Justizrunde gewissermaßen einleite, darf ich das folgende kurze Resümee an den Anfang meiner Ausführungen stellen. Vor neun Monaten hat noch das Credo gegolten: Wenn wir genug Geld zur Verfügung stellen, dann packt es die Wirtschaft schon, und die Investitionen rollen. Vor etwa drei Monaten hat sich die Überzeugung durchgesetzt: Dazu bedarf es aber auch einer funktionierenden Verwaltung. ({0}) Seit dieser Woche wissen wir: Es geht auch nicht ohne funktionierende Justiz. ({1}) Denn sonst wären bei den Steuererhöhungen die 120 Millionen DM für die Justiz drüben nicht abgefallen. Das ist gut so. Dennoch: Die Zeichen drüben stehen auf Sturm. Machen wir uns nichts vor! Ich darf hinzufügen: Der Bundesregierung - ich nehme den Bundesminister der Justiz hier ausdrücklich aus - und weiten Teilen der Öffentlichkeit ist in der Tat entgangen, daß ein funktionierender Rechtsstaat in den fünf neuen Ländern ohne besondere Anstrengung nicht zu haben ist und daß dies - das ist der Punkt - ein Schlüsselproblem ist. ({2}) Dabei haben wir Sozialdemokraten - Sie werden es bestätigen, Herr Geis - im Rechtsausschuß seit langem darauf hingewiesen. Wir blieben ohne Widerhall. Auch unter diesem Eindruck hatten wir beantragt, der Rechtsausschuß möge die Länder drüben bereisen. ({3}) Wenn wir das Resümee der Reise von gestern und heute nach Dresden ziehen, ist, meine ich, eines klar: Der desolate Zustand, den wir aus der allgemeinen Beschreibung kannten, hat sich mehr als erhärtet. ({4}) Schon das äußere Bild der Justitia - es regnet durch die Dächer - ist mißlich; erst recht ist es das personelle. Ich darf mir erlauben, das, war wir gehört haben, anhand weniger Zahlenbeispiele, weil sie einfach so frappant sind, darzustellen. Es betrifft allerdings nur Sachsen. Erstens. Etwa 2 000 Richter, heißt es, werden dort benötigt. Nur 625 stehen zur Verfügung. Aber erst einige wenige sind durch die Richterwahlausschüsse überprüft worden. Was das für die Motivation bedeutet, wissen wir. Zweitens. 330 Staatsanwälte sind dort erforderlich. Vorhanden sind 180. Diese Zahl bröckelt aber von Tag zu Tag, weil sie die Überprüfung fürchten. Drittens. Zunächst sind etwa 300 Rechtspfleger nötig. Vorhanden sind außer den vom Westen „eingeflogenen" - ich darf es einmal so formulieren - überhaupt keine. Dadurch bedingt gibt es praktisch keine freiwillige Gerichtsbarkeit. Wer einen Erbschein wünscht, wer den Eintrag in das Handelsregister benötigt - dafür braucht es dort vier bis sechs Monate; das ist z. B. für jemanden wichtig, der eine GmbH anmelden will -, wer etwas durch das Vormundschaftsgericht erledigt wissen will, sie alle müssen warten, warten und warten. Viertens. Das Schlimmste ist: Bei den Arbeitsgerichten sind rund 11 000 Verfahren anhängig. All diese Zahlen gelten allein für Sachsen. Aber das ist sicher beispielhaft für die anderen Länder. Und: Wir haben gehört, nur 25 % der Eingänge können erledigt werden. Ich weiß aus Berichten, daß Leute mit dem zynischen Hinweis entlassen werden: Arbeitsgerichte gibt es ja eh noch nicht. Das muß die Menschen drüben doch verbittern. ({5}) Fünftens. Von den 11 000 Anträgen auf Rehabilitierung sind bisher sage und schreibe nur 40 erledigt. Was das bedeutet, brauche ich keinem zu sagen. Sechstens. Beim Vermögensamt - auch das gehört indirekt zur Justiz - gibt es rund 40 000 Eingänge. Es handelt sich hierbei nur um Anträge auf Rückgabe von Grundstücken Privater. Über die Frage Bundeseigentum, Landeseigentum ist dabei noch gar nicht entschieden. Bei dem vorhandenen Personalbestand, so sagte uns ein Beteiligter, ({6}) werde es sieben Jahre dauern, bis diese Rückstände aufgearbeitet seien. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wissen, daß sich der Bundesminister der Justiz und auch die Länder Mühe gegeben haben, und wir wissen um das Engagement vieler einzelner. Wir haben beispielhaftes Engagement insonderheit junger Leute, aber auch pensionierter Staatsanwälte und Richter gesehen. Ich meine, dafür haben wir Dank zu sagen. ({7}) Ich füge aber hinzu: Was fehlt, ist eine Kraftanstrengung großen Ausmaßes, ({8}) und zwar über mehrere Jahre. Wir dürfen nicht nur von Jahr zu Jahr denken und Geld zur Verfügung stellen. ({9}) Allein das wird dieser Situation gerecht. Ich darf deswegen zu Ihrem Katalog ergänzend sagen, was wir fordern: Erstens. Bundesregierung und Koalitionsfraktionen sollten wirklich begreifen, daß es sich hier um eine gesamtstaatliche Aufgabe handelt. ({10}) Die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund und Ländern sollten wir füglich hintanstellen. ({11}) Zweitens. Der Justizaufbau - ich habe das dem Bundesminister der Justiz schon in der letzten Sitzung des Rechtsausschusses gesagt - kann drüben nur geleistet werden, wenn hierfür vom Bund in Verbindung mit den Ländern ein Koordinator eingesetzt wird, der keine andere Aufgabe hat als die, sich mit einer agilen Crew - ich sage: beinahe Tag und Nacht - um den Aufbau des Rechtsstaates zu kümmern. ({12}) Zusätzliche Staatssekretäre hat der Bundeskanzler ja genug bestellt. Insoweit sollte es an Personal nicht mangeln. ({13}) - Ich sehe hier Herrn Göhner; ich streite ihm das mit Sicherheit nicht ab. Drittens. Es sollte auch - und jetzt wird es etwas ernster - ein Signal gesetzt werden, ein Signal, das alle verstehen, aber auch ein Signal mit Langzeitwirkung. Der Bund sollte, wie wir wissen, ein oberstes Gericht in die neuen Länder bringen. Ich habe zu fragen - ich sage das ohne Abstimmung mit meiner Fraktion - : Wie wäre es, wenn das Bundesverfassungsgericht nach Weimar umzöge? ({14}) Dort gibt es nicht nur eine lange, mit der Aufklärung verbundene geistige Tradition, dort gab es nicht nur das Bauhaus, sondern es hat auch Geschichte in unserer Verfassungswirklichkeit, von der Lage ganz abgesehen. Und es wäre wirklich ein Zeichen! ({15}) Ganz abgesehen davon hat Weimar über die Grenzen unserer Bundesrepublik hinaus Bedeutung. Viertens. Besondere Umstände machen besondere Maßnahmen erforderlich. Ohne Länderquoten - ich hoffe, wir sind uns einig - wird das alles nicht in kurzer Zeit vonstatten gehen. Denn wie kriegen wir nur mit Appellen Richter, Staatsanwälte und auch Rechtspfleger in der erforderlichen Zahl relativ rasch in die fünf neuen Länder? Dabei müssen wir eines auch wissen - insoweit weite ich etwas aus, was Herr Gerster gesagt hat -: Notfalls bin ich bereit, sind wir bereit - bei Richtern geht das nicht - , auf Abordnungen zurückzugreifen. Denn es ist besser, daß drüben Leute mit einem guten Gehaltspolster erscheinen, als wenn Leerstellen verbleiben. Ich meine, hier muß tatsächlich alles, was wir haben, ausgeschöpft werden. Notfalls sind wir zu Gesetzesänderungen bereit, um wirklich rasch Stellen aufzufüllen, die die neuen Länder bitter nötig haben, wie wir gesehen und gelernt haben. ({16}) Fünftens. Wir meinen auch, daß die Oberlandesgerichte und Oberverwaltungsgerichte - das kann unter den Ländern vereinbart werden - zu Teilen für die fünf neuen Länder zuständig sein sollten, und entsprechende Senate sollten drüben Gerichtstage abhalten. Auch der Mangel an Rechtsanwälten und Notaren ist nicht zu übersehen. Wir haben gestern gelernt: Richter können heute keine Rechtsauskunft mehr erteilen, was sie früher konnten. Rechtsantragsstellen wie bei uns gibt es nicht, weil einfach die Rechtspfleger fehlen. Hier ist ein bitteres Loch für die Rechtsuchenden entstanden. Deswegen meinen wir, daß zusammen mit den Verbänden versucht werden soll, dafür zu sorgen, daß auch die Zahl der Rechtsanwälte größer wird. Auch hier darf ich eine bittere Erfahrung zum besten geben. Ich habe in meiner Sprechstunde erfahren müssen, daß eine Frau, die wegen eines Grundstücks drüben Schwierigkeiten hatte, einen Rechtsanwalt brauchte und, vorsichtig, wie sie war, meinte, sie fände durch eine große Kanzlei bei uns den richtigen. Ein solcher wurde benannt. Als sie drüben bei diesem Rechtsanwalt auftauchte, mußte sie zu ihrem Schrekken feststellen, daß es genau der war, der sie vordem als Richter zu zwei Jahren Gefängnis wegen Republikflucht verurteilt hatte. Was das bedeutet, das müssen Sie sich einmal vorstellen. ({17}) Meine Damen und Herren, ich will jetzt nicht mehr von den Ausbildungsprogrammen reden; meine Redezeit läuft ab. Ich sage nur noch eines: Wir brauchen einen ausreichenden Fonds mit einer Fortschreibung für wenigstens drei Jahre. 120 Millionen ist ein erstes Wort. ({18}) Aber ich glaube, Herr Minister Kinkel, das reicht nicht aus. Auch hier sollten wir wirklich großzügigst verfahren. Ich denke an einen Fonds - insoweit muß ich eine Agenturmeldung berichtigen, die etwas unklar über das sprach, was ich ausgesagt habe - von rund 300, 400 Millionen DM, der über einen Dreijahreszeitraum abzurufen ist. Die Menschen drüben brauchen auch Perspektiven. Wenn sie glauben, wir leben von Jahr zu Jahr nur von der Hand in den Mund, dann meinen sie, wir erledigten das kalt mit der linken Hand, und das muß unter allen Umständen vermieden werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bedeutung und die Notwendigkeit des Aufbaues des Rechtsstaates in den östlichen Ländern sind lange unterschätzt worden. Die Situation ist schon so weit gediehen, daß der Glaube an die Rechtsstaatlichkeit bröckelt. Das müssen wir so hinnehmen. Deswegen meinen wir, es kommt mit Sicherheit auf die materielle Unterstützung an. Aber es muß unter allen Umständen auch verstanden werden, daß die Bürgerinnen und Bürger in der ehemaligen DDR buchstäblich in einem Rechtsstaatsnotstand leben und daß es einer Gesamtanstrengung wirklich aller bedarf. Ich denke, wir müssen die Öffentlichkeit hierzu deutlich mehr aufrütteln, als wir es bisher getan haben. ({19})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, das Wort hat nunmehr der Abgeordneten Gres, CDU/ CSU-Fraktion.

Joachim Gres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000723, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Reise des Rechtsausschusses gestern und heute nach Dresden war richtig, wichtig, und sie kam gerade noch rechtzeitig. ({0}) Wir konnten uns in diesen eineinhalb Tagen nicht erschöpfend bilden, Herr Gerster. Es gilt da viel nachzuarbeiten, aber wir werden noch weiter reisen und uns noch weiter bilden. Wir haben uns fest vorgenommen, auch die anderen neuen Bundesländer zu besuchen und uns ein Bild von der Situation vor Ort zu machen. Aber eines ist jetzt schon klar - Herr Dr. de With, da habe ich Ihrem Beitrag nichts hinzuzufügen - : Die Aufzählung der Defizite, die wir vorgefunden haben, ist so, wie sie ist. Es gibt nichts zu beschönigen, es ist eine dramatische Situation. Aber ich will nicht wiederholen, was Sie gesagt haben. Das Grundproblem ist eigentlich die Umstellung der Justiz und aller mit der Justiz in den neuen Bundesländern befaßten Menschen auf die neue rechtsstaatliche Ordnung, auf Demokratie und Gewaltenteilung. Wo es 40 Jahre lang nur Einheitsstaat gab, wo Richter und Staatsanwälte sich eben nur als Vollstrekker des sozialistischen Staats- und Herrschaftsanspruchs verstanden haben, da gibt es wenig oder nichts, was in die neue rechtsstaatliche Ordnung übernommen werden kann. Herr Heuer, unser Ansatz ist ein anderer: Wir müssen gerade bei der Auswahl der Richter und Staatsanwälte ganz besonders kritisch sein und nicht zu Kompromissen bereit sein, sondern wir müssen ganz im Gegenteil eine strenge Meßlatte an die rechtsstaatliche Einstellung dieser Richter und Staatsanwälte legen, denn sonst enttäuschen wir das Vertrauen der Menschen in diesen Ländern. ({1}) Meine Damen und Herren, trotz all der bedrückenden augenblicklichen Mängel in der Justiz der neuen Bundesländer haben wir in Dresden aber auch eine ganz gehörige Portion Optimismus und Engagement vor Ort festgestellt. Die neuen Richter und Staatsanwälte, die Angehörigen der Justizverwaltung und auch die Politiker sind bereit, alles einzusetzen, was in ihnen steckt, um die Situation in den Griff zu bekommen. Es war durchaus ermutigend, wie die Männer und Frauen, mit denen wir gesprochen haben, uns erklärt haben, daß es zwar schwierig sei, daß sie es aber schaffen könnten. Ich möchte auch ein Wort des Dankes an diejenigen richten, die als Richter, Staatsanwälte und Rechtspfleger aus den alten Bundesländern kommen und jetzt z. B. in Sachsen ihren Dienst tun. Diese Menschen erbringen unter wirklich schwierigsten Bedingungen Pionierleistungen für den Aufbau des Rechtsstaates. ({2}) Sie sind Patrioten im besten Sinne des Wortes. Ihnen gebührt Dank und Anerkennung. Angesichts dieser Ausgangslage ist es aber um so begrüßenswerter, daß die Bundesregierung für den Aufbau der Justiz mit einem Sofortprogramm 120 Millionen DM jährlich zur Verfügung stellen will. Wenn man das einmal addiert, Herr Dr. de With, dann sind das in drei Jahren 360 Millionen DM. Man kann das vielleicht noch auf 400 Millionen DM aufrunden. Damit haben wir im Grunde genommen das Programm, von dem Sie gesprochen haben. Die Vorstellungen, die wir haben, sind von dem, was die Bundesregierung macht, gar nicht so weit entfernt. ({3}) Dieses Sofortprogramm ist von Ihnen, Herr Gerster, schon dargstellt worden. Es dient der Reaktivierung von pensionierten Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern. Dazu gehört die Finanzierung der Entsendung von aktiven und berufserfahrenen Richtern und Staatsanwälten. Es gehört die Finanzierung eines Sonderbudgets dazu, um diesen Austausch von wirklich aktiven Leuten hinzubekommen. Ich bin ganz sicher, wir werden auch einen gewissen Erfolg haben. Damit dieses Sofortprogramm tatsächlich greifen kann, ist letztlich die Mitarbeit der Alt-Bundesländer gefragt. Die Alt-Bundesländer müssen bei diesem Justizaufbauprogramm ihrerseits kräftig die Werbetrommel rühren und mit Nachdruck darauf hinwirken, daß aus ihrem Beritt mehr Richter, Staatsanwälte und Rechtspfleger in die neuen Bundesländer gehen; ({4}) denn die Bundesregierung verfügt bekanntlich über keine Richter, Staatsanwälte und Rechtspfleger, die sie einfach abordnen kann. Lassen Sie mich ein Wort zu den Abordnungsideen sagen. Ich persönlich bin nicht sehr glücklich bei dem Gedanken, jemanden per Zwang in eine andere Position zu versetzen. Denn was in den neuen Bundesländern von den dortigen Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern gefordert wird, hat mit einer normalen, geregelten 37,5-Stunden-Woche bei Gott nichts zu tun. ({5}) Wer nicht die innere Einstellung hat, in den neuen Bundesländern wirklich helfen zu wollen, wer zwangsweise versetzt wird und sich vielleicht gar strafversetzt fühlt, der richtet dort eher Unheil an und ist da völlig am falschen Platz. ({6}) Deshalb sind wir dagegen. Meine Damen und Herren, das Ganze ist eine Gemeinschaftsaufgabe und überdies ein Testfall für die Solidarität der Bundesländer untereinander und damit letztlich für den Föderalismus insgesamt. ({7}) Ich hoffe, daß alle Bundesländer diesen Test bestehen. Wir werden jedes einzelne Bundesland in den nächsten Monaten und Jahren kritisch betrachten. Wir werden verfolgen, wer welche Quote erbringt und wer welche Transferleistung in die neuen Bundesländer erbringt. Ich glaube, die CDU/CSU-geführten Bundesländer haben da im einzelnen wenig Kritik zu erwarten. ({8}) Meine Damen und Herren, ich habe festgestellt, daß der Antrag der CDU/CSU und der FDP die Zustimmung des gesamten Hauses findet. Deswegen beantrage ich, daß wir darüber jetzt noch abstimmen und ihn nicht an die Ausschüsse überweisen. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach dem Ablauf der Tagesordnung hat nun als voraussichtlich letzter Redner des heutigen Abends der Herr Bundesminister der Justiz, Herr Dr. Kinkel, das Wort.

Dr. Klaus Kinkel (Minister:in)

Politiker ID: 11002696

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen greift ein neben den Wirtschaftsfragen ganz zweifellos zentrales Problem der neuen Länder auf: die Schaffung der personellen Voraussetzungen für den Aufbau einer funktionierenden Verwaltung und eines funktionierenden Rechtswesens. Ich begrüße für die Bundesregierung diesen Antrag nachdrücklich und ausdrücklich. Für meinen Bereich, für die Justiz, habe ich - wie ich das gestern in der Regierungsbefragung hier bereits darstellen konnte - eine Reise durch die neuen Länder angetreten. Ich bin relativ geschockt zurückgekommen. Das habe ich hier auch bei anderer Gelegenheit schon vorgetragen. Es ist ganz zweifellos so, daß die Situation der Justiz in den neuen Ländern äußerst schwierig ist. Da gibt es nichts zu beschönigen. Es fehlt in erster Linie Personal; es fehlen Richter, es fehlen Staatsanwälte, es fehlen vor allem Rechtspfleger. Ich will auf die Zahlen, die der Abgeordnete Dr. de With vorgetragen hat, nicht mehr eingehen. Das Bundeskabinett hat sich deshalb gestern auf meinen Vorschlag für den Bereich der Justiz mit diesen Fragen befaßt und, wie hier schon geschildert wurde, ein Programm für Sofortmaßnahmen in Höhe von 120,5 Millionen DM für dieses Jahr, insgesamt ein Dreijahresprogramm in Höhe von 360 Millionen DM, beschlossen. Das Geld steht sofort zur Verfügung. Ich habe heute bei dem Gespräch des Herrn Bundeskanzlers mit den Ministerpräsidenten die Gelegenheit genutzt, dieses Programm vorzustellen und auch schon konkrete Vorschläge für die Umsetzung zu machen. Ich darf im übrigen sagen, daß die Justizminister und -senatoren der Altländer sowie der Neuländer bereits außerordentlich erfreut reagiert haben und ganz offensichtlich schon dabei sind, den Versuch zu machen, dieses Programm umzusetzen. Ich will es nicht mehr groß vorstellen; Sie kennen es. Es geht erstens um das Seniorenmodell für Richter, Staatsanwälte, vor allem aber für Rechtspfleger. Bei den Rechtspflegern ist es besonders wichtig und im Grunde alternativlos, dieses Seniorenmodell zu fahren, und zwar einfach deshalb, weil Rechtspfleger, wie Sie alle genau wissen, in den Altländern nur nach Bedarf ausgebildet worden sind und nicht aus dem Boden gestampft werden können. Im übrigen machen Bund und Länder ganz erhebliche Anstrengungen für Fortbildungsmaßnahmen. Wir sind dabei, den Versuch zu unternehmen - ich finde, sehr erfolgreich - , die Gerichtssekretäre in den neuen Ländern, die in der früheren DDR eine Art Rechtspflegerfunktion ausgeübt haben, aus- und fortzubilden und sie zu Teilrechtspflegern heranzubilden. Ich verspreche mir davon außerordentlich viel. Ich verspreche mir bei dem Seniorenmodell, insbesondere bei den Rechtspflegern, daß wir mit den doch ganz erheblichen finanziellen Anreizen, die wir jetzt haben, an einen Personalbestand von etwa 500 - dies stellen wir uns in etwa vor - herankommen. Ich habe u. a. mit dem Vorsitzenden des Rechtspflegerverbandes und mit den einzelnen Landesjustizministern Kontakt aufgenommen und sie gebeten, zu trommeln, um diesen Versuch zu unterstützen. Eine personelle Hilfe soll nicht allein durch das Seniorenmodell, sondern auch durch das zweite Modell, nämlich durch eine erhebliche Erhöhung der Zahl der von den Altländern entsandten Richter, Staatsanwälte und Rechtspfleger in die neuen Länder, erreicht werden. Ich denke dabei an eine Verzehnfachung der Zahl. Der Bund hat jedenfalls über 60 Millionen DM für Richter und Staatsanwälte und über 20 Millionen DM für Rechtspfleger bereitgestellt, um 50 % der Kosten zu übernehmen, die bei der Entsendung aus den Altländern entstehen. Die Justizminister und -senatoren der Länder haben mir bei der Justizministerbesprechung nachdrücklich und ausdrücklich gesagt, sie hätten noch zusätzliche „man-power" , die sie bereitstellen könnten, bisher aber nicht bereitgestellt haben, da sich der Bund noch nicht bereit erklärt habe, in größerem Umfang mitzufinanzieren. Mein Fernschreiben ist jetzt seit zwei Tagen aus dem Haus. Ich bin genau so wie Sie außerordentlich interessiert, welche Resonanz kommen wird. Ich bin hoffnungsvoll und auch hoffnungsfroh nach den ersten Reaktionen, die ich erfahren habe. Das allein nützt aber nichts - auch das habe ich schon einmal in diesem Hohen Haus vorgetragen. Wir müssen zusehen, daß die Neuländer ihre eigenen Richter, ihre eigenen Staatsanwälte und ihre eigenen Rechtspfleger bekommen. Es wird nach meinen Erfahrungen und Berechnungen ca. drei Jahre dauern, bis man sagen kann: Sie stehen wenigstens einigermaßen auf eigenen Füßen. Deswegen ist die Fondsmitfinanzierung - das ist der dritte Schritt - vorgesehen. Wir wollen 15,5 Millionen DM in einen Fonds einzahlen, wobei wir von etwa 300 Richtern und Staatsanwälten für das Jahr 1991 und von gleichen Zahlen für die Jahre 1992 und 1993 ausgehen. Ich habe allerdings die Altländer aufgefordert, diesen Fonds mitzuspeisen. Dadurch sollen, sozusagen aufstockend, Zahlungsmöglichkeiten für die neuen Länder bestehen, damit sie Richter, Staatsanwälte und Rechtspfleger neu einstellen und soviel zahlen können, daß sie sie in der Praxis bekommen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Minister, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wiefelspütz?

Dr. Klaus Kinkel (Minister:in)

Politiker ID: 11002696

Eine Sekunde bitte, lassen Sie mich dies bitte zu Ende führen. Nachher gerne, Herr Wiefelspütz. Wir gehen davon aus, daß es dadurch möglich sein wird, neue Richter, Staatsanwälte und Rechtspfleger aus den Altländern anzuwerben und sie in den Neuländern einzustellen. Bewerbungen liegen vor: In Thüringen sind es 1 000, in Mecklenburg-Vorpommern sind es 200. Zwar gibt es regionale und strukturelle Unterschiede, aber die Bewerbungen liegen VOL Insgesamt stellt der Bund - um das noch einmal zu sagen - 120,5 Millionen DM in diesem Jahr und jeweils die gleiche Summe für die nächsten zwei Jahre zur Verfügung. Ich meine, daß wir damit ganz entscheidende Voraussetzungen geschaffen haben, um die personelle Situation in den Neuländern jedenfalls kurzfristig zu verbessern. Nun sind, wie ich meine, die Länder am Zuge. Dabei wird der Entschließungsantrag mit den in ihm aufgeführten Maßnahmen eine wertvolle Unterstützung über das erwähnte Programm für die Justiz hinaus bieten. Ich meine, daß die neuen Länder mit dem im Entschließungsantrag formulierten Maßnahmenkatalog den notwendigen kräftigen Rückenwind bekommen. Ich darf noch ganz kurz auf die Forderungen eingehen, die Herr Abgeordneter de With gestellt hat. Die Regelung des Problems des Koordinators ist meines Erachtens nicht notwendig. Wir sind im Bundesjustizministerium in der Lage, mit dem Personal, das wir haben, die Koordinationsaufgabe für den Bund wahrzunehmen. Ich habe die beiden Parlamentarischen Staatssekretäre Göhner und Funke gebeten, sich ganz speziell um diese Aufgaben zu kümmern, um die Eigentums- und offenen Vermögensfragen auf der einen Seite und um die Grundbuch- und Liegenschaftsprobleme usw. auf der anderen Seite. Wir haben das aufgeteilt; ich glaube, daß das ausreicht. Zum Mangel an Rechtsanwälten und Notaren: Ich darf darauf hinweisen, daß ich versucht habe, durch intensive Gespräche mit den Verbandspräsidenten auf diese Dinge aufmerksam zu machen, zuletzt heute nachmittag mit Herrn Schippel, was die Bundesnotarkammer anbelangt. ({0}) - Bei der Geburtstagsfeier, richtig. Ich bin sicher und weiß, daß alles geschieht. Ich stehe ja seit Monaten - vorher in meiner alten Funktion - mit den Herren in Verbindung. Da wird viel getan, außerordentlich viel sogar; ich muß das lobend hervorheben. Sie haben noch ein Problem angesprochen, Herr Abgeordneter de With, und zwar die Frage, ob man nicht die OLGs oder OVGs der Altländer für die Fragen der Neuländer zuständig machen sollte. Da muß ich Ihnen sagen, daß sämtliche Justizminister der Neuländer dies ziemlich nachdrücklich abgelehnt haben, und zwar mit folgender Begründung: Die Richter sind mit den Verhältnissen in den neuen Ländern nicht vertraut und werden es auch nicht werden - ich gebe wieder, was erläutert worden ist -; die Auslagerung ureigener rechtsstaatlicher Aufgaben der neuen Länder schwächt das Selbstwertgefühl; in den neuen Ländern bildet sich keine eigenständige landeseigene Justiz. Man hat - mit Ausnahme der Asylverfahren, bei denen es sicher zwingend und dringend notwendig sein wird - eigentlich deutlich und klar erklärt, daß man das nicht wünscht. Ich wäre also in der Beziehung eher vorsichtig und meine, daß man gerade auf diesem Gebiet die notwendige Sensibilität wahren und nicht aufzwängend oder aufdrängend in dieser Richtung verfahren sollte. An sich hatten wir diese Idee auch, haben sie auch versucht zu verfolgen, sind da aber auf große Schwierigkeiten gestoßen. Herr de With, Sie haben zum Schluß etwas angesprochen, was meines Erachtens ganz wichtig ist, nämlich die Öffentlichkeit aufzurütteln. Ich habe auch schon einmal vorgetragen, daß die Fragen des Rechtsstaats und dessen Wiederaufbaus für die betroffenen Menschen von ganz entscheidender Bedeutung sind, mindestens genauso wichtig wie die ökonomischen und finanzwirtschaftlichen Fragen. Ich habe in den paar Wochen, in denen ich Bundesjustizminister bin, versucht, alles zu nutzen, um dieses Problem signifikant zu machen und nach draußen deutlich zu sagen: Bitte achtet in besonderer Weise auf diese Thematik. Die Tatsache, daß sich das Bundeskabinett gestern - übrigens andere wesentliche Fragen vorausnehmend - so entschieden hat, wie es geschehen ist, zeigt doch, daß man sagen kann, daß etwas übergekommen ist. Ich fordere Sie übrigens auf, ich bitte Sie geradezu, mich in dieser Öffentlichkeitsarbeit zu unterstützen, von der ich glaube, daß sie von ganz entscheidender Bedeutung ist. Jetzt will ich gerne eine Zwischenfrage zulassen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Abgeordneter Wiefelspütz, Sie haben eine Zwischenfrage.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, Sie haben mit Sicherheit unsere Unterstützung; das haben Sie ja auch schon bemerken können. Ich möchte Sie im Interesse der Sache und der riesigen Aufgabe, die wir gemein630 sam zu bewältigen haben, eindringlich bitten, nicht nur von drei Jahren auszugehen und zu glauben, das sei in drei Jahren und mit 120 Millionen DM pro Jahr gelaufen. ({0}) Ich glaube, nach dem, was man einschätzen kann, wird es vermutlich länger dauern und vermutlich für den Bund teurer.

Dr. Klaus Kinkel (Minister:in)

Politiker ID: 11002696

Darf ich vielleicht so antworten: Erstens bis ich gestern sehr froh gewesen, daß ich diese Mittel so schnell bewilligt bekommen habe. Zweitens. Ich wage hier eine Prophezeiung. Sollte ich so lange Bundesjustiziminister sein, sollte ich diese drei Jahre überdauern, ({0}) bin ich ziemlich sicher, daß die Mittel in der Praxis bis dahin nicht abgerufen sein werden. Ich sage das auf Grund der Erfahrungen, die ich im letzten Jahr gemacht habe. Ich bin ziemlich sicher, daß die Mittel reichen. Im übrigen bin ich zuversichtlich: Sollten sie nicht reichen, haben die Gelder, die im Justizbereich gebraucht werden, einen solchen Umfang, daß wir sie dann zusätzlich bekommen werden. Hier bin ich zuversichtlich. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind am Ende der Aussprache. Wir haben am Schluß alle festgelegten Regeln verletzt, die Redezeiten überschritten und Zwischenfragen noch zugelassen, als schon alles zu Ende war. In diesem Sinne machen wir jetzt weiter. Denn bisher war interfraktionell besprochen, daß dieser Antrag überwiesen werden sollte. Nun höre ich, daß die hier anwesenden Fraktionen und Gruppen damit einverstanden sind, daß wir über den vorliegenden Antrag auf Drucksache 12/162 abstimmen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann beschließen wir das so. Ich bitte um ein Handzeichen, wer dem Antrag zustimmt. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS ist diesem Antrag zugestimmt. Damit sind wir mit diesem Tagesordnungspunkt fertig und haben uns dem Punkt 8 sowie dem Zusatzpunkt 4 zuzuwenden: 8. Überweisung im vereinfachten Verfahren Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1989 - Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes ({0}) -- Drucksache 12/8 -Überweisungsvorschlag des Altestenrates: Haushaltsausschuß ZP4 Erste Beratung des von den Abgeordneten Egon Susset, Richard Bayha, Peter Bleser, Peter Harry Carstensen ({1}), Albert Deß, Dr. Dionys Jobst, Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein, Dr. h. c. Adolf Herkenrath, Sigfrid Hornung, Ulrich Junghanns, Bartholomäus Kalb, Hans-Ulrich Köhler ({2}), Dr. Rudolf Karl Krause ({3}), Günter Marten, Dr. Martin Mayer ({4}), Dr. Hedda Meseke, Meinholf Michels, Kurt J. Rossmanith, Günter Schartz ({5}), Jochen Borchert, Hartmut Büttner ({6}), Ilse Falk, Susanne Jaffke, Rudolf Kraus, Heinz-Jürgen Kronberg, Helmut Johannes Lamp, Karl Josef Laumann, Walter Link ({7}), Dr. Reinhard Meyer zu Bentrup, Dr. Peter Ramsauer, Ortwin Lowack, Hans Peter Schmitz ({8}), Joachim Graf von Schönburg-Glauchau, Dr. Paul Laufs, Reinhard Freiherr von Schorlemer, Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten, Simon Wittmann ({9}), Elke Wülfing und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Johann Paintner, Günther Bredehorn, Ulrich Heinrich, Jürgen Türk, Dr. Sigrid Hoth, Lisa Peters, Jürgen Koppelin und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die strukturelle Anpassung der Landwirtschaft an die soziale und ökologische Marktwirtschaft in der Deutschen Demokratischen Republik - Landwirtschaftsanpassungsgesetz - und anderer Gesetze vom ...1991 - Drucksache 12/161 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({10}) Rechtsausschuß Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 12/161 soll zusätzlich an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Dann rufe ich die Zusatzpunkte 5 bis 9 zur Tagesordnung auf: ZP5 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({11}) Sammelübersicht 1 zu Petitionen - Drucksache 12/129 ZP6 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({12}) Sammelübersicht 2 zu Petitionen - Drucksache 12/130 ZP7 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({13}) Sammelübersicht 3 zu Petitionen - Drucksache 12/131 Vizepräsident Becker ZP8 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({14}) Sammelübersicht 4 zu Petitionen - Drucksache 12/132 ZP9 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({15}) Sammelübersicht 5 zu Petitionen - Drucksache 12/133 Wer stimmt für die Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS sind diese Beschlußempfehlungen angenommen. Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 12. März, 10 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.