Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/16/1992

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Die Sitzung ist eröffnet. ({0}) Meine Kolleginnen und Kollegen, wir haben in den letzten Monaten mehrfach Anlaß gehabt, unsere Anteilnahme an dem Leid der Opfer großer Katastrophen zu bekunden. In den letzten Tagen hat eine besonders schreckliche Katastrophe - diesmal außerhalb Europas - die ägyptische Hauptstadt Kairo getroffen. Bisher wurden 400 oder 500 Tote offiziell registriert. Vermutlich ist die Zahl der Menschen, die von den Trümmern der Häuser während des Erdbebens begraben wurden, noch wesentlich höher. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen, gilt den politische Verantwortung Tragenden in Ägypten. Dem ägyptischen Volk, dem Parlament und der Regierung spreche ich im Namen des Deutschen Bundestages unsere tief empfundene Anteilnahme aus. Sie haben sich zu Ehren der Toten von Ihren Plätzen erhoben. Ich bedanke mich. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Mutter und Kind - Schutz des ungeborenen Lebens" Drucksache 12/3376 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Familie und Senioren ({1}) Rechtsausschuß Ausschuß für Frauen und .lugend Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. - Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Staatssekretärin hei der Bundesminsterin für Familie und Senioren, unserer Kollegin Roswitha Verhülsdonk, das Wort.

Roswitha Verhülsdonk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002371

herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Jahren hat die Bundesregierung immer wieder verbesserte Leistungen zur Unterstützung von werdenden Müttern und Familien mit Kindern geschaffen. Zu diesen Maßnahmen gehört auch die Bundesstiftung „Mutter und Kind - Schutz des ungeborenen Lebens", die 1984 gegründet wurde. Sie hat bisher wesentlich dazu beigetragen, ungewollt schwangeren Frauen in Notlagen das Ja zu ihrem Kind zu erleichtern. Mit dem Gesetzentwurf, über den wir heute beraten, wird ab Januar 1993 diese Bundesstiftung auf die neuen Bundesländer ausgedehnt. Natürlich kann die Stiftung nur einen Teil der Sorgen und Nöte werdender Mütter abdecken - und diesen auch nur insoweit, wie sich die wirtschaftlichen Probleme auf Schwangerschaft und Geburt des Kindes, eventuell auf seine Betreuung nach der Geburt, beziehen. Die Beziehungskonflikte und die seelischen Probleme, die häufig bei Schwangerschaftskonflikten eine große Rolle spielen, erfordern an erster Stelle menschliche Zuwendung und sensible Beratung. Sie sind natürlich mit Geld alleine nicht zu beheben. Trotzdem gilt: Die Stiftung kann im Rahmen ihrer Möglichkeit dazu beitragen, schwangere Frauen gezielt in ihren konkreten Notlagen mit zusätzlichen Mitteln zu unterstützen. Das hat sie auch in Tausenden von Fällen schon geleistet. So wurde bisher in den alten Bundesländern mit Stiftungsmitteln mehr als 500 000 schwangeren Frauen, die sich in wirtschaftlichen Notlagen befunden haben, geholfen. ({0}) Wie aus dieser Zahl zu erkennen ist, wird die Hilfe der Stiftung von den Frauen gerne angenommen. Welchen Stellenwert wir der Arbeit der Bundesstiftung zumessen, das haben wir in den vergangenen Jahren immer wieder deutlich gemacht. So wurden die Haushaltsmittel für die Bundesstiftung seit ihrer Errichtung, also seit 1984, bereits fünfmal erhöht. Betrugen sie anfänglich noch 50 Millionen DM, so stehen seit 1990 für diese Stiftung pro Jahr 140 Millionen DM zur Verfügung. Mit der Wiedervereinigung Deutschlands konnte auf Grund der Rechtslage die Bundesstiftung nicht sofort auf die neuen Bundesländer ausgedehnt wer9692 den. Um aber schwangere Frauen mit wirtschaftlichen Problemen dort nicht schlechterzustellen, wurde mit dem Einigungsvertrag für die Zeit vom Oktober 1990 bis zum Oktober 1992 ein „Hilfsfonds für schwangere Frauen in Not" gegründet, der ausschließlich für die neuen Länder zuständig war. Er kam nach anfänglichen Informationsproblemen in den neuen Ländern ebenfalls gut an. Das erkennt man daran, daß er immerhin 19 000 Frauen und ihren Familien in besonderen Notlagen geholfen hat. Da dieser Hilfsfonds laut Einigungsvertrag zum Jahresende eingestellt wird, sieht der Ihnen nun vorliegende Gesetzentwurf vor, daß die Bundesstiftung „Mutter und Kind" ihren Geltungsbereich auf die neuen Bundesländer ausdehnt. Die Hilfen der Stiftung werden somit künftig in Ost wie in West nach einer einheitlichen Rechtsgrundlage vergeben. Mit diesem Gesetz wollen wir aber auch noch einer Besonderheit der neuen Bundesländer Rechnung tragen: der anderen Struktur der Beratungsstellen, die sich dort entwickelt hat. So kann in den alten Bundesländern eine Beratung nur in speziellen Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen erfolgen. Dies entspricht dem noch geltenden § 218b des Strafgesetzbuches. Die §§ 218ff. des Strafgesetzbuches wurden aber bekanntlich nicht mit dem Einigungsvertrag auf die neuen Länder übergeleitet. Schwangerschaftsberatung wird dort nicht nur von speziellen Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen, sondern auch von Ehe- und Familienberatungsstellen durchgeführt. Mit dem heute vorliegenden Änderungsgesetz zum Stiftungserrichtungsgesetz werden alle diese Beratungsstellen, die diese Arbeit leisten, in das Gesetz einbezogen und die Zweckbestimmung der Stiftung in § 2 Abs. 1 des Gesetzes entsprechend umformuliert. Damit können alle Beratungsstellen, die in den neuen Ländern Schwangerschaftsberatung durchführen, ab Januar 1993 die Leistungen der Bundesstiftung den Frauen vermitteln. Diese Ausweitung ist, wie ich finde, sehr begrüßenswert. Sie gilt künftig natürlich wie das Gesetz im gesamten Bundesgebiet. Sie hat zum einen eine Entlastung der Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen zur Folge, die ja bisher alleine für die Vermittlung der Stiftungsmittel zuständig waren. Wenn das Netz an Beratungsstellen nun breiter wird, dann wird es zum anderen den betroffenen Frauen leichter gemacht, Zugang zu den Hilfen aus der Stiftung zu bekommen. Die Wege werden sich dann verkürzen. Das nun vorliegende Änderungsgesetz bringt außerdem eine deutlich verbesserte finanzielle Ausstattung: Die Stiftungsmittel werden um 40 Millionen DM auf dann insgesamt 180 Millionen DM aufgestockt. Der Betrag, der bisher dem „Hilfsfonds für schwangere Frauen in Not" zur Verfügung stand, wird somit in die Stiftungsmittel integriert; er fällt also nicht weg. Darüber hinausgehende Änderungen sind nicht vorgesehen. Insbesondere soll es dabei bleiben, daß aus der Bundesstiftung keine Rechtsansprüche abgeleitet werden können. Aufgabe der Bundesstiftung ist es ja gerade, individuelle und unbürokratische Hilfen zu bieten, wenn die gesetzlichen Hilfen alleine nicht ausreichen, um der besonders schwierigen Situation der Frauen im Einzelfall gerecht zu werden. Gerade bei Schwangerschaft und Geburt können Notsituationen entstehen, die sehr speziell sind und nicht in die standardisierten Anspruchsvoraussetzungen, wie sie bei Leistungsgesetzen zugrunde gelegt werden, gefaßt werden können. Voraussetzung für die Hilfen ist, daß andere Sozialleistungen - z. B. ein Unterhaltsvorschuß, Wohngeld und Sozialhilfeansprüche nicht oder nicht rechtzeitig gewährt werden können bzw. in ihrer Summe nicht hoch genug sind, um der Problemlage der Frauen gerecht zu werden. Die Stiftungsmittel werden nicht auf Sozialhilfe, auf Arbeitslosengeld, auf Arbeitslosenhilfe, auf Kindergeld, auf Wohngeld oder auf irgendeine andere Sozialleistung angerechnet. Sie werden zusätzlich zu ihnen gezahlt. Die Bundesstiftung soll und wird auch in Zukunft eine individuelle und unbürokratische Hilfe ermöglichen. Guter Rat - so sagt der Volksmund - ist teuer. Diejenigen, die ihn geben, sollen nicht mit leeren I fänden dastehen. Die Stiftung hilft, damit Rat und Tat zusammenkommen. Vielen Dank. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Hildegard Wester, Sie haben das Wort.

Hildegard Wester (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002488, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Familienpolitik ist keine Unterabteilung der Sozialpolitik." Dieser bemerkenswerte Satz stammt von Frau Familienministerin Rönsch, gesprochen am 11. Juni dieses Jahres. Volle Zustimmung für diese Aussage. Nur, Frau Rönsch - leider ist Sie nicht da -, Sie müssen sich an ihr messen lassen. Seit nun knapp zwei Jahren besteht Ihr Ministerium für Familie und Senioren zum erstenmal seit Bestehen der Bundesrepublik ein eigenständiges Ressort. Wir alle haben erwartet, daß dieser Zeichensetzung Taten folgen, daß in diesem Ministerium Initiativen ergriffen werden, die dem drastischen Sozialabbau unter der Regierung Kohl, der Familien in besonderer Härte trifft, Einhalt gebieten und gegensteuern. ({0}) Ich nenne nur einige familienpolitische Ruhmestaten der zehn Jahre Kohl-Regierung: ({1}) Einsparung beim Schüler-BAföG, Senkung des Kindergeldes ({2}) - 1983; ich rede von zehn Jahren Kohl-Regierung ({3}) - ich rede von zehn Jahren Kohl-Regierung und von der Gesamtheit unserer Gesellschaft -, Halbierung des Ausbildungsfreibetrages, Kinderfreibetrag statt Kinderbetreuungskosten. Dies sind nur einige wenige Fakten aus der Vergangenheit. ({4}) Wenden wir uns der Gegenwart zu - vielleicht wird es dann richtiger -: 1990 bestätigte das Bundesverfassungsgericht, daß Familien mit Kindern in unserem Lande verfassungswidrig besteuert werden. Vor den Bundestagswahlen 1990 versprach Finanzminister Waigel den betroffenen Familien, die zwischen den Jahren 1983 und 1985 zuviel gezahlten Steuern zu erstatten. Was geschah? Nur die Familien, die gegen ihren Steuerbescheid Einspruch eingelegt hatten, erfuhren Steuergerechtigkeit. Dem Entschließungsantrag der SPD-Fraktion für ein Kindergeld von 230 DM monatlich, der einen wichtigen Schritt in einen gerechten Familienlastenausgleich dargestellt hätte, hat die Regierungskoalition nicht zugestimmt. Wo bleibt das Wort der Familienministerin? Ist ihr nicht klar, daß eine bloße Anhebung des Steuerfreibetrages die Gutverdienenden stärker entlastet? ({5}) Hier wäre ein Handlungsfeld für eine fortschrittliche Familienpolitik. Hier könnte die Bedeutung von Politik für die Familien unter Beweis gestellt werden. ({6}) Vorgestern gab es erneut ein Verfassungsgerichtsurteil, in dem festgestellt wird, daß die Höhe des Steuergrundfreibetrages verfassungswidrig ist. Auch hier gilt: Der Finanzminister nimmt Gelder ein, die ihm nicht zustehen. Betroffen sind wieder einmal besonders hart die Familien mit Kindern. Aber auch hier gibt es vielfältige Möglichkeiten für die Familienpolitiker, sich Gehör zu verschaffen. Eine weitere familienpolitische Leistung, die dringend einer Überprüfung bedarf, ist das Bundeserziehungsgeldgesetz. Abgesehen davon, daß die Höhe der Leistungen und die mangelnde Flexibilität in der zeitlichen Gestaltung dazu beitragen, daß Frauen in die Rolle der Haupterzieherin geraten und in ihr verharren, ist es ein schweres Versäumnis, daß bei der letzten Novellierung 1991 die Einkommensgrenze für die Leistung nach dem sechsten Lebensmonat des Kindes nicht angehoben wurde. Sie ist noch auf dem Stand des Jahres 1986, also sechs Jahre alt. Dieses Versäumnis ist eine weitere Stufe auf dem Weg von Familien in die Armut. Heute haben wir über den Entwurf der Bundesregierung des Vierten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Mutter und Kind - Schutz des ungeborenen Lebens" zu beraten. ({7}) - Ich werde Ihnen gleich sagen, daß ich die ganze Zeit beim Thema war. ({8}) - Ich sagte „gleich"; Sie müssen noch ein bißchen warten. Es handelt sich um eine Leistung für Frauen in einer bestimmten Notlage. Die Leistung in Form einer in den weitaus meisten Fällen einmaligen Geldzahlung in Höhe von in der Regel etwa 2 000 DM soll Frauen in die Lage versetzen, ihr Ja zum Kind zu erleichtern. Auf eine solche Leistung hat sie aber keinen Rechtsanspruch. Sie muß einen Bittgang antreten, um in den Genuß des Geldes zu gelangen. ({9}) - Das ist eine Frage der Interpretation. ({10}) Dazu muß sie glaubhaft machen, daß alle ihr gesetzlich zustehenden Leistungen - etwa nach dem BSHG - ausgeschöpft sind. Ist das Familienpolitik in Abgrenzung zur Sozialpolitik? Ich sage, es ist weit weniger: Es ist Fürsorge. Familien und Frauen brauchen aber weit mehr als das. Sie benötigen einen festen, planbaren Rahmen an familienpolitischen Leistungen. Das geht nur mit einem Rechtsanspruch. ({11}) Die Erfahrungen zeigen nämlich nach einer Untersuchung von „Pro Familia", daß für nur 7 % der Frauen die Aussicht auf Stiftungsgelder eine Rolle bei der Entscheidung zum Austragen einer Schwangerschaft spielt. 51 % der Antragstellerinnen leben bereits vor der Geburt des Kindes ganz oder teilweise von Sozialoder Unterhaltsleistungen. In 20 der Fälle bezogen die Schwangeren ihren Lebensunterhalt aus Arbeitslosenunterstützung oder BAföG-Geldern, in 14 % von der Sozialhilfe. Dieser Personengruppe ist nicht mit einer einmaligen Leistung geholfen. Hierher gehören familienpolitische Maßnahmen, die über einen längeren Zeitraum wirken - ich sprach sie zu Beginn an -: ein deutlich höheres Kindergeld, ein ebenso deutlich erhöhtes Erziehungsgeld, Betreuungsangebote für Kinder in jeder Altersgruppe, I lilfe bei der beruflichen Wiedereingliederung, Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten sowie flexible Arbeitszeiten. Frauen und Familien brauchen eine längere Perspektive als ein paar Monate, um ein Kind annehmen zu können. ({12}) Es ist endlich an der Zeit zu sehen, daß Familien erst dann ihren vielfältigen Aufgaben, die wir ihnen zuschreiben, gerecht werden können, wenn ihre Existenz gesichert ist. Welche Mutter, welcher Vater kann das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermitteln - eine wichtige Grundvoraussetzung für das Heranwachsen eines Kindes -, wenn ihr oder ihm täglich Existenzängste ins Haus stehen? Ich will nicht verhehlen, daß die Mittel der Stiftung in Einzelfällen eine Hilfe darstellen können. Es gibt sicherlich kritische Situationen, die mit einer kurzfristigen oder einmaligen finanziellen Hilfe überbrückt werden können. ({13}) Solche Einzelfallhilfe darf aber nicht als Alibi für eine mißglückte Familienpolitik herhalten, sondern muß als das bezeichnet werden, was sie ist. ({14}) - Das habe ich zu widerlegen versucht; schade, daß Sie das nicht akzeptieren. ({15}) Vor allem muß die Hilfe gerecht sein. Durch den Stiftungscharakter dieser Leistung haben wir aber einen Zustand der Ungleichbehandlung in der Praxis. So werden in vergleichbaren Fällen in einem Bundesland Anträge abgelehnt, in anderen Leistungen gewährt. In einem Bundesland beträgt die durchschnittliche Höhe der Leistung ein Mehrfaches der eines anderen Bundeslandes. ({16}) - Zum Beispiel Baden-Württemberg und RheinlandPfalz. ({17}) Das gleiche Ergebnis zeigt sich bei der Betrachtung der Leistungsdauer. Wenn wir verläßlich helfen wollen, müssen wir für Ersatz durch eine gesetzliche Regelung mit einem Rechtsanspruch sorgen. Ein weiterer Wermutstropfen: In allen Jahren seit 1984 haben die Finanzmittel nicht ausgereicht, um alle Anträge zu berücksichtigen. Teilweise haben die Bundesländer schon im August mitgeteilt, die Mittel seien erschöpft. Auch im laufenden Jahr sind die Nachforderungen beträchtlich. Nordrhein-Westfalen benötigt zusätzlich 1,6 Millionen DM, Bayern 1 Million DM, Hessen 650 000 DM, Bremen 0,5 Millionen DM und Hamburg 1 Million DM mehr, als in der ursprünglichen Mittelvergabe vorgesehen war. Insgesamt ergibt sich ein Mehrbedarf von fast 5 Millionen DM. Ich will eine Voraussage wagen: Durch die begrüßenswerte Einbeziehung aller Beratungsstellen, bei denen sich Schwangere um Rat und Hilfe in einer Notsituation bemühen, in die Vermittlung bzw. Vergabe von Mitteln der Stiftung wird sich der Finanzbedarf deutlich erhöhen. Die 180 Millionen DM, die Sie unter Einbeziehung der neuen Länder zur Verfügung stellen wollen, werden bei weitem nicht reichen. Dann werden Sie die Finanzierungslücke nicht mehr aus dem Stiftungsvermögen schließen können, wie Sie es in diesem Jahr tun werden. Ein weiterer Effekt wird sein, daß die vorhandenen Mittel auf mehr Personen verteilt werden müssen und dadurch die Zuwendungen bedeutend geringer ausfallen werden. Der Hilfeeffekt ist damit noch stärker in Frage gestellt. Meine Damen und Herren, auch die letztgenannten Punkte zeigen deutlich, daß letztlich nur rechtsverbindliche Leistungen Abhilfe schaffen können. Vonnöten ist das Konzept einer Familienpolitik, die die verschiedenen Stadien von Familien begleitet und stützt. Wir werden daran arbeiten. Ich danke Ihnen. ({18})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat die Kollegin Renate Diemers.

Renate Diemers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000388, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Der ideelle und materielle Wert der Stiftung „Mutter und Kind - Schutz des ungeborenen Lebens" ist bei denen, die so Hilfe in Not- und Konfliktsituationen erhalten haben, und bei denen, die diese Hilfe geben konnten, unbestritten. ({0}) Kritikerinnen und Kritiker dieser Stiftung übersehen noch immer, daß der Zweck dieser Stiftung darin besteht, ergänzende finanzielle Hilfen zu den bestehenden Leistungsgesetzen für Schwangere in Notsituationen zur Verfügung zu stellen. ({1}) Damit sollen in den Fällen, in denen für die Schwangeren aus individuellen Gründen die Leistungsgesetze nicht ausreichen und deshalb ergänzende Maßnahmen erforderlich sind, materielle Ängste während und nach der Schwangerschaft genommen werden. Das ist seit Bestehen der Stiftung in den alten Bundesländern in sehr vielen Fällen gelungen. Wie wichtig diese zusätzliche Hilfe im Einzelfall ist, Frau Wester, für die jeweils ganz persönlich gelagerte Situation, die in keine gesetzliche Norm paßt und auch nicht normiert werden kann, beweisen die Nachfragen und Anforderungen an die Stiftung. Im Gründungsjahr 1984 konnte die Stiftung „Mutter und Kind - Schutz des ungeborenen Lebens" den hilfesuchenden Schwangeren im Bundesgebiet 50 Millionen DM zur Verfügung stellen. Derzeit - wir haben es gehört - sind es 140 Millionen DM jährlich für die alten Bundesländer. Hinter diesen Beträgen stehen Menschen, die auf besondere Hilfen angewiesen sind. 1990 waren es über 330 000 Schwangere, denen auf Grund der Zusagen durch die Stiftung die Entscheidung zugunsten des Kindes erleichtert wurde. Nach meiner Überzeugung können Stiftungsgelder nicht wirkungsvoller eingesetzt werden. In diesem Zusammenhang ist es mir ein Anliegen, den Ländern und Kommunen, die durch Eigeninitiative und mit eigenen Mitteln den Finanztopf der Stiftung auffüllen, ein Wort des Dankes zu sagen. ({2}) Sie tun das - das sollte für alle anderen ein Signal und ein Vorbild sein - aus örtlicher, praxisbezogener Kenntnis der vielfach gelagerten Einzelschicksale, wo die Frauen auf diese zusätzliche Hilfe angewiesen sind. Ihnen und auch den Trägern von Einrichtungen für Schwangere in Konfliktsituationen, die in ähnlicher Weise verfahren, sage ich an dieser Stelle meinen herzlichen Dank. ({3}) Mit dem Einigungsvertrag sind wir alle auch die Verpflichtung eingegangen, den Frauen in den neuen Bundesländern Hilfsangebote in gleichen und vergleichbaren Schwangerschaftskonfliktsituationen zu geben. Übergangsweise ist dies, befristet bis zum Ende dieses Jahres, mit dem Hilfsfonds für Schwangere in Not geschehen. Nun kommt es darauf an, auch in besonderen Schwangerschaftskonfliktsituationen gleiche Hilfevoraussetzungen bundeseinheitlich bereitzustellen. Soweit dies den Bereich der Rechtsansprüche im Rahmen verschiedener Leistungsgesetze betrifft, hat meine Fraktion, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die notwendigen Initiativen ergriffen bzw. haben wir dazu beigetragen, daß die entsprechenden Koalitionsvereinbarungen eingelöst wurden. Dazu nenne ich auszugsweise: Erhöhung des Kindergeldes, Erhöhung des steuerlichen Kinderfreibetrages, Ausweitung von Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld, Ausweitung der Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung und die erhebliche Ausweitung des Freistellungsanspruchs von der Arbeit zur Pflege kranker Kinder. Im Zusammenhang mit diesem erweiterten Leistungspaket ist es folgerichtig, daß wir die Stiftung „Mutter und Kind - Schutz des ungeborenen Lebens" jetzt ebenfalls auf die neuen Bundesländer ausdehnen; denn trotz aller gesetzlichen Leistungsansprüche, die noch so ausgefeilt, die noch so großzügig bemessen sein können, werden wir nie alle Problembereiche, die im Schwangerschaftskonflikt möglich sind, gesetzlich erfassen und regeln können. ({4}) Deshalb ist es von elementarer Bedeutung, daß die Stiftung dann mit Leistungen in Erscheinung tritt, wenn schnelle und unbürokratische ergänzende Hilfen erforderlich sind. ({5}) Solche Hilfeleistungen können auf Grund von personenbezogenen Schwierigkeiten innerhalb der Herkunftsfamilien sowie der Ausbildungs- und Wohnungssituation der Schwangeren erforderlich sein. Ich unterstreiche, daß die im Sinne der Stiftung erforderliche ergänzende Hilfe mit Inkrafttreten dieses Gesetzes bundeseinheitlich erfolgen wird. Die konfliktgezielte Hilfe ist dadurch gewährleistet, daß die Vergabe der Stiftungsmittel unter Einbeziehung aller Beratungsstellen erfolgt. Auf den Hinweis, daß die Mittelvergabe der Stiftung unter Einbeziehung aller Beratungsstellen erfolgt, lege ich besonderen Wert. Schon deshalb sind alle Beratungsstellen aufgefordert - das gilt besonders für die Beratungsstellen in den neuen Bundesländern -, die Frauen über Sinn und Zweck der Stiftung zu informieren, ({6}) aber auch darüber, daß die finanzielle Hilfe, die von der Stiftung bezogen wird, nicht auf die Geldleistungen anzurechnen ist, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Auch diese Tatsache macht die Bedeutung der Stiftung sichtbar. Mit den genannten Fakten und Erfordernisssen ist unter Beachtung der vorgegebenen finanziellen Mittelaufstockung gewährleistet, daß den Schwangeren in ihrer jeweiligen individuellen Notlage die Sicherheit gegeben wird, daß sie zu den gesetzlichen Rechtsansprüchen, wenn ihre Lebensumstände es erforderlich machen, ergänzende und unbürokratische Hilfen während der Schwangerschaft bzw. nach der Geburt ihres Kindes erhalten. Durch die Stiftung „Mutter und Kind - Schutz des ungeborenen Lebens" erhalten die Mütter ein zusätzliches Hilfsangebot und damit eine größere Chance, die Schwangerschaft zu bejahen und der Geburt des Kindes materiell angstfreier entgegenzusehen. Diese Chance muß für alle Schwangeren bundeseinheitlich gegeben sein. Deshalb muß der Wirkungsbereich der Stiftung auf das gesamte Bundesgebiet ausgedehnt werden. ({7})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Barbara Höll.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste teilt im wesentlichen die Stellungnahme des Bundesrates zum vorliegenden Gesetzentwurf sowohl in der Hervorhebung der positiven Effekte als auch in der dargelegten grundsätzlichen Kritik; denn letztendlich beinhaltet dieses Gesetz lediglich die Umverteilung einer gegenüber 1991 und 1992 verstetigten Geldsumme von einem Finanztopf in einen anderen. 1993 wird die Bundesregierung genau wie 1992 insgesamt 180 Millionen DM zur Verfügung stellen, nur jetzt einheitlich gefaßt unter der Stiftung „Mutter und Kind". Damit erfolgt nur eine Vereinheitlichung der Prozedur zur Mittelerlangung für die antragstellenden Mütter in Ost- und Westdeutschland. Dies kann man bei gutem Willen als positives Ergebnis bezeichnen, obwohl ich davon noch nicht überzeugt bin. Der zweite positive Effekt, den auch der Bundesrat hervorhebt, besteht in der Anerkennung aller vorhandenen Schwangerenberatungsstellen im Beitrittsgebiet und für die alten Bundesländer in der Einbeziehung von Beratungsstellen außerhalb der Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen. Formulierung und Begründung des Art. 1 § 2 lassen meines Erachtens jedoch viele Interpretationsmöglichkeiten offen; denn in den neuen Bundesländern werden ausdrücklich nur die Schwangerenberatungsstellen hervorgehoben und in den alten Bundesländern alle Beratungsstellen einbezogen, die sich im Bereich Ehe-, Familien- und Lebensberatung betäti9696 gen. Es ist für mich die Frage, inwieweit nun Familienberatungsstellen auch in den neuen Bundesländern mit tangiert werden. Die Bundesstiftung heißt „Mutter und Kind - Schutz des ungeborenen Lebens" und hat den Zweck, werdenden Müttern ergänzende Hilfen zu gewährleisten. Eigentlich ist es toll, daß die Bundesregierung zumindest einmal das Selbstbestimmungsrecht der Frauen anerkennt. Frauen sind zwar selbst nach dem mehrheitlich verabschiedeten Gruppenantrag zur Neuregelung des § 218 StGB nicht in der Lage, ohne Beratung über ihre Schwangerschaft zu entscheiden, aber als Bittstellerin für eine einmalige finanzielle Hilfe dürfen sie selbstbestimmt auftreten. Wo gibt es die Möglichkeit für zukünftige Väter, die ihre Partnerinnen in vielen Fällen erwiesenermaßen drängen, das Kind nicht auszutragen, Hilfe zu erbitten? Selbst in den Formularen wird nur von den Frauen gesprochen; ich habe eines hier. Das Gesetz kennt also nur werdende Mütter in Not. Ich frage mich, ob es als Anerkennung gesellschaftlicher Realität gemeint ist, daß eine ungewollte Schwangerschaft tatsächlich Frauen trifft: Frauen, die überproportional in schlecht bezahlten Berufen tätig sind, weniger Aufstiegschancen haben, geringere Rentenansprüche und keine Betreuungsstätten für ihre Kinder haben. Was sind Mütter, die durch die Kinderbetreuung einen immensen, aber unbezahlten Anteil am Reproduktionsprozeß der Gesellschaft leisten, der Bundesregierung eigentlich wert? Die schon angesprochene Verstetigung der Mittel bedeutet im Prinzip, daß nicht einmal der Inflationsausgleich erfolgt, sondern gegenüber dem zur Verfügung stehenden Geld eine tatsächliche Abschmelzung erfolgt. Dabei muß man wissen, daß es sich um Summen handelt, die für Herrn Bundesminister Rühe im Verteidigungshaushalt lediglich die Portokasse darstellen. Notwendig wäre nach Meinung der PDS/Linke Liste die Realisierung eines Rechtsanspruchs für jede werdende Mutter auf finanzielle Unterstützung. Die bestehenden Rechtsansprüche wie Kindergeld, Kindergeldzuschlag, Kinderfreibetrag usw. haben lediglich unterstützenden Charakter für ein Leben mit Kindern; sie reichen natürlich nicht zur Begleichung der laufenden familiären Mehrausgaben und sind zudem sozial ungerecht verteilt. Besserverdienende erhalten für die Erziehung ihres Kindes vom Staat mehr. Die Geburt eines Kindes verursacht jedoch eine plötzliche finanzielle Mehrbelastung, die nicht einfach aufzufangen ist. Nach der Vereinigung Deutschlands wurde die in der DDR gezahlte Summe von 1 000 DDR-Mark nach der Geburt eines jeden Kindes oft als Geburtenprämie verunglimpft. Interessanterweise belaufen sich die Summen für die etwas über 800 Anträge, die im Zeitraum von zwei Monaten im April und Mai dieses Jahres in Chemnitz bewilligt wurden, alle auf etwa 1 000 DM. Sicher verfolgte die DDR-Regierung mit dieser Regelung eindeutig demographische Ziele, aber diese Regelung deckte den Finanzbedarf für eine Erstausstattung des Babys tatsächlich ab. So konnte auch eine Studentin unbesorgt ein Kind bekommen. Die 1 000 Mark reichten für Kinderwagen, Säuglingswäsche, Laufgitter und Babykorb. Vielleicht ist das für einige Mitglieder des Hohen Hauses schon zu sehr Vergangenheit. Aber informieren Sie sich einmal, was früher bei Ihnen und jetzt in Gesamtdeutschland eine solche Erstausstattung kostet! Ein Strampler kostet 33 DM - und wie viele braucht man da! Sicher war Kinderbekleidung und Kindernahrung in der DDR subventioniert, und ein Laufgitter kostete nur 28 DDR-Mark. Es ist jedoch hier nicht der Zeitpunkt und der Ort, über die Ökonomie zu diskutieren. Fakt ist, daß es in Deutschland gegenwärtig ein Luxus ist, sich ein Kind zu leisten. Die Frauen in den neuen Bundesländern spüren das natürlich besonders stark, da sie es anders erlebt hatten. Übrigens wird, wenn man die Geburtenentwicklung in der früheren DDR mit der in den neuen Bundesländern vergleicht, deutlich, daß eine bessere materielle Absicherung von werdenden Müttern nicht automatisch zu mehr geborenen Kindern führt, daß jedoch das Absinken der finanziellen und sozialen Absicherung unter einen bestimmten Mindeststandard

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin 11611, Sie sind weit über Ihre Zeit.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

- letzter Satz -, wenn man noch Faktoren wie Arbeitslosigkeit usw. hinzunimmt, einen katastrophalen Geburtenrückgang zur Folge hat, wie wir ihn jetzt in den neuen Bundesländern verzeichnen. Ich danke Ihnen. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Lassen Sie mich doch noch einmal folgende Bitte aussprechen: Wenn das rote Licht leuchtet, ist die Zeit abgelaufen. Dann gebe ich immer noch, weil man ja nicht mitten im Satz unterbrechen will, ein bißchen zu. Aber oft wird das von den Rednerinnen und Rednern so interpretiert: Ich kann jetzt noch reden, bis er interveniert. - Ich will ja nicht intervenieren. Ich bitte also, auf die Leuchtzeichen zu achten. Als nächster hat unser Kollege Norbert Eimer das Wort.

Norbert Eimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000458, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde mich bemühen, die rote Lampe nicht aufleuchten zu lassen. Ich will auch gleich am Anfang sagen, daß es mir ein bißchen unverständlich ist, nach welchen Gesichtspunkten die Redezeiten festgelegt werden. Wir haben manchmal Beratungen über komplizierte Zusammenhänge und dennoch wenig Redezeit, und manchmal beraten wir - wie jetzt - zwar einen sehr wichtigen Punkt, den man aber sehr kurz abhandeln kann. ({0}) Ich meine, daß wir dieses Thema schon zu oft behandelt haben und nicht mehr neu kommentieren müssen, daß wir die Grundsatzmeinungen schon zu oft ausgetragen haben. Egal, ob man für dieses Gesetz Norbert Eimer ({1}) oder dagegen ist, ob man es gut oder schlecht findet: Eigentlich kann man nur für diese Änderung des Gesetzes betreffend die Stiftung sein; denn es geht nicht um die Probleme, die hier angesprochen worden sind. Vielmehr steht die Änderung unter der Überschrift „Wieder ein Stücken mehr Einheit". Oder, um es mit den Worten Ihres Ehrenvorsitzenden zu sagen: Hier wächst zusammen, was zusammengehört. - Es ist notwendig, daß wir die Gesetze vereinheitlichen, und dies ist ein Weg dazu. Der allgemeine Familienlastenausgleich, der hier gerade von der SPD angesprochen worden ist, ist zwar wichtig, aber um ihn zu diskutieren, ist die Zeit zu kurz. Mit dem Einwerfen von Schlagworten, die dazu noch sehr fragwürdig sind, kann man dem Thema nicht gerecht werden. Weil wir heute einmal soviel Zeit haben, will ich einen Appell an uns alle richten: Wenn wir Familienpolitiker uns hier im Plenum so zerfleischen, wie das auch heute wieder geschehen ist, dann werden wir beim Anstehen an die Töpfe von Theo Waigel immer nur zweiter Sieger sein. ({2}) Ich will meine Redezeit aber auch dazu benutzen, wie es teilweise vorher schon geschehen ist, auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hinzuweisen. Der Grundfreibetrag ist zu niedrig. Ich erinnere mich: Seitdem ich mich politisch betätige, zieht Lambsdorff über das Land und sagt: Wir können doch den Bürgern über Steuern nicht aus der einen Tasche herausziehen, was wir ihnen über Transferleistungen in die andere Tasche hineinschieben. - Aber - da bitte ich meine Kollegen von der SPD, zuzuhören- auch in der Koalition mit der SPD war es nicht möglich, den Grundfreibetrag so zu erhöhen, wie das Bundesverfassungsgericht es von uns gefordert hat. Meine Damen und Herren, der Mangel, der durch die Besteuerung des Existenzminimums entsteht, kann und darf nicht durch eine Stiftung beseitigt werden. Hier hilft tatsächlich nur eine weitere Verbesserung des Familienlastenausgleichs. ({3}) - Ich bin froh, daß wir uns da alle einig sind. Wir sollten uns dann aber auch gegenüber den Finanzpolitikern in den einzelnen Fraktionen so verhalten. - Aber selbst wenn es gelingt, den Familienlastenausgleich so zu schaffen, wie er uns vorschwebt, wie er optimal ist, wird Not bleiben, die nicht durch komplizierte und ausufernde Gesetze behoben werden kann. Dazu brauchen wir Stiftungen wie diese, die schnell und unbürokratisch helfen können. Diese Stiftung wird angenommen. Sie hilft, Schwangerschaftsabbrüche zu vermeiden. Die Ausweitung auf die neuen Bundesländer ist notwendig und folgerichtig. ({4}) Wir haben hier wieder ein Stückchen Einheit mehr. Herr Präsident, ich habe meine Redezeit nur zur Hälfte ausgenutzt. Ich hoffe, daß Sie dazu beitragen, daß die Familienpolitiker das nächste Mal bei wichtigeren Beratungen, bei schwierigeren Problemen mehr Zeit bekommen. Vielen Dank. ({5})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich finde es sympathisch, wenn einer mehr Zeit fordert und selber weniger Zeit braucht. ({0}) Als nächster hat die Kollegin Christina Schenk das Wort.

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

I lerr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Stiftung mit dem vielsagenden Titel „Mutter und Kind - Schutz des ungeborenen Lebens" ist mit dem vorgeblichen Ziel gegründet worden, die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche durch die Vergabe von finanziellen Hilfen an Bedürftige zu senken; so steht es explizit im Gesetz. Der gedankliche Hintergrund der Stiftung und die Verfahrensweise bei der Mittelvergabe weisen diese Stiftung als eine absolute Fehlkonstruktion aus. Der Stiftung liegt die Prämisse zugrunde, die Entscheidung für oder gegen die Austragung einer Schwangerschaft sei allein oder zumindest in erster Linie eine Frage der materiellen Situation. Das ist völlig realitätsfremd. Die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch oder für die Austragung einer Schwangerschaft ist keine Frage der finanziellen Situation. ({0}) Ein solcher Zusammenhang zwischen dieser Entscheidung und der finanziellen Lage existiert nicht und ist allenfalls hypothetisch. ({1}) Das ist wirklich seit langem bekannt, und das ist letztendlich auch in den Anhörungen - Sie waren ja dabei - im Zusammenhang mit der parlamentarischen Diskussion um die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs erneut bestätigt worden. Keine Frau läßt sich durch einen einmalig gezahlten Betrag von durchschnittlich 1 000 oder auch 2 500 DM, je nachdem, wo sie sich befindet - das sind ja die Größenordnungen, um die es hier geht; auch das muß man noch einmal klar sagen -, davon abhalten, eine ungewollte Schwangerschaft abzubrechen. In Situationen, in denen tatsächlich Geldmangel eine zentrale Rolle bei der Entscheidung über die Fortsetzung oder den Abbruch einer Schwangerschaft spielt, wird die Stiftung nicht helfen können. Denn bei Problemen wie Verschuldung, Langzeitarbeitslosigkeit und bereits lang andauernder Abhängigkeit von der Sozialhilfe wird es um weit höhere Beträge gehen, als sie von der Stiftung gewährt werden können. Zudem sind in solchen Fällen längerfristige, kontinuierliche Hilfen gefragt. Außerdem ist es ein Unding, daß es keinen Rechtsanspruch auf Hilfe aus Stiftungsmitteln gibt, so daß diese den Charakter eines Almosens haben und Verteilungsgerechtigkeit nicht möglich ist. Geradezu absurd ist es, daß Frauen, die nicht vorgeben, einen Schwangerschaftsabbruch wegen finanzieller Not in Erwägung zu ziehen, ohne jede Chance sind, zusätzliche Mittel zu bekommen, zumindest wenn man sich an das Gesetz hält. Frauen, die also von Anfang an sowohl das Kind als auch das Geld haben wollen, werden vom Gesetz praktisch dazu angehalten, die Unwahrheit zu sagen. So, meine Damen und Herren, kann eine ernstzunehmende Sozialpolitik doch nicht aussehen! Ein Weiteres: Die Vergabe von Stiftungsmitteln soll in Zukunft grundsätzlich auch Sache der Schwangerschaftsberatungsstellen sein. Der damit auf diese zukommende zusätzliche Aufwand für Armutsberatung und Bürokratie läuft den eigentlichen Aufgaben dieser Beratungsstellen zuwider und kommt einer Entwertung der Arbeit, die dort von den Beraterinnen und Beratern geleistet wird, gleich. Ich wäre nun nicht überrascht, wenn die Bundesfamilienministerin trotz der massiven und grundsätzlichen Kritik an der Stiftung, die von verschiedenen Seiten geäußert wird, allein aus der Tatsache, daß Stiftungsmittel nachgefragt werden, wieder eine Erfolgsmeldung für die ach so famose Frauen- und Familienpolitik der Bundesregierung machen würde. Darin hat sie ja Übung; das hat sie schon einmal im Zusammenhang mit dem Erziehungsgeld und dem sogenannten Erziehungsurlaub gemacht. ({2}) Ich fasse zusammen: Intention und Konstruktion der Stiftung gehen sowohl an der Problematik ungewollter Schwangerschaft als auch am Problem der oftmals sehr angespannten sozialen Situation von Frauen mit Kindern vorbei. Die Stiftung kann mit der Vergabe von Almosen oder Gebärprämien die Lücken in der Sozialgesetzgebung nicht füllen. Das kann nur mit einer qualitativen und quantitativen Weiterentwicklung der gesetzlichen Grundlagen erreicht werden. Meine Damen und Herren, angsichts dieser Bilanz schlage ich vor, die Stiftung abzuwickeln. ({3}) Notwendig sind tatsächliche und tiefgreifende Entlastungen für das Leben mit Kindern, z. B. ausreichender und erschwinglicher Wohnraum - nicht nur für schwangere Frauen, sondern für alle -, ein bedarfs- und flächendeckendes Netz von Kinderbetreuungseinrichtungen und nicht zuletzt ein existenzsicherndes Erziehungsgeld sowie ein kostendeckendes Kindergeld und noch vieles andere mehr. Darüber sollten wir hier im Bundestag diskutieren, nicht aber darüber, wie ein weiteres untaugliches sozialpolitisches Instrument des Westens auf den Osten übertragen werden kann. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Eva-Maria Kors, Sie haben das Wort.

Eva Maria Kors (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit Ablauf des Jahres 1992 wird der Hilfsfonds für schwangere Frauen in Not in den neuen Bundesländern auslaufen, der im Oktober 1990 als Sofortprogramm der Bundesregierung eingerichtet worden war. Wichtig ist dabei, daß die Bundesstiftung „Mutter und Kind - Schutz des ungeborenen Lebens" statt dessen auf die neuen Bundesländer ausgedehnt wird. Von großer Bedeutung ist, daß die Mittel des Fonds in Höhe von 40 Millionen DM nicht verlorengehen, sondern in die Stiftung einfließen und somit 180 Millionen DM für schwangere Frauen in Not aus der Stiftung zur Verfügung stehen. Bei der Überleitung des Gesetzes zur Errichtung der Bundesstiftung ist außerdem sehr wichtig, daß die Vergabe der Stiftungsmittel in Zukunft über Schwangerschaftsberatungsstellen erfolgen soll. Dies ist deshalb so wichtig, weil gemäß Art. 31 Abs. 4 des Einigungsvertrages in den fünf neuen Bundesländern und Ost-Berlin Schwangerschaftsberatungsstellen eingerichtet wurden, die nicht an die Voraussetzungen für eine Schwangerschaftskonfliktberatung gemäß den §§ 218ff. StGB gebunden sind. Mit dieser Änderung des § 2 des Gesetzes erfolgt somit eine Einbeziehung aller Beratungsstellen, an die sich Schwangere wenden, wenn sie Rat und Hilfe in einer Notlage suchen. Hierzu zählen nicht nur die gemäß Art. i § 3 des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes anerkannten Beratungsstellen, sondern insbesondere auch Beratungsstellen, die im Bereich der Ehe-, Familien- und Lebensberatung sowie in der Jugend- und Familienhilfe tätig sind. Die Bundesstiftung wurde 1984 entwickelt. Ihre sehr große Inanspruchnahme vor allem durch Alleinerziehende, Frauen mit geringem Einkommen und Frauen aus Familien, die von Arbeitslosigkeit betroffen waren, zeigt, daß sie eine unverzichtbare ergänzende Hilfe zu den staatlichen Leistungen ist, zumal die Mittel aus der Stiftung nicht auf die Sozialleistungen angerechnet, sondern zusätzlich zu ihnen gezahlt werden können. Die Stiftung ist somit in der Lage, bei der Gewährung von Hilfen individuell auf die ganz persönlichen Lebensumstände der betroffenen Frauen einzugehen. Dieser schnelle und unbürokratische Weg der Hilfe kann werdenden Müttern in Konfliktsituationen die Entscheidung zur Fortsetzung der Schwangerschaft erleichtern, soweit dies eben durch finanzielle Mittel möglich ist. Regelungen in einem Leistungsgesetz dagegen können der Vielfalt menschlicher Probleme nicht mit gleicher Sensibilität und Zielgenauigkeit gerecht werden. ({0}) - Frau Hanewinckel, ich komme gleich darauf, einen Augenblick noch. Hören Sie mir einmal zu. - Der Einzelfall ist per Gesetz nie und nimmer ausreichend zu erfassen; das haben wir an anderer Stelle in der Vergangenheit oft genug in der Praxis erfahren müssen. Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Verhülsdonk hat die Zahlen bereits genannt: Seit Bestehen der Stiftung „Mutter und Kind Schutz des ungeborenen Lebens" haben in den alten Bundesländern rund 500 000 werdende Mütter die Hilfe der Stiftung und in den neuen Bundesländern 19 000 den Hilfsfonds für Frauen in Not in Anspruch genommen. Das sind - anders gerechnet - allein in den alten Bundesländern über 62 000 Hilfeleistungen im Jahr für Frauen, die durch ihre Schwangerschaft in eine besondere Notsituation geraten sind. Hinter diesen nackten Zahlen verbergen sich, wie wir alle wissen, große seelische und wirtschaftliche Sorgen und Nöte, in die die Frauen gerade auch durch ihre Partner oder ihr unmittelbares Umfeld gebracht worden sind. In Gesprächen oft genannte Gründe sind bekanntlich: das Absinken des Lebensstandards durch die Geburt und das Aufziehen des Kindes, Zahlungsverpflichtungen, die nur bei voller Erwerbstätigkeit erfüllt werden können, oder auch das Nichtwissen um Hilfsmöglichkeiten, wie z. B. die Stiftung „Mutter und Kind" eine ist. Gerade aus diesen Gründen sind gute, ausgebildete Berater und Beraterinnen in den Beratungsstellen unerläßlich, die auf Grund ihrer Erfahrungen am besten entscheiden können, welche Hilfen, wohlgemerkt: individuell zugeschnitten auf die persönliche Lebenssituation der betroffenen Frauen, angeboten werden müssen. Wer die Notwendigkeit der Stiftung in Frage stellt oder es sogar ablehnt, ihre Möglichkeiten anzubieten, der kann doch nicht an der hohen Akzeptanz durch die Hilfesuchenden vorbeigehen oder gar die Augen davor verschließen. Ich fordere Sie daher, liebe Kollegen und Kolleginnen von der SPD, von der PDS, aber auch bestimmte Einrichtungen der pro familia dringend auf, Ihre kritische Haltung der Stiftung gegenüber angesichts dieser hohen Inanspruchnahme neu zu überdenken. ({1}) Ich wiederhole und betone noch einmal: Wer ausschließlich Hilfen auf Grund von Rechtsansprüchen fordert, der muß sich sagen lassen, daß kein Gesetz - keines! - die Notsituation einer Frau in einem Schwangerschaftskonflikt individuell erfassen kann. Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat dem Entwurf des Bundesministers für Familie und Senioren zum 4. Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Mutter und Kind - Schutz des ungeborenen Lebens" zugestimmt und die grundsätzliche Kritik des Bundesrates Gott sei Dank zurückgewiesen. Ich möchte von dieser Stelle aus der Ministerin für Familie und Senioren, Frau Hannelore Rönsch, und ihren Mitarbeitern sowie der Bundesregierung Dank sagen für diesen Gesetzentwurf. ({2}) Er verdient unsere Zustimmung; denn durch ihn kann in den kommenden Jahren in der gesamten Bundesrepublik Deutschland Hilfe für in Not geratene werdende Mütter geleistet und somit auch der Schutz des ungeborenen Kindes, sein Recht auf Leben, gestärkt werden. Ich bedanke mich. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort der Kollegin Christel Hanewinckel.

Christel Hanewinckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dank ist hier sicher fehl am Platze. ({0}) - Nein, er ist fehl am Platze. Wenn Sie als Regierung, als Koalition die Hilfsbedürftigen durch Ihre Politik überhaupt erst schaffen, dann ist es wirklich fehl am Platze, sich im nachhinein dafür zu bedanken, daß die Regierung Almosen austeilt. ({1}) Ich möchte zu Beginn zwei Zitate bringen, das erste aus einem Brief einer jungen Frau und Mutter aus Chemnitz vom 30. Juni 1992. Im November vergangenen Jahres erfuhr ich, bereits im siebenten Monat schwanger, vom Hilfsfonds „Schwangere Frauen in Not". Sofort meldete ich mich dort, und man sagte mir, daß ich gute Aussichten auf eine Unterstützung zur Herstellung kindgerechten Wohnraums hätte, weil unser Familieneinkommen unter der Bemessungsgrenze lag. In unserem Falle sollte es sich um die Installation einer Heizungsanlage handeln, da unser Badezimmer und unser Schlafzimmer, in welchem auch das Kinderbettchen stehen sollte, über keine Heizstelle verfügen. Mein Mann war zu diesem Zeitpunkt noch Student und BAföG-Empfänger, und ich hatte mein Studium auch erst ein Jahr zuvor abgeschlossen, so daß uns keine Ersparnisse zur Verfügung standen. Das derzeitige Gehalt meines Mannes ermöglicht uns auch jetzt nicht die Aufnahme eines Kredites. Also besorgte ich schnellstmöglich alle Unterlagen und reichte diese am 16. 12. 1991 ein. Unser Baby wurde am 13. 2. 1992 geboren und mußte immer warm angezogen und mit Handschuhen und Mütze schlafen. Wir hatten noch immer keine Rückmeldung erhalten. Erst Ende Mai 1992, also sechs Monate später, erhielten wir einen abschlägigen Bescheid, da unser Familieneinkommen plötzlich über der Bemessungsgrenze liegt. Das zweite Zitat ist aus einem Brief der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Familienorganisation vom April 1992: Die in der Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossenen Familienverbände verfolgen mit Sorge und Unverständnis die Entwicklung um den Hilfsfonds „Schwangere Frauen in Not". Nachdem noch im Herbst '91 schwangere Frauen in den neuen Bundesländern durch die Medien dazu aufgerufen wurden, vom Hilfsfonds Gebrauch zu machen, hat man schon Anfang '92 ihr Vertrauen auf verläßliche Hilfe enttäuscht. Ende Januar wurden die Voraussetzungen für den Bezug der Hilfsmittel rückwir9700 kend zum 1. 1 . 1992 restriktiv verändert. Das sonst unantastbare Gesetz der Besitzstandswahrung hat ausgerechnet für schwangere Frauen keine Gültigkeit. Dieses Vorgehen ist uns im Hinblick auf die Diskussion um den Schutz des ungeborenen Lebens unbegreiflich. Soweit das Zitat aus dem Brief der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Familienorganisationen. In den neuen Bundesländern wurde 1991 als Entsprechung zur Stiftung „Mutter und Kind - Schutz des ungeborenen Lebens" von der Bundesregierung ein „Hilfsfonds für schwangere Frauen in Not" eingerichtet. Dieser Fonds wurde von den Frauen nur zögerlich angenommen. Unterschiedliche Gründe spielten dafür eine Rolle, u. a. auch der Grund, daß sie sich nicht als Bittstellerinnen erleben wollten. Die Gelder wurden nicht ausgeschöpft. Dadurch wurde es möglich, Baumaßnahmen aus diesem Fonds zu finanzieren. Darauf setzte eine Antragsflut ein bei der Wohnsituation in den neuen Ländern kein Wunder. Die Beratungsstellen, die diese Mittel zu vergeben hatten, hatten fast keine Zeit mehr, ihre eigentliche Arbeit zu tun, nämlich Beratung bei Erziehung, in Lebensfragen und im Schwangerschaftskonflikt anzubieten. Sie waren und sind bis heute nicht glücklich über die Mehrbelastung, Formulare und Anträge ausfüllen zu müssen. Dann aber wurde es Mitte Februar 1992, und die Beratungsstellen erhielten die Mitteilung, daß die Vergaberichtlinien ab 1. Januar 1992 geändert seien. Die betroffenen Frauen und die Beraterinnen hatten den Eindruck, daß Mitte Februar schon der April begonnen hätte. Proteste der Betroffenen, der Verbände und des Ausschusses Familie und Senioren ergaben für 1992 einen Nachtragshaushalt. Mit dem 1. Januar 1993 soll die Stiftung auch auf die neuen Bundesländer übergeleitet werden. Die Frage der Betroffenen ist: Geht nun dieses Spiel von neuem los? Gesetzgeber sind nicht zuständig für karitative Fonds, sondern für verläßliche gesetzliche Regelungen, ({2}) die Familien nicht ausnehmen, sondern ihre Existenz sichern. ({3}) Statt Fonds und Stiftungen fordern wir ein entsprechendes Kinder- und Erziehungsgeld, Betreuungsangebote für Kinder der unterschiedlichen Altersgruppen, reale gleiche Chancen für Frauen und Männer, für die, die berufliche Wiedereingliederung brauchen, wenn sie Kindererziehungszeiten in Anspruch nehmen, eine verfassungsmäßige Besteuerung der Familie, aber genauso eine Mietpolitik, die Familien leben und wohnen läßt. ({4}) Frau A. aus Chemnitz schreibt am Ende ihres Briefes: Alle diese Dinge und Erfahrungen zeigen doch eigentlich, wie unerwünscht Kinder in unserer so zivilisierten Gesellschaft sind. Um so mehr bedrückt es uns, daß einige Politiker mit aller Macht das ungeborene Leben schützen wollen, wenn das geborene Leben dann einfach so mit Füßen getreten werden kann. Sind es denn unsere Kinder nicht wert, daß wir das Allerbeste für sie tun? Sie sind doch unsere Zukunft. Was aber tut die Bundesregierung bzw. die CDU/ CSU-Fraktion? Sie erhebt Verfassungsklage gegen den mehrheitlich verabschiedeten Gruppenantrag zum Schwangerenhilfegesetz. Die Koalition verabschiedete gestern eine Novellierung des Arbeitsförderungsgesetzes, dessen Lasten vorrangig die Frauen und damit die Familien zu tragen haben. Außer Absichtserklärungen von Frau Rönsch, daß die Verfassungsgerichtsurteile einen Weg weisen - den sie aber nicht beschreitet -, und außer daß Frau Merkel die Frauen dazu aufruft, sie sollten um ihre Rechte kämpfen, dabei aber nicht denken, daß sie ihnen auf einem Silbertablett serviert werden, ist von dieser Regierung nichts zu hören. Ich frage mich, ich frage Frau Merkel und Frau Rönsch, an wen sie eigentlich dauernd appellieren, wenn nicht an die Regierung, zu der sie ja meines Wissens immer noch gehören. ({5}) Familien und Frauen brauchen keine Appelle und Absichtserklärungen, keine Gnadenakte und keine Almosen - wie Stiftungsgelder immer wieder erlebt werden und was sie auch sind , sondern sie brauchen familienpolitische Leistungen, auf die sie einen Rechtsanspruch ha ben. Die konkreten Einzelerfahrungen aber sind deprimierend. Bis zu 70 % der Arbeitslosen in den neuen Ländern sind Frauen. Alleinerziehende Frauen mit Kindern erleben sich und ihre Kinder zunehmend als ausgegrenzt und sind auf Sozialhilfe angewiesen. Das sind Verletzungen der Würde der Frauen und der Familien, Mißachtung und Entwertung ihres Leistungswillens, aber auch der Besonderheit und Andersartigkeit der Frauen, schwanger werden zu können und Kinder zu gebären. Für die Frauen in den neuen Ländern bedeutet das einen erheblichen Identitätsverlust als Frau und Mutter, der sich darin zuspitzt, daß sich viele Frauen in den neuen Ländern der Männlichkeit anpassen. Der deutliche Ausdruck dafür sind die steigende Zahl der Sterilisierungen und der vehemente Rückgang von Geburten in den letzten zwei Jahren. Offensichtlich stehen frauliche, weibliche und familiale Fähigkeiten nicht hoch im Kurs und gilt die tiefe Erfahrung als Frau und Mutter nicht oder nur wenig als gleichberechtigt. Damit aber schwinden auch das Vertrauen und die Hoffnung in demokratische Werte und politische Verantwortung. Mit der Überleitung der Stiftung „Mutter und Kind" auf die neuen Bundesländer zum 1. Januar 1993 ist Vertrauen nicht zurückzugewinnen. Das ist nur mit einer entsprechenden Familienpolitik möglich. ({6})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/3376 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Die Überweisung ist beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 a und b auf: a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung im Jahr 1989 - Drucksachen 12/69, 12/2515 Berichterstattung: Abgeordnete Klaus Harries Reinhard Weis ({1}) Gerhart Rudolf Baum b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) zu dem Antrag des Abgeordneten Ulrich Klinkert und der Fraktion der CDU/CSU sowie des Abgeordneten Gerhart Rudolf Baum und der Fraktion der F.D.P. Reaktorsicherheit in den Staaten Mittel- und Osteuropas - Drucksachen 12/1906, 12/2759 Berichterstattung: Abgeordnete Ulrich Klinkert Siegrun Klemmer Gerhart Rudolf Baum Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Es ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Klaus Harries das Wort.

Klaus Harries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000814, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In diesen Tagen, nach letzten Meldungen sogar heute, gehen die zwei Reaktoren in Tschernobyl, die nicht zerborsten sind, wieder ans Netz. Das ist eine schlimme Nachricht, die uns erschreckt. Wir halten das wohl übereinstimmend für verantwortungslos. Man ist angesichts dieser Entwicklung beinahe geneigt, zu fragen, ob die neuen Machthaber in den GUS-Ländern, hier in der Ukraine, die menschenverachtende Politik der Vergangenheit fortsetzen. Allerdings gebietet es die Fairneß, zu sagen, daß die GUS-Staaten in wirtschaftlicher Anspannung und Not und trotz aller Ressourcen vor allem in einem Energienotstand sind. Der Bundesumweltminister hat seit Jahr und Tag mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß die RWMKKernkraftwerke der Sowjetunion und der Nachfolgestaaten ohne Ausnahme geschlossen werden müssen. Die Bundesregierung hat das insgesamt unterstützt. Beim letzten Gipfel in München war dieses wichtige Thema Gegenstand der Beratungen, und es hat auch die Unterstützung der Weltwirtschaftsmächte gefunden. Dabei geht es, wie wir alle wissen, nicht nur darum, in den GUS-Ländern eine Entscheidung hinsichtlich der 15 oder 16 RWMK-Modelle herbeizuführen, sondern von Petersburg bis Kosloduj in Bulgarien strahlen weitere Kernkraftwerke eines anderen Systems, nämlich Druckwasserreaktoren, in einer Weise, die unserem Sicherheitsstandard überhaupt nicht entspricht. Hier ist nach Meinung aller Fachleute eine andere Meßlatte anzulegen. Bei den meisten dieser 50 Druckwasserreaktoren könnte man durch Nachbesserung, durch Sanierungsmaßnahmen, Verbesserungsmaßnahmen und Ergänzung tätig werden, wobei ich nicht ausschließe, daß man auch zu neuen Energiekraftwerken ohne Kernenergie kommt. Alle Industrieländer, vor allem die EG-Industrieländer, fühlen sich verantwortlich und haben die Bereitschaft bekundet, den GUS-Staaten zu helfen. Man hat von Geld gesprochen. Nur, wir haben gemeinsam zu fragen: Wo bleiben hier die Taten? Dem Vernehmen nach liegen bei der EG in Brüssel einige hundert Millionen ECU bereit - angeblich 200 Millionen, aber ich kann die genaue Zahl nicht nennen -, um einen Beitrag zur Verbesserung der Druckwasserreaktoren zu leisten. Es gibt europäische Länder, die ebenfalls einen, wie ich meine, zu geringen Beitrag, aber immerhin einen Beitrag leisten. Wir haben in der letzten Sitzung des Umweltausschusses feststellen müssen, daß der Etat für 1993 mehr als symbolische finanzielle Beiträge der Bundesrepublik Deutschland nicht enthält. Hier müßte nachgebessert und gehandelt werden, ({0}) weil die Sicherheit der Energieversorgung in den GUS-Ländern und die Sicherheit der genannten 50 Druckwasserreaktoren von Petersburg bis Kosloduj in unserem Interesse liegt, ({1}) im Sicherheitsinteresse unserer Einwohner. Wir sind - das sage ich freimütig - aber auch deswegen daran interessiert, weil wir es für notwendig halten, auch in Zukunft auf die Kernenergie nicht zu verzichten. Es ist völlig klar: Wenn ein weiteres dramatisches Ereignis, ein katastrophaler Unfall in den GUS-Staaten einträte, würde die ohnehin schwankende Akzeptanz in unserer Bevölkerung weiter sinken, und wir kämen in einen Energienotstand. Es besteht also Handlungsbedarf. Die Kernenergie ist für uns unverzichtbar, weil wir unsere Energieversorgung in der Zukunft sicherstellen müssen, weil wir weiterhin zu einem vernünftigen Energiemix ja sagen, weil wir in den Kernkraftwerken einen Beitrag zum Umweltschutz und zur Klimavorsorge sehen. Die bei uns arbeitenden 20 Kernkraft9702 werke leisten einen Beitrag zur Verringerung der CO2-Emission von rund 150 Millionen m3. Auf die genannten Summen können und werden wir in Anbetracht der skizzierten Umstände nicht verzichten. Es besteht der beschriebene Handlungsbedarf. Wir sagen ja zur Kernenergie, weil sie vor unserer Bevölkerung aus den genannten Gründen verantwortbar ist, da eine Strahlenbelastung nicht besteht. Daß diese Strahlenbelastung nicht besteht, ergibt sich aus dem Bericht der Bundesregierung über die Strahlenbelastung in unserem Land für 1989. Darin wird klar und deutlich dargelegt, wie die Strahlenbelastung aus natürlichen Quellen und aus zivilisatorischen Quellen ist und wie weiterhin die Auswirkungen von Tschernobyl sind. Das Ergebnis ist: Die Grenzwerte werden eingehalten. Trotzdem mache ich einige kritische Einzelbemerkungen. Die erste Bemerkung. Ich halte es gerade wegen der schwierigen Debatte in unserem Land für unverzichtbar, daß wir in die Lage versetzt werden, diese Berichte nicht erst nach drei Jahren, zu diskutieren, damit wir wissen, was Sache ist, und der Bevölkerung sagen können, daß keine Gefahr besteht. Die zweite Bemerkung. Wir haben im Bereich meines Wahlkreises, im Bereich Krümmel, Leukämietote. Dort gibt es eine andauernde schwierige Diskussion bei den Betroffenen und in der Bevölkerung. Dabei wird gesagt: Der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Kernkraftwerk Krümmel und dem bedauerlichen Tod der Kinder ist klar nachgewiesen. - Das ist nicht der Fall! Ich appelliere hier, auf geeignetem Weg die beauftragten Institute zu bitten, sehr schnell zu klaren wissenschaftlich begründeten Aussagen zu kommen, damit die Bevölkerung beruhigt werden kann. Die dritte Bemerkung. In der Tabelle 2 des Berichts werden die Emissionen aus den Kernkraftwerken dargestellt. Bei Stade und Würgassen ist mir aufgefallen, daß die Tritium-Emission relativ höher als in anderen Kraftwerken ist. Ich frage die Bundesregierung, welche Erklärung es dafür gibt. Woran liegt das? Ich bitte, dies heute oder später zu klären. Im übrigen sagt der Bericht positiv aus: Die Grenzwerte werden eingehalten. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Dr. Klaus Kübler, Sie haben das Wort.

Dr. Klaus Kübler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001238, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Harries, Sie haben auf typische Weise vorgeführt, wie Kollegen der CDU das Thema Kernenergie behandeln. Sie sprechen auch in Ihrem Antrag auf der einen Seite von den ungeheuren Gefahren der Kernenergie ({0}) und sagen auf der anderen Seite geradezu ideologiehaft: Aber wir machen mit der Kernenergie weiter. Ich glaube, irgendwann muß man von dieser schizophrenen Politik wegkommen. Die Beschreibung der Situation in Ihrem Antrag halte ich für gar nicht schlecht. Ich finde allerdings die Konsequenz, die Sie daraus ziehen, völlig unzureichend. Sie schildern die Sicherheitslage im Bereich der Kernenergienutzung in Osteuropa als „äußerst besorgniserregend". Es heißt weiter in Ihrem Antrag: Die Situation der Energiewirtschaft ist eine der Hauptursachen für die katastrophale Umweltsituation in diesen Staaten. Dann kommt der Antrag der Koalitionsfraktionen, der in keiner Weise Ihrer Analyse entspricht. ({1}) - Ihr Antrag - das muß ich auch im Hinblick auf unsere Diskussion von Mittwoch deutlich sagen, Herr Baum - ist ausschließlich an der Fortführung der Kernenergiepolitk auch in den osteuropäischen Ländern orientiert. ({2}) In diesem Antrag steht nichts über Prioritäten für Alternativenergien oder Einsparszenarien oder die Unterstützung entsprechender Aktivitäten. Das ist ein entscheidender Mangel. Der Antrag geht wie selbstverständlich vom grundsätzlichen Fortbestand und - leider - vom Ausbau der zivilen Kernenergienutzung in Osteuropa aus. Diese Weichenstellung ist grundsätzlich falsch. ({3}) Sie können oder wollen aus Tschernobyl und 15 weiteren möglichen Tschernobyls und 30 anderen Kernreaktoren, die Zeitbomben entfalten, nicht lernen. ({4}) Ich wiederhole, was ich schon mehrmals gesagt habe: Wenn uns ein Ausstieg aus der Kernenergie in Osteuropa gelingen soll - nur 11,5 % des Stroms in den GUS-Ländern kommen aus Kernreaktoren -, dann muß das jetzt geschehen. Es dürfen nicht stattdessen zig Milliarden in eine marode Kernenergiewirtschaft gesteckt werden. Kernenergiepolitik in Osteuropa ist und bleibt eine Sackgassenpolitik. Ich bin fest davon überzeugt, daß es uns nicht gelingen wird, in Osteuropa zu einer einigermaßen geordneten Kernenergiepolitik zu kommen, selbst nicht aus der Sicht der Kernenergiebefürworter. ({5}) Sie haben davon gesprochen, daß heute ein schwarzer Freitag ist. Ich betone: Heute ist ein Schwarzer Freitag für die Gesundheit der Menschen in der Ukraine, für die Gesundheit der Menschen in OsteuDr. Klaus Kübler ropa, für die Gesundheit der Menschen im mittleren und westlichen Europa. ({6}) Ich bin sicher - Sie haben das auch zum Ausdruck gebracht -, daß nicht nur in der SPD dieses Verhalten des neuen demokratischen Staates Ukraine große Enttäuschung hervorruft. Beinahe jede Woche erreichen uns entsprechende Meldungen. Heute kommt die Meldung, daß das Kernkraftwerk Ignalina in Litauen seit einer Woche Störfälle zu verzeichnen hat. Man kann diese Reaktoren nicht sicher machen. Man kann sie nur abschalten. Vielleicht könnten wir uns darüber in den großen Fraktionen einig werden. ({7}) Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, bilateral und international gegen die Wiederinbetriebnahme zu intervenieren. ({8}) Rufen wir uns die Fragestunde vom letzten Mittwoch in Erinnerung. Dort hat sich Ihr Kollege Laufs gesträubt und sich erst nach Nachfragen bereit erklärt, zu prüfen, ob erneute Interventionen bei der ukrainischen Regierung möglich sind. Wir sind dankbar, wenn wir heute etwas Positiveres hören, Wo ist ein Stillegungsprogramm? Ich frage Sie heute - Sie haben nachher das Wort -: In welcher Form wird die Bundesregierung mit der Ukraine auf internationaler oder bilateraler Ebene sprechen? Welche Möglichkeiten kann sie ausschöpfen? Lassen Sie mich etwas sagen, was mich intensiv beschäftigt. Die Bundesregierung fordert, Entwicklungshilfe mit der Garantie der Achtung vor Menschenrechten in Verbindung zu bringen. Ich denke, es muß zumindest die Frage gestellt werden dürfen, ob nicht auch hei der Hilfe für Staaten, in denen lebensbedrohende Atomreaktoren betrieben werden, vergleichbare Kriterien angelegt werden müssen. Wir haben hier Formen von Risiken für Menschenrechtsverletzungen. Ich glaube, wir können diese Frage nicht abtrennen. Lassen Sie mich hinzufügen, auch wenn es mir schwerfällt, das zu sagen: Für mich stellt sich die Frage, ob und wie lange die deutsche Bevölkerung noch bereit ist, die Ukraine zu unterstützen, wenn die ukrainische Regierung weiterhin eine nukleare Risikopolitk betreibt. Das sollte der ukrainischen Regierung bewußtgemacht werden. Lassen Sie mich abschließend sagen: Die Frage der Sicherheit der osteuropäischen und GUS-Kernkraftwerke verweist auf das Grundproblem der Nutzung der Kernenergie. Schon in hochindustrialisierten und stabilen Gesellschaftsordnungen birgt die Nutzung der Kernenergie ein auf Dauer unvertretbar hohes Risiko. In Gesellschaften, die nicht über vergleichbar stabile Ordnungssysteme verfügen - deren Zahl. nimmt leider eher zu als ab -, ist es unverantwortlich, an der Nutzung der Kernenergie festzuhalten. ({9}) Zum Schluß richte ich an die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU die Frage: Nimmt die Bundesregierung die Sicherheit und Gesundheit der deutschen Bevölkerung ausreichend ernst? Die Antwort lautet: Nein. ({10}) Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Gerhart Baum.

Gerhart Rudolf Baum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000111, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind uns einig: Ein Teil der Reaktoren in Osteuropa ist eines der größten globalen Risikopotentiale neben den Risiken der militärischen Nuklearnutzung und deren mißbräuchlicher Verwendung. Wir haben den Antrag vorgelegt, um Sensibilität für diese Gefährdung zu schaffen und die Bundesregierung hei ihren Bemühungen um bilaterale und internationale Maßnahmen zu unterstützen. Hilfe kann nicht allein von den Deutschen erbracht werden. Das geht nur in einer internationalen Partnerschaft und Kraftanstrengung, die von einer umfassenden energiepolitischen Zusammenarbeit zwischen Ost und West natürlich nicht losgelöst sein kann, Herr Kollege Kübler. Sie kann auch nicht losgelöst werden von der allgemeinen ökonomischen und politischen Situation in Osteuropa. Es sind chaotische Strukturen. In der Ukraine haben mehrere Fraktionen gegeneinander gekämpft. Es gab eine Fraktion, die die Nichtinbetriebnahme von Tschernobyl befürwortete. Sie ist von einer anderen Gruppe überstimmt worden. In einem Land, das sich im Umbruch befindet, mit normalen Maßstäben zu messen ist sehr schwierig, ja unmöglich. Sie haben kritisiert, daß unser Antrag zu kurz greift, Wir haben uns auf das konzentriert, was jetzt binnen kurzer Frist von uns getan werden muß. Daß dahinter die politische Zusammenarbeit und die Einsicht stehen, daß alles, was in Osteuropa geschieht, ein Stück unserer Zukunft im umfassenden Sinn ist, wollten wir in diesen Antrag nicht hineinschreiben. Wir brauchen eine energiepolitische Zusammenarbeit. Wir haben eine solche Zusammenarbeit hier in Westeuropa. Wir haben u. a. eine Energiecharta in der Europäischen Gemeinschaft. Wir haben aber leider nicht das ist ein Stück unserer Hilflosigkeit gegenüber Osteuropa - eine energiepolitische Zusammenarbeit in unserem eigenen Land. Der Herr Kollege Fischer und auch die SPD sind aufgefordert, mit uns, den Regierungsparteien, einen neuen Konsens zu suchen. ({0}) Warum haben wir nicht einen Mindestkonsens über die Entsorgung? Wir alle sind in der Verantwortung für Entsorgung! ({1}) Warum finden wir, was die Energienutzung in unserem Lande mit den schwierigen Problemen Kohle, Kernenergie usw. angeht, nicht zu einem Konsens zurück? Ich bin kein Befürworter einer Leichtwasserreaktorzukunft. Das Zukunftsbild ist natürlich die alternative Energie. Aber neben den alternativen Energien gibt es Reaktorlinien, auf die man nicht ohne weiteres verzichten sollte. Ich fordere also einen energiepolitischen Konsens im eigenen Lande. Wie können wir als Deutsche in Europa, in einer Energiepolitik der Europäischen Gemeinschaft bestehen, und wie können wir die Probleme Osteuropas energiepolitisch lösen, wenn wir nicht einmal im eigenen Land ein Mindestmaß an Übereinstimmung haben, wie wir sie etwa 1978 hatten, als wir in der Regierung Schmidt die Entsorgungsgrundsätze zwischen Bund und Ländern einmütig formuliert haben? Es gibt in Osteuropa alte Anlagen des Typs RBMK, des Tschernobyl-Typs, und Anlagen des Typs WWER 440 230, des Kosloduj-Typs. Ich sage hier ganz deutlich: Diese Anlagen sind nicht nachrüstbar; sie müssen abgestellt werden! Hier gibt es überhaupt kein Zögern. Die Bundesregierung hat das auch gestern zum Ausdruck gebracht. ({2}) Ich war vor kurzem in Tschernobyl. Ich war auch in Weißrußland. Es wird ja oft vergessen, daß es die Hauptschäden in Weißrußland gibt. Dort sind etwa 23 % des Gebietes für lange, lange Zeit landwirtschaftlich nicht nutzbar. Sie kennen die Fälle der Leukämie bei Kindern. Ich war in der gespenstischen 30-km-Zone von Tschernobyl. Es ist wirklich die größte und langwierigste Umweltkatastrophe, die ich kenne. Diese Anlagen dürfen nicht in Betrieb gehen. Es wäre ja geradezu absurd, wenn aus dem wieder in Betrieb gehenden Reaktor Tschernobyl Strom nach Österreich geliefert würde, wie wir hören. In Österreich steht eines der modernsten Kernkraftwerke, Zwentendorf, still. Es ist nie in Betrieb genommen worden. Die Österreicher sollten sich jetzt angesichts dieser zynischen Position überlegen, ob sie Strom aus diesem Unglücks- und Katastrophenreaktor beziehen oder ihre eigene Anlage in Betrieb nehmen wollen. ({3}) Wir haben keinen unmittelbaren Einfluß auf die entscheidenden Regierungen. Wir sollten ihnen jedoch bei der Entwicklung von Stromerzeugungsanlagen helfen, die an die Stelle dieser nicht nachrüstbaren Reaktoren treten können. Kosloduj ist eine einzige Katastrophe. Wenn man daran denkt, könnte es einem den Schlaf rauben. Es gibt aber Anlagen, die für eine begrenzte Zeit nachrüstbar sind. Und ich will hier auch keine Garantie für einen unbegrenzten Weiterbetrieb aussprechen. Für die Restlaufzeit gibt es aber Nachrüstbarkeit, Verbesserung der betrieblichen Sicherheit, kurzfristig realisierbare technische Maßnahmen, Stärkung der Kontrollbehörden. Ich frage mich, Herr Kübler, ob wir uns hier verweigern sollen, ob wir einen fundamentalistischen Standpunkt einnehmen sollen nach dem Motto: Wenn ihr nicht auch das sofort ersetzt, dann seid ihr für alles Weitere verantwortlich. - Es ist eben so, daß ganze Regionen von einzelnen Kraftwerken abhängig sind. Das litauische Kraftwerk mit dem Störfall gestern ist für eine ganze Region der einzige Stromerzeuger, im übrigen auch für den Export nach Rußland, und Rußland liefert auf dieser Basis dann Erdöl nach Litauen, das sonst kein Erdöl bekäme. Davon sind also ganze Regionen abhängig. Ich bin der Meinung, daß hier ein pragmatischer Ansatz richtig ist, den die Bundesregierung vertritt. Deshalb habe ich mich gewundert, daß Sie am Mittwoch im Ausschuß unseren Wunsch nach einer Verstärkung der Haushaltsmittel abgelehnt haben. Wir wollten damit wenigstens für eine Übergangszeit helfen, daß die Gefährdung zwar nicht ausgeschlossen wird, aber sinkt. Das ist verantwortungsvolle Politik, und hier unterstützen wir nachdrücklich die Bundesregierung. Das ist auch der Inhalt unseres Antrags. Wir sind nicht zufrieden mit dem Haushalt. Wir müssen das hier ganz deutlich sagen. Ich unterstütze das, was Herr Kollege Harries gesagt hat. Diese Mittel müssen für den Fonds, der international auf dem Weltwirtschaftsgipfel vereinbart worden ist, und für die bilaterale Hilfe verstärkt werden. Ich habe noch einige kurze Bemerkungen zu den Cäsiumfunden zu machen. Diese Vorgänge zeigen, daß die zusammenbrechenden Strukturen in Osteuropa auch für uns tiefgreifende Folgen haben. Die Bundesregierung hat am 29. April einen Bericht „Handlungskatalog in bezug auf vagabundierendes Plutonium" vorgelegt. Ich stimme dem zu. Wir sehen die Gefahren, die mit Cäsium und Strontium zusammenhängen. Wir müssen den Menschen, die glauben, eine schnelle Mark verdienen zu können, sagen, daß es keinen Markt für diese Produkte gibt und sie für Bomben ungeeignet sind. Sie sind eine ganz hohe Gefährdung für diejenigen, die diese Materialien transportieren und mit ihnen umgehen. Ich verweise darauf, daß sich die Justizministerin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, in diesem Zusammenhang für eine Verschärfung des Umweltstrafrechts ausgesprochen hat. Die Gesetzeslücke, wonach die Einfuhr und die Ausfuhr von Cäsium und Strontium bisher nicht strafbar sind, wird geschlossen werden müssen. Auch die Durchfuhr durch unser Land muß künftig bestraft werden. Die Strafandrohungen insgesamt müssen erhöht werden. Die Schlußbemerkung. Wir sind hier einer neuen Situation ausgesetzt, die von dem Zusammenbruch der alten Strukturen in Osteuropa herrührt. Für die Situation dort sind wir nicht verantwortlich. Wir versuchen, die Gefährdungen einzugrenzen. Wir versuchen, einen Beitrag zu leisten. Die Bundesrepublik hat hier seit vielen Monaten auf internationaler Ebene eine Meinungsführerschaft, und sie hat eine Initiative unternommen. Der Weltwirtschaftsgipfel hat das gezeigt. Nur müssen jetzt, Herr Kollege Wieczorek, Taten folgen. Diese Beschlüsse müssen im eigenen Land umgesetzt werden. Hierzu müssen im Bundeshaushalt die notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt werden. Alles ist nur in internationaler Zusammenarbeit zu leisten. Wir wären weit überfordert, wenn wir dieses Problem auf unsere Schultern nähmen. Herr Kollege Kübler, wir sind nicht verantwortlich. Machen Sie uns bitte nicht zum Komplizen von Leuten, die nach wie vor in unverantwortlicher Weise ein hohes Gefährdungspotential an Kernkraftwerken betreiben! Wir versuchen, die Gefährdungen einzugrenzen. Vielen Dank. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann, Sie haben das Wort.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über den Strahlenschutzbericht der Bundesregierung könnte man sich jedes Jahr aufs neue ärgern. Trotzdem möchte ich vor allem dazu etwas sagen. Vorab nur so viel: Die neuartige Bedrohung von Mensch und Umwelt durch Proliferation von Nuklearmaterial z. B. infolge der Destabilisierung der Nuklearmacht Sowjetunion finden wir in Bahnhofsschließfächern und Kofferräumen wie jüngst in Frankfurt. Die Dunkelziffer auf diesem Gebiet dürfte erheblich höher sein. Aber auch hier gilt, Kollege Baum: Nur der Ausstieg aus der militärischen oder zivilen Nutzung von Nukleartechnologie weltweit bietet tatsächlich wirksamen Schutz. Aber darüber reden wir wohl erst beim Strahlenschutzbericht 1992. Oder? Reden wir also über den Strahlenschutzbericht 1990 und den Uranbergbau. In Anbetracht der kurzen Redezeit möchte ich mich auf dieses Problem konzentrieren. Durch den jahrzehntelangen Uranabbau und die Erzaufbereitung in der SDAG Wismut im Süden der DDR wurden großflächige radiologische Verseuchungen eines Gebietes von zusammen über 1 200 km2 verursacht. Dieses Uran wurde komplett von der Sowjetunion abgenommen. Noch gibt es keine offiziellen Angaben über die radiologische Belastung und die Gefährdung, die vom Uranbergbau in der früheren DDR ausgeht, den Gruben, dem Tagebau, den Halden, dem im Straßen- und Häuserbau verwendeten radioaktiven Haldenmaterial sowie besonders den Rückständelagern in Grossen und Seeligstädt, in denen die Rückstände aus der Uranerzaufbereitung lagern. Es ist nicht auszuschließen, daß es auf Grund der hohen Strahlenbelastung zu Evakuierungen kommen muß. Die atomgläubige Regierung der DDR hat dieses Kapitel der DDR-Geschichte mit einem Mantel des Schweigens umgeben. Nach dem Anschluß der DDR an die Bundesrepublik versucht die atomgläubige Bundesregierung, diese Tradition fortzusetzen. Die Akten über Strahlenerkrankungen der Bevölkerung und des Personals, bisher nicht der kritischen Öffentlichkeit zugänglich, sind in die Archive des Bundesamts für Strahlenschutz gewandert und werden dort weiter der Öffentlichkeit vorenthalten. Der Grund hierfür: In keinem anderen Staat der Welt wurde über Personal und Anwohner des Uranbergbaus so lückenlos bezüglich Strahlenexposition und Erkrankungen Buch geführt wie in der DDR. Hierdurch ließen sich eindeutige Belege für Gesundheitsschäden im Uranbergbau weltweit ableiten. Zu diesem weiteren Beweis der tödlichen Sicherheit der Atomenergie will es die Bundesregierung nicht kommen lassen. Im sogenannten Einigungsvertrag hat die Bundesregierung mit vorgesehenen Überleitungsregelungen die bundesdeutsche Strahlenschutzverordnung für den Uranbergbau und dessen Folgen auf dem Gebiet der DDR außer Kraft gesetzt. Die Grenzwertfestsetzung geschieht weiter nach DDR-Recht, das hier offensichtlich nicht als Unrecht angesehen wird. - Die DDR-Vorschriften aber blieben in diesem Fall weit unter den ebenfalls unzureichenden Vorschriften der BRD zurück; damit beantworte ich Ihre Frage. ({0}) Es ist demnach festzuhalten: Die Bundesregierung verstößt mit dem Außerkraftsetzen der bundesdeutschen Strahlenschutzverordnung ebenso gegen eigene Gesetzgebung wie gegen EG-Recht. Die PDS/Linke Liste fordert daher: lückenlose Aufklärung der Beschäftigten des Uranbergbaus sowie der Bevölkerung der betroffenen Gebiete über Strahlenbelastung in Vergangenheit und Gegenwart; die Bildung einer Untersuchungskommission aus Vertreterinnen und Vertretern der Belegschaft, der Bevölkerung, der Wissenschaft und der Regierung mit dem Ziel der Aufklärung der Situation sowie der Erstellung von Sanierungskonzepten; ({1}) Bereitstellung von Mitteln für ein Sofortprogramm zur Haldensanierung und Schadensminimierung der Folgen des Uranberghaus sowie notwendige Umsiedlungen der Bevölkerung. ({2}) Die Bezirksregierung Gera hatte übrigens bereits 1990 die Kosten für die Altlastensanierung auf 40 bis 50 Milliarden DM geschätzt. ({3}) Wahrscheinlich liegen sie erheblich höher. Über das weite Feld der ständig steigenden Belastung von Menschen und Umwelt durch nichtionisierende Strahlen aus Elektrogeräten über Hochspan9706 nungsanlagen bis zu Sendeanlagen schweigt sich der Bericht der Bundesregierung auch diesmal weitgehend aus. Insbesondere die steigende Anzahl von Anlagen des C- und D-Telefonnetzes mit dazugehörigen Sendetürmen verursacht eine ständig steigende Belastung, deren Folgen nahezu unbekannt sind. Bemerkenswerterweise sitzen in den Kommissionen, die die Strahlenbelastung bewerten sollen, fast ausschließlich Industrievertreter. Die behaupteten: Alles harmlos! „Alles harmlos" meint auch die Bundesregierung in ihrem Strahlenschutzbericht 1990. Sollten Sie weitere Fragen haben, liebe Kollegen von den Koalitionsfraktionen, wenden Sie sich bitte an die Kollegen Ihrer Fraktion, die im Umfeld der Wismut - z. B. als Chemiefacharbeiter - gearbeitet haben. ({4}) Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Der amtierende Präsident ist - besonders vor namentlichen Abstimmungen - oft in der Situation, daß er um Ruhe bitten muß. ({0}) Heute bin ich in Versuchung, um Unruhe zu bitten. ({1}) Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige das Wort.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mich wundert es wirklich, daß wir so ruhig sind. Sonntag, 11. Oktober: In Frankfurt wird strahlende Schmuggelware beschlagnahmt. Die radioaktiven Stoffe - Cäsium 137 und Strontium 90 - stammen vermutlich aus einem Nachfolgestaat der früheren Sowjetunion. Montag, 12. Oktober: Die „Washington Post" meldete unter Berufung auf US-Regierungskreise, daß der Iran mit Kasachstan den Kauf atomarer Gefechtsköpfe vereinbart habe. Mittwoch, 13. Oktober: Die Nachrichtenagenturen verbreiten die Meldung, daß die Ukraine mit Block 3 des Tschernobyl-Reaktors wieder Atomstrom für Österreich herstellen will. Zusätzlich gibt es Nachrichten darüber, daß die russische Regierung Greenpeace-Schiffe aufbringen läßt. Dabei wollten die Greenpeace-Kontrolleure nur prüfen, ob tatsächlich Atommüll versenkt wurde. Ich erwähne in diesem Zusammenhang den Störfall in dem litauischen AKW. Wir hatten zunächst daran gedacht, eine Aktuelle Stunde einzuberufen. Aber ich glaube, wir kämen aus Aktuellen Stunden nicht mehr heraus, wenn wir diese Themen so hintereinander abarbeiten müßten, wie es notwendig wäre. Die atomaren Hinterlassenschaften der einstigen Sowjetunion drohen mehr und mehr zum Alptraum zu werden. ({0}) Knapp 50 Jahre nach dem Abwurf der ersten Atombombe auf Japan und 40 Jahre nach Beginn der sogenannten friedlichen Nutzung der Atomenergie entgleitet die Kontrolle über das todbringende radioaktive Material. „Jeder handelt mit jedem", melden die Nachrichtenagenturen, während der Bundesumweltminister ziemlich ratlos ist und bekanntgibt, daß die deutschen Zollbehörden in Zukunft in verdächtigen Situationen Kontrollen durchführen sollen. Was, bitte, haben die Zollbehörden bisher gemacht? Die haben das bisher doch immer schon so gemacht. Ich glaube, wir müssen hier in dieser Hinsicht wesentlich deutlicher werden. ({1}) In derselben Zeit sitzen wir aber im Umweltausschuß zusammen und beschließen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, daß es weiterhin eine finanzielle Unterstützung für die Sanierung von Atomreaktoren in Osteuropa gibt. ({2}) Auch wenn Herr Baum deutlich darauf hinweist, daß es nur eine bestimmte Gruppe von Reaktoren gibt, die man sanieren kann, so sage ich Ihnen: ({3}) - Die Gefährdung herabsetzen; ich folge Ihnen. ({4}) Aber dieses Geld, daß wir dort bereitstellen, ist auch die Voraussetzung dafür, daß Tschernobyl überhaupt wieder ans Netz gehen konnte. Allein diese Ankündigung kann unmittelbar dazu führen; denn woher sollen die Staaten im Osten denn die Mittel nehmen, die für diese anderen Reaktoren und für den Weiterbetrieb notwendig sind? ({5}) Wenn wir genau diese Mittel dafür immer weiter bereitstellen, auch wenn wir dies - von mir aus - aus direktem Interesse tun, dann ist das nicht weiter als auch die Förderung dieser maroden Reaktoren. Wer das unterstützt, der macht sich in diesem Sinne genauso mitschuldig dafür, daß wir diesen Reaktor dort ans Netz bekommen. ({6}) Hilfe muß für diese Atomreaktoren nämlich nicht sein; sie muß aber für die genauso maroden konventionellen Kraftwerke erfolgen und auch für Energiesparmaßnahmen. ({7}) Ich weiß noch aus der DDR-Zeit, was allein durch Energiesparmaßnahmen eingespart werden kann. Glauben Sie doch nicht - Sie haben das zwar begründet -, daß dies gerade in diesem Winter wirksam werden wird. So schnell wird diese Hilfe auch dort nicht greifen. Eines kommt hinzu: Selbst wenn Sie glauben, daß diese Reaktoren halbwegs sicher wären, so hat dies noch ein Nachspiel: den Atommüll, den es auch dort gibt. Wenn ich daran denke, daß dort Atommüll im Meer versenkt wird, daß dort in der GUS insgesamt die Frage der End- und Zwischenlagerung so ungelöst ist, dann frage ich mich, ob wir nicht damit auch dort weitere potentielle Gefahren hervorrufen. Ich erinnere mich noch an die Debatte zum Atomkraftwerk in Greifswald. Wir konnten den Atommüll nicht nach Rußland zurückgeben, hat Herr Töpfer damals gesagt, weil dort die Zwischen- und Endlagerung nicht garantiert ist. ({8}) Ich bitte Sie, was unterstützen wir denn damit? Wir unterstützen damit die Fortsetzung genau dieser maroden Politik. Da mache ich nicht mit! ({9}) Aber es geht nicht nur um die Hinterlassenschaften der früheren Sowjetunion. Auch hier bei uns in Deutschland - wie übrigens überall auf der Welt ist das Problem der Entsorgung von Atommüll nicht einmal ansatzweise gelöst. ({10}) - Ja, ansatzweise. Am kommenden Wochenende soll dann wieder - das haben Sie selber gesagt - mit Weisungen Schacht Konrad durchgesetzt werden. Wenn ich daran denke, daß es allein in der Sache „Schacht Konrad" 300 000 Einwendungen gibt, ({11}) dann bitte ich Sie, einmal mehr über die Akzeptanz dieses Problems nachzudenken. ({12}) Im Zusammenhang mit dem Schacht Konrad und der morgigen großen Demonstration erinnere ich Sie an einen Satz, den I Zerr Seiters gestern hier gesagt hat. Sinngemäß hieß es: Es wird keiner Regierung und keinem Parlament gelingen, am Willen dieses Volkes vorbeizuregieren und damit auf Dauer eine gute Politik zu machen. Daran möchte ich Sie genau in diesem Zusammenhang erinnern. ({13}) Die Akzeptanz dieser Fragen liegt unter zwei Drittel. Sie wollen auf Dauer gegen den Willen von zwei Dritteln der Menschen irgend etwas durchsetzen. ({14}) Ich denke noch nicht einmal an einen Sofortausstieg. Ich denke, daß es auch andere Möglichkeiten gibt. ({15}) In solch einem Zusammenhang, in dieser problematischen Lage, fordert der Präsident des Deutschen Atomforums neue Atomkraftwerke für die Bundesrepublik Deutschland. ({16}) In solch einer Situation derartige Forderungen aufzustellen ich glaube, selbst er kann diese Verantwortung nicht übernehmen. In einer Pressemitteilung von Ihnen, Herr Harries, habe ich gelesen, daß Sie z. B. -

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege, bitte keine Pressemitteilungen mehr, sondern nur noch einen Schlußsatz.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Harries, ich habe gelesen, daß Sie den Ministern in Niedersachsen und in Hessen vorwerfen, daß sie zwar im Rahmen von Vorschriften, aber gesetzwidrig handelten. Bitte, wenn wir nicht gerade diese Vorschriften von „grüner" Seite gewissenhaft und ernst nähmen, wie würde es dann hier in der Bundesrepublik in Sachen Atomenergiewirtschaft aussehen? ({0}) Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Bertram Wieczorek.

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich zu meinen Darlegungen komme, erlaube ich mir einige Bemerkungen zu den Ausführungen des Kollegen Kübler. Herr Kollege Kübler, an diesem - wie Sie es sagten - schwarzen Freitag überkommen uns alle beklemmende Gefühle. Wir hatten ja bisher alle politischen Möglichkeiten, national und international, dazu genutzt, die Ukraine zu veranlassen, ihren eigenen Parlamentsbeschluß umzusetzen. Wir sind nicht davon ausgegangen, daß die Blöcke 1 und 3 von Tschernobyl über den Winter - so haben wir es gestern von Herrn Krawtschuk erfahren - noch einmal ans Netz gehen. Ich mu ß sagen: Wir sind uns hier alle einig, daß diese genannten Reaktoren abgeschaltet werden müssen. Sie müssen abgebaut werden. Andererseits zeigt uns die Situation, daß diese beiden Reaktoren ans Netz gehen, aber auch die katastrophale wirtschaftliche und soziale Lage in der Ukraine. Meine Damen und Herren, es gibt keinen deutschen Reaktor vom Typ WWER, der noch am Netz ist; dieser Typ ist nach der Öffnung der Mauer, nach der Herstellung der Einheit Deutschlands abgeschaltet worden. Alle bilateralen und internationalen Bemühungen gehen, denke ich, in die von mir genannte Richtung. Darin sollten wir uns hier einig sein. Herr Feige, Bundesumweltminister Töpfer ist nicht ratlos. Er war es, der in München in Vorbereitung des G-7-Treffens die hochrangige Arbeitsgruppe, über deren Aktivitäten ich noch berichten werde, initiiert hat. Aber ich möchte Sie auch noch einmal daran erinnern, daß Bundesumweltminister Töpfer nicht Umweltminister in Rußland oder in der Ukraine ist, sondern in der Bundesrepublik Deutschland. Zum Schluß: In bezug auf Schacht Konrad erleben wir ein rechtsstaatliches Verfahren, kein „Druckverfahren", sondern eine Anhörung. Ich denke, wir sollten diese Anhörung, die nach rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätzen abläuft, erst einmal abwarten. Wie ich übrigens hörte, besteht kein sehr großes Publikumsinteresse; das Zelt soll etwa 3 500 Menschen fassen, im Schnitt sind aber wohl immer nur 100 bis 200 Personen anwesend; ich erwähne das, weil Sie von 300 000 Einwendern sprachen. Meine Damen und Herren, wir leben in einer sehr schwierigen Situation: Auf der einen Seite ein wiederholter Störfall in Ignalina - wir haben gestern in den Zeitungen wieder davon gelesen , auf der anderen Seite die offenbar bevorstehende Wiederinbetriebnahme der Blöcke 1 und 3 des Kernkraftwerks Tschernobyl. Nach jüngsten Mitteilungen soll Block 3 noch Ende der Woche, also heute oder morgen, wieder ans Netz gehen; mit der Wiederinbetriebnahme von Block 1 ist noch im November zu rechnen. Gerade diese Koinzidenz zeigt, wie außergewöhnlich schwierig die Situation ist. Aus der Erkenntnis heraus, daß der Zustand der GUS-Kernkraftwerke - wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß - äußerst besorgniserregend ist, hat die Bundesregierung im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles getan, um hier zu einer Verbesserung der Situation zu kommen. Die Bundesregierung hat in diesem Jahr insbesondere ihre Präsidentschaft im Rahmen der G-7-Staaten genutzt, um das Problem auf breiter multilateraler Basis anzugehen. Dies geschah auch aus der Erkenntnis heraus, daß Deutschland dieses Problem, das ja nicht nur ein Reaktorsicherheitsproblem darstellt, sondern in den gesamten energiewirtschaftlichen und marktwirtschaftlichen Umstrukturierungsprozeß in den betroffenen Staaten einzuordnen ist, nur gemeinsam mit den westlichen Partnerländern angehen kann. Auf unsere Initiative wurde zur Vorbereitung des Weltwirtschaftsgipfels in München für diesen Bereich eine hochrangige Arbeitsgruppe der G-7-Staaten gebildet. Diese Arbeitsgruppe hat zur Verbesserung der Sicherheit der Kernkraftwerke sowjetischer Bauart ein umfassendes multilaterales Aktionsprogramm vorgeschlagen. Entsprechend diesem Vorschlag haben die G-7-Staaten auf dem Münchener Gipfel im Juli dieses Jahres ein Sofortprogramm mit folgenden Zielen beschlossen: erstens Verbesserung der Sicherheit der Betriebsführung in den GUS-Kernkraftwerken; zweitens kurzfristige, auf Sicherheitsbewertung basierende technische Verbesserungen; drittens Stärkung der behördlichen Kontrollen der nuklearen Sicherheit. Diesem Programm liegt die einvernehmliche Einschätzung der westlichen Staaten - übrigens keineswegs eine Selbstverständlichkeit! - zugrunde, daß die schwerwiegendsten Sicherheitsmängel bei den Reaktoren des Tschernobyl-Typs - hiervon sind 15 in Betrieb und 3 im Bau - sowie bei den 10 in Betrieb befindlichen älteren WWER-Reaktoren bestehen. Diese Reaktoren sollten daher so bald wie möglich abgeschaltet bzw. nicht mehr fertiggestellt werden. ({0}) Die Reaktoren der neueren Typen WWER-440/213 und WWER-1000 weisen geringere Sicherheitsdefizite auf, so daß eine Nachrüstung dieser beiden Reaktortypen grundsätzlich für möglich gehalten wird. Erschwerend hinzu kommen bei den dort betriebenen Reaktoren Mängel in der Betriebsführung und Instandhaltung. Weiterhin fehlen effektive und unabhängige Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden sowie die notwendigen finanziellen Mittel zur Beseitigung der Mißstände. Meine Damen und Herren, gerade in diese Richtung gehen unsere bilateralen Hilfsmaßnahmen. Dabei ordnet das Programm diese Unterstützungsmaßnahmen in die energiepolitische Situation ein, und zwar unter zwei Gesichtspunkten: erstens Prüfung der Möglichkeiten, die unsicheren Kernkraftwerke durch die Entwicklung von Energiealternativen und eine effizientere Energienutzung zu ersetzen. Wir denken hier an Kohlekraftwerke sowie an Kraftwerke auf der Basis von Erdgas, Heizöl und anderen Heizmitteln. ({1}) Zweitens: Prüfung der Möglichkeit, Kernkraftwerke neuerer Bauart nachzurüsten. Dabei ist allerdings gemeinsame Auffassung, daß die Nachrüstfähigkeit keineswegs auch Nachrüstung bedeutet. Eine Nachrüstung muß auch energiewirtschaftlich und ökonomisch Sinn machen; sonst kommt eine Hilfe nicht in Betracht. Wiederholte Forderungen nach Abschalten von GUS-Kraftwerken, gerade von westlicher Seite, sind deplaziert, wenn die energiepolitische Situation dies nicht zuläßt. ({2}) Wir müssen uns vergegenwärtigen, wie schwierig die Entscheidungslage ist, wenn die Wahl besteht, Menschen bei allen anderen Problemen, die sie in den GUS-Staaten haben, entweder im Winter auch noch frieren oder aber mit einem hohen Risiko leben zu lassen. ({3}) Deshalb können diese Entscheidungen nicht ohne Einbindung in die jeweilige energiewirtschaftliche Situation gesehen werden. Wenn diese Situation es nicht zuläßt, werden Abschaltentscheidungen nicht getroffen, ob es den westlichen Staaten nun paßt oder nicht. Der Vorgang Tschernobyl zeigt dies mit aller Deutlichkeit. Meine Damen und Herren, dies ist der nüchterne Befund. Dabei kommt es entscheidend darauf an, daß die Handlungsspielräume so verbessert werden, daß Abschaltmöglichkeiten so schnell wie möglich gegeben sind. Die Spielräume können von den betroffenen Staaten alleine nicht eröffnet werden; ohne gemeinsame westliche Hilfe geht dies nicht. Die erforderlichen Umstrukturierungsprozesse brauchen naturgemäß auch eine gewisse Zeit. Voraussetzung ist aber, daß dann auch die gewonnenen Spielräume wirklich zum Abschalten und nicht etwa zum Stromexport - ich füge hinzu, zu Dumpingpreisen - genutzt werden. ({4}) Die Hilfe soll durch gemeinsame verstärkte bilaterale Maßnahmen im Sinne des Aktionsprogramms und durch einen ergänzenden multilateralen Fonds, der bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung eingerichtet wird, umgesetzt werden. An dieser Stelle möchte ich auch auf die effiziente und zügige Abwicklung der EG-Programme für die Staaten Mittel- und Osteuropas hinweisen. Meine Damen und Herren, es kommt nun darauf an, daß der in Gang gesetzte Prozeß möglichst schnell zu konkreten Erfolgen vor Ort führt. Hierzu gehört aus der Sicht der Bundesregierung auch, daß die bestehenden bilateralen Finanzierungsmechanismen um einen multilateralen Hilfsfonds ergänzt werden. Die Arbeiten hierfür sind auf dem Wege. Lassen Sie mich abschließend - auch mit Blick auf die wohl anstehende Wiederinbetriebnahme von abgeschalteten Reaktorblöcken in Tschernobyl und Kozloduy - eines deutlich sagen: Es nutzt niemandem, Forderungen nach sofortiger Abschaltung aller unsicheren Reaktoren zu erheben, wenn wir nicht gleichzeitig bereit sind, den betroffenen Staaten zu helfen, die notwendigen praktischen Voraussetzungen dafür zu schaffen. Dazu bietet das multilaterale Aktionsprogramm einen Weg, den wir gemeinsam mit den anderen westlichen Industriestaaten entschlossen gehen werden. Meine Damen und Herren, aus Zeitgründen kann ich heute leider nicht auf den Bericht über Umweltradioaktivität und Strahlenbelastungen im Detail eingehen. Wir werden aber die Anregung des Kollegen Harries aufnehmen, auch was die Fragen der Zeitspanne der Berichterstattung angeht. Erlauben Sie mir statt dessen aus aktuellem Anlaß einige Bemerkungen zu den Versuchen des illegalen Handels mit radioaktiven Stoffen. Am 8. und 9. Oktober wurden - wie Ihnen allen bekannt ist - insgesamt zwei Bleibehälter mit Cäsium-137-Strahlern und ein Bleibehälter mit Strontium-90-Strahlern sichergestellt. Die Behälter und ihr radioaktiver Inhalt stammen mutmaßlich aus ehemals sowjetischer Produktion. Es ist nicht auszuschließen, daß die radioaktiven Strahler aus Beständen der ehemaligen sowjetischen Armee oder verbündeter Armeen stammen. Meine Damen und Herren, wenn sich der eine oder andere heute die Frage stellt, warum hier der Parlamentarische Staatssekretär und nicht der Bundesumweltminister redet, so kann ich sagen, daß gerade zu diesem Thema heute in Berlin mit der russischen Seite ernsthafte Gespräche geführt werden. ({5})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Parlamentarischer Staatssekretär, wir danken Ihnen zwar für die Mitteilung, aber es hat niemand die Frage gestellt. ({0})

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Meine Damen und Herren, die weiteren Ermittlungen von Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft konzentrieren sich u. a. auf die Suche nach mutmaßlich weiteren Behältern und nach Mittelsmännern sowie auf die Feststellung der tatsächlichen Herkunft der Behälter und der Motive der Täter. Wir begrüßen ganz besonders die heute bekanntgewordenen Ankündigungen der Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, die illegale Ein- und Ausfuhr sowie die Durchfuhr von solchen Zerfallsprodukten wie u. a. Cäsium und Strontium unter Strafe zu stellen. Die damit verbundenen Verschärfungen der einschlägigen Bestimmungen des Umweltstrafrechts halte ich insbesondere aus generalpräventiven Gründen für sinnvoll. Wir sollten uns über eines auf jeden Fall im klaren sein: Wenn sich Strukturen in Mittel- und Osteuropa auflösen, bleiben wir von den Auswirkungen nicht verschont. Wir können unsere Möglichkeiten, dies so weit wie möglich zu verhinden, ausschöpfen, und wir tun dies auch. Völlig ausschließen können wir jedoch Komplikationen nicht. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile dem Steilvertreter des hessischen Ministerpräsidenten, Staatsminister für Umwelt, Energie und Bundesangelegenheiten Joseph Fischer, das Wort. ({0}) Staatsminister Joseph Fischer ({1}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute morgen geht es ja wirklich hochherrschaftlich bei der Ansage der Rednerinnen und Redner zu. ({2}) Nun werden Sie mal nicht gleich neidisch, verehrter Herr Parlamentarischer Geschäftsführer. Meine Damen und Herren, zurück zu einem sehr ernsten Thema: Gestatten Sie mir nur eine Vorbemerkung zum eigentlichen Inhalt der heutigen Debatte, zur Zukunft der Atomenergie und zu den Risiken der Atomenergie in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion. Ich meine, wir alle sollten uns darüber Staatsminister Joseph Fischer ({3}) im klaren sein, daß wir gegenwärtig eine Absurdität des Atomzeitalters von eminenter Brisanz und Gefährlichkeit erleben. Hier sind nämlich politische und soziale Strukturen offensichtlich nicht mehr in der Lage, das mit der Atomtechnik geschaffene Bedrohungsrisiko tatsächlich aufzufangen. ({4}) - Ich will die alten Strukturen doch gar nicht rechtfertigen; mir geht es um etwas völlig anderes, Herr Kollege Baum. Mir geht es darum, daß diese Technik - und ich komme im zweiten Punkt meiner Rede darauf zu sprechen - eigentlich eine ausschließliche Vernunftssteuerung von Menschen und von politischen Institutionen voraussetzt, ({5}) die nach Lage der Dinge aber leider so nicht zu konstatieren ist. ({6}) Das ist ja einer unserer Vorwürfe sozusagen gegen die Systematik der Atomenergienutzung, die dann auch hier im Westen unter anderen Bedingungen durchaus zum Tragen kommen kann. Wenn ich mir die Situation anschaue, stelle ich fest, daß 80 % Abhängigkeit vom Atomstrom in unserem Nachbarland vorhanden sind oder daß bei uns ein höherer Atomstromanteil immer noch als Erfolg verbucht wird. Das heißt im Klartext, daß sich bei einem schwereren Unfall die Frage stellen würde, wie die Versorgung der Bevölkerung mit Strom zu gewährleisten ist, selbst wenn es zu einer Havarie, selbst wenn es zu Strahlenexpositionen gravierender Art gekommen ist. Ich glaube, hier kann man lernen, daß die Atomenergie Menschen und menschliche Institutionen und Planungsmöglichkeiten schlicht überfordert. Das ist doch eine der Konsequenzen, die wir aus der gegenwärtigen fatalen Situation mit der Wiederinbetriebnahme von Tschernobyl und der Gefährdungssituation im Osten Europas zu ziehen haben. ({7}) - Deswegen, verehrter Herr, fand ich Ihren Auftritt heute morgen wirklich nicht sehr überzeugend, um es einmal sehr milde auszudrücken. Angesichts der Risiken, die dort selbst geschaffen wurden, hier ein so flammendes Ja zur weiteren Nutzung der Atomenergie auszusprechen, ({8}) ist, finde ich, nicht sehr weit gedacht und nicht sehr verantwortungsvoll. Meine Damen und Herren, ich möchte aber - deswegen bin ich heute morgen hier hergekommen - den üblichen Atomenergiestreit, Herr Kollege Baum, ausklammern, zumindest was meine Position betrifft. Ich möchte die Gelegenheit jetzt auch nicht nutzen, um die Bundesregierung zu kritisieren, die ich in diesem Fall nicht zu kritisieren habe, Herr Kollege Wieczorek. Vielmehr möchte ich hier die Gelegenheit nutzen, als der zuständige Minister eines betroffenen Landes das Haus nachdrücklich auf eine zusätzliche Gefahr aufmerksam zu machen, der wir uns unabhängig davon, wie wir im Grundsatz zur Kernenergie und zu ihrer Nutzung stehen, gemeinsam stellen müssen und vor der wir unsere Bevölkerung zu beschützen haben, nämlich die Gefahr, die entsteht durch geschmuggeltes, illegal ins Land gebrachtes radioaktives Material. Ich muß Ihnen sagen, es war für mich schon eine sehr bedrückende Erfahrung, am letzten Freitagabend mitzuerleben, wie mitten in Frankfurt ein erhebliches Risikopotential zu besorgen war und dann in Form von geschmuggeltem radioaktiven Material auch tatsächlich festgestellt wurde. Wenn dies Nachfolgetäter findet und wenn diese Hinterlassenschaften einer zusammengebrochenen nuklearen Supermacht auf schwarzen und grauen Märkten verscherbelt werden, dann stehen wir alle gemeinsam vor einer Herausforderung, die größer ist als die, die etwa durch Rauschgiftschmuggel und Rauschgifthandel entsteht. ({9}) - Wir müssen uns ja nicht immer streiten. Ich habe ja bewußt gesagt, mir geht es heute nicht darum, dem Grundsatz nach zu streiten, sondern darum, an Sie zu appellieren, weil natürlich sowohl die Bundesregierung als auch die Landesregierungen - die Sicherheitsbehörden genauso wie die Strahlenschutzbehörden; man kann es offen aussprechen - angesichts der neuen Situation eine gewisse Hilflosigkeit bekennen müssen. ({10}) - Meine Güte, sind Sie festgelegt auf ein lineares Denken. Sie meinen wohl, man müsse Sie immer angreifen. Wenn man Sie nicht angreift, dann begreifen Sie es gar nicht. Nun nehmen Sie es doch einfach einmal so als einen Appell hin. Vielleicht können wir ja einmal etwas ganz Vernünftiges gemeinsam machen. ({11}) Das ergibt einen ganz neuen Erkenntnishorizont für Sie, verehrter Herr. Daher glaube ich, meine Damen und Herren - das scheint mir ganz wichtig zu sein -, daß wir alle Möglichkeiten der Gefahrenabwehr in einer gemeinsamen Anstrengung von Strahlenschutz- und Sicherheitsbehörden und auch des Auswärtigen Amtes nutzen müssen. Das heißt, ich möchte mit Nachdruck an Sie appellieren, die Bundesregierung dort, wo es materiell notwendig ist, in den Stand zu setzen, daß sie alle Möglichkeiten hat, auf diese neue Gefährdung schon im Vorfeld, vor unseren Grenzen zu reagieren und daß sie entsprechend auch an den Grenzen koordinieren kann. ({12}) Staatsminister Joseph Fischer ({13}) Ich sage Ihnen: Wir müssen dabei auch an die Beamten denken, z. B. an die Polizeibeamten, die natürlich auf eine solche lautlose Gefahr überhaupt nicht vorbereitet sind. Das ist ein sehr großes Problem. Das ist nichts, was mit dem üblichen dienstlichen Umgang mit gefährlichen Gegenständen bei Polizeibeamten zu tun hat, wenn sie z. B. einen verdächtigen Wagen aufhalten oder schlicht und einfach einmal in einen Kofferraum hineinlangen. Das sind alles Dinge, die dabei zu berücksichtigen sind. Ich möchte hier, wie gesagt, die Gelegenheit nutzen, an Sie zu appellieren, damit der Bundestag die Bundesregierung in den Stand setzt, alles zu tun, um hier zu einer koordinierten Kraftanstrengung zu kommen. Wir Länder werden dieses nicht allein schaffen. Wir sind zwar im Inland zuständig, und ich glaube, die Zusammenarbeit zwischen Bundesregierung und den zuständigen Landesregierungen hat auch funktioniert, selbst wenn sie noch zu verbessern wäre. Was aber notwendig ist, ist, daß wir dieses Problem bereits an der Grenze oder im Vorfeld als eine der zentralen Sicherheitsherausforderungen begreifen und daß entsprechend gehandelt wird. Vielen Dank. ({14})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile dem Kollegen Ulrich Klinkert das Wort.

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich die Diskussion an der Stelle weiterführen, an der Herr Joseph Fischer eben geendet hat, nämlich bei den illegalen Transporten, beim Schmuggel von radioaktivem Material. ({0}) - Wir waren ja heute bei sehr viel Förmlichkeiten; da wollte ich die förmliche Debatte auch beibehalten. Es ist leider so, daß immer häufiger und in immer kürzeren Zeitabständen die Öffentlichkeit über eine bisher kaum bekannte Form dieser Kriminalität informiert wird. Dazu möchte ich einige wenige Beispiele nennen. Das bayerische Landeskriminalamt hat im März 1,2 Kilogramm angereichertes Uran im Schwarzmarktwert von 1,9 Millionen DM sichergestellt. Zwei Rußlanddeutsche wurden dabei verhaftet. In der Schweiz wurde ein Mann festgenommen, der wenige Gramm zwar wertlosen, aber dennoch stark gesundheitsschädigenden Materials transportierte und dabei vor allem seine eigene Gesundheit aufs Spiel gesetzt hatte. In Baden-Württemberg wurden 200 Gramm Cäsium in einem russisch beschrifteten Behälter gefunden. Die Vorfälle in Hessen hat Herr Fischer eben ausführlich kommentiert. Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen. Wenn die Meldungen von heute morgen stimmen, wurde eine große Menge radioaktiven Materials in Form von spaltbarem Uran 235 gefunden. Herr Fischer hat gesagt, daß wir hier gemeinsam - Bundesregierung, Parlament und Landesregierungen - etwas Vernünftiges machen müssen. Ich glaube, dies ist ganz deutlich zu unterstreichen. Es besteht dringender Handlungsbedarf; denn Gefahren und Risiken lauern in diesen rasant steigenden kriminellen Aktivitäten. Zunächst einmal besteht die Gefahr, daß völlig unbeteiligte Menschen durch oftmals unsachgerechten Transport und unsachgerechte Lagerung einer nicht sichtbaren, aber stark gesundheitsgefährdenden, ja oftmals tödlichen Gefahr ausgesetzt sind. Dies betrifft eben auch - wie erwähnt wurde - die Polizisten, die aufgerufen worden sind, dieses Material aufzuspüren. Des weiteren ist nicht auszuschließen, daß radioaktives Material als Bedrohungs- und Erpressungspotential mißbraucht wird. Schließlich kann man nicht mit absoluter Sicherheit verneinen, daß dieses Material zur Herstellung von Kernwaffen unterschiedlichsten Kalibers - wo auch immer in der Welt - genutzt wird und mißbraucht wird. Bei den bisherigen Funden stellte sich heraus, daß das radioaktive Material zumeist aus dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion stammt. In einem Bericht der Bundesregierung vom April dieses Jahres wird festgestellt, daß in der GUS der Spaltstofffluß nur bedingt kontrollierbar ist. Das bestehende Niveau des physischen Schutzes ziviler kerntechnischer Anlagen ist unzureichend. Allein in Rußland sind 25 Kernkraftwerke in Betrieb. Zahlreiche weitere Anlagen bestehen zur Brennelementefertigung und -lagerung sowie zur Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen. Die RBMK-Reaktoren des Typs Tschernobyl, über die ja heute schon mehrfach gesprochen wurde, verdanken ja ihre traurige Berühmtheit der Tatsache, daß sie so konstruiert wurden, daß aus dem laufenden Reaktorbetrieb Plutonium als spaltbares Material für Kernwaffen entnommen werden kann. Diese Anlagen sind, wie gesagt, unzureichend gesichert. Das für die Sicherheit zuständige Personal ist durch die katastrophale soziale Lage in der GUS demotiviert, und dies alles bei einem explosionsartigen Anstieg von Verbrechen und organisierter Kriminalität in der GUS. Herr Kübler, wenn Sie aber hier so tun, als ob wir in Deutschland die Macht hätten oder als ob gar die Bundesregierung die Macht hätte, Kernkraftwerke abzuschalten, dann stellen Sie die Tatsachen völlig auf den Kopf. Wir haben mehrfach in diesem Plenum darüber gesprochen, daß dies nicht die Verantwortung der Bundesregierung ist. Wenn Sie dann indirekt sogar noch zu einem Boykott der Regierung der Ukraine für den Fall aufrufen, daß sie die Kernkraftwerke weiterbetreibt, dann bewegen Sie sich auf ein politisch gefährliches Glatteis; denn gerade dann wird die Regierung der Ukraine oder dann werden die Regierungen der anderen Staaten der GUS gezwungen sein, auf diese marode Technik zurückzugreifen und die RBMK-Reaktoren ohne die entsprechenden Sicherheiten weiterzubetreiben. Wir alle sind dafür, diese Reaktoren abzuschalten, aber wir können es der GUS nicht zwingend vorschreiben. Wir können nur ein bißchen zur Schadensbekämpfung beitragen und langfristig dafür sorgen, daß energiepolitisch ein Ausstieg aus dieser katastrophalen Technik möglich wird. Die ehemalige Sowjetunion hat exzellent ausgebildete Spezialisten hervorgebracht. Auch sie leben heute am Rande des Existenzminimums. Nach westlichen Ansprüchen leben sie sogar weit darunter. Diese Wissenschaftler und Techniker wissen, daß sie in vergleichbaren Positionen im Westen zu den Spitzenverdienern zählen würden, während sie in der GUS umgerechnet mit 20 bis 50 DM pro Monat auskommen müssen. Es ist nicht auszudenken, was passieren würde, wenn sich diese Wissenschaftler von der kriminellen Energie einzelner anstecken ließen, so wie die Verkettung von ungünstigen Umständen und menschlichem Versagen zum Super-GAU in Tschernobyl geführt hat. Wer will unter den genannten Umständen ausschließen, daß ein Super-Klau von radioaktivem Material möglich ist? Während die Gefahren aus dem zivilen Bereich noch annähernd definierbar sind, bringt der militärische Bereich meines Erachtens noch wesentlich größere, aber eben nicht überschaubare Sicherheitsrisiken mit sich. Nach Schätzungen westlicher Experten lagern in der GUS 25 000 bis 30 000 nukleare Sprengköpfe. Das entspricht 100 bis 150 t waffenfähigem Plutonium und 500 bis 1 000 t hochangereichertem Uran. Dem begrüßenswerten Abbau eines Großteils dieser Waffen steht die völlig ungeklärte weitere Verwendung waffenfähigen Kernmaterials gegenüber. Eine Überführung in den zivilen Kernbrennstoffkreislauf ist möglich; eine sichere Zwischenlagerung ist notwendig, aber auf Grund der derzeitigen wirtschaftlichen Situation der GUS finanziell nicht realisierbar. Im übrigen ist das Fachwissen der GUS-Wissenschaftler in der GUS selbst sicher weitaus besser angebracht, beispielsweise bei der Entsorgung von Kernwaffen, als wenn es extremistischen Diktatoren gelänge, die Wissenschaftler für ihre Zwecke zu kaufen. Die Verseuchung der Umgebung von Kernreaktoren wie beispielsweise in Tschernobyl ist sicher um ein vielfaches schlimmer als das, was uns in Thüringen und anderen Ländern durch die Wismut AG aufgebürdet wurde. Aber wenn die PDS hier heute so tut, als ob die Bundesregierung dafür verantwortlich sei, was die Wismut AG angerichtet hat, ({1}) dann muß man schon darauf verweisen, daß die verfehlte Umweltpolitik der SED dazu geführt hat, daß die Bundesregierung beispielsweise zur Sanierung der von der Wismut AG benötigten Flächen jährlich mehr als 1 Milliarde DM zur Verfügung stellen muß. ({2}) Diese verfehlte Politik kostet noch weitere Milliarden. Für die Sanierung der Braunkohlenreviere beispielsweise sind 1,5 Milliarden DM jährlich vorgesehen; darüber hinaus ist ein Betrag von 1 Milliarde DM für weitere Sanierungsmaßnahmen vorgesehen. Ich wollte dies nur sagen, um das Augenmerk darauf zu lenken, daß nicht nur in der GUS Sanierungsbedarf besteht.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich möchte bitte noch einen Schlußsatz sagen. Die ehemals sowjetische Kernwirtschaft ist für meine Begriffe ein Problem der internationalen Sicherheit geworden. Die heute real vorhandene Bedrohung entsteht nicht aus der Böswilligkeit der GUS, sondern aus ihrer wirtschaftlich begründeten Handlungsunfähigkeit und ruft die internationale Staatengemeinschaft zu wirksamer Hilfe auf. Vielen Dank. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Michael Müller, Sie haben das Wort.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, daß ich zu Anfang wenigstens eine Anmerkung zu den Ausführungen von Herrn Baum über den energiepolitischen Konsens mache, auch wenn er jetzt nicht im Raum ist. Er hat die SPD nach den Voraussetzungen für einen Energiekonsens gefragt. Die Ereignisse und die Nachrichten der letzten Tage, insbesondere der schwerwiegende Störfall im litauischen Atomkraftwerk Ignalina, die Wiederinbetriebnahme von Tschernobyl und vor allem die Existenz der internationalen Atom-Mafia sind im Kern Begründung für den Ausstieg. Wer dies nicht begreift, der begreift auch nicht, daß das die Argumente der Gegner der Atomenergie waren, die in diesen Tagen praktisch erneut belegt wurden. ({0}) Folgende Punkte sind zu nennen: Erstens. Die Entsorgungsfrage ist ungelöst. Zweitens. Es läßt sich keine prinzipielle Unterscheidung zwischen militärischer und ziviler Nutzung ziehen; im Einzelfall schon, aber, wie gesagt, prinzipiell nicht. Drittens. Das Risiko eines Großunfalls ist aus Sicht der SPD nicht zu verantworten; darin stimme ich mit Herrn Fischer völlig überein. Die Frage der Einschätzung des Risikos hat zwei entscheidende Elemente. Das erste Element ist sozusagen die Stabilität des Gesamtsystems. Die Stabilität ist prinzipiell auch nicht vorhersehbar, übrigens nicht nur im zusammenbrechenden Osten, sondern in vielen Bereichen auch im Westen. ({1}) - Ich bin zwar sehr für einen sofortigen Ausstieg, aber leider besteht ja das Problem, daß wir große Schwierigkeiten haben, wenigstens die ersten Schritte durchzusetzen, weil überall geblockt wird. Das zweite Grundproblem ist die Sicherheitsdimension. Wir wissen, daß Sicherheit durch Schadensumfang und Eintrittswahrscheinlichkeit definiert wird. Beides kann bei instabilen Strukturen gefährlichen Großtechniken nicht garantiert werden. Es ist das Michael Müller ({2}) Kernproblem, daß das Prinzip Sicherheit, der Zusammenhang von Schadensumfang und Eintrittswahrscheinlichkeit, bei der Atomkraft nicht gegeben sein kann. Wir müssen sagen - das ist ja der entscheidende Punkt -: Die wichtigsten Gründe, die wir in den letzten Jahren für den Atomausstieg genannt haben, sind nicht aus der Welt. Es gibt keinen Grund, von dieser Position abzugehen, ganz im Gegenteil. Hinzu kommt folgendes: Wir wissen heute, daß die Atomenergie auch ein höchst ineffizientes System ist. Wenn es das zentrale Ziel jeder Umwelt- und Klimaschutzpolitik ist, die rationelle Energieverwendung und die Solarenergie durchzusetzen, dann ist dies mit den ineffizienten großtechnologischen Strukturen der Atomenergie nicht vereinbar. Atomenergie ist hinsichtlich ihrer Effizienz in der Nutzung von Energie und Wärme nur bedingt steigerbar. Wir brauchen aber eine massive Steigerung der Effizienz, vor allem um eine Reduktion von CO2 zu erreichen. Ich wiederhole, was ich schon ein paarmal gesagt habe: Alle Weltszenarien - ich gebe noch einmal einen Hinweis: Weltszenarien -, die entwickelt worden sind und die sogar bis zu einer Verdreifachung des Anteils der Kernenergie in den nächsten 40 Jahren gehen, führen - bei Beibehaltung der heutigen Energiestrukturen - nicht zu einer nennenswerten Reduktion von Kohlendioxid. Das einzige weltweit existierende Szenario, das das Klimaschutzziel erreicht, setzt einen Umbau der Energiestruktur in rationelle Energieverwendung und Energiedienstleistungen voraus bei gleichzeitigem Ausstieg aus der Atomenergie. Das ist das Szenario vom Amery Lovins. ({3}) - Entschuldigung, das sind die vorliegenden Szenarien. Man muß sie ab und zu auch einmal zur Kenntnis nehmen. Das Problem ist, daß die Diskussion allzusehr von Vorurteilen bestimmt wird. Gucken wir uns doch einfach einmal die Studien und die Szenarien an. Wenn Sie sie ganz realistisch prüfen, dann werden Sie zu dem Ergebnis kommen, daß das, was Sie hier betreiben, pure Ideologie ist. Das ist in der Tat so. ({4}) Das Denken von vorgestern ist für die Bewältigung der Probleme von morgen nicht tauglich. Ich möchte die Frage von Herrn Baum klar beantworten: Für uns heißt energiewirtschaftlicher Konsens, die Weichen in Richtung einer rationellen Energieverwendung und der Durchsetzung der Solarenergie zu stellen. Nur das kann die Basis eines energiepolitischen Konsenses sein. Daran muß er gemessen werden. Wenn der Konsens aus Ihrer Sicht voraussetzt, daß die SPD das Ziel des Ausstiegs aus der Atomenergie relativieren muß, dann ist die SPD kein Partner. Unser Ziel im Hinblick auf eine Veränderung der Energiepolitik muß vielmehr sein: Wie können wir die beiden zentralen Ziele - Energiedienstleistung und solare Energienutzung - möglichst optimal, möglichst schnell und möglichst ohne ökonomische Brüche durchsetzen? Das ist die einzige Zielgröße für die Diskussion. Für eine solche Zielgröße beteiligen wir uns sehr intensiv an der Debatte. ({5}) - Ja, das ist völlig klar. Das ist zwar ein gutes Argument, aber es wird auch oft verwendet, um die Verantwortung hin- und herzuschieben. Am Ende schimpft jeder auf den anderen. Ich glaube, daß wir dahin kommen müssen, daß wir wieder Politik machen und nicht alles auf andere abschieben. Ich möchte auf den Vorfall in Frankfurt und Hessen zurückkommen - das ist das Hauptthema meines Beitrages -, der in der Tat sehr viele Fragen aufwirft und sehr viele Besorgnisse hervorruft. Ihnen ist sicherlich bekannt, Herr Wieczorek, daß die ersten Informationen aus der ehemaligen Sowjetunion und später aus dem Moskauer Innenministerium bereits 1989/90 gegeben wurden. Diese Informationen besagten, daß es dort „strategische Rohstoffe" - wie sie dort genannt wurden - gäbe, die möglicherweise auf dem Weg in die Bundesrepublik seien. Wir wissen auch, daß der Frankfurter Vorfall nicht der einzige ist. Wir hatten in der letzten Zeit eine ganze Reihe solcher Vorfälle zu verzeichnen. Das Schlimme aus meiner Sicht ist, daß dies, was man bisher an Informationen hat, offenkundig aus dem militärischen Bereich stammt. Das macht das ganze Problem noch dramatischer, weil dieser Bereich noch weniger transparent ist als der zivile, der schon unsicher und instabil genug ist. Ich glaube daher, daß es sehr wichtig ist, die Frage des Atomschmuggels mit sehr viel größerer Aufmerksamkeit zu beachten, als das bisher der Fall ist. Es hat sehr viele Hinweise auch an die Bundesrepublik und an die internationalen Energieagenturen und durch die IAEO gegeben, wonach die bisherigen Richtlinien für die Behandlung dieser Probleme nicht ausreichend sind. Selbst das US-amerikanische Verteidigungsministerium hat noch vor kurzem gewarnt, die Handhabung sei in Westeuropa viel zu lax. Das ist leider der Tatbestand. Ich meine das nicht als Vorwurf, sondern wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, daß weder national und erst recht bei den internationalen Organisationen nicht das gemacht wurde, was gefordert worden ist. Ich halte es für wichtig festzustellen, daß wir es mit einer neuen Dimension von Risiko zu tun haben, mit dem Schwarzhandel von Nuklearmaterial, wobei die Bundesrepublik in die Gefahr gerät, zu einer Art internationaler Drehscheibe zu werden. Auch aus diesem Grund müssen wir alles tun, damit das nicht möglich ist. Dies vor allem vor dem Hintergrund mancher Ereignisse der letzten Jahre. Ich will an die Waffenexporte in den Nahen Osten erinnern. Es darf auf diesem Gebiet kein Versäumnis geben. Hier muß mit aller Härte im Rahmen des Möglichen gehandelt werden. Wir dürfen nicht in die Schlagzeilen kommen, es sei über die Bundesrepublik erneut waffenfähiges Material beispielsweise in den Iran geliefert worden. Das wäre das Schlimmste, was passieren könnte. Bitte, machen Sie auf diesem Gebiet alles, um sehr viel mehr. Michael Müller ({6}) Die Ausgangsbedingung ist richtig. Der Kollege Klinkert hat das angesprochen. Man muß sich einfach die Größenordnung vorstellen: Es geht um etwa 100 t Plutonium. Das sind natürlich riesige Mengen. Das sind aber nur Schätzungen. Es gibt keine präzisen Zahlen über die Lagerung und den genauen Umfang. Deshalb können wir die Bundesregierung nur bitten, bezüglich dieses Problems sowohl national als auch bilateral und in den internationalen Organisationen sehr viel stärker zu handeln. Ich weise nur auf den Bericht von Alexander und Leventhal hin. Dort ist 1989, also nach Tschernobyl, gesagt worden, die Gefahr des Nuklearterrorismus sei weitaus größer als die eines neuen Unfalls à la Tschernobyl. Wir haben es in der Tat mit einer sehr großen Dimension zu tun. Deshalb ist es natürlich sehr problematisch, wenn verschiedene Gremien der Internationalen Atomenergiebehörde vorwerfen, es bestünden ernste Mängel in ihren bisherigen Kontrollen, und sie werden nicht abgestellt. Wir stellen folgende drei Forderungen an die Bundesregierung: Erstens. Sorgen Sie dafür, daß wir eine lückenlose Datenbasis bekommen. Sie ist unverzichtbar. Wir müssen überprüfen, ob die Bundesregierung weiterhin Teile des Datenzugangsrechts an internationale Organisationen übertragen sollte oder ob sie nicht auch einen direkten Zugang haben muß. Ich halte das vor dem Hintergrund der Drehscheibenfunktion Deutschlands für wichtig und notwendig. Zweitens. Wenn im Grunde genommen der Eckpfeiler - auch das hat Herr Fischer zu Recht angesprochen - für die Sicherheit des Systems, nämlich der Betreiber selbst, zum Problemfall wird, dann ist das Sicherheitssystem kaputt. Man muß also den Betreiber unter andere Kontrollkonditionen stellen - das geht gar nicht anders -, und zwar national, international und weltweit. Als letzten Punkt: Bitte sorgen Sie auch in der Bundesregierung für eine eindeutige Kompetenz in diesen Fragen. Hier muß eine sehr klare Kompetenzregelung geschaffen werden, damit man auch weiß, wie in solchen Fragen zu handeln ist und wer die Anlaufstelle ist. ({7})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Bericht der Bundesregierung über Umwelt, Radioaktivität und Strahlenbelastung im Jahre 1989 auf den Drucksachen 12/69 und 12/2515. ({0}) - 2515, Herr Kollege Bötsch, hatte ich mir eben erlaubt zu sagen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen. Wir stimmen jetzt ab über die Beschlußempfehlung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zur Reaktorsicherheit in den Staaten Mittel- und Osteuropas. Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 12/2759, den Antrag anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion Caspers-Merk, Klaus Lennartz, Harald B. Schäfer ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Sanierung dioxinverseuchter Böden - Drucksache 12/1109 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) Sportausschuß Ausschuß fur Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuß h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Lennartz, Harald B. Schäfer ({3}), Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kennzeichnung von Kunststoffen - Drucksache 12/2502 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Marion Caspers-Merk.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Manchmal treibt der Parlamentarismus wirklich seltsame Blüten. Ein Beispiel dafür ist unser Antrag zur Sanierung dioxinverseuchter Böden. Im September letzten Jahres eingebracht, wollten wir damals die Sanierung dioxinverseuchter Böden mit der Kupferschlacke aus Marsberg zum Thema machen. Mittlerweile sind mehr als 13 Monate ins Land gegangen. Die Sanierung hat in einigen Teilbereichen begonnen, wurde in einigen Bundesländern abgeschlossen, aber der Kernbereich unseres Antrags ist nach wie vor unerledigt; denn der Kernbereich unseres Antrags betrifft die Mitfinanzierung und Mitübernahme der Konsequenzen durch den Bund. Es handelt sich hierbei nämlich um eine Kriegsaltlast. Wir haben in unserem Antrag gefordert, die Bundesregierung solle sich daran beteiligen. Daß der Antrag aber nicht steinalte Jacke ist, sondern im Moment von hoher Aktualität und Brisanz, verdanken wir einem erneuten Störfall, hei dem Dioxine freigesetzt wurden. Die Rede ist hier von der jüngsten Brandkatastrophe in einem RecyclingMarion Caspers-Merk Betrieb in Lengerich, Kreis Steinfurt. In diesem Betrieb lagerten ca. 5 000 t Kunststoffe; davon entfiel ein erheblicher Anteil auf PVC. Der Betrieb hatte noch nicht einmal eine Betriebserlaubnis, was allein schon skandalös genug ist. Der eigentliche Skandal besteht aber darin, daß solche Betriebe weder nach dem Immissionsschutzgesetz genehmigungspflichtig sind noch unter die Vorschriften der Störfallverordnung fallen. Sie unterliegen ausschließlich dem Bauordnungsrecht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Klartext heißt das: Beim Bau einer Recycling- und Granulatanlage für Kunststoffe finden also genau dieselben Rechtsvorschriften Anwendung wie beim Bau eines Einfamilienhauses. Das halten wir für skandalös. ({0}) Handelt eigentlich der Gesetzgeber verantwortungsbewußt, wenn in einem Brandfall von einer solchen Anlage derartige Gefährdungen ausgehen können? Wer haftet eigentlich für die Gesundheit der Menschen in der unmittelbaren Umgebung einer solchen Anlage? Was sagt die Bundesregierung, Herr Staatssekretär, den 35 verletzten Feuerwehrleuten? Wer haftet für die Sicherheit der Anlage, und wer finanziert beispielsweise die Reihenuntersuchungen, die jetzt gemacht werden müssen? Wieso muß eigentlich das Land Nordrhein-Westfalen für die medizinische Untersuchung der Bevölkerung aufkommen und die Kosten der Dioxinuntersuchung übernehmen, weil sich bislang niemand anders zur Übernahme bereiterklärt hat. Die letzte Frage: Handelt es sich bei Lengerich nur um einen Einzelfall? Ich meine, daß wir Lengerich in den Gesamtzusammenhang der Kunststoffentsorgungspolitik dieser Bundesregierung stellen müssen. Lengerich könnte eben kein Einzelfall bleiben, wenn man davon ausgeht, daß im Rahmen des DSD bundesweit Tausende - Experten sprechen von ca. 30 000 - solcher Kunststoffrecyclingplätze eingerichtet werden müssen. Das DSD hat selbst eingeräumt, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, daß es derzeit nicht in der Lage ist, jährlich 1,1 Millionen Tonnen Kunststoffverpackungen zu verwerten. Wir alle wissen doch, daß nach den Abfallbergen nun die Wertstoffberge aufgehäuft werden und daß damit zu rechnen ist, daß diese Kunststoffberge nicht in absehbarer Zeit abgearbeitet werden können. Das Risikopotential solcher Anlagen im Brandfall war den meisten von uns nicht bewußt. Daß die Untersuchungen des nordrhein-westfälischen Umweltministeriums eine deutlich geringere Belastung mit Dioxin als ursprünglich befürchtet ergeben haben, kann nur ein schwacher Trost sein. Die Bürgerinnen und Bürger von Lengerich werden sich fragen: Was wäre gewesen, wenn? Auch wir sollten uns dieser Frage nicht verschließen; denn das von Menschenhand hergestellte Ultragift Dioxin ist schon in geringen Mengen gesundheitsgefährdend. Amerikanische Studien belegen, daß Dioxine bei Menschen schon bei Konzentrationen von 1 Milliardstel Gramm pro Kilogramm Körpergewicht chronische Vergiftungen hervorrufen können. Bekanntestes Symptom ist u. a. die sogenannte Chlorakne, und das Krebsrisiko durch Dioxine wird durch neuere Untersuchungen auch bei geringen Konzentrationen immer deutlicher belegt. Gleichzeitig sollen in der Bundesrepublik die Bodenrichtwerte für Dioxine zur Einschränkung der gärtnerischen und landwirtschaftlichen Nutzung angehoben werden. Damit würde die Bundesregierung vor der Dioxinbelastung kapitulieren. Man argumentiert hierbei mit der tatsächlich vorhandenen flächendeckenden Hintergrundbelastung von Böden mit Dioxinen. Statt diese Hintergrundbelastung als Aufforderung zum Handeln zu betrachten, will man das Problem mit einer Erhöhung der Richtwerte lösen. ({1}) Das kann so nicht stehenbleiben, ({2}) und wir fordern die Bundesregierung auf, uns zu berichten, was in dem Bund-Länder-Gespräch Dioxine eigentlich herauskommt; denn es kann nicht angehen, daß hier immer nur über die Erhöhung der Richtwerte diskutiert und kein Konzept aus einem Guß vorgelegt wird. Hinzu kommt die Belastung mit Dioxin über den Luftweg und über die Nahrungskette, die alle Experten für die gefährlichste halten. Schon heute nimmt ein durchschnittlicher Bundesbürger durch die normale Nahrung und die Luft 13mal so viel Dioxin auf, wie es amerikanische Umweltbehörden für vertretbar halten. Luftbelastungsgrenzwerte für Dioxine müßten also eigentlich das Gebot der Stunde sein, aber die Bundesregierung ist auch in diesem Fall nicht tätig geworden. Angesichts der Gesundheitsgefahren durch Dioxine und des Ausmaßes der Belastungen und der Zunahme der Risiken durch eine verfehlte Umweltpolitik ist deshalb ein Handlungskonzept für Dioxinminimierungen einzufordern. Ein solches Handlungskonzept muß unseres Erachtens drei Punkte umfassen: Erstens: Gefahrenabwehr. Die fehlende Genehmigungspflicht für Recycling-Anlagen wie in Lengerich macht deutlich, daß es keinerlei Überblick darüber gibt, an wie vielen Stellen in der Bundesrepublik gegenwärtig derartige Mengen von Kunststoffmüllagern und welche Risiken von diesen Kunststoffgemischen im Brandfall ausgehen. Das Umweltministerium schafft doch geradezu mit seiner neuen Unübersichtlichkeit von Abfall, Wertstoff und Reststoff in der Bundesrepublik eine Lage, die jede Ubersicht und jede Kontrolle verhindert. ({3}) Zur Gefahrenabwehr gehören aber auch eine bundeseinheitliche Dioxinberichtspflicht und ein Dioxinatlas sowie bundeseinheitliche Meßverfahren und Meßprogramme. Gleichzeitig müssen endlich verbindliche Grenzwerte statt unverbindlicher Richtwerte für Dioxine erlassen werden. ({4}) Auch hierbei, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist wiederum die Bundesregierung gefordert. ({5}) Zweite Forderung: Sanierungskonzepte sind vorzulegen. Die Bundesregierung muß endlich ein einheitliches Konzept zur Sanierung dioxinverseuchter Böden vorlegen. Es kann nicht angehen, daß dies in jedem Bundesland anders gehandhabt wird. Hier haben die Bürgerinnen und Bürger einen Anspruch auf Rechtssicherheit. Gerade in den neuen Bundesländern liegen einige Flächen auf Halde, weil kein Verursacher mehr dingfest zu machen ist und die Finanzierung der Sanierung die Länder dort überfordert. Wie stehen Sie eigentlich zu Ihren Versprechungen oder den Versprechungen Ihres Hauses, Herr Kollege Wieczorek, daß über die Abfallabgabe Geld für die Altlastensanierung in die neuen Länder gelangen soll? In diesem Bereich haben Sie diese Abfallabgabe angekündigt, aber bislang noch nichts unternommen. Das heißt, hier besteht keine Möglichkeit, über die Abfallabgabe Geld in die neuen Länder zu lenken, damit die so dringlich nötige Sanierung in Angriff genommen werden kann. ({6}) Sie müßten doch eigentlich wissen, daß die große Zahl von Altlasten in den neuen Ländern - insgesamt sprechen wir von über 27 000 - ein echtes Investitionshemmnis darstellt. Insofern verweise ich noch einmal auf die Haushaltslage, die heute morgen schon bei einem anderen Punkt angesprochen wurde. Ich halte es für dringend erforderlich, daß hier ein gemeinsames Konzept erarbeitet wird; denn beim Haushalt haben wir ja auch die Forderung erhoben, mehr zu tun, damit in den neuen Ländern die Sanierung in Angriff genommen werden kann. Unsere dritte Forderung ist das Verstopfen der Dioxinquellen. Beim Verstopfen der Dioxinquellen muß endlich auch über Stoffverbote und Minimierungsstrategien bei der Dioxinbelastung nachgedacht werden. In diesem Zusammenhang frage ich die Bundesregierung, warum sie eigentlich nicht von der Möglichkeit, nach § 14 des Abfallgesetzes Stoffverbote zu erlassen, Gebrauch macht. Jeder weiß doch, daß der PVC-Anteil bei den Verpackungen zu Dioxinbildung bei der Verbrennung führen kann. Es ist eben kein Zufall, daß in Lengerich sehr viele Margarinedeckel aus PVC gelagert waren, die aus Produktionsresten stammten, weil sie eben als PVC-Anteil jetzt über das DSD ausgelistet werden. Hören wir doch endlich auf, uns von Katastrophenmeldung zu Katastrophenmeldung zu hangeln, ohne daß sich an den Ursachen der Dioxin-Belastung wirklich etwas ändert. ({7}) Wir fordern Sie auf: Erlassen Sie endlich verbindliche Bodengrenzwerte, und legen Sie endlich das lange angekündigte Bodenschutzgesetz vor! Vielen Dank. ({8})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Birgit Homburger, Sie haben das Wort.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie waren wieder einmal viel schneller, als ich erwartet habe. Dennoch möchte ich zu diesen beiden Anträgen etwas sagen. Es geht hier in der Debatte ja um zwei Anträge. ({0}) - Wir sind immer fertig, wenn es darauf ankommt. Es geht hier in der Debatte ja um zwei Anträge, zum einen um den Antrag „Sanierung dioxinverseuchter Böden", zum anderen um den Antrag „Kennzeichnung von Kunststoffen", die hier verbunden debattiert werden. Zunächst möchte ich auf den Antrag „Sanierung dioxinverseuchter Böden" eingehen. Als sich der Umweltausschuß gemeinsam mit dem Sportausschuß des Deutschen Bundestages im Mai vorigen Jahres im Reichstag traf, um das Problem „Dioxinfunde auf Sport- und Spielplätzen" zu beraten, waren wir auf Grund der Meldungen, insbesondere der Bremer Umweltbehörde, sehr besorgt. Diese hatte bei stichprobenartigen Untersuchungen von Spiel- und Sportplätzen auf Schwermetalle und organische Schadstoffe polychlorierte Dibenzodioxine und Dibenzofurane bis zu Konzentrationen von 100 Mikrogramm TE/kg Trockengewicht festgestellt. Als Ursache für diese hohe Dioxinbelastung wurde alsbald das aus Marsberg stammende Kieselrot ermittelt, das vielfach in der Bundesrepublik als Sportplatzbelag verwendet wurde. Der Umweltausschuß unterstützte deshalb die Länder in ihrer Besorgnis, obgleich auf dieser Sitzung schon eingeschätzt werden konnte, daß zumindest von Sportplätzen keine akute Gefährdung für die Sporttreibenden zu erwarten ist. Die betroffenen Länder haben damals die geäußerte Besorgnis nicht auf die leichte Schulter genommen und in der Zwischenzeit versucht, die wirkliche Gefährdung, die von diesem Kieselrot ausgeht, genauer zu ermitteln. Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen hat beim HygieneInstitut des Ruhrgebietes eine humanmedizinische Untersuchung zur Kieselrot-Problematik in Auftrag gegeben. Auch das Bundesgesundheitsamt hat sich dieser Problematik angenommen, und verschiedene Kommunen haben Gutachten zur Abschätzung der Gefährdung der in ihrer Verantwortlichkeit liegenden Sportstätten in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen liegen uns heute weitgehend vor. Das Hygiene-Institut des Ruhrgebiets hat sich insbesondere um jene Marsberger Bürger gekümmert, die durch die Hauptdioxinquelle, nämlich die Halde der ehemaligen Kupferhütte, in besonderem Maße als belastet angesehen werden mußten. Das waren zunächst einmal Anwohner, die unmittelbar unter der Staubentwicklung dieser Halde gelitten hatten. Betroffen waren aber auch Beschäftigte einer Tiefbaufirma, die die Aufbereitung, den Abtransport und die Vermarktung dieses Kieselrots durchführten, und es waren Motocross-Fahrer, die das Haldengelände als Trainingsgelände benutzten und in erheblichem Maße Haldenstaub eingeatmet haben mußten. Darüber hinaus hat das Landesuntersuchungsamt Münster bei stillenden Frauen, Müttern aus Marsberg, Analysen der Muttermilch auf Dioxine und Furane vorgenommen. Die Ergebnisse dieser im September vorigen Jahres veröffentlichten Untersuchungen haben uns doch sehr erstaunt; denn der Befund der medizinischen und toxikologischen Beurteilung lautet - ich zitiere jetzt aus dem Gutachten, dieser Kieselrot-Studie des Hygiene-Instituts aus Nordrhein-Westfalen -, „daß die bei den Marsberger Probanden im Blutfett festgestellten Dioxin-Werte" - und zwar TE-Werte nach dem Bundesgesundheitsamt - „in einem Bereich liegen" ({1}) Richtwerte, die vom Bundesgesundheitsamt erlassen worden sind; richtig - „bei dem keine bedeutsamen Wirkungen zu erwarten sind", und daß „bei keinem der untersuchten Probanden weitergehende medizinische Untersuchungen erforderlich" sind. - Ende des Zitats. Dieses einerseits nicht zu erwartende, andererseits aber auch beruhigende Ergebnis wirft doch einige Fragen auf; denn zumindest auf Grund der Inhalation von Stäuben von dieser Kieselrothalde mußte von einer höheren Belastung der Probanden ausgegangen werden. Eine Antwort auf die Frage, warum die Belastungen so unerwartet niedrig liegen, geben die Untersuchungen des Bundesgesundheitsamtes. Das Institut für Wasser-, Boden- und Lufthygiene des Bundesgesundheitsamtes in Berlin hatte mit sehr viel Mühe die Aufnahme von Dioxinen aus dem Kieselrot durch Ingestion experimentell simuliert. Mit Hilfe anorganischer und organischer Modellmixturen wurden die Verdauungsvorgänge im Magen und im Dünndarm außerhalb des menschlichen Körpers im Labor nachgestellt und die mögliche Aufnahme von Dioxin durch den Körper ermittelt. Das pauschalierte Resultat dieser Untersuchung lautet nach dem Bericht des Bundesgesundheitsamtes - ich zitiere hier wieder -: „Der prozentuale Übergang der Dioxine und Furane aus Kieselrot in den künstlichen Mund-, Magen- und Darmsaft variiert zwischen 0,8 und 1,1 %." Offenbar ist also die Bioverfügbarkeit der Dioxine und Furane aus diesem Kieselrot weit geringer, als wir zunächst befürchtet hatten. Diese Gifte sind im Kieselrot also demnach so fest gebunden, daß Kieselrot eigentlich fast schon als Dioxinbinder Verwendung finden könnte. Nimmt man einmal an, ein spielendes Kind würde durch Unachtsamkeit täglich ein Gramm Kieselrot von seinem Spielplatz aufnehmen, das, wie vielfach festgestellt wurde, 100 Mikrogramm TE/kg an Dioxin enthält, so würde die tägliche Aufnahme 10 000 Pikogramm/kg betragen. Bei einer Bioverfügbarkeit von 1 % - das ist der obere Wert, wie die Studie des BGA ergeben hat -, sind es nur 100 Pikogramm/kg. Die durchschnittliche Grundbelastung der Bevölkerung durch die Dioxine und Furane liegt, ausgedrückt in TE-Einheiten, bei etwa 30 Nanogramm/kg Blutfett, bei Kindern bei etwa 10 Nanogramm/kg Blutfett. Diese Grundlast stammt im wesentlichen aus fetthaltigen Nahrungsmitteln. Sie gilt als gesundheitlich unbedenklich. Gegenüber dieser Grundlast sind die aus dem Kieselrot stammenden zusätzlichen 100 Pikogramm/kg - also Faktor 6 - vernachlässigbar geringfügig. ({2}) Das mag beruhigen; gleichwohl haben die Länder richtig gehandelt, als sie aus Vorsorgegründen das Kieselrot auf den Spielplätzen ihrer Kommunen austauschen ließen; denn über die durch Resorption über die Haut aufgenommenen Mengen liegen noch keine sicheren Erkenntnisse vor. Eine Totalsanierung sämtlicher Sportstätten läßt sich allerdings bei diesen Befunden nicht vertreten. Hier sollten die Länder mit den Maßnahmen fortfahren, die sie bislang auch schon ergriffen haben, nämlich das Kieselrot auf Sportstätten abzudecken und mit unbelastetem Material zu überschichten. Dies scheint schon deswegen angebracht zu sein, um unkontrollierte Verwehung en di eses Kieselrots und damit eine unkontrollierte Ausbreitung zu verhindern, so daß nicht hinterher fälschlicherweise Dioxinbelastungen womöglich auf Müllverbrennungsanlagen zurückgeführt werden, die dafür gar nicht verantwortlich gemacht werden können. Was ich nun nach diesem Sachverhalt keineswegs erkennen kann, Frau Kollegin Caspers-Merk, ist eine Zuständigkeit und Verantwortlichkeit des Bundes, wie der SPD-Antrag vorgibt. Die Länder sind von sich aus ohne weiteres in der Lage, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen oder zu veranlassen, und sie sind für die Länder meines Erachtens auch finanziell tragbar. Es geht aus meiner Sicht nicht an, daß die Länder fortwährend - wie jetzt gerade insbesondere in der Verfassungskommission - Rechte und Verantwortlichkeiten für sich reklamieren, dann aber jedes Wehwehchen dem Bund zuschieben. Wir haben wichtigere Sanierungsvorhaben - die Kollegin Enkelmann hat völlig recht -; ich denke z. B. an die radioaktiv verseuchten Halden der Wismut AG. Genau in diesen Fällen, in denen es wirklich darauf ankommt, hat der Bund Mitverantwortung übernommen. Ich meine deshalb, daß die SPD erwägen sollte, diesen Antrag zurückzuziehen; denn für eine ernsthafte Beratung im Ausschuß mangelt es gänzlich an überzeugenden Argumenten. ({3}) - Frau Kollegin Caspers-Merk, daß Ihnen etwas einfällt, bezweifle ich überhaupt nicht; ob das dann aber mit den Untersuchungs- und Berichtsergebnissen, die uns vorliegen, in Übereinstimmung gebracht und sinnvoll umgesetzt werden kann, ist eine andere Frage. Das werden wir dann im Ausschuß besprechen. Jedenfalls kann ich für unsere Fraktion schon heute sagen, daß auf Grund der vorliegenden Unter9718 suchungen und Gutachten diesem Antrag nicht zugestimmt werden kann. ({4}) Ich komme jetzt noch kurz zu dem Antrag auf Kennzeichnung von Kunststoffen. Die von Ihnen geforderte Kunststoffkennzeichnung begründen Sie vor allen Dingen mit der Notwendigkeit einer möglichst sortenreinen Sortierung. Das macht im Prinzip Sinn; aber sollen wir das tatsächlich vorschreiben? ({5}) - Ich bin der Meinung: nein. Es gibt zwischenzeitlich eine freiwillige Vereinbarung zur Kennzeichnung von Kunststoff; das ist das eine. Wenn man sich die Situation einmal anschaut, stellt man folgendes fest: Wir haben 10 Millionen t Hausmüll und hausmüllähnliche Gewerbeabfälle; davon entfällt 1 Million t auf Kunststoffabfälle, das sind ca. 3 %. Der Anteil ist in den vergangenen zwei Jahren schon von 10 % auf 3 % gesunken. Bei PVC und Verbundkunststoffen hat es bereits in wesentlichem Umfang Substitutionen gegeben. Ich will aus Zeitgründen die Zahlen jetzt nicht mehr im einzelnen nennen. Das DSD ist mit den Dingen, die auf es zukommen, nicht etwa überfordert. Im Gegenteil, ab 1. Januar 93 werden die Kosten für den Grünen Punkt nicht mehr allein nach Volumen berechnet, sondern es wird das gemacht, was Sie wollen, nämlich eine Lenkung über den Preis. Es wird einen Aufschlag geben. Kunststoffe werden verteuert. Es wird sich von selber regeln. Das ist das, was wir wollen. ({6}) - Natürlich, Frau Kollegin Caspers-Merk, das ist doch ganz logisch. Wenn ein Kunststoff in der Verwertung hinterher wesentlich teurer wird, dann wird sich derjenige, der die Verwertungskosten zu tragen hat - nämlich zunächst das Unternehmen -, Gedanken darüber machen, ob es den Kunststoff durch etwas anderes substituieren kann, weil es nur so die Kosten vermeiden kann. Das wird jetzt zu einem Wettbewerbsfaktor. Das ist etwas, was wir erreichen wollten. Insofern haben Sie da einen Effekt. Die Redezeit ist leider zu Ende. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hätte gerne noch einiges mehr zu dieser Kennzeichnungspflicht für Kunststoffe gesagt. Ich sage zu diesem Antrag abschließend nur noch dies. Sofern es darum geht, daß der Käufer schon beim Kauf eines Produktes erkennen können soll, wie es hinsichtlich der umweltrelevanten Eigenschaften und der Wiederverwertbarkeit des Produktes aussieht, sollten wir uns ernsthaft darüber unterhalten, wie dies bewerkstelligt werden kann. Jedenfalls wäre eine Angabe, wie sie derzeit auf den Speisekarten gemacht wird und wie sie der vorliegende Antrag vorschlägt, völlig unsinnig, weil die Leute in aller Regel damit nichts anfangen können. Danke. ({7})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserer Frau Kollegin Ingeborg Philipp.

Ingeborg Philipp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wissenschaftlichtechnische Entwicklung dieses Jahrhunderts hat der Menschheit unauslöschliche Eindrücke der Vernichtung gebracht, den Giftgaskrieg im Ersten Weltkrieg, die Atombomben des Zweiten Weltkriegs, die „ Entlaubung " in Vietnam, den High-Tech-Krieg am Golf. Diese Verbrechen an der Menschheit wurden in kleinem Maßstab mit Seveso 1976, Marsberg 1991 und Lengerich 1992 weitergeführt. Diese Namen stehen in unterschiedlicher Intensität für die Gefährlichkeit von Dioxinen. Doch es geht nicht nur um diese Katastrophen. Ich frage Sie: Wer redet von der alltäglichen Vergiftung durch den Ausstoß von Dioxinen und Furanen in Müllverbrennungsanlagen, bei Bränden auf Deponien? Ich nenne Schönberg bei Lübeck; diese Deponie brannte am 23. September dieses Jahres. Wer macht sich klar, daß Dioxine in Holzschutzmitteln, in den Hüllen der „Tintenkiller" der Schülerinnen und Schüler, beim Brand eines Hauses freigesetzt werden können und beim Recycling von Verpackungsschrott - z. B. von Getränkedosen, in Stahlwerken - entstehen? Diese naturgemäß unvollständige Auflistung verweist uns auf ein grundlegendes Problem, dem man mit den in Rede stehenden Anträgen nur in Ansätzen beizukommen vermag. Natürlich muß man diesen Anträgen zustimmen, wobei es allerdings schon fast zynisch wird, wenn nach dem Bekanntwerden der Vergiftung von Sportplätzen und anderen Anlagen durch 800 kt Kieselrot der Deutsche Bundestag sich erst ein Jahr später ernsthaft mit diesem Antrag befaßt. Hier wird ein Problembewußtsein erst entwikkelt, nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist. Dies steht in krassem Widerspruch zu dem, was vorsorgende Umweltpolitik tun sollte. Wir befinden uns in der Situation des Zauberlehrlings, der die Kräfte, die er gerufen hat, nicht bändigen kann. Es gibt aber auch Lichtblicke, z. B. die ins Auge gefaßten Versuche mit Austernpilzen eines Chemikers. Ich wünsche sehr, daß sie Erfolg haben. Die Kreativität der Menschen zur Lösung von Problemen ist die einzige Hoffnung, die wir haben, aber sie muß menschenfreundlich wirksam werden können. Auch das ist eine Aufgabe der Bundesregierung. Die PVC-Problematik ist schwerwiegend. Nach Aussagen vom „Stern" und Frau Griefahn werden mit PVC jährlich 10 Milliarden DM Umsatz gemacht. 70 000 Arbeitsplätze in der PVC-Produktion und -Verarbeitung hängen von diesem Produktionszweig ab. 7 Millionen t PVC sind derzeit im Umlauf, und jährlich kommt 1 Million t dazu. Das sind die wirtschaftlichen Gegebenheiten. Nach der Verbrennung fällt auf 1 t PVC 1 t Filtersalze an, die unter Tage endgelagert werden müssen. Die Verbrennungstechnologie ist mit Sicherheit keine Zukunftstechnologie. Sicher hat die Industrie schon Versuche unternommen, das Problem besser zu lösen. Das Ministerium für Forschung und Technologie sollte zusammen mit dem Umweltministerium mit dem Ziel tätig werden, entsprechende Vorgaben verbindlich zu machen. Technische Probleme sind lösbar, wenn man den Willen dazu hat. Die Versuche mit den Austernpilzen sind ein hoffnungsvoller Hinweis darauf, daß dort, wo ein Wille ist, auch Wege gefunden werden. Die PVC herstellende und verarbeitende Industrie sollte Entwicklungsarbeiten zur effektiven PVC-Müllverarbeitung durchführen, die ohne Verbrennungsprozeß auskommen. Die Erarbeitung dieser Technologie sollte im Verantwortungsbereich der Verursacher wahrgenommen werden. Der Umweltministerkonferenz wünsche ich im Sinne der von Joschka Fischer gemachten Aussagen gute Ideen und viel Tatkraft. Denn wir müssen wirklich dazu kommen, durch Glasnost und Perestroika neue Horizonte zu erschließen. Wir brauchen ein neues Denken, welches Gewalttätigkeit in jeder Form ausschließt, auch im Bereich der Industrie, die mit ungenügend entwickeltem Verantwortungsbewußtsein produzieren will und vom Vorteildenken angetrieben wird. Wir brauchen andere Triebkräfte. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Dr. KlausDieter Feige.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Klinkert gibt mir ein Zeichen. Ich solle möglichst wenig reden, hat er gesagt. ({0}) Aber ich bin bei uns in der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für Katastrophen verantwortlich. Heute sind drei Katastrophen auf der Tagesordnung. Die erste war Atomenergie, die zweite ist Dioxin, und nachher kommt noch die größte: Duales System Deutschland. Sie werden mich also noch ein bißchen ertragen müssen. ({1}) Die beiden zu beratenden Anträge, die wir heute zur Kennzeichnungspflicht von Kunststoffen und zur Dioxinbelastung durch die Kupferschlacken aus Marsberg vorliegen haben, scheinen auf den ersten Blick überhaupt nichts miteinander zu tun zu haben. Hinterfragt man jedoch die Entstehungsursachen von Dioxin, so wird dem Neugierigen sehr schnell die direkte Beziehung zwischen diesem extrem gefährlichen Gift und den Plasten klar. Der Zusammenhang ist vor dem Hintergrund des Brandes eines Kunststofflagers in Lengerich sogar als dramatisch zu bezeichnen. Bei diesem Kunststoffbrand sind nämlich hochgiftige Dioxine und Furane freigesetzt worden. Wir können heute nur froh sein, daß die Gesamtbelastung des Gebietes nicht das zunächst befürchtete Maß erreicht hat, wobei die Dioxinbelastungen in den Lagerhallen selbst wahrscheinlich alle Grenzwerte überschritten haben. Die Sorge war aber schon berechtigt, weil nämlich in Lengerich auch das äußerst problematische Polyvenylchlorid, kurz PVC genannt, in großen Mengen gelagert wurde und verbrannte. PVC entwickelt bei der Verbrennung nicht nur Salzsäure, wie sie dort aufgetreten ist, sondern eben auch jene Gifte, die die Umgebung von Lengerich verseucht haben. Die Dioxinquellen sind aber vielfältig. Vor zwei Jahren haben die Kupferschlacken aus Marsberg für Schlagzeilen gesorgt. Davor war es der Brand in Seveso, der der Welt die Giftigkeit von Dioxin vor Augen führte. Es wäre längst Aufgabe der Bundesregierung gewesen, Stoffe aus dem Verkehr zu ziehen, die für die Entstehung dieser Gifte verantwortlich sind. Aber nichts ist geschehen. Weder ein PVC-Verbot noch weiterführende Anstrengungen sind zu verzeichnen, um chlorhaltige Stoffe wie etwa Perchlorethylen, Tetrachlorkohlenstoff und Phosgen - um nur die wichtigsten zu nennen - aus der Welt zu schaffen. ({2}) - Das können Sie ja nachlesen, Herr Klinkert. Statt dessen setzt der Umweltminister auf die Freiwilligkeit der Industrie, insbesondere der PVC-Hersteller, und läßt sich von diesen einlullen, oder er kommt nicht gegen die Macht des Kapitals an. Man hört ja, daß der Minister auf die Verwertung der Kunststoffe setzt. Nach Angaben der Verwertungsgesellschaft Kunststoffe werden derzeit aber nur 70 000 t gemischte Kunststoffabfälle definitiv verwertet. Das sind gerade einmal 5,4 % des Plastikmülls in Deutschland. Das Aufkommen an Plastikmüll liegt derzeit jedoch bei 1,3 Millionen t, darunter allein 900 000 t aus Verpackungen. ({3}) Die übrigen nicht verwertbaren Kunststoffabfälle landen dann in ungenehmigten Zwischenlagern wie in Lengerich. Jedes Jahr werden in Deutschland etwa 1,6 Millionen t PVC hergestellt. Rund 200 000 t landen im Hausmüll, und die Tendenz ist noch steigend. Die Wirtschaft erwartet angesichts der zügellosen Wirtschaftsstrategie der Bundesregierung eine Steigerung um 1 Million t pro Jahr für die zweite Hälfte des Jahrzehnts. Hinzu kommt, daß sich derzeit allein 12 Millionen t Gebrauchsgüter im Umlauf befinden, die das Müllaufkommen von PVC in den nächsten Jahren zusätzlich wachsen lassen. Diese PVC-Müllorgie wird noch um 60 000 t Gewerbemüll pro Jahr und weitere 40 000 Jahrestonnen PVC aus Autoschrott ergänzt. Eine funktionierende Wiederverwertung dieses Kunststoffes ist nicht in Sicht. Die Unwilligkeit der Bundesregierung, Problemstoffe aus dem Verkehr zu ziehen, wird uns in naher Zukunft vor neue und größere Problemsituationen stellen, als dies schon die Marsberger Kupferschlakken, eine Hinterlassenschaft des Rüstungswahns des Dritten Reiches, getan haben. Eine große Zahl von Sportplätzen in NordrheinWestfalen ist unbrauchbar geworden, auch wenn Frau Homburger das ein bißchen anders dimensionieren wollte. Ich glaube, daß deren Sanierung aufwendige und teure Arbeiten nach sich zieht. Sie gehen alle zu Lasten der Steuerzahler. Es kann daher nicht angehen, auf den freiwilligen Verzicht der Hersteller von umweltunverträglichen Stoffen zu hoffen und die Sanierungskosten für die eingetretenen Schäden der Allgemeinheit aufzubürden. Wer wird für die Beseitigung der Dioxinbelastung in Lengerich bezahlen? Es wird doch genauso sein wie bei der Sanierung der Sportplätze: Die öffentliche Hand muß blechen. Allein die ungeklärten Haftungsfragen heim Brand des Kunststoffzwischenlagers in Lengerich lassen die Praxis im Umgang mit dem Prinzip der Produzentenhaftung gegenwärtig untauglich erscheinen. Es ist zwar richtig, die Kennzeichnung von bestimmten Kunststoffen zu fordern, um diese einer sinnvollen und wie im Fall des Polyethylens auch durchaus möglichen Wiederverwertung zuzuführen. Wenn man aber künftig ähnliche Katastrophen wirksam vermeiden will, reicht eine Kennzeichnung meines Erachtens nicht aus. Auch dort ist Vorbeugung das Entscheidende. Ich bitte - Herr Wieczorek, bitte übermitteln Sie dies Herrn Töpfer als meine Bitte -, mit dem Verhandeln aufzuhören. Es wird keine Akzeptanz bei dieser Problematik geben. Ich glaube, lediglich durch ein PVC-Verbot ist etwas zu erreichen. PVC gehört auf den Müllhaufen der Chemiegeschichte. Schönen Dank für ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, das Wort erhält nunmehr der Herr Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, unser Kollege Dr. Bertram Wieczorek.

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke, wir reden heute nicht in erster Linie über Katastrophen, Herr Feige, sondern über sehr ernste Themen. ({0}) Ich muß Ihnen natürlich zugestehen, daß die DioxinFuran-Problematik eine sehr ernste ist. Wir haben es hierbei nicht nur mit einem hochpotenten Kanzerogen zu tun, was schon allein durch die Benzolstruktur bestimmt ist, sondern auch mit einer hochtoxischen Substanz, die irreparable Schäden beim Menschen verursacht. Es ist schon das Thema der Chlorakne angesprochen worden. Ich denke, das alles ist Anlaß, heute über die Dioxin-Problematik ernsthaft zu reden, zumal es noch an wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Biotransformation bzw. das Verhalten der chlorierten Kohlenwasserstoffe im menschlichen Körper fehlt. Nach der Feststellung von Dioxinbelastungen auf Spiel- und Sportplätzen durch Verwendung von Rückständen aus der Marsberger Kupferhütte ist in Abstimmung mit den Ländern eine Arbeitsgruppe, die die Maßnahmen zur Begrenzung der Gesundheits- und Umweltgefahren koordinieren sollte, eingesetzt worden. Nachdem ein erster Überblick vorhanden war, sind sofort auch die Umweltminister in den europäischen Nachbarländern und die EG-Kommission über die Kieselrot-Problematik und die in der Bundesrepublik Deutschland eingeleiteten Maßnahmen informiert worden. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat in den folgenden Monaten in einer Reihe von Besprechungen gemeinsame Handlungsempfehlungen zur Sperrung bzw. Benutzung von Spiel- und Sportflächen, bei denen hohe Dioxinkonzentrationen festgestellt wurden, sowie zum Umgang mit belastetem KieselrotMaterial beschlossen. Die Vorschläge für diese Maßnahmen beruhten auf Empfehlungen des Umweltbundesamtes und des Bundesgesundheitsamtes für die Sanierung von dioxinbelasteten Böden, die unter dem Gesichtspunkt der gesundheitlichen Vorsorge für die Beratungen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Dioxine" gegeben worden waren. Frau Kollegin Caspers-Merk, Sie haben natürlich recht: All diese Ergebnisse müssen sich gesetzlich irgendwo niederschlagen. Ich möchte Sie noch einmal daran erinnern, daß das Bodenschutzgesetz des Bundes nicht erst in der konzeptionellen Entwicklung ist, sondern im Entwurf bereits vorliegt. Es geht jetzt in die Ressortabstimmung. Auch die Dioxinverordnung ist in der Ressortabstimmung. Wie Sie wissen, sind wir in diesem Stadium nicht immer hundertprozentig Herr des Verfahrens. Meine Damen und Herren, die Abschätzung der Gesundheits- und Umweltgefährdung stellt sich auch hier - wie im Falle anderer Expositionssituationen bei Dioxinbelastungen unterschiedlicher Herkunft - sehr schwierig dar. Ich möchte daran erinnern, daß die ubiquitäre Dioxinbelastung durch Verbrennungsprozesse in der Natur entsteht. Ich spreche einmal den Kohlenstoffspeicher Holz an, aber ich denke auch an die Zigarettenraucher unter uns, die einen hohen Anteil der Dioxine in die Umwelt entlassen. Ergebnisse von Untersuchungen exponierter Personengruppen in Nordrhein-Westfalen, insbesondere von Blutfettuntersuchungen bei der Marsberger Bevölkerung, führten auf einer Sondersitzung der Bund-Länder-Arbeitsgruppe im Juli 1991 zu einer zum Teil unterschiedlichen Beurteilung der gesundheitlichen Risiken durch die Länder. Da die ordnungsrechtliche Gefahrenbeurteilung Länderangelegenheit ist, hatte die Bundesregierung nur begrenzte Möglichkeiten, eine Angleichung der Maßnahmen zu erreichen. Dies traf auch für den Vollzug der Arbeitsschutz- und Gefahrgutvorschriften zu, die bei der Untersuchung und Sanierung dioxinbelasteter Flächen bzw. beim Transport dioxinhaltigen Kieselrotmaterials anzuwenden sind. Da - wie etwa in Nordrhein-Westfalen - Spielplätze bei Gehalten von über 100 Nanogramm Toxizitätsäquivalenten pro kg in jedem Fall zu sanieren waren, mußten allein schon dadurch erhebliche Mengen Kieselrotmaterial transportiert und umgelagert werden. Die diesbezüglichen Regelungen wurden in mehreren Gesprächen zwischen den zuständigen Bundesressorts und in dazu eingerichteten Länderarbeitsgruppen erörtert. In den Ländern wurden auf die jeweilige Situation bezogene Lösungen erarbeitet und die erforderlichen behördlichen Genehmigungen erteilt. Die für die Behandlung der Kieselrotproblematik eingesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat ihre Tätigkeit mit einer letzten Sitzung am 18. Februar dieses Jahres eingestellt, weil nach übereinstimmender Auffassung von Bund und Ländern deren Aufgabe als Gremium für den Informationsaustausch und die Koordinierung der Sofortmaßnahmen erfüllt war. Aber aus der Sicht unseres Hauses verbleiben zwei wichtige Aufgaben: Erstens. Die begonnenen Untersuchungen zur Löslichkeit und biologischen Verfügbarkeit der Dioxinkonzentrationen im Kieselrot sollten fortgeführt werden, damit Risikoabschätzungen über das Gefährdungspotential auf einer besseren wissenschaftlichen Grundlage durchgeführt werden können. Zweitens. Die Bundesregierung sollte ihre Bemühungen fortsetzen, aussichtsreiche technologische Verfahren für die Dekontaminierung des Kieselrotmaterials auszuwählen und Möglichkeiten für eine Förderung dieser Verfahren zur Praxisreife zu suchen. Auch wenn die Länder die Verantwortung für die Sanierung haben, die nach den entsprechenden abfallrechtlichen und sonstigen polizei- und ordnungsrechtlichen Vorschriften zu erfolgen hat, und der Bewegungsspielraum des Bundes eingeschränkt ist, halten wir es aus umweltpolitischer Verantwortung trotzdem für erforderlich, uns an der Lösung von drei Aufgaben zu beteiligen. Zum einen: Das Umweltbundesamt und das Bundesgesundheitsamt sollen zusammen mit anderen wissenschaftlichen Einrichtungen die Kenntnisse über die biologische Verfügbarkeit der Dioxingehalte im Kieselrot und über die Expositionswege verbessern, um damit eine sichere Grundlage auch für die mittel- und langfristige Abschätzung der Gesundheits- und Umweltgefährdung zu legen. Zum zweiten: Zusammen mit dem Bundesforschungsministerium sollen aussichtsreiche Verfahren für die Dekontaminierung von Kieselrotmaterial ausgewählt werden, und es soll untersucht werden, in welcher Zeit und mit welchen Kosten diese Verfahren praxisreif gemacht werden können. Zum dritten: Wegen der grundsätzlichen Fragen, die die Sanierung des hochbelasteten Halden- und Betriebsgeländes der ehemaligen Kupferhütte in Marsberg aufwirft - übrigens nicht nur in Marsberg; ich denke als Ostdeutscher auch an das mansfeldische Gebiet -, und gegebenenfalls zur Prüfung der Eignung für eine modellhafte Sanierung eines mit Dioxinen hochkontaminierten Standortes soll in Absprache mit dem Umweltministerium des Landes NordrheinWestfalen überlegt werden, wie sich das Bundesumweltministerium an der Realisierung eines Sanierungskonzeptes beteiligen kann. Ich möchte diese Aufgaben kurz erläutern, weil dafür gegebenenfalls Finanzmittel bereitgestellt werden müssen. Wie bereits von der Kollegin Homburger erwähnt, legen es die Ergebnisse der im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen bisher durchgeführten humanmedizinischen Untersuchungen nahe, bei den mit Kieselrot verunreinigten Sportplätzen und sonstigen Flächen eine Exposition anzunehmen, die zu keiner unmittelbaren Gesundheitsgefährdung führt. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen wurden in einem Bericht des Hygieneinstitutes, wie angesprochen, veröffentlicht. In einem Bund-Länder-Gespräch über das weitere Vorgehen bezüglich der Nutzung bzw. Sanierung von Flächen mit Kieselrotmaterial wurde die Einschätzung, daß eine gesundheitliche Gefährdung nicht vorliegt, einvernehmlich wie folgt zusammengefaßt: Die Studie legt die Annahme nahe, daß eine Exposition mit Kieselrot zu einer Erhöhung der Dioxinkonzentrationen im menschlichen Blutfett führt. Die festgestellten Werte der PCDD/FBefunde - also von Dioxinen und Furanen liegen jedoch in einem Bereich, die keine weiteren medizinischen Untersuchungen erforderlich machen. Im Rahmen der klinisch-chemischen Untersuchungen konnten keine systematischen Abweichungen der Meßwerte, die auf eine einheitliche Dioxin-Einflußgröße hinweisen, festgestellt werden. Es muß jedoch davon ausgegangen werden - das hat die Kollegin Caspers-Merk ebenfalls angesprochen -, daß sich die allgemeine Grundbelastung der Bevölkerung mit gesundheitlich bedenklichen polychlorierten Dibenzodioxinen und -furanen weiter erhöht, wenn das Kieselrotmaterial so in der Umwelt verbleibt, daß Dioxine in die Nahrungskette eingehen können. Bund und Länder sind sich einig, daß die hohen Dioxinkonzentrationen im Kieselrot eine Umweltkontamination darstellen, die auf längere Sicht wieder beseitigt werden sollte. Grundsätzlich hat daher eine Sanierung der kontaminierten Flächen zu erfolgen. Bei der Auswahl aussichtsreicher technischer Verfahren für die Dekontaminierung von Kieselrotmaterial hat das Umweltbundesamt eine erste Auswertung vorgenommen. Es wird empfohlen, ein thermisches Verfahren mit einer Niedertemperaturbehandlung des Kieselrotmaterials mit katalytischer Reaktion bis zur Anwendungsreife zu fördern. Weiter sollte für Dioxinbelastungen, die nur oberflächlich sind, ein Verfahren, das auf Vorschlägen zur UV-Oxidation von Dioxinen in einem feinverteilten Material beruht, für die praktische Anwendung fortentwickelt werden. Zur Frage einer Beteiligung des Bundes an der voraussichtlich beachtlichen Aufgabe der Sanierung des Halden- und ehemaligen Betriebsgeländes des Marsberger Kupferbergbaus möchte ich die von Herrn Minister Professor Dr. Töpfer geäußerte Bereitschaft wiederholen, an der Beseitigung dieser Hypothek für Menschen und Umwelt in einem dichtbesiedelten Raum mitzuwirken. Lassen Sie mich die Bemerkung hinzufügen, daß wir hier mit Gesundheits- und Umweltproblemen konfrontiert werden, deren Ursachen in einer Technologie der Rohstoffgewinnung, die vor einem halben Jahrhundert angewendet wurde, und der Verwendung dabei entstandener Rückstandsprodukte liegen. Die späteren umwelthygienischen Auswirkungen dieser wirtschaftlichen Tätigkeit wurden seinerzeit nicht übersehen. Uns bleibt übrig, auch aus diesem Fall einer bisher nicht erkannten Umweltbelastung zu lernen, bei der Entwicklung von Produktionsverfahren und Produkten Risiken für die Gesundheit nachfolgender Generationen und die Umwelt so weit abzuschätzen, wie dies denkbar und möglich ist. Abschließend noch eine Klarstellung: Frau CaspersMerk, Sie haben sehr richtig bemerkt, daß sich der Zwischenfall in Lengerich in einer nicht genehmigten Recyclinganlage - allerdings nicht des DSD - ereignet hat. ({1}) - Herr Feige, die Deckel für die Margarine haben dort nichts zu suchen; auch dieser Sachverhalt spricht ein bißchen für die Illegalität. Allerdings ist ernsthaft zu prüfen, ob die Errichtung und der Betrieb derartiger Kunststofflager und -Recyclinganlagen nach § 4 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes in Verbindung mit der 4. BImSchV der immissionsschutzrechtlichen Genehmigungspflicht zu unterwerfen sind. ({2}) - Ich denke, darin sind wir uns einig. ({3}) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Ulrike Mehl, Sie sind die nächste Rednerin. Bitte sehr!

Ulrike Mehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001454, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß wir Probleme mit Abfall haben, hat sich, hoffe ich, endlich allgemein herumgesprochen. Nachdem in den letzten Jahren die Kreise und Gemeinden kunterbunt fast unzählige Modellversuche durchgeführt haben und versucht haben, sich der Abfallflut zu erwehren, dabei aber eher minder als mehr erfolgreich waren, hat sich Herr Töpfer ans Werk gemacht. Auf jeden Fall wurde bis zum Jahre 1991, bis zur Geburt der Verpackungsverordnung, das Problem allein den Kommunen aufgehalst. Denen kann und konnte es nur darum gehen, den Abfall möglichst preisgünstig loszuwerden, aber nicht darum, wie man die Abfallberge schon bei der Produktion vermeidet oder vermindert. Nachdem nach etlichen Jahren wenigstens das Aussortieren von Glas und Papier einigermaßen erfolgreich lief, und zwar dank der massiven Aufklärungsarbeit von Umweltverbänden und der Bürgerinnen und Bürger, die das mitgemacht haben, blieben trotzdem Fragen offen, die gesetzgeberisch zu beantworten sind: Wie verhindere ich; daß Abfall entsteht, und was mache ich mit den Produkten, die zwangsläufig Abfall werden? Bei Papier, Glas, Metall, Alumium, Holz und organischen Substanzen ließen sich wenigstens theoretisch Lösungen erkennen, bei Kunststoffen dagegen sah und sieht es trübe aus; man muß nur einmal über das Thema Vermeidung und Verwertung von Abfall nachdenken. Dies ersetzt natürlich nicht die Notwendigkeit, schon über die Rohstoffe, die Produktion und die Produktionsverfahren nachzudenken. Insgesamt muß Deutschland jährlich - es wurden eben schon Zahlen genannt - 1,3 Millionen Tonnen Kunststoffe allein aus dem Bereich Verpackung loswerden. Jedenfalls werden die Kommunen oder das DSD laut Verpackungsverordnung ab Januar 1993 diese 1,3 Millionen Tonnen Kunststoffe im Abfall zu 30 % auszusortieren haben. Dabei müssen wiederum 30 der stofflichen Verwertung zugeführt werden; das sind immerhin mindestens 90 000 Tonnen pro Jahr. Nach Meinung des TÜV wird innerhalb dieser 90 000 Tonnen mit einem Verwertungsdefizit von 30 000 zu rechnen sein. Das kann nur heißen, daß die Verpackungsverordnung nicht zu erfüllen ist. Ab Januar 1995 sollen dann 80 % eingesammelt werden. Von dieser Menge sollen wiederum 80 % der stofflichen Verwertung zugeführt werden. Das macht weit mehr als 700 000 Tonnen Kunststoffabfälle. In Lengerich - das nur zum Vergleich - lagen knapp 5 000 Tonnen Kunststoffabfälle. Diese Deponie in Lengerich, Herr Staatssekretär, stand kurz vor dem Vertragsabschluß mit dem DSD. Soweit her ist es damit also nicht. Die Kunststoffindustrie sagt, daß sie „kurzfristig" - was immer das heißen mag - nur 120 000 Tonnen sortenreinen Kunststoff verwerten kann und eine ebensolche Menge an Verpackungen. Der Begriff „sortenrein" ist ein Knackpunkt; deswegen komme ich darauf nachher noch einmal zurück. Das Thema Verpackung spielt hier deshalb eine besondere Rolle, weil sie zumindest im Hausmüll den größten Anteil ausmacht, wobei Kunststoffe im Verpackungsbereich die größten Schwierigkeiten machen. Es stellt sich also beispielsweise die Frage: Was geschieht mit dem „Rest", von dem immer die Rede ist, der aber 91 % des gesamten Kunststoffabfalls ausmacht? ({0}) Was geschieht, wenn das DSD die Quoten nicht einhalten kann? Danach sieht es im Moment ganz aus. Wer sitzt dann auf dem Abfallhaufen, und was geschieht mit dem Kunststoff? Unter diesem Licht betrachtet, leuchten die Vorschläge der Verpackungs- und Kunststoffindustrie ein, nämlich den Kunststoff - erstens einer chemischen Verwertung, d. h. der Pyrolyse, zu unterziehen. Diese gibt es aber noch lange nicht in anwendbaren Verfahren. In dem Fall kann von kurzfristiger Anwendung also nicht die Rede sein. Zweitens wird die thermische Verwertung, also die Verbrennung vorgeschlagen. Das heißt: Macht nur weiter so, wir können das Zeugs ja durch den Schornstein jagen! Vom Einsparen ist nicht die Rede. Ich muß Ihnen sagen, daß ich die Bezeichnung „thermische Verwertung" für eine ziemliche Volksverblödung halte, ({1}) vor allen Dingen dann, wenn in dem Zusammenhang nach Möglichkeit auch noch von „Stoffkreisläufen" phantasiert wird. Der interessanteste Vorschlag der kunststofferzeugenden Industrie ist aber der Export. Sie bezeichnet dies auch noch als „ausbaufähig". Was also nicht durch den Schornstein zu jagen ist, schippern wir irgendwoanders hin, ({2}) Hauptsache weg! Wieso die Verwertungstechnik in irgendeinem Ausland besser sein soll als bei uns, leuchtet mir überhaupt nicht ein und wird auch nicht gesagt. Hauptsache, wir sind das Problem los! ({3}) - So ist es. - Frau Homburger, wenn Sie diese von der Verpackungs- und Kunststoffindustrie vorgeschlagenen Lösungsansätze für richtig halten, dann verstehe ich auch ihre Argumentationsweise. Aber dann liegen unsere Meinungen wirklich Welten auseinander. ({4}) Was ist nun das besondere Problem bei Kunststoffen? Es gibt heute etwa 500 Kunststoffarten, von denen die meisten auch in Deutschland produziert werden, wie uns die Bundesregierung gesagt hat. Die Kunststoffindustrie behauptet das Gegenteil. Den größten Anteil nehmen die Polyethylene, PE, ein. Dann spielen noch Polystyrol, PS, PET und Polypropylen, PP, eine Rolle. Besonders zu erwähnen ist aber das PVC. Die jährlich 800 000 Tonnen verarbeitetes PVC machen als Abfallprodukt besondere Schwierigkeiten, was seit dem Unfall von Lengerich hinreichend bekannt sein sollte. Produkte, die zu irgendeinem Zeitpunkt, ob bei der Entstehung oder als Abfall, bei Mensch und Umwelt gefährlich sind, müssen über kurz oder lang verboten werden. ({5}) Andernfalls laden wir uns und den Menschen in der Zukunft unkalkulierbare Risiken auf. Das Sintflutdenken muß endlich aufhören. Im Bereich des Kunststoffrecyclings sind noch viele Fragen unbeantwortet. Klar ist, daß heute nur einige Sorten wiederverwendbar sind. Dazu gehört das PE, das den größten Anteil des Kunststoffabfalls ausmacht. PE ist wieder zu Granulat verarbeitbar, ist dann aber wesentlich teurer als das Granulat, das als Rohöl hergerstellt wird. Eine Tonne recycelter Kunststoff kostet zwei- bis dreimal soviel wie das Rohölgranulat ({6}) und ist damit nicht konkurrenzfähig, was jedem klar sein dürfte. Solange die Kosten von Abfall und Recycling also einfach auf die Verbraucher abgewälzt werden, kann man dieses Spielchen lustig weitertreiben. Wer aber ernsthaft einen Stoffkreislauf angehen will, muß dafür sorgen, daß Basismaterialien aus kostbaren bzw. die Umwelt belastenden Rohstoffen deutlich teurer sind als die aus Recyclingverfahren gewonnenen Rohstoffe. ({7}) Nur das darf Zukunft haben; alles andere ist ein fortgesetztes Auffressen unserer Erde durch die Reichen dieser Welt. ({8}) Um die Chance einer solchen teilweisen Wiederverwertung zu haben, ist es besonders wichtig, sortenreinen Kunststoffabfall zu bekommen. Wie kriegt man das nun hin? - Kunststoffe landen immer in einer Tonne. Es ist wenig erfolgversprechend, die Verbraucher neben anderen Abfallfraktionierungen auch noch verschiedene Kunststoffe getrennt sammeln zu lassen. Also muß Kunststoff heute per Hand auf Fließbändern sortiert werden. Wer sich eine solche Sortieranlage einmal angesehen hat, weiß, daß das nicht nur ein unattraktives Geschäft ist, sondern auch nur dann funktionieren kann, wenn die Kunststoffe optisch auseinanderzuhalten sind. Sie müssen einmal ausprobieren, Kunststoffe im Akkord auseinanderzufisseln, wenn auf den einzelnen Teilen nach kleinen Buchstaben wie „PP" oder „PE" gesucht werden muß. Das kann nicht funktionieren. Wir brauchen also eine gesetzlich vorgeschriebene Kennzeichnung, die sofort, ohne suchen zu müssen und ohne Antrag mit dreifachem Durchschlag sichtbar ist. Darüber kann sich die Industrie ja einmal Gedanken machen. Die ist in solchen Fragen ja äußerst phantasiereich. Es gibt Vorschläge, z. B. Farbpunkte anzubringen und ähnliches. Aber das kann sich ja die Industrie ausdenken. Das hätte dann auch den Vorteil - Frau Homburger, Sie haben das angesprochen -, daß Verbraucher beim Kauf der Waren besser mit Problemkunststoffen umgehen können. ({9}) - Das ist eine Frage der Information. Wenn Sie sich einmal mit Umweltverbänden befaßt haben und gesehen haben, was diese an Öffentlichkeitsarbeit geleistet haben - im Gegensatz zu dieser Bundesregierung -, dann wissen Sie, daß Sie dort einmal in die Lehre gehen können. Da können Sie etwas lernen. ({10})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Homburger?

Ulrike Mehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001454, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Mehl, können Sie mir bitte einmal erklären, wie ein Verbraucher, der über die einzelnen Zusammensetzungen von Kunststoffen und deren Umweltverträglichkeit oder Schädlichkeit in der Regel keine Kenntnis hat, auf Grund einer Kennzeichnung mit einem roten Punkt oder ähnlicher Dinge, die Sie hier angesprochen haben, z. B. bei einem Joghurtbecher feststellen können soll, was das bedeutet und ob er sich mit diesem Kauf umweltgerecht oder nicht umweltgerecht verhält? Das ist meines Erachtens auf diese Art und Weise jedenfalls nicht zu erkennen. ({0}) - Die Frage habe ich gestellt, Herr Kollege Müller. Ich bin schon selbst in der Lage, das zu erkennen. Sie brauchen mich nicht darauf hinzuweisen. ({1}) - Dafür ist der Präsident da!

Ulrike Mehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001454, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich hatte eben gesagt, daß das, was die Verbraucher in bezug auf die Wiederverwertung von Kunststoffen tun können, relativ begrenzt ist, obwohl es schon jetzt in einigen Ländern oder Kreisen Verfahren gibt, wo Kunststoff getrennt gesammelt wird. Das ist, so glaube ich, bei uns aber nicht durchsetzbar, Deswegen brauchen wir eine farbliche oder sonstwie sichtbare Kennzeichnung für die, die sie dann wieder trennen müssen. Der Verbraucher kann aber z. B. zwischen PVC und anderen Kunststoffen unterscheiden. Er kann z. B. zwischen PE, einem relativ wiederverwendbaren Kunststoff, und einem anderen Kunststoff unterscheiden. Das halte ich für durchaus sinnvoll. Nur, wenn Sie die Verbraucher darüber nicht aufklären, dann wissen sie das natürlich nicht. ({0}) Unterschätzen Sie die Verbraucher bitte nicht! Die wissen eine ganze Menge. Wenn sie wissen, daß beispielsweise eine PET-Flasche aus zwei verschiedenen Kunststoffen besteht und deswegen nicht recycelbar ist, dann führt das dazu, daß sie keine PET-Flaschen, sondern Mehrwegflaschen kaufen. Das ist ein Erfolg, und mehr will ich doch gar nicht. ({1}) Dies alles hörte sich eben vielleicht danach an, daß das alles kleine Ansätze sind, daß man eben nur Kleinigkeiten ändern kann. Wir wissen aber, daß es den großen Wurf nicht auf einmal gibt, statt dessen aber innerhalb von Gesamtkonzepten, die es natürlich geben muß, einzelne Schritte gegangen werden müssen. Ich glaube, daß das, was ich vorgetragen habe, eine Art dieser kleinen Schritte aufzeigt und daß dies ein wichtiger kleiner Schritt ist. Ich bin sicher, auch Sie werden in Ihren Wahlkreisen auf Zuspruch stoßen, wenn Sie diesem Antrag zustimmen und das dort veröffentlichen, weil die Bürgerinnen und Bürger sowieso nicht mehr verstehen, warum die Politik so schwerfällig auf solche Probleme reagiert. Tun Sie sich etwas Gutes, stimmen Sie zu! ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Müller, Frau Kollegin Homburger hatte in ihrem längeren Beitrag die Frage natürlich längst gestellt; sie hat sie nur noch etwas erläutert. Meine Damen und Herren, als letztem Redner zu Tagesordnungspunkt 12 erteile ich jetzt unserem Kollegen Dr. Norbert Rieder das Wort.

Prof. Dr. Norbert Rieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001841, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine für mich nicht ganz nachvollziehbare Regie hat es fertiggebracht, uns an diesem Freitagmittag über zwei Dinge debattieren zu lassen, die nur sehr entfernt miteinander zu tun haben: über die Sanierung dioxinverseuchter Böden, speziell durch Kieselrot aus Marsberg, und über die Kennzeichnung von Kunststoffen. Nun ist es nicht verwunderlich, daß einige Kolleginnen und Kollegen unter dem Eindruck des Brandunglücks von Lengerich und der dabei ausgetretenen Dioxinen die beiden Dinge miteinander verknüpft haben; es war eigentlich zu erwarten. Aber zwischen Marsberg und Lengerich gibt es Gott sei Dank noch eine andere Querbeziehung, hat sich doch in beiden Fällen, sowohl in Marsberg als auch in Lengerich, gezeigt, daß sich nach einer ersten Phase der Aufregung, in der - wie ich meine, mit Recht - schnelle und weitgehende Maßnahmen getroffen wurden, um aus dem Vorsorgeprinzip heraus den eingetretenen Schaden so klein wie möglich zu halten, aus einer ersten Phase des Handelns eine zweite entwickelte, in der sich nach genauer Messung und Untersuchung zeigte, daß der Schaden deutlich geringer war, als ursprünglich befürchtet. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich möchte die Ereignisse weder in Marsberg noch in Lengerich herunterreden, sondern nur betonen, daß es bei einem Risiko, das nicht genau abschätzbar ist, klug und weise ist, zuerst einmal von einem schwereren Fall auszugehen, um dann teilweise Entwarnung geben zu können, statt zuerst alles zu verharmlosen, um dann Stück für Stück nachbessern zu müssen, ({0}) ohne das am Anfang Versäumte jemals wiedergutmachen zu können. So hat uns, um auf Marsberg zurückzukommen, die Sperrung der mit Kieselrot belegten Spielplätze und Sportplätze und auch der Haldengelände in Marsberg selbst die Möglichkeit gegeben, deutlich zu machen, daß, verglichen mit den ersten Befürchtungen, relativ kostengünstige Maßnahmen ausreichen, die Ausbringungsorte des Kieselrots so zu sichern, daß keine öffentliche Gefahr mehr davon ausgeht. Das hat uns aber auch die Zeit gegeben, modellhafte Konzepte für die endgültige Sanierung der gesicherten Flächen einschließlich des restlichen Haldenmaterials aus Marsberg zu entwickeln, die für andere Sanierungsfälle in den alten und neuen Bundesländern, aber auch darüber hinaus, modellhaft sein können; denn dioxinverseuchte Böden sind keine Besonderheit nur der Bundesrepublik, sondern auch anderer Länder, wie wir spätestens seit Seveso wissen sollten. Auch das in Marsberg angewandte Verfahren zur Aufbereitung des Kupfererzes ist übrigens nicht einzigartig auf der Welt gewesen, auch wenn es in Deutschland bei der Kupfergewinnung sonst wohl nicht mehr angewandt wurde, meines Wissens übrigens auch nicht in Mansfeld; es waren dort andere Verfahren. Vielmehr handelt es sich um ein Verfahren, das ursprünglich in Schweden entwickelt wurde. Ich denke, wer sucht, wird auch dort, nämlich in Schweden, und anderswo fündig werden. Doch gerade dieser weltweit modellhafte Charakter der Sanierung großer kontaminierter Materialmengen mit dafür geeigneten Verfahren, die technisches Neuland beschreiten werden, gibt der Bundesregierung - anders als bei sonstigen Sanierungen, die Aufgabe der Länder sind - eine Möglichkeit, fördernd einzugreifen. Herr Staatssekretär Wieczorek hat vorhin in aller Deutlichkeit den eindeutigen Willen von Minister Töpfer und der Bundesregierung erklärt, hier bis zu den Grenzen des rechtlich Möglichen zu gehen. Damit ist eigentlich wohl auch ohne den Antrag der SPD das Machbare durchgeführt bzw. in die Wege geleitet. Doch nun zum zweiten Antrag der SPD, zur Kennzeichnung von Kunststoffen. Es ist sicherlich eine im ersten Moment faszinierende Idee, Kunststoffartikel so zu kennzeichnen, daß sie vom Verbraucher und vom Verwerter sehr einfach erkannt und vermieden bzw. sortiert werden können. Doch schauen wir uns die Praxis, die teilweise schon angesprochen worden ist, etwas genauer an und nehmen uns dazu beispielhaft Verpackungsmaterialien und Autoteile aus Kunststoff vor, beides übrigens Gebrauchsmöglichkeiten, die im Antrag der SPD genannt sind. Bei Autoteilen wird sicherlich die Kennzeichnung der Kunststoffe das Käuferverhalten nur unwesentlich beeinflussen, da kaum ein Kunde vor dem Kauf im Autoladen die vielen verschiedenen Kunststoffteile nach ihrer irgendwo, vermutlich versteckt, angebrachten Kennzeichnung untersuchen wird. Das ist allenfalls eine Aufgabe für Verbraucherorganisationen, die durch entsprechende Empfehlungen mit entsprechender Wertung von sehr gut bis mangelhaft auf die Recyclierbarkeit bestimmter Autotypen hinweisen können. Diese Organisationen sind aber durchaus in der Lage, sich die Information über die Zusammensetzung der Kunststoffe auf andere Art und Weise zu beschaffen. Die Fachleute dazu haben sie jedenfalls. Ein Hexenwerk ist die Analyse von Kunststoffen in der Regel nun wirklich nicht. Noch viel eleganter würde das Problem aber durch eine Rücknahmeverpflichtung für Altautos gelöst. Dann hat der Hersteller letztendlich den Schwarzen Peter und wird aus Eigeninteresse dafür sorgen, daß die verwendeten Kunststoffe entsprechend gekennzeichnet werden, wenn er das für notwendig hält. Ich glaube deshalb, daß bei der derzeitigen Entwicklung eine Kennzeichnungspflicht für Kunststoffe im Automobilsektor entbehrlich ist. Falls allerdings eine solche Rücknahmeverpflichtung für Altautos nicht kommen sollte, könnte man über eine Kennzeichnungspflicht in diesem Sektor durchaus noch einmal reden. Doch schauen wir uns den zweiten Bereich an: Kunststoffe als Verpackungsmaterialien. Stellen wir uns einmal vor, jede Verpackung wäre entsprechend gekennzeichnet, entweder mit dem richtigen Namen im Klartext, also Polysterol, Hochdruck- oder Niederdruck-Polyethylen, Polycarbonat, Buthylmethylmetacrylat, Polyvinylchlorid usw., oder mit irgendwelchen Abkürzungen oder Kennzahlen, dann wäre die Mehrzahl der Bürger völlig verwirrt. ({1}) Die an sich sinnvolle Sortierung der Abfälle zur Wiederverwertung würde Hausmänner und Hausfrauen und deren ausnahmsweise im Haushalt mithelfende Partner völlig überfordern. Meine Frau jedenfalls ist mit Sicherheit sehr geduldig - wer mich kennt, wird das bestätigen; sonst hätte sie es mit mir nicht ausgehalten ({2}) und trennt jetzt schon sechs verschiedene Fraktionen im Haushalt. Aber bei der Forderung, auch noch Kunststoffe sortenrein trennen zu müssen, würde sie mir mit Sicherheit etwas husten, und das mit Recht. Wir können nicht dem Endverbraucher die Aufgabe der Auswahl beim Kauf oder bei der Entsorgung aufbürden. Wir können es aber auch nicht den Leuten am Sortierband zumuten - auch das ist schon angesprochen worden -, weder aus Kostengründen noch aus Arbeitsplatzgründen. Das Problem muß anders gelöst werden, nämlich dadurch, daß sich der Hersteller um seinen Abfall selbst kümmert. Bei den Verpakkungen, über die wir gerade sprechen, hat er dank der Verpackungsverordnung bereits den Schwarzen Peter. Die Erfolge zeigen sich sehr deutlich. Bestimmte Kunststoffe beginnen schon aus dem Verpackungsbereich zu verschwinden, die Standardisierung unter dem Gesichtspunkt der Verwertbarkeit hat begonnen, aber auch neue Verfahren zur Trennung der verschiedenen Kunststoffarten nach spezifischem Gewicht, nach verschiedenen optischen Eigenschaften, nach der verschiedenen Löslichkeit usw. sind zum Teil schon Stand der Technik, zum Teil in der Entwicklung.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Rieder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Feige?

Prof. Dr. Norbert Rieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001841, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich, gern.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Können Sie sich vorstellen, daß diese Markierung den gleichen Effekt haben könnte wie damals die Auseinandersetzung um FCKW in Spraydosen oder Ersatzstoffen und damit eigentlich dem umweltbewußten Käufer eine Chance gibt mitzubestimmen?

Prof. Dr. Norbert Rieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001841, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das wäre sicherlich mit eine Möglichkeit, nur besteht die Offenheit bereits. Ich komme auf etwas zurück, was Ihre Frage vielleicht ganz schnell von selbst beantworten wird. Ich komme jetzt nämlich auf die Industrie zurück, denn die beteiligte Industrie hat sich das passende Kennzeichnungsverfahren auch ohne uns bereits einfallen lassen. Der Gesamtverband Kunststoffverarbeitende Industrie hat seinen Mitgliedsfirmen, etwa 1 000 Firmen, am 2. Juli 1991 empfohlen, die Kunststoffprodukte zu kennzeichnen. Nach DIN 7728 Teil 1 soll entsprechend gekennzeichnet werden. Damit soll eine klare Kennzeichnung stattfinden, nicht irgendwie kodiert, allerdings in Abkürzungen, z. B. „PE" für Polyethylen, „PVC" für Polyvinylchlorid usw. usw. Zur Umsetzung dieser Empfehlung des Gesamtverbandes Kunststoffverarbeitende Industrie soll übrigens Ende 1992 ein Bericht vorliegen. Das heißt, die Industrie hat genau das von sich aus erledigt, u. a. unter dem Eindruck der Rücknahmeverordnung. Merke also ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Merksatz -: Politik und Politiker sind nicht dazu da, um anderen das Denken abzunehmen - denn dazu sind sie bekanntlich gar nicht in der Lage -, sondern sie sind dazu da, um andere auf besonders raffinierte Art und Weise zum Nachdenken anzuregen. Töpfer sei Dank gibt es ja in der Verpackungsverordnung eine hochintelligente Methode, die im Verpackungsbereich die sonst nicht ganz schlechte Idee der Kennzeichnungspflicht für Kunststoffe entbehrlich macht. Merke deshalb weiterhin: Das Bessere verdrängt das Gute. Die Verpackungsverordnung ist besser als Ihr Vorschlag. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, die Aussprache ist damit zu Ende. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/1109 - dabei geht es um die Sanierung dioxinverseuchter Böden - und 12/2502 - Kennzeichnung von Kunststoffen - an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Meine Damen und Herren, ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Jutta Braband, Dr. Fritz Schumann ({0}) und der Gruppe der PDS/Linke Liste Auswirkungen auf die Abfallentsorgung durch die Einführung des „Dualen Systems Deutschland" ({1}) Drucksachen 12/2027, 12/2682 Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste vor. Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine FünfMinuten-Runde vereinbart worden, wobei die Gruppe PDS/Linke Liste zehn Minuten erhalten soll. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile unserer Frau Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann das Wort.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer heute an einsamen Stränden, versteckten Seen und Wäldern, die zum Picknick einladen, spazierengeht, wird ganz viel Grün finden; viele grüne Punkte, überwiegend auf Dosen, die die Lagerstellen sorgloser Zeitgenossen zieren. Pfandflaschen dagegen sucht man vergebens. ({0}) - Ich sprach von einsamen Stränden. Offensichtlich sind Sie da selten. ({1}) Nichts charakterisiert die Wirkungslosigkeit des Dualen Systems besser, das eigentlich „Monosystem", also „Einwegsystem", heißen müßte, als solche Bilder. Nun werden Sie sagen: „Das dürfen die aber nicht" und „Recycling lebt vom Mitmachen. " Aber das, meine Damen und Herren, ist die Realität. Vielleicht gehen wir einmal zusammen spazieren. ({2}) Es ist eine Binsenweisheit: Wenn kein finanzielles Interesse, in diesem Falle also ein Pfand, vorhanden ist, landen Getränkeverpackungen im Wald und in der Hausmülltonne. Realität ist leider auch die Recyclinglüge. In ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage gibt die Bundesregierung selbst zu, daß sich spätestens ab Mitte 1995 bei jährlich zu verwertenden Kunststoffmengen in der Größenordnung von etwa 600 000 bis 700 000 Tonnen Engpässe abzeichnen. Ansonsten herrscht bei der Bundesregierung das Prinzip „glauben und hoffen". Nachdem sich selbst das Umweltbundesamt in bezug auf die Einhaltung der Wiederverwertungsquoten skeptisch geäußert hat, platzte der Verband der kunststofferzeugenden Industrie im April dieses Jahres mit der Erklärung heraus, daß er es für dringend geboten halte, die Verpackungsverordnung zu revidieren; Fristen sollten nur im Einklang mit der - nebenbei bemerkt - mehr als dürftigen EG-Verpackungsrichtlinie vorgesehen werden; Kapazitäten für Kunststoffrecycling müßten erst aufgebaut und Anlagen zur chemischen Verwertung errichtet werden. Dies rief unseren Kollegen Herrn von Geldern ({3}) auf den Plan, ({4}) der eine Warnung an die kunststofferzeugende Industrie aussprach. Er schrieb u. a.: Der Gesetzgeber sollte dem Ansehen uneinsichtiger Industriebranchen wie der kunststofferzeugenden chemischen Industrie einen Riegel vorschieben. Dem ist nur beizupflichten. Es sollte uns schon zu denken geben, wenn die Industrie selbst so wenig Vertrauen in ihre Recyclingfähigkeit hat. Im Zuge des Skandals des Müllexports nach Frankreich geriet DSD wieder in die Schlagzeilen. Grüne Punkte auf französischen Mülldeponien soll nun der TÜV verhindern. Die chemische Verwertung wird als die neueste Möglichkeit, die Kunststoffberge abzutragen, angepriesen. Nur müßte hier ehrlicherweise gesagt werden, daß dieses Verfahren noch nie großtechnisch erprobt wurde. Die geplagten Anwohner der dafür vorgesehenen ehemaligen Kohle-ÖlAnlage in Bottrop werden ihre Freude an der störanfälligen Technologie haben, die obendrein noch teuer ist. Fast wäre die Firma Mikroplast, von der heute schon mehrmals die Rede war, im westfälischen Lengerich zum nächsten DSD-Skandal geworden; war sie doch als möglicher DSD-Partner im Gespräch. Das war jedenfalls die Information, die wir im Umweltausschuß bekommen haben. Aus bekannten Gründen wird daraus wohl nichts mehr werden. Dennoch bleibt die Frage, ob die gewaltigen Kunststoffberge, die in Zukunft einzusammeln und bis zur Verarbeitung irgendwo zu lagern sind, nicht zu flammenden Infernos nach Lengericher Art werden können. Man sollte sich allein aus diesem Grund, Herr Kollege Rieder, lieber weiter darüber aufregen dürfen, daß es so ist. Das Geschäft mit dem Grünen Punkt erweist sich mehr und mehr als ein Lügengespinst. Eine TÜV-Überprüfung hat erbracht, daß statt der angeblichen 36 000 Tonnen Kunststoffmüll höchstens 18 000 wiederverwertet werden. Von angegebenen 32 Verwertungsbetrieben seien bestenfalls zehn in der Lage, Kunststoffverpackungen zu recyceln. Lediglich 8 000 Tonnen Kapazität wurden dabei errechnet. Wie da ab 1. Januar 1993 90 000 Tonnen recycelt werden können, ist mir allerdings schleierhaft. Selbst wenn diese 90 000 Tonnen wirklich verwertet werden könnten, wären dies gerade einmal 35 % der anfallenden Verpackungen. Zwei Drittel gehen also nach wie vor in den kommunalen Müll. Verbraucherinnen und Verbraucher zahlen demnach doppelt: für den Grünen Punkt auf Verpackungen und für kommunalen Abfall. Da ja gerade mit dem Grünen Punkt soviel Mißbrauch getrieben wurde - um auf die Frage von Frau Homburger einzugehen -, müssen wir uns sicher etwas anderes einfallen lassen, als mit Punkten zu operieren. Vielleicht fällt uns noch etwas ein. Als sehr ominös erweisen sich auch angebliche Entsorgungsmöglichkeiten im Ausland. So besaß z. B. eine Firma in der CSFR, die 50 000 Tonnen Kapazität für die Hydrierung von Kunststoffabfällen anbot, nach Prüfung lediglich eine Deponie im Wald. Die Umdeklarierung von Abfall in Wirtschaftsgut öffnet einen weltweiten Verschiebebahnhof für Verpackungsabfälle, der praktisch unkontrollierbar ist. Aber mit der Verwandlung von Panzern in landwirtschaftliche Maschinen hat diese Regierung ja schon einschlägige Erfahrungen. ({5}) Ich frage die Bundesregierung: Was gedenkt sie zu tun, wenn am 1. Januar 1993 der Recyclingschwindel auffliegt und die geplanten Verwertungsquoten nicht eingehalten werden können? Wird dann mit Ausnahmegenehmigungen und Notverordnungen weitergewirtschaftet? Wird das Fiasko DSD in einem Müllverbrennungs-Ermächtigungsgesetz enden? Der vorliegende Entwurf der TA Siedlungsabfall deutet jedenfalls schon in diese Richtung. Dürfen die entsorgungspflichtigen Kommunen und der Einzelhandel die Reste des Scherbenhaufens DSD zusammenkehren und zusehen, wie sie damit fertigwerden? Ist der ganze Werbegag mit Namen „Grüner Punkt" eigentlich nur ein Deckmäntelchen für eine heimliche Privatisierung der Abfallentsorgung und Vorwand für flächendeckende Müllverbrennung? Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage kann nur als dürftig bezeichnet werden. Hoffen und harren führten die Feder. Aber wie heißt es so schön: Hoffen und harren hält manchen zum Narren. Es ist ganz klar: Das DSD hat nur die Funktion, auf Zeit zu spielen und es der Verpackungsindustrie zu ermöglichen, so weiterzumachen wie bisher. Herr Präsident, meine Damen und Herren, statt DSD und Grünem Punkt brauchen wir eine wirklich ökologische Abfallpolitik. Ein ernstgemeintes und erfolgversprechendes Konzept für eine ökologische Abfallwirtschaft ist aber ohne grundsätzliche Änderung der industriellen Produktionsweise nicht möglich. ({6}) - Lassen Sie mich bitte ausreden! Abfallpolitik muß letztlich Chemiepolitik mit dem Ziel der Entgiftung der Produktion und ihrer Produkte sein. Notwendig ist ein konsequentes Abfallvermeidungs- und -verwertungsgebot. Im Haushaltsbereich ist durch gesetzliche Maßnahmen und Abgaben der Anteil der Mehrwegverpackungen zu erhöhen. Getrenntmüllsammelsysteme sollen flächendeckend eingeführt werden, um die Wiederverwertung zu erleichtern. Übrigens hat es das im ach so maroden System DDR gegeben. Jetzt wird mit unheimlich großem Aufwand das System der Sero-Erfassung mühselig wiederbelebt. Abfallbeseitigung und -verwertung ist - das kann nicht oft genug gesagt werden - Sache der Kommunen. Auf kommunaler Ebene besteht am ehesten die Möglichkeit demokratischer Kontrolle und Planung, auch wenn dies kein Automatismus ist. Die Abfallgesetze müssen so geändert werden, daß an erster Stelle die Abfallvermeidung, dann stoffliche Wiederverwertung und umweltverträgliche Abfallbehandlung und zuletzt die umweltschonende Ablagerung steht. Meine Damen und Herren, eine ökologische Abfallwirtschaft setzt eine Chemiewende voraus. Wir wissen, daß die nötigen Konzepte für den Umstieg auf sanfte Chemie erst in einigen wenigen Bereichen entwickelt sind. Die nötige Chemiewende muß daher in einem ersten Schritt durch politische Vorgaben einen Ausstieg aus besonders gefährlicher Produktion fördern, während gleichzeitig Mittel zur Verfügung gestellt und Institutionen geschaffen werden, die eine Neukonzeption der Chemiepolitik, eine durchgreifende Technologiebewertung und Produktlinienanalyse und eine ausreichende ökologische Produktkontrolle ermöglichen. Wir fordern eine Ergänzung des Gefahrenabwehrprinzips im Chemikaliengesetz durch ein Umweltvorsorgeprinzip, das ein Verbot umweltgefährdender Stoffe erleichtert, möglichst noch bevor sie auf den Markt gelangen und letztlich zu problematischem Haus- bzw. Sondermüll werden. Herr Töpfer sagte am 26. März 1992 in einem Interview bei SAT 1 in Berlin: Das duale System stirbt, wenn bis 1. 1. 1993 die Quote nicht erreicht wird. Wir jedenfalls werden ihn beim Wort nehmen. Die Gruppe PDS/Linke Liste stimmt einer Überweisung ihres Entschließungsantrags an den Umweltausschuß zu, damit dort weiter beraten werden kann. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Nächster Redner ist jetzt unser Kollege Dr. Gerhard Friedrich.

Dr. Gerhard Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002657, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte beginnen mit Ausführungen, die die Kollegin Mehl gemacht hat. Sie waren richtig. Sie sprach von den Problemen der Abfallwirtschaft und von dem Ziel, Abfall zu vermeiden. Sie sagte, wenn das nicht gehe, dann sollte wenigstens stoffliche Verwertung stattfinden; aber das sei ohne Mitwirkung der Hersteller von Waren, der Produzenten, nicht lösbar. Das haben Sie sinngemäß ausgeführt. Die Frage ist nur: Wie bringen wir die Produzenten dazu mitzuwirken? Da gibt es einen sehr populären Vorschlag, der auch in Bayern immer wieder genannt wird. Das ist eigentlich der einfachste, und deshalb leuchtet er vielen Menschen so ein. Er läuft nämlich darauf hinaus, bestimmte Dinge z. B. im Verpackungsbereich schlicht und einfach zu verbieten. Meine Damen und Herren, diejenigen, die solche Verbote fordern, haben bisher noch nie Verbotskataloge vorgelegt. Ich kenne nur ganz wenige Beispiele und Vorschläge. Aber diese punktuellen Verbote bringen gar nichts, weil wir ja nicht wissen, wohin die Industrie ausweicht. Wir müßten also flächendekkende Gebote und Verbote erlassen. Der Kollege Feige nickt so halb und ein bißchen zögernd. Lieber Kollege Feige, ich sage Ihnen offen und ehrlich: Ich bezweifle, daß wir Politiker auch mit Hilfe sehr fachkundiger Beamter und vieler Wissenschaftler in der Lage sind, solche flächendeckenden Gebote und Verbote zu entwickeln. Fachlich ist das Problem das, daß wir zwar jetzt über unsere Ministerien, über das Bundesumweltamt sogenannte Ökobilanzen in Auftrag geben, und je mehr wir uns mit diesen Ökobilanzen beschäftigen, desto mehr stellen wir fest, daß mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet werden. Der Methodenstreit, wie man so etwas macht, ist überhaupt noch nicht abgeschlossen. Die Ergebnisse sind höchst widersprüchlich. Wie wollen Sie denn mit so einer dürftigen wissenschaftlichen Basis vor Gericht Verbote rechtfertigen? Und dann darf ich noch so ganz nebenbei daran erinnern, daß wir ja auch EG-rechtliche Probleme haben, Gebote und Verbote als produktbezogene Normen durchzusetzen. Ob es uns paßt oder nicht, produktbezogene Normen sind aus der Sicht der EG grundsätzlich ein unzulässiges Handelshemmnis. Deshalb begehen wir mit der Verpackungsverordnung und der darin geregelten Rücknahmeverpflichtung einen anderen Weg. Wir versuchen, die Produzenten auf einem indirekten Weg dazu zu bringen, auf die Probleme der Abfallwirtschaft Rücksicht zu nehmen, und zwar dadurch, daß wir die Abfallentsorgungsprobleme zu ihrem eigenen Problem machen. Das heißt, wir verpflichten die Produzenten, die Entsorgungsprobleme selbst zu lösen. Diejenigen, die diesen Lösungsansatz noch akzeptieren - und viele SPD-Länderregierungen haben der Verpackungsverordnung ja zugestimmt und ihre Bereitschaft erklärt, Unterstützungsvereinbarungen zu unterschreiben -, nehmen uns eigentlich nur übel, daß wir nicht auf der Rücknahme im Geschäft bestehen, sondern die Möglichkeit geben, ein duales System aufzubauen, ein Sammelsystem. Und das habe ich noch nie verstanden. Wir müssen bei den Verbrauchern mit Bequemlichkeit rechnen. Ich gehe davon aus, auch auf Grund der Erfahrungen, die die Kommunen haben, daß ein haushaltsnahes Sammelsystem einen besseren Erfolg, also eine höhere Rücklaufquote garantiert als die Rücknahme im Geschäft. Meine Damen und Herren, wir machen die Genehmigung des dualen Systems in der Verordnung davon abhängig, daß stoffliche Verwertung nachgewiesen wird. Nun sagen einige - das ist auch hier schon angedeutet worden -: Die stoffliche Verwertung ist ja ganz schön, wichtiger wäre aber, das vorrangige Ziel der Abfallvermeidung voranzubringen. Nun ist es eben sehr schwer, Abfallvermeidung unmittelbar vorzuschreiben. Wir gehen davon aus, daß auch die Verpackungsverordnung Mechanismen in Gang setzt, die zur Abfallvermeidung führen, weil nämlich die Produzenten verpflichtet werden, erstmals das Sammeln von Verpackungen, das Sortieren und die stoffliche Verwertung zu finanzieren. Das heißt doch, die Einwegverpackung wird - da wird sich noch einiges entwikkeln, wahrscheinlich schon im nächsten Jahr - verteuert. Ich verstehe wirklich nicht, daß diejenigen, die dieses Verteuern über Abgaben erreichen wollen, jetzt plötzlich sagen: Es ist eine Katastrophe, daß ihr den Verbraucher über ein System belastet, wo die Wirtschaft selbst so etwas wie eine Verpackungsabgabe entwickelt. Das müßten sie doch begrüßen. Je teurer Einwegverpackungen werden, meine Damen und Herren, desto größere Wettbewerbsnachteile haben Einwegverpackungen, und desto mehr werden Mehrwegverpackungen begünstigt. Ich bin etwa bei einem Drittel meines Manuskripts, aber fünf Minuten sind schnell herum. Vielleicht haben wir bei einer anderen Gelegenheit die Möglichkeit, die Diskussion fortzusetzen. Vielen Dank. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Jutta Müller, Sie sind die nächste Rednerin. Bitte sehr.

Jutta Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir hatten hier Anfang der Woche eine sehr schöne Veranstaltung, die Veranstaltung „Jugend und Parlament". Wenn man bei dieser Veranstaltung den Reden dieser Jugendlichen einmal zugehört hat, hat man erfahren, daß Politikverdrossenheit, Staatsverdrossenheit etwas mit Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit zu tun hat. Tatsache ist, daß den Menschen im Zusammenhang mit dem dualen System nicht die Wahrheit gesagt wird. ({0}) Die Kennzeichnung der Verpackung mit dem Grünen Punkt suggeriert Umweltfreundlichkeit. Und die Bundesregierung sagt in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der PDS: Darstellungen, die Einwegverpackungen als genauso umweltfreundlich wie Mehrwegverpakkungen bewerten, sind der Bundesregierung nicht bekannt. Ich rate Ihnen einmal, Herr Staatssekretär, daß Sie Beamte und Mitarbeiter, die solche Antworten verfassen, zum Einkaufen schicken. Ich habe hier zum Beispiel eine Werbung der Firma Rewe. Da heißt es wörtlich: Die Milchtüte ist wesentlich umweltfreundlicher als die Mehrwegflasche. Mittlerweile ist auch ein entsprechendes Gerichtsurteil ergangen, welches der Firma Henkel untersagt, die Verpackung des Spülmittels Pril als umweltfreundlich darzustellen. Was soll der Verbraucher jetzt eigentlich glauben? Der Grüne Punkt kennzeichnet stark belastende Verpackungen, vermischte Kunststoffe, Verbundstoffe, die kaum recycelt werden können; aber die bewährten Mehrwegsysteme tragen keinen Punkt. Ein weiteres Zitat aus der Antwort der Bundesregierung: Für die Masse der Verpackungen aus Glas, Metall, Papier und Pappe stehen bereits heute geeignete technische Verwertungsanlagen auch in beachtlichen Kapazitäten zur Verfügung. Greifen wir uns z. B. einmal die Metalle heraus. Nach Angaben des BUND wird von den 4,3 Milliarden Getränkedosen, die die Bürger jährlich leeren, nur etwa ein Viertel recycelt. Auch hier wird über eine entsprechende Werbung immer wieder der Eindruck erweckt, als ob diese Ex-und-Hopp-Verpackung vollständig wiederverwertbar und somit ökologisch ebenso sinnvoll wie die Pfandflasche wäre. Aber das Blechrecycling belastet die Umwelt. Pro Tonne Metallabfall fallen etwa zwanzigmal mehr Dioxine an, als wenn eine Tonne Müll in einer modernen Verbrennungsanlage verbrannt wird. Diese Einschätzung wird im übrigen auch vom Berliner Umweltbundesamt geteilt. Über den hohen Energieaufwand bei der Herstellung dieser Getränkedosen will ich hier aus Zeitgründen gar nicht erst reden. Ein Riesenproblem ist auch das Kunststoffrecycling, sowohl vom Verfahren als auch von den Kapazitäten her. Aber dazu hat meine Kollegin Ulrike Mehl schon ausführlich Stellung genommen. Das DSD behauptet, der Grüne Punkt helfe Verpakkungsmüll zu vermeiden. Dies wird übrigens auch in der Antwort der Bundesregierung so behauptet. Ich halte das für großen Unfug. Solange die Wirtschaft mit der Produktion, dem Verkauf, dem Einsammeln und dem Verwerten Geld verdienen kann, wird es nie weniger, sondern eher mehr geben. ({1}) Die DSD-Werbung fördert außerdem die Wegwerfmentalität der Verbraucher nach dem Motto: Verpakkungen sind ja jetzt kein Problem mehr. Wir haben in vielen Diskussionen schon davor gewarnt, daß unter dem Druck des dualen Systems das bewährte Mehrwegsystem zusammenbrechen könnte. Dies wird auch vom Bundesumweltminister so gesehen. Deshalb steht in der Antwort der nette Satz: Eine darüber hinausgehende weitere Förderung der Getränkemehrwegsysteme soll nach Ansicht des Bundesumweltministers durch die im Dezember 1991 im Entwurf vorgestellte Getränkemehrwegverordnung erfolgen. Leider ist es bei so vielem, was der Bundesumweltminister ankündigte, beim Entwurf geblieben. Eine entsprechende Verordnung liegt bis heute nicht vor. Ich möchte hier ausdrücklich betonen, daß wir Sozialdemokraten nicht gegen Wiederverwertung sind. Den Grundgedanken halten wir für richtig. Wenn aber I Ierr Töpfer in seinen wertvollen Werbebroschüren immer wieder sagt, im Müll seien wertvolle Rohstoffe, dann muß ich mich fragen: Was suchen eigentlich diese wertvollen Rohstoffe auf Mülldeponien in Frankreich? ({2}) Wir sind also dagegen, daß uns der Bundesumweltminister eine Verordnungsluftnummer nach der anderen als knallharte Umweltpolitik verkauft. Bei diesem ganzen Verordnungswust bleibt letztendlich der simple Gedanke der Müllvermeidung auf der Strecke. Ich sehe, daß hier das Licht brennt. Leider bin auch ich nicht ganz fertiggeworden, Herr Kollege Friedrich. Deshalb bin ich ganz froh, daß die PDS zugestimmt hat, daß der Antrag im Ausschuß weiter beraten werden kann. Fünf Minuten sind für so ein komplexes Thema sicherlich zuwenig. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich erteile das Wort jetzt dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Vizepräsident Helmuth Becker Reaktorsicherheit, unserem Kollegen Dr. Bertram Wieczorek.

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man hat öfter den Eindruck, daß die Verpakkungsverordnung von vielen, die sie kritisieren, noch gar nicht gelesen, geschweige denn begriffen wurde. Und man sollte nicht im vorhinein, wie bei einem Neubau, wo Fenster und Türen noch fehlen und deshalb von einem Baufehler gesprochen wird, vorschnell Urteile abgeben, die weiß Gott erst im nächsten Jahr zu fällen sind. ({0}) Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen versichern: Die Verpackungsverordnung hat nicht das duale System impliziert, sondern wir haben der Wirtschaft mit der Möglichkeit, Dritte einzuschalten, eine Chance eingeräumt, ihre eigenen Entsorgungssysteme aufzubauen. Ich möchte klar und deutlich noch einmal sagen: Wenn diese nicht funktionieren, werden wir andere, ordnungsrechtliche Maßnahmen ergreifen müssen, um die Quoten, die 1995 ja schon bei 64 % liegen sollen, zu sichern. Wenn ich die Diskussion richtig verfolgt habe, geht es hier überwiegend um die Frage des Kunststoffs. Dieses Problem ist noch nicht gelöst, da haben Sie völlig recht. Ich persönlich sehe auch nicht ein, daß bei bestimmten Verpackungen von Lebensmitteln gleicher Art die verschiedensten Polymere eingesetzt werden müssen. Wir haben übrigens auch noch nicht über die Zusatz- bzw. Zuschlagstoffe gesprochen, die ein stoffliches Recyclen deutlich erschweren. Nichtsdestoweniger sollten wir diesen Versuch unternehmen, die Kunststoffindustrie beobachten und sehen, wie sie die entsprechenden Quoten erreicht. In anderen Bereichen läuft es etwas besser. Und, liebe Kollegin Müller, Dioxin entsteht bei jeder Stahlschmelze; das hat nicht so viel mit den Einwegverpakkungen, den Büchsen zu tun, obwohl sie uns auch nicht sehr gefallen. Im übrigen kann man feststellen, daß im Zuge der Umsetzung der Verpackungsverordnung auch die Mehrwegquoten bundesweit natürlich gestiegen sind. Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von Getränkemärkten, die nur noch mit Mehrwegsystemen arbeiten. Da Umweltschutz bekanntlich immer bei einem selber beginnt, ist kein Kunde daran gehindert, nicht nur ins Grüne zu gehen - das hat übrigens auch etwas mit persönlichem Umweltbewußtsein zu tun, und man kann entsprechende Strafen auferlegen -, sondern auch einmal solche Märkte aufzusuchen, die nur noch mit Mehrwegsystemen arbeiten. Wir sollten der Verpackungsverordnung also eine faire Chance geben. Das duale System muß seine Wirksamkeit ab 1. Januar 1993 beweisen. Ich freue mich im übrigen darüber, daß die neue Produktverantwortung, die ich für das entscheidende Moment der Abfallwirtschaftskonzeption der Bundesregierung halte, heute keine theoretische Formel mehr ist und daß wir seit dem Vorliegen der Großen Anfrage zu diesem Thema im Februar dieses Jahres, „Abfallvermeidung und Recycling", ein großes Stück vorwärtsgekommen sind. Meine Damen und Herren, ich möchte es hier noch einmal klar und deutlich sagen: Die Verpackungsverordnung ist der erste ernstzunehmende Versuch - Alternativen sind mir nicht bekannt -, von der Wegwerfgesellschaft wegzukommen, auszusteigen. Es handelt sich ja beim Kunststoffabfall immerhin um eine Million Tonnen jährlich. Übrigens ist die Vermeidung im § 1 der Verpackungsverordnung als erstes Verhaltensprinzip genannt. Die Vermeidung steht also am Anfang, und erst dann ist einer umweltverträglichen Verwertung das Wort zu reden. Wir begrüßen daher, daß das duale System die bisherigen negativen Erfahrungen im Bereich der Kunststoffverwertung aufgegriffen und mit den Unternehmen VEBA, RWE, Bayernwerk und Badenwerk Vereinbarungen getroffen hat, großtechnische Anlagen für die chemische Aufbereitung von gebrauchten Kunststoffverpackungen zu errichten. Die Anlage in Bottrop, wo es um die Wasserstoffhydrierung geht - man kann natürlich über diese Philosophie diskutieren und muß die Entwicklung abwarten -, ist keine neue Erfindung, sondern ein uraltes Verfahren, das in den 20er Jahren in Bitterfeld entwickelt wurde. Ich möchte jeden einladen, einmal nach Bottrop zu gehen. Dort werden nämlich nicht nur Kunststoffe zu synthetischem Öl verarbeitet, sondern auch PCB, Altöle und viele die Umwelt belastende organische Substanzen. Abschließend möchte ich feststellen, meine Damen und Herren, daß die Verpackungsverordnung ein erster wichtiger Schritt ist. Die Wirtschaft hat im Rahmen dieses stringenten Vermeidungsgesetzes den Weg des dualen Systems gewählt, und wir sollten diesem eine Chance geben. Es müssen weitere Verordnungen folgen. Frau Enkelmann, Sie haben ja unser Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz sehr zutreffend beschrieben: Wir wollen zu einer völlig neuen Produktverantwortung kommen. Das wird eine große gesellschaftliche Herausforderung. Wir werden uns ihr stellen und sehr gespannt sein, wie die Wirtschaft auf diese Herausforderung reagiert. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Dr. Klaus-Dieter Feige hat jetzt das Wort.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In einem Anruf von meiner Basis wurde ich darauf hingewiesen, daß das, was ich zur Relativierung von Atomenergie als Katastrophe und zu DSD gesagt habe, natürlich in keinem Verhältnis zueinander steht. Ich nehme das Wort zu „Katastrophe" für das DSD nicht zurück, aber mir fällt nichts Schlimmeres als die Bezeichnung zur Atomenergiewirtschaft ein. Ein paar Bemerkungen zu diesem noch in Arbeit befindlichen System. Mir fällt es als Mitglied der GRÜNEN insgesamt natürlich nicht sonderlich leicht, zu sagen: Nicht alles, was sich grün nennt, ist auch tatsächlich ökologisch. Das gilt ganz besonders für den Grünen Punkt, der mit dem DSD - das glaube ich mit Fug und Recht sagen zu können -- einen EtiketDr. Klaus-Dieter Feige tenschwindel vorbereitet. Sie nutzen auch mit der Bezeichnung „grün" das gute Image, das wir in diesem Zusammenhang als DIE GRÜNEN als ökologischen Ansatz aufgebaut haben. ({0}) Aber ich glaube, daß weder die Verpackungsverordnung der Bundesregierung noch die bisherigen Tätigkeiten und Aktivitäten des DSD dazu beitragen, Abfälle in nennenswertem Umfang zu vermeiden. Ich habe vielmehr den Eindruck, daß das Abfallaufkommen sich nicht verringern wird, sondern daß mit einer wunderschönen Wortschöpfung einfach dazu beigetragen werden soll, Statistik zu frisieren. Der Aufbau der gelben Müllabfuhr und die Umbenennung von Abfall in Wirtschaftsgut hat mit Abfallvermeidung - wir stimmen darin überein, daß dies das grundlegende Ziel sein soll - nicht im geringsten zu tun. Lassen Sie mich aus unserer Sicht einige grundsätzliche Kritikpunkte ansprechen. Der Verbraucher wird durch das Symbol des Grünen Punktes getäuscht. Zum einen wird dadurch suggeriert, daß bestimmte Produkte bzw. so markierte Verpackungen umweltfreundlicher als beispielsweise Mehrwegartikel ohne die Kennzeichnung mit dem Grünen Punkt seien. Zum zweiten wird der Eindruck vermittelt, alle Verpackungen mit dem Grünen Punkt würden wiederverwertet; das kann man Tag für Tag in der Werbung mitkriegen. Das ist aber tatsächlich nicht der Fall. Nicht zuletzt zahlt der Verbraucher für Artikel mit dem Grünen Punkt auch dann, wenn die versprochene Gegenleistung in Form der gelben Tonne nicht oder noch nicht erbracht ist. Ich erinnere mich noch an den Wahlkampf 1990, als Minister Töpfer in Schwerin die Teilnehmer selbst darauf hingewiesen hat, die dort ausgestellten Einwegflaschen möglichst nicht zu benutzen, denn das sei doch wohl das Allerschlimmste, was man sich vorstellen kann. Dieser Sinneswandel ist der Erhöhung der Glaubwürdigkeit des Herrn Töpfer doch wohl nicht zuträglich. Zum Beitrag vom Kollegen Friedrich. Es liegt auf der Hand, daß das ökonomische Interesse des Dualen Systems Deutschland gar nicht darin bestehen kann, immer weniger zu tun, sozusagen sich selbst aufzulösen. Wenn das System funktionieren soll, muß es mindestens bei einem gleichen Müllaufkommen bleiben. Die Einrichtungen, die dazu entstehen müssen, bedürfen ja einer Mindestkapazität. So kann DSD eigentlich nur daran interessiert sein, ein noch höheres Müllaufkommen zu haben als bisher. Das DSD hat bereits in der Vergangenheit mehr versprochen, als es halten konnte. Es sei beispielsweise an die schon mehrfach zitierten illegalen Exporte von Grünen-Punkt-Abfällen nach Frankreich erinnert. Es ist aber auch mehr als fraglich, ob die Ankündigung des DSD in bezug auf die künftige Verwertung von Kunststoffverpackungen eingehalten werden kann. Bislang mangelt es der Tätigkeit des Dualen Systems Deutschland an Transparenz. Darüber können auch nicht die aufwendigen Werbeveranstaltungen hinwegtäuschen, die teilweise in den Medien aufgebaut werden. Gerade jetzt wird in der Werbung mit genau den Argumenten gearbeitet, die mir Herr Töpfer bei meinem damaligen naiven Einsatz für das Sero-System um die Ohren gehauen hat. Wenn das wiederum eine Wahrheitsumkehr ist, ist das keine gute Vorbereitung für ein solches System. Das DSD versucht, sich ein Image aufzubauen. Dazu wird ein Kuratorium zur Beratung der Geschäftsleitung eingerichtet. Es ist uns sehr schwergefallen, an der Vorbereitung dieses Kuratoriums mitzuarbeiten. Wir werden an der ersten Veranstaltung teilnehmen und genau prüfen, welche Bedingungen dort eingesetzt werden. Sollte dieses Kuratorium lediglich der Imagepflege des DSD dienen, sind wir nicht mehr bereit, daran mitzuarbeiten. Alles zusammengenommen dürfte der einzige Sinn des dualen Systems darin bestehen, sich selbst zu liquidieren. Das ist, glaube ich, so auch von den Kollegen der Koalition formuliert worden, nämlich möglichst wenig Müll übrigzubehalten. Dazu brauchen wir aber diesen Weg nicht einzuschlagen. Dafür gibt es effektivere Wege. Ich denke, daß der Kraftaufwand, dieses System ins Leben zu rufen, einfach zu hoch ist. Lassen Sie uns besser ein Wenig-Müll-System Europa aufbauen. Ich denke, daß so ein WSE sinnvoller ist - wenn es für Europa nicht reicht, dann ein WSD. Um mit den Worten von Herrn Wieczorek zu sprechen: Wozu erst ein Haus bauen, für das laut Plan ein Dach nicht einmal vorgesehen ist? Dann wäre es besser, gemeinsam etwas Neues zur Müllvermeidung zu konstruieren. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun unsere Frau Kollegin Birgit Homburger das Wort.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Große Anfrage der Gruppe PDS/Linke Liste an die Bundesregierung greift sicherlich sehr viele Punkte auf, über die wir uns intensiv unterhalten müssen und über die wir uns - jedenfalls in den Koalitionsfraktionen - in den vergangenen Monaten sehr intensiv und sehr konstruktiv unterhalten haben. Aber der Entschließungsantrag, der uns heute vorliegt, ist von einer Ablehnung gekennzeichnet, die von vornherein klar war. Man hat sich total auf diese Ablehnung versteift und war überhaupt nicht bereit, darüber nachzudenken, ob das duale System auch sinnvolle Ansätze bietet. Gleich zu Beginn der Großen Anfrage heißt es: Das DSD ist die Reaktion der Industrie auf die Verpackungsverordnung - so weit richtig oder besser zur Umgehung der Verpackungsverordnung .. . Es fängt schon zu Beginn mit einer Polemik an. Wenn ich von seiten des Gesetzgebers die Möglichkeit zulasse, eine private Verwertung zu organisieren, dann kann ich nicht hinterher polemisch sagen: Die Industrie versucht damit, die Verpackungsverordnung zu umgehen. Sie nutzt die Möglichkeiten, die die Verpackungsverordnung hier gegeben hat; das wäre das Richtigere. ({0}) Ich weiß gar nicht, auf was ich - wegen der Kürze der Zeit - eingehen soll. Aber allen meinen Vorrednern ging es genauso. Ich habe auf Grund der Vorreden versucht, das eine oder andere wegzulassen und etwas anderes aufzugreifen. Ich will mich an dem Entschließungsantrag entlanghangeln, der uns vorliegt. Am DSD sind derzeit rund 75 % aller Bundesbürger angeschlossen. Mit den restlichen Kommunen steht man in Verhandlungen. Das heißt, man geht davon aus, daß die Verträge fristgerecht bis Ende dieses Jahres abgeschlossen werden. Es kann davon ausgegangen werden, daß das Ziel, die Sortier- und Verwertungsquoten einzuhalten, zu Beginn des nächsten Jahres erreicht wird. Wenn nicht, ist in der Verpakkungsverordnung ganz klar festgelegt, was dann passiert: daß für die Stoffe, für die die Sammelquote nicht stimmt, oder auf den Gebieten, wo keine Verträge zustande kamen und das DSD das zu verantworten hat, Rücknahme- und Pfandpflichten greifen. Das ist in der Verpackungsverordnung eindeutig geregelt. Aber jetzt herzugehen und zu fordern, die Verpakkungsverordnung solle sofort im ursprünglich vorgesehenen Umfang in Kraft treten, ist einfach unredlich, Frau Kollegin Enkelmann. Wenn die Politik Übergangsfristen einräumt, muß sie sie hinterher auch zugestehen. ({1}) Das fordert der Vertrauensschutz. Auch die Forderung, „umgehend einen Gesetzentwurf vorzulegen, der zum Ziel hat, die vorhandenen Strukturen, eingenommenen Finanzmittel und aufgelaufenen Verpackungsabfälle des ,Dualen Systems Deutschland' in einen öffentlichen Zweckverband einzubringen", findet unsere Zustimmung nicht, wie Sie sich denken können. Das würde jede sinnvolle Reform, die gerade angelaufen ist, völlig umkehren. ({2}) Das würde bedeuten, daß alles, was die Verpackungsverordnung an Sinnvollem eingeleitet hat, rückgängig gemacht würde. Es ist ja nicht irrig, sondern im Gegenteil sehr sinnvoll, was da gemacht wird. Es würde rückgängig gemacht, daß zum erstenmal die Verantwortlichkeit für ein Produkt von der Herstellung bis zur Wiederverwertung beim Hersteller liegt. Wollte man Ihren Antrag annehmen, würde das zurückgenommen. Es käme hinzu, daß sich die Kommunen, wenn sie einem solchen Zweckverband angehören, selber kontrollieren müßten. Das sind meines Erachtens Dinge, die einfach nicht gehen. ({3}) Eine weitere Bemerkung zum Grünen Punkt. Er sei kein Markenzeichen für Umweltverträglichkeit. Das hat in diesem Hause auch nie jemand ernsthaft behauptet. ({4}) Ganz im Gegenteil haben wir immer und immer wieder erklärt, daß der Grüne Punkt lediglich ein Finanzierungsinstrument ist. Er kennzeichnet lediglich die Tatsache, daß derjenige, der den Grünen Punkt auf seiner Verpackung aufgedruckt hat, den Obolus an das duale System entrichtet hat.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Homburger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Freige?

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wird das auf meine Redezeit angerechnet?

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Das wird nicht angerechnet.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dann darf er.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kollegin Homburger, wie erklärt sich, wenn niemand behauptet hat, daß das ein umweltfreundliches System ist, daß die Werbung genau das behauptet, daß das DSD in seiner Werbung genau mit dieser Argumentation Front macht?

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das erklärt sich schlicht und ergreifend dadurch, daß ich von uns hier geredet habe, von denjenigen Politikern, die hier eine Bewertung des dualen Systems vorgenommen haben. Wir haben klar und deutlich gesagt - zumindest ich für meine Fraktion -, daß wir den Grünen Punkt nicht für hilfreich halten und daß es sinnvoller wäre, etwas anderes zu machen. Denn der Grüne Punkt könnte durch seine Farbe und das spezifische Zeichen dem uninformierten Betrachter suggerieren, daß das Produkt umweltfreundlich sei. Aber diejenigen hier bei uns, die darüber diskutiert haben, haben das niemals behauptet. Wir haben immer klar und deutlich die Meinung vertreten, daß das schwierig sein kann und daß man durch Öffentlichkeitsarbeit Aufklärung leisten muß. Genau dazu möchte ich an dieser Stelle den Umweltminister nochmals auffordern, das mit dem DSD erneut zu besprechen. Das DSD sollte in die Verpflichtung genommen werden, Aufklärung zu betreiben, Herr Kollege Feige. ({0}) Zwei Punkte, die mir wichtig sind, möchte ich in der verbleibenden Zeit noch ansprechen. Es ist sicherlich richtig und wichtig, daß sich beim DSD der Preis für die Entsorgung der Verpackung zukünftig nicht mehr allein nach dem Volumen richtet. Der Preis des Grünen Punktes richtet sich teilweise nach anderen Kriterien. Ab Anfang 1993 ist eine außerordentliche Gebührenstaffelung für Kunststoffe vorgesehen. Ab Ende 1993 ist für die restlichen Verpackungen eine Gebührenstaffelung vorgesehen, die materialspezifisch ist und sich nach dem Sammel- und Sortieraufwand richtet. Das ist eine alte Forderung der F.D.P. Ich bin froh, daß das endlich aufgegriffen wurde. Denn damit geht ein Stück ökologische Bewertung in das System des DSD und die Verpackungsverwertung ein. Zum Abschluß möchte ich sagen: Die Verpackungsverordnung ist und war für mich vorrangig nie eine Vermeidungsstrategie. Sie war vorrangig immer eine Verwertungsstrategie, allerdings mit der Folge, einer erheblichen Vermeidungswirkung. Ich bin deshalb dafür - dafür appelliere ich an Sie -, daß wir das duale System weiterhin kritisch begleiten, wie wir es bisher gemeinsam gemacht haben: da, wo es Fehlentwicklungen gibt, sie monieren und versuchen, die Sachen zu verbessern. Ich appelliere nochmals: Geben Sie dem dualen System eine Chance. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell ist vereinbart worden, den Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/3469 zur Federführung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft zu überweisen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 15 und den Zusatzpunkt 5 auf: 15. a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Einsetzung einer Enquete-Kommission „Zukunftssicherung unserer älter werdenden Gesellschaft - Herausforderung des demographischen Wandels" - Drucksache 12/2272 -Überweisungsvorschlag: Enquete-Kommission „Zukunft der älter werdenden Generation" b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria Michalk, Hans-Joachim Fuchtel, Dr. Joseph-Theodor Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Gisela Babel, Hans A. Engelhard, Dr. Eva Pohl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Einsetzung einer Enquete-Kommission „Chancen und Zukunftsperspektiven der älter werdenden Generation" - Drucksache 12/3460 -Überweisungsvorschlag: Enquete-Kommission „Zukunft der alter werdenden Generation" ZP5 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und F.D.P. Einsetzung einer Enquete-Kommission „Zukunft der älter werdenden Generation" - Drucksache 12/3461 -Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre und sehe, daß dem nicht widersprochen wird. Dann ist das so beschlossen. Nunmehr eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat zunächst unsere Frau Kollegin Anke Fuchs.

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf Antrag der SPD-Bundestagsfraktion - wir waren die Initiatoren - wird der Bundestag heute die Enquete-Kommission einsetzen, die sich mit den gesellschaftlichen Folgen des demographischen Wandels in den nächsten 40 Jahren beschäftigen wird. Bei der Formulierung des CDU/ CSU-Antrages hat sich im übrigen ein Fehler eingeschlichen. Es muß nicht über die Konsequenzen der älter werdenden Generation gesprochen werden, sondern über die der älter werdenden Gesellschaft. Ich will das sagen, damit sich das bitte nicht falsch in den Köpfen festsetzt. Demographischer Wandel, d. h. unsere Gesellschaft wird älter, sie wird kleiner, und das in dramatischen Ausmaßen. Das bedeutet, daß auf die Gesellschaften der Bundesrepublik und der anderen Industrieländer große Herausforderungen zukommen. Zwei gesicherte Daten für die Entwicklung der Bundesrepublik belegen das: Die über 60jährigen werden im Jahre 2030 40 % der Bevölkerung ausmachen. Das ist doppelt soviel wie heute. Der Anteil der bis 20jährigen wird im gleichen Zeitraum um ein Drittel sinken. Es ist klar, daß diese Änderung der Altersstruktur Auswirkungen auf die gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands haben wird. Es gibt praktisch keinen Lebensbereich, der davon unberührt bleibt Wir werden uns z. B. Gedanken zu machen haben, wie wir in der Zukunft den Sozialstaat sichern können. Die Voraussetzungen für die Einlösung des Generationenvertrages ändern sich grundlegend. Ältere Menschen sorgen sich deshalb um die soziale Sicherheit. Die aktiven Berufstätigen andererseits fragen sich, ob auch sie im Alter auf sichere Einkünfte und Versorgung bei altersbedingter Krankheit rechnen können. Solche Sorgen sind ernst zu nehmen. Sie führen zu Fragen nach der materiellen Versorgung, der Tragfähigkeit der Kranken- und Alterssicherungssysteme und der ergänzenden Sozialhilfe. Es geht dabei nicht allein um die Fortschreibung klassischer Sozialpolitik. Es geht auch nicht um ein Konzept staatlicher Politik; denn vieles in der Gesellschaft wird heute schon in kleinen Netzen geleistet, in den Kommunen, in der Nachbarschaftshilfe, z. B. durch Hilfe von Freunden, und natürlich wird auch vieles in der Familie als Dienstleistung erbracht. Es geht darum, diese Vernetzung bewußt zu machen und die Sozialpolitik der Zukunft vor Augen zu haben, die die vorhandenen Ansätze verstärkt, damit sich alle in unserer Gesellschaft besser aufgehoben finden. Die demographische Veränderung wird viele Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung und auf die Gestaltung der Arbeitswelt haben. Hier sehe ich ein Hauptbetätigungsfeld der Kommission. Das Bewußtsein der heute Mitte 50jährigen geht dahin, möglichst frühzeitig aus dem Erwerbsleben auszuscheiden. Im wohlverdienten Ruhestand wollen sie Anke Fuchs ({0}) den nächsten Lebensabschnitt genießen, mit dem Ehepartner oder Lebenspartner Hobbys pflegen und viel reisen. Geld dafür ist da. Die Einkomen sind zum Teil hoch, und entsprechend hoch sind auch die Erwartungen der Menschen an diesen Lebensabschnitt. Sie sind nicht mehr ausgegrenzt, wenn sie mit Ende 50 aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Ausgegrenzt sind allerdings jene - vor allem Frauen -, die zeit ihres Lebens materiell schlecht gestellt waren und nun auch im Alter wieder zu den Armen zählen. Und ausgegrenzt sind nicht zuletzt viele Menschen in den fünf neuen Bundesländern, nämlich jene, die aus dem Erwerbsleben hinausgedrängt werden, weil Arbeitsplätze wegfallen. Sie haben geringe Renten und bescheidenere Spareinlagen, d. h. sie sind auf das frühzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben nicht vorbereitet. Darüber nachzudenken und zu fragen, welche Hilfen zusätzlich gegeben werden können, wird auch eine Aufgabe der Enquete-Kommission sein. ({1}) Aber wir wollen über den Tag hinaus schauen. Ich sagte zu Beginn meiner Rede, daß wir eine schrumpfende Bevölkerung sind. Nach dem Jahr 2010 - das ist noch ein bißchen hin, aber immerhin - werden wir mehr Arbeitskräfte benötigen. Hier nun stellt sich die Frage: Wird der Arbeitskräftebedarf dadurch gesichert, daß wir die Arbeitsbedingungen so verändern, daß Menschen auch mit Freude über das 60. Lebensjahr hinaus arbeiten? Haben wir bis dahin mehr Arbeitsplätze für diese Generation? Wir haben das Renteneintrittsalter angehoben. Aber die Frage, ob der Arbeitsmarkt den späteren Renteneintritt überhaupt zuläßt, ist noch nicht beantwortet worden. Wenn die Arbeitsmarktsituation so bleibt wie heute, werden alle Überlegungen über einen späteren Renteneintritt nicht zu realisieren sein. Wird die Wirtschaft sich darauf verlassen, daß es viele Frauen gibt, die noch in das Erwerbsleben eintreten können? Wird also die älter werdende Generation durch eine höhere Erwerbsbeteiligung der Frauen ausgeglichen, oder wird die Privatwirtschaft sagen: Wir lassen die Alten alt sein, wir lassen die Frauen Frauen sein, wir lösen dieses Problem durch Zuwanderung. Wie auch immer, hierüber gilt es nachzudenken und vernünftige Konzepte zu entwikkeln. Klar ist aus meiner Sicht, daß wir ohne Zuwanderung nicht auskommen. Die Bevölkerung der Bundesrepublik wird ca. um ein Drittel schrumpfen, wenn es keine Zuwanderung gibt. Konkret heißt das, daß nach der Jahrtausendwende die inländische Bevölkerung jährlich um 500 000 Menschen abnehmen wird. Das entspricht der Größe der Stadt Hannover. Ohne Zuwanderung wäre die Folge, daß die Zahl der Erwerbstätigen im Jahre 2030 mit ca. 29,4 Millionen um 24 % unter dem heutigen Niveau läge. Wie stellen wir uns dann die wirtschaftliche Situation vor? Wir brauchen Menschen, die als Arbeitsnehmer Beiträge in die Rentenkasse zahlen. Das werden dann nicht nur die Älteren und die Frauen sein können. Wir werden uns unter dem Druck des demographischen Wandels daran gewöhnen müssen, ein Einwanderungsland zu werden. Wir können unser Land nicht dichtmachen. Es geht mir nicht darum, meine Damen und Herren, die heutigen konkreten Probleme zu leugnen und den aktuellen Handlungsbedarf der Politik vom Tisch zu wischen. Es geht mir um die Geisteshaltung, mit der wir nach Lösungen suchen. ({2}) Und da sind Ausländer keine Last für uns. Wir werden die Ausländer auch in der Zukunft brauchen. Die heute noch junge und reiche Bundesrepublik wäre ohne Ausländer im Jahre 2030 ärmer und älter. Wenn die Arbeit der Kommission dazu beiträgt, daß wir über die Notwendigkeit einer Einwanderungsgesetzgebungsregelung vernünftig diskutieren, wäre das schon ein schöner Erfolg. ({3}) Das aktive Leben endet nicht mit dem sogenannten Ruhestand. Ältere Menschen wollen über Jahre hinweg gewonnene Erfahrungen und Fähigkeiten auch weiterhin nutzen und sich aktiv am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben beteiligen und ihre Interessen einbringen. Sie wollen nicht ausgegrenzt in eigenen Zirkeln arbeiten, sondern dabeibleiben, und das müssen wir ihnen ermöglichen. ({4}) Die Menschen, die heute alt sind, haben Krieg, Entbehrungen und Not kennengelernt. Für viele von ihnen gilt noch das Wort vom wohlverdienten Ruhestand. Wer wagt die Ansprüche der heute 20jährigen zu formulieren? Es werden mit großer Wahrscheinlichkeit ganz andere sein. Sie werden sich mit einer mehr oder weniger verordneten Passivrolle im Alter nicht abfinden, sondern ihren Anteil am gesellschaftlichen Leben haben. Sie werden diese Gesellschaft vermutlich prägen. Der Rollenwandel hat ja schon begonnen. Die meisten Menschen streben ein relativ frühes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben an; ich habe das angedeutet. Ihr Bewußtsein ist darauf ausgerichtet, möglichst frühzeitig, also vor dem 60. Lebensjahr, in den Vorruhestand zu gehen. Die Perspektive ist dann noch lang: Stabilisierung der Gesundheit, nachholen, was an Interessen brachgelegen hat. Früher hieß es für die Alten: Schont euch, schlaft viel und wärmt eure Füße am Kamin. Diese Zeiten sind vorbei. Heute heißt das Motto: Man kann nichts dagegen tun, daß man altert, aber man kann sich dagegen wehren, daß man veraltet. ({5}) Das beherzigen die Alten von heute und viel mehr noch die von morgen. Sie gehen einer Vielzahl von Aktivitäten nach. Sie reisen, haben Hobbys, private Neigungen. Reiseveranstalter, Versicherungen und Konsumgüterindustrie haben sich bereits auf sie eingestellt. Sie haben die ältere Generation als kauf- und zahlungskräftige Zielgruppe schon seit langem entdeckt. Anke Fuchs ({6}) Auf der anderen Seite erleben wir in vielen alltäglichen Dingen eine Mißachtung des Alters, die wir uns in Zukunft nicht mehr erlauben können. Denken wir z. B. an die Stadtplanung, bei der - wenn überhaupt - an ein altengerechtes Wohnumfeld zuletzt gedacht wird. Offenbar glauben die Architekten und Stadtplaner immer noch, daß die täglichen Besorgungen und Behördengänge ausschließlich von automobilen Bürgern der jüngeren Jahrgänge gemacht werden können. Ampelphasen sind für Fußgänger oft so geschaltet, daß die Straßen nur in jugendlich-sportlichem Eiltempo überquert werden können, und bei Fahrkartenautomaten scheinen die Konstrukteure davon ausgegangen zu sein, daß nur die computergeschulte Generation Straßenbahn fährt. ({7}) Hier wird sich manches ändern müssen. Viele Reformanstöße für eine andere Verkehrs-, Städtebau- und Wohnungspolitik werden deshalb nicht mehr - wie früher üblich - von der jungen Generation ausgehen, sondern von den Alten. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß sich der demographische Wandel weltweit vollzieht; ein Grund für die Vereinten Nationen, den 1. Oktober zum internationalen Tag der alten Menschen zu erklären. In der sogenannten Dritten Welt ist bis zum Jahr 2000 die Zuwachsrate der Menschen, die älter als 60 Jahre sind, enorm hoch. Wir denken immer, die Zuwachsrate sei in den vielen Geburten begründet; wirklich neu ins Bewußtsein kommt, wie viele über 60jährige dabei sind. Die traditionellen Familienstrukturen in diesen Ländern haben bisher eine gewisse soziale Absicherung der Alten sichergestellt. Ihr Zerfall beschwört neue Probleme herauf. Auf sie hat die herkömmliche Entwicklungspolitik bisher noch nicht oder nur ansatzweise reagiert. Im übrigen gibt es ausländische Senioren bei uns mit einer neuen Realität. Derzeit leben hier ca. 340 000 ausländische Rentnerinnen und Rentner. Sie sind die sogenannten Gastarbeiter der ersten Generation, die zum Teil schon 40 Jahre lang außerhalb der eigenen Familie leben. Ihre Durchschnittsrenten liegen weit unter 1 000 DM. Bis zum Jahr 2020 wird die Zahl der ausländischen Rentner auf ca. 1,3 Millionen anwachsen. Das hat u. a. damit zu tun, daß die Zahl derjenigen, die den Lebensabend in der Heimat verbringen wird, seit 1988 dramatisch zurückgegangen ist. Uns kommt es dabei darauf an, diese Aspekte - ich denke, ein bißchen internationale Solidarität kann uns nur guttun - in unsere Arbeit einzubeziehen. ({8}) Für die Arbeit kommt es darauf an, daß wir den gesellschaftlichen Wandel transparent machen. Es geht ja nicht allein um die Sicherung der materiellen Versorgung der älteren Menschen. Es geht auch nicht nur um Altenpflege und Pflegeversicherung. Diese Probleme sind seit langem bekannt. Die Vorschläge liegen auf dem Tisch. Wir haben dazu Lösungsvorschläge gemacht. Wenn die jetzige Koalition nicht in der Lage ist, die Pflegeversicherung durchzusetzen, dann wird die SPD das ab 1994 tun. Dafür bräuchten wir keine Enquete-Kommission, meine Damen und Herren. ({9}) Aber ich denke, was wir betreiben, ist ein Stück Zukunftsforschung und ein Stück Zukunftsvorsorge. Ich meine, es steht unserem Parlament gut an, ein Thema aufzugreifen, das sich mit der Lebenssituation der kommenden Generationen beschäftigt. Ich habe in der Vorbereitung auf die Arbeit der Kommission festgestellt, daß sich die jungen Menschen sehr dafür interessieren. Das ist gut so; denn im Jahre 2030, wenn der demographische Alterungsprozeß seinen Höhepunkt erreicht hat, sind die heute 20- bis 30jährigen die Alten. Sie wurden ja zunächst als geburtenstarke Jahrgänge gepriesen. Dann waren sie der Schülerberg. Jetzt sind sie der Studentenberg. Ich finde, sie haben einen Anspruch darauf, daß sie nicht auch noch zum lästigen Rentnerberg werden. ({10}) Man wirft der Politik nicht ganz zu Unrecht vor, daß sie sich zwar in allen Partei- und Wahlprogrammen die Zukunft auf die Fahnen geschrieben hat, daß sie sich aber in Wirklichkeit zu wenig mit Zukunftsfragen befaßt. Für mich ist es deswegen auch ein Stück Rückgewinnung politischer Glaubwürdigkeit, daß wir den jungen Leuten beweisen: Wir denken auch über den Tag hinaus. Wir sollten uns bemühen, unsere Arbeit so transparent und öffentlich zu machen, wie es nur geht. Mein Wunsch ist, daß wir endlich einen Diskurs darüber zustande bekommen, wie dieses Land in der Zukunft aussehen soll. Meine Hoffnung ist, daß die Kommission dazu einen Beitrag leistet. Ich danke Ihnen. ({11})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserer Frau Kollegin Dr. Ursula Lehr.

Prof. Dr. Dr. h. c. Ursula Maria Lehr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001305, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Termin für die Einrichtung einer Enquete-Kommission „Zukunftschancen der älter werdenden Generation" - was selbstverständlich einschließt: in einem alternden Volk und damit in einer alternden Gesellschaft - fällt zeitlich zusammen mit der General Assembly der Vereinten Nationen in New York, die sich gestern und heute mit der Evaluation der Altenpolitik in den zehn Jahren seit der UN-Weltversammlung zu Fragen des Alterns 1982 in Wien beschäftigt hat bzw. beschäftigt. Wegen der Überschneidung beider Termine mußten Frau Bundesministerin Rönsch und ich diese Versammlung leider vorzeitig verlassen, um bei dieser Sitzung heute anwesend sein zu können. Im Vergleich zu vielen anderen Nationen konnte sich der Rechenschaftsbericht der Bundesrepublik über die von ihr aus dem Wiener Aktionsplan gezogenen Folgerungen durchaus sehen lassen. Geade in den letzten zehn Jahren gab es - im Gegensatz zu den zehn Jahren davor - bei uns eine Reihe von politischen Initiativen für ältere Menschen und intensive Bemühungen, den Wissensstand zu verbessern. Die Weltversammlung hatte 1982 gefordert, die Kompetenz älterer Menschen in der Politik und im gesellschaftlichen Leben stärker zu berücksichtigen, aber auch alle Mitgliedstaaten aufgefordert, alle möglichen Hilfen für die Gruppen der physisch oder psychisch behinderten älteren Menschen bereitzustellen. Die Thematik der Kompetenz und die Möglichkeiten der Rehabilitation im Alter waren die Hauptthemen, die ich der von mir als Bundesministerin 1989 eingesetzten Kommission zur Erstellung eines ersten Altenberichts der Bundesregierung stellte. Nach acht Jugendberichten hielt ich die Zeit für einen ersten Altenbericht für überaus reif. Ein Teilbericht wurde 1990 veröffentlicht; der Gesamtbericht wird in den nächsten Tagen von der Altenberichtskommission Frau Bundesministerin Rönsch übergeben werden. Dieser Bericht, an dem viele Experten - auch der SPD nahestehende Experten - aus allen Bereichen der Alternswissenschaften mitgewirkt haben, wird ein umfangreiches Kompendium für alle werden, die sich mit älteren Menschen beschäftigen; nicht zuletzt für die älteren Menschen selbst. Er wird die meisten der in den vorliegenden Anträgen der SPD und CDU/CSU angesprochenen Themen enthalten und kann der Enquete-Kommission als wertvolle Grundlage dienen. Dies gilt auch im Hinblick auf die von Ihnen angeschnittenen Aspekte Wohnen, Wohnumfeld, Stadtplanung usw. Wir sollten also nicht so tun, als müsse die EnqueteKommission bei Null anfangen. Die Basis ist geschaffen. Die Kommission wird hoffentlich weiterführende Ergebnisse liefern. Tatsache ist: In Deutschland gab es noch nie eine ältere Generation, der es so gut ging wie der jetzigen; ({0}) noch nie eine ältere Generation, die bei so gutem Gesundheitszustand so alt geworden ist. Freilich, es gibt arme alte Menschen, aber nicht alle alten Menschen sind arm. Es gibt pflegebedürftige alte Menschen, aber nicht alle alten Menschen sind pflegebedürftig. Es gibt Probleme bei den Älteren, aber die Älteren sind keine Problemgruppe. Daß dies so ist, ist kein Zufall, sondern das Ergebnis von individuellem Fleiß der heutigen älteren Generation und von guter Politik. ({1}) Mit großem Einsatz und unter vielen Opfern hat die jetzige ältere Generation Deutschland nach dem Krieg wiederaufgebaut. Sie hat damit nicht nur den Grundstein für ihr persönliches Wohlergehen im Alter gelegt, sondern auch die Basis gebildet für den Wohlstand der nachwachsenden Generationen. Dafür sei ihr gedankt. ({2}) In der Politik der Bundesrepublik Deutschland galt parteiübergreifend der Grundsatz, daß ältere Menschen nicht ausgegrenzt werden dürfen. Dies gilt vor allem auch für die Gesundheitsversorgung. Bei uns gibt es keine Altersgrenze, ab der notwendige medizinische Maßnahmen nicht mehr von der Krankenversicherung übernommen werden. Wenn es medizinisch notwendig ist, bekommt auch der 70jährige seine Dialyse und die 80jährige ein neues Hüftgelenk. Das ist, wenn wir uns in der Welt umschauen, nicht selbstverständlich. Dieser Konsens darf auch in Zukunft nicht aufgekündigt werden. Deshalb bin ich ein Verfechter der Gesundheitsreform, sowohl der von Norbert Blüm als auch der, die Horst Seehofer jetzt vorbereitet. ({3}) Nur dadurch kann der finanzielle Spielraum erhalten bleiben, der notwendig ist, um die neuen medizinischen Erkenntnisse allen Altersgruppen und insbesondere den Älteren nutzbar zu machen. Wir haben eines der besten Rentensysteme der Welt. Dies bleibt durch die Rentenreform auch für die nächsten Jahrzehnte erhalten. Diese entstand im Konsens mit der SPD. Aber ich möchte dennoch darauf hinweisen, daß sowohl die Einführung der dynamischen Rente als auch die Sicherung der Rente für die Zukunft in die Regierungszeit der Unionsparteien fällt. Die Politik für die ältere Generation war schon immer ein Markenzeichen für CDU und CSU. Das wird auch so bleiben. Bedenken wir darüber hinaus - Sie, Frau Fuchs, haben es angesprochen -: Viele ältere Menschen von heute verfügen über beachtliche Ressourcen; sowohl in finanzieller, in materieller Hinsicht - Wohneigentum, Immobilien - als auch in ideeller, geistiger Hinsicht, Ressourcen an Wissen und Erfahrung, die es zu ergründen, zu stützen und zu nutzen gilt. Aber obwohl es die ältere Generation im Durchschnitt gut hat, obwohl es ihr sogar bessergeht als vielen Menschen der mittleren und jüngeren Generation, so müssen doch Probleme von Teilgruppen gesehen und angegangen werden. Es gibt Menschen, denen es im Alter finanziell schlechtgeht. Dazu zählen viele ältere Frauen. Durch Verzicht auf eigene Berufstätigkeit, um sich der Familie zu widmen, haben sie oft nicht so viele eigene Rentenansprüche erworben, um ein finanziell sorgenfreies Alter zu erleben. Durch die Anerkennung der Erziehungszeiten im Rentenrecht und durch die künftige Anrechnung von Pflegezeiten wurde ihre Situation bereits erheblich verbessert und wird es weiterhin. Dennoch müssen weitere Anstrengungen unternommen werden, damit die Gruppe der armen alten Menschen noch kleiner wird. Aber dabei ausschließlich im Alter anzusetzen ist falsch. Viele derjenigen, die im Alter arm sind, waren es auch schon im mittleren Erwachsenenalter. Hier erwarte ich mir von der heute einzusetzenden Enquete-Kommission wertvolle Anregungen. Jeder, der einen Platz in einem Pflegeheim braucht, bekommt diesen finanziert, wenn er und seine Angehörigen dies nicht selbst können. Daß dies durch die Sozialhilfe geschieht, wird von allen Seiten als nicht angemessen empfunden. Deshalb brauchen wir die Pflegeversicherung so bald wie möglich, ({4}) und wir werden sie dank Norbert Blüm bekommen. Viele ältere Menschen fühlen sich vorzeitig aufs Abstellgleis geschoben. Es herrscht bei uns ein verzerrtes Bild vom älteren Arbeitnehmer. Doch - sei es im Beruf, sei es in der nachberuflichen Phase - die ältere Generation will ihren Beitrag für unsere Gesellschaft leisten. Sie ist auch in der Lage dazu. Doch manchmal stimmen die Rahmenbedingungen nicht; manchmal sind unnötige Hindernisse gegeben. Deshalb muß gerade in diesem Feld noch vieles auf den Weg gebracht werden. Das von der Bundesregierung mitvertretene Modellprogramm „Seniorenbüros" ist ein erster Schritt hierzu. Doch auch hier erhoffe ich mir weitere wertvolle Anregungen von der EnqueteKommission: Verbesserung der Chancen, ehrenamtlich tätig zu sein, ohne daß das Ehrenamt zu einem „sozialen Pflichtjahr" für Ältere werden muß. Es gibt außerdem eine wachsende Gruppe älterer Menschen, deren spezifische Probleme noch nicht erkannt sind, für die Vorkehrungen zu treffen sind: die älteren Ausländer - altern in der Fremde - und die älteren, von Geburt an Behinderten oder die in jungen Jahren Behinderten, die jetzt älter werden. Auch hier sind Vorschläge und Lösungsmöglichkeiten gefragt. Noch eine Anmerkung zum Schluß: Die SPD-Bundestagsfraktion hat ihren früheren altenpolitischen Sprecher zum Fraktionsvorsitzenden gewählt. Ich hoffe, daß auch dies ein Beitrag zu einer konstruktiven Altenpolitik der Opposition ist. Möge die Enquete-Kommission, in der alle Fraktionen vertreten sein werden, einen Beitrag dazu leisten, daß in Deutschland auch weiterhin Politik für und mit älteren Menschen gemacht wird, zum Wohle der älteren Generation von heute, von morgen und von übermorgen. Ich danke. ({5})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile als nächstem das Wort unserem Kollegen Hans Engelhard.

Hans A. Engelhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000472, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist eine große Verantwortung und Ehre, dieser Enquete-Kommission anzugehören und hier mitarbeiten zu dürfen. Daneben - lassen Sie mich das bei dieser Gelegenheit sagen - empfinde ich Freude, nochmals im Wasserwerk, von dem wir uns in der nächsten Sitzungswoche verabschieden sollen, sprechen zu können. Ich verlasse, wie wohl auch viele andere, dieses Haus mit Wehmut. Dieses I taus hat in seinen engen Mauern auch die Kolleginnen und Kollegen aus den neuen Bundesländern beschirmend aufzunehmen gewußt. Dieses Haus war in den zurückliegenden Jahren uns allen ein Stück parlamentarische Heimat im besten Sinne des Wortes. ({0}) Meine Damen und Herren, wir begrüßen die Einsetzung der Enquete-Kommission. Es muß uns klar sein: Dieses Thema hat eine Jahrhundertdimension. Nun ist der Vorwurf bekannt, die Politik sei häufig nicht in der Lage, überhaupt nur über den Zaun einer Legislaturperiode hinaus schauen zu können. Wir müssen uns solchen Fragen stellen. Die Einsetzung der Kommission war daher hoch an der Zeit. Nur, ich setze hinzu: Jetzt - und nicht früher - sind wir auch in der Lage, die Einblicke, die Zahlen zu haben, die uns in den Stand setzen, die neuen Bundesländer mit all den Unterschiedlichkeiten, die dort existieren, voll miteinzubeziehen. Die Zahlen für die künftige Altersentwicklung sind genannt worden. Der Kürze halber kann ich sie nicht wiederholen. Ich sage nur: Wir dürfen das nicht nur als Problem sehen. Wir haben heute andere alte Menschen als ehedem, Menschen, die sich anders verstehen. Nur werden die Jüngeren davon Abstand nehmen müssen, nach wie vor alte Menschen in die Ecke zu stellen. ({1}) Wir können ziemlich weit zurückgehen, um zu sehen, wie das damals war. Immanuel Kant hat 80 Jahre gelebt, bis zuletzt in voller Rüstigkeit und Schaffenskraft. Es ist allerdings überliefert: Als er in seiner Heimatstadt Königsberg 1774 seinen 50. Geburtstag feierte, näherten sich Freunde und Bekannte, um ihre Gratulation anzubringen. Sie sprachen - und dies ohne Ironie -: Würdiger Greis. Ja, so war das auch damals, nur werden wir uns heute verschärft den Fragen stellen müssen. Meine Damen und Herren, in der Arbeitswelt muß Schluß sein mit der Gleichung Alter ist gleich totaler Ruhestand. ({2}) Wir als Liberale sind seit langem dafür eingetreten, daß jeder nach seiner Leistungsfähigkeit, nach seinem Gusto wählen kann; natürlich immer im Rahmen, Frau Kollegin, des Arbeitsmarktes. Wir sind eingetreten für einen gleitenden Übergang und aufgetreten gegen das Fallbeil der Altersgrenze. Nun sind erste wichtige Schritte erreicht worden mit dem Rentenreformgesetz 1992, was anerkennend hervorzuheben ist. Die Senioren wünschen auch einen aktiven Ruhestand. Viele Möglichkeiten gibt es. Ich begrüße, daß jetzt Seniorenbüros vom Ministerium für Familie und Senioren eingerichtet worden sind. Das ist eine Anlaufstelle. Das soll eine Nachrichtenbörse für die Möglichkeiten des ehrenamtlichen Engagements sein, da wir ja überhaupt das Problem in unserer Gesellschaft haben, daß ehrenamtliches Engagement eher im Rückgang begriffen ist. Soll man es da nicht unterstützen, begrüßen, wenn sich eine große Personengruppe, die Zeit hat, die dazu bereit ist, hier verstärkt engagiert? ({3}) Ich könnte Beispiele dafür nennen; die Zeit dafür ist leider nicht vorhanden. Meine Damen und Herren, ein zentrales Thema - das will ich besonders unterstreichen - ist das Lebensumfeld älterer Menschen. Wir wissen, daß die meisten in ihrer eigenen Wohnung verbleiben wollen, solange es irgend geht. Vielfach bedarf es dazu der Unterstützung. Die Anlieferung von warmem Essen ist eine Seite. Aber es gibt vieles mehr. Ich wohne in München in einem Stadtviertel am Rande der Innenstadt. Bei uns gibt es um die Ecke ein Altenwohnheim. Das ist gleichzeitig ein Altenservicezentrum für alle Menschen, die ringsherum in ihrer Wohnung leben. Alte - sonst durchaus noch rüstige - Frauen und Männer können dort hingehen, können dort Dinge erledigen lassen, die sie selbst nicht mehr bewältigen können: Teile der Körperpflege, etwa das Schneiden von Fußnägeln und viele solche Dinge. Auch sind meines Erachtens die Zeiten vorbei, in denen man den Versuch unternommen hat, alte Menschen hinauszuschieben in die Ruhe. Sie sollen es schön haben, draußen auf der grünen Wiese. Ein Kind ist nicht mehr zu sehen und zu hören; man wird nicht mehr gestört. Man könnte auch so hart sagen: Man kann dem Lebensende dort ungestört entgegendämmern. Nein, das ist meines Erachtens eine falsche Haltung, mit der Schluß gemacht werden muß. ({4}) Wir treten ein für das barrierefreie Wohnen; dazu gäbe es vieles zu sagen. Wir müssen wissen, daß die Isolation des einzelnen in seiner Wohnung eine schlechte Sache wäre. Daher müssen wir ein fußgängerfreundliches Wohnumfeld haben. ({5}) Wir sprechen hier jetzt über ältere Menschen. Für ältere Menschen ist das notwendig und gut. Notwendig und gut ist es aber auch für die Behinderten, bis hin zum Rollstuhlfahrer. Gut wäre es auch für die Kinder und, wenn ich es recht betrachte, eigentlich für alle Menschen. Vielleicht gelingt es uns hier, Entscheidendes auf den Weg zu bringen. ({6}) Die Umsetzung ist kein Thema allein von heute - um Gottes willen -, nein, das ist ein Thema, das in das nächste Jahrtausend hineinreicht. Vielleicht kommt man so weit, daß die Stadt wieder in geschlossener Bauweise errichtet wird: mit überdachten Passagen, mit Gelegenheiten, sich zu treffen, damit der einzelne in seiner freien Zeit nicht nur die Chance hat, in der Wohnung zu verbleiben oder wegzufahren - auf ohnehin total überlasteten Straßen. Wir haben hier die Dimension eines Themas, bei dem wir mitarbeiten können an einer Welt, die neu ist, die an gewachsene Strukturen anknüpft und die eine bessere Welt sein könnte. ({7})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, nächster Redner ist jetzt unser Kollege Walter Link.

Walter Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001348, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Fuchs, Sie haben zu Beginn gesagt, Ihre Fraktion sei es gewesen, die die Enquete-Kommission beantragt habe. Wir waren in unserer Arbeitsgruppe „Familie und Senioren" mehrheitlich der Auffassung, daß auch der Ausschuß die anstehende Aufgabe hätte erfüllen können. Nachdem Sie aber jetzt den Antrag gestellt haben, arbeiten wir natürlich gerne mit. Der Deutsche Bundestag beschließt heute über die Einsetzung einer Enquete-Kommission, die die Zukunftssicherung unserer älter werdenden Gesellschaft, die Herausforderungen des demographischen Wandels bzw. die Chancen und Zukunftsperspektiven der älter werdenden Generation untersuchen soll, also der Generation, die unser Land in den vergangenen Jahrzehnten aus Schutt und Asche zu einem blühenden Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland aufgebaut hat. Von dieser Generation sind heute jede vierte Frau und jeder siebte Mann in Deutschland über 60 Jahre alt. Wir müssen in der EnqueteKommission Entscheidungen treffen, die dieser veränderten Bevölkerungsstruktur Rechnung tragen. Unsere älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger wollen aktiv, selbstbestimmend und in Sicherheit leben. ({0}) Wir werden in der Enquete-Kommission nicht nur auf dem Altenbericht der Bundesregierung aufbauen können, sondern auch auf der guten Seniorenarbeit und den Erfahrungen, die in den Kirchen und vielen anderen Organisationen gemacht worden sind. Hier denke ich an den Deutschen Sportbund, der sich insbesondere des Seniorensports angenommen hat. Immer mehr ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger treten in die Seniorenabteilungen unserer Sportvereine ein. Sie wollen ihre Freizeit sinnvoll gestalten, Geselligkeit erleben und durch altersgerechten Sport ihren Körper gesund erhalten oder gar eine bessere körperliche Vitalität erreichen. Es gilt hier nach wie vor das Wort der ehemaligen Rektorin der Deutschen Sporthochschule in Köln, Frau Professor Liselott Diem, die sagt, der sinnvoll sporttreibende Mensch wird zwar nicht älter als der nichtsporttreibende, dafür aber wird er besser alt. Meine Fraktion, die CDU/CSU, dankt an dieser Stelle den Kirchen, Organisationen, Vereinen und Selbsthilfegruppen, die sich der älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger in der Vergangenheit angenommen haben, und bittet sie zugleich, diese Arbeit auch in der Zukunft fortzusetzen. ({1}) Auf diesen erarbeiteten Grundlagen können wir aufbauen. Die Kommission muß nach der Erfassung und Auswertung gesicherter statistischer Daten eine eingehende Situationsanalyse machen. Sie muß Konzepte und politische Empfehlungen erarbeiten. Bei allen Begründungen, die heute morgen für die Einsetzung dieser Enquete-Kommission gegeben worden sind, ist mir der gesundheitspolitische Aspekt ein wenig zu kurz gekommen. Die häufigsten, eindeutig altersassoziierten Erkrankungsformen lassen sich in drei Kategorien einteilen: erstens Erkrankungen des Knochenstoffwechsels, zweitens Erkrankungen des Gefäßsystems, drittens Zuckerkrankheit und deren Folgen. Es sollte ein Schwerpunkt der KommisWalter Link ({2}) sionsarbeit sein, den Kenntniszuwachs für den unverstandenen Prozeß des Alterns zu fördern. Darüber hinaus sollen Kenntnisse zur Erhaltung der Lebensqualität gewonnen werden, die den quantitativen und qualitativen Ausbau einer altersgerechten Infrastruktur vorantreiben. Dies umfaßt besonders die ambulanten, teilstationären und stationären Einrichtungen, die interdisziplinäre gerontologische Forschung, aus- und weiterbildende Maßnahmen zur Prävention und die Stärkung der Therapie und Rehabilitation altersbedingter Erkrankungen. Auf sozialpolitischer Ebene gilt es, die Erfahrungen der bereits existierenden Selbsthilfegruppen mit den angesprochenen Erkrankungsformen aufzunehmen. Dieses Potential ist für die Entwicklung realistischer innovativer Konzepte für die ambulante Betreuung dieser Gruppen zu nutzen. Gerade die Finanzierbarkeit gesundheitspolitischer Maßnahmen wird auch in der Zukunft über die Realisierbarkeit entscheiden. Die Inanspruchnahme von medizinischer Versorgung durch Bevölkerungsteile jenseits des 60. Lebensjahres ist für den größten Teil der Ausgaben im medizinischen Sektor verantwortlich. Herr Präsident, ich sehe, meine Redezheit geht zu Ende. Da Frau Professor Lehr 3 Minuten unserer Redezeit nicht in Anspruch genommen hat, bitte ich, noch ein wenig zuzugeben. Diese Fakten unterstreichen, daß es sich gerade bei den altersassoziierten Erkrankungen lohnen wird, Grundlagenforschung voranzutreiben, um den Gesundheitszustand zu verbessern. Wenn man nun noch das soziale Umfeld der über 60jährigen mit den pflegerischen und emotionalen Problemen der Betreuung dieser Personen berücksichtigt, wird deutlich, welche gesellschaftspolitische Relevanz der Verbesserung des Gesundheitszustandes beizumessen ist. Auch sind die Entwicklung von Pflegestrukturen, die Pflegeleistung und die Be- und Entlastung pflegender Angehöriger zu erörtern und zu hinterfragen. Die Stärkung ambulanter Betreuung dieser Bevölkerungsgruppe vermeidet hospitalisierende Behandlungsformen. Dies ist ein wichtiger Beitrag zur Bewerkstelligung des täglichen Lebens mit einer chronischen Alterserkrankung und fördert das Wohlbefinden und die Zufriedenheit des älteren Mitbürgers in unserer Gesellschaft. Nach meiner Auffassung müssen folgende Schwerpunkte angegangen werden: erstens demographische Untersuchungen zur Bevölkerungs- und Gesundheitsentwicklung in städtischen und ländlichen Gebieten, jeweils getrennt für Ost- und Westdeutschland; zweitens epidemiologische Untersuchungen zur Krankheitsverteilung in der älteren Bevölkerungsschicht; drittens Möglichkeiten zur Stärkung der gesellschaftspolitischen Eigenverantwortlichkeit älterer Mitbürger unter Einbeziehung der vielfältigen Erfahrungen von Selbsthilfegruppen und viertens forschungspolitische Wegstellung derjenigen Alterungsprozesse, welche eindeutig altersassoziiert sind, nämlich Störungen des Knochen- und Gefäßsystems. Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Die Sorge der älteren Menschen um ihre persönliche Sicherheit wächst nicht nur im Straßenverkehr, in Verkehrsmitteln und abends auf der Straße. Von daher ist auch zu prüfen, inwieweit diese Ängste das freie Leben der älteren Mitbürger beschneiden und welche Maßnahmen zur inneren Sicherheit ergriffen werden müssen. Am Ende der Arbeit unserer Kommission müssen Ergebnisse stehen, die aus gesellschaftlicher und politischer Sicht unserer älteren Generation zu vermitteln und als Grundlage für eine sachgerechte Altenpolitik zu verwenden sind. Die Mitglieder meiner Fraktion, der Fraktion der CDU/CSU, freuen sich auf die Zusammenarbeit in den nächsten Jahren. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserer Kollegin Frau Dr. Barbara Höll das Wort.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Allerorts wird das „Altern der Bevölkerung" fast als Phänomen behandelt, erschallt der Ruf nach neuen „Generationsintegrationsmodellen". Dennoch hatte ich anfangs, ehrlich gestanden, Probleme bei dem Gedanken an eine neue Enquete-Kommission im Bundestag. Das liegt jedoch nicht etwa an meinem Alter, sondern daran, daß ich der Meinung war, daß wir ein gesondertes Ministerium für Familie und Senioren mit vielen gutbezahlten Beamtinnen und Beamten sowie Angestellten haben, viele Institutionen, die Forschung betreiben und Vorschläge unterbreiten. Hier im Bundestag haben wir einen Ausschuß für Familie und Senioren, der nicht gerade unter Überlastung mit komplexen gesellschaftlichen Fragestellungen - als eine solche verstehe ich das Altern - leidet. Wozu nun noch ein Extra-Gremium? Wenn ich unter dem Schwerpunkt 4 des SPD-Antrages beispielsweise lese: „Benötigt werden vor allem Wohnungen, die in ihrer Ausstattung die besonderen Bedürfnisse berücksichtigen ..." und an die Diskussion mit vielen konkreten Vorschlägen zu Ihrem Antrag „Wohnen im Alter" denke, so besteht meines Erachtens doch vor allem Handlungsbedarf. Eine gesonderte Enquete-Kommission geht da leicht in Richtung Selbstbefriedigung mit dem Tenor: Wir haben uns den Problemen adäquat gewidmet. Außerdem kostet das zusätzlich Geld. Unterstützt wird dieser Eindruck durch die Eile, die mit dem gemeinsamen Antrag bezüglich der Vorlage des Enquete-Auftrages durch die Kommission bis zum 13. November dieses Jahres entsteht. Auf welchem Blatt steht, wann was wirklich getan wird? Als mir dann jedoch bewußt wurde, daß die Situation in den neuen Bundesländern mit keiner Silbe erwähnt wird, und ich hörte, wie mein ostdeutscher CDU-Kollege Wolfgang Engelmann im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung geradezu schwärmte, die Rentnerinnen und Rentner seien der glücklichste Teil der Bevölkerung in den neuen Bundesländern, und sich wünschte, nur Rentner zu haben, weil die Wahl dann gelaufen sei, wurde mir doch angst und bange. Daraufhin entschloß auch ich mich, für eine Enquete-Kommission zu sein, für eine Gesamtsicht sowohl hinsichtlich der Ost-West-Problematik als auch hinsichtlich des Erfassens aller gesellschaftlichen Bereiche zu plädieren und meine Mitwirkung daran anzubieten.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Dr. Höll, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Link?

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja.

Walter Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001348, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ist Ihnen entgangen, daß ich namens meiner Fraktion in meiner Rede gerade von einer differenzierten Behandlung des Themas in Ost- und Westdeutschland gesprochen habe?

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Das ist mir nicht entgangen, aber ich habe gerade über den Antrag und die darin enthaltenen Formulierungen gesprochen. Wenn ein solcher Antrag gestellt wird, erwarte ich von vornherein konkretere Fragestellungen, so daß sichergestellt ist, daß es nicht nur bei dem Formulieren eines Anliegens bleibt, sondern daß das Anliegen auch tatsächlich umgesetzt wird. ({0}) Das hier nicht alles in Ordnung ist, kann man übrigens an der derzeitigen Praxis der Erteilung konkreter Forschungsaufträge zur Altenproblematik nachweisen: Ostdeutsche Institute, die zum großen Teil abgewickelt würden, sind nur noch Zulieferer; ihre Forschungsergebnisse dürfen nicht mehr unter ihrem eigenen Namen erscheinen. Sie können momentan keine weiteren soziologischen Forschungen betreiben. Ich muß sagen: Ich arbeite in der Enquete-Kommission gerne mit. Aber ich frage mich natürlich, warum ich auch hier wieder nur eine beratende Stimme habe. Ich verfüge über ein „großes Hinterland"; denn über die Hälfte der PDS-Mitglieder gehört der älteren Generation an, die sich in ihren Senioren-Arbeitsgemeinschaften viele Gedanken um „politische, soziale, ethische, geistig-kulturelle und rechtliche Bedingungen für einen selbstbestimmten Lebensabend in Ruhe und Geborgenheit und aktive Teilnahme am Leben der Gesellschaft" machen. Angesichts dieses „Hinterlandes" höre ich natürlich schon Stimmen, die fordern: Die sollen sich doch erst einmal um ihre Vergangenheitsbewältigung kümmern. - Das aber tun gerade die älteren Mitglieder. Ich darf einmal aus den Seniorenpolitischen Standpunkten zitieren. Es heißt dort: Um eine kritische und unvoreingenommene Analyse unserer Vergangenheit führt kein Weg herum. Das gilt für alle Seniorinnen und Senioren, vor allem aber für die ehemaligen Mitglieder des SED, die mit historischer Berechtigung die Chance nutzen wollten, eine gerechtere Ordnung als Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft zu schaffen, die bekanntlich mit Hilfe des deutschen Monopolkapitals so entarten konnte, daß sie den Faschismus, den grausamsten aller Kriege und massenhaften Völkermord hervorbrachte . . . Ich poche auch deshalb so auf die besondere Berücksichtigung der Probleme der neuen Bundesländer, weil Wissenschaftler feststellten - ich zitiere -: Vergleicht man die Rentnerinnen und Rentner in den alten und neuen Bundesländern, ihre Lebenslagen, ihre Denk- und Wahrnehmungsstereotypen und Handlungslogiken, ihre Probleme und Hoffnungen, Zuversichten, Ängste und Befürchtungen, so ist absehbar, daß es in Deutschland auf Jahre hinaus zwei „deutsche Alter" geben wird. Dem stimmen wir zu. Das ist der Grund, die spezifischen Erfahrungen „unserer Alten" einzubringen. Diese gehen davon aus, daß den unbestreitbar neuen Möglichkeiten und Freiheiten, etwa der nahezu unbegrenzte Zugang zu den umfangreichen Waren-, Medien- und Reiseangeboten, die allerdings für die wenigsten finanziell erschwinglich sind, erhebliche Verunsicherungen, psychische Belastungen, Depressionen und Vereinsamungen gegenüberstehen, insbesondere Orientierungs- und Anpassungsschwierigkeiten älterer Menschen hinsichtlich ihrer Zukunftserwartung im vereinten Deutschland; zunehmende Entsolidarisierung zwischenmenschlicher Beziehungen, aufkommende Kälte, purer Egoismus; Sorge um gefährdete und verlorene Arbeitsplätze der Kinder und Enkel; Ohnmacht gegenüber der Bürokratie und gegenüber dem unübersichtlichen und undurchschaubaren Recht; Angst vor Demütigung, Denunziation und Rache, vor Verfolgung all derer, deren ehrlicher Lebensinhalt die DDR war. Wir müssen uns doch vergegenwärtigen, daß viele ältere Menschen in den neuen Bundesländern das Gefühl haben, zum zweitenmal in ihrem Leben gescheitert zu sein, was kaum zu verkraften ist; und das noch in Gegenden mit zum Teil realistischen Visionen von Landstrichen ohne junge Menschen, in denen durch den enormen Geburtenrückgang und die Übersiedlung jüngerer Einwohner in die westlichen Bundesländer - nur Alte, Kranke und moralisch Gebrochene zurückbleiben. ({1}) Sie können mir gerne eine Frage stellen; dann antworte ich Ihnen. Die zu bildende Enquete-Kommission muß also unbedingt die spezifischen Bedingungen des Alterns im Osten und Westen Deutschlands beachten und dabei die Erfahrungen des deutsch-deutschen Transformationsprozesses für strukturelle Reformen und Reorganisationen des Sozialstaates nutzen. Dabei können wir uns durchaus auch vorurteilsfreie Evaluierungen der von der älteren Generation angenommenen DDR-Regelungen vorstellen. Im übrigen: Wenn Sie etwas fragen wollen, dann machen Sie das richtig und stellen eine Zwischenfrage. Ich antworte Ihnen gerne. Da mir nur fünf Minuten Redezeit zur Verfügung stehen, kann ich nicht auch noch auf Zurufe reagieren. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Selbstverständlich können Zwischenfragen gestellt werden. Nur, es ist schwierig, den Redefluß von Frau Dr. Höll zu unterbrechen. ({0}) - Zurufe sind auch zulässig, Herr Dr. Hirsch. Wir kommen nun zum letzten Redebeitrag im Rahmen dieses Tagesordnungspunktes. Es spricht die Frau Ministerin für Familie und Senioren, Hannelore Rönsch. Bitte sehr.

Hannelore Rönsch (Minister:in)

Politiker ID: 11001870

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich begrüße es ausdrücklich, daß die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und F.D.P. sowie die Fraktion der SPD gemeinsam beantragt haben, eine Enquete-Kommission zu dem Thema „Zukunft der älter werdenden Generation" einzusetzen. Zwar ist die Arbeit im Ausschuß und in meinem Ministerium in vielen Bereichen schon so erschöpfend geleistet worden, daß das Aufnehmen der einen oder anderen Frage vielleicht nicht notwendig gewesen wäre - auch habe ich gemerkt, Frau Kollegin Fuchs, daß einige unserer Fragestellungen identisch sind; auf manche Frage ist bereits eine Antwort gegeben worden -, aber ich freue mich, daß die Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen über Ihren Fragenkatalog noch weit hinausgehende neue Perspektiven eröffnet haben, die wir hinterfragen müssen. Daß das zwingend erforderlich ist, hat nicht zuletzt der vorhergehende Redebeitrag gezeigt. Gerade in den letzten beiden Jahren haben wir hier im Parlament unsere ganz besondere Aufmerksamkeit den Männern und Frauen in den neuen Bundesländern gewidmet. ({0}) Daher muß der älteren Generation unsere besondere Aufmerksamkeit gelten; denn das ist die Generation, Herr Kollege Hirsch, die im DDR-Regime von der SED ausgesondert wurde. ({1}) Ich habe Verständnis, Frau Kollegin Höll, daß Sie Ihr besonderes Augenmerk jetzt auf die Älteren richten müssen; vielleicht ist das auch ein wenig ein Schuldanerkenntnis. ({2}) Die älteren Mitbürger in unserem Land, meine sehr geehrten Damen und Herren, haben Anspruch darauf, daß die mit der Gestaltung ihrer Zukunft zusammenhängenden Fragen und Probleme verantwortungsbewußt angegangen werden. Dazu gehört, daß wir konkrete Lösungsvorschläge ausarbeiten. Ich hoffe, Frau Kollegin Fuchs daher sehr, daß diese EnqueteKommission nicht dazu gedacht ist, „parteipolitisches Geplänkel", wie Sie es anläßlich der ersten Lesung des Haushalts 1993 wörtlich nannten, auszutragen, sondern daß sachlich zum Wohle der alten Menschen gearbeitet wird. Wir alle kennen die demographischen Daten, die auch heute wieder angesprochen worden sind. Es wird Aufgabe der Enquete-Kommission sein, die absehbaren Auswirkungen des demographischen Wandels auf den einzelnen und auf das Zusammenleben in der Gesellschaft sowie die Herausforderungen an unsere sozialen Sicherungssysteme und die menschengerechte Gestaltung unserer Arbeitswelt zu untersuchen. Hieraus ergibt sich ein sehr komplexer Fragenkatalog. Seine gründliche Untersuchung mit dem Ziel, dafür auch Lösungsvorschläge zu entwikkeln, wird Zeit benötigen. Wir sollten uns diese Zeit im Interesse zuverlässiger Ergebnisse unter allen Umständen nehmen. Gegenstand der Kommissionsarbeit kann meines Erachtens aber nicht nur die Untersuchung der Zukunftsperspektiven des Alterns sein. Die Kommission wird sich vielmehr auch mit ganz besonderem Gewicht den Fragen und Problemen der heute lebenden älteren Menschen zuwenden müssen. ({3}) Im vereinten Deutschland leben heute etwa 8 Millionen Menschen, die älter als 70 Jahre sind. Fast fünfeinhalb Millionen davon sind Frauen, gut zweieinhalb Millionen sind Männer. Im Jahre 1945, am Ende des Zweiten Weltkrieges, waren diese heute 70jährigen Männer und Frauen 23 Jahre alt, die heute 65jährigen waren damals gerade 18 Jahre alt. Ganz gleich, ob sie im Osten, Frau Dr. Höll, oder im Westen unseres Landes leben, diese Männer und Frauen haben ein gemeinsames Schicksal: Sie mußten in ihrer Jugend die Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und den Zweiten Weltkrieg durchstehen. Erst nach dem Krieg teilte sich diese historische Schicksalsgemeinschaft. In den alten Bundesländern ergab sich die Chance, unter sehr schwierigen Bedingungen ein großes Aufbauwerk in Gang zu setzen: eine stabile Demokratie zu errichten und mit harter Arbeit Wohlstand und soziale Gerechtigkeit zu sichern. Das ist heute die gute Basis, auf der wir das wiedervereinigte Deutschland aufbauen können und wollen. ({4}) Demgegenüber stand die Entwicklung in der ehemaligen DDR unter anderen Vorzeichen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Das Wort zu einer Zwischenfrage wünscht Frau Dr. Höll. - Bitte.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Ministerin Rönsch, bei Ihrer Darstellung ergibt sich für mich folgende Frage: Haben nicht die Menschen in der DDR, die inzwischen ein hohes Alter erreicht und 40 Jahre dort gelebt haben, auch gearbeitet, und waren sie nicht auch aus ehrlichem Willen tätig? ({0}) Eine weitere Frage besteht für mich darin, inwieweit man anerkennt, daß es tatsächlich verschiedene Lebensentwürfe gab. Die Frauen waren in der DDR zu 90 % berufstätig und haben somit völlig andere Lebenserfahrungen gewonnen. Sie haben auch ein anderes Leben bewältigt. ({1}) Muß man angesichts dessen nicht tatsächlich sagen, daß es zwei verschiedene „deutsche Alter" gibt? ({2})

Hannelore Rönsch (Minister:in)

Politiker ID: 11001870

Sehr geehrte Frau Dr. Höll, wenn Sie an dieser Stelle noch ein wenig Geduld gehabt hätten, hätten Sie festgestellt, daß ich darauf noch sehr ausführlich eingegangen wäre; ich werde das jetzt tun. - Selbstverständlich mußten die Menschen, die im anderen Teil Deutschlands gelebt haben, ebenfalls hart arbeiten. Sie haben nach dem Krieg die Ärmel hochgekrempelt und ihren Teil Deutschlands aufgebaut. Auch sie haben beachtliche Leistungen, eine enorme Aufbauleistung vollbracht, sind aber von dem politischen System und der sozialistischen Kommandowirtschaft um den Erfolg ihrer Arbeit gebracht worden. ({0}) Zunächst mußten die heute Älteren in der ehemaligen DDR nach 1945 die sowjetische Besatzung ertragen. Sie mußten Reparationen an die Sowjetunion leisten und 40 Jahre unter einer - diesmal unter sozialistischen Vorzeichen - neuen Diktatur leiden. Sie mußten also wesentlich mehr erdulden als viele andere, die zwar auch wie die Menschen in der Bundesrepublik - schwierige Startbedingungen hatten, die sich aber in Freiheit weiterentwickeln und Wohlstand erarbeiten konnten. Das hat das ehemalige SED-System den heute alten Menschen in 40 Jahren SED-Herrschaft untersagt. ({1}) - Auch das. Wir haben ja schon oft genug, Frau Kollegin Würfel, Gelegenheit gehabt, hier über die unbeschreiblichen Zustände zu reden. Ich hoffe, daß Sie, Frau Kollegin Höll, mithelfen, nicht nur darüber zu reden, sondern die wirklich schlimmen und teilweise menschenunwürdigen Bedingungen, unter denen alte Menschen, Pflegebedürftige und Behinderte leben, auch zu beheben. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist eine Frage der Solidarität, ja der Mitmenschlichkeit, gerade den älteren Menschen in den neuen Ländern so schnell wie möglich vergleichbare Lebensbedingungen wie in den alten Ländern zu schaffen. Daß ihr Lebensabend sicher ist, Frau Dr. Höll, das ist der Rentnergeneration in den neuen Bundesländern mittlerweile Gott sei Dank bekannt. Ich bin sehr froh darüber, daß den alten Menschen Sicherheit gegeben ist und Zukunftsangst genommen wird. Lassen Sie mich aber bitte noch auf einen weiteren Aspekt hinweisen, der in der vor uns liegenden Diskussion meines Erachtens von ganz besonderer Bedeutung ist: Es geht mir um die Frage, wie die politische Diskussion zum Abbau des leider noch immer einseitigen und häufig unzutreffenden Altersbildes in unserer Gesellschaft beitragen kann.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, Frau Minister?

Hannelore Rönsch (Minister:in)

Politiker ID: 11001870

Sehr gern.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Hämmerle, bitte, Sie haben das Wort.

Gerlinde Hämmerle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000777, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Ministerin, ich bin mit sehr vielem in Ihrer Rede einverstanden. Was Sie hier gesagt haben, kann ich über weite Strecken unterstreichen. Ich habe allerdings das Gefühl, daß Sie jetzt ein Sofortprogramm für die bereits alten Menschen entwickeln, was auch sehr wichtig ist. Sehen Sie aber nicht mit uns den eigentlichen Kernpunkt der Arbeit dieser Enquete-Kommission darin, daß wir uns mit Blick auf die jetzt noch jüngeren Menschen Gedanken darüber machen sollten, wie sich deren Alter gestaltet?

Hannelore Rönsch (Minister:in)

Politiker ID: 11001870

Frau Kollegin Hämmerle, ich bin mit Ihnen der Meinung, daß wir uns speziell um die jüngere Generation kümmern müssen, darum, wie sie in den Prozeß des Alterns eintritt. Zum Beispiel geht es darum - das ist heute schon angesprochen worden -, zu ermöglichen, daß sich insbesondere Frauen, nachdem sie ihre Erwerbstätigkeit vorübergehend aufgegeben haben, im Anschluß daran verschiedene berufliche Felder - immer auf freiwilliger Basis - selber erschließen können. Ich habe aber vorhin gesagt - das möchte ich noch einmal nachdrücklich betonen -, daß es mir auch darum geht, die jetzt lebende ältere Generation in der Arbeit der EnqueteKommission zu berücksichtigen. Wir müssen unsere Untersuchungen, sofern wir keine gesicherten Daten haben, auch auf eben diese Generation ausdehnen. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Ministerin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage von Frau Dr. Höll?

Hannelore Rönsch (Minister:in)

Politiker ID: 11001870

Aber gern.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte sehr.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Ministerin, Sie haben gesagt, die Bedingungen, die in der ehemaligen DDR herrschten, hätten auch etwas mit den Reparationsleistungen zu tun gehabt. Da klang für mich sehr großes Bedauern an. Meine Frage: War die Teilung Deutschlands nicht das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges, und stellten die Reparationsleistungen an die ehemalige Sowjetunion nicht eine - wenigstens teilweise - gerechte Entschädigung für den von Deutschland ausgegangenen Zweiten Weltkrieg dar? - Für mich ist Ihre Wertung etwas unverständlich.

Hannelore Rönsch (Minister:in)

Politiker ID: 11001870

Reparationszahlungen an die Siegermächte sind in unterschiedlicher I löbe geleistet worden. Die ehemalige DDR mußte Reparationen an die Sowjetunion zahlen, die, wie mir auch ehemalige DDR-Bürger immer wieder bestätigt haben, für sie eine unerträgliche Höhe hatten. ({0}) Die Industrieanlagen wurden regelrecht demontiert. Andere Besatzungsmächte, z. B. die Amerikaner - davon konnten wir partizipieren -, haben uns beim Aufbau der Bundesrepublik mit dem Marshallplan geholfen. Damit haben sie den finanziellen Grundstock für unsere freie Soziale Marktwirtschaft gelegt. ({1}) Dafür möchte ich den Amerikanern an dieser Stelle noch einmal herzlich danken. Ich denke, daß sich daran auch andere hätten orientieren können. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Minister, wollen Sie noch eine Zwischenfrage zulassen? - Bitte, Herr Kollege Link.

Walter Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001348, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Minister, sind Sie mit mir der Auffassung, daß es doch der eindeutige Auftrag der nun einzusetzenden Kommission ist, die Ergebnisse der jetzt lebenden älteren Generation zugute kommen zu lassen, und daß wir diese Ergebnisse - auch Fehler, die wir eventuell gemacht haben - in die Generation einbringen, die in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren dann zur älteren Generation gehören wird? Ich glaube, daß ist eindeutig und klar, jedenfalls so, wie wir von der CDU/CSU die Formulierung dieses Auftrags verstanden haben,

Hannelore Rönsch (Minister:in)

Politiker ID: 11001870

Herr Kollege Link, da stimme ich Ihnen in vollem Umfang zu. Aber lassen Sie mich noch einmal auf den Aspekt hinweisen, der in der vor uns liegenden Diskussion von besonderer Bedeutung ist; ich möchte nicht, daß das untergeht. Mir geht es darum, wie wir die Diskussion in der Enquete-Kommission führen. Es muß deutlich werden, daß ein häufig anzutreffendes einseitiges Bild vom Alter in unserer Gesellschaft nicht bestehen kann. Wir dürfen nicht dazu beitragen, daß es weiterentwickelt wird. Die Art und Weise, wie in der politischen Diskussion über Alter gesprochen wird, hat ohne Zweifel auch unmittelbar Einfluß auf das Bild vom Alter in unserer Gesellschaft. Die Frage ist doch: Wie soll sich in der öffentlichen Meinung eine realistische Vorstellung von den Problemen der älteren Generation, aber auch den tatsächlich vorhandenen Chancen und Potentialen des Alters bilden, wenn in der politischen Diskussion hauptsächlich von finanzieller Abhängigkeit der Alten und von gesundheitlicher Gebrechlichkeit die Rede ist? ({0}) Einprägsame Schlagworte wie „Rentnerberg", „Alterslast", „Krieg der Generationen" usw. verweisen direkt oder indirekt auf ökonomische Lasten, die mit dem Altern von Menschen und ihrem wachsenden Anteil an der Bevölkerung verbunden sein können, aber doch keineswegs zwangsläufig verbunden sind. Frau Kollegin Fuchs, lassen Sie mich auch Sie bitten, weil das auch in Ihrem Beitrag wieder anklang, daß wir Begriffe wie „Alterslast" vermeiden; denn der größte Teil der älteren und der alten Menschen ist für die Gesellschaft keine finanzielle Belastung. Wir sollten mit pauschalen Äußerungen vorsichtig sein. ({1}) - Auch „Altersberg" ist meines Erachtens eine negative Bezeichnung. Ich glaube, daß wir damit bei der jungen Generation Angst vor Belastungen - auch vor finanziellen Belastungen - in der Zukunft auslösen können. Das sollten wir jedoch unter gar keinen Umständen tun. Diese Worte und Begriffe überzeichnen die Probleme. Ich denke, daß wir gerade der jungen Generation Mut machen müssen, mit der älteren Generation zusammenzuarbeiten, mit ihr zu kommunizieren und sie nicht als Last zu verstehen. ({2}) Ich möchte nicht mißverstanden werden, und ich möchte auch keineswegs die Probleme, die wir gerade bei der Bewältigung der Zukunft der älteren Menschen haben wegdiskutieren oder verniedlichen. Wir werden gerade durch den demographischen Wandel in unserer Gesellschaft vor große Herausforderungen gestellt. Ich plädiere allerdings für eine realistische Einschätzung und für eine problemangemessene Wortwahl. Ich meine, das sind wir unseren alten Menschen schuldig. Ich gehe davon aus, daß die Enquete-Kommission ihre Arbeitsaufträge im Interesse der älteren und der alten Mitbürger in unserem Lande mit großer politischer Verantwortung und wissenschaftlicher Sorgfalt erledigen und positive wie negative Zukunftsperspektiven hinterfragen wird. Für das Bundesministerium für Familie und Senioren möchte ich die Bereitschaft bekunden, die Arbeit der Kommission - aber immer nur, soweit dies als Unterstützung vom Ministerium gewünscht wird - zu begleiten. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. auf Einsetzung einer Enquete-Kommission „Zukunft der älter werdenden Generation", Drucksache 12/3461. Wer stimmt für diesen Antrag? - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Bei unterschiedlichem Stimmverhalten der PDS/Linke Liste mit Zustimmung, Enthaltungen und Ablehnung hat das übrige Haus diesem Antrag zugestimmt. Damit ist die Enquete-Kommission „Zukunft der älter werdenden Generation" eingesetzt. Wir wünschen allen, die in dieser Kommission mitarbeiten werden, gute Erfolge. Gemäß Nummer 5 des soeben angenommenen Antrags sind die Anträge auf den Drucksachen 12/2272 und 12/3460 dieser Kommission zur Beratung zugewiesen worden. Ich rufe die letzten Punkte der Tagesordnung auf, und zwar den Punkt 16 a bis c und die Zusatzpunkte 6 bis 8: 16. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste Verlängerung des Abschiebestopps für Kurdinnen und Kurden - Drucksache 12/3215 -Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({0}) Auswärtiger Ausschuß b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste Sofortige Wiedereinsetzung des Waffenembargos gegen die Türkei und Einstellung jeglicher Polizeihilfe und polizeilicher Zusammenarbeit - Drucksache 12/3216 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({1}) Innenausschuß c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste Einstellung der geheimdienstlichen und polizeilichen Zusammenarbeit mit der Türkei - Drucksache 12/3217 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({2}) Innenausschuß ZP6 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({3}) zu dem Antrag der Gruppe der PDS/ Linke Liste Bericht der Bundesregierung zu der Entwicklung in der Türkei - Drucksachen 12/987, 12/2887 Berichterstattung: Abgeordnete Christian Schmidt ({4}) Freimut Duve Dr. Cornelia von Teichman Dr. Hans Modrow ZP7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta Zapf, Rudolf Bindig, Dr. Ulrich Böhme ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Einstellung der Militärhilfe, Erstellung eines Konzepts für Wirtschaftshilfe und Bericht über Lieferungen an die Türkei - Drucksache 12/3434 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({6}) Verteidigungsausschuß Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit ZP8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta Zapf, Hermann Bachmeier, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Verlängerung des befristeten Abschiebestopps für Kurden und Kurdinnen - Drucksache 12/3435 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({7}) Rechtsausschuß Interfraktionell ist für die Aussprache eine Fünfminutenrunde vereinbart worden, wobei die Gruppe PDS/Linke Liste zehn Minuten Redezeit erhalten soll. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst unserer Frau Kollegin Ulla Jelpke das Wort.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erst vor zwei Wochen war ich mit einer bundesdeutschen Delegation in der Türkei/Kurdistan. Trotz massiver Behinderungen seitens der türkischen Sicherheitskräfte und Polizei konnten wir uns wieder einmal davon überzeugen, daß der Krieg im Südosten der Türkei Menschenvernichtung bedeutet. Erst wenige Wochen zuvor hatten Massaker und brutale Übergriffe der türkischen Sicherheitskräfte gegen die Zivilbevölkerung in Sirnak stattgefunden. Tausende flüchteten in andere kurdische Orte und Städte, weil ihre Stadt faktisch unbewohnbar zerbombt worden war. Die Fortsetzung findet in den Gebieten Kulp, Cisre, Kiziltipe, aber auch an der türkisch-irakischen Grenze statt. Obwohl Augenzeugen berichten, daß die türkischen Sicherheitskräfte Wohnhäuser und Arbeitsstätten zerstören, Menschen willkürlich verhaften und während des Verhörs foltern, behaupten die türkische Regierung und das Militär immer wieder, die PKK habe die Orte angegriffen. Seltsamerweise - so dokumentieren auch hierzulande die Medien - sind die Militär- und Polizeistationen nicht einmal durch Einschußlöcher als Angriffspunkte auszumachen. Wer auch nur einen einzigen Tag die Medien in der Türkei verfolgt hat, weiß, daß gebetsmühlenartig der angebliche Terrorismus der PKK beklagt wird - nach dem Motto: Man muß es nur oft genug sagen, dann verinnerlicht die Bevölkerung solche Lügen. Wer immer sich in den türkisch-kurdischen Gebieten aufgehalten hat, weiß, daß die Zivilbevölkerung auf die Frage nach ihrem Verhältnis zur PKK antwortet: „Die PKK ist das Volk; das Volk ist die PKK." Eine Guerilla, die ihr Volk terrorisiert und massakriert, könnte aber unmöglich eine so breite Unterstützung im kurdischen Volk haben. Bundesdeutsche Delegationen, aber auch solche aus dem europäischen Ausland bestätigen diese Wahrnehmung immer wieder. Ein türkischer Journalist aus Diyarbakir sagte uns: Man müsse zur Zeit als Realität anerkennen, daß es in der Region zwei bewaffnete Kräfte gebe. Dies seien zum einen die PKK und zum anderen die türkischen Sicherheitskräfte. Dort, wo der türkische Staat die Macht habe, reagiere er auf Attacken der Guerilla der PKK mit massiven Angriffen gegen die örtliche Zivilbevölkerung. Ob uns das gefällt oder nicht: Seit den NewrozFeiern im März dieses Jahres führt die türkische Regierung eine militärische Großoffensive gegen das kurdische Volk durch. Mehr als eine halbe Million türkischer Soldaten befinden sich im Ausnahmezustandsgebiet Türkei/Kurdistan. Demgegenüber werden Zahlen von 10 000 PKK-Kämpfern und -Kämpferinnen gehandelt. Wer die Geschichte des kurdischen Volkes in den letzten Jahrzehnten verfolgt hat, weiß, daß im Irak, im Iran, in Syrien, in der Türkei, aber auch in den europäischen Ländern wie z. B. der BRD das Selbstbestimmungsrecht der Kurden nicht anerkannt wird. Die sogenannte Demokratisierung der Regierung Demirel, die in diesem Hause gern zitiert wurde, hat es in Wahrheit nie gegeben. Bis zum heutigen Tage dürfen Kurden und Kurdinnen ihre Sprache nicht schreiben und ihre Kultur nicht leben. Die Situation in der Türkei/Kurdistan hat sich in den letzten Monaten dramatisch zugespitzt. Hunderte von Menschen aus der Zivilbevölkerung sind ums Leben gekommen, Hunderte sind schwer verletzt. Tausende von Kurden und Kurdinnen sind oder wurden verhaftet, und viele bekamen die brutalen Foltermethoden des türkischen Sicherheitsstaates zu spüren. Allein in diesem Jahr sind acht Journalisten und etliche politische Repräsentanten des kurdischen Volkes aus Menschenrechtsvereinen und der HEP erschossen worden. Ganz offen wird gegenwärtig über Sinn und Unsinn eines Militärputsches in der Türkei diskutiert. Zeitungen wie „Gündem" oder „Yeni Ülke", die über die Ereignisse in den kurdischen Gebieten berichten, stehen unmittelbar vor einem Verbot. Noch dramatischer steht es um die politische Vertretung des kurdischen Volkes und ihrer Abgeordneten im türkischen Parlament. Neben einem Verbot der HEP wird gegenwärtig die Aufhebung der Immunität der kurdischen Abgeordneten durch das türkische Parlament in Ankara vorbereitet. Ahmet Türk, Vorsitzender und Fraktionsvorsitzender der HEP, sagte uns: Die Lösung des Problems der Freiheit für Kurdistan ist nur durch einen ernsthaften Dialog möglich. Inzwischen ist die Situation in der Türkei so, daß die Ebene der Menschenrechtsverletzungen schon längst überstiegen ist. Der Wunsch des kurdischen Volkes nach seiner Freiheit soll endgültig zum Schweigen gebracht werden. Es gibt eine große Repression nicht deshalb, weil es die PKK gibt, sondern weil das kurdische Volk zum Ausdruck bringt, daß es die Freiheit will und nicht länger in Sklaverei leben will. Aber der türkische Staat hat bestimmte Methoden gewählt, diesen Freiheitskampf zu liquidieren. So sagt Demirel: Es gibt keine politische Lösung, es gibt nur eine militärische Lösung. Der Generalstabschef sagt das gleiche. Wir, die HEP, sind eine Partei aus der Türkei. Wir wollen Freundschaft zwischen dem türkischen und kurdischen Volk. Aber weil wir die Werte des kurdischen Volkes verteidigen, werden wir als kurdische Partei und als Sympathisanten der PKK dargestellt. Aber es gibt keine Abhängigkeit der HEP von der PKK. Doch wenn das kurdische Volk täglich massakriert und schikaniert wird, müssen wir das Schweigen brechen. Auch in der Bundesrepublik muß das Schweigen gebrochen und das Taktieren mit den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei endlich beendet werden. Wenn die Immunität der kurdischen Abgeordneten aufgehoben wird, werden die meisten ins Gefängnis kommen, weil die türkische Justiz bereits seit Monaten in einer Klageschrift die Todesstrafe wegen separatistischer Sympthiesantenschaft fordert. Daß die Türkei nach dem Zusammenbruch der UdSSR ein wichtiger machtpolitischer Brückenkopf in der islamischen Welt bzw. der Golf-Staaten geworden ist, wird kaum jemand ernsthaft bezweifeln. Nicht zuletzt ist dies der Grund, warum die Bundesregierung, wenn es um die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei geht, so auffällig untätig bleibt. Deshalb fordern wir: Erstens. Sofortiges Waffenembargo gegen die türkische Regierung. Meines Erachtens bedarf es k einerlei Beweises mehr, daß der Krieg in Türkei/Kurdistan vorwiegend mit deutschen Waffen geführt wird. Filme, Fotos und Augenzeugenberichte gibt es mehr als genug. Schon diese Tatsache rechtfertigt den Vorwurf der Mitverantwortung der Bundesregierung am Völkermord gegen die Kurden. Wenn Verteidigungsminister Rühe „die Rüstungshilfe für die Türkei erheblich einschränken will" und künftig der Schwerpunkt auf „wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit" gelegt werden soll, dann ist das genau die Fortsetzung der bisherigen Politik. Leider unterscheidet sich die SPD-Fraktion in diesem Punkt nicht von der Politik des Verteidigungsministers gegenüber der Türkei. Menschenrechtsverletzungen sind nicht durch Haushaltspolitik lösbar, sondern bedürfen einer kla9746 ren Position gegen sie. Diese vermag ich erst recht nicht zu erkennen, wenn plötzlich eine Vermischung bzw. Gleichstellung mit Ländern wie Griechenland oder Portugal vorgenommen wird. Ich bin für ein generelles Verbot von Waffenexporten. Aber dieser Antrag der SPD trägt doch deutlich den taktischen Zug, daß sie es nicht mit der türkischen Regierung verderben will. Ich bin jedenfalls gespannt auf die Erklärung der SPD dazu. Zweitens. Einstellung der geheimdienstlichen und polizeilichen Zusammenarbeit mit der Türkei. Die türkischen Tageszeitungen „Hürriyet" und „Milliyet" berichteten Ende August 1992, daß die Zusammenarbeit der türkischen und der deutschen Geheimdienste intensiviert worden sei. Insbesondere „Hürriyet" wußte zu berichten, daß bundesdeutsche Geheimdienste Informationen über hier lebende oppositionelle Türken und Kurden an die Türkei weitergeben und im Gegenzug dafür die deutschen Geheimdienste über den Drogenhandel informiert werden. Ich kann diesen Antrag hier aus Zeitgründen nicht näher diskutieren, hoffe aber, daß diese skandalösen Behauptungen im Ausschuß geklärt werden können. Drittens. Verlängerung des Abschiebestopps. Völlig unverständlich ist mir, weshalb der Antrag heute nicht zur Abstimmung gestellt wird. Angesichts der Tatsache, daß auch die türkische Opposition in der Türkei verfolgt wird, ist die Einstufung der Türkei als Verfolgerland längst überfällig. Seit Anfang Oktober werden Kurden, etwa in Bremen, abgeschoben. Den Eiertanz der SPD in Bund und Ländern vermag ich nicht mehr nachzuvollziehen, Vielleicht hilft es, wenn ich Ihnen berichte, daß selbst die deutsche Botschaft in Ankara in ihrem jüngsten Bericht über die Türkei von „ethnischer Säuberung" spricht. Dies wurde mir jedenfalls in einem persönlichen Gespräch in Ankara mitgeteilt. Ob das Auswärtige Amt diese Einschätzung teilt, konnte ich bislang nicht überprüfen, weil ich seit zwei Wochen auf den Bericht des Auswärtigen Amtes warte. Viertens. Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Türkei. Seit Juli 1991 fordern wir die Wiedereinführung der Berichtspflicht über die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei durch die Bundesregierung. Mit den Stimmen der SPD und bei Enthaltung des BÜNDNISSES 90 wurde dieser Antrag abgelehnt. Interessanterweise wird in dem Bericht des Auswärtigen Ausschusses die Ablehnung damit begründet, daß im April dieses Jahres eine Bundestagsdelegation nach Türkei/Kurdistan fährt. Seit Ende August bemühe ich mich nun, über diese Reise, die stattgefunden haben soll, informiert zu werden. Diese Woche ist mir nun endlich mitgeteilt worden, daß der Bericht erst angefertigt wird. Ich frage mich, wie ernsthaft in diesem Zusammenhang das plötzliche Umdenken der SPD-Fraktion gemeint ist. Ihre Fraktion war bei dieser Delegationsreise jedenfalls dabei; wir waren es nicht. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich erteile der Frau Kollegin Erika Steinbach-Hermann das Wort.

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe nun die interessante Aufgabe, in fünf Minuten eine differenzierte Darstellung der Haltung der CDU/ CSU zu den schmalen Themen Abschiebestopp für Kurden, Waffenembargo gegen die Türkei und Polizeihilfe für die Türkei zu geben. Sollte dabei wider Erwarten einiges an Feinheiten nicht zur Sprache kommen, müßten wir es in den Ausschüssen diskutieren. Dafür bitte ich um Nachsicht. Die PDS/Linke Liste beantragt die Wiedereinsetzung des Waffenembargos gegen die Türkei. Unser NATO-Partner Türkei spielt eine wichtige Rolle als stabilisierende Regionalmacht an der Grenze zu drei Krisenzonen: dem Transkaukasus, dem Balkan und dem Nahen und Mittleren Osten. Eine militärisch präsente Türkei liegt deshalb sowohl im europäischen als auch in unserem deutschen Interesse. In einem kontrollierten Maße sollte die Türkei zu diesem Zwecke unterstützt werden. Trotzdem sind wir natürlich nicht blind für die Bedenken, deutsches Gerät könnte von der türkischen Regierung nicht nur zur Landesverteidigung, sondern auch im Inneren eingesetzt werden. Deshalb hat die Bundesregierung entsprechende Maßnahmen ergriffen. Sie, Frau Kollegin, haben sogar einiges davon zitiert. Wir halten das, was geplant ist, für richtig. Die Wiederaufnahme der Verteidigungshilfe ist jetzt an die Bedingung geknüpft, daß sie nur im NATO-Rahmen verwendet werden darf. Die Überwachung dieser Bedingung wird ernstgenommen. In einem dritten Abkommen über Materialhilfe sind nur genau kontrollierte, schrittweise freigegebene sogenannte Lieferpakete vorgesehen. Jede weitere Materialhilfe ist von der politischen Entwicklung in der Türkei und von dem Fortgang der Reformprozesse im Lande abhängig. Damit hat die Bundesregierung den Bedenken über einen Einsatz deutscher Waffen, meinen wir, ausreichend Rechnung getragen. Außerdem will die PDS in ihrem Antrag - auch das wurde vorhin gesagt , daß wir die Zusammenarbeit mit der Türkei auch auf polizeilicher Ebene völlig einstellen. Ob es uns paßt oder nicht, die Türkei ist nun einmal das Haupttransitland für Herointransporte auf dem Landweg nach Europa. Wenn wir den organisierten Rauschgifthandel wirksam bekämpfen wollen, dann sind eine Zusammenarbeit mit der türkischen Polizei und eine materielle Unterstützung der dortigen Rauschgiftfahndung also unabdingbar. Mit einer Einstellung dieser Zusammenarbeit würden wir nicht so sehr der türkischen Regierung, sondern viel mehr uns selbst schaden. Das kann nicht unser Anliegen sein. Was die Forderung in Ihrem Antrag nach Berichterstattung der Bundesregierung über die Lage in der Türkei insgesamt betrifft, so kann ich mich hier nur dem Votum des Auswärtigen Ausschusses anschließen. Auch ich sehe derzeit keine Notwendigkeit für einen solchen Bericht. Nun zu Ihrem letzten Thema, dem Abschiebestopp für Kurden. Ein Abschiebestopp kann und sollte dann erfolgen oder ermöglicht werden, wenn die Situation in dem Gebiet, in das abgeschoben werden soll, auf Grund etwa einer militärischen Auseinandersetzung derart angespannt ist, daß man aus humanitären Gründen niemandem zumuten kann, dorthin zurückzukehren. ({0}) Aber das gilt für das Land insgesamt, nicht nur für eine Region. ({1}) Auf Grund der sowieso schon höchst bedrängenden Flüchtlingslage hier bei uns in Deutschland sollte ein Abschiebestopp aber nur in ganz besonders begründeten Fällen gestattet werden. Als z. B. der jetzt auslaufende Abschiebestopp für Kurden beschlossen wurde, lag in der Türkei eine außergewöhnliche Situation vor. Viele Kurden, die damals aus dem Irak in die Türkei geflohen waren, mußten von der Türkei versorgt werden. Da wollte man seitens der Bundesrepublik die eigentlich von hier abzuschiebenden Kurden nicht dorthin zurückschicken, um die Lage nicht noch mehr zu verschärfen. Doch dieses Problem hat sich heute ganz erheblich und ganz entscheidend entspannt. Was die in dem Antrag angesprochene militärische Bedrohung angeht, so betrifft diese ja nur einen sehr begrenzten Raum und eine begrenzte Zahl von Menschen. In der Türkei leben derzeit 12 Millionen Kurden, davon aber nur die Hälfte in den rein kurdischen Siedlungsgebieten. Wieder nur ein ganz kleiner Teil dieser Gebiete ist von den Auseinandersetzungen zwischen PKK und türkischen Sicherheitskräften betroffen, also nicht das ganze Land. Es ist daher völlig unsinnig, zu behaupten, daß Kurden, die von Deutschland in die Türkei abgeschoben werden, gezwungen seien, genau in diesen Regionen zu leben. Wir können deshalb nicht erkennen, daß es einen triftigen Grund dafür gibt, den Abschiebestopp zu verlängern. Darum werden wir in dieser Frage unsere Haltung nicht ändern. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich erteile unserer Kollegin Uta Zapf das Wort.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist in der Tat ein Kunststück, in einer Debatte von knapp einer halben Stunde und in Fünf-Minuten-Redebeiträgen ein solches Thema hier auch nur annähernd erschöpfend zu behandeln. In zwei der Anträge, die die PDS gestellt hat, werden zwei ganz wichtige Themen behandelt, die in der Tat eine Bundestagsdebatte größeren Ausmaßes wert wären, nämlich die Waffenlieferungen an die Türkei und der Abschiebestopp. Frau Kollegin Steinbach-Hermann, ich kann Ihre Einschätzung der Situation der Kurden in der Türkei nicht zustimmen. Ich habe allerdings eine andere Weise, an die Probleme heranzugehen, als Frau Jelpke. In der Analyse der Tatsachen der politischen Situation stimmen wir überein. Einige Bundesländer haben gebeten, diesen Abschiebestopp für Kurdinnen und Kurden zu verlängern. Ich möchte die anderen Bundesländer auffordern, sich diesen Ländern anzuschließen. Den Herrn Innenminister möchte ich auffordern, dieser Verlängerung stattzugeben; denn weder im Irak noch im Iran noch in der Türkei gibt es augenblicklich Sicherheit für die Kurden. Die Lage der kurdischen Bevölkerung im Nordirak ist durch das Wirtschaftsembargo der Regierung in Bagdad und durch dauernde Übergriffe des irakischen Geheimdienstes und des Militärs bedroht. Im Nordirak kämpfen Verbände der neuen Föderalregierung gegen die terroristische türkische PKK. Die Türkei ihrerseits hat die Grenzen zum Irak dichtgemacht und ihre Truppen massiert; sie greift nach Presseberichten in die Kämpfe in den nordirakischen Gebieten ein. Die Region, meine Damen und Herren, steht am Rand eines Bürgerkriegs. Im Iran werden Kurden verfolgt. Eine bisher von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkte Repression findet dort statt. Nur die ungeklärten Morde, die von Zeit zu Zeit hier und da in Deutschland passieren, machen auf dieses Problem aufmerksam. Auch im Iran gibt es bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Peschmergas und Militärs. Aber in der Tat stellt sich für uns am dramatischsten die Situation in der Türkei dar. Dies liegt natürlich auch daran, daß wir von der Türkei am meisten wissen und daß die Türkei uns als Land am nächsten steht: Sie ist immerhin assoziiertes EG-Mitglied und NATO-Partnerin. Seit 1984 kamen im Zuge der Auseinandersetzungen um die Kurdenfrage ungefähr 5 000 Menschen in der Türkei ums Leben, allein ein Drittel davon in 1992. Die politische Situation in den südostanatolischen Gebieten der Türkei eskaliert von Tag zu Tag: ungeklärte Morde an Journalisten, die kritische Positionen vertreten, Mordanschläge und Morde an kurdischen Politikern, die für die kurdische Frage eintreten, und mysteriöses Verschwinden von Personen, das nie aufgeklärt wird. Türkische Militäreinheiten greifen türkische Städte und Dörfer an. Ministerpräsident Demirel erwägt die Verhängung des Kriegsrechts in den südöstlichen Provinzen. Das Kurdenproblem in der Türkei droht sich über den Bereich der südostanatolischen Provinzen hinaus auszuweiten und das soziale Gefüge des türkischen Staates zu erschüttern. Die innerstaatliche Fluchtmöglichkeit, Frau Kollegin Steinbach-Hermann, für türkische Kurdinnen und Kurden ist nicht mehr gewährleistet. Deshalb ist Ihr Argument nicht stichhaltig. Die SPD-Fraktion hat wiederholt in Anträgen darauf hingewiesen, daß es Zeit ist, das unangemessene Konzept von Rüstungshilfe nicht nur für die Türkei, sondern auch für andere Länder wie Griechenland und Portugal zu überprüfen. Wir sind der Meinung, daß diesen Ländern mit einer Wirtschaftshilfe und einem vernünftigen Wirtschaftshilfekonzept mehr gedient ist als mit Lieferungen von Waffen. Minister Rühe hat in bezug auf die Türkei im Verteidigungsausschuß zugesagt, daß sich zum einen die weitere Materialhilfe an der politischen Entwicklung der Türkei orientiert und daß zum anderen eine konsequente Fortsetzung des von der Regierung Demirel begonnenen Reformprozesses Voraussetzung für weitere Lieferungen ist. Die SPD nimmt die Bundesregierung hier beim Wort: Erstens. Da sich die innenpolitische Lage in der Türkei dramatisch verschärft hat, der Reformprozeß darüber hinaus ins Stocken geraten ist und es immer wieder verläßliche Berichte über vertragswidrigen Einsatz deutschen Wehrmaterials im Inneren der Türkei gibt, dürfen die Waffenlieferungen nicht wieder aufgenommen werden. Zweitens. Wegen der politischen Fragwürdigkeit des Konzepts der Rüstungs- und Ausstattungshilfe muß die Zusammenarbeit mit der Türkei, Griechenland und Portugal neu ausgerichtet werden. Wir fordern ein Wirtschaftshilfekonzept. Drittens. Wegen der unzureichenden und widersprüchlichen Angaben in den Sachstandsberichten der Bundesregierung zur Ausstattungs- und Verteidigungshilfe für die Türkei verlangen wir einen umfassenden Bericht. Darüber hinaus bitten wir, in diesem Bericht auch die Ausbildungs- und Ausrüstungshilfe der Polizei und der sonstigen Sicherheitskräfte darzulegen. Danach werden wir vielleicht in eine seriöse Diskussion über diesen Bereich eintreten können. Das Problem Kurden kann nur im Zusammenhang betrachtet und gelöst werden. Das Europäische Parlament hat eine unterstützenswerte Entschließung verabschiedet. Es fordert die Einberufung einer Konferenz im KSZE-Rahmen. Ich meine, diese Initative muß unter Einbeziehung der Länder Iran, Irak und Syrien erweitert werden. Wir fordern die Bundesregierung auf, zu der Initiative des Europäischen Parlaments positiv Stellung zu beziehen und im Rahmen der UNO das Kurdenproblem auf die Tagesordnung zu setzen. Die hier zur Debatte stehenden Anträge behandeln Fragen und Teilaspekte, die das Resultat eines gravierenden politischen Problems sind, das im Lauf und als Folge des Golfkonflikts überhaupt erst in das Bewußtsein der politischen Öffentlichkeit gedrungen ist: der Kurdenfrage. Wenn dieses Problem nicht friedlich gelöst wird, wird es auf absehbare Zeit keinen Frieden im Nahen Osten geben. Es ist eine Verpflichtung dieses Parlaments, zu einer friedlichen Lösung in diesem Teil der Welt beizutragen. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich unserem Kollegen Dr. Burkhard Hirsch das Wort.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben das Verhältnis zur Türkei in diesem Hause so oft erörtert, daß ich mich auf wenige grundsätzliche Bemerkungen beschränken kann. Die Türkei ist ein wichtiger Partner Deutschlands und der Europäischen Gemeinschaft. Sie ist Mitglied des Europarats seit 1950, assoziiertes Mitglied der Europäischen Gemeinschaft seit 1984 und in der Region von wachsender Bedeutung als ein Land mit echtem Mehrparteiensystem nach dem Vorbild westlicher Demokratien. Ihre Bedeutung im Verhältnis zu den fünf neuen Ländern der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, in denen Turkvölker leben, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. In der Bundesrepublik leben gut zwei Millionen Menschen aus der Türkei, unter ihnen viele Kurden. Schon darum haben wir für die Türkei eine besondere Bedeutung. Wir können also nicht undifferenziert auf diesem Land herumdreschen, sondern müssen seine innenpolitischen Probleme ernst nehmen. Die Türkei weiß, daß die Einhaltung der Menschenrechte für uns von außerordentlicher Bedeutung ist und daß die Beziehungen der Türkei zu Europa letzten Endes davon abhängen, daß sie in der Menschenrechtsfrage nicht auf halbem Wege stehen bleibt, d. h. die Menschenrechte nicht nur auf dem Papier garantiert, sondern ihre Beachtung auch tatsächlich durchsetzt. Sie hat insbesondere in ihrem Rechtssystem in dieser Frage wesentliche Fortschritte gemacht. Aber das allein reicht nicht aus. Es gibt in der Tat Folter in der Türkei, und es gibt nicht aufgeklärte Ermordungen mißliebiger Journalisten und Politiker. Wir sind der Überzeugung, daß die Türkei nicht zu einem inneren Frieden, sondern im Gegenteil zu einer immer stärkeren Eskalation der Gewalt kommen wird, wenn sie den kurdischen Bevölkerungsteil nicht als eine zu schützende Minderheit anerkennt und ihn durch militärische Einsätze immer mehr der PKK zutreibt. Deren Ziel ist kein demokratischer Ausgleich, sondern die bewaffnete Auseinandersetzung. Sie richtet Terrorakte auch gegen die kurdische Bevölkerung, um sie unter die eigene Botmäßigkeit zu zwingen. Die Türkei hat wie jeder Staat das Recht, sich gegen Separatismus und gegen den Versuch zu wehren, politische Ziele mit Gewalt, mit einer Privatarmee und mit Terror durchzusetzen. Aber es ist meine feste Überzeugung, daß sie das Problem der kurdischen Minderheit nicht mit militärischen Mitteln lösen kann, sondern daß sie auf diesem Wege für sich selbst äußerste Gefahren erzeugt. Kein Staat kann ungestraft die eigene Armee gegen das eigene Volk einsetzen. ({0}) Auch hier gilt der Satz: Wer zu spät kommt, wer zu spät begreift, den bestraft das Leben, der erreicht das Gegenteil dessen, was er eigentlich will. Wir bestehen in diesem Zusammenhang darauf, daß die ausdrückliche Zusage exakt eingehalten wird, von der Bundesrepublik gelieferte Waffen ausschließlich zur Landesverteidigung, also gegen eine Bedrohung von außen einzusetzen. Ein Verstoß gegen diese Zusage müßte und würde eindeutige Folgen auslösen. Das ist auch für uns eine Frage der Selbstachtung. Der Antrag auf Verlängerung des Stopps von Abschiebungen von Kurden sollte im Innenausschuß möglichst bald näher behandelt werden. ({1}) Die Initiative liegt nach dem Ausländergesetz bei den Bundesländern. Wenn entsprechende Anträge vorliegen, sollte sich die Bundesregierung solchen Anträgen nicht verweigern, zumindest wenn es sich um Personen aus dem Südosten der Türkei handelt, wo ein ziviler Ausnahmezustand herrscht und auch die Zivilbevölkerung immer mehr zum Opfer bewaffneter Auseinandersetzungen geworden ist. Dort sind allein im ersten Halbjahr dieses Jahres über 550 Menschen ums Leben gekommen. Wir erinnern dabei daran, daß die Frage des pauschalen Abschiebestopps die Rechtslage derjenigen Fälle völlig unberührt läßt, in denen die individuelle Gefahr der Folter, der Todesstrafe, der erniedrigenden Behandlung oder der politischen Verfolgung droht. Das sind Abschiebungshindernisse, die unabhängig von einer generellen Regelung der Einzelfallprüfung und auch der gerichtlichen Nachprüfung unterliegen. Generelle Lösungen beziehen sich also auf Fälle, in denen eine individuelle Gefahr nicht nachgewiesen werden kann, und dienen außerdem natürlich der Verwaltungsvereinfachung. Grundsätzlich gilt aber: Wir wollen keine Abschiebungen in Gebiete mit Ausnahmezustand, und wir befinden uns dabei in der Tradition unserer Verfassung. Unsere Fraktion will die guten und freundschaftlichen Beziehungen zur Türkei erhalten. Wir appellieren erneut an die Türkei und wollen ihr dabei helfen, den Weg nach Europa außen- und innenpolitisch fortzusetzen. Da dies vermutlich meine letzte Rede in diesem Hause, dem „Wasserwerk", ist, möchte ich zum Schluß eine ganz andere Bemerkung machen: Ich sehe den Abschied von diesem Hause nicht mit einer gewissen Wehmut, weil die parlamentarische Arbeit in diesem Raum nicht so reibungslos funktioniert, wie es eines Parlamentes würdig ist. Ich fühle mich immer an den sehr schönen Saal des Kreistages des RheinSieg-Kreises erinnert - womit ich nichts gegen den Rhein-Sieg-Kreis sagen will; der Saal ist, wie gesagt, sehr schön. Wir ziehen aber in ein anderes Provisorium, in ein Haus, das traditionslos ist und dessen äußere Architektur mich nicht mehr beeindruckt als die des „Lampengeschäftes" in Ost-Berlin. ({2}) Darum hoffe ich, daß wir nicht lange in diesem Provisorium bleiben müssen, sondern möglichst bald in das endgültige Parlament, das Reichstagsgebäude in Berlin, umziehen können. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich schließe die Aussprache mit dem Hinweis, daß alle Redner ihre Redezeit überzogen haben, auch Herr Dr. Hirsch mit seiner letzten Bemerkung. Nun kommen wir zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zum Bericht der Bundesregierung zu der Entwicklung in der Türkei. Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/2887, den Antrag der Gruppe der PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/987 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Gegenstimmen der Gruppe PDS/Linke Liste ist die Beschlußempfehlung angenommen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/3215 bis 12/3217 und 12/3434 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3434 - Einstellung der Militärhilfe, Erstellung eines Konzepts für Wirtschaftshilfe und Bericht über Lieferungen an die Türkei - soll zusätzlich dem Haushaltausschuß überwiesen werden. Der Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3435 zur Verlängerung des befristeten Abschiebestopps für Kurden und Kurdinnen soll entgegen dem Überweisungsvorschlag in der Tagesordnung zur federführenden Beratung dem Innenausschuß und zur Mitberatung dem Auswärtigen Ausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages - das ist dann die letzte in diesem Hause - auf Donnerstag, den 29. Oktober 1992, 12 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.