Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/24/1992

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist eröffnet. Ich wünsche einen guten Morgen. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich auf der Tribüne den Präsidenten der Abgeordnetenkammer der Republik Chile, Herrn José Antonio Viera-Gallo, mit seiner Delegation ganz herzlich begrüßen. ({0}) Sie, Herr Präsident, und Ihre Delegation haben bereits gestern in Bonn erfahren können - darüber freuen wir uns -: Die Beziehungen zwischen den Deutschen und den Chilenen sind gut. Das gilt auch und gerade für uns Parlamentarier. Ich wünsche Ihnen, daß Sie nicht nur in Bonn, sondern auch in Potsdam gute Gespräche führen, daß wir unsere Beziehungen intensivieren und Traditionen weiterführen. Herzlich willkommen hier im Deutschen Bundestag! ({1}) Des weiteren möchte ich Ihnen vor Eintritt in die Tagesordnung mitteilen: Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind auf der Zusatzpunktliste auf geführt: 1. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zur wirtschaftlichen und sozialen Situation in Chemnitz ({2}) 2. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beibehaltung der Mitbestimmung beim Austausch von Anteilen und der Einbringung von Unternehmensteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften betreffen ({3}) - Drucksache 12/3280 3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Verschiebung der 2. Mietsteigerung zum 1. Januar 1993 um ein Jahr - Drucksache 12/3284 4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Christina Schenk, Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Maßnahmen zur Begrenzung des Mietpreisanstiegs, zur Erweiterung des Kündigungsschutzes und zur Erhaltung des Bestands an Mietwohnungen - Drucksache 12/3291 5. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Aktuelle Entwicklung in der Europapolitik 6. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Antifaschistische und antirassistische Aufklärungskampagne - Drucksachen 12/1193, 12/3268, 12/3292 - Außerdem sollen die Punkte 12a und b, 15, 16, 17 a und b und 18 abgesetzt werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über technische Assistenten in der Medizin ({5}) - Drucksache 12/3165 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({6}) Ausschuß für Bildung und Wissenschaft b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung und vorläufigen Fortführung der Datensammlungen des „Nationalen Krebsregisters" der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ({7}) - Drucksache 12/3198 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({8}) Innenausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß gemäß § 96 c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Zugabeverordnung - Drucksache 12/3164 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({9}) Ausschuß für Verkehr d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 24. Februar 1988 zur Bekämplung widerrechtlicher gewalttätiger Handlun9088 Präsidentin Dr. Rita Süssmuth gen auf Flughäfen, die der tätiger Handlungen auf Flughäfen, die der internationalen Zivilluftfahrt dienen - Drucksache 12/3196 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({10}) Auswärtiger Ausschuß Innenausschuß Ausschuß für Verkehr e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Mitteilungen der Justiz von Amts wegen in Zivil- und Strafsachen ({11}) - Drucksache 12/3199 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({12}) Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Innenausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Familie und Senioren f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 18. Dezember 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ungarn über die gegenseitige Unterstützung der Zollverwaltungen - Drucksache 12/3049 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({13}) Auswärtiger Ausschuß g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 18. Januar 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Kap Verde über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 12/2997 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({14}) Auswärtiger Ausschuß h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 5. April 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Swasiland über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 12/2998 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({15}) Auswärtiger Ausschuß i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 6. Dezember 1989 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Kooperativen Republik Guyana über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 12/2999 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({16}) Auswärtiger Ausschuß j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung veterinärrechtlicher, lebensmittelrechtlicher und tierzuchtrechtlicher Vorschriften - Drucksache 12/3201 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({17}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Gesundheit k) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 22. Oktober 1991 zwischen der Regierung und der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Rumänien über die Schiffahrt auf den Binnenwasserstraßen - Drucksache 12/2804 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr ({18}) Ausschuß für Wirtschaft 1) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Enwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. November 1991 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Polen über die Binnenschiffahrt - Drucksache 12/2805 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr ({19}) Ausschuß für Wirtschaft m) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über gebäude- und wohnungstatistische Erhebungen ({20}) - Drucksache 12/3043 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({21}) Innenausschuß Rechtsausschuß Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO n) Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft Bismarck-Kaserne in Schwäbisch Gmünd - Drucksache 12/3093 - Überweisung: Haushaltsausschuß o) Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung einer Teilfläche des ehemaligen Exerzierplatzes Toppheide in Münster-Gievenbeck - Drucksache 12/3193 - Überweisung: Haushaltsausschuß Präsidentin Dr. Rita Süssmuth p) Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Teilveräußerung der bundeseigenen Wohnsiedlungen in Neu-Ulm, Steuben-, Ried- und Bradleystraße - Drucksache 12/3205 - Überweisung: Haushaltsausschuß q) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bundesrechnungshofes Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 1991 - Einzelplan 20 -- Drucksache 12/3097 - Überweisungsv orschlag: Haushaltsausschuß r) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietmar Schütz, Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Dr. Christine Lucyga, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Beendigung der Waffenerprobung und Schießübungen im Watten- und Boddenmeer - Drucksache 12/417 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({22}) Verteidigungsausschuß Ausschuß für Fremdenverkehr s) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Conradi, Freimut Duve, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ateliernotstand in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksache 12/2701 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({23}) Innenausschuß Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Abschließende Beratungen ohne Aussprache a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die elektromagnetische Verträglichkeit von Geräten ({24}) - Drucksache 12/2508 - aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Post und Telekommunikation ({25}) - Drucksache 12/3242 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Bernd Protzner Arne Börnsen ({26}) Jürgen Timm bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({27}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 12/3287 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Kolbe Werner Zywietz Rudi Walther ({28}) ({29}) b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr ({30}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Verordnung ({31}) des Rates zur endgültigen Regelung der Zulassung von Verkehrsunternehmern zum Güterkraftverkehr innerhalb eines Mitgliedstaates, in dem sie nicht ansässig sind Bericht an den Rat über die Ausnutzung der Straßenkabotagegenehmigungen für 1990/91 - Drucksachen 12/2257 Nr. 3.64, 12/2898 - Berichterstattung: Abgeordnete Elke Ferner c) Beratung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses ({32}) über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - Übersicht 6 - Drucksache 12/2903 - Berichterstattung: Abgeordneter Horst Eylmann d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr ({33}) zu den Unterrichtungen der EG-Kommission Vorschlag für eine Verordnung ({34}) des Rates über bauartbedingte Höchstgeschwindigkeit, maximales Drehmoment und maximale Nutzleistung des Motors von zweirädrigen oder dreirädrigen Kraftfahrzeugen Vorschlag für eine Verordnung ({35}) des Rates über den Anbau der Beleuchtungsund Lichtsignaleinrichtungen für zweirädrige oder dreirädrige Kraftfahrzeuge Vorschlag für eine Verordnung ({36}) des Rates über Bremsanlagen für zweirädrige oder dreirädrige Kraftfahrzeuge - Drucksachen 12/2582 Nrn. 2.28, 2.29, 2.27, 12/3061 - Berichterstattung: Abgeordneter Manfred Heise e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr ({37}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Verordnung ({38}) des Rates über gemeinsame Regeln für die Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Zuweisung von Zeitnischen auf Flughäfen in der Gemeinschaft - Drucksachen 12/2315 Nr. 2.13, 12/3062 - Berichterstattung: Abgeordneter Horst Friedrich f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr ({39}) zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament Legislative Entschließung ({40}) mit der Stellungnahme des Europäischen Parlaments zu dem Vorschlag der Kommission an den Rat für eine Richtlinie über die vorstehenden Außenkanten vor der Führerhausrückwand an Kraftfahrzeugen der Klasse N - Drucksachen 12/2205, 12/3063 - Berichterstattung: Abgeordneter Horst Friedrich g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr ({41}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 70/156/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Betriebserlaubnis für Kraftfahrzeuge und Kraftfahrzeuganhanger - Drucksachen 12/1449 Nr. 2.14, 12/3146 - Berichterstattung: Abgeordneter Berthold Wittich h) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({42}) zu dem Antrag der Abgeordneten Gerd Poppe, Konrad Weiß ({43}) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unterstützung des Demokratieprozesses in Äthiopien und Eritrea - Drucksachen 12/1656, 12/2872 Berichterstattung: Abgeordnete Klaus Jürgen Hedrich Günter Verheugen Ulrich Irmer Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Wir kommen zunächst zu Punkt 4 a der Tagesordnung, zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die elektromagnetische Verträglichkeit von Geräten. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Wir treten in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Wir kommen zu Punkt 4 b der Tagesordnung, der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zu einem Vorschlag der EG zur Zulassung von Verkehrsunternehmern. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist bei 1 Enthaltung angenommen. Wir kommen zu Punkt 4 c der Tagesordnung, der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht, Übersicht 6, Drucksache 12/2903. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen. Wir kommen zu Punkt 4 d bis 4 g der Tagesordnung, der Beratung von vier Beschlußempfehlungen des Ausschusses für Verkehr zu verkehrspolitischen EG-Vorlagen. Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über die vier Beschlußempfehlungen gemeinsam abstimmen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlungen sind einstimmig angenommen. Wir kommen zu Punkt 4h der Tagesordnung, der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu einem Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Unterstützung des Demokratieprozesses in Äthiopien und Eritrea. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen. Wir werden das dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mitteilen; denn es ist niemand von ihnen da. Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf: Beratung und Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({44}) zu dem Gesetz zur Neuregelung der Zinsbesteuerung ({45}) - Drucksachen 12/2501, 12/2690, 12/2736, 12/2965, 12/2966, 12/2988 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Heribert Blens Wird das Wort zu einer Erklärung nach § 90 unserer Geschäftsordnung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann kommen wir zur Abstimmung. Gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung hat der Vermittlungsausschuß beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Ich bitte diejenigen, die der Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zustimmen wollen, um das Handzeichen. -Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist bei Präsidentin Dr. Rita Süssmuth 2 Gegenstimmen und 6 Enthaltungen angenommen. * ) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die Beratung der Beschlußempfehlungen des Vermittlungsausschusses zum SED-Unrechtsbereinigungsgesetz und zum Weingesetz erweitert werden. Diese Punkte sollen gleich anschließend aufgerufen werden. Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll abgewichen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe nunmehr auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({46}) zu dem Ersten Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht ({47}) - Drucksachen 12/1608, 12/2820, 12/3037, 12/3281 Berichterstatter im Bundestag: Abgeordneter Dr. Peter Struck Berichterstatter im Bundesrat: Minister Herbert Helmrich Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist der Fall. - Herr Struck.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Vermittlungsausschuß hat gestern in einer sehr langen Sitzung das Erste SED-Unrechtsbereinigungsgesetz sehr ausführlich beraten und ist zu einem Ergebnis gekommen. Dieses Ergebnis weicht in zwei Punkten vom Gesetzesbeschluß des Deutschen Bundestages ab. Der erste Punkt, bei dem der Vermittlungsausschuß etwas anderes entschieden hat als der Deutsche Bundestag, betrifft § 17 dieses Gesetzes. Hierbei geht es um die Höhe der Entschädigung, die pro Monat für zu Unrecht erlittene Haft gezahlt werden soll. Der Bundestag hat einen Entschädigungsbetrag von 300 DM bzw. 450 DM für diejenigen beschlossen, die noch bis zum Fall der Mauer in der DDR gelebt haben. Die 300 DM galten für diejenigen, die schon vorher das Land verlassen konnten. Der Vermittlungsausschuß hat mit Mehrheit entschieden, den Betrag von 300 DM unverändert zu lassen und den Betrag von 450 DM auf 550 DM, also um 100 DM, zu erhöhen. Der Vermittlungsausschuß hat in einem zweiten Punkt, der § 20 dieses Gesetzes betrifft, eine andere Entscheidung als der Deutsche Bundestag getroffen. Hierbei geht es um die Kostenverteilung zwischen Bund und Ländern. Der Bundestag hatte eine hälftige Kostenteilung beschlossen: 50 % trägt der Bund, 50 % tragen die Länder. Der Vermittlungsausschuß hat gestern nach schwierigen Gesprächen dieses Verhältnis mit 65:35 bestimmt. Das ist das Ergebnis der Beratungen des Vermittlungsausschusses. Frau Präsidentin, ich erlaube mir, eine Erklärung für die SPD-Bundestagsfraktion anzufügen: Für die SPD-Bundestagsfraktion und auch für die von der SPD *) Erklärungen zur Abstimmung siehe Anlage 2 regierten Länder erkläre ich, daß wir uns ein besseres Ergebnis gewünscht hätten. Wir haben im Vermittlungsausschuß beantragt, eine Grundentschädigung von 450 DM zu zahlen, die um 150 DM auf 600 DM für diejenigen aufgestockt werden sollte, die bis zum Fall der Mauer in der DDR gelebt haben. Wir haben außerdem beantragt - da wir der Auffassung sind, daß es sich um eine Kriegsfolgeregelung handelt -, daß das Verhältnis der Kostenaufbringung zwischen Bund und Ländern von 75 : 25 betragen sollte. Dieser Antrag ist von der Mehrheit des Vermittlungsausschusses abgelehnt worden. Wir bedauern das. Die SPD-Bundestagsfraktion wird deshalb diesem Vorschlag des Vermittungsausschusses nicht zustimmen.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Heribert Blens.

Dr. Heribert Blens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000197, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Vermittlungsausschuß hat sich darum bemüht, noch gestern ein Ergebnis zu erzielen. Das ist auch gelungen. Das war deshalb wichtig, weil es bei diesem Gesetz nicht nur um Geld und um Entschädigung geht, sondern auch darum, daß die Rehabilitierung der SED-Opfer vorangehen kann. Das bisher geltende Gesetz, ein altes Volkskammergesetz, ist am 18. September ausgelaufen. Es fehlt somit für die Rehabilitierung zur Zeit eine Rechtsgrundlage. Die müssen wir durch das SED-Unrechtsbereinigungsgesetz schaffen. Deshalb war es wichtig, gestern zu einem Ergebnis zu kommen. Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht und große Mühe auf eine Regelung verwandt, die die Differenzierung zwischen der Entschädigung für diejenigen, die bis zum Fall der Mauer in der DDR gelebt haben, und für diejenigen, die schon vorher in die Bundesrepublik gekommen waren, beibehält. Wir sind der Meinung, diejenigen, die dort bis zum November 1989, bis zum Fall der Mauer, als ehemalige Häftlinge leben mußten, hatten das erheblich schwerere Lebensschicksal. Daher ist es gerechtfertigt, auch bei der Entschädigung zu differenzieren, ihnen eine höhere Entschädigung - jetzt 550 DM - zukommen zu lassen. Was die Verteilung der Kosten zwischen Bund und Ländern angeht, so sind wir der Meinung, daß die ehemalige DDR eigentlich als Ganzes eine Kriegsfolge ist. Aber deshalb kann man nicht sagen, daß nach Artikel 120 des Grundgesetzes alle Maßnahmen, die mit Folgenbeseitigung der früheren DDR zu tun haben, vom Bund allein zu finanzieren wären, wie die SPD-regierten Länder das offensichtlich glauben. Wir gehen davon aus, daß nach Artikel 104 a Abs. 1 des Grundgesetzes der Grundsatz gilt, daß an sich die Länder die Beträge für die Finanzierung allein aufzubringen hätten. Der Bund ist schon im Bundestagsbeschluß von diesem Grundsatz abgegangen und hat eine Kostenteilung im Verhältnis 50:50 zwischen Bund und Ländern vorgenommen. Wir haben das gestern noch einmal zugunsten der Länder verbessert. Die Länder sollen nach unserem Vorschlag nur 35 % bezahlen, der Bund zahlt 65 %. Ich bedauere wirklich, daß Sie sich - und ich sage das jetzt in erster Linie an die SPD-regierten Bundesländer, weniger an die Bundestagskollegen der SPD - nicht in der Lage gesehen haben, diesem sehr weitgehenden und länderfreundlichen Vorschlag zu folgen. Ich bedauere das deshalb, weil es bisher in der Regel gelungen ist, alle die Gesetze, die die Wiedergutmachung - sei es von NS-Unrecht, sei es von SED-Unrecht - betreffen, in breiter Übereinstimmung aller demokratischer Parteien des Bundestages zu verabschieden. Ich hätte es für gut befunden, wenn das auch bei diesem Gesetz gelungen wäre. Aber ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, daß sich das eine oder andere SPD-regierte Land bis zur Abstimmung im Bundesrat am Freitag bereit findet, über dieses auch für die Länder günstige Ergebnis noch einmal nachzudenken und dafür zu sorgen, daß dieses gute Ergebnis eine Mehrheit im Bundesrat findet. Über eines sollten wir uns klar sein, darin sollten wir einig sein - das sollte auch der Bundesrat bedenken -: Der Finanzstreit zwischen Bund und Ländern darf nicht auf dem Rücken der Opfer des SED-Regimes ausgetragen werden. Deshalb wäre es gut, wenn am Freitag eine Mehrheit für diesen Vorschlag zustande käme. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster Redner erhält für die F.D.P. der Herr Abgeordnete Wolfgang Mischnick das Wort.

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es war natürlich eine schwierige Aufgabe, hier einen Kompromiß zu finden, der versucht, dem gerecht zu werden, was wir hier regeln wollen. Zwei Punkte sind es - darauf ist hier mit Recht hingewiesen worden -, die besonders erwähnt werden müssen: einmal die Rehabilitierung derjenigen, die aus politischen Gründen in Haft gewesen sind, also die Aufhebung der Urteile und all dessen, was damit zusammenhängt. Wenn es hier zu keiner Entscheidung käme, heute nicht und im Bundesrat nicht, heißt das, daß Stillstand der Rechtspflege in diesem gesamten Bereich einträte. Das bedeutet, daß diese Problematik nicht mehr aufgearbeitet werden könnte bzw. zurückgestellt werden müßte, bis wir uns hier einigen. Deshalb ist es notwendig, schnellstens zu entscheiden. Zweitens die materielle Seite: Natürlich kann das Materielle nie ausgleichen, was diesen Menschen, die über Jahre - manche über Jahrzehnte - in Zuchthäusern in der ehemaligen DDR, aber auch in den sowjetischen Lagern gesessen haben, widerfahren ist. Ich gestehe offen, daß mir die Differenzierung zwischen Ost und West, also denjenigen, die schon vor dem 9. November 1989 in der alten Bundesrepublik gelebt haben, und denjenigen, die nicht hier gelebt haben, nicht leichtgefallen ist. Es ist aber unbestreitbar, daß man hier zu einer gemeinsamen Lösung kommen mußte. Deshalb habe ich dieser Lösung zugestimmt in der Hoffnung, daß die Länder im Bundesrat am Freitag ebenfalls so votieren, damit die Aufarbeitung in diesem Bereich endlich abgeschlossen werden und den Betroffenen die materielle Entschädigung sofort zugute kommen kann. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Meine Damen und Herren, wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zum SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, Drucksache 12/3281. Gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung hat der Vermittlungsausschuß beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Ich bitte diejenigen, die der Beschlußempfehlung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlußempfehlung gegen die Stimmen der SPD und der PDS angenommen. Ich rufe nunmehr auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz zur Änderung des Weinwirtschaftsgesetzes und des Weingesetzes - Drucksachen 12/2282, 12/2662, 12/2980, 12/3282 Berichterstatter im Bundestag: Abgeordneter Dr. Heribert Blens Berichterstatter im Bundesrat: Staatssekretär Dr. Günter Ermisch Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann kommen wir auch hier zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung. Es ist abzustimmen, wie soeben gesagt. Ich bitte diejenigen, die der Beschlußempfehlung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Roswitha Wisniewski, Johannes Gerster ({2}), Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Wolfgang Lüder, Gerhart Rudolf Baum, Dr. Olaf Feldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Förderung der Deutschen und ihrer Kultur im östlichen Europa und jenseits des Urals sowie des ostdeutschen Kulturerbes in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksachen 12/844, 12/2106 Berichterstattung: Abgeordnete Hartmut Koschyk Freimut Duve Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Wir beginnen mit der Aussprache. Das Wort hat Frau Professor Dr. Roswitha Wisniewski.

Prof. Dr. Roswitha Wisniewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die politischen Umwälzungen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa haben für die dortigen deutschen Minderheiten eine völlig neue Lage ergeben, und sie haben für die Bundesrepublik eine Minderheitenpolitik für diesen Raum ermöglicht. Der deutsch-polnische Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, der deutsch-rumänische Vertrag über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft, der Vertrag vom 27. Februar 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakei, der deutschungarische Vertrag vom 6. Februar 1992, das Gesetz der Russischen Föderation von 1991 über die Rehabilitierung der Repressionen unterworfenen Völker und das zunehmende Zusammenwirken Deutschlands mit den Nachfolgestaaten der UdSSR, das in der Unterzeichnung des Protokolls über die Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland mit der Regierung der Russischen Föderation bei der stufenweisen Wiederherstellung der Wolgarepublik sicherlich einen Höhepunkt erfuhr, sind Meilensteine, die eine neue Epoche markieren. Es trifft sich gut, meine Damen und Herren, daß in der heutigen Debatte der Vorsitzende der deutschen Fraktion im polnischen Sejm hier auf der Besuchertribüne anwesend ist. ({0}) Meine Damen und Herren, unter diesen genannten politischen Voraussetzungen entwickelte sich in den letzten Monaten eine deutsche Minderheitenpolitik, die sich an die Deutschen in Mittel-, Ost- und Südeuropa wendet. Der Aufbau dieser Politik ist bitter notwendig. Es darf nicht vergessen werden, daß die dort lebenden Menschen furchtbare Schicksale ertragen mußten. Der zur Zeit im ehemaligen Jugoslawien tobende Bürgerkrieg, der uns mit seinen Nachrichten Tag für Tag erschüttert, vor allem auch durch das schreckliche Wort von den „ethnischen Säuberungen" , läßt natürlich die Erinnerung wach werden an Grausamkeiten, die Deutsche an den Völkern des östlichen Europas begangen haben, aber auch an die schrecklichen Ereignisse im Zusammenhang mit den Vertreibungen, die Rußlanddeutsche, Deutsche in Jugoslawien und in anderen Siedlungsgebieten sowie Millionen Deutsche bei Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten ertragen mußten. ({1}) Überblickt man dieses Gesamtpanorama, so wird deutlich, welch ungeheure Umwälzungen sich in diesem Jahrhundert im östlichen Europa vollzogen haben und wieviel Leid und Unrecht damit verbunden waren. Es muß eine Selbstverständlichkeit sein, diesen in der Folge des Nationalsozialismus, des Stalinismus und des Zweiten Weltkriegs besonders hart betroffenen Deutschen dabei zu helfen, sich erträgliche Lebensumstände zu schaffen, und zwar in einer Umgebung, die es ihnen erlaubt, ihre Muttersprache zu sprechen und ihre eigene Kultur zu pflegen. Zu Recht betont daher die Bundesregierung im Bericht zur Verbesserung der kulturellen Lage der Deutschen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, daß es eine moralische Pflicht ist, den deutschen Minderheiten zu helfen. Minderheitenpolitik für die Deutschen in den Siedlungsgebieten im östlichen Europa verbindet sich mit der ostdeutschen Kulturpolitik nach § 96 des Bundesvertriebenengesetzes. - Bei dem Begriff „ostdeutsch" - das sei hier einmal gesagt - handelt es sich um einen Arbeitsbegriff, der an historische Bezüge anknüpft, an denen sich durch die Vertragsabschlüsse der jüngsten Zeit nichts geändert hat. Man sollte ihn, meine ich, insofern ruhig weiterhin gebrauchen. ({2}) Die ostdeutsche Kulturpolitik nach § 96 des Bundesvertriebenengesetzes dient bekanntlich der Pflege des ostdeutschen Kulturerbes in der Bundesrepublik. Diese Aufgabe erfuhr durch die neue Lage eine Erweiterung im Sinne der grenzüberschreitenden Kulturarbeit, denn die Veränderungen in Mittelosteuropa machen auch regionalspezifische Kulturpflege in den Ursprungslandschaften der ostdeutschen Kultur möglich. Dabei geht es nicht nur darum, das regional unterschiedliche kulturelle Selbstverständnis der deutschen Minderheiten zu fördern, sondern auch darum, die deutsche Kultur und Geschichte der jeweiligen Region an ihren Ursprungsorten wieder insgesamt lebendig werden zu lassen - und dies im Zusammenwirken mit der dort lebenden deutschen und nichtdeutschen Bevölkerung. Denn als Grundsatz aller dieser Bemühungen muß festgehalten und betont herausgestellt werden: Es handelt sich um ein Werk der Wiedergutmachung und der Versöhnung. Alle Hilfen, die Deutschland leistet, müssen auch den nichtdeutschen Nachbarn in den Siedlungsgebieten der deutschen Minderheiten zugute kommen. ({3}) Es geht nicht etwa - wie gelegentlich befürchtet wird - um die heimliche Verwirklichung deutscher territorialer Ansprüche, sondern es geht um den Aufbau des Zusammenlebens von Deutschen und Nichtdeutschen in Regionen, die die Fundamente eines zusammenwachsenden Europas sein werden. ({4}) In diesem Zusammenhang wird bisweilen die Frage der Ressort-Zuordnung innerhalb der Regierung aufgeworfen. Wäre es nicht richtig - so wird gefragt -, um Mißverständnisse zu vermeiden, dem Auswärtigen Amt den Gesamtbereich dieser politischen Arbeit zuzuordnen? Ich sage: Nein; denn es handelt sich um Deutsche, die Adressaten dieser Politik sind. Die Zuständigkeit für Minderheitenpolitik liegt daher zu Recht weitgehend beim Bundesminister des Innern. Aber die Zuständigkeitsverknüpfung mehrerer Res9094 sorts für diese Politik erscheint besonders sinnvoll und aussagekräftig. ({5}) Das Auswärtige Amt ist im Rahmen der auswärtigen Kulturpolitik zuständig für die allgemeinen kulturellen Belange der deutschen Minderheiten in den Staaten des östlichen Europas und damit entscheidend verantwortlich für die wichtige Vermittlung der deutschen Sprache und Kultur an Deutsche und Nichtdeutsche. Im Sonderprogramm zur Förderung der deutschen Sprache in Mittel-, Ost- und Südosteuropa wirken aber auch das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft und andere Ministerien mit. Es ist unbedingt zu begrüßen, daß sich möglichst der gesamte Politikbereich an dieser großen und für die Zukunft Europas in ihrer Bedeutung gar nicht zu überschätzenden Aufgabe beteiligt. Für die bisherige engagierte Arbeit in diesem teilweise neu entstandenen Politikbereich, der an alle damit Befaßten die höchsten Anforderungen stellt, ist der Bundesregierung sehr zu danken, allen voran Ihnen, Herr Staatssekretär Waffenschmidt. ({6}) Ebenso ist natürlich den vielen Verbänden und Organisationen zu danken, die sich an diesem großen Werk beteiligen. Leider konnten nicht alle in unserem Antrag genannt werden. Und schon gar nicht war es möglich, die Vielzahl privater, kirchlicher, kommunaler und anderer Aktionen zu erwähnen. Ich nenne als Beispiel Vorführungen pommerscher Volkstänze des Folkloreensembles „Ihna" aus Erlangen in Stettin, Gollnow und Stargard. Zu erwähnen ist auch der Einsatz der Wissenschaftler, die die dringend benötigten Kontakte mit Wissenschaftlern im östlichen Europa - oft unter großem persönlichen Einsatz - pflegen. Wo sollen, meine Damen und Herren, die Schwerpunkte zukünftiger Politik für die deutschen Minderheiten und zur Pflege des ostdeutschen kulturellen Erbes liegen? Ich möchte einige mir besonders wichtig erscheinende nennen. Erstens. Gespräche mit den Vertretern der deutschen Minderheiten in den Siedlungsgebieten ergeben eindeutig, daß der Wunsch nach Ausbildung und Entsendung von Deutschlehrern an erster Stelle steht. Sie sollen, so wird gesagt, den Kindern die Muttersprache wiedergeben; denn deren Gebrauch mußte ihnen von den Eltern wegen der damit verbundenen Gefährdung verboten werden. Dringend notwendig ist daher der Aufbau oder die Unterstützung der Deutschlehrerausbildung - etwa durch Weiterbildungsveranstaltungen - an Hochschulen in Deutschland und an Hochschulen in den deutschen Siedlungsgebieten. Stiftungsprofessuren, Gastprofessuren und Lektorate sollten vermehrt eingerichtet, die Entsendung von Deutschlehrern - auch pensionierten -sollte verstärkt angestrebt werden. Das schon genannte Sonderprogramm zur Förderung der deutschen Sprache in Mittel-, Südost- und Osteuropa bietet hierzu eine Fülle von Anregungen und Möglichkeiten, um deren Realisierung wir uns im persönlichen Einsatz immer wieder bemühen sollten; anders geht es ja nicht. Zweitens. Zur Verstärkung des Gemeinschaftsbewußtseins zwischen Deutschen und Nichtdeutschen erscheint die verstärkte Förderung der gemeinsamen regionalspezifischen Kulturarbeit zum Abbau von Vorbehalten und zum Aufbau gegenseitigen Verstehens dringend notwendig. Die grenzüberschreitende Kulturarbeit und der Aufbau von Euro-Regionen als Zukunftsmodell sollten mit aller Kraft unterstützt werden. Projekte dieser Art in Schlesien, Pommern und Brandenburg sollten vorrangig behandelt und vorangetrieben werden. Drittens. Für die sozialen und gemeinschaftsfördernden Hilfen für die Deutschen in den Siedlungsgebieten sind erfreulicherweise auch für 1993 erhebliche Mittel vorgesehen. Man sollte prüfen, ob sie wirklich ausreichen. Ich beziehe dabei vor allem auch die kulturelle Förderung der Restaurierung und Bewahrung von Baudenkmälern ein. Ihre Wiederherstellung macht sie zu sichtbaren und gemeinschaftsstiftenden Zeichen einer neuen Epoche. In der kleinen Stadt Marx - mit dem bezeichnenden Namen Marx - in der Nähe von Saratow in Rußland z. B. steht als beherrschender Bau in der Mitte des Ortes die ehemalige deutsche evangelische Kirche - natürlich verfallen und ihrem ursprünglichen Zweck entfremdet. Welches Signal würde davon ausgehen, wenn diese Kirche restauriert und entsprechend der Zusage der staatlichen Stellen wieder ein Gotteshaus mit einem Gemeindezentrum für die ungefähr 7 000 dort lebenden Deutschen werden würde! Viertens. Es ist, so zeigt sich jetzt, ein nicht vorhersehbarer glücklicher Umstand, daß in den vergangenen Jahrzehnten die ostdeutsche Kulturarbeit im Gebiet der bisherigen Bundesrepublik zielstrebig und verantwortungsvoll aufgebaut wurde. Dies ist jetzt ein Fundus, aus dem heraus die notwendige Arbeit im östlichen Europa geleistet werden kann. Die ostdeutschen Kultureinrichtungen sind unentbehrlich als Stätten der Information, der Begegnung und des Austausches für die verschiedensten Gruppen und für die deutsch/nichtdeutsche gemeinschaftliche Forschung mit ihrer multiplizierenden Wirkung. Notwendig ist daher auch der weitere Ausbau der ostdeutschen Kultureinrichtungen in den alten Bundesländern, der Landesmuseen, der landeskundlichen Institute, Archive etc. Dies sollte auf der Grundlage der Fortschreibung und der Erweiterung des bisherigen Aktionsprogramms geschehen. Diese Einrichtungen werden ebenso wie die ostdeutschen Verbände, deren Einsatz viele dieser Stätten ostdeutscher Kultur ihre Existenz verdanken, vor allem auch als Ansprechpartner entsprechender Stellen in den ehemaligen ostdeutschen Gebieten und den Siedlungsgebieten gebraucht. Sie erhalten damit eine neue Aufgabe und müssen in ihrem Bestand gesichert werden. Fünftens. Besonders notwendig ist die Verstärkung der ostdeutschen Kulturarbeit in den neuen Bundesländern. Ein jahrzehntelanges Informationsdefizit - ein Defizit in jeder Hinsicht - muß abgebaut werden. Die schwache Finanzausstattung der neuen Bundesländer läßt eine Länderfinanzierung dieser Aufgaben überhaupt nur in eingeschränktem Maße zu. Durch den Bund sollte verstärkt geholfen werden. Meine Damen und Herren, abschließend sei gesagt: Ostdeutsche Kultur und Geschichte bleiben ein bedeutender Teil deutscher und europäischer Kultur und Geschichte, auch wenn die Stätten mit ihrer jahrhundertelangen Entfaltung jetzt alle im Ausland liegen. Die von diesem Teil der deutschen Kultur ausgehenden Impulse und geistigen Kräfte gilt es für unser gesamtes geistiges Leben nutzbar zu machen. Ich bitte um Zustimmung zu dem Antrag in der Fassung der Beschlußempfehlung des Innenausschusses und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächstes spricht der Abgeordnete Freimut Duve.

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn möchte ich sagen, daß ich mich sehr über den Brief des ehemaligen Botschafters Hans Heflot an uns, den Innenausschuß, gefreut habe, der ja sehr engagiert eine kleine Stiftung für das Kulturerbe in Rumänien macht. Er ist nicht nur ehemaliger Diplomat, sondern engagiert sich persönlich. Ich denke, daß gerade in einem Land, in dem immer weniger Deutsche leben und eines Tages möglicherweise nur noch ganz, ganz wenige leben werden, dieses Engagement von besonderer Bedeutung ist. Wir haben uns in den letzten zwei Jahren, Frau Kollegin, sehr bemüht, in einer neuen und anderen Weise auf dieses Thema zu gucken, als wir durch manche Haltung gezwungen waren, in der Zeit des kalten Krieges mit diesem Thema umzugehen. Ich denke, daß die Diskussion von dieser Bemühung getragen sein soll. Wir sind uns sicher einig, daß Geschichte als Steinbruch immer die zwei Seiten hat: das Risiko, daß die Steine zum Werfen benutzt, und die Chance, daß die Steine zum Häuserbauen genutzt werden. Man sieht zur Zeit, wie im ehemaligen Jugoslawien Geschichte zum Töten benutzt wird, wie sie zur Waffe mißbraucht wird. Im Zeitbruch der jüngsten Vergangenheit hat sich die Lage der Völker in Osteuropa drastisch verändert - und damit das, was ich immer gerne die Kultur des Zusammenlebens nenne. Nicht nur Menschen deutscher Kultur in Polen und in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, auch die Russen im Baltikum, die Polen in Litauen, die Ungarn in der Slowakei, sie alle müssen die uralte Frage aller Völker Europas neu stellen: wie man zusammenlebt, wenn alle Kriege der Vergangenheit die eine schreckliche und zugleich herausfordernde Lehre gebracht haben, daß Menschen unterschiedlicher Kultur und unterschiedlicher Herkunft immer wieder die Kunst entwickeln müssen, in der Gegenwart und der Zukunft friedlich zusammenzuleben und sich gemeinsam für die Zukunft vorzubereiten. Auch die Deutschen, die aus Kasachstan hierher zu uns gekommen sind, mußten erstaunt feststellen, daß sie nunmehr auch mit den in Deutschland seit bald zwei Generationen lebenden Türken, oft im gleichen Treppenhaus, leben lernen müssen. Das ist das Gesetz, nach dem wir europäischen Völker für das 21. Jahrhundert angetreten sind, und dem können wir nicht mehr entfliehen. Wir alle sind damit konfrontiert und müssen etwas Friedliches entwickeln. Unsere Überlegungen der vergangenen Jahre sind von der Grundtatsache ausgegangen: Friedliches Zusammenleben von Menschen, die in vielen Lebensbereichen - auf dem Markt und vor allem am Arbeitsplatz - sehr gleichen Interessen nachgehen und die zugleich in ihrer Sprache, in ihren kulturellen Interessen sich vom Nachbarn unterscheiden, finden sich möglicherweise Seite an Seite im Kino wieder, um einen amerikanischen Film zu sehen. Das heißt, es gibt sehr viel Gemeinsames und manches Trennende, und man muß mit dem Trennenden so umgehen, daß es nicht die Menschen gegeneinandertreibt. Der Münsteraner Slavist Boris Groys hat in diesen Tagen einen kulturökonomischen Versuch geschrieben und vorgelegt, der für unser Thema relevant sein könnte. Das Essay heißt „Über das Neue". Er untersucht, wie eigentlich die Kultur dazu kommt, die Frage nach dem Neuen zu stellen. Er bringt zu Beginn die interessante Beobachtung, daß man sich in Wahrheit immer erst dann für das Neue interessiere, wenn „die Erhaltung des Alten technisch und zivilisatorisch gesichert zu sein scheint". Er weist sehr schön nach, daß es Jahrhunderte gegeben habe, in denen das Neue permanent bekämpft wurde und man gesagt hat, daß das Neue gefährlich sei. Heute weiß man, daß das Neue das Wichtige ist, das wir brauchen. Es könnte also sein, daß all die Bemühungen, das Kulturerbe der Menschen im ehemaligen Ostdeutschland zu pflegen, erst die Chance eröffnet haben, das Neue, in unserem Fall die neue Kultur des Zusammenlebens, zu entwickeln. Wir wollen den Deutschen und ihren Nachbarn in Ost- und Südosteuropa dabei helfen: darum die Bemühungen der Bundesregierung und des Bundestages, Kulturarbeit in Osteuropa mit zu finanzieren. Wie wir künftig damit umgehen, das kann großartiges Beispiel, das kann aber auch, wenn wir es falsch machen, gefährlicher politischer Zündstoff sein. Wir werden im Dezember 1992 zu diesem Thema eine ausführliche Anhörung durchführen, und wir hatten im Innenausschuß gebeten, daß der Deutsche Bundestag die dazu vorliegenden Anträge erst nach dieser Anhörung verabschiedet, um das eine oder andere, das sich in der Anhörung ergibt, möglicherweise aufnehmen zu können. Die Mehrheitsfraktionen haben anders entschieden. Wir haben uns nach der Beratung entschieden und im Innenausschuß angekündigt, daß wir heute den Antrag nicht ablehnen, ihm aber auch nicht zustimmen werden. Wir werden uns mit dieser Begründung der Stimme enthalten. Meine Damen und Herren, in zwei Wochen wird Günter Grass 65 Jahre alt. Es gibt nur wenige Autoren in der Welt, die aus der Erinnerung an die verlassene Heimat Weltliteratur gemacht haben, und es gibt nicht viele deutsche Autoren - ich nenne noch Horst Bienek und Siegfried Lenz -, die mit ihrer Literatur die Erinnerung an die Heimat ihrer Kindheit und Jugend in aller Welt bekannt gemacht haben. Wenn Menschen in Japan und Australien, in Rußland und Kanada heute noch eine wunderbare Vorstellung vom alten Danzig haben, dann ist dies weit mehr Günter Grass als etwa Herrn Dr. Czaja zu verdanken. ({0}) Dieses literarische Werk ist aber zugleich Baustein zur künftigen Kultur des Zusammenlebens, gerade weil sich Grass wie Siegfried Lenz weigerte, künstlich die Kultur der Deutschen herauszuschneiden aus dem vielfältigen Gewebe der mittel- und osteuropäischen Vielvölkerkultur. Gerade weil sie die vielen Fasern des Gewebes beschreiben, ist das Werk solcher Autoren von so besonderer Bedeutung für die Aufgabe, die vor uns steht. In einem Interview in diesem Monat in einer Berliner Literaturzeitschrift schildert Grass die Vielfalt Danzigs - urn nur einen Ort zu nennen - als freier Stadt mit einem Hintergrund, der eher europäisch als national zu bezeichnen war, 300 Jahre zur polnischen Krone gehörig, dennoch geprägt von deutscher und niederländischer Kunst und Kultur. Hinzu kam das Hanseatische, das Weltoffene, kamen die Flüchtlinge, die Flüchtlinge von Hugenotten aus Frankreich bis zu den Mennoniten und die schottischen Flüchtlinge - alle nach Danzig. Es gibt in der Nähe von Danzig Nova Scotia. Das alles macht die Geistesgeschichte von Danzig aus. Der große deutsche Aufklärer Georg Forster, der in Frankreich später eine Rolle gespielt hat - ich erweitere das Zitat jetzt ein bißchen -, stammte von schottischen Einwanderern in Danzig ab. Und Schopenhauers Vater verläßt als Republikaner die Stadt in dem Augenblick, als Danzig preußisch wird, weil er nicht nach Preußen wollte. Kurzum: Das alles - so fährt Grass fort - sind Merkmale, die die Stadt nicht eindeutig als deutsch oder polnisch definieren, die aber das Offene der Stadt geprägt haben. Wir alle wissen, wie schwer eine solche Arbeit ist, und wir wissen, wie nach Vertreibung und Trennung die Suche nach der präzisen Identifikation überwiegt. Ich möchte das auch mit Ihnen teilen, auch mit den Kollegen der Union. Ich habe mir im Sommer die traurige Mühe gemacht, die, ich glaube, zehn Bände des Innenministeriums aus dem Jahre 1961 über die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa mit in den Urlaub zu nehmen. Ich muß sagen - das gilt sicherlich für alle meiner Generation -, daß wir wegen des kalten Krieges und des propagandistischen Gegeneinander von dem Leid, das diese Menschen wirklich erfahren haben, zuwenig wahrgenommen haben. Ich bin Vaclav Havel sehr dankbar dafür, daß er der erste war, der das Leid der Vertreibung, aber auch die nicht gute Behandlung, der Deutschen, jedenfalls in seinem Bereich, in dieser angemessenen und würdigen Weise beschrieben hat. In dieser Haltung, denke ich, können wir uns zusammenfinden. ({1}) Auch die Menschen deutscher Herkunft kommen aus einer sehr schweren und häufig grausamen Erinnerungslandschaft. Die Öffnung der Grenzen haben sie als große Hoffnung erlebt. Unsere Hilfen müssen so sein, daß diese Hoffnungen nicht enttäuscht werden, und zugleich müssen sie sich in den Rahmen unserer auswärtigen Beziehungen zu unseren Nachbarn einpassen. Sie müssen sich wirklich einpassen. Ich wiederhole meinen Zwischenruf und das, was wir schon oft miteinander diskutiert haben: Koordination - gut, aber es muß das Primat der Außenpolitik gelten bei einer so dramatisch gefährdeten - ich will nicht sagen: gefährlichen - Region, alldem, was wir in Südosteuropa schon jetzt erleben. Die Außenpolitik muß wirklich sagen, was geschieht, und ich hoffe, daß das in der Bundesregierung künftig noch besser geschieht als bisher. Der deutsch-polnische Vertrag - Sie haben das Vertragsgewebe eben ja auch dargestellt - könnte der Mustervertrag für viele Minderheitenbeziehungen in Osteuropa sein. Mit den minderheitsrelevanten Artikeln etwa in einem bilateralen Vertrag zwischen Ungarn und der Slowakei oder eines Tages vielleicht sogar zwischen Serbien und Albanien oder zwischen Rumänien und Ungarn wäre mancher von uns sehr viel beruhigter. Es geht nur um diese drei Artikel aus dem deutsch-polnischen Vertrag; wir brauchten um den künftigen Frieden in Osteuropa dann weniger bange zu sein. Wir leisten hier also - wir hoffen, daß wir es tun - europäischen Friedensdienst, wenn wir es richtig machen. Gerade darum - das ist meine Schlußbemerkung - sind die Erklärungen mancher Vertriebenengruppen auf ihren Tagen und Sonntagen und ist die Tatsache, daß der Präsident des Bundesverbands der Vertriebenen diese Verträge bis heute noch nicht anerkannt hat, nach wie vor Anlaß zu der Sorge, daß aus diesem Baustoff für Friedensdienst auch Zündstoff werden könnte. ({2}) Vielleicht können wir uns gemeinsam bemühen, daß es wirklich eine deutsche Friedensarbeit für ein friedliches Europa wird. In der Anhörung werden wir dann die Details besprechen, Frau Kollegin. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster hat der Abgeordnete Wolfgang Lüder das Wort.

Wolfgang Lüder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001390, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann an die Schlußbemerkungen des Kollegen Duve anknüpfen; denn das, was wir heute mit dem Beschluß erreichen wollen, ist doch, einen Beitrag zu leisten zur Verbindung zwischen Völkern, zur Überwindung von Grenzen und zur Schaffung von neuen Erkenntnissen darüber, daß der jeweils andere in seiner Kultur verankert ist und nicht aus einer kulturfreien Vergangenheit kommt. Deswegen gehören diese drei Bereiche, die wir hier in einem Antrag behandeln, für mich zwingend zusammen. Erstens. Wir wollen doch den Deutschen, die im östlichen Europa und jenseits des Urals leben, ein Zeichen setzen, daß wir mit unseren politischen und auch finanziellen Mitteln dazu beitragen wollen, daß ihnen eine Perspektive zum Bleiben in ihrer jetzigen Heimat gegeben wird. Das soll eben nicht nur das Leben im wirtschaftlichen, im wohnungsrechtlichen und im praktischen Bereich, sondern auch im Wiederfinden der kulturellen Vergangenheit und damit Gegenwart und Zukunft ermöglichen. Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Das berührt nicht die Frage, ob es nicht doch gelingt, die Deutschen in den GUS-Staaten aus ihren jetzigen Wohngebieten in ihre alte Heimat umzusiedeln. Es soll auch nicht die Entscheidungsfreiheit der jeweiligen Menschen beeinträchtigen, nämlich die Freiheit, zu entscheiden, ob sie zu uns kommen wollen. Aber wir wollen aus unserer Verantwortung heraus alles dafür tun, daß das Leben dort, wo sie leben, auch mit der kulturellen Identität, gelebt werden kann. ({0}) Meine Damen und Herren, bei der ersten Beratung dieses Antrags - damals hat Herr Duve das noch kritisiert - haben wir in dem Antrag noch einige Formulierungen gehabt, ({1}) die - um das einmal euphemistisch auszudrücken - sehr mißverständlich waren. Sie haben das Wort „Aussiedlungsgebiete" - so steht es auch bei mir im ausgedruckten Text - kritisiert. Ich habe mich dafür eingesetzt, daß das verändert wird, und wir haben heute eine Formulierung gefunden - ich glaube, im Einvernehmen auch mit der Bundesregierung -, die hier falsche Assoziationen, die von uns übrigens nicht gemeint waren, als wir den Antrag einbrachten, wegnimmt. Von daher meine ich, Herr Duve, daß Sie dem Text des Antrags heute doch vollinhaltlich zustimmen können müßten. Die Enthaltung damit zu begründen, daß Sie erst die Anhörung abwarten wollen, leuchtet mir, ehrlich gesagt, nicht ganz ein; denn was wir hier tun wollen, kann schon jetzt auf den Weg gebracht werden. Das ist das, was zu den drei Themenbereichen unumgänglich notwendig ist. Das wollen wir tun. Das wollen wir umsetzen. Ich bin auch froh darüber, daß wir hier noch vor der Verabschiedung des Bundeshaushalts sagen, wo wir Akzente setzen, damit nicht jemand auf die Idee kommt, noch hinter Positionen zurückzufallen, die wir jetzt erreicht haben. Die Anhörung muß stattfinden - wir haben uns alle gemeinsam dafür eingesetzt -, und diese Anhörung wird uns zu weiteren Erkenntnissen bringen, die wir im nächsten Jahr sicherlich auswerten werden. Wenn wir realistisch sind, müssen wir davon ausgehen, daß eine Anhörung im Dezember bedeutet, daß wir frühestens um die Osterzeit herum hier zu einer Plenarbeschlußfassung kommen. „Frühestens" sage ich, wenn ich die Schwierigkeiten sehe, ein solches Thema umfassend zu gestalten. Aber wir sollten dann für weitere, auch konkretisierende Überlegungen offen sein. Das zweite, das wir mit dem Antrag erreichen wollen, ist, klarzustellen, daß mit der Herstellung der Einheit Deutschlands vor zwei Jahren die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs ihren Abschluß gefunden hat, daß wir damit - auch da nehme ich Anregungen auf, die sowohl von Frau Professor Wisniewski als auch von Herrn Duve gekommen sind - auch unseren Respekt vor den Leistungen der Vertriebenen hier noch einmal Ausdruck geben wollen und daß wir den Vertriebenen, die hier sind, den Aussiedlern, die hierher zu uns gekommen sind und hier sind - „hier" heißt nicht nur im westlichen Teil der Bundesrepublik, sondern in der gesamten Bundesrepublik - , auch die Erinnerung und die Wahrung des kulturellen Erbes ermöglichen müssen. Wir können nicht geschichtslos dastehen und sagen: Die Vertreibung war ein Schlußpunkt. - Die Vertreibung war inhuman; sie war in meinen Augen eine zwangsläufige Folge des Unrechtskrieges. Aber die Menschen, die vertrieben worden sind, dürfen nicht die Sonderopferträger sein. Deswegen gehört es für mich dazu, daß wir den Westdeutschen und den heute Ostdeutschen vermitteln, was früher ostdeutsche Kutur war, und zwar in unserem Land. ({2}) Schließlich drittens. Durch Krieg und Nachkriegszeit sind vielfach - auch das ist angesprochen worden - deutsche Kulturgüter von europäischem Rang der Gefahr des Zerfalls und der Zerstörung ausgesetzt. Ich glaube, hier haben wir - vielleicht kann auch das ein Ergebnis der Anhörung sein - die Informations- und Aufklärungsaufgabe, unseren Medien gegenüber deutlich zu machen, was aus unserer kulturellen Verantwortung gegenüber der Geschichte in den Staaten geschehen muß, die die Kulturförderung aus finanziellen Gründen nicht im eigentlichen Sinne ermöglichen können. Diese Verantwortung, die über die Grenzen hinweg reichen muß, um Grenzen zu überwinden, sollten wir, so glaube ich, noch transparenter machen, als es schon bisher gelungen ist. Die drei Forderungen dieses Antrages gehören zusammen. Sie bilden eine Einheit auf der Grundlage der Verträge und des Zusammenwachsens in Europa. Lassen Sie mich noch etwas in Parenthese sagen, nachdem der Dualismus von Auswärtigem Amt und Innenministerium von Herrn Duve in der ersten Lesung und heute schon wieder angesprochen worden ist. Ich weiß um die Latenz dieses Dualismus. Aber ich habe mich gefreut, daß wir in der Vorbereitung und in den Ausschußberatungen feststellen konnten, daß - jedenfalls jetzt - Einvernehmen und ein gemeinsames Vorgehen auf den beiden unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern der Innenpolitik und der Außenpolitik notwendig ist. ({3}) Verhandlungen mit auswärtigen Regierungen zu führen ist Aufgabe der Außenpolitik und niemandes sonst. Dabei ist dieser Grundsatz - spätestens seit dem Einigungsvertrag - auch für alle Staaten jenseits von Oder und Neiße sichergestellt. Daß das Parlament hier hilfreich war, um wieder Sachgerechtigkeit durchzusetzen, ist kein Einzelfall. Aber hier können wir es ausdrücklich begrüßen. Lassen Sie mich zusammengefaßt sagen: Erstens. Wir wollen, daß die Deutschen in ihren angestammten Gebieten in Osteuropa als nationale Minderheiten, aber eben in ihrer Heimat leben können. Dabei wollen wir ihnen helfen. Auch das ist ein Beitrag zur multikulturellen Gesellschaft in Europa. ({4}) - Ich habe vorhin gesagt, was wir auch dort ermöglichen wollen. Zweitens. Wir wollen das kulturelle Erbe der Vergangenheit nicht dem Vergessen anheimfallen lassen. Deswegen unterstützen wir die Arbeit derer, die sich diesem Werk besonders verpflichtet wissen. Drittens. Wir wollen gemeinsam mit den Regierungen der osteuropäischen Staaten dazu beitragen, daß nicht zerstört wird, was erhalten werden muß. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie um Zustimmung zu dem Antrag, der hier vorliegt. ({5})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächste spricht die Abgeordnete Frau Angela Stachowa.

Angela Stachowa (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002211, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Titel des vorliegenden Antrags und der Beschlußempfehlung ist unverändert irreführend, was ich bedaure. Der Begriff „ostdeutsches Kulturerbe" klingt in vielen Ohren, insbesondere bei den Menschen in den neuen Bundesländern, wie „Kulturerbe im Osten Deutschlands", und dieser Teil war doch jahrelang gleichbedeutend mit der DDR. Was die generelle inhaltliche Ausrichtung des Antrages betrifft, also die Förderung der Deutschen und ihrer Kultur in Osteuropa, so kann ich sie mittragen, ebenso die geplanten Ausgaben des Auswärtigen Amts und des BMI für die Förderung der Deutschen in Höhe von mehr als 18 Millionen DM im Haushalt 1993. Wenn man bedenkt, daß von den insgesamt 3,4 Milliarden DM Ausgaben des Bundes für auswärtige Kulturpolitik auch noch Teile den deutschen Minderheiten direkt oder indirekt zugute kommen, dann ist das nicht wenig. Andererseits muß auch festgestellt werden, daß die Ausgaben des Bundes für die Förderung von Kunst und Kultur im Inland - für die alten und die neuen Bundesländer zusammengenommen - nur ca. die Hälfte dieser Summe von 3,4 Milliarden DM ausmachen. Diese Relation erscheint mir angesichts der Probleme im Inland doch etwas ungerecht. Vielleicht sollte die ostdeutsche Kulturarbeit wörtlich genommen und auch auf die neuen Bundesländer ausgedehnt werden. ({0}) - Ich gehe mit Ihnen konform. In der Kulturarbeit gegenüber den Deutschen im östlichen Ausland ist ein ausgeprägtes Fingerspitzengefühl seitens aller Beteiligten notwendig, sei es die Bundesregierung, das Auswärtige Amt, das BMI oder seien es die Verbände und Institutionen. Nicht nur in Westeuropa werden die Entwicklung des geeinten Deutschland und sein Gebaren auf dem internationalen Parkett sehr genau registriert. Hilfe und Unterstützung gegenüber den Auslandsdeutschen können und dürfen nur im Einvernehmen mit den entsprechenden Regierungen erfolgen. Nationale Rechtsvorschriften, die Souveränität dieser Länder und bestehende Grenzen sind von allen Beteiligten zu achten und zu respektieren. Leider sind wir Zeugen eines wachsenden Nationalismus in vielen Teilen Europas. Gerade deshalb gilt es, alles zu tun, damit wohlgemeinte Hilfsmaßnahmen zugunsten der deutschen Bevölkerungsteile in Ländern Osteuropas, die allesamt mit wirtschaftlichen und sozialen Problemen kämpfen, nicht zu Neid, Mißgunst, ja, Nationalismus führen. Eine Bevorzugung, vielleicht sogar die Herausbildung einer deutschen Elite oder von ähnlichem wäre ein gefährliches Eigentor für die Bundesrepublik Deutschland. Der Beitrag der Bundesrepublik muß darin bestehen, alles zu tun, damit die Deutschen im Osten Europas dort bleiben, leben und wirken, wo sie bisher gelebt haben. Die Demokratisierungsprozesse in Osteuropa sind dafür eine gute Voraussetzung, das sie umgebende Umfeld und das Verhältnis der Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft zueinander aber nicht weniger wichtig. Daß es sich dabei nicht nur um Hilfe im Bereich der Kultur, sondern vor allem auch in der Wirtschaft handeln muß, versteht sich von selbst. Es heißt: „Des Volkes Seele lebt in seiner Sprache." - Mit dem Verlust der Muttersprache gehen auch kulturelle Identität, Vergangenheitsbewußtsein, die Bindung an die Mutternation verloren. Gerade deshalb wird dem Erhalt und dem Erlernen der deutschen Sprache unter den Auslandsdeutschen so große Bedeutung beigemessen. Wer sich in den Ländern Osteuropas, einschließlich der ehemaligen Sowjetunion, etwas auskennt, weiß auch, daß es, bedingt durch Assimilierungsprozesse und Unterdrückung, mit den deutschen Sprachkenntnissen unter den Auslandsdeutschen nicht gut aussieht. Viele Menschen, insbesondere Jugendliche, fühlen sich auf Grund ihrer elterlichen Herkunft subjektiv als Deutsche, sprechen aber oft kaum ein Wort Deutsch. Die heutigen Bedingungen in diesen Ländern erlauben Hilfe von außen. Dies ist gut und notwendig. Ich frage mich allerdings, warum angesichts der wachsenden Anforderungen und damit verbundenen finanziellen Belastungen für die Bundesrepublik Deutschland Bücher der DDR, darunter Schulbücher der unteren Klassenstufen, im Reißwolf landen, anstatt damit zeitweilig fehlendes Lesematerial in den osteuropäischen Ländern zu ergänzen. Ich bin überzeugt: Viele Bibliotheken in diesen Ländern wären glücklich gewesen, wäre ihr Bestand auch mit Büchern von DDR-Autoren ergänzt worden. Darunter waren nicht wenige, die auch heute noch lesbar sind. Auch sie gehören zur Geschichte Deutschlands. Aber leider wurden, wie mir nicht nur am Rande der Leipziger Buchmesse zu Ohren kam, ganze Paletten frisch gedruckter Bücher ohne Ansehen der Autoren vernichtet - eine kostspielige Angelegenheit. Zum Schluß noch zwei Bemerkungen. Wenn Minderheitenrechte heute in den Verfassungen der einzelnen Länder verankert sind, dann muß auch deren Verwirklichung in der Praxis überprüfbar sein. Um dieses Problem generell in den Griff zu bekommen, sollte die Bundesregierung alles unternehmen, um den seit langem erwarteten völkerrechtlichen Regelungen zur Minderheitenpolitik zum Durchbruch zu verhelfen. Last not least sollte überdacht werden, ob angesichts der wachsenden Aufgaben und Verpflichtungen eine Förderung der ostdeutschen Kulturarbeit durch zwei zentrale Behörden, das Auswärtige Amt und das BMI, noch sinnvoll und effektiv ist. Es sollte ernsthaft überprüft werden, ob Reibungsverluste und Überschneidungen, ja, sogar mögliche Verluste in der Unterstützung nicht durch eine zentrale Koordinierungsstelle vermieden werden könnten. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster hat Herr Horst Sielaff das Wort,

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigentlich ist dieser Tagesordnungspunkt mit den nachfolgenden, in denen es um die Unterstützung humanitärer Hilfe für die GUS-Länder geht, wie ich meine, eng verbunden. Die Hilfe muß - da sind wir uns einig - dem Zusammenleben unterschiedlicher Nationalitäten dienen. Sie darf nicht nur den Deutschen, sondern muß auch allen anderen offenstehen. Sie darf nicht spalten oder neue Spannungen mit anderen Nationalitäten erzeugen. ({0}) Es darf eben kein neuer Nationalismus um sich greifen, der alle Bemühungen von außen zunichte machen würde und eine Gesellschaft mit unterschiedlichen Kulturen, eine Vielvölkerkultur, nicht entstehen lassen würde. Die Deutschen, insbesondere die in der ehemaligen UdSSR, haben ein schweres Schicksal hinter sich. Aber wir dürfen dabei auch nicht vergessen, daß andere Völker ein ähnliches Schicksal unter dem Stalinismus erlitten. ({1}) Vielleicht hätte dazu auch ein Satz in den vorliegenden Drucksachen stehen sollen. Viele Verantwortliche in den Staaten Ost-, Mittel- und Südosteuropas wollen, daß die Deutschen heute im Lande bleiben. Häufig haben die Deutschen allerdings das subjektive Gefühl, man wolle sie nur als gute Arbeitskräfte halten. Das gegenseitige Akzeptieren, die Toleranz gegenüber anderen Sprachen und Kulturen kann nicht nur von oben verordnet werden. Die Deutschen werden in ihren Herkunftsländern nur bleiben, wenn sie dort von ihren Nachbarn als Menschen akzeptiert werden und auch eine ökonomische Zukunft für ihre Kinder sehen. Unsere Hilfe, meine ich, darf dabei nicht überschätzt oder nur deshalb gegeben werden, damit die Deutschen um jeden Preis in ihren heutigen Staaten oder Wohnorten bleiben. Diese Hilfe ist nicht ausschlaggebend dafür, ob die Menschen bleiben oder nicht. Sie trägt vielleicht dazu bei, das Bleiben zu erleichtern bzw. den Willen zum Bleiben zu unterstützen. Über die Förderung im bisherigen Rahmen werden wir allerdings kaum das Bleiben verstärken. Ich glaube, die Hilfe muß verstärkt werden. Wichtig erscheint mir augenblicklich, ökonomische Zukunftsperspektiven zu geben. Deshalb muß die deutsche Hilfe gezielter und gebündelt gegeben werden; sonst wird sie auch weiterhin von den Deutschen dort nur punktuell oder kaum wahrgenommen. Sie sollte auch - das ist immer wieder betont worden - mit anderen Hilfen, z. B. wirtschaftlicher Hilfe, Hilfe im Agrarbereich, Praktikantenaustausch und Technologietransfer, an die GUS-Staaten gekoppelt und mit ihnen koordiniert werden. Bis heute gibt jedes Bundesministerium Hilfen. Das Bundeskanzleramt soll sie koordinieren. Gleichwohl fallen die Hilfsmaßnahmen für Deutsche in Ost- und Südosteuropa, die das BMI gewährt, offenkundig aus dieser Koordinierung heraus. Meine Damen und Herren, Koordinierung darf aber keineswegs heißen, daß eine Organisation oder ein Verband eine Art organisatorisches Monopol erhält, ({2}) auf dessen Wohlwollen dann andere, die tätig werden wollen, auf Gedeih und Verderb angewiesen sind. Der Dank an Verbände und Organisationen, die teilweise schon seit längerem gute, teilweise hervorragende Arbeit für die Deutschen in den Staaten Ost- und Südosteuropas leisten, ist angebracht. Wir sollten die Verbände aber auch nicht überfordern, sondern sie dort gezielt einsetzen, wo sie besondere Erfahrungen haben. Es gibt einige gute Ansätze der Hilfe, aber auch uneffektiven Leerlauf - wen wundert es bei dieser schwierigen Aufgabe? - und unverständliche Entwicklungen. Ich möchte wegen des Zeitmangels nur ein Beispiel nennen. Das deutsche Lektorat beim Alma-Ata-Verlag in Kasachstan ist erst nach dem Zusammenbruch der früheren Sowjetunion eingegangen. Dort wurden hervorragende deutschsprachige Bücher herausgegeben. Es ist mir einfach unverständlich, daß diese Arbeit nicht weitergeführt werden kann oder weitergeführt wird. Auch die vielfach geforderten Initiativen bzw. das finanzielle Engagement bedeutender privater Investoren, vor allem auf technologischem Gebiet, werden erst dann wirklich kommen, wenn durch wohlüberlegte, koordinierte und erfolgversprechende Hilfspakete der Bundesregierung dafür die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen worden sind. Bei dieser Hilfe sind sicherlich Schwerpunkte zu setzen. Aber wir dürfen über der Hilfe zum Wiederaufbau einer Wolgarepublik - ein sehr empfindsames und kompliziertes Unterfangen - nicht die Ansiedlungsschwerpunktgebiete z. B. in Kasachstan, im Altai-Bereich, in der Ukraine, im Ural oder in Polen, Rumänien oder der Tschechoslowakei und Ungarn vergessen. Ich meine, die Deutschen dort dürfen nicht den Eindruck haben, daß die Hilfen jetzt lediglich in die GUS-Staaten fließen. Bei der Gewährung der Hilfen für Deutsche darf man auch folgendes nicht außer Betracht lassen: Die Menschen dürfen von den dortigen Regierungen nicht als Faustpfand für wirtschaftliche Hilfe mißbraucht werden. ({3}) Ich sage das, weil ich bei einigen GUS-Staaten manchmal den Eindruck habe, daß diese Gefahr bestehen könnte oder daß die Deutschen meinen, es geht nach dem Motto: Ihr gebt uns aus Deutschland genügend wirtschaftliche Unterstützung; wir behalten dafür eure Leute bei uns, für die ihr ja doch keinen Platz in Deutschland habt. - Dies wäre eine fatale Entwicklung. Ich bin auch davon überzeugt: Die Rechnung ginge ohnehin nicht auf. Meine Damen und Herren, wir sind für verstärkte Hilfen, aber - ich sage es noch einmal - nicht nur für eine Gruppe; vielmehr muß sie allen zugute kommen. In diesem Sinne unterstützen wir auch die Bemühungen der Bundesregierung. Unabhängig davon werden wir uns heute der Stimme enthalten, weil wir meinen, es ist wichtig, auch die Fachorganisationen, die sich jahrelang mit dieser Hilfe beschäftigt haben, zu hören und das, was sie zu sagen haben, ernst zu nehmen. Ich bedanke mich. ({4})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als letzter zu diesem Thema spricht der Parlamentarische Staatssekretär Horst Waffenschmidt.

Dr. Horst Waffenschmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002403

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich zunächst ganz ausdrücklich für diese Beschlußempfehlung und den Bericht und für das bedanken, was hier zur Ermutigung bei unserer nicht ganz einfachen Arbeit gesagt worden ist. Ich will hier für die Bundesregierung noch einmal ganz deutlich feststellen: Alles, was wir mit Hilfe des Parlaments und mit Hilfe vieler anderer unternehmen, soll den Deutschen in ihren Siedlungsschwerpunkten in Ost- und Südosteuropa eine kulturelle Geborgenheit geben. Es soll aber zugleich dazu beitragen, daß sie eine Brückenfunktion zu ihren nichtdeutschen Nachbarn und auch zwischen den Völkern wahrnehmen können. Ich meine, wir sollten uns heute morgen auch noch einmal sagen: Durch die politische Wende, durch die politischen Geschehnisse in den letzten drei Jahren in Deutschland und Europa, durch das Mehr an Freiheit und Demokratie ist uns eine große Chance, eine große Möglichkeit auch für diese kulturellen Initiativen in Osteuropa zugewachsen, für die wir sehr dankbar sein sollten und die wir gemeinsam als großes Geschenk empfinden sollten. ({0}) Lassen Sie mich, weil das in der Debatte eine Rolle gespielt hat, noch einmal betonen, daß das Bundesministerium des Innern, das ich hier vertrete, und das Auswärtige Amt in dieser Frage nun wirklich auf das Allerengste und, so möchte ich sagen, in einer sehr positiven und angenehmen Weise koordiniert zusammenarbeiten. Ich habe vor etlichen Tagen ein langes Gespräch mit Außenminister Kinkel über die gemeinsamen Aktivitäten auf diesem Gebiet geführt. Ich will aber gleich eines hinzufügen: Wir brauchen die Koordination nicht nur zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium des Innern, sondern mit allen Ressorts, die in der GUS und in den anderen Staaten Ost- und Südosteuropas Hilfe leisten. ({1}) Deshalb habe ich eine Koordinationskonferenz der beteiligten Ressorts ins Leben gerufen. Herr Kollege Sielaff, Sie haben zu Recht gesagt, die allgemeine GUS-Hilfe werde im Bundeskanzleramt koordiniert. Ich habe mit Minister Bohl abgesprochen, daß wir für den Bereich, den wir heute besprechen, eine besondere Koordinationskonferenz haben sollten; denn ich möchte gerne erreichen, daß die Mittel, die allgemein eingesetzt werden, soweit es geht - nicht alle, aber soweit es geht - mit den Möglichkeiten koordiniert werden, die wir hier haben. Ich glaube, das ist sinnvoll. Aber auch dabei sage ich: Wir wollen nicht den Eindruck erwecken, als würden wir jetzt die gesamten GUS-Hilfen nur auf die Schwerpunkte deutscher Minderheit konzentrieren. ({2}) - Das wäre fatal und würde letztlich auch den Deutschen, denen wir helfen wollen, gar nicht helfen. Es würde Neidsituationen hervorrufen, was wir vermeiden müssen. ({3}) In der Kürze der Zeit, wo wir tätig sein können, mit der Freiheit, die uns neu geschenkt wurde, ist auch eine ganze Menge an Aktivitäten auf den Weg gekommen. Ich will jetzt nur ein paar Aktivitäten nennen, auch sehr aktuelle. Ich war, wie die meisten von Ihnen mitverfolgt haben, vor 14 Tagen auf einer Reise durch Kasachstan, wo z. B. noch über eine Million Deutsche leben. Ich habe in Gesprächen mit dem Präsidenten Nasarbajew - wir haben das vor wenigen Tagen in Bonn fortgeführt - gesagt: Wenn wir den Deutschen dort helfen wollen, dann brauchen sie die kulturelle Geborgenheit in der Schule, in den Fernsehprogrammen, in den Rundfunkprogrammen, in vielen kulturellen Initiativen. Denn den deutschen Menschen dort geht es ja wirtschaftlich in der Regel gar nicht schlecht, sondern sie haben ihre Möglichkeiten der Arbeit im wirtschaftlichen, im landwirtschaftlichen Bereich. Was sie aber mit Sorge erfüllt, ist, sie könnten kulturell an die Seite gedrückt werden. Unser Schwerpunkt muß sein, ihnen diese Geborgenheit in der kulturellen Tradition, in der Sprache, in der Ausbildung zu ermöglichen. Wir haben gerade auch in den Gesprächen von Bundeskanzler Helmut Kohl mit dem Präsidenten Nasarbajew Wert darauf gelegt, daß wir z. B. in dieser Frage ein besonderes Abkommen zwischen Deutschland und Kasachstan vorbereiten. Ich werde darüber dann auch in den Ausschüssen berichten. Wir müssen gerade Menschen, die in einem solchen Land leben, unterstützen, daß sie die kulturelle Geborgenheit haben. Es ist hier über weitere sehr ermutigende Aktivitäten zu berichten. Wir sind z. B. in Rußland dabei, an einer historischen Stätte mit anderen zusammen zu helfen. Das wird Sie sicherlich erfreuen. Ich nenne die Stätte Alzarepta bei Wolgograd, früher Stalingrad. Das ist eine Stätte von großer historischer Bedeutung. Sie war die erste Gründung der Herrnhuter Brüdergemeinde in Osteuropa. Es ist eine Stätte, wo jetzt die Evangelische Kirche in Deutschland, der zuständige Bezirk in Rußland und das russische Kulturministerium zusammen mit der deutschen Bundesregierung dabei sind, ein Zentrum der Versöhnung zu errichten. Es wird kirchliche Aufgaben haben - dafür ist die Kirche zuständig -, aber es wird auch Aufgaben des Jugendaustauschs, der Begegnung, der kulturellen Kontakte zwischen den Völkern haben. Meine Damen und Herren, ich habe dieses Beispiel gewählt, weil wir natürlich auch zurückdenken, Jahrzehnte zurückdenken an die furchtbaren Ereignisse in Stalingrad, jetzt Wolgograd. Wir können uns doch auch daran freuen, daß es jetzt möglich ist, gerade in einer solchen Stadt, in der die Menschen soviel Leid erlitten haben, im Sinne neuer Versöhnungspolitik einen Ort der Begegnung, einen Ort des gegenseitigen Kennenlernens und einen Ort gemeinsamen Gebets zu schaffen. Ich finde, das sind hoffnungsvolle Zeichen. ({4}) Ich darf hier sagen, daß die Zusammenarbeit zwischen Universitäten, z. B. in Odessa für die Südukraine, in Saratow für das Wolgagebiet, auf der russischen bzw. ukrainischen Seite und der deutschen Seite sehr gut anläuft, nicht nur was die Sprachförderung und die Ausbildung von Deutschlehrern angeht, sondern auch im medizinischen Bereich. Das kommt dann wieder allen zugute, nicht nur den Deutschen, sondern auch ihren nichtdeutschen Nachbarn. Meine Damen und Herren, lassen sie mich an dieser Stelle sagen: Wenn wir Brückenfunktionen ausüben wollen, dann müssen wir bei allen unseren Aktivitäten auch versuchen, die Menschen auf eine neue Weise zusammenzuführen. Frau Kollegin Wisniewski, als Sie von Marx und von dem beachtlichen Bauwerk sprachen, von der Kirche, die es lohnen würde, sie möglichst bald wieder aufzubauen, wurde ich daran erinnert, daß es uns gelungen ist, gerade in dieser Stadt Marx vor wenigen Monaten auf Bitten der dort jetzt schon wieder lebenden Deutschen, aber auch der russischen Bevölkerung einen großen ökumenischen Gottesdienst zu feiern, der getragen wurde von den dort anwesenden Katholiken, den Lutheranern und dem dort zuständigen russisch-orthodoxen Bischof. Es war ein erhebendes Erlebnis, daß die Russen und die Deutschen zusammenkamen, auch über die Konfessionen hinweg, und in einer Stadt, die allein schon durch den Namen eine besondere Prägung hat, früher Katharinenstadt, zu dieser neuen Aktivität schreiten konnten. Meine Damen und Herren, ich möchte heute morgen gerne - ich denke, mit Ihrer aller Unterstützung - auch viele andere außerhalb des Staates aufrufen, uns bei dieser Aufgabe zu helfen. Es kann nicht nur eine Aufgabe von Bund und Ländern sein. Ich denke hier auch an Städtepartnerschaften, ich denke an die Kirchen, ich denke auch an private Initiativen. Lassen Sie mich auch dafür ein Beispiel nennen: Ich konnte neulich die Deutschen in Siebenbürgen besuchen und habe natürlich auch mit ihren nichtdeutschen Nachbarn gesprochen. Wir hatten viele gute Treffen. Eines hat mich besonders positiv angesprochen. Es gibt in Siebenbürgen die historisch bedeutsamen Kirchenburgen. Und es ist ein deutscher Privatmann, der es aus den finanziellen Möglichkeiten seiner Familie übernommen hat, mit den staatlichen Stellen in Rumänien und der dort zuständigen lutherischen Kirche Kirchenburgen wieder aufzubauen, Kirchenburgen wieder für Gottesdienste herzurichten; ich finde, eine beispielhafte Aktivität. Der anwesende Kulturminister Rumäniens hat das ausdrücklich als eine Brücke kultureller Zusammenarbeit und freundschaftlichen Miteinanders gewürdigt. Ich denke, solche Initativen sollten Nachahmer finden. Es gibt sicherlich in vielen anderen Bereichen ähnliche Möglichkeiten, aber wir sollten sehen, daß für die Deutschen, um die es ja heute geht, aber auch für ihre nichtdeutschen Nachbarn in den angesprochenen Ländern gerade der religiös-kulturelle Bereich eine große, prägende Wirkung hat und daß sie dort ein wichtiges Stück der Geborgenheit empfinden. Meine Damen und Herren, es wurde zusätzlich noch der Bereich angesprochen, der uns hier oft zur Diskussion vereint hat: ostdeutsche Kulturarbeit. Ich finde, es ist gut, daß es eine Fortschreibung des bestehenden Aktionsprogramms geben wird. Dann können wir vielleicht noch einmal die Schwerpunkte überprüfen, auch im Hinblick auf die neue Situation und die Verknüpfung mit den Aufgaben in Ost- und Südosteuropa. Ich sehe alles dies als einen wichtigen Beitrag an für das gemeinsame kulturelle Erbe in Deutschland und Europa, das wir gemeinsam mit unseren Nachbarvölkern, mit den Menschen, an die wir jetzt besonders denken, den Millionen Deutschen in Ost- und Südosteuropa, aber auch ihren nichtdeutschen Nachbarn, pflegen, erhalten und auf die Zukunft hin ausbauen sollten. Ich darf mich noch einmal herzlich dafür bedanken, daß wir diese Beschlußempfehlung und diese Unterstützung bekommen. Wir können sie gerade auch im Vorfeld der Haushaltsberatungen als einen wichtigen Akzent empfinden. Ich möchte - zusammengefaßt - uns miteinander in Staat und Gesellschaft wünschen, daß wir die neuen Möglichkeiten, etwas für die Menschen zu tun und kulturelles Erbe zu erhalten, weiter zu stärken und mit Leuchtkraft zu versehen, als ein Geschenk und einen Auftrag gemeinsam empfinden. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 12/2106? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlußempfehlung bei Enthaltung der SPD und der PDS/Linke Liste ({0}) angenommen. Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gernot Erler, Dr. Dietrich Sperling, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter der Fraktion der SPD Unterstützung von privaten Initiativen humanitärer Hilfe für die Lander der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten - Drucksache 12/2122 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({1}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Post und Telekommunikation Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Haushaltsausschuß b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gert Weisskirchen ({2}), Günter Verheugen, Markus Meckel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Verbindung der Hilfen für Ost-, Mittel- und Südosteuropa und für die Staaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten mit Projekten zum Aufbau ihrer Demokratien - Drucksache 12/2234 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({3}) Innenausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Haushaltsausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch und eröffne unmittelbar die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Volkmar Köhler. ({4}) - Es tut mir leid; Frau Weyel hat recht. Herr Weisskirchen fängt an.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vermutlich hätte es gar nichts ausgemacht, Herr Köhler, wenn Sie vor mir gesprochen hätten. ({0}) - Nein, ich vermute, daß wir in der Sache inhaltlich ziemlich parallel diskutiert hätten, was wir ja gerade bei dem vorhergehenden Tagesordnungspunkt gesehen haben. In der Tat ist es so, daß sich dieser Teil unseres Kontinents im Osten in einem Aufbruch, im Umbruch befindet, manche sagen: im Chaos oder in der Verwirrung. Ich denke, das Wichtigste, was wir tun könnten, um chaotische Zustände zu vermeiden oder daran mitzuwirken, daß sie zumindest gedämpft werden können, ist, daß wir dabei erkennen: Hier liegt eine Aufgabe für uns alle gemeinsam, mitzuhelfen, daß dort zivile Lösungen gesucht werden, nachdem diese ganze Region ein dreiviertel Jahrhundert durch militärische Lösungen erstickt worden ist. Das ist der zentrale Punkt! ({1}) Wir können das nur gemeinsam tun. Wir können unsere Kraft nur gemeinsam einbringen, und wir Deutschen können das nicht allein tun. Das Wichtigste ist, daß die gesamte zivile Welt, daß Westeuropa gemeinsam mit den USA und Japan begreift, daß hier eine Aufgabe vor uns liegt, an die wir wirklich mit angemessenen Instrumenten herangehen müssen. Diese Instrumente sind bisher von uns allen noch nicht gefunden. Ansatzpunkte gibt es bei uns - als Deutscher darf man das durchaus sagen - auch deswegen, weil wir am nächsten an diesem Problem dran sind. Wir können es auch deswegen sagen, weil es ein großes Verhängnis gibt, ein großes historisches Versäumnis, nämlich daß die Deutschen im Westen Europas manchmal geglaubt haben, man müsse nur mit den Russen im Osten Europas eine gemeinsame Politik zur Unterdrückung der Völker, die dazwischen leben, machen, und schon wäre dieser Kontinent geordnet. Das war ein Denkfehler von Bismarck und von vielen, die ihm in ähnlicher Weise gefolgt sind. Es kommt darauf an, daß wir begreifen, daß die Völker und die Menschen, die in den Regionen zwischen Moskau und dem Atlantik leben, eine eigene Identität, einen eigenen Charakter, eine eigene Würde haben und daß wir alles dazu beitragen müssen, daß diese Würde, dieser eigene Charakter und diese eigene Identität auch wirklich friedlich wachsen können, so daß sie nicht in dem Glauben sind, man könne die Eigenstaatlichkeit, die eigene Identität nur mit Gewalt durchsetzen. ({2}) Wenn sich das, was wir jetzt in Jugoslawien erleben müssen, als ein Modell nach Osten fortsetzt, dann kann man nicht nur sagen „Gnade uns Gott", sondern dann muß man auch sagen, daß das etwas damit zu tun hat, daß wir die Zeichen der Zeit nicht richtig verstanden haben. Es liegt an uns, mitzuhelfen, daß dieser Kontinent zusammenwachsen kann. Das können wir nur tun, wenn wir alle unsere Mittel - auch unsere Finanzmittel -, unsere Fähigkeiten, unser Wissen wirklich für dieses große Aufbrechen zu einer neuen Gemeinsamkeit einsetzen. Das ist unsere verdammte Gert Weisskirchen ({3}) historische Aufgabe, die wir jetzt - und nur jetzt! - erfüllen können. Jeder Tag, der dabei verloren geht, kann unseren Kontinent nachher in eine völlig falsche Richtung schieben. Das müssen wir unbedingt verhindern. ({4}) Wenn das vielleicht jetzt noch einmal gesagt werden darf: Wie man auch immer im Rückblick auf den Kalten Krieg historisch bewerten kann, was diese übergroße Rüstungsmaschinerie finanziell, an Fähigkeiten, an Know-how, an Kreativität gekostet hat: Der Westen hat fast keine Anstrengung gespart, um diese in der Tat auch durchzusetzen. Wo aber bleibt eigentlich jetzt, nachdem der Kalte Krieg - wenigstens in der ersten Phase - gewonnen werden konnte, die große Anstrengung, daß wir endlich den Frieden vorbereiten, damit wir nicht nur den Kalten Krieg gewonnen haben, sondern auch den Frieden wirklich gewinnen können? Diese große Anstrengung fehlt noch. ({5}) Ich sehe mit großer Sorge - das sage ich ganz offen, auch an uns selbst, an unser eigenes Haus gerichtet -, daß wir die richtigen Konzepte zur Lösung dieser Aufgaben, dieser großen Herausforderung durch diese unerhörten Ereignisse, die im Osten unseres Kontinents stattgefunden haben, noch nicht entwikkelt haben. Was hat das, was im Osten geschieht, mit uns zu tun? Diese Frage wird uns häufig gestellt. Überfordern wir uns nicht, wenn wir - beispielsweise den Zielen dieser beiden Anträge folgend - auch noch die Geburtswehen der Nachfolgestaaten der Sowjetunion mindern wollen? Wäre es nicht besser, wir überließen den Zerfall der ehemaligen Sowjetunion einfach sich selbst? - Machen wir uns nichts vor, es gibt sehr viele, die so ähnlich denken. Sie sagen: Mit dem Chaos, das dort herrscht, wollen wir nichts zu tun haben, wir wollen nicht von den Krankheiten infiziert werden; wir wollen abwarten, bis sich dieser Raum von unten selbst neu gestaltet, dann können wir besser mit ihm kooperieren. Ich warne vor diesem Denkfehler! Man möge sich doch wirklich ausmalen, was es bedeutete, wenn sich das schreckliche Modell, das wir in Jugoslawien erleben, weiter nach Osten verlängerte. Glauben wir vielleicht, wir könnten 4 Millionen, 5 Millionen oder 6 Millionen Menschen, die vor solchen kriegerischen Auseinandersetzungen fliehen müßten, aufhalten? Wohin sollten sie denn fliehen als nach Westen? Glauben wir vielleicht, wir könnten diese Flüchtlingsheere, die dann versuchen würden, selbst neues Land zu gewinnen, vor unseren Grenzen aufhalten? Dies ist eine schiere Illusion! Die einzige Chance für uns, das zu vermeiden, ist mitzuhelfen, daß in diesen Ländern zivile Gesellschaften, Bügergesellschaften von unten wachsen, die die Chance haben, die militärischen Lösungen, die dort in einer jahrhundertelangen Tradition gewachsen sind, zu überwinden und friedliche Lösungen durchzusetzen. Das ist unsere zentrale Aufgabe: die Bürgergesellschaften, ihre Strukturen, die Parteien, die Gewerkschaften, die Bürgerinitiativen dort zu unterstützen. Sie sind zwar schwach; das wissen wir alle, die wir uns im Osten unseres Kontinents bewegen. Aber wir haben die Chance, ihnen zu helfen, damit sie selbst ihre eigenen Gesellschaften von unten so aufbauen, daß sie nachher in der Tat demokratisch sind und den Frieden innerhalb ihrer eigenen Gesellschaften auch durchsetzen können.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Weisskirchen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reuschenbach?

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Peter W. Reuschenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001827, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Herr Kollege, können Sie diesen Appell, solche Entwicklungen, Demokratisierungen, Bürgergesellschaften zu unterstützen, mit dem Beschluß des Präsidiums des Deutschen Bundestages, parlamentarische Partnerschaften mit solchen Parlamenten, die sich dort in der Entwicklung befinden, nicht schon in dieser Wahlperiode zu installieren, in Übereinstimmung sehen? Wissen Sie, daß davon alle Parlamente in dem Raum, den Sie ansprechen, einschließlich des jungen, neuen demokratischen Albaniens, betroffen sind? ({0})

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Peter Reuschenbach, es wäre schlimm, wenn das, was Sie gesagt haben, zutreffen würde. ({0}) Frau Präsidentin ich würde herzlich darum bitten, daß Sie die Chance nützen, dazu nachher einen Satz zu sagen. ({1}) Es wäre in der Tat schrecklich, wenn das so wäre. Natürlich, wir wissen, daß Estland am vergangenen Sonntag zum ersten Mal ein frei gewähltes Parlament bestimmt hat. Aber wir wissen auch, was in Estland geschehen ist. Oder glauben wir, es wäre klug, eine Demokratie aufzubauen, in der etwa 40 % der Bevölkerung, nämlich die große russische Minderheit, von staatsbürgerlichen Rechten ausgeschlossen ist? Das kann doch nicht gutgehen! Wir sagen das, obwohl wir begrüßen, daß in Estland endlich freie Wahlen stattgefunden haben. Wir sagen unseren neuen Kolleginnen und Kollegen ein Glückauf für ihre Arbeit. Aber wir sagen auch: Bitte denkt in Tallinn, in Tartu, denkt überall in Estland darüber nach: So darf Demokratie erst gar nicht beginnen. Alle Menschen gehören dazu, ({2}) besonders diejenigen, die im Laufe der jahrzehntelangen Entwicklung auch unterdrückt worden sind, nämlich die Russen genauso wie die Esten und alle anderen in dieser Region. Das ist die Aufgabe, die wir haben. Sie ist schwer. Sie stellt eine Herausforderung dar, von der ich nicht weiß, ob wir sie bestehen können. Aber wir haben die Gert Weisskirchen ({3}) Chance, mit dieser Aufgabe zu wachsen. Wir können ein wunderschönes Ziel erreichen: Wir können dort Demokratie verankern, wo sie bisher nur schwach existieren konnte. Es gibt dort drüben viele, viele Menschen, die das wollen. Wir müssen ihnen helfen. Das bezwecken unsere Anträge. Herzlichen Dank. ({4})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Bevor ich das Wort weitergebe, möchte ich eine kurze Stellungnahme zu der soeben gestellten Zwischenfrage und zu der Antwort darauf abgeben. Das Präsidium hat nicht beschlossen, auf die Situation in den neuen Republiken nicht zu antworten. Es wird vielmehr mit dem Ältestenrat Beschlüsse darüber herbeiführen. Es geht eher darum, wie wir die Aufgaben noch in dieser Wahlperiode wahrnehmen, beispielsweise indem wir die Aufgaben der deutschsowjetischen Parlamentariergruppe erweitern oder indem wir z. B. eine neue südosteuropäische Parlamentariergruppe bilden. Es geht jetzt also nicht darum, diese Aufgaben nicht wahrzunehmen. Eine solche Beschlußlage des Präsidiums ist mir nicht bekannt. ({0}) - Es gibt auch schon einmal falsche Informationen. ({1}) - Ich habe Ihnen die Entscheidung des Präsidiums vom gestrigen Tage mitgeteilt. Es trifft nicht zu, daß keine Parlamentariergruppen eingerichtet werden, daß Aufgaben nicht wahrgenommen werden können. Wir setzen die Beratung fort. Nun spricht der Abgeordnete Dr. Volkmar Köhler.

Dr. Volkmar Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001154, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich bin froh, daß ich die Gelegenheit hatte, Ihnen, Herr Weisskirchen, zuzuhören. Das macht es mir leichter, Ihnen meinen Respekt für die Motive Ihres Antrages zu versichern. Was den Antrag selber angeht, so stehe ich freilich auf dem Standpunkt, daß es einen Unterschied zwischen gutgemeint und gut gibt. Worin liegt eigentlich der Sinn, wenn am 24. Januar dieses Jahres ganz ähnliche Anträge - übrigens auf Grund einer gemeinsamen Beschlußempfehlung des Wirtschaftsausschusses - im Plenum beraten und mit großer Mehrheit verabschiedet worden sind? Ich könnte, wenn es mir die Zeit erlaubte, die Punkte 9 bis 13 aus dieser gemeinsamen Beschlußempfehlung jetzt vorlesen. Seinerzeit ist beschlossen worden, das zu fordern und in Gang zu setzen, was Sie soeben mit sehr viel Leidenschaft von neuem gefordert haben. Übrigens stammt ihr Antrag vom 11. März 1992; das sind gerade eben sieben Wochen nach diesem Beschluß. Wenn man gerade Aufträge erteilt hat, kann man wirklich nicht schon nach sieben Wochen sagen, es passiere überhaupt nichts. Das ist nicht korrekt. Sie wissen genau wie ich, daß das Kabinett am 4. Dezember 1991 den Beschluß gefaßt hat, ein Gesamtkonzept zu erstellen. Sie wissen wie ich, daß am 18. März 1992 der Koordinierungsausschuß gegründet worden ist und daß damals festgelegt worden ist, daß die wirtschaftliche Beratung vom Wirtschaftsministerium durchgeführt, daß die Bereiche Recht und Inneres von Innenministerium und daß die Bereiche Kultur, Sprache und Forschung vom Auswärtigen Amt betreut werden sollen. Dieser Ausschuß arbeitet seit dem 24. März 1992. Wir haben in den Haushaltsplan für 1993 einen Ansatz von insgesamt 592 Millionen DM eingestellt. In den Beratungen über den Haushaltsplan wird es sehr darauf ankommen, daß wir uns in jedem Detail sorgfältig damit beschäftigen, ob die Mittel nützlich sind, ob sie richtig angesetzt sind und ob die Vorgabe entsprechend umgesetzt wird. Diese Detailarbeit halte ich für wesentlicher als eine allgemeine Willenserklärung, die man hier abgeben kann. Dies alles ist übrigens Ihrer zuständigen Arbeitsgruppe vom Bundeskanzleramt im Juni noch einmal erläutert worden. Sie wissen, daß Herr Kartte in Moskau arbeitet. Sie wissen, daß, wie in dem Beschluß vom Januar festgelegt, vor Ort Büros der Kreditanstalt für Wiederaufbau eingerichtet worden sind, und Sie haben - wie ich - die Einladung zur Koordinationskonferenz auf dem Petersberg am 9. Oktober, wo dies alles überparteilich im Detail besprochen, kontrolliert und abgeklopft werden kann, auf den Tisch bekommen. Es ist inzwischen ein Regelkreis entstanden. Es stimmt eben nicht, daß nichts geschehen sei. Es gibt den Koordnierungsausschuß im Bundeskanzleramt, es gibt Büros vor Ort, die ihre Erfahrungen gewinnen. Diese Erfahrungen werden in Veranstaltungen wie dem vorhin genannten Symposium ausgewertet. Auf diese Weise kann das System entwickelt und angepaßt werden. Sie sind zur konstruktiven Mitarbeit daran eingeladen. Es ist klar festgelegt, wer wo berät. Dem BMZ z. B. wurden die Entwicklungsstaaten Zentralasiens zugewiesen. Im Moment sind jedenfalls theoretisch keine Überschneidungen erkennbar. Es sind klare Schwerpunkte gesetzt worden. Natürlich kann man jetzt fragen: Ist das genug der Koordination? In dieser Phase, in der wir doch vor einer sehr chaotischen Entwicklung stehen, muß doch die erste Zielsetzung sein, alle denkbaren Ressourcen zu mobilisieren. Das ist ein bißchen die Taktik Friedrichs des Großen, in verzweifelten Situationen jeden, der eine Flinte tragen kann, erst einmal in die erste Linie zu schicken und erst dann die Situation weiter zu ordnen. ({0}) - Ich habe extra ein Beispiel aus weit zurückliegender Zeit gewählt. Wo die Absorptionsprobleme sind, welche Koordinierungsprobleme angesichts nicht mehr vorhandener einheitlicher Staatsverwaltungen im einzelnen zu Dr. Volkmar Köhler ({1}) lösen sind, welche Institutionen entwickelt werden müssen, um die Dinge umsetzen zu können - das ist doch zu einem guten Teil eine Erfahrungswissenschaft. Die Problemanalyse können wir uns nicht in Moskau abholen, sondern wir müssen sie zu einem guten Teil selber machen. Deswegen, Herr Weisskirchen, ist es nicht gut, nach einem Master-Plan zu rufen. Übrigens, solche Master-Pläne werfen Sie der Weltbank und dem IMF gerne vor; Sie sagen, sie seien etwas, was dem betreffenden Land von außen aufoktroyiert werde. Ich finde es sehr wichtig, daß Herr Spranger gerade in Washington darauf hingewiesen hat, wie unendlich viel schwerer die GUS-Staaten es dadurch haben, daß ihnen eine ganze Reihe von Voraussetzungen fehlt, die in der Dritten Welt durch jahrelange Zusammenarbeit entstanden sind. Muß dieses Koordinationsinstrumentarium verändert werden? Ja, natürlich, nach Maßgabe der Erfahrung. Aber wir dürfen dabei nicht an die generelle Planbarkeit und die generelle Machbarkeit der Dinge glauben, wie es manchmal in Ihrem Antrag anklingt. Das ist nicht der Fall. Deswegen werden wir wohl oder übel versuchen müssen, die Dinge schrittweise nach Maßgabe der Erfahrung im richtigen Rahmen zu entwickeln; denn auch wir sind nicht in der Lage, alle Probleme und alle Fragen dieser riesigen Räume zu lösen. Wir würden übrigens psychologisch einen ganz großen Fehler machen, wenn wir auf unsere Nachbarn im Osten sozusagen zurollen würden, indem wir ihnen den Eindruck vermittelten: Wir können das alles in Ordnung bringen; ihr müßt nur machen, was wir euch sagen. Dazu sind sie viel zu sensibel, und dafür haben sie viel zu viele auch psychologische Verwundungen. Hier muß sich auch Vertrauen entwickeln. Deswegen sollten wir nicht perfektionistisch an die Dinge herangehen, aber wir sollten natürlich nach Besserem und Perfekterem streben. Deswegen sind wir gewillt, diese Dinge konstruktiv in den Ausschüssen zu beraten und, da es ein ernstes Thema ist, all unsere Phantasie und Erfahrung aufzuwenden. Ich bitte, daß einige polemische Bemerkungen, die sachlich einfach nicht zutreffend sind, aus dem Antrag entfernt werden, z. B. die Aussage, daß nichts geschehen sei, was objektiv falsch ist. Ich glaube, daß wir uns darauf einrichten müssen, diese Fragen noch sehr lange zu diskutieren und die Ergebnisse immer wieder auf den Prüfstand zu stellen. In Wirklichkeit geht es um die Gestaltung eines sehr langfristigen Prozesses, der möglicherweise langfristiger ist, als es uns lieb ist. Dabei werden auch noch manche Fragen offenbleiben - das ist so -, denn die Antworten können nur schrittweise heranwachsen. In diesem Sinne, verehrte Kolleginnen und Kollegen, die den Antrag formuliert haben, sind wir zur ernsten Diskussion über diesen Antrag bereit. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Abgeordnete Gerd Poppe.

Gerd Poppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001736, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In drei Minuten ist es mir natürlich nicht möglich, unsere Vorstellungen zur Hilfe für die neuen ost- und südosteuropäischen Staaten auch nur annähernd zu entwickeln. Ich bin aber sehr beruhigt, daß der Herr Kollege Weisskirchen noch einmal so eindringlich und eindrucksvoll auf die Probleme hingewiesen hat. Ich kann mich diesen Ausführungen vollinhaltlich anschließen. Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN folgt der Intention der beiden Anträge der SPD-Fraktion, die wir heute in diesem Schnellverfahren behandeln. Wir schließen uns der Forderung an die Bundesregierung an, private Initiativen zur humanitären Hilfe zu unterstützen. Diese Unterstützung ist allerdings nicht nur wünschenswert, wenn es darum geht, Transportwege auszuwählen und zu sichern. Wir halten es darüber hinaus für nützlich, wenn sich die Bundesregierung Problemen widmet, die beispielsweise durch überlange Grenzkontrollen oder bei der Visa-Beschaffung entstehen. Nicht selten erreichen uns Klagen über bürokratische Hemmnisse, die eine schnelle Hilfeleistung behindern. Zum Beispiel teilte die Initiative „Kinder von Tschernobyl" kürzlich mit, daß weißrussische Behörden die Visa-Erteilung für nach Deutschland eingeladene Kinder so schleppend behandelten, daß deren geplante Reise nicht stattfinden konnte. Wir fänden es sinnvoll, wenn die Bundesregierung derartige Probleme im Rahmen ihrer Gespräche mit Regierungsstellen der GUS-Staaten klärte. Aus dem zweiten Antrag, der von dem Kollegen Weisskirchen eingebracht wurde, möchte ich die Zielstellung hervorheben, bei der GUS-Hilfe dem Aufbau demokratischer Strukturen einen besonderen Stellenwert einzuräumen sowie die Erfahrungen staats- und regierungsunabhängiger Initiativen und Organisationen einzubeziehen unter Anwendung solcher Kriterien wie der Sozial- und Umweltverträglichkeit und der Durchsetzung der Menschenrechte. ({0}) Ohne die Bedeutung staatlicher Hilfe geringzuschätzen oder gar ihre Notwendigkeit in Abrede zu stellen, entspricht es durchaus unserer Erfahrung, daß unabhängige Institutionen und Nichtregierungsorganisationen oftmals kreativer und näher an den wirklichen Problemen arbeiten, als das Regierungs- oder Verwaltungsbeamten möglich ist. ({1}) Was dieses Problem betrifft, so muß allerdings nicht unbedingt auf die Initiative der Bundesregierung gewartet werden, sondern es wäre zu begrüßen, wenn kurzfristig im Rahmen der Ausschußarbeit oder durch eine interfraktionelle Gruppe von Abgeordneten eine Anhörung über die Erfahrungen gesellschaftlicher Organisationen mit der GUS-Hilfe ermöglicht würde. ({2}) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stimmen beiden vorliegenden Anträgen zu. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächste spricht die Abgeordnete Frau Dr. von Teichman.

Dr. Cornelia Christiane Teichman (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002302, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In dieser Woche ist uns in der Frage der Ratifikation des Vertragswerkes zur Schaffung einer Europäischen Politischen und einer Wirtschafts- und Währungsunion das Schlimmste erspart worden. Vorsichtiger Zukunftsoptimismus ist wieder angebracht. Das Modell unseres westlichen Europa wird sich weiterentwickeln. Das ist nicht zuletzt auch deswegen so wichtig, weil die Menschen der jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa, die sich von der Bürde jahrzehntelanger Unterdrückung befreit haben, auf dieses Modell ihre Hoffnung setzen. Europa - und das müssen wir uns immer wieder klarmachen - ist nicht nur unsere Europäische Gemeinschaft. Hans-Dietrich Genscher hat stets betont, daß unser Schicksal unteilbar ist. Es kann dem Westen auf Dauer nicht gutgehen, wenn es dem Osten schlechtgeht. ({0}) Ohne die GUS-Staaten, vor allem ohne Rußland als dem größten Nachfolgestaat der früheren Sowjetunion, wird es auf Dauer keinen gesicherten Wohlstand, keine friedliche Entwicklung in Europa geben. Wir dürfen nicht zulassen, daß die frühere ideologische Grenze quer durch Europa durch eine Wohlstandsmauer, nur weiter östlich, ersetzt wird. Die Folge wäre eine Destabilisierung Gesamteuropas, nicht zuletzt durch Migrationen, die alles Bisherige überträfen. Die Deutschen haben die dramatische Situation und die Chancen unserer östlichen Nachbarn begriffen. Sie haben auch die Rolle der früheren Sowjetunion bei der deutschen Einigung anerkannt. Mit einer großangelegten Hilfsaktion, die vor allem durch private, kommunale, kirchliche und karitative Träger organisiert wurde, haben sie im letzten Winter Menschlichkeit bewiesen. Ich danke ihnen allen dafür. Auch meine Heimatstadt Hamburg hat im Rahmen ihrer Städtepartnerschaft mit Sankt Petersburg ganz urspektakulär und ganz effektiv Zeichen der Zusammenarbeit gesetzt, wie auch viele andere deutsche Städte. Es war schon rührend - lassen Sie mich das als Mutter zweier schulpflichtiger Kinder einfügen -, wie ganz junge Schulkinder eifrig in ihren Klassen Pakete für Sankt Petersburg packten, sich mit den Problemen Sankt Petersburgs beschäftigten und ihre Eltern aufforderten, hier weiter intensiv mitzumachen. Letztlich erforderlich ist aber die Unterstützung des Reformprozesses, weniger durch Ad-hoc-Hilfe, Kredite und Dauersubventionen als durch Hilfe zum Aufbau leistungsfähiger Strukturen. ({1}) Mindestens genauso wichtig, meine Damen und Herren, ist die Öffnung unserer Märkte - hier ist die EG nicht ganz einwandfrei in ihrem Handeln - für die Produkte dieser Länder. Aber Hilfe ist dabei besonders auf folgenden Gebieten zu leisten: für die Verbesserung des maroden Gesundheitswesens, für Instandsetzung und Sicherheit technischer Anlagen einschließlich der Kraftwerke, für die Überwindung von Infrastrukturengpässen, z. B. im Transportwesen. Hinzu kommen längerfristige Aufgaben der Beratung beim Aufbau von Demokratie und Marktwirtschaft, beim Finanz- und Rechtswesen, bei gewerblichen und genossenschaftlichen Strukturen, vor allem in der Landwirtschaft, sowie nicht zuletzt im Bereich Bildung und Ausbildung. Weitere Schwerpunkte sind zu setzten in Rüstungskonversion, Energieerzeugung und -einsparung sowie der Neuordnung der Außenwirtschaft. Ich möchte hier gerade auch die Möglichkeiten der politischen Stiftungen hervorheben. Diese sollten in die Lage versetzt werden, verstärkt bei der Vermittlung von demokratischem Grundwissen und dem Aufbau pluralistischer Strukturen mitzuwirken. Inzwischen gehen die Leistungen der Bundesrepublik Deutschland weit über das Engagement aller anderen westlichen Länder in den GUS-Staaten hinaus. Ich erwähne nur die bekannte Summe von 80 Milliarden DM. Das private Spendenaufkommen seit 1989 beläuft sich auf über 500 Millionen DM. Lassen Sie mich am Schluß noch auf folgenden Aspekt hinweisen: Der Zerfall des einheitlichen Wirtschaftsraumes der Sowjetunion ist auch ein Zerfall eines einheitlichen Investitionsraums. Ausländische Investoren müssen sich nunmehr den Bedingungen 15 verschiedener Staaten anpassen. Für die Privatwirtschaft der westlichen Staaten sind die GUS-Länder eine besondere Herausforderung. Aber wer sich nicht von den jüngsten Hiobsbotschaften abschrecken läßt und langfristig plant, kann zu denen gehören, welche beizeiten in die Chancen dieser Länder investieren. Den betreffenden Staaten muß allerdings mit allem Nachdruck klargemacht werden, daß bestimmte Voraussetzungen für die Investitionen unverzichtbar sind. Meine Damen und Herren, die derzeitige Situation in den GUS-Staaten kann tiefer ins Chaos, aber auch zu Europaoffenheit und auf den Weg der wirtschaftlichen Genesung führen. Wir können mitsteuern, in welche Richtung es geht, und wir müssen dies alle gemeinsam tun. Ich danke Ihnen. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Hans Modrow.

Dr. Hans Modrow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001518, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Anliegen der Anträge der Fraktion der SPD findet unsere Unterstützung. Soweit es um humanitäre Unterstützung geht, ist auch das Wort von Hilfe angebracht. Wenn es um die Gestaltung wesentlicher Elemente von Zusammenarbeit geht, sollte man den partnerschaftlichen Charakter in den Mittelpunkt stellen. Der Wunsch nach zivilen Lösungen heute sollte nicht vergessen lassen, daß die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg Historisches, Unauslöschbares für das Schicksal aller Völker, insbesondere für das deutsche Volk, in einem Vaterländischen Krieg geleistet hat. Die Aufforderung an die Bundesregierung, über die bisher geleisteten Anstrengungen auf Teilgebieten hinaus endlich ein koordiniertes Gesamtprogramm partnerschaftlicher Zusammenarbeit vorzulegen, findet unsere Unterstützung und ist berechtigt. Über die Wiederbelebung der Wirtschaftsbeziehungen z. B. mit der ehemaligen Sowjetunion und den osteuropäischen Staaten ist nicht wenig gesprochen worden. Aber die wirklichen Ergebnisse sind mehr als bescheiden. Plötzlich entdeckt man z. B., daß der gegenseitige Warenaustausch wieder auf Jahre eine wirksame und gegenseitig nützliche Form sein könnte. Aber erst mußten die auf dieser Grundlage gewachsenen Handelsbeziehungen zwischen der DDR und den osteuropäischen Staaten zerfallen. Auch das gehört zu den beklagenswerten Fehlern der Bundesregierung und hat Wesentliches zur Deindustrialisierung in den neuen Ländern beigetragen. Die Gestaltung von Partnerschaften und von partnerschaftlichen Beziehungen der Städte, Hochschulen und Universitäten kann vieles wiederbeleben und neu gestalten, wenn guter Wille waltet und nicht auch hier der Grundsatz der Abwicklung vorherrschendes Prinzip bleibt. Gerade auf diesem Gebiet könnte viel Nützliches und gegenseitig Vorteilhaftes getan werden. Aber auch hier sollten weder Almosen noch bloßer Eigennutz im Spiele sein. Bei allen Problemen, die es heute in diesen Staaten gibt: Russen und Ukrainer, Kasachen und Georgier, Polen, Tschechen und Slowaken erwarten Achtung und Hilfe. Besonders eindringlich möchte ich daher davor warnen, Hilfen mit Bedingungen hinsichtlich politischer Strukturen auf verschiedensten Ebenen zu verbinden. Das käme nicht nur dem Verdacht auf Einmischung nahe, es müßte sich als kontraproduktiv erweisen. Echte Zusammenarbeit läßt sich nur auf einer soliden Vertrauensbasis gestalten und weiterentwickeln. Gerade darauf kommt es heute vor allem an. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als letzter zu diesem Tagesordnungspunkt spricht Staatsminister Helmut Schäfer.

Not found (Gast)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sind dabei, ein neues stabiles System partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit den Ländern Mittel- und Osteuropas und den neuen unabhängigen Staaten der ehemaligen Sowjetunion zu entwickeln. Wir sind uns auch bewußt, daß wir trotz aller Haushaltsschwierigkeiten unseren Beitrag dazu leisten müssen, daß die Reformländer den politischen und wirtschaftlichen Neuaufbau erfolgreich bewältigen können. Der Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft erfordert umfassende Beratungshilfe, die wir leisten und zu der wir auch weiterhin bereit sind. Angesichts der begrenzten finanziellen Mittel müssen dabei allerdings Prioritäten gesetzt werden. Das Bundeskabinett hat am 18. März dieses Jahres ein Gesamtkonzept für die Beratung verabschiedet und einen Koordinierungsausschuß eingesetzt, der alle Ressorts umfaßt, die im Bereich der Beratungshilfe tätig sind. Die sachlichen Schwerpunkte liegen bei der wirtschaftlichen Beratung, bei Recht und Inneres und bei Kultur und Sprache. Die breite Angebotspalette an Beratungsaktivitäten der Bundesregierung stößt in den betroffenen Staaten auf großes Interesse. Den Reformstaaten geht es nicht um die Vermittlung von Lehrbuchwissen, sie benötigen vielmehr praktische Hilfe und Handreichungen. Hierauf ist die Beratungskonzeption der Bundesregierung ausgerichtet. Der Haushaltsausschuß des Bundestages erhält in diesen Tagen eine ausführliche Unterrichtung über die Umsetzung des Gesamtkonzeptes. In den letzten Wochen hat es bereits eine umfassende mündliche Information auch der Opposition durch das Bundeskanzleramt gegeben. Für den 9. Oktober ist auf dem Petersberg seitens der Bundesregierung eine Konferenz über die deutsche Beratungshilfe für die Reformstaaten in Mittel- und Osteuropa sowie in der früheren Sowjetunion geplant, an der neben Mitgliedern dieses Hauses auch Vertreter der Wirtschaft und der Medien teilnehmen werden. Deutsche Hilfe ist natürlich in internationale Maßnahmen eingebunden. Diese Maßnahmen waren 1992 Gegenstand der beiden Konferenzen von Washington und Lissabon. Am 29. und 30. Oktober - also im nächsten Monat - findet in Tokio eine weitere Konferenz zu diesem Thema statt. Deutschland leistet - das muß man sagen - erheblich mehr als andere vergleichbare und zum Teil größere Länder. Wir haben deshalb bei den ersten beiden Konferenzen auf eine gerechtere Lastenteilung gedrängt und werden das auch in Tokio tun. Sie wissen, daß sich auch der Wirtschaftsgipfel in München über die Unterstützung dieses Reformprozesses einig war. Wir hoffen, daß nicht nur Papiere erstellt werden, sondern daß trotz der schwierigen Situation in einigen unserer Partnerländer die Bemühungen fortgesetzt werden, dort zu helfen. Dort, wo die Not am größten war, haben deutsche und internationale humanitäre Hilfe wichtige Zeichen gesetzt. Wir Deutschen - das spricht gegen die Behauptungen, die uns dieser Tage immer wieder erreichen, daß wir alle ausländerfeindlich seien - haben auch im vergangenen Winter eine Hilfsbereitschaft gegenüber den Menschen in den neuen unabhängigen Staaten gezeigt, die sicher auch weltweit aufgefallen ist. Den vielen ehrenamtlichen Organisationen und Organisatoren, den privaten Spendern gebührt besonderer Dank. ({0}) Diese Hilfe in Höhe von 650 Millionen DM seit dem Winter 1990/91, die karitative Organisationen, zahlreiche Städtepartnerschaften - auf die in der Debatte bereits hingewiesen worden ist und was auch in den Antrag aufgenommen wurde - und viele andere Gruppen geleistet haben, hat nicht nur dazu beigetragen, die Not zu lindern, sondern sie hat auch viele menschliche Kontakte entstehen lassen. Zur Erleichterung der Transporte in die neuen Staaten hat das Auswärtige Amt im Jahre 1992 14 Millionen DM bereitgestellt. Mit diesen Mitteln werden Hilfssendungen auf dem Land- und Luftwege unterstützt. Bei Landtransporten arbeiten wir eng mit dem Technischen Hilfswerk zusammen, bei Lufttransporten vor allem mit der russischen Luftwaffe. Der beim Auswärtigen Amt eingerichtete Arbeitsstab wird weiterhin für die Koordinierung der Hilfe und die Unterstützung der privaten Hilfsorganisationen sorgen. Die Bundesregierung hat darauf gedrängt, daß sich auch unsere Partner an den Hilfsaktionen beteiligen. Die Europäische Gemeinschaft hat im vergangenen Jahr neben technischer und finanzieller Hilfe Nahrungsmittelhilfe in Höhe von knapp 1 Milliarde DM geleistet. Sie wissen, daß auf deutschen Vorschlag hin ein deutscher Offizier diese EG-Task-Force vor Ort bei der Auslieferung der Güter geleitet hat, wir also maßgeblich dabei waren. Zum Schluß: Die Bundesregierung beobachtet gemeinsam mit ihren Partnern auch weiterhin die aktuelle Situation in den neuen Staaten der früheren Sowjetunion. Auch für den kommenden Winter kann nicht ausgeschlossen werden, daß es wieder zu Engpässen kommt, vor allem im Bereich Arzneimittel und medizinisches Gerät. Sozial schwache Gruppen insbesondere in den Ballungsgebieten wären davon besonders betroffen. Alle Fraktionen des Bundestages haben die Bundesregierung in einer am 24. Januar dieses Jahres angenommenen Entschließung aufgefordert, dem Bundestag nach der Sommerpause 1992 umfassend über die Hilfe für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu berichten. Dieser Bericht wird zur Zeit ausgearbeitet und dem Bundestag in Kürze vorgelegt. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Mit dem letzten Beitrag des Staatsministers Schäfer schließe ich die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/2122 und 12/2234 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beibehaltung der Mitbestimmung beim Austausch von Anteilen und der Einbringung von Unternehmensteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften betreffen ({0}) - Drucksache 12/3280 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ich sehe dazu keinen Widerspruch. - Es ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster der Abgeordnete Heinz-Adolf Hörsken.

Heinz Adolf Hörsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000931, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte Ihnen heute unseren Entwurf des MitbestimmungsBeibehaltungsgesetzes vorstellen. Dieser Gesetzentwurf trifft Vorkehrungen zur Sicherung der Mitbestimmung beim Austausch von Anteilen und der Einbringung von Unternehmensteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft betreffen. Er beruht auf der Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Umsetzung der EG-Fusionsrichtlinie von 1990, wonach grenzüberschreitende Vorgänge von ihrer bisherigen steuerlichen Belastung zu befreien sind. Dieser Verpflichtung ist die Bundesrepublik Deutschland mit dem Steueränderungsgesetz vom 25. Februar 1992 nachgekommen. Entsprechend der Vorgabe der EG-Richtlinie sind für die Unternehmen steuerliche Anreize geschaffen worden, die die Übertragung von Betrieben und Betriebsteilen auf ausländische Unternehmen - die sogenannte Einbringung von Unternehmensteilen - oder die Übertragung einer Mehrheitsbeteiligung an einem deutschen Tochterunternehmen auf ein ausländisches Unternehmen im Ausland gegen Kapitalanteile des ausländischen Unternehmens, den sogenannten Austausch von Anteilen, finanziell attraktiv machen. Diese Regelung birgt jedoch eine erhebliche Gefahr für den Bestand der in ganz Europa einmaligen deutschen Unternehmensmitbestimmung. Denn die nun durch die steuerlichen Vergünstigungen attraktiven Möglichkeiten der Übertragung deutscher Betriebe an ausländische Unternehmen können in erhöhtem Maße zum Verlust oder zur Einschränkung und Verschlechterung der Unternehmensmitbestimmung im abgebenden, also im übertragenden deutschen Unternehmen führen, insbesondere dann, wenn dieses durch die Übertragung die jeweiligen Beschäftigtenzahlen unterschreitet, die für die Anwendung der einzelnen Mitbestimmungsgesetze Voraussetzung werden. Das gilt für das Mitbestimmungsgesetz 1976, aber auch für andere Formen der Mitbestimmung, insbesondere für die bewährte MontanMitbestimmung, das Mitbestimmungs-Änderungsgesetz und das Betriebsverfassungsgesetz 1952. Dieser Gefahr muß wirksam entgegengetreten werden. Die Mitbestimmung ist seit ihrer Grundsteinlegung in der Nachkriegszeit zu einem tragenden Pfeiler unserer Wirtschafts- und Sozialordnung geworden und hat sich seit nunmehr über 40 Jahren fortentwikkelt und bewährt. Gerade vor dem Hintergrund, daß es in der EG bisher keine grenzüberschreitenden Systeme der Unternehmensmitbestimmung gibt, die dem deutschen Mitbestimmungsrecht gleichwertig wären und damit eine Möglichkeit zur Kompensation bieten könnten, gilt es, unsere Mitbestimmung in ihrer jetzigen Form zu sichern und auszubauen. Die Mitbestimmung soll nicht geopfert werden. Dies hat die Koalition auch in einer Koalitionsvereinbarung zur Frage der Mitbestimmung in Europa deutlich gemacht. ({0}) - Wir reden heute doch über die Mitbestimmung und nicht über die Karenztage. Aber ich will gern Ihrer Befindlichkeit, Herr Schreiner, entgegenkommen. Wissen Sie, das kann ich nicht leiden: Wenn Sie in Brüssel, in Luxemburg und Straßburg sind, dann verteidigen Sie mit Leidenschaft die deutsche Mitbestimmung; aber sobald Sie in Aachen oder in Kehl über die Grenze kommen, wollen Sie den Notstand ausrufen. So geht es nicht. Wir müssen uns hier doch einigermaßen einigen, meine Damen und Herren. ({1}) Ich habe darauf hingewiesen, daß es in der EG bisher keine grenzüberschreitenden Systeme der Unternehmensmitbestimmung gibt. ({2}) - Daran kann man nichts machen. Wir wollen ihm ja den Duft der großen weiten Welt zugestehen. Wir haben vereinbart: Die in Deutschland bestehende Mitbestimmung muß gesichert bleiben. Wir halten Wort. Die bei uns gut funktionierende Mitbestimmung ist ein Garant für die Sozialpartnerschaft. Die faire Sozialpartnerschaft sichert den sozialen Frieden, den wir gerade jetzt bei den gewaltigen gesellschaftlichen Herausforderungen mehr denn je gebrauchen. Wir sind derzeit in der Situation, daß wir einen Solidarpakt miteinander schließen wollen. Gerade in einer solchen Situation ist es wichtig und notwendig, festzuhalten: Die faire Sozialpartnerschaft, deren Voraussetzung eine funktionierende Mitbestimmung ist, ist gerade in dieser Zeit unendlich wichtig. ({3}) Mitbestimmung und Selbstbestimmung sind Grundelemente unserer gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung. Bereits vor 40 Jahren ist mit dem ersten Betriebsverfassungsgesetz 1952 nach dem Krieg der Gedanke der sozialen Partnerschaft zwischen den Unternehmern und den Mitarbeitern in den Betrieben gesetzlich verankert worden. Er ist in den folgenden Jahren durch weitere Gesetze ausgebaut worden. Diese Partnerschaft hat sich in vier Jahrzehnten bewährt. Es lohnt sich, sie zu erhalten und weiterzuentwickeln. Die Gleichberechtigung von Kapital und Arbeit, das Uranliegen der christlich-sozialen Lehre, der ich mich verpflichtet fühle, ist kein Gegenstand eines Redeschwalls, sondern der Ausgangspunkt des rechtlichen Anspruchs auf Mitbestimmung, der die Unternehmen verpflichtet, sowohl die Interessen der Eigentümer als auch die Belange der Arbeitnehmer zu berücksichtigen. So setzen alle Mitbestimmungsgesetze auf eine fruchtbare und effiziente Zusammenarbeit beider Seiten zur Stabilisierung unserer Wirtschafts- und Sozialordnung. Die CDU/CSU ist die Partei der Mitbestimmung. ({4}) - Dies ist so, meine Damen und Herren. Ich werde Ihnen das beweisen. Ich weiß, wer das gern für sich allein in Anspruch nehmen will. Aber es hilft ja nichts; wer die Geschichte kennt, weiß, was die Wahrheit ist. ({5}) Die CDU/CSU hat sich immer für die Sicherung der bewährten deutschen Mitbestimmung eingesetzt, und wir werden dies weiterhin tun. So konnte in der Koalitionsvereinbarung die Festschreibung der in Deutschland bestehenden Mitbestimmung gesichert werden. Davon werden wir nicht abrücken. Unter diesem Gesichtspunkt ist bereits bei den Verhandlungen über die EG-Fusionsrichtlinie auf deutsches Drängen hin eine Mitbestimmungsklausel aufgenommen worden, die es den nationalen Gesetzgebern erlaubt, die steuerliche Vergünstigung in solchen Fällen zu versagen, bei denen der grenzüberschreitende Vorgang beim abgebenden Unternehmen zu einem Mitbestimmungsverlust führt, sich also mitbestimmungsschädlich auswirkt. Eine entsprechende Sicherung der Mitbestimmung war bereits im Regierungs- und Koalitionsentwurf des Steueränderungsgesetzes 1992 vorgesehen, wurde aber im Lauf des Gesetzgebungsverfahrens vom Deutschen Bundestag aus rechtssystematischen Gründen aus dem Gesetzgebungsvorhaben ausgeklammert. Wir waren uns aber darin einig, daß eine effiziente Sicherung der Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer bei der Umsetzung der Fusionsrichtlinie durch eine eigene gesetzliche Regelung im Mitbestimmungsrecht erfolgen soll. ({6}) Herr Schreiner, ich will mich bei der Sozialdemokratischen Partei ausdrücklich dafür bedanken, daß sie noch am 8. November mit uns gemeinsam diese Entschließung gefaßt hat. Dies ist der richtige Weg; so müssen wir weitermachen, Herr Schreiner.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Kollege, der Herr Kollege Schreiner hat das Bedürfnis nach einer Zwischenfrage. Würden Sie ihm diese erlauben?

Heinz Adolf Hörsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000931, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich werde dem Bedürfnis gern nachkommen, Frau Präsidentin. Herrn Schreiners Bedürfnisse sind mir ein Anliegen.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, da Sie mich gerade in meinem Wohlbefinden zu stören versucht haben, wollte ich Sie fragen, ob Sie die folgende Nachricht in der Zeitung der Katholischen Arbeitneh9110 mer-Bewegung ({0}) vom Oktober 1992 für zutreffend halten, in der es heißt: „Der CDU-Bundestagsabgeordnete Heribert Scharrenbroich erklärte bei dem Bezirkstag, er halte die Frage der Einführung eines Karenztages für politisch tot." ({1})

Heinz Adolf Hörsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000931, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich weiß nicht, warum Sie gerade diese hervorragende Zeitung anführen. ({0}) Aber wenn Sie den Kollegen Scharrenbroich fragen wollen: Er steht hier. Herr Kollege Schreiner, bei der Mitbestimmung und den Karenztagen haben Sie immer Probleme, die Sache richtig zu betrachten. ({1}) Der Gesetzestext klingt komplizierter, als er ist. Deswegen hat Herr Schreiner ja immer Probleme. Darum will ich versuchen, das alles deutlich zu machen. Das Gesetz beruht auf einem mitbestimmungsrechtlichen Ansatz, ergänzt durch eine steuerrechtliche Komponente. Damit räumt es den Unternehmen, die einen grenzüberschreitenden, aber mitbestimmungsschädlichen Vorgang tätigen, ein Wahlrecht ein. Es gibt die Möglichkeit, die durch das Steueränderungsgesetz 1992 eingeführte Entlastung in Anspruch zu nehmen. Dann werden die bis dahin geltenden Mitbestimmungsrechte durch eine Fiktion des Mitbestimmungsstatus, wie er im Zeitpunkt der grenzüberschreitenden Übertragung besteht, gesichert. Das abgebende Unternehmen wird dann so behandelt, als sei es nicht zur Übertragung des Betriebs bzw. von Betriebsteilen oder zur Lösung der Konzernbeziehungen zu einer Tochtergesellschaft gekommen. Lassen Sie mich aus Zeitgründen ein Beispiel nennen, das deutlich macht, um was es geht. Ein deutsches Unternehmen mit 2 500 Arbeitnehmern, das damit dem Mitbestimmungsgesetz 1976 unterfällt, überträgt einen Betrieb oder Betriebsteil mit 700 Arbeitnehmern auf eine ausländische Gesellschaft innerhalb der EG. Da durch eine Übertragung eines Betriebs oder Betriebsteils diese Einheit aus dem Unternehmen herausgelöst wird, zählt sie bei der Prüfung, ob das abgebende Unternehmen weiterhin unter den Anwendungsbereich mitbestimmungsrechtlicher Vorschriften fällt, nicht mehr mit. Daher würde das im Beispiel genannte Unternehmen mit den verbleibenden 1 800 Arbeitnehmern aus dem Anwendungsbereich des Mitbestimmungsgesetzes 1976 herausfallen und in die schwächere Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat nach dem Betriebsverfassungsgesetz 1952 wechseln. Dieser Vorgang ist mitbestimmungsschädlich. Das Unternehmen ist in ein schwächer ausgeprägtes System der Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat gewechselt. Will ein solches Unternehmen für diese grenzüberschreitende Übertragung die mit dem Steueränderungsgesetz 1992 geschaffene steuerliche Entlastung in Anspruch nehmen, werden die 700 Arbeitnehmer des übertragenen Betriebs den verbleibenden 1 800 Arbeitnehmern zugerechnet, so daß es fiktiv bei der Beschäftigtenzahl von 2 500 bleibt. Das Unternehmen unterfällt damit weiterhin dem Anwendungsbereich des Mitbestimmungsgesetzes 1976. ({2}) Die mitbestimmungsrechtliche Funktion gilt entsprechend ihrem Ziel nur für die Frage, ob das Unternehmen weiterhin den bisher anwendbaren Mitbestimmungsvorschriften unterliegt, nicht aber darüber hinaus. Der zweite Anwendungsfall dieses Gesetzes betrifft die Übertragung einer Mehrheitsbeteiligung an einer deutschen Tochtergesellschaft auf ein ausländisches Unternehmen. Durch die Übertragung einer Mehrheitsbeteiligung an einer deutschen Tochtergesellschaft wird die bis dahin bestehende Konzernbeziehung zur deutschen Muttergesellschaft gelöst. Damit entfällt aber auch die in der Konzernklausel im Mitbestimmungsgesetz 1976 vorgeschriebene Zusammenrechnung der Arbeitnehmer von Muttergesellschaft und Tochtergesellschaft. Wenn z. B. eine Aktiengesellschaft mit 1 500 Arbeitnehmern ihre Mehrheitsbeteiligung an einer deutschen Tochtergesellschaft mit 700 Arbeitnehmern auf ein ausländisches Unternehmen überträgt, bedeutet dies, daß sie aus dem Anwendungsbereich des Mitbestimmungsgesetzes herausfällt und in den Anwendungsbereich der schwächeren Unternehmensmitbestimmung nach dem Betriebsverfassungsgesetz 1952 wechselt, wonach lediglich ein Drittel der Aufsichtsratsmitglieder Arbeitnehmer sind; denn nunmehr ist allein die Zahl der Arbeitnehmer der Aktiengesellschaft für die Bestimmung der anzuwendenden mitbestimmungsrechtlichen Vorschriften maßgeblich. Auch hier sichert die Fiktion des Mitbestimmungsstatus weiter die Anwendung des Mitbestimmungsgesetzes von 1976. Diese im Gesetz vorgesehene Fiktion zur Sicherung der Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer belastet die Unternehmen nicht über Gebühr. Die mitbestimmungsrechtliche Fiktion ist in all den Fällen ausgeschlossen, in denen in den abgebenden Unternehmen durch den grenzüberschreitenden Vorgang weniger als ein Viertel der Mindestarbeitnehmerzahl verbleibt, die nach den jeweils einschlägigen mitbestimmungsrechtlichen Vorschriften Voraussetzung für deren Anwendung ist. Dadurch ist sichergestellt, daß das beibehaltene Mitbestimmungssystem nicht in einem unangemessenen Verhältnis zur Größe der tatsächlich noch vorhandenen Belegschaft steht, die die Mitbestimmungsrechte ausübt. Darüber hinaus bietet der Entwurf, wie erwähnt, den betroffenen Unternehmen eine Art Wahlrecht. Das Unternehmen kann selber entscheiden, ob der bereits vorgestellte gesetzliche Regelfall, d. h. die mitbestimmungsrechtliche Fiktion mit der Zurechnung der Beschäftigtenzahl, zur Anwendung kommt, oder ob statt dessen eine steuerrechtliche Lösung greifen soll. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein vorbildlicher Sozialstaat. Das heißt nicht, daß wir nicht noch viele Wünsche an ihn hätten. ({3}) - Ach, Herr Schreiner, das hat doch alles keinen Zweck. Ich erinnere Sie an Ihre Auftritte in Straßburg und in Brüssel. Es geht um die Verteidigung der deutschen Sozialstaatlichkeit. Es hat doch keinen Zweck, dies immer wieder zu versuchen. Wir haben weiterhin Wünsche an diesen Sozialstaat. Wenn dies nicht so wäre, dann wäre dies schlecht. Aber wir müssen doch miteinander feststellen - tun auch Sie das endlich -, daß wir eine hervorragende Mitbestimmung ({4}) und eine hervorragende Sozialgesetzgebung haben. Warum sind wir eigentlich so attraktiv für die Menschen auf der Welt? ({5}) Warum kommen so viele in die Bundesrepublik Deutschland, ({6}) trotz der Tatsache, daß wir über Karenztage diskutieren, Herr Schreiner? Wir wollen die Mitbestimmung sichern. Darum geht es jetzt. ({7})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Als nächster Redner hat der Kollege Hans-Eberhard Urbaniak das Wort.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Tatsache, daß wir heute in die erste Beratung des Entwurfs eines Mitbestimmungs-Beibehaltungsgesetzes eintreten, ist eine Folge von Fusionsrichtlinien der Europäischen Gemeinschaft und der sogenannten Steuerreform. Meine Kollegin Matthäus-Maier hat am 8. November 1991 in der Debatte darauf hingewiesen, daß dann, wenn an nationalen Initiativen nichts geschieht, Schwierigkeiten für die Mitbestimmungsregelungen in unserem Land auftreten werden. In der Beratung haben uns die Darlegungen aus der CDU-Fraktion überzeugt, diesem Teil zuzustimmen, damit es möglich ist, eine Sicherung gemeinsam vorzunehmen. In der Vergangenheit hat es eine ganze Reihe von Sicherungsgesetzen gegeben, vor allem, weil Unternehmer immer wieder versucht haben, aus der Mitbestimmung, speziell der Montan-Mitbestimmung, auszubrechen. ({0}) Dies ist mehr oder weniger durch politisches Handeln ({1}) verhindert worden. Ganz ausgeschlossen worden ist dies jedoch nicht. Darum, Kollege Hörsken, ist folgendes ganz selbstverständlich: Wir Sozialdemokraten treten für die qualifizierte Mitbestimmung ein. Diese qualifizierte Mitbestimmung - das begreift Herr Schreiner, und das begreift auch Herr Kollege Hörsken - ist bei uns immer die Montan-Mitbestimmung. ({2}) Historisch ist wichtig: Es waren die Sozialdemokraten, die 1951 als einzige Fraktion der Montan-Mitbestimmung zugestimmt haben. Im Regierungslager war man gespalten. Dies ist eine historische Tatsache, die man ganz besonders herausstellen muß. ({3}) Ich erwähne dies, weil es wichtig ist, immer wieder darauf aufmerksam zu machen, daß unsere Anträge in den vergangenen Legislaturperioden von diesem Ziel geprägt waren, qualifizierte Mitbestimmung auch für die anderen Branchen auszubauen. Das alles war Inhalt unserer Politik. ({4})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Kollege Urbaniak, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scharrenbroich? - Bitte, Kollege Scharrenbroich.

Heribert Scharrenbroich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001945, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Urbaniak, da Sie eine wichtige Rolle in der AfA spielen und jetzt wieder betont haben, wie wichtig qualifizierte Mitbestimmung ist, bitte ich Sie um Aufklärung, warum 1976 - nachdem der AfAKongreß wenige Tage vorher gesagt hatte: Unter der Parität kommt überhaupt nichts in Frage - ein Mitbestimmungsgesetz verabschiedet wurde, das keine paritätische Mitbestimmung bringt und dazu geführt hat, daß die Diskussion über die paritätische Mitbestimmung seitdem praktisch tot ist?

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das will ich Ihnen gern sagen. Man kann nur das durchsetzen, was sich aus der politischen Realität ergibt. Die AfA setzt sich bei uns immer mehr als die Sozialausschüsse durch. ({0}) - Ja. Die Antwort gebe ich. Sie schreiben mir die Antwort nicht vor. Wenn Sie Fragen stellen, dann serviere ich Ihnen das, was ich für richtig halte, Herr Kollege Scharrenbroich. ({1}) Ich gebe die Antworten mit Anstand und in der gebotenen Sachlichkeit. Von Ihnen lasse ich mir da nichts vorschreiben. Für uns ist es selbstverständich, daß die Regierungskoalition dieses Beibehaltungsgesetz zu bringen hatte. Da hat die Regierungskoalition eine Bring-schuld. ({2}) Wir werden das Gesetz nun im Ausschuß beraten; denn es kommt darauf an, Kollege Hörsken, daß die Fluchtmöglichkeiten tatsächlich ausgeschlossen werden. ({3}) Es ist traurig genug, daß sich in der Landschaft der politischen Kultur die Arbeitgeber immer noch Möglichkeiten überlegen, die Mitbestimmung zu manipulieren. Die Arbeitgeber könnten doch das Wissen und die Erfahrungen der Arbeitnehmer nutzen. Die Arbeitnehmer sind zu Rat und Tat bereit. Es müßte im Interesse der Arbeitgeber liegen, für Betriebs- bzw. Unternehmensfrieden bei der Produktion zu sorgen. ({4}) Manipulationen schaffen dafür keine guten Voraussetzungen. ({5}) - Wir werden das beraten. Ich begrüße das. Wir haben ja auch in der Steuerdebatte darüber bereits gesprochen und uns der in Aussicht gestellten Initiative angeschlossen. Wir werden das jetzt im Ausschuß mit aller Klarheit erörtern. Darum will ich auf die Einzelheiten der Abfolge, die der Kollege Hörsken hier schon genannt hat, ({6}) nicht im einzelnen eingehen. Dies hat im Ausschuß zu geschehen. Da werden wir die Einzelfälle ganz genau erörtern. Das ist ja wohl selbstverständlich. Es scheint auch sachgerecht, die Mitbestimmung in einem gesonderten Gesetz zu sichern. Aufgrund der Mitbestimmung dürfen die steuerlichen Erleichterungen nicht untersagt werden. Wenn der Binnenmarkt beginnt, wird man versuchen, diese Vorteile für die Unternehmen und Betriebe zu nutzen. Darunter darf aber selbstverständlich die Mitbestimmung nicht leiden. Es gilt, legale Steuererleichterungen für die Organisation der Betriebe und Unternehmen im Binnenmarkt zu nutzen. Aber auf keinen Fall darf die Mitbestimmung demontiert werden. Das darf uns unter keinen Umständen passieren. Deshalb begrüße ich auch die Richtlinie des Rats vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen. Wir werden also dieses komplizierte Feld erörtern. Ich gehe davon aus, daß am Schluß der Beratungen ein Konsens zustande kommen wird. Ich darf in diesem Zusammenhang das besonders sensible Kapitel bei der Verwirklichung der sozialen Dimension des Binnenmarktes hervorheben: Arbeitnehmerrechte im Gesellschaftsrecht, Informations-, Konsultations- und Mitbestimmungsrechte von Arbeitnehmern in komplexen Unternehmen. Über all das muß gesprochen werden, wenn diese Konzentrationen erfolgen, von denen man bei den steuerlichen Erleichterungen im wirtschaftlichen Bereich ausgehen muß. Angesichts dieser Perspektiven, die sich 1992/93 für die EG-Staaten ergeben werden, grenzüberschreitende Unternehmensstrukturen zu schaffen, darf man dies nicht geringschätzen. Um bei diesen weitreichenden Entwicklungen verbindliche Spielregeln auch für die Auswirkung auf die Arbeitnehmer einzuführen, hat die EG-Kommission bereits vor längerem Richtlinienvorschläge zum Gesellschaftsrecht ausgearbeitet. Dies ist unter dem politischen Schlagwort „Initiativen des Präsidenten Delors" gelaufen. Der sogenannte Delors-Plan ist dann von der Kommission beschlossen worden. Aber es gibt im Ministerrat über die von Delors eingebrachten Punkte natürlich keine Einstimmigkeit, um die Fragen der europäischen Aktiengesellschaft, der Ausweitung der Mitbestimmung und der Konsultationen der Arbeitnehmer und der Betriebsräte weiterzubringen. Darum sage ich Ihnen mit aller Deutlichkeit: Der Sozialraum Europa konkretisiert sich nicht. Wir haben eine Welle der Konzentration wirtschaftlicher Macht zu erwarten. Macht verführt immer dazu, blind zu werden. Parallel dazu wird es kein Gegengewicht der Arbeitnehmer oder der Gewerkschaften geben. Ein solches Gegengewicht jedoch ist der Sinn der paritätischen Mitbestimmung. Darum bedauern wir als Sozialdemokraten ganz besonders, daß dieser Delors-Plan nicht weiter verfolgt werden kann, weil wir im Ministerrat der Europäischen Gemeinschaften angesichts der unterschiedlichen Regelungen - das Boardsystem in England, unsere Mitbestimmung und die skandinavischen Vorstellungen - keine Einstimmigkeit zustande bringen. Ich sage den Gewerkschaften und Arbeitnehmern: Mit den deutschen Mitbestimmungserfahrungen und den Mitbestimmungsmöglichkeiten würden sie in der Europäischen Gemeinschaft ganz gut fahren; denn die ideologischen Auseinandersetzungen sind bei uns durch die Sozialpartnerschaft seit langem über Bord geworfen. Vielleicht haben sie, Arbeitnehmer und Gewerkschaften in den anderen europäischen Nationalstaaten - das darf man ja wohl sagen -, auf diesem Feld etwas Nachholbedarf. Es kommt darauf an, Mitbestimmung für die betroffenen Arbeitnehmer zu schaffen, statt zu streiten. Dies wäre hervorragend zu leisten, wenn die Delors-Vorschläge realisiert würden. ({7}) Die SPD bemüht sich natürlich darum. Sie betont hinsichtlich der Ausgestaltung der EG-Gesellschaften und des Gesellschaftsrechts die Sicherung und die Ausweitung der Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmerinnen und der Arbeitnehmer. Das ist ja ganz selbstverständlich. Ich mache in diesem Zusammenhang auf den Antrag der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag vom 18. Januar 1989 aufmerksam, in dem wir klare Aussagen zum Europäischen Binnenmarkt und zur Sozialdemokratie in diesem Binnenmarkt machen. Wir haben schon damals dem Bundestag vorgeschlagen, einen europäischen Sozialraum auf der Grundlage einer europäischen Sozialcharta zu schaffen, in der die sozialen Grundrechte manifestiert und verbindlich fortgeschrieben werden können. Wir haben die Vorschläge der EG-Kommission zu einem europäischen Gesellschaftsrecht schon damals grundsätzlich bejaht und unterstützt unter der Voraussetzung, daß unterschiedliche Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer auf Aufsichtsratebene gleichwertig sind, auf dem Grundsatz des Interessenausgleichs, unabhängig von der Wahl eines der möglichen Modelle, beruhen und die Bundesregierung unabhängig davon für die Bundesrepublik die deutsche Mitbestimmung verbindlich vorschreibt. Wir haben vor der Gründung Druck gemacht mit dem Gedanken, hinsichtlich des theoretischen Gebäudes einer europäischen Aktiengesellschaft einen Konsens mit den Arbeitnehmern herbeizuführen, der zwischen der Konzernleitung und den im Unternehmen vertretenen Arbeitnehmerorganisationen erzielt werden sollte. Er sollte im Status der europäischen Aktiengesellschaft bestehende nationale Arbeitnehmerrechte ergänzen und die Tariffähigkeit der europäischen Aktiengesellschaft im Gesetz verankern. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ist tief enttäuscht über die Haltung der Arbeitgeber, die wir hier in den Anhörungen gebeten haben, sich der Frage des europäischen Betriebsrates zu stellen, und die dies mit dem Hinweis auf die Auflagen der Administration von Übersetzungsmaterial bis hin zu den vielen Konferenzen abgelehnt haben. Dies kann doch nicht im europäischen Geist sein. Die Zusammenarbeit muß hier doch gefunden werden. ({8}) Da spielen die administrativen Verpflichtungen - Büromaterial, Übersetzungsfragen und was auch immer - überhaupt keine Rolle. Dies sei den Arbeitgebern ganz besonders ins Stammbuch geschrieben. Ich sage dem Parlament: Wir dürfen nicht sehenden Auges dabei mitmachen, daß sich wirtschaftliche Kraft manifestiert und ein vernünftiges soziales Gegengewicht zum Ausgleich dessen, was gemeinschaftlich erarbeitet wird, nicht zum Zuge kommt. Dies würde die Probleme, die wir in der Europäischen Gemeinschaft haben - Arbeitslosigkeit, soziale Ungerechtigkeit und Armut - nicht lösen. ({9}) Armut zu beseitigen ist wohl die hervorragendste Aufgabe, die sich ein demokratisches Parlament stellen muß, sowohl in unserem Land als auch in der Europäischen Gemeinschaft. ({10}) Wir werden dies unablässig in die Debatte bringen. Aber heute geht es darum, daß wir Ihnen klipp und klar sagen können: Wir werden der Überweisung des vorliegenden Antrags selbstverständlich zustimmen. ({11}) Wir behalten uns vor, alle Vorschläge sorgfältig und intensiv zu beraten. Wir wollen das in einer sachlich guten Atmosphäre tun, wie man das trotz unterschiedlicher Ausgangspositionen bei diesen Fragen gewohnt ist. Wenn hier ein Sprecher für seine Partei in Anspruch nimmt, sie sei die Partei der Mitbestimmung, dann kann ich das nicht bestreiten. Aber ich sage, das gilt nur für einen Teil Ihrer Partei; bei uns geht es geschlossen durch, und das ist ganz wichtig. ({12}) Ich kenne natürlich die Schwierigkeiten bei der politischen Umsetzung. Aber es gibt ja immer wieder eine neue Legitimität für ein Parlament; da darf man die Hoffnung nicht aufgeben. Denn wir sind uns darüber klar: Bei einer absoluten sozialdemokratischen Mehrheit ({13}) wäre die Durchsetzung der qualifizierten Mitbestimmung im Parlament überhaupt keine Frage. ({14}) - Wenn Sie auf anderem Felde so weitermachen, dann kommen wir schnell dahin; das ist ja wohl kein Problem. Wir werden das alles begleiten. Unsere Erfahrungen spielen also bei den Beratungen im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung eine wesentliche Rolle. Es ist wichtig, daß wir heute darüber Klarheit geschaffen haben, daß wir für mehr Mitbestimmung in der Europäischen Gemeinschaft eintreten wollen, damit die soziale Union auch tatsächlich konkret geschaffen wird. Dies ist auch von dem Kollegen Hörsken hier dargelegt worden, und das ist eine gute Position. Über die weiteren Wege, wie wir die Mitbestimmung auch in unserem Lande voranbringen wollen, werden wir uns sicherlich auseinandersetzen; das ist in der Demokratie ganz selbstverständlich. Ich kenne auch die unterschiedlichen Modelle einzelner CDU-Kollegen. Daneben gibt es die klare Vorstellung der Sozialdemokratischen Partei. Am Ende dieses Wettbewerbs und der Auseinandersetzung wird man sehen, wie weit wir auf diesem Felde kommen. Darum sage ich noch einmal: Es waren die Sozialdemokraten, die 1951 in diesem Parlament einstimmig für die Verabschiedung der qualifizierten Mitbe9114 stimmung, der Montan-Mitbestimmung, gestimmt haben. ({15}) - Lesen Sie die Protokolle nach; dann werden Sie in Ihrem Wissen ein Stück reicher, Herr Scharrenbroich. Das wäre der Erweiterung Ihres Horizontes nicht abträglich. Daran müssen Sie ja wohl immer arbeiten, wie auch wir. Ich sage hier klipp und klar: Wir werden dies gemeinsam beraten, und ich gehe davon aus, daß wir zu einem vernünftigen Konsens kommen werden. Im Gegensatz zu Ihnen sind die Sozialdemokraten die Partei der qualifzierten Mitbestimmung. ({16})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun hat die Kollegin Dr. Eva Pohl das Wort.

Dr. Eva Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001727, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist noch kein ganzes Jahr vergangen, seit wir hier im Bundestag einmütig den Grundstein für den heute zur Debatte stehenden Koalitionsentwurf des Mitbestimmungs-Beibehaltungsgesetzes gelegt haben. Damals sind wir übereingekommen, daß die innerstaatliche Umsetzung der EG-Richtlinie des Rates vom 23. Juli 1990, die sogenannte Fusionsrichtlinie, nicht zu einer Schmälerung der Mitbestimmungsrechte von Arbeitnehmern führen darf. Der Ihnen heute vorliegende Entwurf trägt diesem Beschluß des Bundestages in vollem Maße Rechnung. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß die Koalition vereinbart hat, ein Gesetz zur Einführung der kleinen Aktiengesellschaft einzubringen. ({0}) Die aktienrechtliche Mitbestimmung für kleine Aktiengesellschaften muß angepaßt werden. Deshalb legt die F.D.P. Wert darauf, daß die Verabschiedung beider Gesetze aufeinander abgestimmt wird. ({1}) Unser Entwurf gewährleistet die effektive Sicherung der Mitbestimmungsrechte aus den Bereichen des Montan-Mitbestimmungsgesetzes, des Mitbestimmungsgesetzes sowie des Betriebsverfassungsgesetzes. Es ist unser aller Anliegen, daß das EG-weit beispielhafte deutsche Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch im Hinblick auf die Herstellung des EG-Binnenmarktes als sozialpolitische Errungenschaft bestmöglich erhalten bleibt. Vor allem anderen gilt es aber, heute Hindernisse für die Errichtung und das Funktionieren des gemeinsamen Marktes auszuräumen. In Erreichung dieses Zieles haben wir in einem ersten Schritt entsprechend der Vorgabe der steuerlichen EG-Fusionsrichtlinie mit dem Steueränderungsgesetz 1992 grenzüberschreitende Betriebsübertragungen und vergleichbare Vorgänge von bisher bestehenden steuerlichen Belastungen befreit. Damit werden für die Zukunft die Übertragung von deutschen Betrieben und Teilbetrieben auf ausländische Unternehmen sowie diejenigen Fälle, in denen ein deutsches Unternehmen seine Mehrheitsbeteiligung an einem deutschen Tochterunternehmen auf ein ausländisches Unternehmen im Austausch für Kapitalanteile überträgt, wesentlich erleichtert. Weil aber die paritätische Mitbestimmung nach unserer Ansicht Vorrang vor der durch das Steueränderungsgesetz 1992 bewirkten steuerlichen Begünstigung haben muß, legen wir Ihnen heute in einem zweiten Schritt unseren Entwurf zur mitbestimmungsrechtlichen Flankierung des Austausches von Anteilen und der Einbringung von Unternehmensteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten der EG betreffen, vor. Die F.D.P.-Fraktion ist mit dem Koalitionspartner übereingekommen, daß der Schutz des deutschen Mitbestimmungsrechtes nur dann wirksam gewährleistet ist, wenn die steuerliche Begünstigung der Unternehmen an die Einhaltung des Mitbestimmungsstatus gebunden ist. ({2}) In Übereinstimmung mit der Fusionsrichtlinie der EG kann also die steuerliche Vergünstigung dann versagt werden, wenn durch die Fusion im abgebenden Unternehmen der Mitbestimmungsstatus nicht mehr vorhanden ist. Wir haben uns in unserem Entwurf für die mitbestimmungsrechtliche Fiktion entschieden. Danach wird der Betrieb, der Betriebsteile grenzüberschreitend an EG-Partner abgegeben hat und dadurch einen mitbestimmungsschädlichen Erfolg herbeigeführt hat, in der Regel mitbestimmungsrechtlich so behandelt, als sei es zu dem Betriebsübergang nicht gekommen. An dieser Stelle möchte ich verschiedentlich lautgewordenen Einwänden entgegentreten, die da sagen, durch diese Fiktion werde die Selbstverantwortung der Unternehmen für ihre interne Struktur in Frage gestellt. Ich glaube, der jetzige Entwurf beseitigt diese Bedenken. Denn wir sehen ein Wahlrecht für die betroffenen Unternehmen vor. Es steht ihnen danach frei, ob sie die steuerliche Erleichterung in Anspruch nehmen und sich damit den Bestimmungen über die Beibehaltung der Mitbestimmung unterwerfen wollen oder nicht. Für ebensowenig überzeugend erachten wir den Ansatz, das Mitbestimmungs-Beibehaltungsgesetz führe dazu, daß grenzüberschreitende Betriebsübertragungen in Zukunft unterbleiben werden. Denn zur Vermeidung dessen haben wir ja bereits im Steueränderungsgesetz 1992 beachtliche Steuervorteile für die abgegebenen Betriebe vorgesehen. Auch dieser Einwand kann daher nicht überzeugen. Wesentlich wichtiger ist hingegen, daß sich der Verlust der abgegebenen Arbeitnehmer nicht negativ auf die im Zeitraum des Betriebsübergangs bestehenden Mitbestimmungsregelungen auswirkt. Dazu hat schon der Kollege Hörsken exakte Angaben gemacht. Dem trägt der Koalitionsentwurf Rechnung, indem er einerseits die bisherigen Mitbestimmungs-Schwellenwerte der einschlägigen gesetzlichen Vorschriften berücksichtigt, andererseits aber auch diejenigen Betriebe in die Pflicht der paritätischen Mitbestimmung nimmt, die oberhalb bestimmter Arbeitnehmerzahlen, nämlich 25 % der bisherigen Schwellenwerte, liegen. Dadurch wird bei grenzüberschreitenden steuerbegünstigten Fusionen insgesamt ein Herausfallen aus der jeweiligen Mitbestimmung erschwert. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, der Kollege Rudolf Kraus, das Wort. Rudolf Kraus, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte vorab ganz kurz zu dem Stellung nehmen, was Herr Urbaniak zur Frage der Haltung der Bundesregierung in Brüssel sagt, wenn es darum geht, die Mitbestimmung vor Aushöhlung zu schützen. Sehen Sie, Herr Urbaniak, gerade die Bundesregierung achtet bei den Verhandlungen in Brüssel darauf, daß alle Vorschläge der EG-Kommission, insbesondere zum europäischen Gesellschaftsrecht, keine Gefährdung der deutschen Mitbestimmung zur Folge haben. Deshalb setzt sich die Bundesregierung insbesondere bei den Vorhaben für europäische Aktiengesellschaften nachdrücklich dafür ein, daß die für diese Gesellschaftsform vorgesehenen verschiedenen Mitbestimmungsmodelle gleichwertig ausgestaltet werden. Gerade an der Brüsseler Front tritt die Bundesregierung entsprechend der Koalitionsvereinbarung zur Europapolitik immer wieder dafür ein: Die in Deutschland bestehende Mitbestimmung muß gesichert bleiben. Das ist der Satz, der in der Koalitionsvereinbarung gerade für die Behandlung dieser Sachfrage steht. Trotzdem, glaube ich, kann man doch sagen, daß diese heutige Diskussion einen gewissen Grundkonsens widerspiegelt, der die gesamte Entwicklung unserer bundesdeutschen Mitbestimmung im politischen Raum seit Jahren begleitet hat. Das ist natürlich ausdrücklich zu begrüßen. Es hat wohl immer Einigkeit in der Frage bestanden, daß unsere Mitbestimmung dort erhalten bleiben muß, wo sie sich bewährt hat. Ebenso besteht und bestand Einigkeit darüber, daß überall dort reagiert werden muß, wo unser bewährtes Mitbestimmungssystem durch rechtliche oder faktische Veränderungen gefährdet werden könnte. Ein solcher neuer Gefährdungstatbestand ist eingetreten, und deswegen müssen wir handeln: Aus der Umsetzung der EG-rechtlichen Fusionsrichtlinie ergibt sich eine offene Flanke für die deutsche Unternehmensmitbestimmung, insbesondere für das Mitbestimmungsgesetz von 1976. Daher sind wir aufgefordert, das Mitbestimmungsgebäude weiter zu sichern. Der vorliegende Gesetzentwurf ist als ein Baustein zu verstehen, ({0}) der dem Modell der deutschen Unternehmensmitbestimmung weiteren Halt gibt. ({1}) Wenn Sie hier von Demontage sprechen, steht das eigentlich in gewissem Widerspruch zu dem, was Sie hier vorhin selbst gesagt haben; ich kann das deshalb nicht so ganz verstehen, aber vielleicht können Sie das im Ausschuß dann noch einmal etwas ausführlicher erläutern. Der vorliegende Gesetzentwurf ist als ein Baustein zu verstehen - ich sagte es schon -, der dem Modell der deutschen Untemehmensmitbestimmung weiteren Halt geben soll. Mit ihm setzen wir um, was wir alle - über die Grenzen der Fraktionen hinweg - am 8. November 1991 einmütig beschlossen haben: keine Schwächung der Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer durch die Umsetzung der EG-rechtlichen Fusionsrichtlinie und eine effektive Sicherung dieser Mitbestimmungsrechte. Ich will jetzt nicht noch weiter auf die Einzelheiten eingehen, die hier schon mehrfach angesprochen worden sind, sondern ich möchte nochmals etwas zu den Grundsätzen sagen. Von den Vorschriften des Mitbestimmungsgesetzes 1976 werden solche Unternehmen erfaßt, die mehr als 2 000 Arbeitnehmer beschäftigen. Das Gesetz greift auch bei Unternehmen, die an der Spitze eines Konzerns stehen, wenn die inländischen Unternehmen des Konzerns zusammen mehr als 2 000 Arbeitnehmer beschäftigen. Damit wird deutlich: Die von der Fusionsrichtlinie gewollten und geförderten grenzüberschreitenden Unternehmensbewegungen können dazu führen, daß Unternehmen von der Mitbestimmung des Mitbestimmungsgesetzes 1976 in die schwächere Mitbestimmung nach dem Betriebsverfassungsgesetz von 1952 wechseln oder sogar völlig aus der Unternehmensmitbestimmung herausfallen würden. ({2}) Das ist der praktisch wichtigste Fall. Gefährdungen bestehen natürlich auch bei der Mitbestimmung nach dem Betriebsverfassungsgesetz von 1952 und der Montan-Mitbestimmung. ({3}) Dieses Ergebnis wäre aber nur dann hinzunehmen, wenn dem Verlust an Mitbestimmung auf deutscher Seite ein Zuwachs an Mitbestimmung bei den aufnehmenden ausländischen Unternehmen gegenüberstünde. Da unsere Partner in der EG aber -jedenfalls bislang - keine unserem Mitbestimmungssystem gleichwertigen Systeme kennen, ist das nicht der Fall. Solange ein deutliches Rechtsgefälle zwischen deutschem Mitbestimmungsrecht einerseits und den allenfalls ansatzweisen Regelungen in den anderen Mitgliedstaaten andererseits besteht, müssen wir die deutsche Mitbestimmung an ihrer europäischen Flanke vor Einbrüchen sichern. Wie fügt sich nun ein solches Sicherungsgesetz in unsere sozial- und wirtschaftspolitische Gesetzgebungslandschaft ein? Ich bin der Auffassung, daß die vorliegende Gesetzesregelung keine ungebührliche Fessel für mitbestimmte deutsche Unternehmen ist. Sie entspricht vielmehr unserem Grundgedanken der Flexibilität. Denn der vorliegende Gesetzentwurf läßt den Unternehmen bei mitbestimmungsschädlichen grenzüberschreitenden Unternehmensbewegungen die Wahl: Entweder sie nehmen die steuerlichen Erleichterungen in Anspruch und akzeptieren dann aber auch die Beibehaltung der Mitbestimmung, oder sie wollen die Mitbestimmung nicht beibehalten und müssen dann auf die steuerlichen Erleichterungen verzichten. ({4}) Diese Regelung ist nach meiner Überzeugung auch angemessen. Denn: Die deutsche Unternehmensmitbestimmung hat sich über Jahrzehnte hin bewährt. Die Beteiligung der Arbeitnehmer an wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungen im Betrieb und Unternehmen ist wesentlicher Garant unseres sozialen Friedens. Sie ist kein Selbstzweck, sondern bewährt sich auch und gerade in schwereren Zeiten, z. B. bei der Neuorganisation und Umstruktierung von Industriezweigen, bei Rationalisierungsmaßnahmen und bei der bedauerlichen Schließung von Unternehmen und damit verbundenen Arbeitsplatzverlusten. Nur wenn die Arbeitnehmerseite rechtzeitig über die Unternehmensentscheidungen informiert und in die damit verbundenen schwierigen Anpassungsprozesse umfassend eingebunden ist, geht das ohne soziale Verwerfungen ab. Unternehmensmitbestimmung soll nicht die vorhandenen und notwendigen Interessengegensätze zwischen Anteilseignern und Belegschaft überspielen. Sie soll vielmehr helfen und Garant dafür sein, daß diese Gegensätze fair und im gegenseitigen Verständnis ausgetragen werden. Aber nur umfassende und rechtzeitige Information der Arbeitnehmerseite und eine Einbeziehung der Belegschaft und der Gewerkschaften in die Verantwortung für wichtige unternehmerische Entscheidungen lassen sie kritische Partner der Unternehmensleitung sein. Die Bundesregierung - das möchte ich abschließend feststellen - sagt ja zur Unternehmensmitbestimmung. Sie sagt damit auch ja zur Zusammenarbeit und zur Partnerschaft im Unternehmen. ({5}) Dieses Ja bedeutet für Arbeitnehmer und Anteilseigner eine gemeinsame Verantwortung für das Unternehmen und ein gemeinsames Handeln im Interesse des Allgemeinwohls. Wer ja sagt zur Unternehmensmitbestimmung, der sagt gleichzeitig ein deutliches Nein zu Konfrontation und Klassenkampf im Unternehmen. ({6}) Deshalb ist es mehr als gerechtfertigt, daß die Unternehmen, die für ihre grenzüberschreitenden Unternehmensbewegungen steuerliche Entlastungen in Anspruch nehmen wollen, auch unser bewährtes Mitbestimmungssystem beibehalten. Ich bedanke mich. ({7})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht mehr vor. Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/3280 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Möchte das jemand irgendwie anders gehandhabt sehen? - Das ist nicht der Fall. ({0}) - Prima, wunderbar. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 8: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verjährung von SED-Unrechtstaten ({1}) - Drucksache 12/3080 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({2}) Innenausschuß Haushaltsausschuß Dafür ist nach einer interfraktionellen Vereinbarung eine Aussprache von einer halben Stunde vorgesehen. Besteht damit Einverständnis? - Das ist der Fall. Darm ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem dem Kollegen Dr. Hans de With das Wort.

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 7. Mai dieses Jahres haben wir hier im Deutschen Bundestag schon einmal über die Frage des Ruhens der Strafverfolgungsverjährung von Unrechtstaten in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik debattiert. Dem lag ein Antrag in Form einer deklaratorischen Feststellung der SPD-Bundestagsfraktion vom 19. Februar 1992 zugrunde und - die GRÜNEN sind nicht vertreten - ein Gesetzesantrag vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN. Mit Ausnahme der PDS haben - die Bundesregierung eingeschlossen - die Vertreter aller Parteien im Deutschen Bundestag betont, daß die Verfolgungsverjährung von Straftaten, die in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik unter Mißachtung rechtsstaatlicher Maßstäbe aus politischen Gründen nicht verfolgt wurden, bis zum Zeitpunkt des Wiederbeginns einer rechtsstaatlichen Justiz im Beitrittsgebiet geruht hat. Damit sollte außer Zweifel stehen, daß derartige damals nicht verfolgte Straftaten nach dem Beitritt verfolgt werden können. Strittig war damals nur, ob der Bundestag diese Problematik lediglich durch eine deklaratorische Feststellung oder durch ein Gesetz regeln sollte, und bis zu welchem Zeitpunkt die Strafverfolgung in den nunmehr neuen Ländern geruht hat. Ich habe seinerzeit schon erklärt, daß wir Sozialdemokraten auch bereit seien, einem entsprechenden Gesetz zuzustimmen, wenn dies nur bald verabschiedet werden könne. Denn wichtig allein ist, daß Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte alsbald von einheitlichen Voraussetzungen ausgehen können und die Bevölkerung in den neuen Ländern wirklich weiß, daß sich der Deutsche Bundestag müht - ich sage: müht -, gegenüber einem gerechtfertigten Verlangen unberechtigte Barrieren wegzuräumen. Unsere Aufgabe ist es schließlich - und darin stimmen wir, glaube ich, alle überein -, der individuellen Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen und damit zugleich in diesem besonderen Falle mit dazu beizutragen, daß die Vergangenheit aufgearbeitet werden kann. Der hier vorliegende Entwurf des Bundesrates kann nur begrüßt werden. Damit ist die Gewißheit gegeben, daß Bundestag und Bundesrat zur Problematik des Ruhens der Verjährung von Unrechtstaten in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik im Kern dieselbe Auffassung haben. Damit sollte es uns auch gelingen, die noch verbleibenden Unterschiede alsbald ausräumen zu können. Der Gesetzentwurf des Bundesrates bringt nun über die Vorlagen aus dem Bundestag hinaus einen weiteren Vorschlag, bei dem die Bundesregierung leise Bedenken angemeldet hat. Der Bundesrat schlägt nämlich vor - und jetzt wird die Sache leider etwas kompliziert -, das Ruhen der Strafverfolgungsverjährung und damit die Verfolgungsmöglichkeit auch dann im Gesetz festzulegen, wenn eine Straftat nach beiden Strafgesetzbüchern, dem der DDR und dem der Bundesrepublik, zu verfolgen war und die Straftat nach bundesrepublikanischem Recht bereits der Verjährung unterlegen war und nach dem der DDR bis zum 3. Oktober 1990 im Gegensatz dazu aber nicht, sei es, daß die Laufzeit drüben länger war oder das Ruhen der Verjährung zu berücksichtigen gewesen wäre. Eine derartige Regelung ist nicht ganz unumstritten, aus verständlichen Gründen. Ich komme darauf noch zurück. Es muß deswegen über diese Problematik noch sehr sorgfältig nachgedacht werden; denn jedwede gesetzliche Festlegung der Verjährung im Zusammenhang mit SED-Unrechtstaten darf auch nicht - meine ich - den Hauch der Zweifelhaftigkeit oder der Fraglichkeit tragen. Ich sage dies in dem Wissen, daß die Regelung dieses Bereiches auch Todesschüsse vom DDR-Territorium auf bundesrepublikanisches Gebiet berühren wird. Es könnte ja sein - wenn ich sage „könnte", beruht das auf Ermittlungsverfahren, die in Berlin bereits laufen -, daß bei einem tödlichen Schuß durch einen NVA-Soldaten auf einen schon auf bundesrepublikanischem Gebiet liegenden Menschen nach unserem Recht nur Totschlag mit der 20jährigen Verjährungsfrist anzunehmen ist, wohingegen diese Tat nach dem ehemaligen DDR-Strafgesetzbuch als Mord mit einer 25jährigen Verjährungsfrist zu qualifizieren wäre, mit der Folge, daß nach hiesigem Recht - dem alten und jetzt noch geltenden - Verjährung eingetreten wäre, nach dortigem aber nicht. Das aber müßte möglicherweise zur Einstellung des Verfahrens führen, weil das mildere Recht anzuwenden ist. Daß diese Bewertung als grob ungerecht empfunden wird, bedarf sicher keiner Erörterung. Gleichwohl darf, wie erwähnt, keine Regelung in diesem Bereich - also zur Fortführung der für uns generell für erforderlich gehaltenen Strafverfolgungen - auch nur igendwie zweifelhaft sein. Daß das SED-Regime nicht nur - wie die Soziologen sagen, aber es wird verstanden - die volle Programmherrschaft hatte - die Ziele der SED waren ganz einfach geschriebenes und ungeschriebenes Recht in Form von Anweisungen jedweder Art, ohne daß das immer so ausgewiesen war -, sondern daß es eine Justiz auch als Herrschaftsinstrument ansah, ist schon häufig genug gesagt worden. Um so mehr ist es notwendig, dabei mitzuhelfen, daß Einzelfälle aufgeklärt werden, Einzelfälle, bei denen deutlich wird, daß zwar nach dem DDR-Gesetz hätte verfolgt werden müssen, SED-Gesichtspunkte dies aber ausgeschlossen haben. Dem dient die deklaratorische Feststellung des Ruhens der Verjährung, damit SED-Unrechtstaten weiter verfolgt werden können. Eingriffe - ich sage es noch einmal - in das materielle Recht hingegen, bei denen die Frage der Rückwirkung eine große Rolle spielt, müssen sehr sorgfältig bedacht werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Diktaturen haben immer schon die Justiz instrumentalisiert. Das SED-Regime hat da keine Ausnahme gebildet, und viele Bürger drüben stehen deshalb der Justiz noch immer sehr mißtrauisch gegenüber. Um so mehr haben wir die Verpflichtung, immer und immer wieder klarzumachen, daß wesentliches Merkmal der Strafverfolgung die Tatsache ist, daß die Strafverfolger allein dem Gesetz und nur dem Gesetz unterworfen sind. Das bedeutet aber auch, daß der Gesetzgeber zu verdeutlichen hat, daß und warum in der DDR die Verjährung geruht hat und damit SED-Unrecht nach Beendigung des SED-Regimes verfolgt werden kann und muß. Natürlich können Fehlhandlungen und Fehlurteile auch in einem Rechtsstaat niemals ausgeschlossen werden, nur, einmal entdeckt, sind sie praktisch immer korrigierbar, und es gibt genügend Möglichkeiten, entsprechende Anträge zu stellen. Das ist, lassen Sie mich zum Schluß dies so formulieren, die Macht des Rechts, die das Recht der Macht ausschließt. Vielen Dank. ({0})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Als nächster hat unser Kollege Dr. Michael Luther das Wort.

Dr. Michael Luther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Akzeptanz des Rechtsstaates in den neuen Bundesländern ist nicht gut. Die täglichen Ausschreitungen in Rostock und Wismar und in vielen anderen Orten zeigen die Spitze des aufgestauten Unmutes, zeigen aber auch die Unfähigkeit, Konflikte friedlich zu bewältigen. Letzteres durfte eben in der DDR nicht gelernt werden. Und dieser Unmut wird verstärkt durch die steigende Arbeitslosigkeit und durch Zukunftsängste, durch das Asylproblem und letztlich durch das Gefühl, daß es wieder den kleinen Mann trifft, während die großen Tiere des SED-Regimes ihre Schäflein im trockenen haben und sich außerdem noch in der Geborgenheit des Rechtsstaates und des Rechtswegegarantiestaates in Sicherheit fühlen dürfen. All dies ist nicht dazu geeignet, das Vertrauen der Bürger in den neuen Bundesländern in den Rechtsstaat zu festigen, insbesondere weil sie persönlich bisher oftmals nur das Negative des Rechtsstaates für sich wahrgenommen haben. Nun will ich nicht den Rechtsstaat, den ich gewollt habe, in Abrede stellen. Das hier in erster Lesung zu beratende Gesetz hebt auch nicht primär auf eine Verbesserung des für mich schon noch unbefriedigenden Zustandes der juristischen Vergangenheitsbewältigung ab. Trotzdem steht das anstehende Problem „Verjährung des SED-Unrechts" in diesem Gesamtrahmen. Schon am 7. Mai dieses Jahres habe ich in diesem Hause die Frage gestellt: Warum muß überhaupt eine solche Gesetzesinitiative gemacht werden? Normalerweise könnte doch davon ausgegangen werden, daß, in Anlehnung an entsprechende Urteile des Bundesgerichtshofes zu juristisch vergleichbaren Fällen der NS-Diktatur, die Verjährung durch Nichtverfolgbarkeit geruht hat. Hinzu kommt, daß infolge des Einigungsvertrages im Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch im § 315a festgestellt wird, daß bis zum Tag der Wiedervereinigung die Verjährung nicht verjährter Tatbestände unterbrochen wird und somit die Verjährungsfrist erneut beginnt. Die 40jährige Teilung Deutschlands führte jedoch auch zu juristischen Kombinationen, die dem Aussetzen der Verfolgungsverjährung entgegenstehen können. Mit dem Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland konnten, unabhängig vom Recht des Tatorts, Fälle der Verschleppung, z. B. auf dem Gebiet der DDR, damals beurteilt werden. Dies geschah jedoch nicht immer in allen Fällen, so daß es auch Fälle gibt, wo heute Verfolgungsverjährung festgestellt wird. Eine zweite offene Frage ergibt sich durch das Strafgesetzbuch der DDR selbst. Laut § 83 StGB der DDR ruht die Verjährung der Strafverfolgung dann, wenn aus gesetzlichem Grunde diese nicht eingeleitet werden konnte. Nun gibt sich ein rechtsstaatswidriges System, wie es die DDR war, kein ausdrückliches Gesetz, welches die Strafverfolgung staatlichen Unrechtshandelns hindern soll. Wie interpretiert man dann in diesem Fall? Ein Gesetz zur Strafverfolgungsunterdrückung hätte ja das Eingeständnis des DDR-Staates bedeutet, daß er selbst ein Unrechtsstaat ist. Meine Damen und Herren, es belegen gerade die Informationen des obersten Gerichts der DDR, welchen Stellenwert der Wille der Staats- und Parteiführung in der damaligen DDR hatte. So waren z. B. laut Informationen des obersten Gerichtes der DDR die Beschlüsse des XI. Parteitages der SED verbindliche Grundlage für die Tätigkeit der Gerichte und Richtschnur ihres Handelns. Der Wille der Staats- und Parteiführung wurde also gesetzlich geachtet. Im Falle der Straftaten der NS-Zeit hat der Bundesgerichtshof festgestellt, daß die Verfolgung von solchen Straftaten auf Grund des als Gesetz geachteten Führerwillens nicht erfolgt ist. Hier kann also für diese juristische Frage die Analogie zu dem Herschaftssystem des SED-Regimes hergestellt werden und ebenfalls von einem Ruhen der Verjährung für solche Taten ausgegangen werden, die aus politischen Gründen nicht verfolgt wurden. Deshalb gibt es von den verschiedenen Parteien des Deutschen Bundestages Aktivitäten, um hier zu einer Klarstellung zu kommen. Hier nenne ich auch den Gesetzentwurf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und den Antrag der SPD-Fraktion. Beide wurden bereits in erster Lesung an die Ausschüsse verwiesen. Schon damals sprach ich in meinem Redebeitrag aus meiner Sicht die Unzulänglichkeiten beider Vorschläge an. Der SPD-Entschließungsantrag ist von der Sache her richtig, ist jedoch auch nur eine Willensäußerung und gibt den Gerichten in dieser offenen Rechtslage keine klare Handlungsanweisung. Der Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist für meine Begriffe deshalb unzulänglich, weil genau das Problem der Verjährung während der SED-Zeit nicht angesprochen wird, da es nicht für Taten gelten würde, deren Verfolgung beim Inkrafttreten des Gesetzentwurfes bereits verjährt wären. Genau das wollen wir jedoch klarstellen, daß bis heute diese Taten nicht verjähren konnten. Schon damals erwähnte ich die Aktivitäten der neuen Lander im Bundesrat, einen Gesetzentwurf zum Problem der Verjährung des SED-Unrechts zu verabschieden. Diese Gesetzesvorlage beraten wir heute in erster Lesung im Bundestag. Schon allein an der Beratungszeit - die Drucksache stammt immerhin vom Februar dieses Jahres - zeigt sich für mich, daß man sich den Umgang mit diesem Thema nicht leichtgemacht hat. Es ist genau zu differenzieren, denn auch zu DDR-Zeiten wurde Recht gesprochen, welches mit der Rechtsprechung unter rechtsstaatlichen Bedingungen vergleichbar ist. Das heißt, in dem Falle kann natürlich auch unter bestimmten Umständen Verjährung eingetreten sein. Das alles wollen und können wir nicht rückabwickeln. Wir müssen schon genau benennen, was wir wollen und was wir ansprechen wollen. Deshalb halte ich den Entwurf von seiner Anlage her für gelungen, der ausdrücklich feststellt, daß die Verjährungsfristen für die Verfolgung von Taten, die während der Herrschaft des SED-Unrechtsregimes begangen wurden, ruhen, wenn die Taten nicht verfolgt wurden, weil sie entsprechend dem ausdrücklichen oder mußmaßlichen Willen der Staats- und Parteiführung der ehemaligen DDR aus politischen oder sonst mit wesentlichen Grundsätzen einer freiDr. Michael Luther heitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbaren Gründen nicht geahndet worden sind. § 2 des Gesetzes präzisiert, indem ein Katalog aufgestellt wird, in dessen Fällen der politische Wille der Staats- und Parteiführung, bei in diesem Zusammenhang von Dritten verübten Straftaten eine Strafverfolgung nicht gewünscht hat. Diese Liste ist neben den Fragen, ab wann Verfolgungsverjährung wieder beginnt, genau zu überdenken. Hier müssen wir klarstellen, was wir wollen und was wir nicht wollen. In diesem Zusammenhang spielt sicherlich die Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes eine wichtige Rolle. Ich nenne ein konstruiertes Beispiel. Wie wertet man in diesem Fall? Jemand ist kriminell geworden, und die Tat hätte strafrechtlich verfolgt werden müssen. Dies geschah jedoch nicht, weil der Staatssicherheitsdienst diese Erkenntnis als Erpressungspotential gegenüber der Person benutzen wollte oder benutzt hat. Unabhängig davon, was derjenige dann gemacht hat, ist es doch so, daß die Strafverfolgung aus politisch motivierten Gründen nicht erfolgt ist. So ist dieser an sich Kriminelle in einer gewissen Art und Weise ein politisches Opfer geworden. Sie sehen die Schwierigkeiten und die Brisanz, die in diesem Thema steckt. Meine Damen und Herren, ich möchte zum Ende kommen. Es gibt eine ganze Menge von Urteilen, die zu Unmut in der Bevölkerung führen, weil auf Grund von Verjährung offensichtliches Unrecht, das in der Vergangenheit politisch gedeckt wurde, heute nicht weiter verfolgt werden kann, da die Taten verjährt sind. Das dient nicht dem Rechtsfrieden. Hier muß Klarheit geschaffen werden, nicht zuletzt im Sinne der Opfer, die davon betroffen sind, die ein Recht auf Vergangenheitsbewältigung haben und die einen Anspruch auf Bestrafung ihrer Verfolger haben. Deshalb bitte ich, daß wir diesen Gesetzentwurf schnell in den Ausschüssen beraten, damit er bald in Kraft treten kann. Danke. ({0})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun hat der Kollege Jörg van Essen das Wort.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bereits bei der Debatte am 7. Mai 1992 habe ich an dieser Stelle die Auffassung der F.D.P.-Fraktion wiedergegeben, daß SED-Unrecht nicht verjähren dürfe. An meiner damaligen Lagefeststellung und meiner damaligen Begründung hat sich nichts geändert. Es dient nicht der Qualität einer Debatte, wenn noch zutreffende Argumente und Gesichtspunkte erneut und nur wenig verändert vorgetragen werden. Lassen Sie mich deshalb nur einige wenige fachliche Bemerkungen machen: Ich freue mich sehr, daß der Entwurf meine Anregung aus der vergangenen Debatte aufgegriffen hat und als Ende des SED-Unrechtsstaates den 17. März 1990 vorsieht. Mit den ersten freien Wahlen am 18. März 1990 und nicht erst mit der deutschen Wiedervereinigung war das Gebiet der ehemaligen DDR kein Unrechtsstaat mehr. Ich gebe aber noch einmal zu überlegen, ob bei Straftaten der mittleren Kriminalität die Verjährungsfrist nicht von fünf auf acht Jahre erhöht werden sollte, was der Entwurf nicht vorsieht, was aber auch diskutiert wird. Gerade wegen der absehbar langen Verfahrensdauer bei Einsicht in die Akten der GauckBehörde sollten wir darüber sorgfältig sprechen. Es wäre nicht hilfreich, wenn wir hier in der Zukunft nachbessern müßten, weil Straftaten dieser Kategorie, etwa Straftaten an Gefangenen, zu spät bekanntwerden. Die Skepsis in der Stellungnahme der Bundesregierung darüber, ob der in Art. 1 § 2 des Entwurfs aufgestellte Katalog wirklich hilfreich ist, teile ich nachdrücklich. Der Katalog ist sehr weit gefaßt und dennoch nicht allumfassend, so daß er ausreichend Stoff für Juristenstreit und damit für Unsicherheiten bietet. Gerade die Unsicherheiten sollen ja durch diese deklaratorische Feststellung vermieden werden. Auch das wichtigste Argument für diese Zurückhaltung wird von mir voll geteilt. Die Bundesregierung weist zu Recht darauf hin, daß es für das Ruhen der Verjährung nicht entscheidend darauf ankommt, ob die Tat selbst politisch motiviert war - alle aufgezählten Taten sind politisch motiviert -, sondern darauf, ob aus politischen Motiven nicht verfolgt wurde. Der Kollege de With hat die Probleme mit dem Art. 2 angesprochen. Auch ich setze das Fragezeichen, das er in der Debatte hier deutlich artikuliert hat. Wir müssen prüfen, ob das Gesetz in diesem Zusammenhang, wie es das vorgibt, wirklich nur deklaratorisch ist. Mit den damit verbundenen Verfassungsfragen sollten wir uns sehr sorgfältig beschäftigen. Es wäre nämlich schlimm, wenn wir bestätigt bekämen, daß das gegen die Verfassung ist. Deshalb sollte das einen Schwerpunkt in unserer Debatte bilden. Der Kollege Luther hat davon gesprochen, daß das Gesetz schnell in Kraft treten soll. Ich hoffe, daß das möglich sein wird. Der Rechtsausschuß hat vorgesehen, in der Sitzung in Weimar - ich finde es gut, daß wir bei einer Sitzung in den neuen Bundesländern über dieses Thema sprechen - darüber zu beraten. Das bedeutet, daß wir den Gesetzentwurf vielleicht sogar schon im Oktober verabschieden können. Danach kann der Bundesrat sehr schnell zu einer Beschlußfassung kommen. Auch nach meiner Auffassung sollte das Gesetz also schnell in Kraft treten. Herzlichen Dank. ({0})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun hat der Kollege Professor Uwe-Jens Heuer das Wort.

Prof. Dr. Uwe Jens Heuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000891, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr de With hat hier erklärt, bei diesem Gesetz dürfe es nicht den Hauch einer Zweifelhaftigkeit geben. Außerdem sagte er, es sei ein Vorteil dieses Staates, daß Fehlhandlungen, die einmal entdeckt würden, korrigiert würden. Ich meine, damit müßte man gleich bei diesem Gesetzentwurf beginnen. Ich habe gegen den Gesetzentwurf zwei grundlegende Einwände. Erstens verstößt er gegen Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit; das ist derselbe Vorwurf, den er gegen die DDR erhebt. Zweitens ist er ein weiteres Glied im Ausbau des Sonderrechts für Ostdeutschland. Die Verjährung von Straftaten wird mit schwindendem Strafbedürfnis begründet. Je länger die Frist zwischen Tat und Bestrafung sei, desto weniger könne die Bestrafung dem Rechtsfrieden dienen, desto mehr störe sie ihn. Dieses Prinzip der Verjährung wird auch nicht dadurch berührt, daß ein Staat die Rechtsnachfolge eines anderen Staates antritt, der eine möglicherweise sogar wesentlich anders gestaltete Rechtsordnung hatte. Er kann dort verjährte Straftaten nicht wieder aufgreifen. Für die Bundesrepublik ist das wenn nicht durch Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes, so doch durch das Rechtsstaatsprinzip absolut ausgeschlossen. Bundesminister Kinkel hat am 23. September 1991 erklärt: Der Gesetzgeber kann aus rechtsstaatlichen Gründen wegen des Problems der Rückwirkung nicht tätig werden. - Auch im Verhältnis zwischen DDR und BRD ist das im zweiten Staatsvertrag entsprechend geregelt worden. Herr Luther irrt sich in seiner Interpretation des Einigungsvertrages. In der Anlage wird festgelegt, daß es bei der nicht eingetretenen Verjährung bleibt. Die Verfolgungsverjährung gilt als am Tag des Wirksamwerdens des Beitritts unterbrochen. Bereits eingetretene Verjährungen bleiben damit bestehen. - Das ist der eindeutige Wille des Einigungsvertrages gewesen. Jetzt dagegen soll eine Änderung vorgenommen werden. Für Straftaten, die aus politischen oder sonst mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbaren Gründen nicht verfolgt wurden, soll die Verjährung vom 11. Oktober 1949 bis zum 17. März 1990 geruht haben. Die Begründung dafür - das ist auch heute wieder gesagt worden - ist der Hinweis auf dasselbe Verfahren in bezug auf den NS-Staat. Es gibt eine umfassende Diskussion um die Zulässigkeit des Vergleichs von DDR-Staat und NS-Staat. Natürlich kann man alles vergleichen. Hier geht es aber nicht um Vergleichen, sondern hier geht es um Gleichsetzen. Das DDR-Regime wird mit dem NS-Regime nicht verglichen, sondern gleichgesetzt. Auf der Grundlage dieser Begründung sollen dann die vom Bundesverfassungsgericht und vom Bundesgerichtshof entwickelten Kriterien - darüber, welches diese Kriterien sein können, wird übrigens gestritten - grundsätzlich auf die Zeit des SED-Regimes übertragen werden. Welches Argument wird in der Begründung dafür verwendet? Es heißt, in beiden Staaten sei der Wille der Staats- und Parteiführung Rechtsquelle gewesen. Tatsächlich hatte im NS-Staat mangels Verfassung der Führerwille Gesetzeskraft. Das wurde bekanntlich 1942 noch einmal ausdrücklich bekräftigt. In der DDR - so will es die Begründung - sei ähnliches erfolgt, was damit bewiesen wird, daß laut Nummer 4/86 der Informationen des obersten Gerichts der DDR die Beschlüsse des XI. Parteitags der SED ({0}) verbindliche Grundlage für die Tätigkeit der Gerichte gewesen seien. Nun will ich Ihnen einmal vorlesen, was darin steht - Sie haben das nicht gelesen, aber für uns war es Pflichtlektüre -: ({1}) Mit der verantwortungsbewußten Handhabung von Recht und Gesetz nach dem Grundsatz, daß alle Bürger vor dem Gesetz gleich sind, wird die Gewißheit der Bürger gestärkt, daß die Rechtssicherheit in unserem Staat ein Wesensmerkmal des Sozialismus ist. Was immer Sie davon halten, eine Anweisung zur Rechtsbeugung ist das doch wohl kaum. In dem Gesetzentwurf wird dann eine Liste außerordentlich schwammig formulierter Sachverhalte aufgestellt. Es ist da von Zusammenhängen die Rede, in denen solche angeblich zu Unrecht nicht bestraften Taten vorliegen, wobei diese Liste nur beispielhaft ist. In dieser Liste ist unter „Verfolgung Andersdenkender" auch die Verfolgung von Spionage angeführt. Eine Verurteilung wegen Spionage in der DDR ist also jetzt nachträglich strafbar. Das gleiche gilt für die „Verfolgung Ausreisewilliger". Heute gibt es unterschiedliche Urteile zu diesem Tatbestand. Der Gesetzgeber will aber bereits jetzt diese Taten für nicht verjährt erklären. Zu der Frage der Aufhebung bereits erfolgter Verjährung in der Alt-BRD ist hier schon gesprochen worden. Dem kann ich mich anschließen, und ich verweise auf den Artikel von Grünwald im „Strafverteidiger" 7/92. Das alles erfolgt unter erneuter Verletzung des zweiten Staatsvertrages. Dieser Vertrag, so schlecht er für die DDR auch war, war immerhin die Geschäftsgrundlage für den Anschluß, die Grundlage eines, wenn auch schwachen Rechtsfriedens. Jetzt wird Stück für Stück das Sonderrecht für Ostdeutschland nicht nur beibehalten, sondern auch ausgebaut. Auf dem Deutschen Juristentag hat der Bundeskanzler Frau Bohley zitiert, daß Ostdeutschland nicht die Gerechtigkeit, sondern den Rechtsstaat bekommen habe. Ich meine, Ostdeutschland hat beides nicht bekommen. Hier wird ein Sonderrecht exerziert, von dem Joschka Fischer schreibt: Übertrüge man konsequent die moralischen, rechtlichen und politischen Maßstäbe der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit in Ostdeutschland auf unser Rechtssystem, so bliebe vom Rechtsstaat Deutschland nur noch ein schauriges Zerrbild. Aber es müsse sein, die Westdeutschen sollten mit ihrem „Sensibilitätsgesülze" Schluß machen ({2}). Wer dieses Gesetz beschließt, will dieses schaurige Zerrbild, will nicht Rechtsfrieden, sondern Rechtskrieg. Ich bitte Sie: Halten sie ein auf diesem Weg! ({3})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Als nächster hat der Kollege Dr. Wolfgang Ullmann das Wort.

Dr. Wolfgang Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002354, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, trotz des Einspruchs vom Kollegen Heuer, den wir natürlich ernst nehmen, besteht Einigkeit über den wesentlichen Inhalt des Gesetzentwurfs. Deshalb kann ich mich auf ein meines Erachtens allerdings wichtiges Detail beschränken, in dem der Bundesratsentwurf von dem Gesetzentwurf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abweicht. Der Bundesrat legt als Frist für das Ruhen der Verjährung fest die Zeit vom 11. Oktober 1949, dem Tag der Gründung der DDR, bis zum 17. März 1990, während der Gesetzentwurf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Zeit vom 11. Oktober 1949 bis 2. Oktober 1990 festlegt. Der 17. März 1990 ist der Tag vor der ersten freien Wahl gewesen; aber ich frage Sie, meine Damen und Herren: Brachte der 18. März 1990 wirklich einen Wandel der Rechtssituation? - Das kann man bezweifeln, wenn man an die Ära Diestel im Innenministerium der DDR, an die Unklarheiten der Verfassungslage und an das langsame Anlaufen der Gesetzgebung denkt. Entscheidend aber ist meines Erachtens dieses: Der Gesetzentwurf schließt eine Gesetzeslücke in Anlage 1 Kapitel III Sachgebiet C, nämlich durch Änderung von § 315a des Einführungsgesetzes zum StGB. Deshalb kann ich Ihren Einwand, Herr Heuer, nicht als zutreffend ansehen. Die Aussage „soweit Verjährung nicht eingetreten war" mußte interpretiert werden. Das tut das Gesetz. Dieses Nichteintreten der Verjährung kann mehrere Ursachen haben, und zwar vor allem die der Nichtverfolgung aus politischen Gründen. Dann gilt § 1 des Gesetzes.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Kollege Ullmann, würden Sie eventuell eine Zwischenfrage des Kollegen Heuer gestatten?

Dr. Wolfgang Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002354, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte.

Prof. Dr. Uwe Jens Heuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000891, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Lieber Kollege Ullmann, ich verstehe eines nicht: Wenn es eine Lücke ist, wird ein Gesetz nicht geändert. Ich bin der Meinung: Es verstößt gegen den Einigungsvertrag. Man kann den Einigungsvertrag ändern - natürlich ist das möglich-; es ist eine Änderung des Einigungsvertrags. Wenn es eine Lücke wäre, dann wäre es keine Änderung. Es weicht also von der Regelung des Einigungsvertrags ab. Davon abweichen kann der Gesetzgeber; das weiß ich. Ich mißbillige es, aber er kann es.

Dr. Wolfgang Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002354, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Frage ist für mich schwer zu beantworten, Herr Heuer. Wenn Sie mir darin zustimmen, daß es sich um eine Lücke handelt, dann, finde ich, ist der Tatbestand der Änderung wirklich nicht gegeben. Ich möchte weiter auf folgendes hinweisen. Es handelt sich j a um eine Präzisierung, und darum - das ist meines Erachtens das entscheidende Argument für die vom BÜNDNIS 90 vorgeschlagene Datierung; da es sich um eine Präzisierung oder meinetwegen auch um eine Klärung, Herr Heuer, handelt, wird die Geltung des Einigungsvertrags vorausgesetzt - kommt man auf den 3. Oktober, und darum schlagen wir den 2. als Fristende vor. Die endgültige Textfassung des Gesetzes, meine Damen und Herren Kollegen, sollte die Meinungsäußerung der Regierung aufnehmen. - Die Kritik, die die Regierung an der Überschrift des Gesetzes - Gesetz zur Verjährung von SED-Unrechtstaten - geübt hat, leuchtet, glaube ich, ein. Ebenso berechtigt ist, glaube ich, der Hinweis der Regierung auf die Problematik des Katalogs in § 2. Das deckt sich eigentlich mit Ihren Einwänden, Herr Heuer. Das Gesetz handelt von Verfolgung und nicht von Straftaten. Darum sollte im Gesetz der Katalog entfallen. Ich setze mich dafür ein. Da die Übereinstimmung - bis auf diese von mir genannten Punkte - jetzt schon feststeht, kann man sich, glaube ich, nur der Hoffnung von Herrn Kollegen van Essen anschließen, daß wir zu einer raschen Verabschiedung dieses Gesetzes kommen werden. Danke. ({0})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun hat die Ministerin der Justiz, Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, das Wort.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Minister:in)

Politiker ID: 11001336

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser Rechtsstaat, den die Bürger in den neuen Bundesländern mehr als 40 Jahre entbehren mußten, den sie herbeigesehnt und auf den sie ihre Hoffnungen gesetzt haben, muß sich nun einer der schwierigsten Hinterlassenschaften des SED-Regimes annehmen, nämlich der Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Mitglieder des Staats- und Parteiapparats der ehemaligen DDR. Die Bevölkerung in den fünf neuen Bundesländern erwartet zu Recht, daß dieser Personenkreis für 40 Jahre Unrecht, Unterdrückung und vergebene Lebenschancen zur Verantwortung gezogen wird, und denkt dabei in erster Linie an eine strafrechtliche Verfolgung. Der Versuch, ein in 40 Jahren organisiertes staatliches Unrecht mit den Mitteln des Rechtes zu bewältigen, stößt auf rechtsstaatliche Grenzen; denn man darf nicht übersehen - wie es schon in vielen Debatten hier zum Ausdruck gebracht worden ist -, daß unser Strafrecht auf derartiges staatlich organisiertes Unrecht, das sich über mehrere behördliche Stufen erstreckt hat, eigentlich nicht zugeschnitten ist. Strafrecht befaßt sich mit der individuellen Auflehnung Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gegen die bestehende Rechtsordnung, nicht aber mit einem eine ganze Gesellschaft erfassenden staatlichen Unrecht. Der Unrechtsstaat DDR hat sich über einen Zeitraum von immerhin 40 Jahren erstreckt. Ein schwieriges Problem bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit stellt sich bei der Frage, ob Straftaten, die aus politischen Gründen in der ehemaligen DDR nicht verfolgt wurden, in dieser Zeit verjähren konnten. Das ist ja auch der Anlaß für die jetzt vorliegende Gesetzesinitiative. Diese Frage ist - zu diesem Ergebnis kommt die Gesetzesinitiative ja auch - zu verneinen. Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit bereits mehrfach ihre Auffassung geäußert, daß auf der Grundlage des geltenden Rechts keine Verjährung eingetreten ist, weil die Verjährung für Straf taten, die dem Strafrecht der DDR unterlagen und die aus politischen, rechtsstaatswidrigen Gründen in der ehemaligen DDR nicht verfolgt wurden, während der Zeit der kommunistischen Diktatur geruht hat. Wir haben hier also keine Situation, in der Recht gegen den Einigungsvertrag verstößt oder der Einigungsvertrag geändert werden muß, sondern es geht darum, noch einmal klarzustellen, wie sich die tatsächliche rechtliche Situation, selbstverständlich unter Berücksichtigung des Einigungsvertrags, darstellt. Deshalb muß der deklaratorische Charakter dieses Gesetzentwurfs berücksichtigt werden. Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf deutlich machen, daß die Rechtsprechung, die wir vom Bundesverfassungsgericht und vom Bundesgerichtshof zu der Verjährung von Straftaten zu Zeiten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft haben, hier genauso zur Anwendung kommt. ({0}) Auch wenn sich damit das Ruhen der Verjährung bereits aus dem geltenden Recht ergibt, habe ich Verständnis für das Verlangen nach einer deklaratorischen Regelung. Einige Ausführungen in der Debatte heute zeigen, glaube ich, wie wichtig es ist, daß das klargestellt wird, damit wir darüber nicht in Auseinandersetzungen geraten. Von daher ist es wichtig, daß das Grundanliegen dieses Gesetzentwurfs in diesem Gesetzentwurf sehr deutlich wird und daß wir alles vermeiden, was letztlich zu unterschiedlichen Auslegungen oder unterschiedlichem rechtlichen Verständnis Anlaß geben könnte. Von Ihnen, Herr Ullmann, ist ja schon die Anregung der Bundesregierung aufgegriffen worden, die Bezeichnung dieses Gesetzentwurfs zu ändern. Wir wären alle gut beraten, wenn wir das übernehmen würden; das bringt nämlich noch einmal ganz klar zum Ausdruck, was ich eben ausgeführt habe. Ich unterstütze und befürworte auch die Vorstellungen, die dahin gehen, die in § 2 des Entwurfs enthaltene Aufzählung von aus politischen Gründen in der DDR nicht verfolgten Unrechtstaten nicht in einer Katalogform aufzunehmen. Darüber sollte man in den Beratungen jetzt in den Ausschüssen noch einmal gründlich nachdenken und sich vielleicht überlegen, diesen Katalog zu streichen. Ich möchte dann noch den einen aus meiner Sicht kritischen Punkt dieses Gesetzentwurfs ansprechen, nämlich den Art. 2. Wir müssen ihn, glaube ich, auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten noch einmal sehr sorgfältig prüfen. Ich habe meine Bedenken - das ist auch schon in der Gegenäußerung der Bundesregierung zum Ausdruck gekommen -, ob die dort gewählte Formulierung wirklich nur rein deklaratorisch ist oder ob nicht doch konstitutive Elemente enthalten sind. Aber ich sage Ihnen zu, daß die Bundesregierung bereit ist, die Beratungen zu begleiten, auch mit Formulierungsvorschlägen zu begleiten; denn wir haben ein gemeinsames Ziel: möglichst schnell dieses Gesetz zu verabschieden. Vielen Dank. ({1})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Weitere Wortmeldungen zu diesem Tagesordnungspunkt liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 12/3080 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Haben Sie dazu anderweitige Vorschläge? - Auch diesmal wieder nicht. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Klinkert, Anneliese Augustin, Meinrad Belle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Josef Grünbeck, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Mehr Umweltweltschutz durch Beschleunigung von Zulassungs- und Genehmigungsverfahren - Drucksache 12/2947 Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache zu diesem Thema eine Stunde vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? - Auch dies ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem zu diesem Tagesordnungspunkt dem Kollegen Ulrich Klinkert das Wort.

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesrepublik Deutschland hat sich in den Jahren ihres Bestehens viel Luxus leisten können, der sie von anderen Ländern, auch von anderen Ländern Westeuropas, abhebt. Natürlich muß man sich bei manchem Luxusprodukt fragen, ob es notwendig, angebracht und vor allem bezahlbar ist. Die Frage ist, glaube ich, vor allem beim markantesten deutschen Luxusartikel angebracht, den unvertretbar langen Zulassungs- und Genehmigungsverfahren. Die deutsche Wirtschaft schafft es in Rekordzeit, Anlagen, ganze Fabriken oder Städte zu errichten, aber die deutsche Bürokratie - im Gegensatz dazu - ist Weltmeister, wenn es darum geht, die dafür notwendigen Zulassungen und Genehmigungen zu erteilen. ({0}) Oft wird behauptet, aus Umweltschutzgründen seien diese langen Verfahren notwendig. Aber gerade das Gegenteil ist der Fall: Wir produzieren mehr Umweltschmutz, weil wir Monate, oft Jahre brauchen, um Anlagen für den Umweltschutz genehmigt zu bekommen. Wenn man wirklich Beschleunigungseffekte erzielen will, ohne gleichzeitig die materiell-rechtlichen Anforderungen zu verändern, muß man eine gründliche Überarbeitung verschiedener Gesetzeswerke unter breiter parlamentarischer Beteiligung vornehmen. Insbesondere sind Änderungen im Immissionsschutzrecht und im Abfallrecht notwendig. Nicht zuletzt sprechen auch wirtschaftliche Erwägungen für eine Beschleunigung der Genehmigungsverfahren. Gerade im Hinblick auf den Gemeinsamen Europäischen Markt 1993 kann ein durch schnellere Genehmigungsverfahren erreichter Wettbewerbsvorteil ausschlaggebend für die Standortwahl sein. Aus diesen Gründen muß es Ziel sein, eine konzentrierte Durchführung von Genehmigungsverfahren zu erreichen, ohne jedoch die materiell-rechtlichen Anforderungen an die Genehmigung zu verändern. Nach einer Analyse des Bundesministers für Wirtschaft vom 15. September diesen Jahres verzögern bürokratische und langwierige Prüfungs- und Genehmigungsverfahren Investitionen und schrecken vor allem ausländische Investoren ab. Für den Bau etwa einer chemischen Anlage wird die Genehmigungsdauer in Belgien mit 13 Monaten, in Japan mit 20 Monaten und in Deutschland mit bis zu 70 Monaten angegeben. ({1}) Nur einige wenige Beispiele dazu: Ein bedeutendes deutsches Chemieunternehmen hat mit der Begründung überlange Genehmigungsverfahren seine gesamte Forschungs- und Entwicklungsarbeit in die USA verlagert. Bei einem anderen Chemieunternehmen kann eine fertiggestellte Neuanlage zur Gewinnung von Insulin wegen der fehlenden Betriebsgenehmigung jahrelang nicht betrieben werden. Als die Genehmigung dann kommt, ist diese Anlage nicht mehr wettbewerbsfähig, weil veraltet. In Ludwigshafen liegt beispielsweise die Herstellung des Krebsmittels TNF auf Eis, weil die Umwandlung des Gentechnikums in eine Produktionsanlage genehmigungsrechtlich nicht vorankommt. Selbst bei umweltschutzerhöhenden Maßnahmen hat das bei uns gültige Planungs- und Umweltrecht dazu beigetragen, daß die Bundesrepublik bei der Dauer der Genehmigungsverfahren im internationalen Vergleich an der Spitze liegt. In Deutschland geht man für die Genehmigung dieser Anlage mit einer Zeitspanne von 6 bis 22 Monaten aus. In Frankreich beispielsweise sind es 5 bis 7 Monate, in den Niederlanden 7 Monate, in Italien 3 bis 6 Monate, in den USA gar nur 2 bis 4 Monate. Dadurch kommen modernste Umwelttechniken oft erst mit erheblicher Verzögerung zum Einsatz. Wir sind mittlerweile an einem Punkt angelangt, wo sich die umweltrechtlichen Genehmigungs- und Zulassungsverfahren als kontraproduktiv erweisen, indem sie ein Mehr an Umweltschutz verhindern. Alle Erfahrungen zeigen, daß für die Firmen nicht der hohe Standard der deutschen Umweltschutzgesetzgebung abschreckend wirkt, sondern die Länge der Genehmigungsverfahren. Vorausschauende Unternehmen haben längst erkannt, daß es sich nicht lohnt, die Produktion wegen anspruchsvoller Umweltschutzanforderungen ins Ausland zu verlagern. Denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis dort die gleichen Anforderungen gelten. Der EG-Binnenmarkt sowie das gestiegene Umweltbewußtsein in diesen Ländern sorgen dafür, daß auch dort stärkere Umweltschutzanforderungen gang und gäbe sein werden. Standorte mit schlechter Umweltqualität sind für moderne imagebewußte Unternehmen nicht attraktiv. Hingegen ist die Länge der Genehmigungsverfahren von entscheidender unternehmerischer Bedeutung für den Kampf um die Märkte. Wettbewerbsvorsprünge lassen sich nur halten, wenn die wirtschaftliche Verwertung einer Innovation schnellstmöglich verwirklicht wird und die Umstrukturierung der Produktion rasch abgeschlossen werden kann. Wer jahrelang auf eine Genehmigung warten muß, hat keine Chance mehr auf den Weltmärkten. Um es ganz klar zu sagen: Verkürzung der Genehmigungsverfahren bedeutet nicht den Abbau, sondern ein Mehr an Umweltschutz. Dies wird insbesondere am Beispiel der neuen Bundesländer deutlich, bei denen jede neue Anlage mit moderner, verbesserter Umwelttechnik zu einer Entlastung der Umwelt führt. Die in dem von uns vorgelegten Antrag angesprochenen Maßnahmen, zu denen mein Kollege Paziorek noch detailliertere Ausführungen machen wird, sind nur ein erster Ansatz, gewissermaßen ein Sofortprogramm. Mit der Umsetzung dieser Maßnahmen ist das Thema für uns nicht erledigt. Wir sind fest entschlossen, alle Möglichkeiten zur Beschleunigung der Genehmigungs- und Zulassungsverfahren auszuschöpfen. Dies wird voraussetzen, daß auch in den Verwaltungen ein Umdenken einsetzt. In der Vergangenheit wurde sowohl auf Länder- als auch auf Bundesebene eine Reihe von Ansätzen zur Beschleunigung der Verfahren entwickelt. Die einzelnen Ansätze lassen sich in zweierlei Hinsicht untergliedern: Zum einen können die Ansätze zeitlich eingeordnet werden - in Maßnahmen vor, bei und nach der Antragstellung -, zum anderen können die Ansätze danach unterteilt werden, an welcher Stelle sie Verfahrensverzögerungen vermeiden sollen - beim Antragsteller, bei der Genehmigungsbehörde oder im Rahmen der Beteiligung der durch das Vorhaben möglicherweise Betroffenen. Versucht man, die Dauer der Genehmigungsverfahren ohne Änderung des materiell-rechtlichen Umweltstandards zu verkürzen, so gibt es vor diesem Hintergrund weitere Ansätze. Zum einen könnte man die personelle Kapazität der Genehmigungsbehörden erhöhen - dies stößt allerdings meist schnell auf gewisse Grenzen -, andererseits könnte auch verstärkt externer Sachverstand in die Verwaltungsentscheidung eingebunden werden. Meine Damen und Herren, viele Fachleute, über Parteigrenzen hinweg, sind sich einig, daß eine Verfahrensbeschleunigung möglich und notwendig ist. Die Verfahrensbeschleunigung ist überlebensnotwendig für die Umwelt und die Wirtschaft in den neuen Bundesländern. Sie ist aber auch in hohem Maße zukunftsentscheidend für den Standort Deutschland insgesamt. Vielen Dank. ({2})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Als nächster spricht der Kollege Dietmar Schütz.

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Sicherung und der Ausbau des Industriestandortes Deutschland haben nicht zuletzt auch etwas mit der Flexibilität und der Dauer von Genehmigungsverfahren zu tun. Es kann deshalb selbstverständlich auch von uns nicht akzeptiert werden, daß die Einführung einer rationelleren, aber auch umweltfreundlicheren Technologie in Deutschland wesentlich länger dauert als in anderen mit uns in Konkurrenz stehenden Standorten. ({0}) Wir wissen und wir akzeptieren, daß ein Unternehmen nach einem Investitionsbeschluß an einer möglichst schnellen Umsetzung des Vorhabens interessiert ist. Für die Sicherheit und Stetigkeit der Unternehmensentscheidung braucht das Unternehmen Gewißheit über das Ob und Wie einer Produktionsentscheidung. Es gehört auch zur Kalkulierbarkeit der Kosten und zur Kalkulierbarkeit der Gesamtinvestitionsentscheidung selbst dazu, zu wissen, ob und wann etwas genehmigt ist. Die Schnelligkeit der Umsetzung der Investitionsentscheidung wird wegen der Schaffung des Europäischen Binnenmarktes noch wichtiger. Angesichts der bevorstehenden Freizügigkeit von Waren- und Kapitalverkehren wird die Standortentscheidung des Unternehmens zwischen den einzelnen EG-Staaten in Zukunft noch eher zugunsten derjenigen Staaten ausfallen, in denen eine getroffene Investitionsentscheidung zügig umgesetzt werden kann. Insofern sind wir mit ihnen sehr d'accord. Drei Viertel der befragten Unternehmen aus der deutschen Wirtschaft haben in einer Umfrage auch die Dauer der Genehmigungsverfahren in Deutschland als unangemessen lang eingestuft. Wir auf der politischen Seite haben uns dieser Beurteilung in der Regel angeschlossen. Leider fehlen auf diesem Feld aber exakte Statistiken über die Dauer der Genehmigungsverfahren und ihrer einzelnen Teilschritte. Es fehlen auch seriöse Untersuchungen, die einen Vergleich der Dauer der Genehmigungsverfahren mit den Verfahren in Ländern vergleichbaren technologischen Standards vornehmen. Es gibt exemplarische Daten, etwa des Landes Nordrhein-Westfalen aus dem Jahre 1990. Danach konnten etwa 45 % der Genehmigungsverfahren in weniger als sechs Monaten und etwa 33 % in einem Zeitraum von 6 bis 12 Monaten abgewickelt werden -trotz des nicht unerheblichen Zeitaufwands durch Bekanntmachung, Auslegung der Unterlagen und Erörterungstermine. In 25 % der Fälle wurde die zügige Bearbeitung durch unvollständige Anträge oder das Fehlen von Unterlagen, das die Antragsteller selbst zu verantworten hatten, verzögert. ({1}) Die Daten, die Bullinger in seinem Buch „Beschleunigte Genehmigungsverfahren für eilbedürftige Vorhaben" in einer auf Baden-Württemberg bezogenen Untersuchung vorlegt, weisen längere Zeiträume aus: Die Verfahrensdauer beträgt bei immissionsschutz-rechtlichen Verfahren im Durchschnitt 17 Monate, die Zeitspanne dieser Verfahren reicht von vier Monaten bis mehr als vier Jahre. Im Abfallrecht liegt die durchschnittliche Dauer bei ca. zwei Jahren, hier reicht die Spanne von fünf Monaten bis zu neun Monaten, im Planfeststellungsverfahren liegt sie zwischen 9 und 48 Monaten. Die von Bullinger dargestellten Zeitspannen sind erheblich länger als die aus Nordrhein-Westfalen. Das liegt nicht daran, daß Baden-Württemberg schlechter ist; ({2}) dies liegt möglicherweise daran, daß NordrheinWestfalen auch nichtförmliche Genehmigungsverfahren einbezogen hat, während sich Bullinger wohl mehr auf die förmlichen bezogen hat. So betrachte ich es zumindest. Ein von der Wirtschaft vorgelegter Ländervergleich, den Sie möglicherweise auch zitiert haben, zeigt, daß die Genehmigungsverfahren in Schweden genauso lang oder noch länger als in Deutschland dauern. Nach dieser Darstellung dauern die Verfahren in der Schweiz 6 bis 18 Monate, in Frankreich 5 bis 7, bei uns 6 bis 22 Monate - das stimmt in etwa mit der Bullinger-Untersuchung überein -, in den Niederlanden 7, in Italien 3 bis 6, in den USA 2 bis 5 Monate. Sie haben ähnliche Daten - etwas verschoben, aber es kommt etwa hin - dargestellt. Man muß dann natürlich fragen: Sind das vergleichbare Verfahren, die hier miteinander verglichen werden? Gibt es neben diesen Verfahren auch Parellelverfahren wie z. B. in den USA? Also, diese Daten sind nicht sehr verläßlich. Wir wissen, daß in den USA manche Verfahren viel länger dauern, weil dort alles mögliche noch in parallelen, nicht konzentrierten Verfahren abgehandelt werden muß. Der Blick auf die Verfahrensdauer insgesamt aber zeigt jedenfalls, daß wegen der erheblichen Zeitdifferenzen und wegen der Dauer einiger Verfahren nachhaltiger Handlungsbedarf bei uns besteht und daß wir zur Verfahrensbeschleunigung bereit sein müssen. Das ist auch der Ansatz der 37. Umweltministerkonferenz, die Verfahrensvorschläge vorgelegt hat, die auch die Koalitionsfraktionen jetzt aufgegriffen haben. In dem uns vorliegenden Antrag, den wir begrüßen, werden bestimmte Vorschläge gemacht. Ich werde gleich dazu reden. Wir werden diese Vorschläge in den vor uns stehenden Beratungen erörtern. Ich rege jetzt schon an, daß wir in einer Ausschußanhörung diese Vorschläge und weitere detaillieren und beraten, um dann zu möglicherweise über den Antrag hinausgehenden Vorschlägen zu kommen. ({3}) - Du kannst dich gleich dazu äußern, ob das alles falsch ist, was ich hier sage. An die von uns zu beschreibenden gesetzlichen Wege zur Beschleunigung der Genehmigungsverfahren sind aber zwei unumstößliche Bedingungen zu stellen, die von der Umweltministerkonferenz hervorgehoben worden sind, im Koalitionsvertrag jedoch nur in einem Nebensatz auftauchen. Erste Bedingung ist, daß es keine substantielle Abschwächung des materiellen Rechts geben darf. Bei der Diskussion zum Standort Deutschland muß immer auch gesehen werden, daß der hochstehende technologische Standard unserer Industrie nicht zuletzt durch ein rechtsstaatlich seriöses und umweltbewußtes Verfahrens- und Kontrollinstrument erreicht wird. Die Ansprüche, die wir an den Standort und an die Produktionsanlage stellen, die Umweltstandards, die wir fordern, kommen der deutschen Industrie in ihrer Wettbewerbssituation auch wieder zugute. Genauso wie unser Sozialsystem im Kern auch Wettbewerbsvorteile beinhaltet, genauso bringen auch unsere ökologischen Standards, die auch prozeduale Standards sind, Standort- und Wettbewerbsvorteile. ({4}) Die UMK stellt zu Recht fest, daß jedes überbeschleunigt durchgeführte Genehmigungsverfahren das Risiko erhöht, im späteren Rechtsstreit wegen materieller und verfahrensrechtlicher Fehler aufgehoben zu werden. Nur ein sorgfältig durchgeführtes Prüf- und Zulassungsverfahren kann die erforderliche Investitionssicherheit gewährleisten; es liegt somit im ureigensten Interesse des Antragstellers. Wir dürfen deshalb das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Die Bereinigung von Verfahrenshemmnissen und materiellen Doppelregelungen oder historisch überholten Regelungen muß gleichwohl die Prüfungstiefe und Prüfungsgründlichkeit und rechtsstaatliche Verfahrensabläufe enthalten. Es darf an keiner Stelle und zu keiner Zeit ein Umweltdumping im Verfahren und in den materiellen Anforderungen geben. ({5}) Es darf auch keine Einschränkung der Öffentlichkeitsbeteiligung geben. Die durch diesen Antrag vorgelegten materiellen Änderungen berühren zwar in der Regel die Öffentlichkeit gar nicht. Gleichwohl ist aber wegen der in ihren Teilen III und IV angesprochenen Punkte, die förmliche Genehmigungs- und Planfeststellungsverfahren berühren, dieses Postulat noch einmal zu betonen. Die häufig vorgebrachte These, daß gerade die Öffentlichkeitsbeteiligung zu einem erheblichen Zeitverlust führe, der nicht mehr zu vertreten sei, ist auf den ersten Blick richtig. Gleichwohl darf diese Einschätzung nicht dazu führen, die Öffentlichkeit abzuschneiden, weil dann ein noch höherer Akzeptanzverlust eintritt, der im Ergebnis die Bestandskraft der Entscheidung über die Anfechtung vor Gericht oder - soweit möglich - schon im Widerspruch weiter hinausschiebt. ({6}) - Ich rede auch von der Akzeptanz. Ich stimme Siegfried Broß, einem Richter am BGH, zu, daß es heute zunehmend schwierig werde, den Bürger von einer für ihn persönlich unliebsamen Entscheidung zu überzeugen. Dieses führe zu einer erhöhten Inanspruchnahme der Gerichte, um die Bestandskraft der Verwaltungsentscheidung möglichst lange hinauszuzögern. Die Hauptursache für dieses Verhalten liege darin, daß die Identifikation des Bürgers mit dem Staat fortnehmend abnehme. Der Bürger nehme lediglich seine eigenen Interessen wahr und verfolge diese. Diese Haltung sei das Ergebnis eines jahrelangen Prozesses, während dem das Individuum eine beispiellose Aufwertung zu Lasten des Mitmenschen und der Gemeinwohlbelange erfahren habe. Diese Entwicklung des Zweifels an jedem Planungsbescheid mit den Konsequenzen des Einspruchs werde durch viele Politiker verstärkt, die jede Großentscheidung angriffen. Ich will das nicht alles unterschreiben. Die Folgerung aus dieser Beobachtung kann meines Erachtens aber nicht in der Einschränkung der Mitwirkung liegen; denn dann wird diese Negativentwicklung vom Staat weg noch weiter verstärkt. Im Gegenteil: Wir müssen in die Gegenrichtung schreiten und noch umfassendere Beteiligungs- und vor allem Informationsmöglichkeiten schaffen. Der informierte, aufgeklärte Bürger hat es schwerer, nur das Sankt-FloriansPrinzip gelten zu lassen, weil er die Belastungen des anderen und des Gemeinwohls sehen muß, deren Position und die seiner Stadt oder seines Landes kennen muß und sie deshalb auch eher beachten muß. ({7}) Der egoistische, nur sein persönliches Umfeld beachtende Bürger hingegen wird in seinem Gesichtskreis alles abwehren, was ihn stört. Der Homo politicus überwindet seinen Egoismus. Wir Politiker müssen diese Entwicklung unterstützen. Die Bürgerinitiative, die möglicherweise gegen eine Bahntrasse ist, hat eine schwierigere Position, wenn mit ihr über verkehrspolitische Grundsätze von Verkehrsverlagerung und -vermeidung diskutiert wird und sich die umstrittene Entscheidung darin einbetten läßt. Es war und ist deshalb ein schwerer Fehler im Verkehrswegebeschleunigungsgesetz, eine Verkürzung der Verfahrensdauer mit einer Beschneidung der Bürgerbeteiligung in der Anfangsphase erreichen zu wollen. Dieses schlechte Beispiel schreckt ab. Ich bin froh, daß die Verfahren außerhalb des Verkehrsressorts dies nicht zum Vorbild haben. Ich halte es allerdings auch für selbstverständlich, daß die Umweltminister - einschließlich Ihnen, Herr Minister Töpfer - die notwendige Partizipation nicht einschränken. Sie haben das ausdrücklich betont. Ich habe mich darüber gefreut, daß das in dem Protokoll der UMK drinstand. Lassen Sie mich nun konkret zu den Vorschlägen der UMK und des vorliegenden Antrags kommen. Vorab möchte ich eine Verständigung über die Möglichkeiten und Strategien der Beschleunigungseffekte herstellen. Der Antrag läßt schon erkennen, daß dafür zwei Möglichkeiten in Betracht kommen, nämlich erstens die Ausgestaltung des materiellen Rechts und zweitens eine Änderung im Vollzug und im Verfahren. Die materiellen Gestaltungsmöglichkeiten zur Erzielung von Beschleunigungseffekten sind eher begrenzt und erschöpfen sich häufig in marginalen Änderungsmöglichkeiten. Die im Antrag gewählten Vorschläge unterstreichen dies. Natürlich erreicht man eine Beschleunigung, wenn das Genehmigungsverfahren auf bestimmte Anlagen oder Anlagenteile gar nicht mehr angewandt wird. Dies kann man, wenn man die Umweltstandards beachten und einhalten will, jedoch nicht unbegrenzt ausdehnen. Schon der erste Vorschlag einer Reduzierung der Anlagen in der 4. BImSchV ist zwar in der urkonkreten Weise akzeptabel, der Teufel steckt aber im Detail. Es drängen sich viele Fragen auf. Welche Anlage wollen Sie konkret aus der Genehmigungspflicht rauslassen? Wollen Sie die Größenordnung der genehmigungspflichtigen Anlagen ändern? Wollen Sie bei der Herausnahme der Anlagen auf die allgemeine Betriebsgefährlichkeit abstellen oder z. B. auf die Gefährlichkeit des Durchsatzstoffes? Wie soll das alles genau beschrieben werden? Welche Anlagen meinen Sie? Ich bin gespannt darauf, wie diese Vorschläge aussehen werden. Erst dann, wenn wir die konkreten Vorschläge haben, können wir unserem Votum überhaupt Klarheit und Zielgerichtetheit geben. Der nächste Vorschlag, Verlängerung des genehmigungsfreien Betriebes für mobile Anlagen von sechs auf neun Monate, und der Vorschlag, sich schon im Vorverfahren auf einen Gutachter zu verständigen, können akzeptiert werden. Aber auch hier liegt wieder ein nachhaltiges Problem. Ich kenne als verantwortlicher Verfahrensjurist in einem Verfahren durchaus die Situation, daß sich Antragsteller und Behörde schnell auf einen Gutachter einigen, weil beide - unausgesprochen oder ausgesprochen - das Verfahren fördern möchten, daß aber der einsprechende Dritte überhaupt nicht damit einverstanden ist und daß dann im Klageverfahren ein weiterer Gutachter nachgedrückt wird. Ich halte die Forderung, daß man sich am Anfang auf einen Gutachter verständigt, für richtig. Wir sollten aber gleichwohl sehen, daß damit nicht alle Probleme aus der Welt sind. Ein nachhaltiger Entlastungseffekt geht sicherlich von der Forderung aus, standardisierte Anlagen in das vereinfachte Verfahren oder gar nur in das Anzeigeverfahren einzubeziehen. Ich halte es für möglich, ein Anzeigeverfahren für diejenigen Fälle zu wählen, in denen der Schutz vor schädlicher Umwelteinwirkung offensichtlich sichergestellt ist oder eine Emission gar nicht erst eintritt. Die Zuordnung zum Anzeige- oder Genehmigungsverfahren könnte im übrigen ein einsprechender Dritter überprüfen, um so ein Genehmigungsverfahren in Streitfällen durchzusetzen. Der Koalitionsantrag nennt im Gegensatz zur Waffenschmidt-Kommission keine Einzelanlagen. Die von der Waffenschmidt-Kommission vorgestellten Anlagen zeigen aber, daß es auch hier teilweise auf die Größenordnung und auf die Einschätzung der Gefährlichkeit der Emissionen ankommt. Jedenfalls ist die standardisierte Bauartzulassung im materiellen Recht ein sehr erfolgversprechender Ansatz, um Beschleunigungseffekte zu erreichen. Allerdings ist auch an dieser Stelle gründliche Detailberatung erforderlich. Auch die weiteren materiellen Vorschläge können sinnvoll sein. Wir werden das in der Antragsberatung noch genauer detaillieren. Ich will mich noch einmal auf die grundsätzlichen Verfahrensvorschläge, die in der Öffentlichkeit diskutiert werden, konzentrieren. Mir scheint, daß die wirklichen Beschleunigungseffekte fast ausschließlich auf der Ebene der Verfahrens- und Vollzugsoptimierung zu erreichen sind, möglicherweise auch auf der Ebene eines schon vor dem Verwaltungsverfahren angesiedelten konsensualen Verfahrens der Verwaltung. Auch die Einsetzung eines Dritten als Konfliktmittler oder, schön deutsch gesagt, eines Mediators ist sinnvoll. Lassen Sie mich zu den Vorschlägen auf der Vollzugs- und der Verfahrensebene exemplarisch einige bewerten. Eine Position, die sich wie ein roter Faden durch alle Diskussionen durchzieht, ist die, daß schon zu Beginn eine obligatorische Antragsberatung installiert wird und bei schwierigen und komplexen Vorhaben eine Vorantragskonferenz durchgeführt wird. Ich halte die Antragsberatung selbst für mittlere und manchmal sogar schon für „kleinere" Verfahren für unabdingbar. Wenn laut Statistik, die ich genannt habe, in Nordrhein-Westfalen 25 % aller Verfahren durch unvollständige Antragsunterlagen und Gutachten verzögert werden, wird deutlich, daß hier ein nachhaltiger Beratungsbedarf besteht, den wir möglicherweise sogar durch obligatorische Beratung ins Gesetz hineinschreiben sollten. Zweitens. Im Beteiligungsverfahren mit anderen Behörden muß das Sternverfahren als Regelverfahren eingeführt werden. Das bedeutet zwar eine Vermehrung der Akten, weil die Behörden nebeneinander beteiligt werden und nicht nacheinander, aber dies ergibt einen nachhaltigen Zeitgewinn. Drittens. Zu weiteren Beschleunigungseffekten kann die Leitbehörde Fristen für die Stellungnahmen festlegen. Diese Fristen dürfen meines Erachtens aber nicht präklusiv, also als Ausschlußfrist, gefaßt sein. Man könnte allenfalls die Regelung treffen, daß eine Stellungnahme nach einer festgesetzten Frist nur dann beachtet werden muß, wenn dies für die Entscheidungsfindung zwingend erforderlich ist. Im übrigen werden Fristen häufig deshalb nicht eingehalten, weil naturgesetzliche Gründe dagegen sprechen, etwa weil Vegetationsperioden oder andere situationsbedingte lange Zeiträume für die seriöse Abgabe von Stellungnahmen eingehalten werden müssen. Die Vorstellungen beispielsweise der niedersächsischen Industrie- und Handelskammer Hildesheim/ Hannover, die insgesamt von einer Genehmigungsfiktion bei Nichteinhaltung von Entscheidungsfristen arbeiten will, verkennen die Rechtsstellung von Dritten. Wir können nicht sagen: Wenn du nicht Stellung nimmst, wird dein Antrag als genehmigt unterstellt. Die Rechtsschutzinteressen der Dritten werden sich spätestens im gerichtlichen Verfahren durchsetzen, womit wir dann noch viel mehr Zeit verlieren. Deshalb ist ein solcher Vorschlag, finde ich, nicht sehr förderlich. Ich will einige weitere beschleunigende und vollzugsfördernde Maßnahmen nur noch nennen; die Redezeit geht vorbei: einen ausreichenden Personaleinsatz, eine weiterreichende Qualifikation etwa durch Weiterbildung des Bearbeiters, Vergabe von Prüfanträgen an private Dritte, wenn die Behörde selber keine Prüfungskapazität hat, stärkere Kontrollen der Arbeitsergebnisse durch die Behördenleitung usw. Die Darstellung dieser Punkte zeigt, daß neben der Diskussion der gesetzlichen und tatsächlichen Beschleunigungsschritte auch die tägliche Arbeit in den Behörden nicht zu kurz kommen darf. Es gibt möglicherweise nichts Schnelleres für die Arbeitserledigung, als wenn mit Fleiß, Sachverstand und Zielstrebigkeit tatsächlich gearbeitet wird. - Diese Anmerkung kann man vielleicht auch zum Asylverfahren machen. Gleichwohl will ich jenseits der täglichen Behördenarbeit noch das bereits genannte zweite Instrument der Verfahrensbeschleunigung in dem Gespräch mit dem Bürger vor dem Verfahren ansprechen. Das Leitbild des kooperativen Staates, der ein Klima der bereitwilligen Akzeptanz durch Vorinformation, Vorverhandlung und Kooperation, und nicht durch Unterordnung schafft, sollte uns prägen. Natürlich müssen wir dabei sorgfältig darauf achten, daß die klare Grenze zu einem kungelnden Staat, der jenseits der Rechtsposition etwas zu erreichen sucht, nicht überschritten wird. Beispiele für den Staat, der in Vorverhandlungen arbeitet, kennen wir aus unseren Städten genügend. Ich will nur ein Beispiel nennen: Die Ausweitung eines Gewerbegebietes mit der erforderlichen Ansiedlung von Betrieben gegen die gleichzeitig großzügige Ausweisung eines Lärmschutzwalls und möglicherweise Ausweisung eines Freizeit- und Sportflächenbereichs schafft wesentlich höhere Akzeptanz. Ich kenne das gerade aus einem konkreten Fall. Neben diesen konsensualen Verfahren der Verwaltung gibt es bei Großvorhaben jetzt schon die Einrichtung eines sogenannten Mediators, eines schon im Vorfeld der Konflikte installierten privaten Konfliktmittlers. Dieses aus den USA kopierte Verfahren kann sich allerdings auch gegen die Behörden selbst richten. Ich glaube, man wird das in Schleswig-Holstein jetzt bei der Frage der Autobahntrasse nach Lübeck sehen, daß sich der Mediator plötzlich gegen die Trasse ausspricht. Aber das ist eben die Gefahr der Installation eines solchen Mediators. Er hat die Aufgabe, bereits im Vorfeld Bürgerinitiativen, Behörden und andere beteiligte Gruppen an einen Tisch zu bitten und eine bestimmte Projektrealisierung vorzubereiten. In dieser Verfahrensweise sehe ich eine Chance der Konfliktreduzierung und auch der Verfahrensverkürzung. Lassen Sie mich abschließend festhalten: Wir sind bereit, tatkräftig mitzuhelfen, Beschleunigungseffekte für Zulassungs- und Genehmigungsverfahren aufzuspüren und durchzusetzen, wenn die genannten Vorbedingungen der Aufrechterhaltung des materiellen Standards und der Beteiligung der Öffentlichkeit erhalten bleiben. Diese Essentials gelten im übrigen nicht nur für die alten, sondern genauso für die neuen Länder. Wenn wir in einigen Verfahren in Ostdeutschland anders vorgehen wollen, kann es keinen Grund geben, dies nicht auch im Westen zu tun. Die Umweltstandards müssen gleich bleiben. Es gibt also von uns die Bereitschaft zu schnellem und gemeinsamem Handeln. Es gibt aber auch die Kontrolle, kein Umweltdumping im Verfahren und in der Bürgerbeteiligung zuzulassen. Ich danke Ihnen. ({8})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Und nun hat der Kollege Dr. Jürgen Starnick das Wort.

Prof. Dr. Jürgen Starnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002219, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/ CSU- und die F.D.P.-Fraktionsmitglieder haben diesen Antrag eingebracht, veranlaßt durch interne Diskussionen, weil zunächst immer deutlicher wird, daß die Investitionstätigkeit in den neuen Bundesländern durch eine Reihe von Investitionshemmnissen behindert wird, von denen Planungs- und Genehmigungsverfahren im Umweltschutz nicht auszunehmen sind. Zwar sind im Einigungsvertrag wesentliche rechtliche Voraussetzungen für die Verkürzung der Verfahren für Anlagegenehmigungen in den neuen Ländern geschaffen worden, die von diesen Ländern für Verfahrensbeschleunigung auch genutzt werden, Unsicherheiten im Umgang mit dem diesen Ländern übergestülpten bundesdeutschen Recht verhindern aber vielfach, daß die Beschleunigungsmöglichkeiten voll ausgeschöpft werden. Und nicht nur in den neuen Bundesländern, sondern auch in den alten Ländern erweisen sich Genehmigungsverfahren als Investitionshemmnisse. Ein dreijähriges Genehmigungsverfahren für eine komplexe Anlage ist auch in den alten Bundesländern keine Seltenheit. Verfahrensbeschleunigungen sind also hier gleichermaßen wünschenswert, und das wurde auch schon von meinen Vorrednern hier gesagt. Die auftretenden Verzögerungen sollten deshalb für uns als Gesetzgeber Grund genug dafür sein, zu prüfen, ob sich die Regelungsdichte unseres bundesdeutschen Rechts und die Vielzahl der vorgeschriebenen Verfahrensschritte bei Verwaltungsentscheidungen nicht eher als ein Nachteil denn ein Vorteil für den Dr. Jürgen Starnick Umweltschutz erweisen. Wir, die Antragsteller, halten es für erforderlich, daß möglichst umgehend Voraussetzungen für weitere Verfahrensbeschleunigungen geschaffen werden. Solche Verfahrensbeschleunigungen, Herr Schütz, sind möglich, ohne die Anforderungen an die Qualität von Behördenentscheidungen und -genehmigungen und ohne die Beteiligung der Öffentlichkeit in Frage zu stellen. Wir wollen mit diesem Antrag deshalb keine weitergehenden Sonderregelungen für die neuen Bundesländer erreichen. Wir wollen auch kein ZweiKlassen-Umweltrecht in der Bundesrepublik einführen. Was wir wollen, ist die selbstkritische Überprüfung der Sinnfälligkeit von Regelungen im Immissionsschutz, Abfall-, Wasserrecht, soweit dies in der Zuständigkeit des Bundes liegt. Zugleich wollen wir den Ländern einen Anstoß geben, die Organisation der Verfahrenswege zu überdenken. Auch wenn die Organisation der Verfahrensabläufe sich unserer Regelungskompetenz entzieht, muß hierüber gesprochen werden; denn alle dem BMU vorliegenden Stellungnahmen zur Dauer von Genehmigungsverfahren in den alten Bundesländern, insbesondere auch die Untersuchung der hier schon genannten Waffenschmidt-Kommission, haben gezeigt, daß die wesentlichen Ursachen der Verfahrensverzögerung im mangelnden Projekt- und Verfahrensmanagement durch die Behörden, aber auch durch die Antragsteller liegen. Dies bestätigt sich inzwischen auch in den neuen Bundesländern, wobei die Mängel in der Antragstellung noch deutlicher hervortreten. Da ich einige Erfahrungen in der politischen Verantwortung für solche Genehmigungsverfahren sammeln durfte, ist es mir vielleicht erlaubt, verschiedene Wege aufzuzeigen, wie die Länder Genehmigungsverfahren beschleunigen können. Ich stimme mit Herrn Schütz überein, der gleichermaßen hervorhob, es werde viel zu gering eingeschätzt, daß in der Regel viele Verzögerungen bereits im Vorfeld einer Antragstellung entstehen. Ein Antragsteller, der nicht weiß, was rechtlich und formal erforderlich ist, und sich zu spät an die Behörde wendet, legt meistens mangelhafte Anträge vor, leitet Fehlplanungen ein und verursacht bei sich und den Behörden Kosten und Zeitverzug. Man ist deshalb als Genehmigungsbehörde gut beraten, für eine Qualifizierung der Antragsteller zu sorgen und eine gute Zusammenarbeit im Vorfeld, aber nicht nur da, sondern auch während der Genehmigungs- und der Planungsphase anzubieten, weil dies im beiderseitigen Interesse zu schnelleren Verfahren führen kann. Die gravierendsten Verzögerungen - auch hierauf hat Herr Schütz schon hingewiesen - entstehen aber meistens durch die Mitwirkung anderer Behörden. Das Immissionsschutzgesetz hat zwar mit Hilfe der Konzentrationsregelung bewirkt, daß eine Hauptgenehmigungsbehörde das Verfahren in der Hand behält. Die Mitwirkung anderer Behörden ist aber nur selten befristet, und die Genehmigungsbehörde muß aus diesem Grunde auf den letzten Bummelzug eines Mitwirkenden warten. Insbesondere die Wasserbehörden betrachten sich als völlig eigenständige Beurteiler eines Genehmigungsverfahrens, so daß es faktisch oft zu zwei hintereinander geschalteten Genehmigungsverfahren kommt. Wir als Gesetzgeber würden deshalb gut daran tun, zu erwägen, ob § 13 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes dahin gehend erweitert werden sollte, daß die immissionsschutzrechtliche Genehmigung auch die wasserrechtliche Erlaubnis und Bewilligung einschließt, vorausgesetzt, das Einvernehmen der Wasserbehörde würde hergestellt. Generell sollte eine Novelle des Bundes-Immissionsschutzgesetzes genutzt werden, um zwingende Stellungnahmefristen für die zu beteiligenden Behörden einzuführen. Ich könnte mir sogar vorstellen, daß es ein wirksames Instrument wäre, solche Fristen sehr kurz zu bemessen und an Stelle ausführlicher schriftlicher Stellungnahmen zu protokollierende behördeninterne Erörterungstermine anzusetzen oder mit Hilfe des Instruments einer Amterkonferenz die Gleichzeitigkeit der Stellungnahmen mitwirkender Behörden zu erzwingen. Ein solches Verfahren böte sich vor allen Dingen für sehr komplexe Genehmigungsverfahren, beispielsweise für Sonderabfalleinrichtungen, -zwischenlager, -beseitigungsanlagen, an. Es ist auch nicht zwingend notwendig, daß eine Genehmigungsbehörde ein Genehmigungsverfahren bis zum letzten Detail allein organisiert, strukturiert und durchführt. Im vorliegenden Antrag wird vorgeschlagen, daß für Anlagen, für die nach der Störfallverordnung eine Sicherheitsanalyse durchgeführt werden muß, die Regelüberprüfung durch Sachverständige dadurch ersetzt werden kann, daß die Sicherheitsanalyse bereits im Vorfeld durch einen im Einvernehmen mit der Behörde ausgewählten Sachverständigen erstellt wird. Auf diese Weise werden doppelte Gutachten vermieden. Ich möchte einen Schritt weitergehen und anraten, zwar nicht mit der inhaltlich-materiellen Beurteilung, aber mit der Organisation und Durchführung des Verfahrens Dritte zu beauftragen; dies insbesondere dann, wenn - wie bei den Umweltschutzbehörden der Länder durchaus gängig - Vollzugsdefizite durch Personalmangel auftreten. Noch weiter gedacht, wäre es nicht abwegig, das Institut eines „Genehmigungsnotariats" für einfache Genehmigungsfälle einzuführen. Ein solcher Notar wäre ein vereidigter Sachverständiger, der seine besondere Befähigung zu beweisen hätte und, mit begrenzten Befugnissen ausgestattet, einfache Genehmigungen erteilen kann oder eine Vorprüfung der Genehmigungsunterlagen vornimmt. Sein Testat könnte der Genehmigungsbehörde genügen, um nur noch wesentliche Teile des Genehmigungsantrages selbst zu prüfen. Unabhängig von der Verfahrensorganisation sollten wir als Gesetzgeber uns jedoch für eine Reihe von verfahrensbeschleunigenden Änderungen des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, des Abfallgesetzes sowie des Wasserhaushaltsgesetzes einsetzen. § 15 a Bundes-Immissionsschutzgesetz sieht bereits vor, daß sich im Interesse der Verfahrensverkürzung in den neuen Ländern Genehmigungsbehörden bei ihrer Entscheidung auf die Stellungnahme einer Behörde aus dem Gebiet der alten Bundesländer stützen können. Dies wird insbesondere dann wirksam, wenn Dr. Jürgen Starnick bereits eine Genehmigung für eine Anlage gleicher Bauart vorliegt. Dieses Instrument der Konvoi-Zulassung sollte ausgebaut werden. Ich meine, daß die hier schon angesprochene Bauartzulassung ein generelles Modell sein könnte - nicht nur im Immissionsschutzbereich -, das uns tatsächlich helfen würde, die Genehmigungsverfahren in wesentlichen Schritten zu vereinfachen. Wir haben eine Reihe von Vorschlägen eingebracht, die wir im Ausschuß sicherlich diskutieren werden. ({0}) Auf Grund der Darstellungen des Kollegen Schütz bin ich zuversichtlich, daß die Opposition unsere Vorschläge beherzt aufgreift

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Prof. Dr. Jürgen Starnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002219, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- in der Erkenntnis, daß eine zu hohe Regelungsdichte durch den Gesetz- und Verordnungsgeber effektiven Umweltschutz oft mehr behindert als fördert. Ich vertraue auf die konstruktive Mitarbeit. Recht herzlichen Dank. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Feige.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Intention des Antrags der Koalitionsparteien, mehr Umweltschutz durch Beschleunigung von Zulassungs- und Genehmigungsverfahren zu erreichen, ist zu begrüßen, weil so signalisiert wird, daß im Umweltschutz in der Bundesrepublik noch einiges zu tun ist. Ich sehe seit Wochen die erwartungsvollen Gesichter meiner Kollegen, in denen sich widerspiegelt, das sei nun endlich ein Antrag, bei dem nicht einmal mehr DIE GRÜNEN ausweichen könnten. Zugegeben, zunächst erscheint mir dieser Antrag sehr verlockend. Er enthält das schöne Wort „Umweltschutz" - und diesen möglichst schnell. Mit dem Ziel stimmen wir überein. Ich glaube, daß es sicherlich eine Reihe von Ansätzen und Möglichkeiten gibt, in dieser Hinsicht etwas zu bewegen. Wenn man aber ein bißchen an diesem „fetten Wurm", den Sie mir hingehalten haben, zieht, dann gucken sehr schnell zwei blanke Haken heraus. Der eine ist: erhöhtes Umweltrisiko, der zweite - auch wenn Herr Schütz das nicht hören wollte -: möglicher Demokratieabbau. Ich habe den Eindruck, daß es gar nicht darum geht, Umweltschutztechnologien schneller einzuführen - sondern es geht um Technologien, um Verfahren und ähnliches überhaupt -, und daß das vorliegende Konzept eigentlich ein Wirtschaftskonzept ist und mit Umweltschutz im engeren Sinne überhaupt nichts zu tun hat. ({0}) Sie schreiben in das Konzept, daß die Umweltschutzanforderungen in der Bundesrepublik Deutschland eine Spitzenposition eingenommen haben. Das ist schließlich auch notwendig. Denn wir gehören als eines der entwickelsten Lander der Welt auch zu den Ländern mit dem höchsten CO2-Ausstoß, mit einer enorm hohen FCKW-Produktion und haben möglicherweise, wenn ich an den PVC-Bereich denke, etliche Entsorgungsaltlasten. Wahrscheinlich gibt es genügend Beispiele, bei denen auch die Einführung von Umwelttechnologien viel zu lange dauert. Trotz des erreichten Umweltstandards ist es notwendig, weiterhin sehr aufmerksam und sehr vorsichtig zu bleiben. Denn ich weiß, wie schwierig es ist, von einer einmal eingefahrenen Technologie, einer Produktionsstätte gar, wieder loszukommen, wenn sich bei dem Prüfungsvorgang erhebliche Fehler oder Versäumnisse herausgestellt haben. Deshalb denke ich, daß auch die Alternativen, die sich aus einem Fehlurteil ergeben können, eine weitere gründliche und bedenkenswerte Überprüfung der Verfahren notwendig machen. Das Risiko sehen wir ja heute, wenn wir daran denken, was es kosten wird, wenn wir die Atomenergieproduktion einmal einstellen wollen. Eine Beschleunigung ist gut, wenn die Sicherheit durch Fehlentscheidungen nicht geringer wird. Sie muß mindestens gleich sein. Sie schreiben: Verfahrensbeschleunigung vor allem bei der Durchführung der Genehmigungsverfahren auch im Behördenbereich, auch bei den Antragstellern. - Gerade zu diesem Thema, das - wie Analysen in Niedersachsen ergeben haben - einen der Schwerpunkte in diesen Verfahrensschwerfälligkeiten darstellt, finde ich in diesem Antrag nichts. ({1}) Im einzelnen zu den Vorschlägen im Immissionsschutzrecht: Die Verlängerung der Betriebsgenehmigung mobiler Anlagen halte ich für eine diskutable Grundlage. Aber Einschränkungen des Rechts im Bereich der Regelüberprüfung bei Sicherheitsanalysen bedeuten meines Erachtens Sparen am falschen Platz. Der Verzicht auf zeitgleich in Auftrag gegebene Doppelgutachten bringt keinen zeitlichen Gewinn. Das wäre möglicherweise nur ein Unterbinden von „Schlechtachten". Ich sehe da jedenfalls ein Sicherheitsrisiko. Wie die Praxis bei der Genehmigung der vorzeitigen Inbetriebnahme einer bestehenden Anlage aussieht, habe ich als Betroffener in den neuen Bundesländern am eigenen Leib verspürt. Ich kann aus der täglichen Praxis in meinem Wahlkreis durchaus sagen, wie das aussieht. Da wird z. B. im Schwarzbauverfahren eine große Betonanlage hergestellt, die steht dann einfach da. Irgendwann bekommt man das raus, und es wird ein Baustopp verfügt. Wissen Sie, was dann passiert, in dieser Hoffnungslosigkeit, wenn die Menschen Angst um ihre Arbeitsplätze haben und das Sicherheitsrisiko außer acht lassen? ({2}) Alles klar! Das sind keine Schwarzbauten; ich wollte das nur an dem Beispiel eines vorzeitigen Baubeginns demonstrieren. Es gibt ein zweites Beispiel, bei dem per BundesImmissionsschutzverordnung eine Bitumenmischan9130 lage, direkt vor meiner Haustür, installiert wird. Diese ist bereits in einer Phase gebaut, in der noch nicht einmal die Anhörungsverfahren und die Einspruchsmöglichkeiten abgeschlossen sind. Die Anlage ist bereits fix und fertig. Wenn wir glauben, daß wir damit etwas gewonnen haben, dann irren wir. Denn wir verlieren in einem erheblichen Maße an Glaubwürdigkeit, an Vertrauen in die Möglichkeiten unserer Demokratie. Ich denke, daß das Risiko, das wir gerade in den neuen Ländern in der Hinsicht eingehen, erheblich ist. Ich will nun gar nicht mehr zu den Dingen, die im Kapitel „Abfallrecht" aufgeführt sind und die teilweise sehr stark die Federführung des Bundesverkehrsministeriums vermuten lassen - ich sage nur: Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz -, Stellung nehmen. Ich nehme diesen Antrag lediglich als Startschuß für ein Gespräch. Viele der Positionen sind nicht geeignet, irgend etwas zu bewegen. Wenn sie denn einen Sinn haben sollen, dann vielleicht den, uns dazu zu hören. Im übrigen müssen wir aufpassen, daß wir die Glaubwürdigkeit unserer Arbeit mit solchen Anträgen nicht weiter in Frage stellen. Danke. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Peter Paziorek.

Dr. Peter Paziorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001685, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Klaus-Dieter Feige, es wäre sehr schön, wenn die GRÜNEN erkennen würden, daß es uns als die politisch Schwarzen bei diesem Antrag nicht darum geht, Schwarzbauten zu fördern. Uns geht es in der Tat vielmehr darum, die Frage der Beschleunigung von Zulassungs- und Genehmigungsverfahren für die Zukunft zu einer Schlüsselfrage unserer Umweltpolitik zu erklären. Insofern besteht ein ganz gewaltiger Unterschied zu den Vermutungen, die Sie hier vorhin geäußert haben. ({0}) Unsere Umweltschutzgesetzgebung hat im internationalen Vergleich einen hohen Standard. Dies ist zum Schutz der Menschen und der Natur notwendig, da unser Land bei einer sehr dichten Besiedelung einen hohen Industrialisierungsgrad aufweist. Dieser Umstand hat uns sicherlich zu Recht in eine Vorreiterrolle gebracht. Aber es kann auch eine andere Seite beschrieben werden: Die Konjunkturindikatoren zeigen an, daß unsere Wirtschaft nur noch in begrenztem Maße wächst. Wir müssen uns fragen: Bleibt Deutschland nach der Wiedervereinigung ein attraktiver Wirtschaftsstandort? Was müssen wir tun, um unsere Stellung als eine der größten Exportnationen in der Welt zu verteidigen? Bei der Beantwortung dieser Fragen kommt der Ausgestaltung der Genehmigungsverfahren eine große Bedeutung zu. Wer z. B. von ausländischen Unternehmern wissen will, was sie von Investitionen in Deutschland abhält, dem werden neben der Steuerfrage die zu hohe staatliche Regelungsdichte und vor allem die zu langen und zu komplizierten Planungs- und Genehmigungsverfahren insbesondere für größere, risikoreiche Investitionsprojekte genannt. Diesen Hinweisen, lieber Klaus-Dieter Feige, müssen wir nachgehen. Herr Schütz, uns geht es auch nicht darum, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Uns geht es darum, das erreichte Umweltschutzniveau zu halten. Deshalb ist es wichtig, unser Verfahrensrecht dem heutigen Stand der Umweltschutztechnologie anzupassen. Wenn wir die Aufgabenstellung so begreifen, dann ist klar, daß es sich bei dem Antrag der CDU/CSU nicht um einen Opfergang in Sachen Umweltpolitik zugunsten der Ökonomie handelt. Vielmehr soll endlich unnötiger Ballast in den Genehmigungsverfahren abgeworfen werden. Das ist unsere Zielrichtung. ({1}) Unser Umwelt- und Immissionsschutzrecht ist noch vom wissenschaftlichen Sachstand der 60er und 70er Jahre, also aus der Zeit, in der wir beide Jura studiert haben, Herr Schütz, geprägt. Danach war auch jede größere industrielle und gewerbliche Anlage auf ihre Umweltverträglichkeit hin zu überprüfen. Dies war damals eine völlig richtige rechtspolitische Weichenstellung, aber wir leben nun im Jahre 1992. Zwischenzeitlich hat sich die Umweltschutztechnologie in Deutschland in einem solch starken Maße weiterentwickelt, daß es bei vielen neuartigen Anlagen offenkundig ist, daß sie gegenüber dem bisherigen Anlagenstandard eine wesentlich geringere Beeinträchtigung der Umwelt mit sich bringen. Jeder Einbau einer solchen neuen Anlage und Technik setzt aber immer noch ein Genehmigungsverfahren voraus, als ob es diese neue Umwelttechnologie überhaupt nicht gäbe. Vor kurzem sagte mir ein mittelständischer Unternehmer aus Westfalen, die Gewerbeaufsicht habe ihm in einem Vorgespräch - Herr Starnick, im Vorfeld der Antragstellung - bestätigt, daß die von ihm beabsichtigte Investition in einen Teilbereich seiner Produktionsanlage eine Umweltentlastung von nahezu 80 % erbringe. Seitens der Gewerbeaufsicht sei ihm aber dann erklärt worden, auf Grund der strengen Vorschriften der §§ 15 ff Bundes-Immissionsschutzgesetz könne von der vollständigen Einreichung der Antragsunterlagen nicht abgegangen werden. Meine Frage: Warum reicht in einem solchen Falle nicht eine bloße Anzeige des Einbaus eines neuen Filters aus, wenn vorab durch eine Bauartzulassung die Umweltverträglichkeit schon nachgewiesen worden ist? Was wir brauchen sind Rahmenbedingungen für eine effiziente Umweltinfrastruktur. Dazu gehören auch rechtliche Rahmenbedingungen, die erhebliche Beschleunigungen in den Genehmigungsverfahren bewirken. Unser Verfahrensrecht darf nicht zu einer umweltpolitischen Selbstblockade führen. Hier gilt es, die traditionellen Instrumente der Umweltpolitik und die Verfahrensweisen bei umweltrelevanten Planungsabläufen rigoros zu durchforsten. Aus meiner Sicht ist unser Antrag mehr als ein Gesprächsangebot, Herr Feige. Dieser Antrag ist ein erster, aber notwendiger und richtiger Schritt in die richtige Richtung. Der Bundesrat hat sich in seiner Sitzung am 10. Juli mit dieser Problematik befaßt. Wenn ich mir hierzu noch einmal die pressewirksamen Einlassungen unseres nordrhein-westfälischen Umweltministers Matthiesen vor Augen führe und mir dann anschaue, was der Bundesrat vor kurzem an Vorschlägen zur Beschleunigung des Genehmigungsverfahrens beschlossen hat, dann gilt für mich der Satz: Es reicht nicht aus, den Mund zu spitzen; im Bundesrat, in den Ländern und insbesondere in Nordrhein-Westfalen muß in dieser Frage auch gepfiffen werden. So sehe ich überhaupt keine konsequente Linie, wenn der Umweltminister des Landes NordrheinWestfalen öffentlichkeitswirksam bei Neujahrsempfängen der Industrie- und Handelskammern - bei einer solchen Veranstaltung war ich Anfang dieses Jahres selbst zugegen - die Vollzugsdefizite auf dem Gebiet des Umweltschutzes in seinem eigenen Land mit dem lapidaren Hinweis überspielt, immer mehr Personal für den Vollzug, immer kompliziertere Gesetze könnten nicht die richtige Antwort sein. So Umweltminister Matthiesen zu dieser Frage. ({2}) Sie haben vorhin gesagt, daß die vorliegenden Daten nicht direkt interpretiert werden könnten. Aber Herr Matthiesen selbst hat schon eine Schlußfolgerung für seine eigene Politik gezogen. Angesichts dessen verstehe ich nicht, daß die Vertreter des Landes Nordrhein-Westfalen einige Monate später bei den Beratungen über die Beschleunigung der Genehmigungsverfahren im zuständigen Bundesrats-Ausschuß schon bei den ersten Gehversuchen zum Rückzug blasen. Auf der Grundlage eines Antrags des Freistaates Bayern hat sich der Bundesrat mit einigen Vorschlägen zur Beschleunigung befaßt. Ergebnis dieser Beratung war: Von fünf konkreten Anliegen sind letztlich nur zwei unterstützt worden. Zum Opfer fiel die Einführung einer Prognose zur Genehmigungsfähigkeit des Vorhabens schon zu dem Zeitpunkt, in dem alle Unterlagen vollständig eingereicht sind. Zum Opfer fiel die bloße Anzeigepflicht für umweltverbessernde Anlagenänderungen. Der Ausschuß war der Ansicht, das behördliche Prüfungsverfahren sei notwendig, um festzustellen, ob die Einrichtung auch tatsächlich der Verbesserung dient. Zum Opfer fiel die Anzeigepflicht bei standardisierten Anlagen. Hierzu gab der Ausschuß als Begründung an, das BundesImmissionsschutzgesetz kenne keine Kategorie anzeigepflichtiger Anlagen. Ich frage: Warum ist die Mehrheit des Bundesrates nicht auf die Idee gekommen, diese neue Kategorie einzufordern? Wir brauchen Deckungsgleichheit zwischen den Reden der Vertreter der Landesregierung NRW auf Neujahrsempfängen der nordrhein-westfälischen Wirtschaft und dem konkreten Handeln bei der gesetzgeberischen Tätigkeit im Bundesrat. Ein Verharren in bisherigen Positionen - z. B. bei Behinderung von Umweltschutztechnologien - halte ich nicht für richtig. Es muß Ziel der Gesetzgebungsnovellierung sein, für weitgehend standardisierte Anlagen und für wesentliche Anlagenänderungen, die die bestehende Immissionssituation ausschließlich verbessern, ein Anzeigeverfahren einzuführen. Wenn wir die Genehmigungsverfahren nicht in diesem Sinne verkürzen und umweltverbessernde Investitionen nicht schneller ermöglichen, hätten wir ein ökologisches Eigentor mit negativen Auswirkungen auf den Umweltschutz und unsere Volkswirtschaft geschossen. Um dieses Eigentor zu verhindern, fordere ich Sie auf, auch Sie, Klaus-Dieter Feige, unserem Antrag zuzustimmen. Ich begrüße es ausdrücklich, daß Sie, Herr Schütz, für Ihre Fraktion eine konstruktive Zusammenarbeit im Ausschuß angekündigt haben. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Professor Dr. Klaus Töpfer, hat das Wort.

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung und der Bundesumweltminister begrüßen diesen Antrag ganz nachhaltig. Ich darf hinzufügen: Ich begrüße auch diese Debatte und die Art dieser Debatte sehr. Man ist nämlich nicht der Versuchung erlegen, die Verkürzung der Dauer der Genehmigungsverfahren mit dem deutschen Einigungsprozeß zu begründen. Dies ist kein Thema der jungen Bundesländer, sondern es ist mehr ein Thema der alten Bundesländer, ja der Bundesrepublik Deutschland insgesamt. ({0}) Wir dürfen in der Öffentlichkeit nicht den Eindruck erwecken, als müßte jetzt zur schnellstmöglichen Durchführung von Investitionen in den jungen Bundesländern etwas beseitigt werden, was wir uns im Westen vorher an Luxus geleistet haben. Dies wäre ein falsches Signal. Ich bin dankbar, daß hier niemand ein solches Signal gesetzt hat. Ich glaube, wir sollten uns wirklich darin einig sein, nicht der Versuchung erliegen zu dürfen, demjenigen, der sagt, wir müßten Vorhaben schneller genehmigen, so etwas wie einen Anschlag auf den Umweltschutz vorzuwerfen. Wenn wir diesen Eindruck erwecken, dann erreichen wir nämlich sehr schnell wieder etwas, was wir verhindern wollten, nämlich daß dort Verdächtigungen ausgestreut werden, wo wir Vertrauen wecken wollten. Das, was Herr Kollege Schütz über die Beteiligung der Öffentlichkeit gesagt hat, setzt unglaublich viel Vertrauen voraus. Wenn wir uns wechselseitig das Vertrauen absprechen, indem wir sagen, derjenige, der für eine Beschleunigung eintrete, sei derjenige, der weniger Umweltschutz betreiben wolle, dann sind wir wieder in denselben Schützengräben, aus denen wir gerade herauskommen wollten. ({1}) - Herr Kollege Feige, Sie haben gerade „Große Koalition" dazwischengerufen: Ich möchte nicht eine Große Koalition, ich möchte hier eine Allparteienkoalition haben. ({2}) Ich sage Ihnen ganz schlicht und einfach: Die brauchen wir wohl auch. Wir brauchen sie, weil alles das, was hier zu diskutieren sein wird, nur mit der Zustimmung des Bundesrates, also mit den Ländern, gemacht werden kann. Der Bund hat nur ganz geringe Vollzugskompetenzen. Eine davon haben wir nur mittelbar. Die wird morgen in einem Genehmigungsverfahren für die Grube Konrad ihren Ausdruck finden. Alleine das einmal zu verfolgen wäre schon ein hinreichender Anlaß, um zu fragen, wie Genehmigungsverfahren eigentlich umfunktioniert werden können. Und ich füge mit aller Sachlichkeit hinzu: Wir sollten uns hinterher wirklich hinsetzen und aufarbeiten, wie ein Erörterungstermin in einem Genehmigungsverfahren ganz anderen Zielen zugeordnet wird als der sachlichen Prüfung des Für und Wider einer Investition. Also, wir brauchen den Konsens mit den Bundesländern. Deswegen habe ich mit größtem Nachdruck, wenn Sie so wollen, Vorfeldarbeit betrieben. Wir sind in die Umweltministerkonferenz gegangen. Wir haben das nicht in der großen Runde gemacht, sondern wir haben uns zu dem sogenannten „Kamingespräch" zusammengesetzt und gesagt: Laßt uns einmal, ohne daß gleich die Öffentlichkeit darüber herfällt, positiv oder negativ, abklären, was möglich ist. Das hat noch nicht zu durchschlagenden Erfolgen geführt. Ich gebe auch zu, Herr Kollege Paziorek, daß ich die Entwicklung des bayerischen Antrages im Bundesrat mit Sorge verfolgt habe; das, was als sinnvoller Antrag hineingegangen ist, und das, was am Ende herausgekommen ist, läßt mich im Augenblick nicht sehr hoffnungsfroh sein. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Deswegen argumentiere ich auch so nachhaltig dafür, daß wir nicht nur auf der Ebene des Bundes hier eine Allparteienzusammenarbeit bekommen, sondern daß wir sie dann auch vor Ort haben; denn, seien wir doch ehrlich, viele Verfahren sind in der Öffentlichkeit auch dadurch in Frage gestellt worden, daß man der Verlockung nicht widerstehen konnte, sich durch große Forderungen vor Ort dort den schnellen Beifall vor Ort zu holen - und das auf Kosten der jeweils dort Regierenden. Ich sage das mit Offenheit nach beiden Seiten. Hier brauchen wir wirklich ein Stück Ehrlichkeit. Stichwort: Mitarbeiter im Genehmigungsverfahren: Es ist ein kleiner Vorteil, wenn der Bundesumweltminister auch einmal Landesumweltminister, Staatssekretär in einem Bundesland, also auch Genehmigungsbehörde war. Meine Damen und Herren, die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren hat viel mit der Ausstattung der Behörden, besserer Ausbildung, weiterführender Ausbildung und neuen Stellen zu tun. All das ist richtig. Sie hat aber auch damit zu tun, daß wir unseren Beamten die richtigen Signale geben. Wir müssen den Beamten auch das Signal geben, daß sie dann, wenn sie einmal einen Ermessensspielraum durch eine Entscheidung genutzt haben und dadurch Schwierigkeiten bekommen, nicht die Angeklagten sind, sondern daß wir die politische Verantwortung dafür übernehmen. Auch das sage ich mit allem Nachdruck. Ein Beamter, der im Fall einer solchen Entscheidung weiß, daß er hinterher dafür strafrechtlich verantwortlich gemacht werden kann, und der weiß, daß gar nicht mehr die Möglichkeit gegeben ist, dies verwaltungsrechtlich zu überprüfen, wird zusätzlich zwei, drei Professoren heranziehen, um weiter zu überprüfen, und nicht entscheiden. Die Erhaltung der Entscheidungsfähigkeit ist nun einmal bei aller Notwendigkeit demokratischer Teilhabe erforderlich. Wer glaubt, demokratische Teilhabe sei so zu verstehen, daß nur etwas gemacht werden kann, wenn alle zustimmen, wird natürlich zu einer Paralysierung kommen. Wir müssen nun einmal zwischen unterschiedlichen Interessen entscheiden. ({3}) Das hat dann weniger mit Rechtsvorschriften als vielmehr mit dem Selbstbewußtsein derer, die entscheiden, etwas zu tun. Deswegen plädiere ich sehr nachhaltig dafür, daß wir uns vor diese Beamten stellen. Respekt vor den vielen Beamten in den Gewerbeaufsichtsämtern, meine Damen und Herren, die genau wissen, daß all das, was sie wirklich einmal entschieden haben, ihnen - bis in die Lokalzeitung hinein, in unglaublicher Direktheit - zugeordnet wird. Lassen Sie uns diese Beamten würdigen und nicht immer nur kritisieren. Ich halte das für ganz wichtig. Meine Damen und Herren, wenn über Personal gesprochen wird, dann muß man auch über das Personal der Antragsteller sprechen. Die Waffenschmidt-Kommission hat uns diese Problematik deutlich gemacht. Natürlich ist hierbei auch die Kompliziertheit der Unterlagen angesprochen, richtig. Der Antragsteller wird überfordert, wenn die Anforderungen an die Unterlagen zu hoch sind. Das ist ein Teufelskreis. Das wird um so mehr der Fall sein, je kleiner ein Unternehmen ist. Deswegen ist ein kompliziertes Genehmigungsverfahren eine konzentrationsfordernde Veranstaltung. Es ist mittelstandsfeindlich; ({4}) denn das Großunternehmen kann sich im Zweifel immer die spezialisierte Genehmigungsabteilung leisten, die die Verfahrensanforderungen bis ins letzte hinein nachvollziehen kann. Aber der kleine Handwerksmeister, der mittelständische Unternehmer, kann das eben nicht. Deswegen ist es eine Notwendigkeit der Mittelstandspolitik, Genehmigungsverfahren für den Antragsteller überschaubarer zu machen. Ich sage das wirklich mit großem Nachdruck. ({5}) Wir sollten diese Dinge auch im Zusammenhang sehen. Ich sage das noch einmal, Herr Feige, damit es nicht immer gleich diese Unterstellung gibt: Der will schneller genehmigen, also ist er nur wirtschaftsfreundlich. Nebenbei: Manchmal ist es gar nicht so schlecht, wenn wir uns auch einmal fragen, wie es mit der Wirtschaftsverträglichkeit unserer Umweltpolitik ist, und nicht nur immer, wie es mit der Umweltverträglichkeit unserer Wirtschaftspolitik ist; ({6}) denn auch der Umweltpolitiker, meine Damen und Herren, kann jede Mark immer nur einmal einsetzen. Nein, ich muß das Rationalitätsprinzip auch in der Politik des Umweltministers gelten lassen und darf nicht meinen, wenn ich viel Input habe, wenn ich lange genehmige, ist dem schon Genüge getan. Ich halte es für wichtig, daß wir unterstreichen, was die Antragsteller dieser Entschließung gefordert haben: mehr Umweltschutz durch kürzere Genehmigungsverfahren. Meine Damen und Herren, ich habe vor nicht langer Zeit in Rositz, Kreis Altenburg, in Thüringen an einer unglaublichen Altlast gestanden, einem Teersee mit phenolhaltigen Rückständen aus der Braunkohleverschwelung, 300 000, 350 000 m3. Wir haben vorher, lieber Ulli Klinkert, in Zerre und Terpe bei der ESPAG gestanden. In Sommerzeiten, wenn die Sonne auf diesen Teersee scheint, ist eine Ausgasung vorhanden, die gnadenlos Belastungen bewirkt. Um dies wegzubekommmen, brauchen wir eine Hochtemperaturverbrennungsanlage nach dem neuesten Stand der Technik. Natürlich wird auch diese Anlage nie eine Null-Emission haben. Aber wenn ich diese mit den jährlichen Emissionen durch die Sonneneinstrahlung auf den Teersee vergleiche, dann bedeutet die Errichtung einer solchen Anlage eine so massive Entlastung der Menschen und des Standortes sowie eine Chance für die Zukunft dieser Region, daß es eine wirkliche Unterlassung wäre, würden wir eine solche Anlage nicht einigermaßen schnell genehmigen. ({7}) Das ist doch mehr Umweltschutz. Das gilt nicht nur für Zerre, Terpe und Rositz, sondern das gilt auch für ähnliche Anlagen. Sprechen Sie doch mit dem Kollegen Matthiesen und anderen, die Altlasten haben und sagen, wir könnten sie mit vernünftigen Anlagen beseitigen, aber es dauert eben sechs, sieben, acht Jahre, bis eine solche Anlage genehmigt ist. Deswegen ist es richtig, über Entrümpelung nachzudenken. Jeder einzelne kleine Schritt war in sich immer gut begründet. Aber nach 40 Jahren merkt man, daß es in der Summe sich entgegenstehende und den Umweltschutz wirklich behindernde Konstellationen gibt. Lassen Sie uns über Entbürokratisierung nachdenken, damit wir uns nicht Umweltkosten vorhalten lassen müssen, wo eigentlich Bürokratiekosten abzubauen wären. Ich danke Ihnen sehr herzlich. ({8})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Abgeordnete Philipp, Sie haben das Wort. - Verzeihung, Frau Kollegin, ich muß nur an die Adresse derer, die ein erstauntes Gesicht machen, sagen, daß die Kollegin Philipp von ihrer Gruppe - sonst war niemand da - nicht gemeldet worden war. Sie hat sich aber vorbereitet. Sie ist relativ neu im Bundestag und wußte nicht, wie der Vorgang ist. Deshalb kam sie ein bißchen spät. Bitte sehr.

Ingeborg Philipp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich bitte um Entschuldigung, daß diese Panne passiert ist. Das nächste Mal wird es nicht geschehen. Die im Antrag vorgegebene Zielstellung, nämlich mehr Umweltschutz durch Beschleunigung von Zulassungs- und Genehmigungsverfahren, sollte verwirklicht werden; denn in der Tat sind die Genehmigungsverfahren sehr arbeits- und zeitaufwendig. Allerdings darf die Qualität der erforderlichen Vorbereitungsarbeit nicht gemindert werden. Umweltschutz muß heute auch Sache der Öffentlichkeit sein. Im Antrag wird die Beteiligung der Öffentlichkeit wohl verbal genannt, aber praktisch nicht ausgeführt. Nach unserer Ansicht sollte ein eigener Abschnitt IV zur Beteiligung der Öffentlichkeit eingearbeitet werden. Damit soll erreicht werden, daß durch die Mitwirkung der Bürger und Bürgerinnen eine differenzierte Erfassung aller Standortdaten gewährleistet wird. Sie kennen z. B. die Bedingungen des Mikroklimas besser als die Behörden, und sie können Hinweise der Naturschutzverbände in praktische Vorschläge umsetzen. Deshalb fordern wir grundsätzliche Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an allen wirtschaftlichen und infrastrukturellen Vorhaben, Verbesserung der Mitwirkungsrechte einzelner, erleichterten Zugang zu Rechtsmitteln, Offenlegung von Umweltdaten und Emissionen durch die Firmen, umfassende Informationen durch entsprechende Umweltberichte mit aufbereiteten Daten durch die Gebietskörperschaften, Akteneinsicht für jede Frau und jeden Mann, umfassende Umweltverträglichkeitsprüfungen im Zuge eines vorausschauenden Umweltschutzes. Wir gehen davon aus, daß der mündige Bürger und die mündige Bürgerin sich nicht verweigern, wenn es um ökologisch sinnvolle Neubauten und Nachrüstungen bestehender Anlagen geht. Der auf Seite 2 mit dem ersten Anstrich genannte Grundsatz, der die Genehmigungsbehörde darauf verweist, sich bei der Entscheidungsfindung auf eine Stellungnahme einer Behörde auf dem Gebiet der alten Bundesländer zu stützen, sollte in Richtung der Eigenverantwortung der Genehmigungsbehörde verändert werden. Wir schlagen folgenden Text vor: Die Genehmigungsbehörde entscheidet eigenverantwortlich. Sie kann sich bei ihrer Entscheidung auf eine Stellungnahme einer Behörde auf dem Gebiet der alten Bundesländer stützen. Im Vorspann wird betont, daß die Bundesrepublik Deutschland mit ihren anspruchsvollen Umweltschutzanforderungen weltweit eine Spitzenposition einnimmt. Uns berühren solche Suggestivaussagen immer etwas peinlich. Das größer gewordene Deutschland sollte Bescheidenheit erkennen lassen. Mehr tun als sagen ist immer besser, auch für das eigene innere Wohlbefinden. Ich mußte in diesem Zusammenhang an ein vielgesungenes Kinderlied der vergangenen Jahre denken: Und nicht über und nicht unter anderen Völkern woll'n wir sein, von der See bis zu den Alpen, von der Oder bis zum Rhein. Und weil wir dies Land verbessern, lieben und beschirmen wir's, und das liebste mag's uns scheinen, so wie anderen Völkern ihr's. In diesem Sinne werden wir von der PDS aus alle Arbeit, die getan werden muß, unterstützen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Meine Damen und Herren, bevor ich die Sitzung für eine kurze Mittagspause unterbreche, müssen wir die Vorlage auf Drucksache 12/2947 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Die Überweisung ist beschlossen. Wir treten um 14.00 Uhr wieder zusammen. Dann steht die Fragestunde auf der Tagesordnung. Die Sitzung ist unterbrochen. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Wir fahren fort in der unterbrochenen Sitzung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: Fragestunde - Drucksache 12/3269 -Zunächst den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft. Zur Beantwortung der Fragen ist der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Erich Riedl erschienen. Bei der Frage 25 des Abgeordneten Kubatschka, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, wird um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Frage 26 hat der Kollege Friedhelm Julius Beucher gestellt: Welchen Einfluß nimmt die Bundesregierung auf deutsche Touristen in der Antarktis im Hinblick auf die Gefährdung dieses hochempfindlichen Öko-Systems? Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Danke, Herr Präsident. Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat zur Zeit keine Einflußmöglichkeiten auf deutsche Touristen in der Antarktis. Die Bundesrepublik Deutschland ist Unterzeichner des Umweltschutzprotokolls zum Antarktis-Vertrag, dessen Umsetzung in nationales Recht gegenwärtig vorbereitet wird. Dies ist auch der Grund dafür, daß eine unmittelbare Einflußnahme im Augenblick noch nicht möglich ist. Auf der letzten Tagung der Konsultativstaaten des Antarktis-Vertrages hier in Bonn unterbreiteten Deutschland und Japan gemeinsam einen Vorschlag zur Einsetzung eines Ausschusses, der sich mit Problemen im Zusammenhang mit nicht offiziellen Besuchen, darunter kommerzieller Tourismus und Abenteuertourismus, in der Antarktis befassen soll. Dieser Ausschuß wird bei der nächsten Tagung der Konsultativstaaten des Antarktis-Vertrages im November dieses Jahres in Venedig seine Arbeit aufnehmen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zusatzfrage, Herr Kollege.

Friedhelm Julius Beucher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, halten Sie es nicht für sinnvoll, daß die Bundesregierung, nachdem sie am 3. Oktober 1991 das Protokoll zum Antarktis-Vertrag betreffend den Umweltschutz mitgezeichnet hat, bereits vor einer verbindlichen rechtlichen Regelung Einfluß dergestalt nimmt, daß sie Verhaltensmaßregeln festlegt, daß sie Kontakte mit Tourismusorganisationen aufnimmt und Informationen herausbringt, daß der zunehmende Tourismus in diesem empfindlichen Ökosystem dort strikt reglementiert und minimiert wird?

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Bitte.

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Herr Abgeordneter, ich kann diese Frage nachhaltig mit Ja beantworten. Wenn Sie gestatten, Herr Präsident, kann ich dies vielleicht noch mit einigen Informationen anreichern. Wie gesagt, zur Zeit wird dieses Abkommen von den Unterzeichnerstaaten in nationales Recht umgesetzt. Insbesondere wird in Verhandlungen mit der Branche schon vor Inkrafttreten der entsprechenden Vereinbarungen, so wie Sie es zum Ausdruck gebracht haben, nachhaltig darauf hingewirkt, daß Beeinflussungen negativer Art durch Touristen jedweder Art so gut wie minimiert werden. Der Antarktis-Tourismus ist für die deutsche Tourismuswirtschaft nicht von überragender Bedeutung - er spielt eine gewisse Rolle -, und er wird von wenigen spezialisierten, aber sehr verantwortungsbewußten Reiseveranstaltern angeboten. Nach Auskunft der Reisebranche, die die Bundesregierung eingeholt hat, werden die Touristen an Bord entsprechender Schiffe über das ökologische System der Antarktis informiert und zu umweltverträglichem Verhalten bei Landgängen aufgefordert. Das erfolgt nachhaltig. Grundlage für die Verhaltensregeln sind die Anforderungen des Scientific Committee of Antarctic Research und der Antarktis-Vertragsstaaten. Man kann natürlich nicht jedem Touristen einen Polizisten mitschicken. Aber Ihre Anfrage hier im Deutschen Bundestag, die nach draußen hoffentlich umgesetzt wird, bezeugt das große Interesse auch des Parlaments und der Bundesregierung daran, daß der offensichtlich noch einzige Fleck auf der Welt, der völlig oder so gut wie völlig unberührt ist, nämlich die Antarktis, nicht das gleiche Schicksal erfährt wie so viele Berge in den bayerischen oder österreichischen Alpen, die vom Massentourismus schon sehr beeinträchtigt sind. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Beucher, Sie möchten keine zweite Zusatzfrage stellen? - Dann nur die kleine Bemerkung an die Adresse des Kollegen Riedl: Selbstverständlich gestattet der Präsident eine Antwort, um anreichernde Informationen zu erhalten. Es ist ja der Sinn dieser Fragestunde, das Haus seitens der Regierung zu informieren.

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Herr Präsident, da Sie mir vor der Sitzung empfohlen haben, ich solle mich hier anständig benehmen, war ich sehr vorsichtig. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich glaube, diese Bemerkung ist fast nicht zulässig. ({0}) Ich rufe die Frage 27, die ebenfalls unser Kollege Friedhelm Julius Beucher gestellt hat, auf: Wird die Bundesregierung nach amerikanischem Vorbild ein jährliches Treffen der deutschen Reiseveranstalter, Regierungsangehörigen, Wissenschaftler und Umweltschutzorganisationen einberufen und darauf drängen, daß unabhängige Beobachter auf den Kreuzfahrtschiffen mitfahren können? Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Danke schön, Herr Präsident. Herr Abgeordneter, die Bundesregierung bemüht sich natürlich nachhaltig um ein international abgestimmtes Vorgehen zum Schutz der in der Tat sehr leicht verletzlichen Umwelt in der Antarktis. Ein entscheidender Schritt in diese Richtung waren - ich darf das wiederholen - der Abschluß und die Zeichnung des Umweltschutzprotokolls zum AntarktisVertrag vorn 4. Oktober 1991 in Madrid, das Möglichkeiten auch für Inspektionen vorsieht. Dann muß man allerdings wieder aufpassen, daß die Inspekteure nicht mehr Schaden anrichten als bei einem völligen Unberührtbleiben der Antarktis. Die Bundesregierung wird sich auf der bevorstehenden Tagung der Konsultativstaaten des AntarktisVertrages dafür einsetzen, daß Vereinbarungen über ein international abgestimmtes Vorgehen im Bereich der nicht offiziellen Besuche in der Antarktis in einem Anhang zum Umweltschutzprotokoll getroffen werden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zusatzfrage, bitte.

Friedhelm Julius Beucher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben jetzt die Frage nicht beantwortet, ob Sie ein Treffen einberufen werden und ob Sie mit den Betroffenen sprechen. Sie haben davon gesprochen, daß Sie mit den Staaten zusammenkommen. Die Frage ging in die Richtung, ob Sie die Reiseveranstalter, die Wissenschaftler und Umweltschutzorganisationen zusammenholen.

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Ja natürlich, wir tun das, Herr Abgeordneter. Das sind eigentlich die relativ leichten Gesprächspartner. Schwieriger ist es, mit Leuten zu sprechen, die einen Forschertrieb in sich haben. Ich will jetzt einmal keine Namen nennen; aber Sie erinnern sich sicher an diejenigen, die auch schon im Himalaya waren und dort sehr spektakuläre Expeditionen gemacht haben. Sie machen das gleiche natürlich auch in der Antarktis. Mir wäre nicht sehr wohl dabei, wenn diese Art von Tourismus im Zusammenhang mit großer Öffentlichkeitsbegleitung überhandnehmen würde. Wir sollten auch an das Verantwortungsbewußtsein der außerordentlich renommierten, weltweit bekannten Bergsteiger denken. Sie wissen, was ich meine. Mehr will ich dazu nicht sagen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Danke, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, für die Beantwortung der Fragen. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Der Parlamentarische Staatssekretär Rudolf Kraus steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung. Als erstes rufe ich die Frage 28 unseres Kollegen Dr. Jürgen Meyer auf: Sind Pressemeldungen richtig, daß in vielen großen Baufirmen fast nur noch „Billigarbeiter" aus osteuropäischen Ländern auf der Basis von Werkverträgen arbeiten und daß mittlere und kleinere Betriebe gezwungenermaßen mitziehen, um nicht wirtschaftlich ins Abseits zu geraten, wodurch trotz Hochkonjunktur Ende Juni bundesweit 10 % mehr Bauarbeiter arbeitslos waren als im gleichen Monat des Vorjahres und der Anstieg der Zahl der Kurzarbeiter sogar um 78 % höher lag, und welche arbeitsmarktpolitischen Konsequenzen zieht die Bundesregierung daraus? Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Herr Abgeordneter, die Bundesregierung kann nicht bestätigen, daß in vielen großen Baufirmen fast nur noch „Billigarbeiter" aus osteuropäischen Ländern auf der Basis von Werkverträgen arbeiten. Im Baugewerbe können auf Grund der bestehenden Vereinbarungen mit ehemaligen Ostblockländern im Jahresdurchschnitt zur Zeit rund 57 000 Arbeitnehmer beschäftigt werden. Diese Zahl wird sich durch die vereinbarte Anpassung an die Arbeitsmarktentwicklung ab 1. Oktober 1992 auf rund 54 000 Arbeitnehmer verringern. Hiervon ist außerdem ein Kontingent von 220 500 Arbeitnehmern zeitlich bis maximal Dezember 1994 befristet. Nach Informationen der Bundesanstalt für Arbeit ist im Baugewerbe die Beschäftigungsentwicklung nach wie vor leicht überdurchschnittlich. Zwar ist die Kurzarbeiterzahl in diesem Berreich angestiegen, aber mit 4 000 im August ausgesprochen niedrig. Von Januar bis Juli meldeten sich 136 000 Personen arbeitslos, 8 % weniger als im Vorjahreszeitraum. Andererseits war das Stellenangebot mit einem Plus von 7 % auf 148 800 deutlich höher. Diese Zahlen belegen nicht nur die nach wie vor gute Branchenkonjunktur; sie relativieren darüber hinaus die in jüngster Zeit geführten Klagen von Verbänden, die Beschäftigung ausländischer Werkvertragsarbeitnehmer oder ihr Mißbrauch zwinge viele Betriebe zu Kurzarbeit oder Entlassungen. Damit soll nicht bestritten werden, daß die Beschäftigung von Werksvertragsarbeitnehmern zu Wettbewerbsbeeinträchtigungen für Klein- und Mittelbetriebe führen kann.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Dr. Meyer, eine Zusatzfrage.

Prof. Dr. Jürgen Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, da mir Ihre Antworten etwas verharmlosend erscheinen, frage ich, ob Ihnen nicht bekannt ist, daß im vergangenen Jahr für Werkvertragsarbeitnehmer insgesamt 637 000 Arbeitserlaubnisse erteilt wurden, während es im Jahre 1988 lediglich 175 100 gewesen sind.

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Ich wollte dieses Problem in keiner Weise verharmlosen. Ganz selbstverständlich ist es so, daß auch wir von den Schwierigkeiten wissen, die gerade neuerdings, in den letzten Monaten, bei sich zweifelsohne abflachender Konjunktur auf dem Bausektor insonderheit in den alten Ländern auftauchen. Die genannte Zahl der Arbeitserlaubnisse ist sicher richtig. Ich kann diese Zahl im Augenblick nicht prüfen, halte sie aber für möglich, weil die Kontingente Jahresdurchschnittskontingente sind, d. h. also sehr viele Arbeitserlaubnisse ausgegeben werden können, um dieses Volumen auszufüllen. Die Zahl ist natürlich gegenüber dem Vorjahreszeitraum mit Sicherheit gewaltig gestiegen. Die Vereinbarungen mit ehemaligen Ostblockländern sind ja zum großen Teil nicht sehr alt. Einer der Verträge ist z. B. im Augenblick erst paraphiert, noch nicht unterschrieben. Ich spreche von dem Vertrag mit Rußland.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Die zweite Zusatzfrage.

Prof. Dr. Jürgen Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, nachdem wir über die tatsächlichen Zahlen eine gewisse Annäherung erzielt haben, frage ich Sie, ob Sie wie ich der Meinung sind, daß die hier zu prüfenden Fälle von Lohndumping auch deshalb ein Handeln der Bundesregierung dringend erforderlich machen, weil dadurch die Tarifautonomie gefährdet wird, Arbeitnehmerschutzrechte ausgehebelt werden und schließlich unter dem Deckmantel von Werkverträgen faktisch Leiharbeitsverhältnisse begründet werden.

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Daß die Bundesregierung hier Handlungsbedarf sieht, ist völlig unbestritten und ist auch allgemein bekannt. In der Tat ist auch nicht auszuschließen - ich möchte das vorausschicken -, daß Werkverträge mißbraucht werden, um in Wahrheit Leiharbeitsverhältnisse, die im Bausektor verboten sind, zu begründen. Es gibt eine Reihe von Dingen, die die Bundesregierung demnächst machen will bzw. gemacht hat, um dieses Problem einzuschränken. Zum Beispiel wird das Verfahren zur Genehmigung der Werkverträge bei fünf Landesarbeitsämtern konzentriert und durch personelle Verstärkung verbessert und gestrafft. Zur Verbesserung der Kontrollmöglichkeiten in den Betrieben soll ein Betriebsprüfungsrecht der Bundesanstalt für Arbeit eingeführt werden, das ab 1. Januar kommenden Jahres Gültigkeit haben soll. Die Sanktionsregelungen in den Vereinbarungen werden mit der Folge verschärft, daß ausländische Werkvertragsfirmen, die den vereinbarten Lohn nicht zahlen oder Arbeitnehmer verleihen und illegal beschäftigen, nicht mehr zugelassen werden dürfen. Ich halte das für besonders wirksam. Die Bundesanstalt für Arbeit erarbeitet derzeit für ausländische Werkvertragsarbeitnehmer ein Merkblatt, das die Unternehmen umfassend über ihre in der Bundesrepublik Deutschland bestehenden Pflichten auch im steuerlichen, handwerklichen und gewerkschaftlichen Bereich unterrichtet.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Gilges, Sie hatten die nächste Zusatzfrage erbeten.

Konrad Gilges (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000680, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Parlamentarischer Staatssekretär Kraus, können Sie bestätigen, daß die Arbeitnehmer aus Polen, der Tschechoslowakei und anderen Ostblockstaaten insbesondere aus dem Baugewerbe in der Bundesrepublik für einen Stundenlohn in der Größenordnung von 6 bis 8 DM beschäftigt werden und daß diese Löhne dazu führen, daß u. a. in Bayern, aber auch in anderen Ländern der Bundesrepublik Handwerksunternehmen im Baugewerbe teilweise Kurzarbeit leisten müssen? So hat es zumindest der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bau, Steine, Erden heute morgen einigen Parlamentariern aus allen Fraktionen mitgeteilt.

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Ich kann weder das eine noch das andere bestätigen. Wenn Sie mich fragen, ob ich es für möglich halte, daß neuerdings Fälle, insbesondere auch Kurzarbeitsfälle, auftreten, bei denen Werkverträge eine Rolle hätten spielen können, halte ich dies für denkbar. Was die Höhe der Löhne anbelangt, so wissen Sie, daß uns die Löhne nicht bekannt sind, weil die Verträge eben nicht mit dem einzelnen Arbeitnehmer abgeschlossen werden, sondern mit Firmen, die es ja dem Vertrag nach übernehmen, Gewerke hier in der Bundesrepublik zu bestimmten Fest- und Leistungspreisen zu errichten. Wie das bei der Firma im einzelnen abgerechnet wird, ist uns deshalb logischerweise nicht bekannt.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Abgeordnete Kolbe, eine weitere Zusatzfrage.

Regina Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ist Ihnen eigentlich bewußt, daß diese Praxis auch im Osten zur Zeit zu nicht gerade freundlichen Tendenzen gegenüber Ausländern führt? Ich möchte Ihnen das erläutern: Es gibt im Osten arbeitslose Bauarbeiter. Baufirmen haben mir bestätigt, daß sie, wenn sie Polen beschäftigen, mit 26 DM Stundenlohn rechnen müssen, bei deutschen Arbeitnehmern mit 42 DM. Wenn sie sich diesem Trend nicht anschlössen, wäre das wettbewerbsverzerrend. Aus diesem Grunde würden sie sicherlich auch vermehrt ostdeutschen Arbeitern kündigen. Die Folge davon ist eigentlich klar.

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Dazu darf ich zwei Bemerkungen machen. Erstens ist mir natürlich bewußt, daß Werkverträge von den Firmen dann abgeschlossen werden, wenn sich die Firmen davon wirtschaftliche Vorteile versprechen. Deswegen halte ich es überhaupt nicht für ausgeschlossen, daß die bei uns anfallenden Gesamtkosten je Arbeitsstunde wesentlich höher sind als nach den Verträgen, die mit diesen ausländischen Werkvertragsfirmen abgeschlossen werden. Zweitens. Zur Frage der Arbeiter, die deswegen arbeitslos sind, ist mir allerdings auch die Version der Arbeitgeberseite bekannt, daß man zwar gegen die Werkverträge insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Wettbewerbsverzerrung einiges einzuwenden hat, daß man aber gleichzeitig will, daß es an Stelle der Werkverträge in der Zukunft möglich sein soll, ähnlich wie bei den sogenannten Gastarbeiterregelungen direkte Möglichkeiten zu schaffen, Leute aus den früheren Ostblockländern bei uns in den Firmen so zu beschäftigen, als ob sie deutsche Arbeitnehmer wären, mit denselben Stundenlöhnen, unter denselben sozialen Bedingungen, mit denselben Lohnzusatzkosten, und zwar deshalb, weil angeblich gerade in den neuen Ländern zuwenig Bauarbeiter zu finden seien.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollge Dr. Peter Struck, Sie haben das Wort zur nächsten Frage.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin eine Reihe von Maßnahmen aufgezählt, die die Bundesregierung in Angriff nehmen möchte. Darf ich Sie zunächst fragen, ob diese Maßnahmen in der Form eines Gesetzentwurfs der Bundesregierung den Deutschen Bundestag möglichst bald erreichen und ob zu diesen Maßnahmen beispielsweise auch die Überlegung gehören könnte, ein Gesamtkontingent für Arbeitnehmer aus Osteuropa, über die wir gerade gesprochen haben, beispielsweise in der Größenordnung von 100 000 pro Jahr festzulegen.

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Das sind zwei Fragen. Zum Gesamtkontingent: Es gibt Kontingente für die einzelnen Länder. Es erscheint wenig sinnvoll, ein Gesamtkontingent festzulegen. Das würde gegen die Verträge verstoßen, die wir mit diesen Ländern ausgearbeitet haben, und sicherlich auch nicht dem eigentlichen Zweck der Werkverträge dienen. Das zweite ist die Frage, wo all diese Maßnahmen enthalten sind. Ein Teil davon steht in der Novelle des AFG, ein anderer Teil sind Maßnahmen, die auf der Ebene der Verwaltung durchgeführt werden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Horst Peter, Sie haben die nächste Frage.

Horst Peter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001693, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn es nach Ihrer Auffassung aktuell keinen gesetzlichen Handlungsbedarf gibt, ist dann das Problem Ihrer Meinung nach, zumal wenn man auch die Frage von Scheinwerkverträgen mit einbezieht, geeignet, besondere Anstrengungen der Arbeitsverwaltung zur Überprüfung des anstehenden Sachverhaltes in die Wege zu leiten?

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Es gibt natürlich aktuellen gesetzlichen Handlungsbedarf; das ging schon aus dem hervor, was ich vorhin sagte, nämlich daß in dem derzeit laufenden Gesetzgebungsverfahren - AFG-Novelle - Entsprechendes steht, insbesondere im Bereich der Kontrollmöglichkeiten. Zum zweiten Punkt, ob es Handlungsbedarf gibt, insbesondere von seiten der zuständigen Behörde, der Bundesanstalt für Arbeit, möchte ich ganz uneingeschränkt ja sagen. Ich bin der Auffassung, daß ein ganz erheblicher Bedarf besteht, insbesondere in zwei Punkten, nämlich einmal in der Kontrolle und zum anderen bei der Zulassung der einzelnen Kontingente. Die Verträge beinhalten ja in der Regel auch, daß dann Arbeitnehmer - auch Werkvertragsarbeitnehmer - bei uns tätig werden können, wenn es die regionale Arbeitsmarktsituation überhaupt erlaubt.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Gibt es zu dieser Frage weitere Zusatzfragen? - Das ist nicht der Fall. Dann rufe ich die Frage 29 auf, die unser Kollege Dr.-Ing. Rainer Jork gestellt hat: Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, im Zusammenspiel mit der Bundesanstalt für Arbeit und den örtlichen Arbeitsämtern die Qualität der Lehrveranstaltungen im Rahmen von Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen einzuschätzen und positiv zu beeinflussen, und wie nimmt sie diese Möglichkeiten wahr? Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Herr Jork, die Förderung der Teilnahme an beruflichen Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen setzt nach § 34 AFG und anderen Vorschriften voraus, daß die jeweilige Bildungsmaßnahme nach Dauer, Gestaltung des Lehrplans, Unterrichtsmethode sowie Ausbildung und Berufserfahrung des Leiters und der Lehrkräfte eine erfolgreiche berufliche Bildung erwarten läßt. Eine gesetzliche Fördervoraussetzung ist hiernach, daß die jeweilige Bildungsmaßnahme qualitativen Anforderungen gerecht wird. Um die Qualität der Bildungsmaßnahme sicherzustellen, hat die Bundesanstalt für Arbeit den Arbeitsämtern u. a. in zwei Erlassen vom August letzten und Juli dieses Jahres detaillierte Handlungsanweisungen zur Überprüfung der Qualität gegeben. Bereits bei der Entscheidung über die Anerkennung der Förderungsfähigkeit von Weiterbildungsmaßnahmen wird an Hand der vom jeweiligen Bildungsträger einzureichenden Unterlagen geprüft, ob die erforderliche Qualität sichergestellt ist. Darüber hinaus werden die Bildungsmaßnahmen aber auch nach ihrem Beginn weiterhin auf ihre Qualität untersucht. Zu diesem Zweck wurden durch die Bundesanstalt sogenannte Prüfgruppen gebildet, die stichprobenweise gegebenenfalls unangemeldete Überprüfungen in einzelnen laufenden Maßnahmen durchführen und auf die Beseitigung etwaiger Schwachpunkte hinwirken. Auch die im Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung von Fördervoraussetzungen im Arbeitsförderungsgesetz und in anderen Gesetzen vorgeschlagenen Änderungen zu den §§ 34 und 36 AFG werden nach meiner Auffassung dazu beitragen, die Qualität der Fortbildung und Umschulung weiter zu steigern. Diese Änderungen beinhalten die Verpflichtung der Bundesanstalt, die generelle arbeitsmarktpolitische Zweckmäßigkeit der Maßnahme vor Maßnahmenbeginn zu beurteilen, sowie die Einführung einer Beratungspflicht des Teilnehmers vor Eintritt in eine Bildungsmaßnahme.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Jork.

Dr. - Ing. Rainer Jork (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, ist entsprechend den von Ihnen angegebenen Überprüfungen bekannt, ob Lizenzen von Bildungseinrichtungen entzogen wurden?

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Ich kann jetzt nicht sagen, wie oft das geschehen ist. Mir ist aber bekannt, daß dies in der Vergangenheit natürlich passiert ist.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Eine zweite Zusatzfrage.

Dr. - Ing. Rainer Jork (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ziel der Umschulung und Fortbildung ist, daß man im Nachgang, nach Abschluß der Bildungsmaßnahme, eine neue Arbeit findet. In diesem Zusammenhang sind Zertifikate wünschenswert. Besteht eine Übersicht, ob und in welchem Umfang solche Zertifikate ausgegeben werden und ob sie dann hilfreich sind? Ich könnte mir vorstellen, daß das jetzt nicht so einfach beantwortbar ist. In diesem Fall möchte ich um eine spätere Beantwortung bitten.

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Um das konkret und präzise zu beantworten, werden wir schriftlich auf diese Frage eingehen. Ich möchte aber vorweg eines sagen: Selbstverständlich werden Zertifikate ausgegeben. Ich gehe natürlich auch davon aus, daß bei den Einstellungen derartige Zeugnisse eine Rolle spielen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Wollen Sie, Frau Kollegin Kolbe, eine Zusatzfrage stellen?

Regina Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Bitte.

Regina Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ist Ihnen bewußt, daß die Zertifikate nicht unbedingt durch Arbeitgeber anerkannt werden und daß es manchmal auch dadurch nicht zu einer Einstellung kommt, daß Arbeitgeber eigentlich auf einen Abschluß vor einer Kammer wert legen? Inwieweit wird das insofern Einfluß auf die BA haben, als solche Ausbildungsmaßnahmen, die im Anschluß keine Beschäftigung garantieren, weil sie nicht anerkannt sind, eingeschränkt werden?

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Sie fragen, ob die Maßnahmen eingeschränkt werden und - wenn ich die Frage richtig verstehe - durch normale Lehrverträge ersetzt werden sollen?

Regina Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich meine es so: Ein Zertifikat bescheinigt jemandem, an einer Maßnahme teilgenommen zu haben. Es drückt nicht aus, welche Inhalte die Ausbildung hatte, ebensowenig die Qualität der Ausbildung. Aus diesem Grund werden Zertifikate durch Arbeitgeber im Prinzip nicht akzeptiert. Es wird immer Wert auf Abschluß vor einer Kammer oder dergleichen gelegt.

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Jetzt habe ich es verstanden. - Frau Kolbe, die Zertifikate beinhalten natürlich eines, nämlich das, was in diesem Lehrgang vermittelt wurde. Ein Zertifikat drückt also schon aus, was an Lehrstoff herübergebracht worden ist. In der Regel ist das so. Mit Ihrer zweiten Frage, daß hier eine Bewertung der Leistung im Sinne einer Abschlußprüfung oder eines Abschlußexamens gemacht wird, haben Sie recht. Ich weiß aber aus persönlicher Erfahrung, daß ganz selbstverständlich auch Abschlüsse von Lehrgängen, die in der Weise bescheinigt werden, auch vom Arbeitgeber durchaus anerkannt werden und bei der Einstellung eine Rolle spielen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Weitere Zusatzfragen zu dieser Frage? - Das ist nicht der Fall. Herr Staatssekretär, ich bitte um Verzeihung; ich muß eine Zwischenbemerkung machen, weil ich vorhin beim Aufruf der Geschäftsbereiche den des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes nicht erwähnt habe: Frage 9 der Abgeordneten Köppe soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ich rufe jetzt die Frage 30 auf, die die Kollegin Regina Kolbe gestellt hat: Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse darüber vor, daß neuerdings vermehrt Mitgliedschaften von Firmen und Verwaltungen bei den jeweiligen Arbeitgeberverbänden aufgekündigt werden, und welche Gründe sind der Regierung gegebenenfalls hierüber bekannt? Herr Parlamentarischer Staatssekretär Kraus, Sie haben das Wort.

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Frau Kolbe, sind Sie einverstanden, daß ich Ihre beiden Fragen gemeinsam beantworte?

Regina Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Dann rufe ich auch die Frage 31 auf: Kann die Bundesregierung darüber Auskunft geben, in welchem Umfang in ostdeutschen Betrieben und der öffentlichen Verwaltung tarifvertraglich festgeschriebene Regelungen zur Lohnhöhe unterlaufen werden?

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse darüber vor, in welchem Umfang und aus welchem Anlaß Mitglieder ihre Mitgliedschaft in den jeweiligen Arbeitgeberverbänden durch Austritt beenden. Arbeitgeberverbände sind in der Regel privatrechtlich organisierte Vereinigungen, die ihre Angelegenheiten eigenverantwortlich und unabhängig regeln. In diesem Zusammenhang bestehen weder Berichtspflichten gegenüber dem Staat, noch werden amtliche Statistiken über Mitgliedschaften geführt. Zu Ihrer zweiten Frage bemerke ich folgendes: In welchem Umfang tarifvertraglich vereinbarte Entgeltbedingungen von Arbeitgebern in Ostdeutschland nicht eingehalten werden, ist der Bundesregierung nicht bekannt. Es handelt sich dabei um Angelegenheiten, die in der alleinigen Verantwortung der beteiligten Arbeitsvertragsparteien liegen. Sie sind staatlichen Stellen gegenüber zu keinerlei Auskünften verpflichtet.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin Kolbe? - Bitte.

Regina Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ist die Bundesregierung gewillt, sich zu beiden Punkten Sachkunde zu verschaffen?

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Ja.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Eine zweite Zusatzfrage.

Regina Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Teilen Sie mir diese Erkenntnisse dann bitte mit? Das ist selbstverständlich, nehme ich an?

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Selbstverständlich.

Regina Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Fragen haben natürlich einen Hintergrund. Ich kenne nämlich auch einen Fall, daß in der öffentlichen Verwaltung etwas Derartiges passiert ist, nämlich ein Austritt aus dem Arbeitgeberverband. Es geht ganz konkret darum, Tarifrecht zu unterlaufen. Deswegen frage ich Sie: Haben Sie Möglichkeiten, Einfluß darauf zu nehmen?

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Das kommt darauf an, welche öffentliche Verwaltung das ist: Wenn es eine Verwaltung des Bundes ist, ({0}) gehe ich davon aus, daß die Bundesregierung - mit welchem Ministerium auch immer - darauf Einfluß nehmen kann.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Gibt es weitere Zusatzfragen dazu? - Das ist nicht der Fall. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Bernd Wilz zur Verfügung. Nachdem die Fragen 32 und 33 zurückgezogen worden sind, rufe ich die Frage 34 des Kollegen Konrad Gilges auf: Welche aktiven oder pensionierten Generäle oder Offiziere der Bundeswehr waren seit September 1987 in der Republik Chile, und wer von diesen Bundeswehrangehörigen hat mit dem ehemaligen Präsidenten und Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Augusto Pinochet, Gespräche geführt? Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Bernd Wilz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002521

Herr Kollege, soweit nachprüfbar, hat im Zeitraum vom September 1987 bis September 1992 kein aktiver General, Admiral oder anderer Offizier im dienstlichen Auftrag die Republik Chile besucht. Aktive und pensionierte Soldaten unterlägen und unterliegen nicht der Pflicht, private Reisen in die Republik Chile anzuzeigen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Gilges.

Konrad Gilges (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000680, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Parlamentarischer Staatssekretär Wilz, könnte es denn sein, daß chilenische Generäle, Admiräle usw., also chilenische Obristen hier in der Bundesrepublik mit Generälen und Offizieren der Bundeswehr Kontakte gehabt haben? Und könnte es sein, daß es über diese Gespräche Protokollnotizen oder Gesprächsnotizen gibt?

Bernd Wilz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002521

Herr Kollege, unabhängig davon, daß es sich um eine hypothetische Frage handelt, wird es sicherlich möglich gewesen sein, daß chilenische Offiziere in der Bundesrepublik Deutschland gewesen sind. Daß sie aber von einem deutschen Offizier eine so absurde Aussage gehört haben könnten, halte ich nicht für vorstellbar.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Eine zweite Zusatzfrage.

Konrad Gilges (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000680, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich gebe Ihnen zu, daß es eine hypothetische Frage sein könnte. Haben Sie denn einmal diese hypothetische Fragestellung, ob es zwischen 1987 und dem jetzigen Zeitpunkt solche Treffen gegeben hat, nachgeprüft?

Bernd Wilz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002521

Herr Kollege, es ist möglich nachzuprüfen, welche chilenischen Offiziere sich offiziell in der Bundesrepublik Deutschland befunden haben. Es ist aber nicht möglich, nachzuprüfen, ob sich irgendwelche chilenische Offiziere auf Privatreisen in der Bundesrepublik Deutschland, in Europa oder sonstwo befunden haben.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Die zweite Frage ist mit diesen Antworten - nach Ihrer Einschätzung, Herr Kollege, - nicht konsumiert. Deshalb rufe ich die Frage 35 des Kollegen Konrad Gilges auf: Kann die Bundesregierung dem Inhalt der Aussage zustimmen, die angeblich deutsche Generäle beziehungsweise Offiziere dem Chilenen Augusto Pinochet gegenüber bestätigt haben, daß die Bundeswehr eine „Armee von Drogensüchtigen, Langhaarigen, Gewerkschaftern und Homosexuellen" sei?

Bernd Wilz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002521

Die in Rede stehende Aussage ist der Bundesregierung bekannt. Sie entbehrt jeglicher Grundlage. Die Bundesregierung weist sie in jeder Hinsicht zurück. Im übrigen weise ich darauf hin, daß der chilenische Botschafter in Bonn sein ausdrückliches Bedauern über diese Äußerungen bekundet hat. Sie werden seitens der chilenischen Regierung in keiner Weise geteilt.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Eine Zusatzfrage.

Konrad Gilges (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000680, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ist denn der chilenischen Regierung ein Protestschreiben der Bundesregierung vorgelegt worden? Ist der chilenische Botschafter zitiert worden? Hat der Bundeskanzler anläßlich eines Gespräches, das er vor Tagen mit dem Präsidenten des chilenischen Senats geführt hat, seinen Protest über die in Rede stehende Aussage, wie Sie sagen, vorgetragen?

Bernd Wilz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002521

Herr Kollege, ich darf zunächst darauf hinweisen, daß sich der chilenische Staatssekretär des Verteidigungsministeriums vor etwa dreieinhalb Monaten in der Bundesrepublik Deutschland befunden hat. Es handelt sich bei ihm um einen Zivilisten, um das ganz deutlich zu sagen. Wir haben ein umfassendes Gespräch gehabt. Wie Ihnen sicherlich bekannt ist, hat der in Rede stehende chilenische General ja schon einmal so ähnliche Äußerungen von sich gegeben. Wir haben über diese Äußerungen gesprochen, und auch dieser Staatssekretär hat mir versichert, daß dies völlig absurd sei. Nachdem diese Aussage erneut öffentlich wurde, hat von sich aus sofort, noch am selben Tag, der chilenische Botschafter auf der Hardthöhe, d. h. im Bundesministerium für Verteidigung, angerufen und sich dafür entschuldigt. Ich glaube, mehr kann man von einem Politiker, von einem Botschafter nicht erwarten. Im übrigen darf ich darauf hinweisen, daß sich der in Rede stehende General nicht mehr in Regierungsverantwortung befindet, sondern in Chile nur noch militärische Aufgaben wahrzunehmen hat.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Bitte.

Konrad Gilges (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000680, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Parlamentarischer Staatssekretär, der in Rede stehende General ist ja immerhin noch Oberkommandierender der chilenischen Streitkräfte. Hat das dann zur Konsequenz, daß mögliche Kontakte der Bundeswehr mit den chilenischen Streitkräften, deren Oberkommandierender dieser General ist, auf Grund dieser Aussage eingestellt werden, bis die chilenischen Streitkräfte bzw. die chilenische Regierung in der Lage sind, sich einen Oberkommandierenden der Streitkräfte zu geben, der solche unverschämten Aussagen über die Bundeswehr nicht mehr tätigt?

Bernd Wilz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002521

Herr Kollege, ich habe erstens darauf hingewiesen, daß sich der Botschafter namens seiner Regierung entschuldigt hat. Zweitens. Wie mir der Staatssekretär aus dem Verteidigungsministerium Chiles versichert hat, sei man auf einem guten politischen Wege, sich an der Bundeswehr, an der Inneren Führung, an unserem Bild des Staatsbürgers in Uniform zu orientieren und auszurichten und dies nach Chile zu bringen. Sie haben darum gebeten, daß wir sie auf diesem Wege unterstützen, daß wir chilenischen Offizieren die Möglichkeit geben, in Deutschland - auf der Führungsakademie oder bei anderen Gelegenheiten - in die Innere Führung eingewiesen zu werden. Wir prüfen dies von Fall zu Fall. Im übrigen darf ich darauf hinweisen, daß man dort, wo es zu Kontakten mit deutschen Bundeswehroffizieren kommt, immer nur einen sehr guten und positiven Eindruck von der Bundeswehr gewinnen kann.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Weitere Zusatzfragen werden nicht gestellt. Damit ist dieser Geschäftsbereich beendet. Ich bedanke mich, Herr Parlamentarischer Staatssekretär. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesminister für Verkehr auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Wolfgang Gröbl zur Verfügung. Ich rufe die Frage 36 der Kollegin Dr. Elke Leonhard-Schmid auf. - Kollegin Dr. Elke LeonhardSchmid ist nicht im Raum. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen. Der Kollege Peter Conradi hat um schriftliche Beantwortung der Frage 37 gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Die Kollegin Margrit Wetzel hat ihre beiden Fragen 38 und 39 zurückgezogen. Die Frage 40 der Abgeordneten Gabriele Wiechatzek sowie die Fragen 41 und 42 der Abgeordneten Antje-Marie Steen werden auf Wunsch der Fragestellerinnen schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich danke Ihnen für Ihre Bereitschaft. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf. Der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Paul Laufs steht zur Beantwortung zur Verfügung. Ich rufe die Frage 43 der Kollegin Siegrun Klemmer auf: Was unternimmt die Bundesregierung, um die drohende Auflösung der Abteilung der Brüsseler EG-Kommission, die über die Umsetzung und Anwendung der Umweltrichtlinien wacht, abzuwehren und die Wiedereinstellung bereits entlassenen Personals sowie Neueinstellungen zu erreichen? Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Prof. Dr. Paul Laufs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001293

Frau Kollegin Klemmer, eine entsprechende schriftliche Anfrage der Abgeordneten Frau Monika Ganseforth hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit am 21. September 1992 wie folgt beantwortet - ich zitiere -: Der Bundesregierung ist nicht bekannt, daß diese Abteilung der Generaldirektion XI Umwelt, nukleare Sicherheit und Katastrophenschutz - der Kommission aufgelöst werden soll. Zu etwaigen internen Organisationsüberlegungen innerhalb der Kommission nimmt die Bundesregierung üblicherweise nicht Stellung. Die Bundesregierung nimmt diese Frage aber zum Anlaß, zu betonen, daß sie der der Kommission nach dem EWG-Vertrag obliegenden Aufgabe, über die Einhaltung des gemeinschaftlichen Umweltrechts in den Mitgliedstaaten zu wachen, große Bedeutung beimißt. Sie wird sich, falls erforderlich, nachdrücklich dafür einsetzen, daß die Kommission diese Aufgabe auch weiterhin wirksam wahrnimmt. Dieser Antwort habe ich nichts hinzuzufügen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin.

Siegrun Klemmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001125, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, sehen Sie sich in der Lage, im Zusammenhang mit der Prüfung dieses Sachverhalts möglicherweise auch darauf hinzuweisen, daß diese stets überlastete Abteilung personell aufgestockt werden müßte?

Prof. Dr. Paul Laufs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001293

Frau Kollegin Klemmer, zunächst möchte ich darauf hinweisen, daß der Generaldirektor GD XI selbst diese Meldung in dem Magazin dementiert hat und darauf hofft, daß das Dementi bald veröffentlicht wird. Im übrigen mißt die britische Präsidentschaft der Aufgabe der Kontrolle der Umsetzung und Durchführung des EG-Umweltrechts große Bedeutung bei. Das gilt auch für die Bundesregierung. Das ist eine unverzichtbare Aufgabe, die effektiv erfüllt werden muß.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Eine zweite Zusatzfrage.

Siegrun Klemmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001125, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Können Sie in diesem Zusammenhang etwas über deutsche Erfahrungen mit dieser Kommission sagen? Hat diese Kommission Veranlassung gehabt, in Deutschland, ähnlich wie z. B. in Italien oder in anderen Ländern, Beanstandungen vorzunehmen, und können Sie die Art dieser Beanstandungen, wenn es denn solche gegeben hat, spezifizieren?

Prof. Dr. Paul Laufs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001293

Frau Kollegin Klemmer, es ist nicht ganz einfach, Ihrer Frage die Zielrichtung zu entnehmen. Aber ich möchte antworten, daß im Augenblick 23 Vertragsverletzungsverfahren, übrigens überwiegend formalrechtlicher Art, gegen die Bundesrepublik Deutschland beim Europäischen Gerichtshof betrieben werden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Gibt es weitere Zusatzfragen dazu? - Das ist nicht der Fall. Dann rufe ich die Frage 44 unserer Kollegin Ulrike Mehl auf: In welcher Weise setzt sich die Bundesregierung auf EG-Ebene dafür ein, daß der vorgelegte Entwurf der „Verordnung des Rates zur Regelung des Besitzes von und des Handels mit Exemplaren wildlebender Tier- und Pflanzenarten" in dieser Form nicht verabschiedet wird, sondern grundlegende Verbesserungen erfährt, und mit welchen Ländern arbeitet die Bundesregierung in dieser Frage zusammen? Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Prof. Dr. Paul Laufs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001293

Frau Kollegin Mehl, die Bundesregierung ist ebenso wie der Bundesrat und der Umweltausschuß des Deutschen Bundestages der Meinung, daß der genannte Verordnungsvorschlag der EG-Kommission in der vorliegenden Fassung nicht verabschiedet werden sollte. Deshalb hat die deutsche Delegation in der Sitzung der Ratsgruppe „Umweltfragen" am 22. Juli 1992 in Brüssel ein umfangreiches Arbeitspapier mit Änderungsvorschlägen zu den wichtigsten Verordnungsbestimmungen vorgelegt. Diese Änderungsvorschläge verfolgen u. a. das Ziel, erstens den Geltungsbereich der Verordnung auf alle schutzbedürftigen Tier- und Pflanzenarten auszudehnen, d. h. das Vorsorgeprinzip stärker zu verankern; zweitens die für den Vollzug des Artenschutzrechts wichtigen Regelungen in der EG-Verordnung abschließend zu treffen - dazu gehören vor allem Besitz-, Verkehrs- und Vermarktungsverbote für alle EG-rechtlich geschützten Arten -; drittens den Entwurf zu straffen und verständlicher zu machen. Das Bundesumweltministerium hat auf politischer Ebene und auf Fachebene Gespräche insbesondere mit dem Vereinigten Königreich geführt, das derzeit die Präsidentschaft innerhalb der EG wahrnimmt.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin.

Ulrike Mehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001454, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Laufs, können Sie mir die Information, die ich gestern bekam und die Ihrem Hause entstammen soll, bestätigen, daß diese Artenschutzverordnung auf unabsehbare Zeit auf Eis gelegt worden ist, also nicht im Herbst verabschiedet werden soll, weil die Engländer massive Einwände haben und einen eigenen, völlig neuen Verordnungsentwurf vorgelegt haben?

Prof. Dr. Paul Laufs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001293

Frau Kollegin, nachdem die EG-Kommission die umfangreichen Änderungswünsche des Europäischen Parlaments nicht aufgegriffen hat, erwarten wir, daß die EG-Präsidentschaft noch im kommenden Monat, also im Oktober, einen Kompromißvorschlag vorlegen wird.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Eine zweite Zusatzfrage.

Ulrike Mehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001454, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In welchem zeitlichen Rahmen kann nach Ihrer Schätzung über eine Verordnung geredet werden? Dieser eventuell neue Kompromißvorschlag müßte dann auch wieder auf unserem Tisch landen, und wir müßten darüber reden. Haben Sie eine Vorstellung davon, welchen zeitlichen Horizont es dafür gibt?

Prof. Dr. Paul Laufs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001293

Da nach dem 1. Januar 1993 im gemeinsamen Binnenmarkt die Vorschriften über Importe und Exporte besonders geschützter Arten an allen Außengrenzen der EG einheitlich geregelt sein müssen, besteht schon die Vorstellung, daß bis zu diesem Zeitpunkt die EG-Verordnung in Kraft sein wird. EG-Verordnungen sind ja unmittelbar geltendes Recht. Sie müssen nicht mehr in nationales Recht umgesetzt werden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Weitere Zusatzfragen dazu werden nicht gewünscht. Dann rufe ich die Frage 45 auf, die ebenfalls die Kollegin Ulrike Mehl gestellt hat: Welches Konzept hat die Bundesregierung entwickelt, um in Deutschland den Artenschutz generell zu verbessern und weiterzuentwickeln, und welche Schritte gedenkt sie in dieser Hinsicht zu unternehmen, wenn der vorliegende EG-Verordnungsentwurf verabschiedet werden sollte? Bitte sehr. Dr. Paul Laufs, Pari. Staatssekretär: Frau Kollegin Mehl, die Bundesregierung ist derzeit nicht in der Lage, ein Konzept für eine Verbesserung des nationalen Artenschutzrechts vorzulegen, da zunächst abgewartet werden muß, welchen gesetzgeberischen Spielraum die Mitgliedstaaten nach Verabschiedung der EG-Verordnung noch haben. Es ist jedoch bereits heute abzusehen, daß einige Regelungsbereiche, z. B. die Ein- und Ausfuhr, abschließend durch EG-Recht geregelt werden und damit eine Novellierung des nationalen Artenschutzrechts, insbesondere des Artenschutzabschnitts im Bundesnaturschutzgesetz und in der Bundesartenschutzverordnung, erforderlich wird.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Eine Zusatzfrage.

Ulrike Mehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001454, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gibt es denn irgendeine Idee, wie nach Inkrafttreten des Binnenmarktes das Kontrolldefizit beim Vollzug dieser Artenschutzverordnung - das wir ja jetzt schon haben und das dann noch größer werden wird -, d. h. das Defizit beim Vollzug durch die Länder und die Kreise, aufgefangen werden kann? Dazu muß es ja Vorstellungen geben. Ich denke hierbei z. B. auch an die Außengrenzen der EG, die zum Teil noch weiter zu fassen sind. Das Beispiel Französisch Guyana wird immer wieder genannt. Das gehört dann nämlich auch zur EG. Wie wollen Sie also dann in Deutschland gewährleisten, daß in Sachen Artenschutz Kontrollen überhaupt noch möglich sind? Dies frage ich unabhängig davon, ob jetzt schon konkrete Entscheidungen vorliegen. Irgend eine Vorstellung darüber, wie das überhaupt noch möglich sein soll, muß es ja geben.

Prof. Dr. Paul Laufs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001293

Wie bereits gesagt, läßt eine Verordnung keine Spielräume für die nationale Umsetzung. Eigenständiges nationales Recht wird es nur dort geben, wo die EG-Verordnung eine nationale Gestaltungsfreiheit zuläßt. Es ist durchaus vorstellbar, daß hinsichtlich der Durchführung und des Vollzugs die nationalen Standards der Kontrollmechanismen weiterhin national bestimmt werden können. Die Bundesregierung wird ihren Einfluß in dieser Richtung geltend machen, wenn es nicht schon in der EG-Verordnung gelingt, diese Fragen in unserem Sinne abschließend zu regeln.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, Sie haben noch eine Zusatzfrage. Aber bitte keinen zweiten Debattenbeitrag.

Ulrike Mehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001454, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. Meinen Sie nicht, daß Natur- und Artenschutz grenzübergreifend gestaltet werden muß? Das ist ja immer die Argumentation in der EG. Meinen Sie nicht, daß das auch koordiniert werden muß, und zwar dann auf Bundesebene, und daß das Thema Artenschutz in dem Zusammenhang

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, eine Frage!

Ulrike Mehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001454, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- ich komme ja dazu - gemessen werden muß an den Inhalten und nicht an den Verordnungen, daß sich also die Bundesregierung unabhängig von dem Zustandekommen dieser Verordnung und vom Inhalt dieser Verordnung unbedingt mit dem Thema Artenschutz befassen müßte?

Prof. Dr. Paul Laufs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001293

Ich stimme Ihnen zu. Die Bundesregierung setzt sich intensiv dafür ein, den hohen deutschen Standard des Artenschutzes zu halten.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Weitere Zusatzfragen dazu werden nicht gestellt. Für die Frage 46 hat der Abgeordnete Horst Kubatschka - ebenso wie bei der von ihm gestellten Frage 25 aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft - um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Damit, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ist Ihr Geschäftsbereich abgeschlossen. Ich bedanke mich für die Beantwortung der Fragen. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft auf. Zur Beantwortung der Fragen ist der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Norbert Lammert erschienen. Ich rufe die Frage 47 des Kollegen Hans-Günther Toetemeyer auf: Ist die Bundesregierung darüber informiert, daß der für 1993 geplante Neubau des Fachbereichs Elektrotechnik der Fernuniversität-Gesamthochschule Hagen auf Grund des Beschlusses des Bundeskabinetts, statt der vereinbarten und vom Wissenschaftsrat für mindestens notwendig erachteten 2 Mrd. DM 1993 nur 1,6 Mrd. DM für den Hochschulbau bereitzustellen, gefährdet ist? Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Toetemeyer, es gibt bislang keine Vereinbarung über Hochschulbaumitel von 2 Milliarden DM für das Jahr 1993, und der geplante Neubau in Hagen ist durch das Nichtvorhandensein dieser Vereinbarung auch nicht unmittelbar gefährdet. Ich will versuchen, beides zu erläutern. Nach dem gültigen 21. Rahmenplan für den Hochschulbau im Jahre 1992 stellt der Bund, wie die Lander insgesamt auch, 1,6 Milliarden DM zur Verfügung. Eine Vereinbarung über eine Erhöhung der Mittel auf 2 Milliarden DM für 1993 hat es bislang nicht gegeben. Richtig ist, daß der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft für den Regierungsentwurf des Bundeshaushaltes 1993 2 Milliarden DM angemeldet hatte. Nachdem dieser Titel bis zur Kabinettssitzung mit dem Bundesminister der Finanzen streitig blieb, hat sich das Bundeskabinett gegen eine solche Erhöhung und für eine Fortschreibung der 1,6 Milliarden DM auch für 1993 entschieden. Auch wenn der Wissenschaftsrat, der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft und die Länder im Hinblick auf den Bedarf 2 Milliarden DM für erforderlich erklärt haben, hat es bedauerlicherweise, wie ich gerade dargelegt habe, eine Vereinbarung über ein solches Volumen für das nächste Jahr bislang noch nicht gegeben. Dies hat keine Auswirkung auf den geplanten Neubau für Elektrotechnik der FernuniversitätGesamthochschule Hagen, da das Land NordrheinWestfalen zum 22. Rahmenplan, über den wir reden, gar keine endgültige Freigabe dieses Bauvorhabens beantragt hatte. Das heißt, selbst bei einer Verabschiedung des 22. Rahmenplans hätte dieses Vorhaben nicht begonnen werden können.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Toetemeyer.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, bin ich richtig informiert, daß dieser Bau Bestandteil des 21. Rahmenplans ist, über den Einvernehmen zwischen Bund und Ländern besteht, mit dem Ihnen bekannten Schlüssel 50 : 50?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Toetemeyer, Sie wissen vielleicht, daß der Wissenschaftsrat regelmäßig die Rahmenpläne fortschreibt und daß es in diesen Rahmenplänen unterschiedliche Kategorien von Bauvorhaben gibt: solche, die als Absicht angemeldet sind, solche, die sich im Planungsstadium befinden, und solche, die für eine Baufreigabe anstehen. Für das von Ihnen nachgefragte Bauvolumen hat es einen Antrag auf Baufreigabe für den 22. Rahmenplan durch das zuständige Land Nordrhein-Westfalen bislang nicht gegeben.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zweite Zusatzfrage.

Hans Günther Toetemeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002336, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Entschuldigen Sie, Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Meine Frage war: Ist dieser Bau nicht schon Bestandteil des 21. Rahmenplans? So bin ich informiert.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Wenn überhaupt, dann allenfalls im Planungsstadium. Es hat aber nicht einmal einen Antrag, geschweige denn eine Beschlußfassung zur Baufreigabe gegeben. Diese wäre unbeschadet vom Volumen dieses Rahmenplans für den Hochschulbau Voraussetzung für eine Baufreigabe, nach der Sie gefragt haben.

Hans Günther Toetemeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002336, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Also sind wir unterschiedlich informiert. Ich komme zur Zusatzfrage.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Verzeihung, Sie haben zwei Zusatzfragen gestellt.

Hans Günther Toetemeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002336, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein! Ich habe nur darauf hingewiesen, daß meine Frage nicht beantwortet worden ist, Herr Präsident. ({0}) Es gibt eine Differenz in der Auffassung. Er sagt: 22. Rahmenplan. Ich sage: 21. Rahmenplan.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege, bitte lassen Sie uns nicht debattieren. Herr Toetemeyer, Sie haben ja, rhetorisch begabt und parlamentarisch erfahren, die Möglichkeit, bei Ihren nächsten beiden Zusatzfragen gegebenenfalls noch das unterzubringen, was Sie für offenhalten. Da es dazu keine weitere Zusatzfrage aus dem Kreis der Kolleginnen und Kollegen gibt, rufe ich jetzt die Frage 48 des Abgeordneten Hans-Günther Toetemeyer auf: Wie vereinbart die Bundesregierung den Baustopp mit der absoluten Dringlichkeit dieses Bauprojektes sowie der Verantwortung des Bundes, die er im Rahmen der gesetzlich verankerten „Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau" zu übernehmen hat? Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bitte um Beantwortung.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Toetemeyer, wie ich in der Erläuterung zu Ihrer ersten Frage deutlich zu machen versucht habe, ist es zu einem Baustopp beim geplanten Neubau für Elektrotechnik der Fernuniversität-Gesamthochschule Hagen nicht gekommen, da bislang ein solches Vorhaben vom Wissenschaftsrat zur Baufreigabe noch nicht empfohlen worden ist. Per Definition kann ein Baustopp nur dann eintreten, wenn die Baufreigabe irgendwann vorher erfolgt war.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Erste Zusatzfrage, Herr Kollege Toetemeyer.

Hans Günther Toetemeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002336, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Unter der Voraussetzung, daß Sie falsch informiert sind und tatsächlich ein Bauantrag des Landes Nordrhein-Westfalen in diesem Falle vorliegt - so ist meine Information -: Ist Ihnen bekannt, daß von dieser Verringerung der Mittel, die Sie bestätigt haben - die Zusage des Finanzministers ist ja geringer als die Anforderung des Fachministers -, insgesamt Bauvorhaben des Landes Nordrhein-Westfalen aus dem 21. Rahmenplan von 110 Millionen DM betroffen sind?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Toetemeyer, wir haben überhaupt keine Meinungsverschiedenheit darüber, daß es wesentlich mehr beantragte als freigegebene Bauvorhaben gibt. Das konkrete Bauvorhaben, über das wir reden, befindet sich in der Planung, ist aber bislang weder zur Baufreigabe beantragt noch durch Empfehlung des Wissenschaftsrats und Beschlußfassung freigegeben worden. Richtig ist, daß das verfügbare Bauvolumen von der Gesamtausstattung eines solchen Haushaltstitels wesentlich abhängt. Daß bei einer größeren Dotierung auch ein größeres Volumen an Bauvorhaben realisiert werden kann, wenn die entsprechende Antragsreife erreicht ist, ist unstreitig.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zweite Zusatzfrage.

Hans Günther Toetemeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002336, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zweite und letzte, Herr Präsident. Ist der Bundesregierung bekannt, daß bei laufenden Bauvorhaben - bei laufenden Bauvorhaben! -, die mitfinanziert werden, das Land Nordrhein-Westfalen bereits mit 141 Millionen DM in Vorlage getreten ist, für die der Bund auf Grund seiner vertraglichen Verpflichtung noch Zahlungen zu leisten hat, was für das Land Nordrhein-Westfalen eine jährliche Zinsbelastung von präterpropter 14 Millionen DM bedeutet?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Es gibt in der Tat Vorleistungen der Länder, die auch für Nordrhein-Westfalen - das ist wahr - noch Finanzansprüche gegenüber dem Bund begründen. Ich kann Ihnen aus dem Stand die präzise Zahl jetzt verständlicherweise nicht bestätigen, will aber auch nicht ausschließen, daß sie diese Größenordnung annehmen könnte. Was im übrigen laufende Bauvorhaben angeht, so ist durch das bisher nicht erfolgte Zustandekommen des 22. Rahmenplans ein Stopp für laufende Bauvorhaben nicht eingetreten. Wohl ist damit die Konsequenz verbunden, daß nicht begonnene Vorhaben jetzt nicht begonnen werden können, bevor es nicht zur Vereinbarung über einen 22. Rahmenplan kommt.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Werden dazu weitere Zusatzfragen gestellt? - Das ist nicht der Fall. Dann rufe ich die Frage 49 des Abgeordneten Dr. Gerhard Päselt auf: Inwieweit vermittelt das deutsche Bildungssystem an den Technischen Universitäten und Fachhochschulen die notwendigen Voraussetzungen ({0}) für Erfindungen? Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Päselt, der Bildungsauftrag der deutschen Hochschulen, zu denen auch die Technischen Universitäten und die Fachhochschulen gehören, ist vor allem in § 2 des Hochschulrahmengesetzes beschrieben. Das Ziel des Studiums ist die Vorbereitung auf ein berufliches Tätigkeitsfeld und die Vermittlung dafür erforderlicher fachlicher Kenntnisse, Fähigkeiten und Methoden in bestimmten Studiengängen. Aus Vereinfachungsgründen darf ich insofern jetzt auf die entsprechenden Festlegungen des Hochschulrahmengesetzes verweisen. In diesem Rahmen werden - ohne spezifische Bezugnahme auf Erfinder - jeweils die für ein bestimmtes berufliches Tätigkeitsfeld notwendigen Ausbildungsinhalte vermittelt. Außerhalb der Hochschulen gibt es unterschiedliche Interessenvereinigungen für Erfinder, so z. B. den Deutschen Erfinderverband und die „Deutsche Aktionsgemeinschaft Bildung-Erfindung-Innovation e. V." mit dem schönen Kürzel „DABEI" in Bonn. Insbesondere der letztgenannte Verein veranstaltet seit nunmehr zehn Jahren Tagungen und Workshops für Erfinder. Seit einigen Jahren arbeitet er auch mit verschiedenen französischen und internationalen Vereinigungen ähnlicher Zielvorstellung zusammen. Diese auch von der Kommission der Europäischen Gemeinschaft geförderten Erfinderkongresse dienen dazu, der Innovation in deutschen und europäischen Unternehmen bessere Voraussetzungen, der Erfindung größere Chancen und der Bildung für kreative Leistungen neue Impulse zu verschaffen. In dieser Zielsetzung sind diese Organisationen vergleichbar den früheren „Erfinderschulen" der DDR, die Sie bei Ihrer Frage vielleicht auch im Hinterkopf hatten und die in der Trägerschaft der Kammer der Technik regelmäßige Kreativitätstrainings und entsprechend ausgerichtete Workshops veranstalteten. Ich darf Sie in diesem Zusammenhang aber vielleicht auch auf die in der Bundesrepublik mannigfach ausgeprägte Förderung Hochbegabter hinweisen, die insofern natürlich auch für diesen Aspekt des Erfindernachwuchses bedeutsam sein kann, insbesondere soweit er sich im Rahmen einer regulären Ausbildung befindet. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang die zahlreichen Wettbewerbe, die vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft und weiteren Trägern gefördert werden wie etwa die Wettbewerbe und Olympiaden für Mathematik, Physik, Chemie und Informatik sowie der Jugendwettbewerb „Jugend forscht". Hier bestehen besondere Förderungsmöglichkeiten für etwa dieselben Zielgruppen, die in der DDR in Erfinderschulen, in mathematisch-naturwissenschaftlich ausgerichteten Schülergesellschaften und den von ihnen veranstalteten Wettbewerben zusammengefaßt wurden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zusatzfragen? - Das ist nicht der Fall. Dann sind wir mit Ihrem Geschäftsbereich am Ende; denn die Kollegin Würfel hat um schriftliche Beantwortung der Frage 50 gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Dann rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern auf. Wir haben noch eine Minute Zeit. Ich will dem Haus nur sagen, daß Sie, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Lintner, freundlicherweise zur Verfügung gestanden hätten. Ich teile Ihnen allerdings mit, daß die Fragen 64 und 65 des Abgeordneten Dr. Dietrich Mahlo, 66 der Abgeordneten Gabriele Wiechatzek, 67 der Abgeordneten Ingrid Köppe sowie 68 und 69 des Abgeordneten Ernst Hinsken auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Die für die Fragestunde vorgesehene Zeit ist abgelaufen. Ich schließe die Fragestunde. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10a und b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung von Kriegsfolgengesetzen ({0}) - Drucksache 12/3212 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({1}) Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO b) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Heimkehrerstiftung und die Aufhebung des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes - Drucksache 12/1435 - aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2}) - Drucksache 12/1932 Berichterstattung: Abgeordnete Erika Steinbach-Hermann Gerd Wartenberg ({3}) Vizepräsident Hans Klein bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({4}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 12/1933 Berichterstattung: Abgeordnete Karl Deres Ina Albowitz Rudolf Purps ({5}) Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Es ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, unserem Kollegen Horst Waffenschmidt.

Dr. Horst Waffenschmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002403

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der wichtigste Schwerpunkt beim Kriegsfolgenbereinigungsgesetz sind die Regelungen für die weitere Aufnahme von deutschen Aussiedlern aus den Aussiedlungsgebieten im Osten und Südosten Europas. Ich möchte heute hier dafür werben, daß wir - entsprechend dem Entwurf dieses Gesetzes - bei der bewährten Aussiedlerpolitik bleiben, die in den letzten Jahren auch von einer breiten Mehrheit des Bundestages, von Bund, Ländern und Gemeinden unterstützt worden ist. Diese Aussiedlerpolitik hat zwei wesentliche Elemente: erstens Hilfen für die Deutschen in den Aussiedlungsgebieten - wir haben heute morgen ja schon bei einer anderen Debatte über die Initiativen für ihre kulturelle Geborgenheit in diesen Siedlungsgebieten gesprochen -, zweitens ein Aussiedleraufnahmeverfahren, wie es seit dem 1. Juli 1990 gilt, mit den wesentlichen Elementen: Antragstellung vom heutigen Wohnsitz und Einreisemöglichkeit nach Deutschland erst dann, wenn ein Aufnahmebescheid erteilt wurde. Diese Aussiedlerpolitik hat sich bewährt. Sie gibt allen Beteiligten klare und verläßliche Orientierungspunkte. Wesentliche Ergebnisse dieser Politik sind - ich nenne einige Schwerpunkte -: Erstens. In Rußland wurden erste deutsche Landkreise errichtet. Ein Vertrag über die Wiederherstellung der deutschen Wolgarepublik wurde mit der russischen Regierung abgeschlossen. An der Wolga und in der Südukraine sind Schwerpunktsiedlungen für die Deutschen im Aufbau. Zweitens. Rund 200 000 Deutsche, die einen Aussiedleraufnahmebescheid für Deutschland bekommen haben, sind bisher nicht nach Deutschland gekommen. Es sind Aussiedler aus den Republiken der GUS, aus Rumänien, aus Polen und anderen Staaten Ost- und Südosteuropas. Sie sind deshalb nicht gekommen, weil sie die weitere Entwicklung in ihren heutigen Siedlungsgebieten abwarten - eine, wie ich finde, wichtige Entscheidung dieser Menschen. Drittens. Seit dem vergangenen Jahr hat sich die Zahl der Aufnahmeanträge um rund 60 % vermindert, die aus den Republiken der ehemaligen Sowjetunion um rund 30 %. Viertens. Die Zahl der nach Deutschland kommenden Aussiedler hat sich bei rund 200 000 im Jahr verstetigt. Fünftens. Ein intensives Prüfungsverfahren bei den zuständigen Dienststellen des Bundes und der Länder sorgt für Rechtssicherheit. Wer die Voraussetzungen als deutscher Aussiedler nicht erfüllt, bekommt den Ablehnungsbescheid in seinem heutigen Wohnort. Wer den Aufnahmebescheid erhält, kann grundsätzlich sicher sein, daß er in Deutschland bei Bund, Ländern und Gemeinden Aufnahme findet. Sechstens. Bei den mehreren hunderttausend Anträgen, die noch in Bearbeitung sind, betreiben Bund und Länder - das will ich ausdrücklich sagen - keine Quotierung auf kaltem Weg, sondern mit vielen Mitarbeitern die intensive Prüfung aller Unterlagen. Das ist oft mühevoll; denn notwenige Korrespondenz muß häufig bis hin nach Mittelasien geführt werden. Ich will hier erwähnen, daß allein der Bund die Zahl seiner Mitarbeiter in diesem Verfahren von früher rund 40 - genau waren es 38 - auf rund 800 erhöht hat, um hier zügig arbeiten zu können. An dieser Stelle möchte ich allen Verantwortlichen bei Bund, Ländern und Gemeinden, bei Kirchen und sozialen Verbänden, in Wirtschaft und Gewerkschaften und vielen weiteren Bereichen herzlich für ihre Unterstützung für diese Politik danken. Wir alle, denke ich, dürfen Befriedigung darüber empfinden, daß es uns gelungen ist, in diesem für viele Menschen entscheidenden Aufgabengebiet eine große Gemeinschaftsleistung zu erbringen, sowohl für die, die hier integriert werden konnten, wie auch für die, für die wir etwas in ihren heutigen Siedlungsgebieten tun. Das ist, finde ich, eine gute, sehenswerte deutsche Gemeinschaftsleistung. Dafür gilt allen herzlicher Dank. ({0}) Mit großem Nachdruck möchte ich feststellen: Wenn bei dem anstehenden Gesetzgebungsverfahren von dem jetzt bewährten Aufnahmeverfahren und damit auch von diesen bewährten Elementen der Aussiedlerpolitik, die ja alle ineinander verzahnt sind, abgewichen wird, dann besteht die große Gefahr, daß unter den betroffenen Millionen Deutschen in Ost- und Südosteuropa eine Panikstimmung ausbricht, weil sie die Sorge haben, auf Dauer werde ihnen eine Aussiedlung nach Deutschland unmöglich gemacht. Nach sehr, sehr vielen Gesprächen mit Deutschen in den Aussiedlungsgebieten in den letzten Monaten weiß ich, daß jede Form von Fristsetzung und Quotenbildung als Abkehr vom bisherigen Aussiedleraufnahmeverfahren gewertet wird. ({1}) Die Folge wäre - ich bitte, daß wir uns das ganz genau vor Augen halten, - daß erheblich mehr deutsche Aussiedler nach Deutschland kommen woll9146 ten, als es der Fall wäre, wenn das jetzige eingespielte, verstetigende Verfahren beibehalten würde. ({2}) Das ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt für die Aufgaben, die in der Einzelberatung anstehen. Im Hinblick auf politische Initiativen mit dem Ziel, Fristsetzungen oder Quoten für deutsche Aussiedler zu erreichen, ist festzustellen: Diese Initiativen helfen in der Sache gar nichts. Sie werden aber Ängste, Sorgen und Belastungen für alle Beteiligten auslösen. Und dies sollten wir vermeiden. ({3}) Fristen und Quotierungen würden sich schwerpunktmäßig gegen die Rußlanddeutschen richten. Weil oft erwähnt wird, nun seien schon so viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg vergangen, will ich hier deutlich feststellen: Die Rußlanddeutschen konnten im wesentlichen erst seit 1988 aus ihren heutigen Wohnorten ausreisen. Jahrzehntelang mußten die meisten von ihnen in den Verbannungsgebieten Asiens leben, ({4}) in die Stalin sie verschleppt hatte, ohne daß sie auch nur eine Chance für eine Ausreise hatten. Ich meine, man muß deutlich herausstellen: Für die, die erst seit kurzem überhaupt eine Ausreisechance sehen, geht der Zweite Weltkrieg mit allen seinen schlimmen Folgen - das haben mir auch betroffene Menschen selbst gesagt - erst in diesen Zeiten langsam zu Ende. ({5}) Für das jetzt angelaufene Gesetzgebungsverfahren wünsche ich uns darum eine Beratung, die sich an den Fakten der bisherigen bewährten Politik orientiert, vor allem an den berechtigten Bedürfnissen der betroffenen Menschen. Dabei haben - das will ich hier deutlich sagen; das kann man, glaube ich, auch ruhig für alle Kolleginnen und Kollegen quer durch die Fraktionen, die sich damit befassen, feststellen - alle Verantwortlichen den Deutschen in den Aussiedlungsgebieten immer wieder klargemacht - bei mehreren Kongressen der Rußlanddeutschen habe ich das auch selber getan -, daß Deutschland bei der Aufnahme auch nicht überfordert werden darf. Das heißt: Es dürfen nicht zu viele auf einmal kommen wollen; sonst nimmt die Aufnahmebereitschaft ab. Dies wurde offen ausgesprochen und - ich will auch das hier sagen - in vielen Bereichen von den Betroffenen akzeptiert. Dies ist ein wichtiges Faktum. Wir haben mit dem bisherigen Verfahren auch erreicht, daß sich die Menschen auf diese Orientierungspunkte eingestellt haben. Der Ihnen vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Bereinigung von Kriegsfolgen knüpft an diese vorgegebenen Rahmenbedingungen an und trägt ihnen konsequent Rechnung. Seine Grundzüge lassen sich wie folgt umschreiben: Das Bundesvertriebenengesetz bleibt die Rechtsgrundlage für die Statusgewährung und die Eingliederung der künftig als Spätaussiedler bezeichneten Aussiedler. Dies ist nicht nur gerechtfertigt, weil sich das Instrumentarium des Gesetzes bewährt hat, sondern weil die Spätaussiedler wegen ihres besonderen Schicksals gleichsam als die Nachzügler der ehemals Vertriebenen und der Aussiedler anzusehen sind. In der mir verbleibenden Zeit möchte ich einige Worte zu den Integrationsaufgaben sagen, weil sie in der Gesamtdiskussion, auch in mehreren Initiativen aus dem Bundesrat, behandelt worden sind. Mit Blick auf die wichtigen Integrationsaufgaben für die deutschen Aussiedler, die zu uns kommen, wird der Bund weiterhin entscheidende Hilfe leisten. Auch 1993 werden auf Bundesebene für die Eingliederung Hilfen in Milliardenhöhe bereitgestellt. Als Aussiedlerbeauftragter der Bundesregierung hätte ich mir naturgemäß noch mehr gewünscht, als jetzt im Entwurf des Haushalts 1993 bereitgestellt werden kann. Aber auch in diesem Aufgabenbereich mußte ein Beitrag für die notwendigen Einsparungen geleistet werden. Dies muß man klar aussprechen. Schwerpunkte bleiben die Sprachförderung, auch wenn sie jetzt im Programm auf sechs Monate zusammengedrängt ist, Garantiefonds und weitere Eingliederungshilfen für jugendliche Aussiedler, Übernahme der Kosten der Erstaufnahme und der Rückführung, Zuwendungen an zentrale Verbände und Organisationen sowie Leistungen nach dem Häftlingshilfe- und Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz. Dies alles sind auch Investitionen in eine gemeinsame Zukunft in Deutschland. Wie zahlreiche Untersuchungen feststellen, sind die Aussiedler mit ihren großen Familien und ihrer reichen Kulturtradition in vielen Bereichen letztlich ein wirtschaftlicher und kultureller Gewinn für unser Land. Das sollte man herausstellen. ({6}) Dieses Gesetz enthält ferner Regelungen zum Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz, zum Abschluß des Lastenausgleichs, zu der Stiftung, die künftig helfen soll, zu der Organisation und den Leistungen der Heimkehrerstiftung. Ich darf hier auf die einzelnen Begründungen zu dem Gesetzestext und die Erläuterungen verweisen. Insgesamt werden 19 Einzelgesetze geändert. Wir haben die Kriegsfolgen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, bis heute solidarisch und in einem weitgehenden Konsens hier im Hause, zwischen Bund, Ländern und Gemeinden und gesellschaftlichen Kräften bewältigt. Dabei sollte es, wenn irgend möglich, auch in der Abschlußphase bleiben. Ich möchte an uns alle gemeinsam appellieren, daß wir im Sinn der Schicksale, die die betroffenen Menschen erleiden mußten, die weiteren Verhandlungen hier führen, daß wir uns einig bleiben, ihnen im Rahmen unserer Möglichkeiten zu helfen, und daß wir damit auch einen Beitrag für die Zukunft unseres Volkes leisten. Parl. Staatssekretär Dr. Horst Waffenschmidt Herzlichen Dank. ({7})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun hat die Kollegin Gerlinde Hämmerle das Wort.

Gerlinde Hämmerle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000777, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin mit Ihnen, Herr Staatssekretär Waffenschmidt, in sehr vielem, was Sie hier vorgetragen haben, einer Meinung, besonders in dem, was Sie zuletzt gesagt haben. Auch ich glaube, daß die deutschen Aussiedler, die heute zu uns kommen, die letzte Gruppe der Menschen sind, die unter einem Kriegsfolgenschicksal zu leiden haben. Vor allem denke ich an diejenigen, die erleben mußten, daß Menschen von Stalin nur auf Grund der Tatsache, daß sie Deutsche sind, in schlimmster Weise behandelt wurden, deportiert und ermordet wurden und all die Schicksale erlitten haben, die wir kennen. Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß wir alles tun sollten, um die Deutschen in den ehemaligen Republiken der Sowjetunion zu halten und ihnen dort ein Lebensumfeld zu sichern, damit sie nicht gezwungen werden, mit ihren Familien hierher zu kommen; denn ich bin in der ganzen Zuwanderungsfrage - ganz egal, wo wir unterschiedlicher Auffassung sind - der Ansicht, daß Menschen nicht aus Jux und Dollerei mit ihren Familien durch die Welt ziehen, um sich irgendwo ein anderes Land zu suchen. ({0}) Deswegen sind wir gut beraten, wenn wir miteinander dafür sorgen, daß die Ursachen, die sie zum Aufbruch zwingen, dort an Ort und Stelle beseitigt werden. Dazu zählen auch die Maßnahmen, die wir für die Rußlanddeutschen - wenn ich diesen Oberbegriff nehmen darf - durchführen. Die Aussiedlung aus Rumänien ist ja quasi abgeschlossen - ich glaube, das kann man sagen -, so daß wir es hier nun mit etwa 2 Millionen Rußlanddeutschen zu tun haben. Ich bin auch froh, daß die SPD-Mitglieder im Haushaltsausschuß heute morgen den Beschluß unterstützt haben, daß dort Mittel eingesetzt werden sollen. Ich teile aber nicht Ihren Optimismus, Herr Staatssekretär, daß wir die größte Zahl der 2 Millionen Menschen durch unsere Maßnahmen in den GUS-Staaten halten können. Ich bin zutiefst überzeugt, daß Menschen, die aus Kasachstan in die Wolgarepublik ziehen sollen, nun doch noch einmal überlegen, ob sie nicht noch tausend Kilometer weiterziehen und in die Bundesrepublik kommen. Dennoch bin ich der Meinung, daß wir die Hilfsmaßnahmen und die Projekte fördern sollten, weil ich mit Ihnen und den Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen und auch meinen Kolleginnen und Kollegen einig bin, daß diese Maßnahmen in der Ukraine, in Rußland, in den sibirischen Regionen und wo auch immer doch dazu beitragen könnten, daß sie, wenn sie kommen, nicht alle auf einmal kommen. ({1}) Dieses wäre für mich ein politisches Ziel. Ich glaube aber, daß die Hilfsmaßnahmen an Ort und Stelle - wir haben es uns ja dankenswerterweise mit Ihnen zusammen anschauen können, Herr Staatssekretär - einen mehr integrierenden Charakter bekommen sollten. Ich bitte Sie, Herr Staatssekretär, sich dafür einzusetzen. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß diese Hilfsmaßnahmen so speziell für Deutsche sind, daß sie die Deutschen eher - ich sage es vorsichtig - von der übrigen Bevölkerung trennen, als sie dort zu halten. ({2}) Rußlanddeutsche haben immer schon ein stark ausgeprägtes Minderheitenverhalten gehabt. Das ist heute noch so. Ich glaube, daß wir durch Projekte, bei denen bereits optisch zu erkennen ist, daß sie für Deutsche und Russen, für Deutsche und Ukrainer usw. sind, einen besseren Effekt erzielen können. Sie haben ja zugesagt, daß Sie sich darum kümmern wollen. Ich bin nicht der Meinung, daß es gelingen kann - ich sage es überspitzt -, die landwirtschaftliche Idylle des 19. Jahrhunderts wiederherzustellen. Das werden wir nicht schaffen, auch nicht in der wieder zu errichtenden Wolgarepublik. Deswegen bitte ich, dafür zu sorgen, daß die Projekte mehr gewerblichen Charakter erhalten und sich - darum bitte ich sehr dringend - nicht ganz so weit draußen in der Steppe abspielen, sondern mehr im Umfeld der großen Städte, z. B. Saratow, so daß junge Menschen, die wir mit der Wiedererrichtung der landwirtschaftlichen Idylle ganz bestimmt nicht dort halten, eher einen Anreiz haben, in ihren eigentlichen Wohngebieten zu bleiben. ({3}) Insofern bin ich der Meinung, daß wir ohne ideologische Trennung am gleichen Strang ziehen und weiterhin am gleichen Strang ziehen sollten. Ich teile allerdings - um es noch einmal zu sagen - nicht Ihre Einschätzung, daß der größte Teil der Menschen durch diese Maßnahmen in den ehemaligen Republiken der Sowjetunion bleiben wird. Deswegen würde ich es für fahrlässig halten, wenn sich die deutsche Innenpolitik nicht auf eine große Zuwanderung einstellen würde. Da bin ich mit Ihnen der Meinung, daß die Mittel für Maßnahmen zur Integration, insbesondere für Sprachförderung, nicht einschneidend gekürzt werden sollten. Ich teile Ihre Ansicht, daß wir Städte und Gemeinden, die die Aufnehmenden sind, nicht überlasten dürfen. Nun kommt ein Punkt, Herr Staatssekretär, in dem wir uns voneinander unterscheiden. Ich glaube nämlich nicht, daß wir genau dieses gemeinsame Ziel, Städte und Gemeinden nicht zu überlasten, mit den Methoden erreichen, die wir bis jetzt anwenden und gegen die ich ja überhaupt nichts habe. Ich meine in der Tat, daß wir uns in aller Freundschaft - ich bitte, uns nicht gegenseitig zu inhumanen Monstern hochzustilisieren, wenn einer eine andere Meinung hat - langfristig doch über ein Zuwanderungskontingent in diesem Bereich unterhalten müssen. Ich glaube nicht, Herr Staatssekretär, daß eine Panik ausbricht, wenn wir es auf folgende Art und Weise machen. Ich wünsche mir, daß wir einen Stichtag festsetzen, bis zu dem der Mensch aus einem dieser Aussiedlungsgebiete kundgetan haben soll, daß er die Aussiedlung anstrebt. Ich bin nicht der Meinung, daß wir dann auch einen Stichtag festsetzen sollen, bis zu dem er hier sein muß. Wenn wir das machen, entsteht Panik. Wir sollten einen Stichtag festsetzen, bis zu dem er erklärt haben muß, daß er mit seiner Familie in die Bundesrepublik kommen möchte, und ihm sagen, daß er auch noch am SanktNimmerleins-Tag kommen kann, also nicht sofort Sack und Pack nehmen muß. Wir setzen unsererseits in Zusammenarbeit mit den Regierungen fest, wie viele wir jährlich aufnehmen. Den Schlußtermin lassen wir offen; den setzen wir überhaupt nicht. Darüber sollten wir uns ernsthaft unterhalten. Ich bin der Meinung, daß dann keine Panikreaktion auftreten wird. Die will ja auch ich nicht. Ich möchte in diesem Zusammenhang sagen, Herr Staatssekretär Waffenschmidt und liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, daß wir im Bereich der Aussiedler, der einen wesentlichen Teil der Gesamtzuwanderung in unserer Bundesrepublik ausmacht, auch bei Meinungsunterschieden immer fair, um nicht zu sagen: freundschaftlich miteinander diskutiert haben. Dafür bedanke ich mich. Dieses Klima möchte ich gern erhalten: Denn wir sollten uns nicht vormachen, daß wir den Gesamtkomplex der Zuwanderung ohne ein umfassendes Konzept werden bewältigen können. Dazu gehört nach meiner Meinung das Kontingent für die deutschen Aussiedler. Ich möchte einige Punkte jetzt nur andeutungsweise vortragen, die wir dann in den Ausschußberatungen berücksichtigen sollten. In Übereinstimmung mit dem Innenausschuß des Bundesrats - das Plenum tagt ja erst morgen; dazu kann ich jetzt nichts sagen-sind wir der Ansicht: Bei der Definition des Spätaussiedlers sollten wir eine Änderung vornehmen, nämlich daß ein Nachweis für das Vertriebenen- und Kriegsfolgenschicksal notwendig ist; und bei der Definition der Volkszugehörigkeit sollten wir einen Generationenschnitt nach Abkömmlingen in erster Generation und einige andere wesentliche Punkte, z. B. die Leistungen und Hilfen, diskutieren. Wir wollen eine einmalige Überbrückungshilfe der Bundesregierung sowie ein Einrichtungsdarlehen unterstützen, aber nicht den Ausgleich für die Kosten der Aussiedlung und auch nicht Pauschalleistungen für Spätaussiedler aus der ehemaligen UdSSR. Daß wir die Überbrückungshilfe, das Einrichtungsdarlehen, unterstützen, ist völlig klar. Denn wie sollen sich die Leute integrieren, wenn sie hier das Nichts vorfinden? Ein weiterer strittiger Punkt ist aufgetreten. Er ist zunächst Angelegenheit des Bundesrats; ich möchte aber hier darüber sprechen, weil er ein Anliegen der Lander Sachsen und Brandenburg ist. Sie möchten die Regelung für die Altvertriebenen, die Zahlungen von 4 000 DM, sehr gern wieder in diesem Gesetz haben. Sie möchten auch - da bin ich sehr offen - eine Härtefallregelung. Wenn man erkennen kann, daß ein Mensch, der die 4 000 DM im Jahre 2000 bekommen soll, dann gar nicht mehr leben wird, weil er im wahrsten Sinne des Wortes ein Altvertriebener ist - Vertriebene sind ja normalerweise nicht jung, weil heute aus diesem Bereich keine Vertreibung stattfindet -, daß er aber jetzt bedürftig ist, sollte man sich über eine Härtefallregelung unterhalten. Das wollen wir gern unterstützen. Ich denke, wir finden bei Ihnen sicher für den einen oder anderen Punkt ein offenes Ohr. Wo wir kein offenes Ohr bei Ihnen finden werden, ist mir jetzt schon klar, nämlich daß der Bund die Kosten übernehmen soll. ({4}) - Ich kann es wollen: Die Kollegin Matthäus-Maier wird es wahrscheinlich nicht wollen. Sie sehen, daß wir zwei, obwohl wir in keiner Weise politische Differenzen haben, uns in diesem einen Punkt natürlich doch unterscheiden, weil die finanzpolitische Sprecherin zu Recht mit Argusaugen alle Ausgaben prüft, die wir irgendwo hineinschreiben. Herr Staatssekretär, ich möchte Sie zum Ende meiner Rede um Unterstützung bitten. Wir und die Kolleginnen und Kollegen der Koalition werden die Änderungsvorschläge in den Ausschüssen eingehend beraten. Wir werden weiterhin gemeinsam am selben Strang ziehen und dafür sorgen, daß die Aussiedler dort bleiben können, wo sie sind, oder daß die Umsiedlung von Kasachstan „nur" in die Ukraine und nicht in die Bundesrepublik stattfinden wird. Wir sind uns auf Grund unserer Verantwortung als Innenpolitiker klar darüber, daß es verhängnisvoll wäre, die innenpolitischen Folgen einer massenhaften Zuwanderung zu unterschätzen, und daß wir dafür eine gemeinsame Lösung finden müssen. Danke schön. ({5})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun hat der Kollege Wolfgang Lüder das Wort.

Wolfgang Lüder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001390, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Wenn ich es richtig sehe, darf ich wohl auch sagen: Hochverehrtes quotenfreies Präsidium! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Hämmerle, Sie haben es den Koalitionfraktionen leicht und schwer zugleich gemacht, auf dieses Thema einzugehen. Ich will versuchen, eine erste Stellungnahme aus meiner Sicht und für meine Fraktion zu dem abzugeben, was Sie eingebracht haben. Ich finde es gut, daß wir den Streit im Innenausschuß, ob wir dem SPD-Gesetzentwurf, der ja heute ebenfalls zur Beratung und Abstimmung ansteht, folgen, hier nicht fortführen, sondern in die Gesamtdiskussion einbeziehen. Ich finde es auch gut, daß wir uns zumindest als Beratungsgrundlage auf den Regierungsentwurf und nicht auf den in meinen Augen falsch selektierenden Bundesratsentwurf Niedersachsens konzentrieren. Das schichtet die Probleme ab und erleichtert uns die Beratung. Ich will eines vorweg sagen, auch an die Bundesregierung. Es ist spät geworden, fast zu spät, noch alle Opfer in Entschädigungsregelungen einzubeziehen, die unter dem vom Dritten Reich verbrochenen ZweiWolfgang Lüder ten Weltkrieg gelitten haben. Mit dem heutigen Gesetz werden - Herr Waffenschmidt hat darauf hingewiesen - allein 19 Gesetze und Verordnungen herangezogen, geändert und angepaßt, mit denen die alte Bundesrepublik versucht hatte, vertretbare Regelungen, insbesondere im Entschädigungsbereich, für diejenigen zu finden, die als Heimkehrer, als Kriegsgefangene, als Vertriebene, später als Aussiedler in besonderem Maße leiden mußten. Vor Jahresfrist schon war nahezu alles konzipiert, worum es heute geht. Im Streit mit dem Bundesfinanzminister um die Finanzierung drohte dann die Gesamtregelung zu scheitern. Da geht es zum Beispiel im ersten Abschnitt um das Bundesvertriebenengesetz. Hier wird der Versuch unternommen, einerseits aus dem Abschluß der Vertreibung abschließende Konsequenzen zu ziehen, andererseits die Tür für Aussiedler offenzuhalten, die in die Bundesrepublik wollen. Ich halte für begrüßenswert, daß der Abschluß der Vertreibungstatbestände, der Verfolgung und der Benachteiligung infolge der Vertreibung hier festgestellt und festgeschrieben wird. Das ist auch ein Signal für unsere Nachbarn. Wir haben heute morgen schon über einige Konsequenzen daraus für den kulturellen Bereich debattieren können. Ich will noch einmal deutlich machen, gerade weil ich auch nach der heutigen Debatte angesprochen worden bin und vielleicht etwas mißverständlich formuliert hatte: Die Vertreibung war eine zwangsläufige Folge des von NS-Deutschland mutwillig ausgelösten Zweiten Weltkrieges. ({0}) Das ändert aber nichts an der gleichzeitigen Feststellung, daß die Vertreibung ihrerseits Unrecht war. ({1}) Das gilt für den Verteibungstatbestand wie für die Umstände der Vertreibung. Wir können nicht Unrechtstatbestände aufrechnen wollen; wir müssen sie feststellen, um sie überwinden zu können. Heute haben wir zu prüfen, ob wir die besonderen Vergünstigungen, die unser Staat für die Vertriebenen und späteren Aussiedler zur Verfügung gestellt hat, dauerhaft aufrechterhalten. Das ist einer der Streitpunkte dieses Gesetzentwurfs. Für mich geht es nicht darum - um das vorweg klarzustellen -, daß jeder deutsche Staatsangehörige und jeder deutsche Volkszugehörige, wo immer er lebt, den Zugang zum Bundesgebiet haben soll. Ich will keine Einschränkungsdiskussion darüber, daß jeder, der dies möchte, hierher kommen kann. Ich unterstütze auch die in der bisherigen Debatte sichtbar gewordenen und auch von Ihnen, Frau Kollegin Hämmerle, dargelegten Wünsche, daß wir möglichst viel tun müssen, um denen, die in den Siedlungsgebieten leben, das Leben zu erleichtern. Darüber kann es in diesem Haus meines Erachtens keinen Streit geben. ({2}) Die Frage kann doch nur sein - das ist für mich der Punkt des Nachdenkens in diesem Gesetz und damit auch des Diskussionsbedarfs in den Ausschüssen -, ob wir einen neuen „Tatbestand" des Spätaussiedlers schaffen, ob wir deutschen Staatsangehörigen und Volkszugehörigen bis auf den Sankt-NimmerleinsTag hinaus besondere Vergünstigungen gewähren und dies auch noch am Bundesvertriebenengesetz aufziehen wollen. Hier habe ich die Bitte, daß wir in den Beratungen des Ausschusses oder der Ausschüsse offen sein mögen für Regelungen, die irgendwo einen Abschlußtatbestand finden. ({3}) Mit der Wiedervereinigung ist mehr geschehen als nur die Vereinigung beider Teile Deutschlands. - Frau Kollegin Hämmerle.

Gerlinde Hämmerle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000777, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Lüder, darf ich aus Ihren letzten Ausführungen schließen, daß Sie bereit wären, mit uns darüber zu reden und möglicherweise dann auch dem Antrag zur Beendigung des Bundesvertriebenengesetzes zu einem bestimmten Zeitpunkt, den wir einmal eingebracht haben, zuzustimmen?

Wolfgang Lüder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001390, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich habe Ihren Worten vorhin sehr aufmerksam gelauscht. Den Vorschlag, einen Stichtag einzuführen, zu dem die Leute sich entscheiden sollen und dann die Option aber dauerhaft offenzuhalten für diejenigen, die eine Option gewünscht haben, halte ich für einen sehr diskutablen Weg. Ich füge aber hinzu, daß wir in der Zeit zwischen der Einbringung dieses Gesetzes und dem heutigen Tag in meiner Fraktion noch nicht abschließend darüber haben beraten können. Doch die Offenheit in diesen Punkt hinein möchte ich signalisieren, und die darf ich auch signalisieren.

Gerlinde Hämmerle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000777, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke schön.

Wolfgang Lüder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001390, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine Damen und Herren, mit dem Gesetz werden auch Änderungen im Lastenausgleichsgesetz und zum allgemeinen Kriegsfolgengesetz stattfinden. Ich glaube, sie sind notwendig, soweit sie hier vorgesehen sind. Insbesondere begrüßen wir - damit komme ich zu einem weiteren Punkt -, daß die Heimkehrerstiftung so konstruiert werden soll, wie sie jetzt im Gesetz vorgesehen ist. Das war auch in Übereinstimmung mit dem absolut wortgleichen Text, den Sie im letzten Jahr von seiten der SPD eingebracht haben. Wir wollen, daß dies so in das Gesamtpaket eingefügt wird. Die Entschädigungsregelung zum Häftlingshilfegesetz und die sich darauf beziehende Verordnung unterstützen wir. Wir werden gründlich, aber mit gebührendem Tempo zu beraten haben. Wir werden die Einzeltatbestände hier sorgfältig ansprechen müssen. Vielleicht ungewollt, hat die SPD-Opposition uns Abgeordneten der Koalitionsfraktionen aus dem Innenausschuß, die wir von Anfang an eine die verschiedenen Bereiche umfassende Regelung gesucht haben, unterstützt. Die SPD hatte ja den Entwurf zum Heimkehrerstiftungsgesetz wortgleich mit dem, der heute von der Regierung vorliegt, zur Beratung und Verabschiedung in den Bundestag eingebracht. Wir Abgeordneten der Koalitionsfraktionen - das darf man heute auch einmal im Plenum laut sagen - waren erst dann bereit, der Bitte der Bundesregierung um Ablehnung des SPD-Antrages zur damaligen Zeit zu entsprechen, nachdem klargestellt war, daß ein Regierungsentwurf zu möglichst allen Bereichen der Kriegsfolgenbeseitigung bis zur Sommerpause vorgelegt wird. Insoweit bedanke ich mich bei der Opposition für die Hilfestellung zum parlamentarischen Durchsetzen dessen, was umfassend notwendig war. ({0}) Meine Damen und Herren, wir haben jetzt auch vorgesehen, daß die Problematik der Entschädigung für den Hausratsverlust der Heimatvertriebenen auf die allgemeine Entschädigungsregelung verlagert wird. Ich meine, wir sollten offen sein für die Frage, ob wir nicht wieder aus den Überlegungen zum Entschädigungsgesetz zurückholen, was dort nach meiner Meinung sachfremd hineingepackt worden ist und in diesen Entwurf hier gehört. Es wird nicht eine Mark mehr bringen für die, die Anspruch darauf haben sollen, aber es gibt Klarheit, daß wir eine Gesetzesmaterie insgesamt im Sachzusammenhang erörtern und regeln. Meine Damen und Herren, wir haben heute morgen in der kulturpolitischen Debatte Konsequenzen aus dem Ende der Nachkriegszeit gezogen. Das Gesetz, um das es jetzt geht, schließt sich den wichtigen Punkten mit finanziellen Konsequenzen an. Auch hier geht es um ein Ende der Nachkriegszeit. Wie bei der Regelung für eine angemessene Entschädigung aus Härtefondsleistungen für jüdische und nichtjüdische Verfolgte des NS-Terrors gilt für die Opfer von Krieg und Vertreibung, um die wir uns hier kümmern, daß wir den noch lebenden Menschen helfen und nicht Grabpflege betreiben wollen. ({1}) Deswegen fordere ich alle Beteiligten und alle Kollegen aus den beteiligten Fachausschüssen und die Bundesregierung auf, daran mitzuwirken, daß die Gesetzgebungsarbeit rechtzeitig vor Jahresende mit positivem Ergebnis abgeschlossen wird. Ich glaube, die Signale dieser Debatte zur ersten Lesung zeigen, daß wir bereit sind, gemeinsam voranzugehen. Die wenigen Konfliktpunkte werden ausgetragen werden müssen, da sollten wir uns nicht scheuen. ({2}) Aber wir sollten versuchen, dieses Paket zum Jahresende in Kraft zu setzen. ({3})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun hat in dieser nahezu quotierten Rednerliste der Kollege Ullmann das Wort.

Dr. Wolfgang Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002354, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wem wäre es erwünschter als mir, Herr Staatssekretär, wenn ich mich aus vollem Herzen dem von Ihnen angemahnten parlamentarischen und politischen Konsens anschließen könnte und mich dann vielleicht auf einige moderat vorgetragene Kritikpunkte, wie das die Frau Kollegin Hämmerle in vorbildlicher Weise getan hat, beschränken könnte. Daß ich das nicht kann, Herr Staatssekretär, hängt damit zusammen, daß wir heute nicht über eine abschließende Novellierung des Bundesvertriebenengesetzes debattieren, sondern über einen Gesetzentwurf, der „Kriegsfolgenbereinigungsgesetz" heißt. Darum kann ich an einem Protest nicht vorbei, daß der Deutsche Bundestag für ein Gesetz, das „Kriegsfolgenbereinigungsgesetz " heißt, eine Debattenstunde ansetzt. Welch ein Mißverhältnis zwischen Inhalt und Ausmaß der Debatte! ({0}) Die einschneidenste aller Kriegsfolgen war die Teilung, jene ungleiche, asymmetrische, deformierende Teilung, die 16 Millionen Deutschen ein Sonderschicksal aufzwang, sie ihres Selbstbestimmungsrechtes, ihrer freien Entscheidung so beraubte, wie es Präambel und Schlußartikel des Grundgesetzes ausdrücken. Die Kriegsfolge der Teilung stürzte die Eigentumsordnung in den östlichen Ländern Deutschlands in einer Weise um, wie es nicht einmal die napoleonischen Kriege getan hatten. Dieser Umsturz der Eigentumsordnung betraf nicht nur die großen Vermögen, den Großgrundbesitz, die Landwirtschaft durch Bodenreform und Zwangskollektivierung, sondern die Vermögensverhältnisse aller. Die Konzentration des Besitzes in der Hand der Staates und der Partei führte zu einer Stagnation, die sich lähmend und aufs Schwerste benachteiligend auf Erwerbsmöglichkeiten und Biographien aller Bürgerinnen und Bürger ausgewirkt hat. Dazu kam die drastische Einschränkung der Mobilität und Freizügigkeit seit 1961, die diese Bürger zu schollenabhängigen Leibeigenen degradierte, ({1}) ganz zu schweigen von der Diskriminierung aller, die das Regime als sogenannte Feinde meinte betrachten zu müssen. Seit dem 9. November 1989 hat sich nun die Chance aufgetan, die Folgen der Teilung nach dem Krieg in all den genannten Bereichen zu bereinigen. Weil diese Chance besteht, muß ich protestieren, da in dem Gesetzentwurf genau das Gegenteil von dem vorgeschlagen wird, was angesichts dieser Chance erforderlich ist. Statt ein gesetzgeberisches Konzept zur umfassenden und gerechten Bereinigung der Teilungsfolgen vorzulegen, präsentiert uns die Bundesregierung den Entwurf einer Abschluß- und Übergangsgesetzgebung, deren offenkundiges und einziges Ziel es ist, möglichst wenige finanzwirksame Leistungen entstehen zu lassen. Kerngedanke dabei ist, den Lastenausgleich auf die östlichen Länder nicht anzuwenden, sondern Vertriebenen-, Häftlingshilfe- und Ausländergesetzgebung so abzuschließen, daß ein Chancenausgleich für die 40 Jahre benachteiligte DDR-Bevölkerung unnötig erscheint, da die Chancenungleichheit systembedingt und darum nachträglich nicht mehr ausgleichbar sei. Diese Gesetzgebungspolitik erfüllt mich und, so nehme ich an, die meisten meiner Landsleute in den sächsischen Ländern mit tiefer Bitterkeit. Ich muß abermals beklagen, daß diejenigen, für die ich im Zusammenhang mit dem Unrechtsbereinigungsgesetz Entschädigungen angemahnt habe, nämlich die jenseits der Oder Deportierten, abermals auf Almosen aus jener Heimkehrerstiftung verwiesen werden. Ich kann das nicht verstehen, und ich protestiere dagegen. Leider ist meine Redezeit abgelaufen. Ich hätte gerne ein paar kommentierende Worte zu den Begründungen gesagt, die in dem Gesetzentwurf dafür enthalten sind, daß der Chancenausgleich nicht angewandt werden soll. Darum will ich mich jetzt auf eines beschränken: Der Krieg - ich danke Herrn Kollegen Lüder, daß er das wenigstens angesprochen hat - war keine Naturkatastrophe, sondern eine politische Katastrophe, die von Deutschland ausgegangen ist. Wir Deutschen haben die Pflicht, gemeinsam die Lasten, die durch diese von uns angezettelte Katastrophe sehr ungleich über uns gekommen sind, nun in einem gerechten Chancenausgleich gerecht zu verteilen. Aber das muß auch getan werden. Der Gesetzentwurf ist so, wie er vorgelegt worden ist, kein geeignetes Mittel für einen solchen Chancen- und Lastenausgleich. ({2})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Schon wieder erteile ich das Wort einer Kollegin, nämlich der Kollegin Gudrun Weyel. ({0})

Gudrun Weyel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Die Tatsachen überholen manchmal die Annahmen. Ich möchte mich an dieser Stelle nur zu dem Teil des von uns eingebrachten Gesetzentwurfs äußern, der sich mit dem Gesetz über die Heimkehrerstiftung befaßt. Wir haben diesen Teil von dem Gesamtentwurf abgekoppelt, der ja schon am 1. Januar 1992 in Kraft treten sollte, weil wir gesehen haben, daß dieses Gesetz einen Personenkreis umfaßt, der altersbedingt und auf Grund der Verschiebung zum Teil nicht mehr in den Genuß dieses Gesetzes kommt. Es geht darum, daß die ehemaligen Kriegsgefangenen in den neuen Bundesländern in den Genuß derselben sozialen Leistungen kommen sollen wie die ehemaligen Kriegsgefangenen in der alten Bundesrepublik. Man muß dabei noch eines berücksichtigen. Es handelt sich in den neuen Bundesländern weitestgehend um Kriegsgefangene, die in Rußland gewesen sind und die sehr spät aus der Gefangenschaft entlassen worden sind, denn der größere Teil der ehemaligen Kriegsgefangenen, die von den westlichen Siegermächten in Gefangenschaft genommen worden sind, ist bei seiner Entlassung, sofern diese Personen aus den deutschen Ostgebieten oder aus den Gebieten der damaligen sowjetischen Besatzungszone stammten, eben nicht dorthin zurückgekehrt, sondern ist im Westen geblieben. Diesen Personenkreis muß man vor Augen haben, wenn man darüber nachdenkt, ob eine Verzögerung von einem Jahr eine Härte bedeutet oder nicht. Wir sind der Meinung, daß eine solche Verzögerung eine Härte bedeutet, denn die Jüngsten aus diesem Personenkreis sind heute 65 Jahre alt; ich wiederhole: Das sind die Jüngsten. Der größere Teil ist heute aber in dem Alter um 80 Jahre herum, und das sollte man bedenken, wenn man sagt, neun Monate oder zwölf Monate seien doch nicht viel. Deswegen möchten wir Ihnen doch noch auf die Sprünge helfen. Herr Lüder hat ja sehr deutlich gemacht, daß unser Gesetzentwurf teilweise mit dem Ihren übereinstimmt, daß wir in der Sache also völlig einig sind und daß es nur darum geht, wann das Gesetz fiber die Heimkehrerstiftung in Kraft treten kann. Deswegen haben wir einen Änderungsantrag gestellt, demzufolge der in Art. 3 unseres Entwurfs genannte Zeitpunkt des Inkrafttretens nicht der 1. Januar 1993, sondern der 1. Oktober 1992 sein soll, denn man kann das Kriegsfolgenentschädigungsgesetz nicht nachträglich außer Kraft setzen. Sie können sagen, eine Verschiebung um drei Monate sei geringfügig, aber drei Monate können für manche Leute eine Genugtuung sein, weil man ihnen am Ende ihres Lebens noch einen kleinen Ausgleich für das gewährt, was sie erlitten haben. ({0}) Gerade mit Bezug auf das, was Herr Lüder zu diesem Problem ausgeführt hat, bitte ich die Koalitionsfraktionen noch einmal sehr herzlich, darüber nachzudenken, ob sie sich nicht einen Ruck geben und unserem Gesetz zustimmen wollen, das ja in der Sache absolut mit dem Gesetzentwurf der Regierung übereinstimmt. Ich bitte Sie sehr herzlich darum, einigen wenigen Menschen, die sehr alt und wahrscheinlich sehr krank sind, eine Möglichkeit zu geben, am Ende ihres Lebens noch einmal zu erfahren, daß die Gemeinschaft in Deutschland ihr Schicksal anerkennt und bereit ist, ihnen zu helfen. Ich danke Ihnen. ({1})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun hat der Kollege Hartmut Koschyk das Wort.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich sagen: Es ist sicher gut, daß wir das Thema, mit dem wir uns heute befassen und das in den Ausschußberatungen vertieft werden soll, in einem Klima von Sachlichkeit und Ruhe angehen. Wir haben heute morgen wirklich eine sehr gute Debatte geführt und festgestellt, daß es in diesem Haus einen sehr breiten Konsens gibt, was die Hilfsleistungen für deutsche Minderheiten in den Staaten Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas und in den Staaten der ehemali9152 gen Sowjetunion anbelangt. Weil das ja zusammengehört, sollten wir versuchen, diesen Konsens und dieses sachliche Klima auch bei der jetzt zu führenden Debatte zu pflegen und zu bewahren. ({0}) Das von der Bundesregierung vorgelegte Kriegsfolgenbereinigungsgesetz wird von unserer Fraktion begrüßt. Wir sind froh, daß wir jetzt endlich über diesen Gesetzentwurf diskutieren können, der ja Maßgaben aus dem Einigungsvertrag erfüllt. Wir sind auch froh, daß der gesamtdeutsche Gesetzgeber jetzt über das weitere Schicksal des Kriegsfolgenrechts entscheiden kann. Der Gesetzentwurf geht zwar davon aus, daß sich die Verhältnisse in den Staaten Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas und in der GUS entscheidend verändert haben und daß sich auch entscheidende Veränderungen für die Lage der dort lebenden Deutschen abzeichnen. Er berücksichtigt aber auch, daß diese Veränderungen bislang noch nicht dazu geführt haben, daß die durch gewaltsame Umsiedlung und Unterdrückung völlig erschütterten Lebensgrundlagen dieser Deutschen in einer angemessenen Weise wiederhergestellt sind. Konsens in diesem Hause ist und bleibt, daß wir uns bemühen müssen, dies in einem Gesamtzusammenhang zu sehen, daß all das, was an Hilfen aus der Bundesrepublik Deutschland geleistet wird, integrieren muß und nicht spalten darf, daß wir die Menschen zusammenführen müssen. Zu Recht wurde heute morgen gesagt, daß wir dies auch als integralen Bestandteil der Hilfe der Bundesrepublik für die Reformstaaten Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas und für die GUS insgesamt sehen müssen. Wir müssen aber auch sehen: Dies ist eine Zeit des Übergangs. Wir können heute noch nicht abschließend sagen, ob dieses Experiment gelingen wird, zu dem wir als Deutsche unseren besonderen Beitrag leisten wollen und leisten müssen. Mir ist angesichts dessen, was jetzt an Stichtagen, an Quoten, an Fristen diskutiert wird, soeben ein sehr gutes Wort des ehemaligen Bundesaußenministers Genscher eingefallen, der einmal in einer Debatte hierzu gesagt hat: Ich bin doch nicht Jahr um Jahr zu den Diktatoren gefahren und habe mit ihnen Stunde um Stunde darüber verhandelt, die Tür wenigstens einen Spalt aufzubekommen, um jetzt, wo die Tür offen ist und die Diktatoren weg sind, sie wieder zu schließen. ({1}) Frau Kollegin Hämmerle, wir sollten über alles diskutieren. Aber glauben nicht auch Sie, daß heute, wo wir in einer Zeit des Übergangs leben und wo die Deutschen, um die es geht, auch einmal mit sich und ihrem Schicksal und ihren Zukunftserwartungen ein Stück zur Ruhe kommen und abwarten müssen, um existentielle Entscheidungen für sich und ihre Kinder zu fällen, weil das Festsetzen eines Stichtages und von Quoten und das Formulieren eines Generationenschnitts dazu führen kann, daß diese Menschen sagen: Wenn die Politiker in der Bundesrepublik Deutschland vielleicht morgen zu solchen Lösungen kommen, dann stellen wir alle, um nicht die letzten zu sein, lieber heute einen Antrag auf Ausreise? Darum geht es doch. Wir brauchen ein Klima der Berechenbarkeit für diese Menschen. Ich bin nicht dafür, die Lösung des Problems auf den Sankt Nimmerleinstag zu verschieben, ich bin aber dafür, diese Situation des Übergangs abzuwarten. Wenn eintritt, was wir alle wünschen und was Ziel unserer Politik ist, daß nämlich in zehn Jahren stabile Lebensverhältnisse in den Staaten Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas herrschen, dann können wir auch über wirklich abschließende Regelungen reden. Was wir heute machen, ist eine Regelung zu schaffen für eine Zeit des Übergangs.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Kollege Koschyk, ahnen Sie, daß die Kollegin Hämmerle etwas will?

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Gestatten Sie ihr das? - Kollegin Hämmerle.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe mich ihr ja die ganze Zeit zugewandt, um das, was sie vorhin gesagt hat, aufzunehmen.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Sie müssen dann aber der Präsidentin die Chance geben, indem Sie irgendwann Ihre Rede unterbrechen, so daß sie Sie fragen kann. Das tue ich jetzt. - Das Wort hat die Kollegin Hämmerle. ({0})

Gerlinde Hämmerle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000777, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Außerdem sollten Sie berücksichtigen, daß ältere Damen nicht mehr so lange stehen können, wenn junge Männer reden. ({0}) Herr Kollege Koschyk, ich bin Ihnen dankbar für das letzte Wort, das Sie gesagt haben. Das war „Berechenbarkeit". Sind Sie nicht mit mir der Ansicht, daß wir, wenn wir z. B., wie es mir vorschwebt, den 31. Dezember 1995 zum Stichtag für eine Erklärung der Menschen bestimmen, ob sie ausreisen wollen oder nicht - nur das -, hier in der Bundesrepublik eine Berechenbarkeit bekommen? Wir wissen doch, Herr Staatssekretär Waffenschmidt, daß ganze Dörfer miteinander aussiedeln wollen. Wenn wir bis zu einem weit gefaßten Stichtag dieses wüßten und den Menschen klarmachten - auch die sind ja nicht dumm -, daß dieser Stichtag nichts damit zu tun hat, daß sie zu einem anderen Stichtag da sein müssen, sondern nur damit, daß wir wissen wollen, womit wir zu rechnen haben, glauben Sie wirklich im Ernst, Herr Koschyk, daß man dieses als Türzuschlagen auffassen kann?

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Hämmerle, ich glaube, das gibt uns nicht die Information, die Sie vielleicht haben wollen; denn - Herr StaatsHartmut Koschyk Sekretär Waffenschmidt hat ja darauf hingewiesen - heute haben viele Deutsche in der ehemaligen Sowjetunion einen Aufnahmebescheid in der Tasche und überlegen momentan trotzdem und warten ab. ({0}) Ich möchte, daß wir jetzt ein Klima schaffen, damit die Leute wissen: Wir tun alles, um ihre Verhältnisse vor Ort zu verbessern, verunsichern sie jetzt nicht und lassen sie mit der Sorge, was morgen und übermorgen wird und wie sie sich morgen oder übermorgen entscheiden sollen, nicht allein. ({1}) Ich meine, meine Damen und Herren, das entspricht auch unserer vom Grundgesetz vorgegebenen Verantwortung für diese Menschen. Ich möchte hier ein Wort aufgreifen, das Sie gesagt haben, Herr Ullmann: daß eben die Lasten dieses unseligen Krieges ungleich über uns gekommen sind. Ich frage mich, ob wir ein Stück der Last, der existentiellen Unsicherheit, mit der diese Menschen heute noch leben müssen, nicht mit ihnen in der Weise tragen wollen, daß wir ihnen Zeit lassen, diese für sie und ihre Kinder so existentiellen Entscheidungen zu fällen. Natürlich ist es richtig, diese Frage auch im Zusammenhang mit dem Problem von Zuwanderung nach Deutschland zu sehen. Aber wer diese Diskussion führt, muß doch auch sehen: Wir haben durch das Aussiedleraufnahmegesetz ein Steuerungsinstrument, das z. B. von einem Deutschen in Rumänien verlangt, über die deutsche Botschaft in Bukarest sein Verfahren zu betreiben, und das es ihm erst ermöglicht als Aussiedler zu uns zu kommen, wenn er seinen Bescheid und die Zustimmung des Bundeslandes, um das es geht, in der Tasche hat. Meine Damen und Herren von der Opposition, hätten wir im Asylbereich eine vergleichbare Regelung, wonach z. B. ein Asylbewerber aus Rumänien genauso wie ein Deutscher von dort aus sein Aufnahmeverfahren betreiben muß, ({2}) dann hätten wir nicht in diesem Jahr allein aus Rumänien 70 000 Asylbewerber, von denen kaum jemand die Chance hat, hier als Asylberechtigter anerkannt zu werden. ({3}) Lassen Sie mich zwei Sätze zum Thema Lastenausgleich und zum Thema Heimkehrerstiftung sagen: Frau Kollegin Weyel - das habe ich mir von älteren Kollegen sagen lassen -, es gab immer einen großen Konsens in diesem Haus, alles was die Heimkehrer betrifft, auch gemeinsam zu erreichen. Jetzt die Frage der Heimkehrer durch eine Fristsetzung von drei Monaten aus dem Gesamtkomplex herauszubrechen, sieht, liebe Frau Kollegin Weyel, etwas danach aus, daß wir die Betroffenen gegeneinander ausspielen wollen; denn es gibt natürlich auch unter den Vertriebenen in den neuen Ländern, die jetzt auf die Einmalleistung warten, dasselbe Problem. Es sind alte Menschen, die wollen, daß wir hier endlich handeln. Wir als CDU/CSU-Fraktion sehen ein Junktim zwischen dem jetzt auf den Weg gebrachten Kriegsfolgenbereinigungsgesetz und der notwendigen Regelung einer Einmalleistung für Vertriebene in den neuen Ländern. In der Tat wird es unsere Aufgabe sein, dafür zu sorgen, daß wir, wenn der Referentenentwurf vorliegt und wir über das Entschädigungsgesetz diskutieren, auch berücksichtigen, daß es sich um Menschen handelt, die ein hohes Alter erreicht haben und denen wir jetzt keine langen Fristen bis zur Auszahlung mehr zumuten können. ({4}) Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf tragen wir den gewaltigen Umbrüchen in Europa und der Sowjetunion Rechnung. Wir berücksichtigen aber auch Unwägbarkeiten und Risiken. Ich sage noch einmal: Wir wollen die Deutschen, die in diesem Umfeld leben, in diesen Zeiten des Übergangs und des Risikos nicht allein lassen. Wir wollen, daß unsere Politik berechenbar bleibt, daß von diesem Gesetz eine Ermutigung für die Deutschen ausgeht, ihre Lebensplanung in Ruhe und ohne Fristen, Quoten, Stichtage und Generationsschnittandrohungen zu entwickeln. Ich appelliere an die SPD in Bund und Ländern, daß sie aus ihrer Verantwortung für diese Menschen, die auf unserem Grundgesetz beruht, aber auch auf unserer Geschichte, und auch ein Stück mit Moral zu tun hat, gemeinsam mit uns zu einem Konsens kommt, das Klima, das wir bisher erreicht haben, auch weiter zu pflegen. ({5})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Weitere Wortmeldungen zu diesem Tagesordnungspunkt liegen mir nicht vor. Wir kommen damit zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1435. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3285 vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist dieser Änderungsantrag abgelehnt. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/1932, den Gesetzentwurf insgesamt abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1435 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 12/3212 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Darm ist die Überweisung so beschlossen. Vizepräsidentin Renate Schmidt Wir kommen zu Punkt 11 der Tagesordnung: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Gerd Andres, Robert Antretter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gemeinschaftsinitiative Neue Länder - Drucksache 12/2874 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({0}) Sportausschuß Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wilhelm Schmidt ({1}), Friedhelm Julius Beucher, Peter Büchner ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Sofortprogramm zur Förderung des Sports in den neuen Ländern ({3}) - Drucksache 12/2815 Überweisungsvorschlag: Sportausschuß ({4}) Innenausschuß Haushaltsausschuß c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald B. Schäfer ({6}), Brigitte Adler, Robert Antretter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Mehr Arbeit durch mehr Umweltschutz in den neuen Bundesländern - Drucksachen 12/676, 12/1705 Berichterstattung: Abgeordnete Ulrich Klinkert Reinhard Weis ({7}) Dr. Jürgen Starnick Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache drei Stunden vorgesehen. Möchte jemand diese Tagesordnungspunkte länger oder kürzer beraten? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Rolf Schwanitz.

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die größte Regionalzeitung im Freistaat Sachsen kommentierte den Besuch des Kanzleramtsministers Bohl in Chemnitz vergangene Woche damit, daß es an Stelle des Eingehens auf konkrete Probleme nur allgemeine Bemerkungen gegeben habe. Von einem auffälligen Desinteresse und einem Pflichtbesuch in Chemnitz ist die Rede. Der Betriebsratsvorsitzende der Heckert GmbH wird mit dem Satz zitiert: Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie enttäuscht ich bin. Meine Damen und Herren, die wirtschaftliche, soziale, aber auch die mentale Situation der Menschen in den neuen Bundesländern ist anhaltend schlecht. Das Umbruchmodell, welches diese Bundesregierung seit 1990 für die ostdeutsche Wirtschaft verordnet hat und bei welchem sie bis heute noch nicht zu einer Umsteuerung bereit ist, ist voll und ganz gescheitert. Um es vorweg zu sagen: Niemand will leugnen, daß wir 1990 in den neuen Bundesländern vor den Folgen einer vierzigjährigen planwirtschaftlichen Fehlentwicklung gestanden haben. Uneffektive Produktionsabläufe und ein aufgeblähter Verwaltungsapparat gehörten zu dieser Planwirtschaft ebenso wie katastrophale ökologische Hinterlassenschaften. Das war die Quelle des Übels. Genausowenig zu bestreiten ist jedoch, daß der Bundesregierung seit 1990 gravierende politische Fehlentscheidungen unterlaufen sind. Wir können die Situation in den neuen Ländern nicht diskutieren, ohne auf diese Versäumnisse hinzuweisen. Ich möchte an dieser Stelle nur auf fünf eklatante Fehlentscheidungen eingehen. Erstens. Es hat sich frühzeitig gezeigt, daß die Grundsatzentscheidung bei den offenen Vermögensfragen, der Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung", zu einem zentralen Investitionshemmnis in den neuen Bundesländern wird. Selbst nach fast zwei Jahren liegt die Abarbeitungsquote bei den Rückgabeansprüchen im Durchschnitt noch unter 9 %. Das, was die Sozialdemokraten hier seit 1990 gefordert haben, hat an Aktualität nicht verloren. ({0}) Zweitens. Das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium zum Auffangen der im Osten hereinbrechenden Entlassungswellen ist in unzureichendem Umfang zur Verfügung gestellt worden. Die Beschäftigungsgesellschaften, die wir seit 1990 eingefordert haben, die bei uns 1990 ein Wahlkampfthema waren und die bei Ihnen von der Regierungskoalition als sozialdemokratische Folterinstrumente verlacht worden sind, wurden zu spät und im Umfang zu gering nutzbar gemacht. Die langen und qualvollen Auseinandersetzungen hier im Bundestag über günstigere Kurzarbeiterregelungen für Ostdeutschland, über eine Verlängerung der Vorruhestandsregelung und gegen die Kürzung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen dokumentieren unser unermüdliches Anrennen gegen das blinde Vertrauen der Bundesregierung auf die Selbstheilungskräfte des Marktes. Drittens. Die Treuhandpolitik der Bundesregierung ist an Tragik kaum noch zu überbieten. Für mich als Abgeordneten aus den neuen Bundesländern war die Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 17. Juni dieses Jahres ein Schlüsselerlebnis für das Verstehen der Handlungsblockade der Bundesregierung. Der Bundeskanzler offenbarte in dieser Erklärung, daß die Bundesregierung 1990 davon ausgegangen war, der Aufschwung in Ostdeutschland, die notwendigen Förderprogramme, die erforderlichen Aufbauhilfen und anderes mehr wären vollständig aus dem Verkauf der ostdeutschen Betriebe zu finanzieren. Diese Fehleinschätzung, die für den Bundeskanzler offensichtlich so nebensächlich war, daß er erst Mitte 1992 bereit war, das zuzugeben, erklärt in der Tat vieles. Die Bundesregierung glaubte an einen schnellen Verkauf, an eine schnelle Privatisierung ostdeutscher Betriebe über die Treuhandanstalt. Eine aktive Sanierungspolitik meinte die Bundesregierung, vor allem die Bundesfinanzminister, deshalb nicht in die Aufgabenstellung der Treuhandanstalt hineinschreiben zu müssen. Im Gegenteil: Als die schnelle Privatisierung ausblieb, die Treuhandanstalt folglich auch nicht die geplanten Einnahmen erwirtschaften konnte, wurden die geplanten Mittel für Sanierungstätigkeit im Haushalt der Treuhandanstalt zusätzlich gekürzt. Der Entindustrialisierungsprozeß, dessen Existenz einige Kollegen aus der Regierungskoalition noch vor einem halben Jahr vehement bestritten haben, hat eine entscheidende Ursache in dieser Fehlsteuerung der Treuhandanstalt. ({1}) Dafür - lassen Sie mich das an dieser Stelle ganz deutlich sagen - ist nicht Frau Breuel und sind auch nicht die Mitarbeiter der Treuhandanstalt - über die wir alle in den Wahlkreisen von den Gewerkschaften und Betriebsräten so viele Klagen hören - verantwortlich. ({2}) Die Verantwortlichkeit hierfür liegt eindeutig bei der Aufsichtsbehörde, dem Bundesfinanzminister, dem Bundeskanzler und im weiteren Sinne auch den Fraktionen der Regierungskoalition in diesem Hause. ({3}) Meine Damen und Herren, der vierte kapitale Fehler, welcher der Bundesregierung angelastet werden muß, liegt im finanzpolitischen Bereich. Das falsche Aufschwungmodell, der Glaube an eine schnelle Genesung durch die Selbstheilungskräfte des Marktes, hat die Hemmschwelle der Bundesregierung vor einer umfangreichen Kreditaufnahme gesenkt. Die Folge davon ist eine hohe Staatsverschuldung, mit der wir heute und in den folgenden Jahren leben müssen. Die haushaltspolitische Handlungsfähigkeit, die wir in der Zukunft so bitter nötig hätten, ist somit in unverantwortlicher Art und Weise eingeschränkt worden. Meine Damen und Herren, die Liste der politischen Fehlentscheidungen wäre unvollständig, würde man nicht auf das vielleicht entscheidende Defizit hinweisen. Das, was die Bundesregierung nun in aller Hektik unter dem Stichwort Solidarpakt zu schmieden versucht, das Zusammenführen von Ost und West, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie von Regierung und Opposition an einen Tisch mit dem Ziel eines nationalen Konsenses, kommt um zwei Jahre zu spät. Wir alle, unabhängig davon, ob wir zur Regierungskoalition oder zur Opposition gehören, können nur hoffen, daß die tiefen Wunden, die mittlerweile bei den Ostdeutschen und den Westdeutschen entstanden sind, und die eingeleiteten Fehlentwicklungen durch diese späte Initiative der Bundesregierung allmählich geheilt werden können. ({4}) Meine Damen und Herren, die Liste der politischen Versäumnisse, an die noch manches andere anzufügen wäre, steht genauso im Stammbuch dieser Bundesregierung wie die von der Koalition unermüdlich beschworenen und im übrigen von der Opposition nie geleugneten Verdienste dieser Regierung um die staatliche Einheit Deutschlands. Hier gibt es kein Sichherausreden auf Wissensdefizite aus dem Jahre 1990. Wer beim wirtschaftlichen Desaster Ostdeutschlands lange Zeit wegschaut und nichts tut, der wird selbst zur Ursache des wirtschaftlichen Niedergangs. ({5}) Meine Damen und Herren, bleiben wir noch einen Augenblick bei den ostdeutschen Realitäten. Nur das Bewußtmachen dessen, was in Ostdeutschland passiert, vermag die immer noch andauernde Handlungsblockade der politisch Verantwortlichen abzubauen. Das, was seit zwei Jahren in der ostdeutschen Wirtschaft stattfindet und was von einigen Mitgliedern dieses Hauses - ich erinnere mich an die Aktuelle Stunde von gestern - immer noch zynisch als Anpassungsprozeß bezeichnet wird, ist ein rasantes Zerfallen ökonomischer Strukturen im umfassenden Sinne. Für einige Regionen ist dieser Prozeß der Entindustrialisierung nahezu abgeschlossen. Das Bruttoinlandsprodukt, welches auf dem Territorium der ehemaligen DDR 1991 produziert wurde, betrug mit seinen 183 Milliarden DM noch nicht einmal 28 % dessen, was im gleichen Zeitraum allein das Bundesland Nordrhein-Westfalen zu produzieren in der Lage war. Damit wurde in den neuen Bundesländern eine Leistung erbracht, die gerade 7 % dessen beträgt, was in den alten Ländern gefertigt wurde. Nach Untersuchungen ostdeutscher Betriebsräte - auch diese Zahlen sind Ihnen bekannt - sind mittlerweile drei von vier Arbeitsplätzen vernichtet worden. Der Blick in einzelne Regionen, in einzelne Branchen verdunkelt das Bild eher noch. In Sachsen wurde die Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe im Zeitraum von September 1989 bis Mai 1992 beispielsweise von 1 129 700 auf unter 300 000 reduziert; das sind 26 % des Ausgangswertes. Im Bereich der Investitions- und Verbrauchsgüterindustrie des Freistaates liegen wir bei den Arbeitsplätzen mittlerweile bei 24 %, und im Maschinenbau - für Sachsen ursprünglich einmal ein prägender Industriezweig - hat ein Beschäftigungsabbau auf 10 % der Ausgangsgröße stattgefunden. Besonders hart sind von dieser Massenarbeitslosigkeit die Frauen betroffen. In meinem Wahlkreis, dem sächsischen Vogtland, wurde bereits ein Frauenanteil an der Arbeitslosigkeit von 77 % erreicht. Der Verlust ökonomischer Selbständigkeit, der Zusammenbruch von Lebensperspektiven und Selbstwertgefühl sowie der drohende soziale Abstieg, vor allem für alleinerziehende Frauen, stehen unausgesprochen hinter diesen Zahlen. ({6}) Der Tiefpunkt dieser Entwicklung scheint hingegen noch nicht erreicht zu sein. Nach den Erkenntnissen des Ifo-Instituts wird sich, wie das „Handelsblatt" bereits am 27. Juli dieses Jahres schrieb, der Stellenabbau in der Ostindustrie fortsetzen. Die Mitarbeiterzahl soll danach bis Ende des Jahres um weitere 9 % reduziert werden. Meine Damen und Herren, die Kommunen und Länder, die in den alten Bundesländern als Träger öffentlicher Investitionen ein entscheidender konjunkturpolitischer Faktor sind, haben in Ostdeutschland wegen ihrer Finanzschwäche dieser Entwicklung kaum etwas entgegenzusetzen. Obwohl die Bundesregierung nicht müde wird, von ihren angeblich so umfangreichen Leistungen für die neuen Bundesländer zu reden, stimmt dies mit den Realitäten in keiner Weise überein. ({7}) Statt eines langfristigen wirtschafts- und finanzpolitischen Konzepts stellt sie die Transferleistungen von West nach Ost übertrieben dar und schürt damit die Ängste im Westen - so ein Zitat Ihres CDU-Kollegen Kolbe vom 14. August dieses Jahres in der „Zeit" . ({8}) Der sächsische Finanzminister Milbradt ({9}) beziffert in einer amtlichen Pressemitteilung vom 28. Juli des Jahres die Nettobelastung des Bundes wegen der neuen Länder für 1993 mit noch nicht einmal 13 Milliarden DM. Andererseits ist die Bundesregierung durchaus freigebig gegenüber den neuen Bundesländern mit der Zuordnung von Altschulden aus dem Kreditabwicklungsfonds, aus der Treuhandanstalt oder etwa aus dem Wohnungsbereich. Originalzitat Milbradt: Diese zunächst geplanten Zuordnungen und die zur Deckung des laufenden Etats notwendige Neuverschuldung würden zu einer Schuldenbelastung der neuen Länder einschließlich ihrer Gemeinden von insgesamt 210 Milliarden DM ({10}) führen, was einer ProKopf-Verschuldung von 12 563 DM entspricht. Diese Summe überschreitet die Verschuldung der Altbundesländer um rund 5 000 Mark pro Kopf. Und ich füge hinzu: ohne daß im Ergebnis dieser Verschuldung eine intakte Infrastruktur und ein Wohnraumvolumen entstanden sind, wie dies in den Altbundesländern im Ergebnis von 40 Jahren der Fall war. Dieses Konzept hat mit Entwicklungsarbeit nichts mehr zu tun. Dieses Programm heißt Abschwung Ost und verbannt die ostdeutschen Länder und Kommunen in den Schuldenturm der Nation. ({11})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Kollege Schwanitz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grünbeck?

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, wenn Sie die kommunale Verschuldung so dramatisieren, können Sie mir dann die Frage beantworten, warum die Stadt Leipzig in der Lage ist, einen 100-Millionen-Kredit an die Stadt Hannover zu geben? ({0})

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich sage Ihnen von dieser Stelle aus zu, daß ich das sehr gern nachprüfen werde. Ich denke, daß wir im Anschluß auch noch individuell darüber reden können. ({0})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Kollege Schwanitz, ich habe das Gefühl, Sie können sich die Nachprüfung ersparen, wenn Sie jetzt auch noch dem Kollegen Küster eine Zwischenfrage gestatten.

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es wäre natürlich ein Ungleichgewicht der Mittel, wenn ich das Herrn Küster verwehren wollte.

Dr. Uwe Küster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Schwanitz, kann es sein, daß die Finanzzuweisungen des Bundes an die Länder und dann weiter von den Ländern an die Kommunen durchaus in einem Diskontinuum stehen und die Ausgaben kontinuierlich laufen, so daß zufälligerweise im Osten auch Anhäufungen entstehen können, die dann natürlich auch, wie das kassenüblich ist, weitergegeben werden können?

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich kann mir das durchaus vorstellen. Mich würde es auch sehr wundern, wenn die Situation von Leipzig, das ja auch im Unterstellungs- und Zuordnungsbereich von Herrn Milbradt liegt, eine eklatante Ausnahme innerhalb von Sachsen wäre. ({0}) Meine Damen und Herren, der von den Sozialdemokraten am 22. Juni dieses Jahres beschlossene und heute eingebrachte Antrag „Gemeinschaftsinitiative Neue Lander" zeigt die wichtigsten Problembereiche der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Ostdeutschlands auf und beschreibt die nach unserer Meinung notwendigen Instrumentarien für das Handeln der Regierung. Der Antrag soll nach dem Überweisungsvorschlag heute an insgesamt 13 Ausschüsse des Bundestages überwiesen werden. Wir versprechen uns davon die Möglichkeit, dieses Thema in diesem Hause umfassend und zusammenhängend zu diskutieren. ({1}) Die Menschen in Ostdeutschland definieren die Untätigkeit der Bundesregierung angesichts der erdrükRolf Schwanitz kenden Problemlage als fundamentale Krise des politischen Systems in Deutschland. ({2}) Von den daraus erwachsenden Problemen und auch Vorwürfen wird kein Politiker ausgenommen, gleich, ob er in der Opposition oder der in der Koalition sitzt. Deswegen müssen wir in dieser Komplexität darüber reden. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns an Hand dieses Antrags über vermeintliche ideologische Schatten springen und gemeinsam endlich den überfälligen Kurswechsel in den neuen Bundesländern einleiten. Die Beschlüsse des Bundeskabinetts vom gestrigen Tage zur Absatzförderung ostdeutscher Produkte und zur Unterstützung des Osthandels, für die Sozialdemokraten in der Vergangenheit so vehement eingetreten sind, sind für mich ein zwar unzureichendes, aber doch ermutigendes Signal. Hier dürfen wir jedoch nicht stehenbleiben. Wir müssen endlich zu einer Umsteuerung beispielsweise der Treuhandpolitik kommen. ({3}) Wenigstens die letzten industriellen Kernbereiche müssen mit einer Bestandsgarantie versehen und unter strukturpolitischen Prämissen saniert werden. ({4}) Lassen Sie uns in bezug auf die offenen Vermögensfragen reden und handeln. Wir müssen weg von dieser Dauerblockade des Mittelstandes und der kommunalen Entwicklung. Geben wir den Kommunen endlich das Recht zur Ausweisung von Sondergebieten, damit wenigstens partiell die geltend gemachten Vermögensansprüche auf Entschädigung umgelenkt werden können. ({5}) Legen Sie von der Regierungskoalition bitte endlich das längst überfällige Entschädigungsgesetz auf den Tisch. Die Ungewißheit über die Anspruchslage seit zwei Jahren nach Verabschiedung des Vermögensgesetzes ist für die Wirtschaft und die Menschen unerträglich. ({6}) Sorgen Sie von der Regierungskoalition für eine stärkere Finanzierung von Arbeit, statt weiterhin vorrangig Arbeitslosigkeit zu bezahlen. ({7}) Verzichten Sie auf den Abbau von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, wie dies die Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes, die ja geplant ist, vorsieht. Das von den Sozialdemokraten vorgelegte Strukturförderprogramm ist sowohl aus arbeitsmarktpolitischer als auch aus infrastruktureller Sicht dringend notwendig. ({8}) Sorgen Sie endlich für eine der Problemlage gerecht werdende Finanzausstattung ostdeutscher Länder und Kommunen. Auch die Wiederauflage der 1992 weggefallenen Investitionspauschale - mittlerweile sieht das ja sogar die F.D.P. so - sowie das Auffüllen der bereits Anfang des Jahres ausgeschöpften Fördertöpfe - ich nenne hier nur das Kommunalkreditprogramm, das Wohnungsmodernisierungsprogramm und die Förderung nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz - sind dringend geboten. Beleben Sie den ostdeutschen Wohnungsbau, indem Sie endlich die Wohnungsgesellschaften zumindest teilweise von ihren Altschulden befreien. ({9}) Meine Damen und Herren, öffnen Sie sich endlich der sozial gerechteren Finanzierung der Kosten der deutschen Einheit. Nehmen Sie die Einsparungsvorschläge der Sozialdemokraten - beispielsweise beim Verteidigungshaushalt oder bei den Steuersubventionen - auf, und sorgen Sie endlich durch eine Arbeitsmarktabgabe für Selbständige, Beamte, Minister und Abgeordnete sowie durch die Einführung einer Ergänzungsabgabe für Besserverdienende für das notwendige Finanzvolumen, das wir im Osten brauchen. ({10}) Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Regierungskoalition, ziehen Sie sich angesichts der vor Ihnen stehenden Probleme und der geduldeten politischen Fehlentscheidungen nicht in Passivität zurück. Nutzen Sie dieses umfangreiche Diskussionsund Handlungsangebot. Greifen Sie unsere Vorschläge, so wie dies die ostdeutschen Abgeordneten in der CDU-Fraktion meines Erachtens durchaus getan haben, auf. ({11}) Das Original ist zwar meist besser als die Kopie, aber angesichts der drohenden Situation sind wir für jedes Plagiat dankbar. Danke. ({12})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun hat der Kollege Michael Wonneberger das Wort.

Michael Wonneberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002562, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Gegenstand meines Beitrags ist der Antrag der SPD mit dem eigentlich verbindenden Titel „Gemeinschaftsinitiative Neue Länder" auf der Drucksache 12/2874. ({0}) Welche Gemeinsamkeiten und welchen Grad der Zustimmung erwarten Sie, meine Damen und Herren auf den harten Oppositionsbänken, wenn Sie Ihren Antrag mit den Feststellungen beginnen „Die Politik der Bundesregierung zur Gestaltung der sozialen und wirtschaftlichen Einigung ist gescheitert" und „Die Bundesregierung mißachtet - zum Teil aus vordergründigem tagespolitischem Nützlichkeitsdenken - den historischen Rang dieser Einigungsaufgabe"? ({1}) Das ist wahrlich eine polemische Meisterleistung, die unabhängig davon, daß Sie damit die Tatsachen auf den Kopf stellen, allein ausreicht, um einem Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion die Zustimmung unmöglich zu machen. Deswegen fällt der Vorwurf des tagespolitischen Nützlichkeitsdenkens voll auf Sie zurück. Dennoch begrüße ich Ihre späte Einsicht, daß „die Deutsche Einheit ... eine Herausforderung und eine große Chance für alle Menschen in unserem Land" ist. ({2}) Während Sie mit Ihrem Antrag noch Ihre Zielvorstellungen zur Ausgestaltung der deutschen Einheit formulierten, hat die Bundesregierung bereits gehandelt. So ist z. B. Ihre Forderung nach einer Verlängerung des Altersübergangsgeldes bis zum 31. Dezember 1992 wahrlich nicht mehr zeitgemäß. Gleiches trifft auf die Fortführung der Förderprogramme über das Jahr 1992 hinaus zu. Sie brauchen nur einen Blick in den Haushaltsplanentwurf 1993 und auf die Eckdaten bis 1996 zu werfen, um dies festzustellen. ({3}) Auch Ihr Vorwurf, Investitionen und damit die Schaffung neuer Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern zu behindern, ist u. a. angesichts des am 26. Juni 1992 vom Deutschen Bundestag bereits beschlossenen Zweiten Vermögensänderungsgesetzes nicht mehr aufrechtzuerhalten. ({4}) - Sie können in meinen Papierkorb gucken. Ein letztes Beispiel. Die kommunale Investitionspauschale wäre auch im Jahr 1992 gezahlt worden, wenn sie nicht am Widerstand der neuen Bundesländer, auch dem von der SPD regierten Brandenburg, gescheitert wäre. Es macht Ihnen offensichtlich nichts aus, der Bundesregierung bei jeder Gelegenheit einen beispiellosen Schuldenanstieg des Staates zu unterstellen, im gleichen Atemzug aber ständig neue Strukturprogramme und vollere Fördertöpfe zu fordern. ({5}) Gestatten Sie mir die Frage: Wie gehen Sie mit dem Vorhandenen dort um, wo Sie selbst Regierungsverantwortung tragen? ({6}) Lassen Sie mich dazu etwas Lokalkolorit in die Debatte einbringen. In Brandenburg, wo die Braunkohleförderung ein lebenswichtiges wirtschaftliches Standbein ist, wird die Privatisierung der Laubag u. a. dadurch verzögert, daß die Landesregierung den Investoren die Planungssicherheit für einen 30jährigen Weiterbetrieb des Tagebaus weiterhin vorenthält. ({7}): Sehr vernünftig!) Selbst bei größtmöglichen Anstrengungen ist mit der Genehmigung der Rahmenbetriebspläne kaum vor Ende 1993 zu rechnen. Fragen Sie einmal die Kohlekumpel, was sie darüber denken! ({8}) Die Klage, daß die Kulturlandschaft in den neuen Ländern wegbricht, wird von der SPD-geführten Landesregierung in Brandenburg offensichtlich nicht so gesehen. ({9}) Wie sonst ist es zu erklären, daß auf eine Initiative der CDU-Abgeordneten aus den neuen Bundesländern zur Erstellung einer Prioritätenliste förderungswürdiger Kulturobjekte von nationaler Bedeutung erst auf wiederholte Nachfrage geantwortet wird und dann der vorgeschlagene Finanzrahmen von der Landesregierung noch nicht einmal zu 10 % ausgeschöpft wird? ({10}) - Ich beantworte konkret Ihre Fragen in diesem Antrag.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Kollege Wonneberger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bartsch?

Michael Wonneberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002562, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte zunächst fortfahren; vielleicht erübrigt sich dann Ihre Frage. Wie glaubhaft ist eigentlich der Ruf nach mehr Fördermitteln im Bereich des Umweltschutzes, wenn in diesem Bereich das wahrlich gebeutelte Brandenburg die Haushaltsmittel der Landesregierung per 31. Juli dieses Jahres erst zu 18,7 % in Anspruch genommen hat? So sieht die traurige Wirklichkeit dort aus, wo die SPD die Regierungsverantwortung trägt. ({0}) Statt populistische Anträge zu formulieren, sollten Sie die Bundesregierung lieber bei der Verwirklichung der zweifellos vorhandenen gemeinsamen Zielvorstellungen unterstützen. Ich denke dabei besonders an das Zustandekommen eines Solidarpaktes, an Hilfsmaßnahmen für den Handel ostdeutscher Betriebe mit osteuropäischen Märkten, an den Aufbau der Infrastruktur, an die Herstellung der Rechts- und Planungssicherheit, an einen höheren Anteil ostdeutMichael Wonneberger scher Unternehmen bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen ({1}) sowie an ein vereinfachtes Recht zur Entbürokratisierung in Deutschland. Sie können dies und weitere Vorschläge zum gemeinsamen Denken und Handeln gern im Leipziger Beschluß des geschäftsführenden Vorstands der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 28. August 1992 nachlesen. Wenn Sie darüber hinaus noch Nachhilfe brauchen, ({2}) können Sie auch das Erfurter Papier ({3}) vom 24. und 25. August nachlesen, das das Ergebnis einer zweitägigen Klausurberatung der ostdeutschen Bundestagsabgeordneten war. Für meine Fraktion und die Bundesregierung gilt nach wie vor das, was

Not found (Kanzler:in)

Vorfahrt hat, was die Menschen in den neuen Bundesländern bewegt. ({0}) Danke schön. ({1})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun spricht der Kollege Jürgen Türk zu uns. ({0})

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Antrag der SPD Gemeinschaftsinitiative Neue Länder will ich einleitend sagen, daß sich der Aufruf zu einer großen nationalen Anstrengung, an der sich alle Gruppen auf allen Ebenen unserer Gesellschaft beteiligen müssen, voll mit unseren Vorstellungen in der Koalition deckt. ({0}) Die heutige Jammerei widerspricht dem allerdings. „Dieser Konsens muß angesichts einer ungewöhnlichen, historischen Herausforderung auf der Grundlage klarer Ausgangspositionen, aber auch ohne Denkverbote angestrebt werden" - übrigens ein Zitat: Jürgen Möllemann in „Strategie für den Standort Deutschland". Es wäre ebenso eine historische Leistung, wenn wir von der bisherigen gegenseitigen Polemik, liebe Kollegen von der SPD, endlich zu konstruktivem Meinungsstreit im Interesse unserer Menschen fänden. ({1}) Schönreden hilft nicht. Aber Jammern hilft auch nicht. Unterstützen Sie uns doch bei unseren vorzuweisenden Bemühungen! Diese gibt es mit Sicherheit. Und auch das möchte ich sagen: Nie war die von Anfang an geforderte konzertierte Aktion so nötig wie jetzt. Machen wir sie doch auch! ({2}) Wenn Sie jetzt meinen, daß ich Ihren Vorschlägen vorbehaltlos zustimme, ({3}) so muß ich Sie leider enttäuschen; denn neben vielen guten Ideen ist inzwischen eine Vielzahl von Maßnahmen realisiert, aber einige Forderungen sind nicht machbar bzw. nicht bezahlbar. Sie haben heute auch vom Schuldenmachen gesprochen. Bei allem Konsens, daß arbeitsmarktpolitische Instrumente als Überbrückung notwendig sind, fehlen, wenn man solche Forderungen überzieht, die entsprechenden Mittel für Investitionen zur Beschaffung von Dauerarbeitsplätzen. Hier muß man sich zusammensetzen und gemeinsam die ganze Bedarfsrechnung machen, und zwar nicht nur mit Sozialpolitikern. Dies muß gemeinsam mit Wirtschafts- und Finanzleuten geschehen. Vielleicht schaffen wir das dann. Dies könnte ja sein. Ebenfalls unbezahlbar sind Staatsholdings. Sie sprechen davon. Sie sind aber ein fiskalisches Faß ohne Boden ({4}) und würden dauerhaft unrentable Unternehmen erhalten. In diesem Sinne hat sich auch unser vielgeschätzter Professor Dr. Otto Schlecht geäußert. Das ist insbesondere unbezahlbar, ({5}) weil es nicht bei Einzelfällen bleibt. Sie sprechen von Einzelfällen. Sie deuten an, daß es sich um eine gefährliche Sache handelt. Dabei wissen Sie genau, daß es bei Einzelfällen nicht bleibt. Man beherrscht eben die Geister nicht, die man so ruft. Die Beweise liegen doch vor. ({6}) Staatsbetriebe der DDR waren durchweg dauersubventioniert. Sie wissen das doch. Das ist doch nicht erfunden. ({7}) - Das habe ich nicht gesagt. Das meine ich auch nicht. So etwas habe ich noch nie gesagt. ({8}) - Wenn Sie mich nicht immer stören, dann komme ich auch wieder zur Sache. Das gleiche finden wir bei einer Reihe von westdeutschen Unternehmen noch heute vor. Wenn das nicht Beweis genug ist! Sie müßten doch diese Erfahrungen an erster Stelle haben. Genau diese Mittel fehlen uns jetzt, um zügig bestehende Wettbewerbsnachteile auszugleichen. Das ist Fakt. Natürlich sind wir mit Ihnen der Meinung, daß eine massive Investitions- und Absatzförderung zur Ankurbelung des selbsttragenden Aufschwungs erforderlich ist - es reicht eben noch nicht, das ist richtig - und daß Investitionshemmnisse abgebaut werden müssen. ({9}) Übereinstimmung besteht auch über den zügigen Aufbau der Infrastruktur und über eine aktive Sanierung von entwicklungsfähigen Treuhandunternehmen. Eine Vielzahl Ihrer Forderungen ist allerdings inzwischen überholt, weil bereits erfüllt, so z. B. durch das zweite Vermögensänderungsgesetz und durch die Beschlüsse im Rahmen der AFG-Novelle, wie z. B. das neue Instrument § 249h „Arbeitsförderung Umwelt Ost. " ({10}) - Bitte, wir können doch darüber reden. Wir wollen doch heute damit anfangen. Oder nicht? Ich dachte, Sie hätten deswegen diesen Antrag gestellt. ({11}) Das Kabinett hat gestern auf Vorschlag des Wirtschaftsministers das Sofortprogramm zur Umstrukturierung und Modernisierung von Treuhandunternehmen sowie die Unterstützung der ostdeutschen Exporte auf Ost- und Westmärkten beschlossen. Darauf kommt es an. Dies ist sowohl auf Vorschlag von ostdeutschen Kollegen als auch auf Vorschlag von Ihnen geschehen. Darüber hinaus ist meines Erachtens zur Schaffung von Dauerarbeitsplätzen folgendes sofort erforderlich: Erstens Aufstockung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" - das sage ich ganz klar und deutlich - entsprechend dem Bedarf. Allein in Brandenburg liegen gegenwärtig 3 500 Förderanträge vor, die auf Grund der ausgeschöpften Mittel zur Zeit nicht bewilligt werden können. ({12}) Dabei werden Investitionen von 14 Milliarden DM - allein in Brandenburg - verzögert bzw. verhindert, weil damit - wie z. B. bei einem für Luckenwalde geplanten Unternehmen - bereits vorhandene Bundes- und Landesbürgschaften und Kreditverträge ungültig werden, Management abspringt und somit bereits geplante Arbeitsplätze entfallen. Dort müssen wir ansetzen. Wenn wir hier sparen, sparen wir an der falschen Stelle. Ist das Finanzministerium auf der Regierungsbank vertreten? - Ich betone das in diesem Sinne gegenüber dem Finanzministerium. Zweitens. Die Investitionszulage ist aufzustocken. Hier ist schnellstens über den Vorschlag der CDU-Kollegen aus Ostdeutschland zu sprechen; insbesondere ist es wichtig, eine Erhöhung für ostdeutsche Existenzgründer zu erreichen. Dabei müssen wir immer die Dauerarbeitsplätze im Hinterkopf behalten. Drittens. Kürzung der Umsatzsteuer. Ostdeutschland muß unbedingt ein Niedrigsteuergebiet werden. Das ist eine alte Forderung von uns. Es wäre richtig gewesen, sie durchzusetzen. ({13}) Viertens. Wir müssen die Europavereinigung durch eine EG-Ost-Zonenrandförderung voranbringen. Diese besondere Förderung ist erforderlich, weil die EG-Erweiterung nach Osteuropa nicht strukturschwache, sondern besonders wirtschaftlich starke Grenzregionen braucht. Fünftens. Die kommunale Investitionspauschale muß wieder gezahlt werden, da die finanzschwachen Kommunen diese unkomplizierte Direktzuweisung anstelle unproduktiver ABM dringend benötigen. Sechstens. Wir müssen sofort - das biete ich hier wieder an - darüber sprechen, wie die schnelle Verwertung bundeseigener Liegenschaften und Immobilien auch für gewerbliche und Industrieansiedlungszwecke ermöglicht werden kann. ({14}) Das ist eine absolute Reserve. Das bisherige Bieterverfahren ermöglicht zuwenig Spielraum für die situationsbedingte Abgabe und behindert sogar die Privatisierung bei Unternehmen mit nichtproduktionsnotwendigen Liegenschaften; Stichwort: Abspaltung. Siebtens. Die Wirksamkeit der Grundbuchämter und der Ämter für offene Vermögensfragen ist zu erhöhen. Die Hauptursache ist hier das fehlende Personal. Dort müssen wir ansetzen. Wir müssen konkrete Vorschläge auf den Tisch legen. Eine Lösung für die Abarbeitung der Antragsberge könnte nach meiner Meinung sein: Vorzugsweise werden aus der Problemgruppe der 50jährigen - in Kombination ABM/Umschulung; learning by doing - Arbeitnehmer in den Ämtern eingesetzt und für drei Jahre aus ABM-Mitteln bezahlt, wobei die Kommune noch für zwei Jahre Lohnzuschüsse erhält. Darüber hinaus sollten zeitlich begrenzt vorläufige Grundbucheintragungen auch ohne amtliche Vermessung in klaren Fällen möglich sein. ({15}) Das würde die Lage wesentlich entspannen. ({16}) Natürlich muß und sollte man aus Gründen der Haushaltskonsolidierung Deckungsvorschläge machen, wenn man seriös bleiben will. ({17}) Ich glaube, hier gibt es noch Spielraum: a) Endlich Dauersubventionsabbau. Dies muß natürlich hauptsächlich im Westen geschehen. Im Osten erfolgt das dadurch, daß wir privatisieren. b) Haushaltsreduzierung durch Rasenmäher bzw. Haushaltsstrukturgesetz. Natürlich muß dort endlich einmal durchgezogen werden. Wenn man das den Ministern überläßt, wird nichts daraus. c) Nutzung vorhandener Ressourcen in Ostdeutschland - das hatte ich schon gesagt -, d. h. von bundeseigenen Liegenschaften durch verbilligte Abgabe bzw. Anwendung des Erbbaurechts. Ich glaube, das ist ein gangbarer Königsweg. d) Sofortiger Länderfinanzausgleich, da der Bund allein den zusätzlichen Aufwand natürlich nicht tragen kann. Nun frage ich Sie, Kollegen von der SPD: Wo bleibt denn hier die Solidarität der Länder? Nehmen Sie also endlich Einfluß auf Ihre SPD-regierten Länder, die bisher an der deutschen Einheit eigentlich nur gewonnen haben! Auch das ist Fakt. ({18})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Jetzt wäre allmählich Schluß, und zwar ganz schnell.

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, ich komme zum Schluß. e) Nullrunden bei Tarifverhandlungen. Ich glaube, darüber und auch über die Tariföffnungsklauseln sollte man mit den Gewerkschaften, mit den Betriebsräten und den Geschäftsleitungen sprechen. Warum denn nicht flexible Regelungen?

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Warum denn nicht flexible Redezeit?

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. - Mit dem Sparen sollten wir natürlich im Bundestag anfangen. Wir sollten hier im Bundestag die erste Nullrunde einleiten. Ich glaube, daß wir über diese Sofortmaßnahmen unbedingt bald sprechen müssen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({0})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun hat der Kollege Dr. Fritz Schumann das Wort.

Dr. Fritz Schumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002114, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag der SPD-Fraktion entspricht dringenden Erfordernissen in Ost- und Westdeutschland. Seine Annahme würde die Situation der in den neuen Ländern lebenden Menschen verbessern und zugleich den Bürgern in den alten und auch den neuen Bundesländern für die Zukunft eine Menge Steuergelder ersparen, die andernfalls unproduktiv ausgegeben werden, im wesentlichen im konsumtiven Bereich und nicht im investiven, wie es so dringend erforderlich wäre. Der Antrag enthält eine Reihe von Forderungen, die nicht neu sind, aber bisher leider ungenügend gehört wurden. Um so wichtiger ist es, daß sie erneut in dieser komplexen Form hier vorgetragen werden. ({0}) Auch im Erfurter Zwölf-Punkte-Programm der ostdeutschen Mitglieder der CDU-Fraktion finden sich nun eine Reihe von Forderungen im Prinzip wieder. Gestern in der Aktuellen Stunde war denn auch in weiten Teilen ein parteiübergreifender Konsens festzustellen. Ich hätte mir gewünscht, daß das heute so fortgeführt würde, was zunächst nicht so aussah. ({1}) Wenn aus all den Überlegungen, Meinungen und Forderungen nichts wird, wenn die Meinung der Mehrheit der Mitglieder dieses Hauses nur dazu reicht, Debatten abzuhalten, und nicht dazu für die Menschen praktisch etwas zu verändern, dann kann man das mangelnde Verständnis der Bürgerinnen und Bürger für Politik verstehen. ({2}) Meines Erachtens können die Bürgerinnen und Bürger zu Recht erwarten, daß hier in Bonn eine sachbezogene Arbeit mit konkreten Ergebnissen in überschaubaren Zeiträumen gemacht wird. ({3}) - Herr Grünbeck, wir würden da voll mitmachen, wenn Sie das gestatteten. Aber Sie wollen das gar nicht. Für besonders dringlich im Antrag halten wir erstens Maßnahmen gegen Massenarbeitslosigkeit und unsichere Beschäftigungsverhältnisse, zweitens Maßnahmen für die Verbesserung der sozialen Lage der Frauen und drittens Maßnahmen zur Verbesserung der Lage in der Landwirtschaft. Besonders berührt bin ich vom Abwandern qualifizierter Forscher und Techniker aus den neuen Ländern, wo ein wirtschaftlicher Aufschwung nur über neue Technologien und Erzeugnisse möglich sein wird. Marktfähige Produkte, die im harten Wettbewerb bestehen können, erfordern - das ist eigentlich eine Binsenwahrheit - wissenschaftlich-technische Vorleistungen. Die besten Kräfte sind jedoch in vielen Fällen schon lange abgewandert. Zunächst möchte ich einfordern, daß die übereinstimmenden Meinungen von Abgeordneten aller hier vertretenen Parteien zu einem gemeinsamen Handeln des Parlaments führen. Faßt man es einmal zusammen, müßten insbesondere folgende Punkte durchaus mehrheitsfähig sein: erstens eine Arbeitsmarktabgabe auch für besserverdienende Beamte und Selbständige, zweitens eine Ergänzungsabgabe für höhere Einkommen, weil die Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen im letzten Jahrzehnt doppelt so stark zugenommen haben wie die Einkommen aus unselbständiger Tätigkeit. Dabei halte ich die Form, ob als Ergänzungsabgabe auf höhere Einkommen, als Investitionsanleihe oder beides, wie wir es vorgeschlagen haben, für diskussionswürdig. Die Diskussion darf aber eine schnellstmögliche Entscheidung nicht hinauszögern oder gar verhindern. Die Lage vor Ort zu verändern, das muß das Kriterium sein. Drittens wären Ergebnisse in der Diskussion zu einer sozial gerechten Besteuerung von Immobilienbesitz und Geldvermögen sowie ein Umbau der Dr. Fritz Schumann ({4}) jetzigen Steuerprivilegien in Richtung wirksamer Entlastung für Erziehende und Menschen mit geringerem Einkommen sehr notwendig. Viertens verlangt inzwischen nicht nur die PDS, daß es Vorgaben für Sanierung und Privatisierung durch die Treuhand im Rahmen regionaler Strukturprogramme gibt. Das schließt eine regionale Industriestrukturpolitik ein. Das Ziehen der staatlichen Notbremse wie im Fall des Edelstahlwerkes in Freital ist eine Feuerwehraktion. So etwas kann und muß gezielter organisiert werden. ({5}) Gestatten Sie mir als Landwirt, daß ich auch zu diesem Themenkreis noch ein paar Bemerkungen mache. Die im SPD-Antrag enthaltenen Forderungen zur Landwirtschaft betrachtet die PDS/Linke Liste als ein Paket von Mindestmaßnahmen. Wenn auch sie keineswegs neu sind, sind sie doch von dringender Aktualität, zumal die Bundesregierung bisher fast jede vernünftige Forderung von sich wies. Fest steht, vieles hätte längst geändert werden können und müssen. ({6}) - Das ist tatsächlich so. Ich arbeite nach wie vor in der Landwirtschaft und merke jeden Tag, was da abläuft. Bis heute weiß niemand im Raum Magdeburg, auch die Wiedereinrichter und Neueinrichter nicht, auf welchem Boden er die nächste Ernte bestellen kann. Vielleicht denken Sie einmal darüber nach, was das bedeutet. In den letzten zwei Jahren hat es geklappt. Da wußten wir das wenigstens im August, in diesem Jahr bis heute noch nicht. ({7}) - Denken Sie einmal an die letzten zwei! Ich will hier einige Beispiele anführen. 1991 wurden nur 63 % der Mittel für die einzelbetriebliche Investitionsförderung in Form staatlicher Investitionszuschüsse und Zinsverbilligungen ausgeschöpft. Hinzu kam, daß weniger als ein Zwölftel der Sollmittel an Genossenschaften und Kapitalgesellschaften ging. In diesem Jahr brauchen die Mittel wahrscheinlich nicht umgeschichtet zu werden, aber die extreme Benachteiligung der juristischen Personen bleibt unverändert - und das, obwohl sie drei Viertel der landwirtschaftlichen Fläche bewirtschaften, vier Fünftel der Tierprodukte erzeugen und erheblichen Investitionsbedarf haben. Die bereits vor über eineinhalb Jahren von der Bundesregierung entschiedene 1,4-Milliarden-DMTeilentschuldung von Agrarunternehmen ist bisher nur Propaganda. Bis Mitte August hatte die Treuhandanstalt Schuldübernahmeverträge von weniger als 20 Millionen DM abgeschlossen. Das blockierte die Neuvergabe von Investitionskrediten und treibt weitere Betriebe in Liquidation und Gesamtvollstrekkung. Bisher besteht für die Mehrzahl der Agrarbetriebe keinerlei Klarheit hinsichtlich einer langfristigen Verfügung der sogenannten Treuhandflächen. Ganz offensichtlich verhindert das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" die ökonomisch erforderliche rasche Klärung dieser Frage. Es ist deshalb geboten, dieses zerstörerische Prinzip endgültig aufzugeben. Genauso entschieden lehnen wir ab, daß beim geplanten Wiedereinrichterprogramm sowohl ortsansässige Neueinrichter, die aus bekannten Gründen kein Bodeneigentum der DDR erwerben konnten, als auch landbesitzende Bauern, eingetragene Genossenschaften und Gesellschafter anderer LPG-Nachfolgeunternehmen vom subventionierten Kaufpachtmodell ausgeschlossen werden sollen. Damit würde erstens die unselige Teilung in Eigentümer und Habenichtse zementiert. Zweitens stünde ein beträchtlicher Teil des gegenwärtig von LPG-Nachfolgeeinrichtungen bewirtschafteten Bodens zur Disposition. Damit wäre ihre Zerstörung vorprogrammiert. Angesichts der ins Auge springenden Widersprüche zwischen agrarpolitischer Selbstdarstellung der Bundesregierung und den tatsächlichen Ergebnissen braucht sich niemand über Politikverdrossenheit in diesem Lande zu beklagen. Alles in allem erfordert die nüchterne Analyse der Lage nach zwei Jahren staatlicher Einheit eine prinzipielle Korrektur der Rahmenbedingungen. Notwendig ist eine neue Politik auf fast allen Feldern. Ich bedanke mich. ({8})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun erhält der Kollege Klaus-Dieter Feige das Wort.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Immer neue Begriffe, aber keine neuen Lösungsansätze für die Probleme Ostdeutschlands werden seit Monaten aus der Tasche gezogen. Ob Gemeinschaftsinitiative neue Länder, Solidarpakt, Konzertierte Aktion oder Runder Tisch, stets geht es um das gleiche Anliegen, nämlich die Schaffung eines breiten nationalen Konsenses zur Überwindung der wirtschaftlichen Not im Osten. Ein löbliches Unterfangen, will man meinen. Nichtsdestotrotz kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß im Jahr zwei der deutschen Einheit und im Jahr zehn des Kanzlers Kohl noch immer nicht ins Bewußtsein gerückt ist, vor welcher Herausforderung wir wirklich stehen. So als sei nichts gewesen, als sei business as usual angesagt, schließt Deutschland die Augen vor den Realitäten, von der Regierung über die Gewerkschaften, von den Unternehmen bis zur Wissenschaft. Ein tatsächlicher Dialog zwischen den Parteien und Verbänden, der Voraussetzung für konsensuale Lösungen wäre, findet nicht statt. Noch viel weniger findet der gesellschaftliche Dialog statt, die Auseinandersetzung mit den Menschen in Ost und West, die endlich reinen Wein eingeschenkt bekommen müssen - die im Westen, daß die Finanzierung der Einheit jetzt erst beginnt und eine lange Zeit brauchen wird; die im Osten, daß der Aufschwung nicht über Nacht zu erreichen ist, sondern ein steiniger und für viele bitterer Weg gegangen werden muß. Statt Wahrheit und Klarheit erleben wir altbekannte Rituale. Hier im Bundestag haben die Redner der Regierung nicht mehr zu sagen als: Die Opposition taugt nichts, die Regierung hat die alleinseligmachenden Konzepte! Die Opposition postuliert genau das Gegenteil. Gleichermaßen verfahren oftmals Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Industrie und Umweltschützer. In Zeiten, in denen es vor allem um die Verteilung von Zuwächsen geht, kann eine solche Politik möglicherweise ein gemütliches Dasein fristen. Heute aber geht es genau um das Gegenteil, nämlich um Opfer und Verzicht in West- und Ostdeutschland, und es geht um den Ausgleich zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden in dieser Welt. Die Menschen in diesem Land, jedenfalls die meisten, haben längst eine Ahnung davon, daß die kommenden Jahre eher magere Jahre sein werden. Die Phrasen vieler Politiker werden nicht mehr ernstgenommen, die Parteien- und Politikverdrossenheit hat ungeahnten Auftrieb bekommen. Derweil sorgen sich unsere Politiker um ihre Glaubwürdigkeit, statt um Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit zu ringen. ({0}) Die Bundesregierung bietet derweil ein völlig konfuses Bild. Von Waigel bis Krause kommen immer neue Schnellschüsse, die Hoffnungen wecken, Hoffnungen, die gar nicht erfüllt werden können. Jüngst Herr Möllemann mit einem Sammelsurium von Vorschlägen uralten Stils. Wer derartige Nebelwerferei betreibt, ist schlichtweg unseriös. Vor mehr als zwei Jahren ist mit der Währungsunion die schnelle politische Einheit in Deutschland in die Wege geleitet worden. Das schon damals ersichtliche ökonomische Risiko wurde durch die Koalition ignoriert. Jegliche wirtschaftspolitische Vernunft wurde über Bord geworfen. In ideologischer Verblendung gefangen, glaubte die Regierung, daß die Angleichung der Lebensverhältnisse im Selbstlauf erfolgen werde. Diese völlige Überschätzung der Selbstregulierungskräfte der Marktwirtschaft führt nun geradewegs ins Fiasko. Bis heute hat die Regierung aus dem Scheitern ihrer Politik keine Konsequenzen gezogen. Durchhalteparolen, Täuschung und Irreführung - das ist nach wie vor das Markenzeichen der herrschenden Wirtschafts- und Finanzpolitik. Es ist müßig, immer wieder den Vorwurf der Steuerlüge zu wiederholen, aber angesichts des bevorstehenden Bruchs weiterer Versprechungen müssen die Menschen in diesem Land immer wieder daran erinnert werden, daß der Bundeskanzler den Satz geprägt hat, es werde nach der Einheit keinem Deutschen schlechtergehen. Die industrielle Produktion in Ostdeutschland liegt heute um zwei Drittel unter dem Niveau von 1989. Eine abenteuerliche Wachstumsrate von - sagen wir einmal - jährlich 10 % vorausgesetzt, wird im Jahre 2004 in Ostdeutschland der Stand von 1989 erreicht sein; ungefähr im Jahre 2015 wird dann die alte Bundesrepublik von 1989 eingeholt. Bis tatsächlich ein Gleichstand erreicht ist, werden weitere Jahrzehnte vergehen. Angesichts der Tatsache, daß frühere Prognosen, die von einer deutlichen Belebung der Produktion im Jahre 1992 ausgingen, mittlerweile als unrealistisch anzusehen sind, dürfte die weitere Entwicklung eher düster aussehen - siehe den jüngsten Bericht des Kieler Instituts für Weltwirtschaft und des deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung an den Bundeswirtschaftsminister. Aber welche Ideen hat die Bundesregierung denn angesichts solcher Informationen, und welche Konzepte hat der „Hans Dampf in allen Gassen" Möllemann angesichts der Deindustrialisierung im Osten? ({1}) - Sie werden meine ja noch hören, wenn Sie Geduld haben, aber die haben Sie zur Zeit ja nicht! Ist es nicht geradezu absurd, daß eine Vielzahl von Einkaufszentren in den neuen Ländern gebaut wird, nur weil abenteuerliche Steuervergünstigungen Lokken, im Produktionsbereich aber die Investitionen fehlen? Die westdeutsche Wirtschaft hat in Fabriken im Osten im Jahre 1991 lediglich 9,5 Milliarden DM investiert, und im laufenden Jahr werden es maximal 18 Milliarden DM werden. Berücksichtigt man dabei noch die Käufe von Treuhandfirmen, die Investitionen der Telekom und die staatlichen Zulagen, so bleibt nur ein Kleckerbetrag an Eigenmitteln übrig. Die deutsche Wirtschaft hat in Brasilien und Mexiko im vergangenen Jahr wesentlich mehr investiert als in die neuen Bundesländer. ({2}) Die Arbeitsplatzeffekte sind zumindest teilweise mehr als zweifelhaft. Zum Beispiel: Das Opel-Werk in Eisenach, gestern vom Kanzler als Glanzstück westlicher Investitionspolitik gepriesen, hat rund i Milliarde DM gekostet und soll 2000 Menschen Arbeit bieten. Eine halbe Million pro Arbeitsplatz - das ist etwa das Doppelte, was ein ähnlicher Arbeitsplatz in den alten Ländern kostet. Gerade aber die Investitionen der Automobilhersteller zeigen, daß es an einer gezielten Förderungspolitik mangelt. Ausgerechnet die Branche, die seit Jahren weltweite Einbrüche erlebt, wird als Musterbeispiel einer modernen Industriepolitik gepriesen. Leider handelt es sich dabei aber nicht um Investitionen in eine zukunftsträchtige Produktion, sondern um einen Schritt in die Vergangenheit, den wir alle zusammen noch sehr teuer werden bezahlen müssen.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Kollege Feige, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Cronenberg gestatten?

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000342, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Dr. Feige, ich wollte Sie fragen, ob Sie bei Ihrer Rechnung 1 Milliarde DM = 2 000 Arbeitsplätze vielleicht übersehen haben, daß die Zulieferanten ver9164 Dieter-Julius Cronenberg ({0}) pflichtet worden sind, in der Region Investitionen vorzunehmen und entsprechende Arbeitsplätze zu bieten.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist wieder einmal symptomatisch, daß Sie das eigentliche Anliegen meiner Aussage gar nicht begriffen haben. Mir geht es darum, deutlich zu zeigen, daß wir, selbst wenn wir sehr viel Geld investieren, es nicht in Wirtschaftszweige investieren sollten, bei denen wir es zutiefst bereuen müssen. Und wenn es noch mehr Geld gewesen wäre, so werden uns diese Aufwendungen für die Automobilindustrie in Zukunft sehr viel Geld im Umweltbereich kosten, und so haben wir insgesamt einfach keine Konzeption, wie wirklich Arbeitsplätze mit einer Chance für die Zukunft aufgebaut werden können. Da nutzt es auch nichts, noch mehr Geld hineinzugeben. ({0}) Aus umweltpolitischer Sicht kann ich aber insgesamt den Niedergang der Automobilindustrie nur begrüßen. Und wenn die Bundesregierung ihr CO2-Ziel ernst nimmt, wird sich diese Entwicklung noch beschleunigen, denn das Automobil ist unbestritten zum Umweltfeind Nr. 1 geworden. Für einen tiefgreifenden Strukturwandel, der sich hier abzeichnet, gibt es bislang keinerlei Konzept. Etwa jeder siebente Arbeitsplatz in Deutschland ist direkt oder indirekt vom Autobau abhängig. Wenn denn der Trend zum Ausstieg aus dem Individualverkehr anhält, so steht hier ein Strukturwandel an, der beispiellos ist. Da genügt es dann nicht, daß sich Gewerkschaften und Arbeitgeber um die Konzipierung eines alternativen Automobils bemühen; da bedarf es wirklich weiterreichender Konzepte. Während sich rückwärtsgewandte Technologien in Ostdeutschland breitmachen, werden konkurrenzfähige oder zukunftstaugliche Unternehmen massiv behindert, oder, wie z. B. der ostdeutsche Waggonbau, zerschlagen. Dabei fehlt es der Reichs- und der Bundesbahn an solchen Wagen. ({1}) - Sie werden ihn gleich hören! Innovative Ideen wie der FCKW-freie Ökokühlschrank der dkk Scharfenstein werden von der Treuhand nicht etwa gefördert, sondern im Interesse der westdeutschen Konkurrenz behindert. Der geplante Verkauf an die AEG signalisiert das. Dabei ist dieser Ökokühlschrank zur Zeit die einzige ökologische Alternative zu den herkömmlichen Kühlschränken, auch wenn einige technische Probleme noch zu lösen sind. Eine sinnvolle und gezielte Förderungspolitik müßte hier ansetzen, um den Marktvorsprung dieses Produktes zu nutzen. ({2}) Die Bundesregierung untergräbt sich mit dem Verzicht auf eine aktive Sanierung der ihr mittels der Treuhand anvertrauten Unternehmen die Möglichkeit, die endlich wirklich notwendigen Impulse für einen ökologischen Strukturwandel in Ostdeutschland zu geben. Gefangen in ihrer eigenen Marktwirtschaftsrhetorik, verharrt sie in Untätigkeit, wo Chancen für die Entwicklung einer neuen, ökologischen Wirtschaftsweise wahrzunehmen wären. In der Energiepolitik, in der Landwirtschaft, in der Chemie und beim Verkehr müssen jetzt die Weichen gestellt werden für das Umschwenken auf die in Sonntagsreden so oft propagierte umweltgerechte und nachhaltige Wirtschaftsweise. Wenn Sie das wirklich so meinen, dann stehen Sie ja mit uns in völliger Übereinstimmung, aber es darf nicht nur bei den Worten bleiben. Ohne aktive Strukturpolitik werden die ostdeutschen Länder im besseren Fall auf einen die westliche Entwicklung langsam nachholenden Prozeß angeweisen sein, im schlechteren Fall auf die Wahrnehmung von Marktnischen oder lediglich peripherer Funktionen. Für eine zukunftsträchtige Wirtschaftsentwicklung ist deshalb eine aktive ökologische Strukturpolitik unerläßlich. ({3}) Arbeitsmarktpolitik - es ist bereits einmal angedeutet worden - darf sich nicht auf den sogenannten zweiten Arbeitsmarkt beschränken, sondern es ist auch ein aktives Eingreifen am ersten, am eigentlichen Arbeitsmarkt nötig. Dabei ist eine Politik zu betreiben, die sich an den realen Gegebenheiten der einzelnen Regionen orientiert. Insoweit ist der Forderung der Sozialdemokratischen Partei nach einer stärkeren Schwerpunktsetzung durch eine aktive Strukturpolitik zuzustimmen. ({4}) Die Zielsetzung der Schaffung einer ausreichenden Zahl von wettbewerbsfähigen Dauerarbeitsplätzen greift jedoch meines Erachtens noch zu kurz. Hierbei müssen vielmehr auch qualitiative - also den Inhalt der eigentlichen Arbeit betreffende - Ansätze und Gesichtspunkte einbezogen werden, also z. B. eine Ausrichtung auf die Ökologie. ({5}) - Das ist möglicherweise gemeint, aber nicht so artikuliert. Bei den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten, insbesondere in bezug auf Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften, muß eine strukturelle Neuausrichtung erfolgen. Solche Maßnahmen müssen an den individuellen und regionalen Bedürfnissen ausgerichtet sein. Dabei müssen vor allem ökologische Gesichtspunkte sofort einfließen. ({6}) - Wenn Sie das machen, was ich sage, ist ja alles in Ordnung. Der Forderung der SPD nach Schaffung von Arbeitsplätzen durch mehr Umweltschutz ist grundsätzlich zuzustimmen. Der vorliegende Antrag bleibt dabei jedoch ein bißchen hinter unseren Erwartungen zurück. Der Konflikt zwischen der notwendigen Schaffung von Arbeitsplätzen und der Erhaltung der Industrie und der Umwelt bleibt auch hiermit noch ungelöst. Die Verwirklichung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland macht auf Jahre hinaus beträchtliche finanzielle Anstrengungen zugunsten der neuen Bundesländer nötig. Ein wesentliches Ziel der Finanzpolitik muß es sein, erstens die Verwendung der Mittel effizienter zu gestalten und zweitens eine ausgewogene und sozial verträgliche Verteilung der Finanzierungslasten zu erreichen. Der wirtschaftliche Aufbau in den neuen Bundesländern macht spürbare Einschränkungen der öffentlichen Ausgaben in den alten Bundesländern, des Bundes und der Kommunen, unausweichlich. Auf der Tagesordnung steht ein neuer Lastenausgleich, der die Menschen in der Bundesrepublik entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit am wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Aufbau der neuen Bundesländer beteiligt. Die Finanzierungsvorschläge der SPD sind eine gute Diskussionsgrundlage. Sie bedürfen jedoch der Präzisierung und Ergänzung. So schlagen wir eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze bei den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung vor, damit auch Besserverdienende in größerem Umfang in die Finanzierung von arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Maßnahmen einbezogen werden. Wir brauchen eine struktur- und finanzpolitisch ausgerichtete Investitionshilfeabgabe, die von den westdeutschen Unternehmen aufgebracht werden muß, die nicht oder nur in geringem Umfang in die neuen Bundesländer investieren. Das Gebot der Stunde heißt aber: Sparen und Subventionsabbau. Man sollte damit - oder auch mit Rücktritten - nicht nur drohen, sondern man sollte in dieser Hinsicht wirklich etwas tun. Dies gilt für die Verteidigungsausgaben, dies gilt auch für die Raumfahrt, für Straßenbaumittel, in bestimmtem Umfang für den Bereich der Landwirtschaft, aber nicht zuletzt auch für den Regierungsapparat. Nötig sind auch drastische Kürzungen bei den Ausgaben für die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung. Übrigens steht auch der Einstieg in den Ausstieg aus der Atomenergiewirtschaft nicht nur aus ökologischen Gründen oder wegen der Gesundheit der Menschen auf der Tagesordnung - vielleicht hat der eine oder andere mitbekommen, daß es gestern in dem auch mit deutschen Mitteln sanierten Atomkraftwerk in Kozloduj erneut gebrannt hat -, sondern auch aus finanziellen Gründen. Wir könnten nämlich jährlich Subventionen in Höhe von knapp 2 Milliarden DM einsparen und sinnvoller einsetzen, wenn wir mit diesem Ausstieg beginnen. Alle finanziellen und sonstigen Anstrengungen des Bundes und der Länder werden letztlich vergeblich sein, wenn es uns nicht gelingt, die Menschen in Ost und West einander menschlich näherzubringen. Wir erleben heute, daß die kulturellen Gräben die Mauer zwischen Ost und West ersetzt haben. Die Spaltung in den Köpfen der Menschen wird nachhaltiger wirken als alle Grenzbefestigungen. Die Überwindung dieser Gräben ist mindestens genauso wichtig wie die Angleichung der materiellen Lebensverhältnisse. Der konkrete Austausch vor Ort muß auch mit Hilfe der Kommunen organisiert werden. Die Erfahrungen mit Städtepartnerschaften zwischen Ost und West sind vielfach sehr positiv. Diese gilt es verstärkt fortzusetzen. Die Kreise und Kommunen in Westdeutschland sollten solche Partnerschaften mit Ostdeutschland gezielt ausbauen. Das gilt für konkrete Verwaltungshilfe, das gilt für Organisation menschlicher Begegnung, das gilt aber auch für direkte finanzielle Unterstützung. Kann nicht z. B. der Bau eines Schwimmbades in einer westdeutschen Kommune um einige Jahre verschoben werden, um den bröckelnden Putz ostdeutscher Wohnsubstanz zu retten? Muß der Bau eines neuen Gemeindezentrums, eines neuen Feuerwehrhauses oder ähnlicher Projekte in Westdeutschland tatsächlich sofort erfolgen, während in Ostdeutschland Kindergärten oder andere soziale Einrichtungen geschlossen werden? ({7}) Ich appelliere an die Kommunen in Westdeutschland: Starten Sie jetzt ein Programm zur Unterstützung der Städte und Gemeinden im Osten. ({8}) Verzichten Sie auf Projekte, die nicht unbedingt notwendig sind. Wenn die westdeutschen Kommunen nur auf 5 % ihrer Investitivmittel zugunsten der östlichen Gemeinden verzichteten, so wäre dies nicht nur ein Signal für die „Einheit von unten" , sondern es würden auch Milliardenbeträge freigesetzt, die jetzt im Osten so dringend benötigt werden. ({9}) Meine Redezeit ist leider abgelaufen. Aber ich glaube, abschließend noch einmal sagen zu müssen: Wer die deutsche Einheit vollenden will, wer das gegenseitige Verständnis fördern will, der darf sich nicht nur auf finanzielle und wirtschaftliche Problemlösungsprozesse beschränken. Die deutsche Einheit wird nur dann auf Dauer Bestand haben, wenn sie zur Einheit der Menschen führt. Die Einheit und das gegenseitige Verständnis sind aber nur durch die „Einheit von unten" zu schaffen. Das ist ein langer und dornenreicher Weg - das ist mir bewußt -, aber eine andere Möglichkeit sehe ich nicht. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Heinrich Kolb. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Wenn Sie sich beschweren, Sie hätten mir gestern schon einmal zugehört, fordere ich Sie ausdrücklich auf, mir auch heute zuzuhören. Es wird sich lohnen; das kann ich Ihnen schon jetzt versprechen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Reden, die wir von der Opposition, von der SPD, der PDS und dem BÜNDNIS 90, heute hier gehört haben, machen eines deutlich: Die Opposition hat immer noch nicht zur Kenntnis genommen, worüber der versammelte ökonomische Sachverstand nicht müde wird aufzuklären ({0}) - ich weiß nicht, ob Sie sich mit „versammeltem ökonomischen Sachverstand" angesprochen fühlen -: Deutschland steht vor der Gefahr einer anhaltenden Überforderung des gesamtwirtschaftlichen Leistungsvermögens. Mit dem Einigungsprozeß ist es zu einem Verteilungsstreit gekommen, bei dem die Summe der Ansprüche erheblich über das Verteilbare, also über den Wert der produzierten Güter und Dienstleistungen, hinausgegangen ist. Ich empfehle Ihnen, einmal das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesminister für Wirtschaft mit dem Titel „Gesamtwirtschaftliche Orientierung bei drohender finanzieller Überforderung" zu lesen. Dort heißt es: Die bereits in Angriff genommene und die sich abzeichnende unabweisbare Aufgabe erfordert wesentlich mehr als eine bloße Sicherung des volkswirtschaftlichen Leistungsvermögens. Sie ist nur zu meistern, wenn das Produktionspotential nach Kräften ausgeweitet wird. Das erfordert Vorrang für Investitionen und eine Mobilisierung der Sparbereitschaft sowie den Abbau marktwidriger Regulierungen, also eine angebotsorientierte Politik. Hierzu zählt der Beirat ausdrücklich auch eine angebotsorientierte Lohnpolitik. Zu diesem Thema äußern Sie sich, meine Damen und Herren, wohlweislich nicht, obwohl die Ergebnisse einer gerade vorgelegten Unternehmensbefragung des DIW und des IfW zu den gesamtwirtschaftlichen und unternehmerischen Anpassungsprozessen in Ostdeutschland nachhaltig - ich betone: nachhaltig! - auf die Problematik der zu raschen Lohnentwicklung in den neuen Bundesländern hinweisen. Drei Viertel aller befragten Unternehmen sehen danach den starken Anstieg der Löhne und Gehälter als sehr großes oder wichtiges Problem an. Natürlich strebt auch die Bundesregierung die Angleichung der neuen Bundesländer an westdeutsche Sozial- und Lohnstandards an. Die Vollendung der deutschen Einheit auch im Wirtschaftlichen und Sozialen ist unser vordringliches Ziel. Aber dieses Ziel kann nicht gegen ökonomische Zusammenhänge erzwungen werden. ({1}) Es kann um so schneller erreicht werden, je eher es gelingt, gleichzeitig die Ansprüche in Westdeutschland zurückzustecken. Letzteres ist bisher noch nicht eingetreten.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Aber sehr gern.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte sehr, Herr Abgeordneter.

Dr. Uwe Küster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, entgegenzunehmen, daß sich der Präsident des Landesarbeitgeberverbandes Sachsen-Anhalt gegen eine Dilation der Angleichung der Tarife und gegen eine Öffnung der bestehenden Verträge ausgesprochen hat?

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Ich bin bereit, das entgegenzunehmen. Das ändert aber nichts an der Richtigkeit dessen, was ich hier vorgetragen habe. Das, was ich soeben sagte, ist das eigentliche wirtschaftspolitische Thema und nicht die verhängnisvolle Verteilungsdiskussion, die Sie anzetteln. Damit beschädigen Sie nämlich das Vertrauen der Wirtschaft und der Investoren, auf das wir in den neuen Ländern so dringend angewiesen sind, damit die Zukunftsaufgaben mutig angepackt werden können. Es muß Kapital in die Hand genommen werden, und es müssen neue rentable Arbeitsplätze geschaffen werden. Das ist im Ergebnis eine sehr viel sozialere Politik als das Streben nach kurzfristiger Einkommensmaximierung durch Besitzstandswahrung. ({0}) Nach knapp zwei Jahren deutsche Einheit wird es Zeit, daß die SPD zur Kenntnis nimmt: Wirtschaftspolitik können wir nicht nur für einen Teil Deutschlands machen! Die Vernachlässigung der ökonomischen Wechselwirkungen zwischen beiden Teilen Deutschlands muß zwangsläufig zu eklatanten Fehleinschätzungen führen. An keiner Stelle des SPD-Antrages für eine Gemeinschaftsinitiative in den neuen Ländern findet sich der Hinweis, daß die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland die entscheidenden Grundlagen für das Gelingen des Aufbaus der neuen Lander sind. 1 % weniger Wachstum im Westen verringert allein das Steueraufkommen um 8 Milliarden DM. Hinzu kommen weitere indirekte Belastungen in ähnlicher Größenordnung. Den Transferleistungen für die neuen Länder würde durch ein Abgleiten der westdeutschen Konjunktur die wirtschaftliche Basis entzogen. Vor allem aber auch für Investitionen in den neuen Ländern und zur Vergrößerung der Absatzchancen ostdeutscher Produkte sind expandierende Märkte eine grundlegende Voraussetzung. In dieser Beziehung - Ihr Antrag, meine Damen und Herren von der SPD, stammt noch vom Juni - sind die Ende August vorgelegten Eckpunkte für ein SPD-Sofortprogramm gedanklich immerhin ein weiterer Schritt, wenn darin die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland propagiert wird. Aber was heißt denn das konkret? Auf der einen Seite fordern Sie eine aufkommensneutrale Unternehmensbesteuerung, auf der anderen Seite wollen Sie die solidarische Pflegeversicherung nach dem Muster der Sozialversicherung finanzieren. Das heißt, den Investoren neue Lasten aufzubürden und die Lohnnebenkosten noch weiter zu erhöhen. Auf der einen Seite wollen Sie die öffentliche Neuverschuldung drastisch zurückführen, durch eisernes und konsequentes Sparen, wie Sie schreiben - da bin ich sehr gespannt, wie in den SPD-regierten Ländern und Kommunen demnächst ganz eisern gespart wird -, und nur wenn alle denkbaren Einspar- und Umschichtungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind, wollen Sie auf der anderen Seite an Einnahmeverbesserungen denken. Bravo! Aber ich finde, das ist doch ein Etikettenschwindel, den Sie hier betreiben. Von den 50 Milliarden DM, die Sie als Finanzierungspotential konkret aufzählen, handelt es sich bei näherem Hinsehen bei über 35 Milliarden DM um steuerliche Maßnahmen, und das bei einer Einnahmequote - Steuern, Abgaben - am Bruttosozialprodukt von 41,5 % in diesem Jahr. ({1}) Es ist heute hier wiederholt die Ergänzungsabgabe für Besserverdienende gefordert worden. Wenn all das, was Sie vorgeschlagen haben, zum Tragen gekommen wäre, um die Besserverdienenden zu belasten, dann müßten diese mittlerweile Geld mitbringen, so wenig Neues fällt Ihnen auf diesem Gebiet ein. ({2}) - Ja, 100 % für die Besserverdienenden. ({3}) Ich will heute nicht mehr auf die Einzelheiten des SPD-Antrages eingehen. Ich sagte ja schon, er datiert vom Juni dieses Jahres und ist bereits überholt. ({4}) Interessant ist nur: Sie werfen uns hier vor, daß Dinge, die wir vor zwei Jahren beschlossen oder veröffentlicht hätten, überholt seien. Bei der SPD überholen sich die Dinge schon nach drei Monaten; Kompliment! ({5}) Die Antwort auf Ihre Vorstellungen, die Sie im Juni formuliert haben, finden Sie schon in den Beschlüssen der Bundesregierung vom 1. Juli 1992 zur Fortentwicklung des Gemeinschaftswerks „Aufschwung Ost". Sie ist auch in den Bundeshaushalt 1993 und die mittelfristige Finanzplanung eingebettet. Stichworte dieser auf Erneuerung wirtschaftlicher Strukturen ausgerichteten Strategie sind: Fortsetzung der Investitionsförderung auf hohem Niveau, weil nur durch Investitionen dauerhaft rentable Arbeitsplätze geschaffen werden können; ({6}) forcierter Ausbau der Infrastruktur, Abbau von Investitionshemmnissen, beschleunigte Reprivatisierung durch die Treuhandanstalt, ({7}) Mittelstandsangebote der Treuhandanstalt zur zügigen Verwertung von Grundstücken und Immobilien. Der Aufbau eines leistungsfähigen Kapitalstocks in den neuen Ländern zeigt durchaus Erfolge. So hat das Ifo-Institut gerade eine neue Schätzung veröffentlicht, wonach die öffentlichen und privaten Bruttoanlageinvestitionen von rund 83 Milliarden DM 1991 auf über 110 Milliarden DM steigen sollen. Das ist ein kräftiges Investitionsplus von etwa einem Drittel. Natürlich sind noch viel mehr Investitionen nötig, und natürlich sind die mit den Investitionen verbundenen Arbeitsplätze nicht sofort zu besetzen. Aber es zeigt sich deutlich: Die Umstrukturierung kommt voran. Ich würde mir sehr wünschen, auch von Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, an dieser Stelle ein anerkennendes Wort zu diesem Zusammenhang zu hören. ({8}) Die arbeitsmarktpolitische Flankierung des wirtschaftlichen Strukturwandels ist ebenfalls ein zentraler Punkt. Die Arbeitsmarktpolitik trägt zur Zeit Verantwortung für rund 3 Millionen Menschen: für rd. 1,2 Millionen Arbeitslose und rd. 1,8 Millionen durch aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen nicht arbeitslose Menschen. Diese Flankierung wird weiter fortgeführt. Mit der AFG-Novelle wird ein neues Instrument bei Projekten der Umweltsanierung und -verbesserung geschaffen. Das Altersübergangsgeld ist noch einmal bis Ende dieses Jahres verlängert worden. Dabei sind wir bis an die Grenzen des finanziell Machbaren gegangen. ({9}) Mit ihrer Forderung nach einem Strukturförderprogramm „Arbeit statt Arbeitslosigkeit" schießt die Opposition allerdings weit über jedes ökonomisch tragbare Ziel hinaus, ohne uns in der konzeptionellen Frage der Arbeitsmarktpolitik voranzubringen. Es muß doch unstreitig sein: Es ist untragbar, daß in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Beschäftigte weiterhin tariflich gleiche - faktisch oft sogar bessere - Konditionen erhalten wie regulär Beschäftigte. ({10}) Das ist falsch verstandene soziale Absicherung! Wer für einen wirksamen Einsatz der Arbeitsmarktpolitik ist, sollte sich auch hierzu äußern und daran mitwirken, daß über besondere ABM-Tarife die Chance für mehr Arbeitnehmer geschaffen wird, hier eine vorübergehend - ich betone: vorübergehend - sinnvolle Beschäftigung zu finden. Ein weiterer Punkt: Gestern hat sich das Bundeskabinett mit der schwierigen Absatzsituation beschäftigt, mit der vor allem die investitionsgüterproduzierenden Bereiche der ostdeutschen Wirtschaft konfrontiert sind. Ihr Kernproblem ist die mangelnde Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb Wettbewerbsfähigkeit insgesamt. Mit dem abrupten Zusammenbruch der Ostmärkte - ich habe das gestern schon einmal gesagt, aber man kann so etwas nicht oft genug sagen - ist die wahre Problemlage dieser Unternehmen unmittelbar zutage getreten. Wir würden letztlich zu kurz springen, wenn wir in dieser Situation wiederum nur über Möglichkeiten zur Stabilisierung der Ostmärkte reden würden. Wir können und wollen uns nicht den haushaltspolitischen Fragen im Zusammenhang mit den Risiken entziehen, wie die SPD es mit dem von ihr vorgeschlagenen 20-Milliarden-DM-Paket tut. Das ist doch finanzpolitische Doppelzüngigkeit, was wir von Ihnen hier hören: Auf der einen Seite werden Sie nicht müde, die Verschuldung des Bundes anzuklagen, und bei jeder Gelegenheit fordern Sie andererseits neue Milliarden-Programme. Das kann doch keine schlüssige Antwort auf die anstehenden Fragen sein. ({11}) Angesichts der unübersichtlichen Wirtschaftsreformen und der desolaten Devisensituation ist der Gedanke eines Rubelkontos nur eine Scheinlösung. Das bedeutet letztlich nichts anderes als ein Geschenk aus öffentlichen Haushalten und kann guten Gewissens nicht vertreten werden, auch nicht vor den armen und ärmsten Entwicklungsländern. Im Zentrum unserer Überlegungen steht deshalb die Frage, wie die Umstrukturierung und Anpassung an die westlichen Märkte, d. h. die internationale Wettbewerbsfähigkeit, noch energischer angegangen werden können. Die Treuhandanstalt muß die Umstrukturierung ihrer Unternehmen mehr als bisher durch entsprechende zukunftsgerichtete Investitionsentscheidungen begleiten und mit noch mehr Flexibilität auch in den Problemfällen die Privatisierungschancen ausloten, z. B. durch Verkauf unter Liquidationswert, z. B. durch Rückzug auf Minderheitsbeteiligungen. ({12}) - Ich habe doch gerade berichtet, daß dies gestern im Kabinett behandelt worden ist. Um den Absatz auf Westmärkten zu stärken - nur das kann kurzfristig der Schlüssel für die Lösung der Probleme sein -, wollen wir bei den öffentlichen Aufträgen innerhalb kurzer Zeit eine Verdoppelung des bisher viel zu geringen Lieferanteils ostdeutscher Unternehmen erreichen. Insgesamt ist die Umstrukturierung aber nicht von heute auf morgen zu bewältigen. Die Bundesregierung hat sich deshalb dafür entschieden, die Förderinstrumente des Ostexports intensiver zu nutzen. Einzelfallentscheidungen im Rahmen von Hermes sollen künftig z. B. auch die Absicherung von Bartergeschäften und Projektfinanzierungen ermöglichen. Zur Verbesserung der Wettbewerbschancen ostdeutscher Unternehmen bei Infrastruktur- und Modernisierungsmaßnahmen in den GUS- und mittelosteuropäischen Ländern sollen zinsgünstige Refinanzierungsmöglichkeiten im Rahmen eines 500-Millionen-DM-Kreditplafonds beitragen. Unser Programm zielt insgesamt darauf, die Unternehmen auf mittel- und langfristig solide Fundamente der Wettbewerbsfähigkeit zu stellen, ohne uns finanziell zu übernehmen. Alles andere würde die Gefahr in sich bergen, daß wir von der konjunkturellen Schwächephase übergangslos in eine hausgemachte Rezession abgleiten könnten. ({13}) Ich erspare es mir, an dieser Stelle auf das daraus resultierende Szenario einzugehen. Meine Damen und Herren, wir werden auch weiterhin darüber nachdenken müssen, wie wir die Unterstützung des Aufbauprozesses in den neuen Ländern verbessern und den Prozeß der wirtschaftlichen Vereinigung vorantreiben können. Sie wissen: Die Bundesregierung ist derzeit mit Abgeordneten der Koalitionsfraktionen im Gespräch. Es werden eine Reihe von Vorschlägen geprüft. Über ein Gesamtpaket an Maßnahmen, das auch die Frage der gerechten Finanzierung der deutschen Einheit einbezieht, und über den weiteren Kurs muß im Rahmen des bis Ende des Jahres auszuhandelnden Solidarpaktes kurzfristig Einvernehmen erzielt werden. Der Grundansatz des SPD-Antrages, die politischen Parteien, Bund und Länder, Wirtschaft und Gewerkschaften zum gemeinsamen Handeln zusammenzuführen, kann nur unterstützt werden. Es ist Zeit für einen neuen Konsens. Ich bitte alle in diesem Hause vertretenen Gruppen und Fraktionen, sich an diesem Konsens zu beteiligen. Vielen Dank. ({14})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Christian Müller.

Christian Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mein erstes Wort gilt heute Ihnen, verehrter Herr Kollege Grünbeck, und betrifft Ihre Frage von vorhin, zum Verhalten der Stadt Leipzig. Ich muß Ihnen sagen: Ich betrachte das, was Sie gefragt haben, als unverschämte Zumutung. ({0}) - Sie haben im Grunde genommen nur die Frage Ihres Parteivorsitzenden wiederholt, die hier auch schon beantwortet worden ist. Ich zitiere das Bundestagsprotokoll vom 10. September, Seite 8939: Richtig ist vielmehr, daß die Stadt Leipzig niemals einen Kredit an die Stadt Hannover gewährt hat. Leipzig hat lediglich zweimal für einen Zeitraum unter einem Monat einen Betrag von jeweils 10 - nicht 100 - Millionen DM kurzfristig bei einer Finanzgesellschaft geparkt, und zwar deshalb, weil die Städte im Freistaat Sachsen ihre Schlüsselzuweisungen quartalsmäßig bekommen .. . Es ist also Desinformation gewesen. ({1}) Christian Müller ({2}) - Ihr Vorsitzender hatte sie schon gestellt. Meine Damen und Herren, es geht längst nicht mehr nur um Ostdeutschland, sondern auch um die wirtschaftliche und soziale Zukunft der gesamten Bundesrepublik, auch wenn dies .von den meisten Menschen im Westen noch nicht bemerkt wird, manchmal vielleicht auch nicht gesehen werden will. So verstehe ich auch die vor kurzem bekanntgewordene Initiative der ostdeutschen CDU-Abgeordneten, die sich in dem Erfurter 12-Punkte-Programm widerspiegelt, als einen Versuch, der in dieselbe Richtung geht wie unser Antrag. Ohne daß wir diesem Papier angesichts unseres Antrags vom Juni großen Neuigkeitswert abgewinnen könnten, bin ich jedoch recht froh um die Aufmerksamkeit, die es in der Öffentlichkeit zunächst erregt hatte. Es bleibt allerdings abzuwarten, wieviel - oder besser: wie wenig - davon Regierungspolitik werden wird. ({3}) Ich persönlich jedenfalls bin es ziemlich leid, in undifferenzierter Form für die Politik dieser Regierung mit in Anspruch genommen zu werden, wenn zu Hause ganz normale Bürger und sogar CDU-Kommunalpolitiker, die es eigentlich besser wissen müßten, sagen: Da müßt ihr in Bonn etwas ändern! Hört mit eurem Parteienhickhack auf! - Das kann so nicht sein. Weder ich noch meine Fraktionskollegen stehen für die schwerwiegenden Fehler der Regierung bei Grundsatzentscheidungen zur Gestaltung des Einigungsprozesses wie z. B. der in ihrer Wirkung unerträglichen Regelung der Eigentumsverhältnisse und der verfehlten Privatisierungs- und Sanierungspolitik der Treuhandanstalt als Prügelknaben zur Verfügung. ({4}) Zu diesem Bereich gehört für mich auch, warum ein immerhin allgemein akzeptiertes Finanzierungsinstrument wie der Solidaritätszuschlag, von dem allerdings bis zuletzt hier im Westen nicht bekannt war, daß er natürlich auch im Osten erhoben wurde, abgeschafft werden mußte, um zum Ende des Sommers über Zwangsanleihen zu diskutieren. Eine Beleuchtung des Themas „Steuerlüge" will ich mir in diesem Zusammenhang ersparen. ({5}) Es darf aber angesichts der Lage in unserem vereinten - und doch so schrecklich zerrissenen - Deutschland kein „Weiter so" geben, wie es durch Herrn Kohl in Person förmlich verkörpert wird. Für mich besteht der Grundfehler bei der Herstellung der deutschen Einheit in dem seit 1990 stur verfolgten Ansatz, daß das neue Deutschland die alte Bundesrepublik mit ihrem alten Lebensgefühl, erweitert um ein paar Provinzen im Osten, sei. ({6}) Darauf ist wohl auch ein großer Teil des wechselseitigen Unverständnisses und die zunehmende Entsolidarisierung der Deutschen untereinander zurückzuführen. Meine Damen und Herren, es ist wohl noch nicht zu spät für einen neuen Ansatz, der den veränderten Lebensumständen dieses Landes gerecht wird und der, so oder so, zu einem veränderten Deutschland führen wird. Es ist immer noch genug Zeit vorhanden, die heutigen Ereignisse im Osten Deutschlands in ihrer Gesamtheit als das zu begreifen, was sie sind, nämlich als Signale von Menschen, deren bislang noch ungebremste soziale und ökonomische Entwurzelung zu irreversiblen Rückwirkungen auf das gesamte Gemeinwesen führen wird. Die SPD-Fraktion hat ihren Antrag „Gemeinschaftsinitiative Neue Lander" vorgelegt, um eine Kehrtwende in der Politik für den Osten Deutschlands einzufordern. Es ist wohl notwendig, einige ausgewählte Probleme unseres Antrags hier in dieser Debatte noch einmal aufzugreifen, was aber nicht heißen soll, daß andere, etwa die Lage der Frauen, die fällige Novellierung des Rentenüberleitungsgesetzes oder die Lage der Landwirte, weniger wichtig wären. Frauen im Osten Deutschlands begreifen sich im Einigungsprozeß doch nicht etwa nur deshalb als besonders benachteiligt, weil sie in überproportionalem Maße von der Arbeitslosigkeit betroffen sind und folglich die Frage der Existenzsicherung für sie überragende Bedeutung erlangte. Nein, hierbei ist vor allem auch daran zu denken, daß für die meisten von ihnen der Beruf nicht etwa nur Broterwerb, sondern Teil eines Lebensplanes und somit ein Stück Erfüllung war. ({7}) Was die Menschen im Rentenalter betrifft, so kann nicht einfach konstatiert werden, daß durch die Einführung eines Rentenüberleitungsgesetzes automatisch Gerechtigkeit entsteht. Sonderversorgungssysteme, in besonderem Maße die sogenannte Intelligenzrente, waren immer auch ein Ausgleich für entgangene Entlohnung und besondere Belastungen im Beruf. Es ist unerträglich, wenn Lehrern, Ingenieuren, Ärzten und Wissenschaftlern infolge der generellen Unterstellung von Staatsnähe eine Rente zugebilligt wird, die mit der von Berufskollegen im Westen nicht einmal näherungsweise zu vergleichen ist. ({8}) Was die Landwirtschaft betrifft, so ist es nach all den Versprechungen nicht länger hinnehmbar, wenn bodenständige Landwirte durch die alltägliche Praxis bei der sogenannten Wiedereinrichtung um ihre Chancen gebracht werden. ({9}) Diesem Thema werden sich unsere Kollegen aus dem Landwirtschaftsbereich hier demnächst widmen. Unser Weg in eine tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung - den Begriff „Aufschwung" vermag ich leider nicht mehr zu gebrauchen - wird jedoch nach Christian Müller ({10}) wie vor durch einige Verfahrensweisen behindert, die es unbedingt zu verändern gilt. Dies gilt noch immer für die Umkehr des Prinzips „Rückgabe vor Entschädigung" - ich berufe mich hier gerne auf Helmut Schmidt, der gesagt hat, daß er dies trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten wenigstens versuchen würde -; ({11}) denn die gegenwärtigen Verfahrensweisen sind trotz aller Beschleunigungsversuche in ihrer Wirkung völlig unzureichend. Dazu gehört auch der Umgang mit Immobilien, über die der Staat in der einen oder in der anderen Form zur Zeit verfügt und für deren Nutzbarmachung er die Verantwortung trägt. Ausgegliederte nichtbetriebsnotwendige Liegenschaften aus dem Verantwortungsbereich der Treuhandanstalt gehören ebenso wie die ohne größeren Sanierungsaufwand nutzbaren Teile von Militäranlagen in die Hände derjenigen, die dafür am schnellsten eine sinnvolle gewerbliche oder kommunale Nutzung organisieren können. Das sind die Länder, zu gründende regionale Entwicklungsgesellschaften, Kreise und Kommunen. ({12}) Den Vorstellungen des Bundesfinanzministeriums kann absolut nicht gefolgt werden, wenn diese Liegenschaften nur auf der Grundlage ihres Verkehrswertes, bei Bundesliegenschaften gegebenenfalls mit einigen Abschlägen nutzbar werden sollen. ({13}) 25 % sind für Kommunen immer noch zuviel. Die Frage nach der Lösung muß hinter der schnellsten und effektivsten Nutzung zurückstehen; sie kann auf einen späteren Zeitpunkt vertagt werden. Es wird doch wohl möglich sein, für diesen im volkswirtschaftlichen Interesse liegenden Zweck gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Oder können wir es uns wirklich leisten, Volksvermögen nicht zu nutzen und damit zu verschwenden? ({14}) Die Frage nach Absatzmärkten für ostdeutsche Produkte ist untrennbar mit der nach der Sanierungsfähigkeit der zugehörigen Betriebe verbunden. Dies ist bekannt. Dabei ist es doch aber bisher ganz offensichtlich, daß für die meisten Betriebe in den neuen Ländern die Abhängigkeit von den Märkten Osteuropas zu einer Kernfrage ihres Überlebens geworden ist; denn schnelle Erfolge bei der Entwicklung des Exports in die Richtung westlicher Märkte sind angesichts der allgemeinen Absatzlage nicht zu erwarten. Dieser Trend ist hinlänglich beschrieben worden; weitere Zahlen erspare ich mir. Er wird für ganz Deutschland katastrophale volkswirtschaftliche Auswirkungen und enorme soziale Verwerfungen haben, wenn es nicht zu einem Ende geführt wird, daß die industriellen Kernbereiche im Osten völlig zusammenbrechen. Was soll - selbst wenn die Vorschläge der Regierung von gestern bekannt geworden sind - mit der noch rund 1 Million starken Arbeitnehmerschaft werden, deren berufliche Existenz bis auf weiteres vom Osteuropahandel abhängt? Die Situation für diese Kernbereiche der Betriebe muß doch so zu einer Katastrophe geraten, wenn die Regierung nicht mehr Phantasie entwickelt, wie mit dem Ostexport umzugehen ist. ({15}) Wenn ich lese, daß geplant wird, über Handelshäuser die sogenannten Ladenhüter zu vermarkten, zu denen auch die 15 Schiffe an der Küste oben zählen mit immerhin einem Wert von 1,5 Milliarden Mark, dann muß ich sagen, daß mir das nicht als eine vernünftige Lösung erscheint, zumal für die Verluste, die dabei entstehen, ohnehin der Steuerzahler aufkommen müßte. Viel besser erschiene es mir da schon, dem Vorschlag Rudi Dreßlers von der SPD zu folgen, für den Ostexport hergestellte Investitionsgüter über privatwirtschaftlich organisierte Handelsgesellschaften in die osteuropäischen Länder gegen Landeswährung zu verkaufen, womit Abnahmegarantien mit sinkender Tendenz verbunden sind. ({16}) Wie bekannt, sollen demnach die Verluste aus den Verkäufen als Agrar- und Gewerbekredite in den Verkaufsländern bleiben, um dort ein Aufbauprogramm finanzieren zu helfen. Natürlich ist auch ein solches Modell ebenfalls nicht umsonst zu haben, aber es wäre ein Schritt zu einer Lösung, die beiden Seiten helfen würde. Die ostdeutsche Industrie gewinnt Spielraum, und für die Wirtschaft in den osteuropäischen Staaten wäre dies ein Ansatz, der zur wirtschaftlichen Stabilisierung beitragen könnte. Dies hilft auch uns in mehrfacher Hinsicht, so meine ich. Angesichts der Gesamtsituation im Osten wäre noch auf sehr viele Probleme einzugehen. Aber ich gehe davon aus, daß das erst die Startdebatte um unseren Antrag ist; womit ich mich an dieser Stelle mit der Bemerkung begnügen kann, daß wir - so hoffe ich - miteinander vielleicht ein wenig mehr Verständnis für diese Situation finden werden. Vielen Dank. ({17})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr Ulrich Petzold.

Ulrich Petzold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001700, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Leider beginnt Ihr Antrag zur Gemeinschaftsinitiative neuer Bundesländer, meine Damen und Herren von der Opposition, mit einer Polemik, die der Sache kaum angemessen ist, zumal in Ihrem Antrag eine ganze Reihe guter Gedanken stecken, um deren Urheberschaft wir streiten könnten; andere Ideen lassen sich, wie Sie selbst wissen, nicht finanzieren. Lassen Sie mich Ihren ersten Punkt „Arbeit statt Arbeitslosigkeit schaffen" aufnehmen. In meinem Wahlkreis habe ich die besten Beispiele dafür, daß mit Einsatzfreude, Ideenreichtum, gepaart mit einer verantwortlichen Risikobereitschaft, dies schon immer möglich war. Der Arbeitsamtsdirektor aus Wittenberg, einer der wenigen CDU-Arbeitsamtsdirektoren, hat gemeinsam mit seinem Mentor aus Aalen innerhalb des letzten Jahres durch ein Darlehen des Arbeitsamts und Einrichtung von ABM-Stellen einen Betrieb gerettet, nachdem diesem im Sommer vorigen Jahres der Konkurs ins Haus stand und keine Bank auch nur einen Pfifferling mehr gab. ({0}) Heute ist dieser Betrieb umstrukturiert, hat seine Auftragsbücher über 1993 hinaus voll. Und was noch wichtiger ist: Alle ABM-Kräfte sind fest eingestellt, und es sind weit darüber hinaus neue Arbeitnehmer beschäftigt, so daß in diesem nun privaten Betrieb mit 260 Arbeitnehmern mehr Arbeitnehmer als ursprünglich arbeiten. ({1}) Dieser Darlehensbetrag für den Gesamtbetrieb war genauso hoch wie die Investitionshilfe, die wir in Bitterfeld einem Chemieunternehmen für einen einzigen Arbeitsplatz zahlen. Wie wichtig die Einsatzbereitschaft ist, konnte ich in dieser Woche bei der Privatisierungsfeier des größten MBO-Unternehmens in den neuen Bundesländern erfahren, dessen ehemaliges Auftragsvolumen zu über 90 % weggebrochen war: Beteiligung von Arbeitnehmern am MBO, Lohnmoratorium unter Einbeziehung der Gewerkschaft, banktechnisch abgesicherter Investivlohn und Sicherung von über 500 Arbeitsplätzen. Nur durch die gute Zusammenarbeit von Treuhand, des Aufsichtsrats, eines krisenerfahrenen Geschäftsführers, des Betriebsrats und der Gewerkschaft war unter solchen Bedingungen die Privatisierung möglich. Jeder mußte hier zurückstecken, und ich bin hier Hans Berger aus Ihrer Fraktion für die Sprengung ideologischer Hürden auf beiden Seiten außerordentlich dankbar. ({2}) Nun werden Sie dagegenhalten: Das sind doch nur Einzelbeispiele. Ja, aber es sind praktikable Beispiele, die mit dem jetzt geltenden Recht möglich sind. Sie müssen durch weitere Beispiele ergänzt werden und sollten nicht aus der Gießkanne - wie mit einer 12%igen Investitionszulage für alle - erweitert werden. Hier sind wir CDU-Abgeordnete aus den neuen Bundesländern uns einig. Der Mitnahmeeffekt von Investitionsfördermitteln durch potente Großinvestoren liegt uns bei weitem nicht so am Herzen wie die Förderung von kapitalschwachen Mittelständlern aus den neuen Bundesländern, z. B. durch eine 25%ige Investitionszulage für Investitionsgüter und Gebäude als Alternative zu einer Sonderabschreibung.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beanworten?

Ulrich Petzold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001700, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, wollen Sie mit Ihren Ausführungen sagen, daß alle anderen Unternehmen im Osten nur zu dumm gewesen sind, die richtigen Schritte einzuleiten und daß deshalb der Niedergang in der ostdeutschen Industrie zu verzeichnen ist?

Ulrich Petzold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001700, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wissen Sie, über Dummheit läßt sich streiten. ({0}) Aber hier in diesem Falle möchte ich ganz klar sagen, diese Investitionen, die hier vorgenommen wurden, sind nur auf Initiative einzelner Personen zurückzuführen. Ich kann Ihnen ganz klar sagen, hier ist wirklich hart gearbeitet und nicht irgendwo „gemauert" worden. ({1}) Ich merke immer wieder, daß in den Betrieben „gemauert" wird. Mir hat am Montag eine junge Frau, die Ihrer Partei angehört, gesagt: Es ist ganz schön und gut, ich habe in dem Treuhandbetrieb 2 300 Mark; mir wurde gekündigt; aber ich habe überhaupt kein Interesse daran, mir bei einem Krauter für 1 500 DM monatlich einen neuen Arbeitsplatz zu beschaffen; ich kriege auch so 1 500 DM Arbeitslosengeld. ({2}) Das ist eine Initiative, die einfach nicht tragbar ist. ({3}) - Das ist eine Mentalitätsfrage. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, wenn Sie alle auf einmal dazwischenrufen, können das weder die Stenographen mitschreiben noch kann es der Redner verstehen. Es wäre also wirklich sehr hilfreich, wenn Sie sich ein wenig bescheiden würden. ({0}) Herr Petzold, nun fahren Sie fort.

Ulrich Petzold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001700, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich danke Ihnen, Herr Präsident. - Für Großinvestoren wiederum ist, wie in unserem Zwölf-Punkte-Programm festgehalten, eine Nachfrageförderung der Investitionsförderung vorzuziehen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Petzold, entschuldigen Sie, wenn ich Sie noch einmal unterbreche. Aber es besteht der Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage.

Ulrich Petzold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001700, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich kann dem nicht widerstehen.

Holger Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000100, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Petzold, könnte es möglicherweise sein, daß die Dame, von der Sie sprachen und die unserer Partei angehört, vielleicht Mitglied der gleichen Gewerkschaft ist wie Sie und ich, der IGBE?

Ulrich Petzold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001700, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Leider nein, sie gehörte der IG Chemie an. Aber sie wird vielleicht eines Tages unserer gemeinsamen Gewerkschaft angehören. Ich wiederhole: Für Großinvestoren wiederum ist, wie in unserem Zwölf-Punkte-Programm festgehalten, eine Nachfrageförderung der Investitionsförderung vorzuziehen. Wie von verschiedenen Ministerien bereits in die Wege geleitet, ist für viele Investoren die Stabilisierung des Rubelkurses oder die Entwicklung einer Außenhandelstechnik, die wieder einen Leistungsaustausch ermöglicht, sehr viel wichtiger als die Verbilligung von Investitionen. Neue Ideen sind auch bei dem gezielten Einsatz von ABM-Stellen für Problemgruppen wie Behinderte, Frauen und ältere Arbeitnehmer nach dem Auslaufen der Altersübergangsregelung erforderlich. ({0}) Zur Überführung der ABM-Megaprojekte im Bereich der Bergbaualtlasten gibt es gute Ansätze im Arbeits- und Wirtschaftsministerium. Hier arbeite ich seit langem erfolgreich mit Ihrer Kollegin Fischer ({1}) zusammen, meine Damen und Herren von der SPD. Wir haben keine Berührungsängste. In der Wohnungswirtschaft setzen wir weiter auf eine gezielte Privatisierung durch Verkauf an die Bewohner. Durch Fördermittel und Kaufbetrag können so Altschulden getilgt werden. Wo diese Altschulden durch DDR-Industriepreisreformen unrealistische Höhen angenommen haben, sind andere Modelle erforderlich. Viel würde z. B. wenigstens ein Rangrücktritt der Altschulden gegenüber Hypotheken für Investitionen bringen. Nach Ihren eigenen Aussagen würden sich die Banken und Sparkassen gern darauf einlassen, und der bestehende Investitionsstau könnte wenigstens teilweise behoben werden. Sie sehen also, meine Damen und Herren, Berührungsängste gibt es nur bei billiger Polemik. Wenn es Punkt für Punkt um die Sache geht, sind wir in jeder Weise gesprächsbereit und haben oftmals bereits gehandelt. Ich freue mich auf die Aussprache in den Ausschüssen. Danke schön. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun erteile ich dem Abgeordneten Josef Grünbeck das Wort.

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf mir als Vorwort eine ernsthafte Bemerkung erlauben: Wir diskutieren hier über die Umwandlung einer kommunistisch dirigierten Planwirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft. Dafür gibt es keinen Fahrplan, dafür gibt es auch keinen Bauplan, und dafür gibt es kein Lehrbuch. Wir alle wollen wohl das gleiche. Die Frage ist, ob wir den Weg finden, das gleiche zu erreichen. Denn eines möchte ich aus dieser Debatte bilanzieren: Ich möchte Sie herzlich bitten, nicht nur die Leistungen dieser Regierung und der sie tragenden Koalitionsparteien etwas mehr zu respektieren, sondern auch die Leistungen unserer Bevölkerung, unserer Steuerzahler und unserer Unternehmen, die mit hervorragendem Engagement an die ganz großartige Aufgabe herangegangen sind, zu würdigen. ({0}) - Bis jetzt habe ich nur Negatives von Ihnen gehört. Bevor Sie mich kritisieren, müssen Sie eines zur Kenntnis nehmen: Ich habe in den letzten Jahrzehnten meiner unternehmerischen Tätigkeit nicht ein einziges Jahr versäumt, die damalige DDR und ihre Messen zu besuchen und mit den Menschen dort zu reden. ({1}) Ich habe es nach der Einigung noch nicht einmal versäumt, in meinem eigenen Unternehmen in den fünf neuen Ländern Vertretungen aufzubauen. Außerdem werde ich nächste Woche ein neues Unternehmen mit 150 Arbeitsplätzen übernehmen. - Wenn Sie jedesmal, wenn Sie große Sprüche machen, dem ein paar Taten folgen ließen, dann wären wir noch eher auf dem besten Wege. Auch das müssen Sie sich einmal sagen lassen. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Grünbeck, der Abgeordnete Küster möchte eine Zwischenfrage stellen, die Sie sicher gerne beantworten. - Bitte sehr.

Dr. Uwe Küster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Abgeordneter Grünbeck, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir, die Ostdeutschen, ausdrücklich die Leistungsbereitschaft und den Leistungswillen der westdeutschen Bevölkerung, aber besonders der sozial Schwachen als Beitrag zur deutschen Einheit anerkennen und würdigen? ({0})

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich habe noch nicht verstanden, was Sie mir da zur Kenntnis bringen wollen. ({0}) Aber ich bin gerne bereit, das aufmerksam zu verfolgen. Meine Damen und Herren, wir reden u. a. über die beiden Anträge „Mehr Arbeit durch mehr Umweltschutz in den neuen Bundesländern" . Wo wird eigentlich sichtbarer, welche Grausamkeit dieses kommuniJosef Grünbeck stische System mit den Menschen und mit der Umwelt betrieben hat, als gerade im Bereich des Umweltschutzes? Was wir hier an Erblast zu übernehmen haben, ist eine ungeheure Folge einer verantwortungslosen Politik gegenüber den Menschen und der Natur. Es gilt jetzt dagegenzusteuern.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Auch Herr Dr. Feige möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen.

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, bitte nicht. ({0}) - Die Redezeit ist begrenzt. ({1}) Herr Feige, seien Sie mir nicht böse. Ich würde auch alle anderen Kollegen bitten, mich jetzt nicht mehr durch Zwischenfragen zu unterbrechen. Wir haben die Anträge vorliegen. Die Vorschläge vom 6. Juni und vom 4. Dezember liegen ja nur sechs Monate auseinander. Ich frage Sie nur, ob Sie mit den Vorschlägen in Serie die Probleme lösen können oder ob sie damit etwa Probleme schaffen wollen. Zum großen Teil sind sie erledigt, zum Teil sind sie auf dem Wege zur Erledigung - Herr Staatssekretär Kolb hat das bilanziert -, und zum großen Teil sind sie nicht durchführbar. Die Vorschläge haben sicher alle gute Ansätze. Aber das schlimmste ist, daß Ihnen nicht einmal einfällt, die Vorschläge auf die Kosten und die Durchführbarkeit hin zu prüfen. ({2}) Was kommt dabei heraus, wenn wir das nicht machen? Dann steigt der Erwartungshorizont der Bevölkerung immer mehr, und Sie wundern sich anschließend, wenn die Staatsverdrossenheit immer größer wird. Lassen Sie uns doch endlich eine seriöse und solide Politik machen - ich weiß nicht, ob Sie wissen, was das ist -, dann werden wir in der Sache eher weiterkommen. Ich warne davor, weil ich Angst habe, daß etwas eintreten könnte, was jedenfalls ich noch erlebt habe. Begeben Sie sich nicht in den Sumpf der Verunsicherung unserer Bevölkerung, und glauben Sie nicht, daß Sie aus dem Sumpf der Verunsicherung politisches Kapital schlagen können! ({3}) Das schlägt um in Gewalt und wird uns allen keinen Segen bringen. Sie haben beispielsweise die Instrumente der Arbeitsförderung gefordert. Ich weiß nicht, ob Sie zur Kenntnis genommen haben, daß wir allein im Sonderprogramm „Umwelt Ost" 120 000 Arbeitskräfte beschäftigen. Ich sage Ihnen eines: Die Umweltschäden, die in unseren neuen Bundesländern leider in großem Maße vorhanden sind, kann man nicht alle über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bewältigen, weil sie zum großen Teil eine ungeheuer feine und wirklich naturverbundene Leitung der technologischen Instrumente erfordern. Dafür gibt es sowohl bei der Rekultivierung als auch bei der Sanierung von Böden bei uns erfahrene Fachleute, die mit ganz großem Engagement, mit viel Geld, Zeit und persönlichem Einsatz beispielhaft vorangehen. Die Bundesregierung hat gestern beschlossen, beispielsweise die mitteldeutschen Braunkohlewerke und die Lausitzer Braunkohlewerke zu sanieren. Aber wer hat dagegen als erster den Zeigefinger erhoben? Es waren die Länderminister von Ihrer Regierung, die gesagt haben, das dürfe alles nicht so schnell gehen, man müsse noch ein paar Genehmigungsverfahren dazwischenschalten, und man müsse bitte da ansetzen, damit wir das richtig zu Ende brächten. Ich glaube, daß wir auch im Bereich der Energie richtige Vorschläge gemacht haben. Meine Damen und Herren, wenn Sie glauben, Sie könnten die Energieprobleme lösen, indem Sie etwa bessere Rationalisierungsvorschläge bringen, dann sage ich Ihnen - fragen Sie Ihre Kollegen, die mit uns in der vergangenen Woche in Moskau und in Kiew waren -: Die Verhandlungen mit den GUS-Staaten werden erfolgreich zu Ende gehen, wenn wir zielgerecht weiter vorgehen und die Kernkraftwerke im Osten Europas - das ist die größte Bedrohung der Umwelt -, die allesamt nicht - nicht ein einziges - den westlichen Sicherheitsstandards entsprechen, entweder abschalten - das geht sicherlich nur bei acht oder zehn; das ist der Tschernobyl-Typ - oder sie sanieren; bei mindestens 36 oder 38 Kernkraftwerken können wir sanieren. Das wird viel Geld kosten. Das wollen wir aber nicht der Steuerkasse entnehmen; vielmehr wollen wir das durch die Rücklieferung von Primärenergieträgern wie Erdöl, Gas und Kohle rekapitalisieren oder refinanzieren. Das sind Vorschläge, mit denen wir arbeiten können. Nun lassen Sie mich noch ein Wort dazu sagen: Fehlt es wirklich entscheidend nur noch an Geld? Ich behaupte, es mangelt auch an Geld, aber es fehlt uns in den östlichen Ländern, vor allem in den östlichen europäischen Ländern entscheidend an dem Management in den Behörden und in den Betrieben. Wir brauchen mehr gekonntes Management und Erfahrungsaustausch mit dem Westen; sonst werden wir trotz aller Anstrengungen die großartige Aufgabe nicht lösen können. Hier ist die Partnerschaft gefordert. Lassen Sie mich abschließend folgendes sagen: Ich bitte alle, daß wir endlich mit dieser Jammerei und mit dieser Selbstbemitleidung aufhören und die Ärmel aufkrempeln. Ich bin dankbar, Herr Kollege Petzold, daß Sie einmal positive Beispiele herausgestellt haben. Müssen wir denn immer nur über die negativen Dinge reden, also die Dinge, die nicht gemacht wurden, oder könnten wir endlich auch einmal darüber reden, was inzwischen auf den Weg gebracht und erledigt worden ist? ({4}) - Herr Feige, ich sage Ihnen: Was Sie machen, ist genau das, was man nicht machen sollte. Sie sind ein sehr geschickter, sogar ein sensibel vorgespielter Formulierer, der aber im Grunde genommen immer nur das Negative herausstellt und damit keinen positiven Beitrag leistet. ({5}) - Ich mache niemandem einen Vorwurf, daß er aus der Planwirtschaft kommt und sich noch nicht verändert hat. Es wird unsere Aufgabe sein, daß wir uns einander annähern. Eines aber müssen wir uns überlegen: Dadurch, daß wir dazu beitragen, die Menschen zu verunsichern, werden wir die Probleme nicht lösen. Die Probleme können wir lösen, wenn wir wirklich sachbezogen, mit den Beinen auf der Erde stehend und unter Berücksichtigung des finanziellen Rahmens, den wir einzuhalten haben, diskutieren. Wenn wir das berücksichtigen, wird es uns gelingen, den Aufschwung Ost auch zu vollbringen. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Grünbeck, sind Sie bereit, noch eine Zwischenfrage zu beantworten?

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Entschuldigen Sie bitte, aber wir haben Gleichberechtigung. Ich möchte Sie nicht gegenüber dem Herrn Feige vorziehen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Dr. Feige das Wort.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Grünbeck, Sie haben mir mittelbar den Vorwurf gemacht, ich, groß geworden in einer Planwirtschaft, hätte mich nicht verändert. Das können Sie auch so sehen, daß ich einfach konsequent bin. Ich möchte andererseits sagen: Gerade diese Bemerkung hat mir gezeigt, daß es nicht nur notwendig ist, daß sich die Menschen im Osten verändern, sondern daß es noch viel notwendiger ist, daß sich viele Menschen und auch Abgeordnete im Westen verändern. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Grünbeck, Sie können noch einmal antworten. Aber ich mache vorher darauf aufmerksam, daß auf eine Kurzintervention nicht eine Kurzintervention folgen darf. Bitte sehr.

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich wollte nur eines zurückweisen. Herr Feige, ich brauche mich nicht zu verändern, weil ich meine Verbundenheit mit der Bevölkerung im Osten dieses Landes in den letzten 30, 40 Jahren mehr bewiesen habe als die Sprüchemacher. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nachdem diese Diskussion beendet ist, kann ich der Abgeordneten Frau Dr. Fuchs ({0}) das Wort erteilen.

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hätte der Sport im Ausschuß Deutsche Einheit bei der Erstellung des Einigungsvertrages eine bessere Lobby gehabt, brauchten wir heute über einige der Probleme, die im SPD-Antrag „Sofortprogramm zur Förderung des Sports in den neuen Bundesländern" formuliert sind, nicht zu reden. Die Sportausschüsse beider damals existierenden Parlamente hatten nach ihrer gemeinsamen Beratung unabhängig voneinander entsprechende Vorschläge und Empfehlungen vor allem der Finanzierungsweise der Umgestaltung des ehemaligen Ostsportsystems eingereicht. Auch ein diesbezüglich an Bundeskanzler Helmut Kohl gerichteter Brief, verfaßt von allen Mitgliedern des Sportausschusses der ehemaligen Volkskammer, fand leider keine Beachtung. Somit stehen wir heute vor einer Situation des Sports in den neuen Bundesländern, die von vielen Sportfachleuten als Existenzkrise bezeichnet wird. Die Feststellung, daß deren positive Überwindung im Moment nicht allein von den Ländern und Kommunen geleistet werden kann, ist objektiv. Die Ursachen dafür sind vielschichtig und von Bundesland zu Bundesland differenziert zu bewerten. Übereinstimmend aber treffen für alle folgende zwei nicht lösbare Schwerpunktaufgaben zu, die auch im SPD-Antrag ihren Niederschlag finden: Die sich positiv gestaltenden Entwicklungsansätze einer neuen Sportbewegung leiden vor allem darunter, daß die Kosten allein für die Sportstättensanierung - ich betone: Sanierung und nicht Neubau - von den Ländern, geschweige denn von den Kommunen nicht aufgebracht werden können. Auch das Tragen der Folgekosten kommunal übernommener Sportstätten gibt der Finanzhaushalt zu vieler Städte und Gemeinden noch nicht her. In Form einer zeitlich begrenzten Übergangsfinanzierung muß nach Möglichkeiten einer Bundesförderung gesucht werden. Wenn hier auch immer wieder das Argument der Trennung von Bundes- und Landeshoheit ins Feld geführt wird, so kann ich darauf nur antworten, daß ich mir im Moment keine Landesregierung eines neuen Bundeslandes vorstellen kann, die eine finanzielle Bezuschussung des Bundes in dieser Sache negativ als Einmischung in ihre Landeshoheit bewerten würde. Wie mir bekannt ist, wurde die Realisierung der Gemeinschaftsaufgabe des Goldenen Plans in den 60er Jahren auch ohne Spannungsfelder des Einmischens zwischen Bund und Ländern erfolgreich gestaltet. Das zweite Problem ist im Leistungssport angesiedelt. Nach dem Motto „Die nächsten Olympischen Spiele kommen schneller, als manch einer sich denken kann" wird folgendes passieren: Wer heute die Nachwuchsförderung vernachlässigt, darf sich morgen nicht darüber wundern, wenn zukünftig Siege und Medaillenplätze weniger werden bzw. in manchen Sportarten ausbleiben. Wenn dies nicht geschehen soll, dann sind und werden eine finanziell besser gesicherte Talentsuche und eine Neufassung der Nachwuchsförderung notwendig sein; denn das derzeit bestehende System der Nachwuchsförderung garantiert keine langfristigen Erfolge. Auch hier müssen neue Finanzierungskonzepte erschlossen werden, die den Verbänden und Vereinen in allen Bundesländern eine quantitativ und qualitativ bessere Kinder- und Jugendarbeit ermöglichen. In diesem Sinne gebe ich dem SPD-Antrag meine Zustimmung. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Paul Laufs.

Prof. Dr. Paul Laufs (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001293

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Umweltschutz ist für die wirtschaftliche Entwicklung von herausragender Bedeutung. Das zeigt sich nirgendwo so deutlich wie in den ehemaligen sozialistischen Staaten, in denen Umweltschutz über Jahrzehnte hinweg vernachlässigt wurde, teilweise überhaupt nicht stattgefunden hat. Sozialistisches Wirtschaften und nicht die Politik der Bundesregierung nach der Wiedervereinigung beeinträchtigte und zerstörte die ökologischen Lebensgrundlagen und verengte, wie sich in den jungen Ländern vielerorts zeigt, gleichzeitig die Basis für künftiges Wirtschaften. Bodenzerstörung, wie beispielsweise in den Braunkohlerevieren der Lausitz und Mitteldeutschlands, eine Vielzahl von Altlasten, etwa im Chemiedreieck, die landesübergreifende Wasserverschmutzung mangels intakter Kanalisationen und Kläranlagen und eine nach unseren Maßstäben völlig unzureichende Abfallentsorgung bilden nicht nur auf Jahre hinaus eine enorme Belastung der öffentlichen Haushalte. Diese Defizite, insbesondere das Fehlen einer ausreichenden umweltbezogenen Infrastruktur, stellen vielerorts ein erstrangiges Investitionshemmnis dar. Umweltsanierung und der Aufbau einer leistungsfähigen Umweltinfrastruktur sind daher nicht nur eine Bringschuld gegenüber der geschundenen Umwelt und den dort lebenden Menschen, sondern zugleich massive Wirtschaftsförderungspolitik. Umweltschutz schafft nicht nur die Voraussetzungen für künftiges Wirtschaften und damit neue Arbeitsplätze in den neuen Ländern. Er bietet selbst, und zwar bereits heute, erhebliche Beschäftigungsmöglichkeiten. Welchen Stellenwert der Umweltschutz beschäftigungspolitisch schon jetzt in den neuen Ländern hat, läßt sich an folgenden Zahlen ablesen: Von den über 400 000 Menschen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind ca. 120 000 mit Umweltschutzaufgaben beschäftigt. Davon arbeiten wiederum allein 60 000 in Maßnahmen zum Flächenrecycling in Unternehmen der Treuhandanstalt. Das sind immerhin 96 % aller von der Treuhandanstalt in ABM eingesetzten Arbeitnehmer. Haupttätigkeitsfeld ist die Sanierung von Altstandorten, bei der es neben der Abwendung von Gefährdungen von Mensch und Umwelt um die Erschließung von Industrie- und Gewerbeflächen geht. Ziel ist es, die vorhandene Infrastruktur zu nutzen, nicht alles auf der grünen Wiese neu entstehen zu lassen. Durch ABM werden auf diese Weise Voraussetzungen für die Ansiedlung neuer Industriebetriebe mit dauerhaften Arbeitsplätzen geschaffen. Ein Beispiel bildet ein großes ABM-Projekt im ehemaligen Stahl- und Walzwerk Riesa. Die Stadt an der Elbe war ein traditioneller Standort der sächsischen Stahlproduktion mit über 11 000 Arbeitnehmern. Das Werk war früher gleichzeitig auch ein großer Umweltverschmutzer. Es wird wegen der völlig heruntergewirtschafteten Produktionsanlagen nahezu komplett abgerissen. Mit Hilfe von 1 200 ehemaligen Stahlwerkern als ABM-Kräften und mit einem Kostenaufwand von fast 120 Millionen DM, finanziert aus dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost sowie aus Mitteln der Bundesanstalt für Arbeit und der Treuhandanstalt, wird das Gelände für die Ansiedlung neuer Industriebetriebe vorbereitet, die nach dem Planungskonzept Arbeitsplätze für 4 500 ehemalige Werksangehörige bieten sollen. ABM bieten zudem die Möglichkeit beruflicher Qualifizierung. Dafür stehen den ABM-Kräften bis zu 20 % ihrer Arbeitszeit zur Verfügung. Dieses Angebot wird weitgehend genutzt. Nach Feststellung des Bundesumweltministers sind bei ausgewählten ABM, so dem Stahlwerk Hennigsdorf, der Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft Bitterfeld/Wolfen, dem Stahlwerk Riesa, der Saxonia AG Freiberg und der Mansfeld AG mit zusammen ca. 8 000 ABM-Kräften, bis jetzt zwischen 20 und 25 % dieser Arbeitskräfte wieder in den ersten Arbeitsmarkt, vor allem im Baugewerbe, eingegliedert. Etwa 2 % haben den Sprung in die Selbständigkeit gewagt und geschafft. Lassen Sie mich hinzufügen: Umwelt-ABM sind keine Konkurrenz für mittelständische Unternehmen, sondern beleben deren Geschäftstätigkeit, weil sich ein nicht unbeträchtlicher Anteil der im Rahmen von ABM-Projekten erforderlichen Sachmitteln in Aufträgen an regionale Unternehmen niederschlägt. ({0}) Zusammengefaßt ist daher festzustellen, daß ABM im Umweltschutz in erheblichem Maße zur Standortverbesserung beitragen und damit wichtige Impulse für den wirtschaftlichen Aufschwung geben. Die Bundesregierung hat für den Zeitraum 1991/92 rund 7,2 Milliarden DM für die Finanzierung von ABM bereitgestellt und damit auch dem hohen Stellenwert Ausdruck gegeben, den Umweltsanierung im Rahmen von ABM besitzt, ({1}) - Etwa 30 % können Sie rechnen. Gestützt auf diese positiven Ergebnisse, ist es nur folgerichtig, nach Auslaufen der Sonderregelungen des Einigungsvertrages für ABM in den neuen Ländern ein Instrument Arbeitsförderung Umwelt Ost einzuführen, das insbesondere dort zur Anwendung kommen kann, wo u. a. in Großprojekten der Sanierung von Altstandorten und der Beseitigung von Umweltschäden die ABM nach den gesetzlichen Fristen enden, aber weder die Arbeiten abgeschlossen sind noch für die bisherigen ABM-Beschäftigten neue, alternative Arbeitsplätze entstehen konnten, Darüber hinaus ist eine Vielzahl von anderen Einsatzmöglichkeiten für ABM im Umweltschutz, insbesondere im kommunalen Bereich, bei der Land- und Forstwirtschaft, im Naturschutz und der Landschaftspflege sowie bei Wissenschaft, Forschung und anderen Dienstleistungen vorgesehen. Die beabsichtigte Neuregelung im Arbeitsförderungsgesetz - sie betrifft den § 249h - sieht als Angebot vor, daß für jeden im Umweltschutz beschäftigten Arbeitslosen durch die Bundesanstalt für Arbeit ein Zuschuß zu den Personalkosten in Höhe von ca. 15 600 DM pro Jahr, befristet bis 31. Dezember 1997, gewährt wird. Für den größten Teil der in Betracht kommenden Maßnahmen besteht damit jedoch noch eine erhebliche Finanzierungslücke, insbesondere zur Deckung der Sachkosten. Gefordert, diese Finanzierungslücke zu schließen, sind in ihren Unternehmen die Treuhandanstalt und vor allem auch die Bundesländer. Besonders die Länder sollten die ihnen zugewiesenen Fördermittel, insbesondere im Rahmen der Gemeinschaftsaufgaben, verstärkt zur Finanzierung von ABM im Umweltschutz einsetzen. Gleichwohl bleibt eine erhebliche Finanzierungslücke, die in den nächsten Wochen in Verhandlungen zwischen Bund und Ländern geschlossen werden muß. ({2}) Sonst besteht die Gefahr, daß sich nicht nur das Beschäftigungsproblem Ende des Jahres in einer Weise verschärft, die niemand wünschen kann, sondern auch sinnvolle Projekte, insbesondere an Altstandorten, halbfertig abgebrochen werden müssen - mit dem Ergebnis, daß Altstandorte zu neuen Altlasten verfallen. Ich hoffe, daß wir unser Ziel erreichen und die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Bereich des Umweltschutzes in erheblichem Umfang fortführen können. ({3}) Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort erteile ich nunmehr der Abgeordneten Siegrun Klemmer.

Siegrun Klemmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001125, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ausgangspunkt für den SPD-Antrag „Mehr Arbeit durch mehr Umweltschutz in den neuen Bundesländern" war und ist die Bewertung der Umweltproblematik vor dem Hintergrund des schweren Erbes, das uns das DDR-Regime gerade auf diesem Gebiet hinterlassen hat, gleichzeifig aber auch der großen Chance, die ein ökologischer Neuanfang für die prekäre Situation Ostdeutschlands bietet. Die richtige Bewertung der Umweltfrage ist Voraussetzung dafür, die gegenwärtigen sozialen wie wirtschaftlichen Probleme in Ostdeutschland erfolgversprechend zu bekämpfen. ({0}) Davon geht unser Antrag aus. Der ökologische Umbau der Industriegesellschaft ist die alternativlose Antwort auf ökologische und wirtschaftliche Notwendigkeiten. Da beides untrennbar miteinander zusammenhängt, ist dies der Weg, der jetzt in Ostdeutschland beschritten werden muß: nicht nur ein defensiver Versuch, sich gegen die Umstellungsschwierigkeiten der Wende zu stellen, sondern eine offensive, moderne, ökologisch bewußte Investition in die Zukunft. Lassen Sie mich beginnen mit der Standortfrage. Aus den Reihen der Regierungskoalition ist man immer schnell bei der Hand mit der „Gefahr für den Produktionsstandort Deutschland ", wenn sich die Gewerkschaften und die Opposition gegen den Abbau von Sozialleistungen stemmen. ({1}) Der Produktionsstandort Ostdeutschland ist tatsächlich in Gefahr, allerdings aus ganz anderen Gründen, und ausgerechnet hier versagt die Regierung bei den notwendigen Konsequenzen. ({2}) Welche ostdeutsche Gemeinde kann ihre Grundstücke verpachten oder verkaufen, um damit die eigene finanzielle Situation aufzubessern, wenn dazu erst einmal Geld für die notwendige Sanierung ausgegeben werden muß, Geld, das die Gemeinden nicht haben? Welcher Betrieb geht das Risiko einer Neuinvestition ein, wenn Ausgaben für aufwendige Sanierungsarbeiten anstehen? Diese Ausgaben können zur Zeit natürlich auch nicht, wie hier wiederholt gemeint wurde, von den Ländern übernommen werden; denn wir alle wissen, daß die neuen Länder dazu finanziell nicht in der Lage sind. Wenn ein Kollege aus dem Regierungslager bei den Haushaltsberatungen meinte, das sei Föderalismus, und die Finanzierung falle nun in die Verantwortlichkeit der Länder, dann ist das in höchstem Maße zynisch, weil wir alle wissen, daß die Länder allein dazu noch eine gute Weile nicht in der Lage sein werden. Ohne die Herstellung von Standortqualität allerdings, z. B. durch Beseitigung von Altlasten, z. B. durch Bereitstellung von sauberem Trinkwasser, ist an eine wirtschaftliche Gesundung der Kommunen und eine Ansiedlung neuer Industrien nicht zu denken. Umweltschutz ist also untrennbar verknüpft mit einem wirklichen Aufschwung Ost. Auch eine Erholung der katastrophalen Situation auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt muß in ökologischem Zusammenhang gesehen werden. Bundesumweltminister Töpfer hat auf die große Zahl von AB-Maßnahmen hingewiesen - Herr Staatssekretär Laufs eben auch -, die in diesem Bereich laufen. Er hat aber nicht darauf hingewiesen, daß der Erhalt selbst dieser Stellen für die Zukunft sehr gefährdet ist. ({3}) Allein im Bereich des Trinkwassers werden die erforderlichen Investitionen für die Sanierung der ostdeutschen Versorgung auf bis zu 100 Milliarden DM geschätzt. 9,6 Millionen Menschen in Ostdeutschland trinken dauernd oder zeitweise qualitiativ hochSiegrun Klemmer gradig beeinträchtigtes Wasser. Stellen Sie sich das Arbeitskräftepotential vor, das eine tatsächlich flächendeckend erfolgreiche Sanierung der Versorgungsnetze mit sich bringen würde! Oder denken Sie daran, was für ein Aufwand an Arbeitskräften eine Sanierung von Altlasten erforderte! Allerdings bleibt das, wovon die Länder nicht durch den Bund freigestellt werden, liegen. Diese Flächen gehen den Kommunen verloren, sie gehen der Industrie und dem Arbeitsmarkt verloren, ({4}) und sie begründen ein erhebliches Gefährdungspotential für die Bevölkerung. Dafür, daß diese Regionen nicht bis ans Ende aller Tage Industriewüsten bleiben, ist es z. B. wichtig, daß das Antragsverfahren zur Befreiung von der Haftung für bestehende Altlasten durch Anzeigeverfahren ersetzt wird, genau so, wie es unser Antrag vorsieht. ({5}) Statt den Arbeitsmarkt zur Bereitstellung ausreichender Finanzierung für die dringend notwendigen Sanierungsmaßnahmen zu entlasten, fallen nunmehr im Gegenteil die Mittel des Programms „Aufschwung Ost" weg, ({6}) mit denen bisher immerhin eine gewisse Zahl solcher Maßnahmen finanziert wurde. Ostdeutschland verkraftet die Vernichtung von Arbeit nicht länger, meine Damen und Herren. Die Bilder, die uns da beinahe täglich aus Rostock, aus Wismar, aus zahlreichen anderen Orten ins Haus geliefert werden, sprechen eine deutliche Sprache und haben nicht allein mit der Aversion gegen Ausländer zu tun. Aber nicht nur in diesem defensiven Sinn, in der Beseitigung von Altlasten und in einem Auffangen von Arbeitslosigkeit, auch in bezug auf zukunftsorientierte moderne Unternehmen könnte und müßte die Ökologie einen wesentlich höheren Stellenwert einnehmen, als die Bundesregierung ihr zugesteht. Sanierungsaufgaben werden in ganz Osteuropa - und nicht nur da - in den nächsten Jahrzehnten in großem Umfang notwendig bleiben. Deutsche Unternehmen könnten hier Erfahrungen einbringen. Das gilt ebenso für Maßnahmen zur rationellen Energieversorgung, auf die alle Länder in immer höherem Maße angewiesen sein werden. Und warum sollten nicht in Ostdeutschland die Gasturbinenkraftwerke hergestellt werden, die die Energieversorgung Osteuropas billiger und sicherer als eine sinnlose Pseudosanierung der östlichen Atomkraftwerke sichern könnten? ({7}) Dieselbe Zukunftsorientierung wäre von einer modernen Verkehrsinfrastruktur zu erwarten. Statt dessen scheint unser „rasender" Verkehrsminister Krause mit seinem Autohaushalt noch zusätzlich dafür Sorge tragen zu wollen, daß Waren, statt daß sie in Ostdeutschland hergestellt werden, über möglichst viele Straßen aus Westdeutschland herangekarrt werden müssen. ({8}) Oder im Naturschutz: Auch ein Naherholungsgebiet kann wirtschaftlich ungemein attraktiv sein. Das sei all denen gesagt, die anderen Argumenten nicht so aufgeschlossen gegenüberstehen. Statt dessen kann sich die Bundeswehr noch immer nicht zu der Erkenntnis durchringen, daß man das größte zusammenhängende Waldgebiet Deutschlands, das unersetzliche Trinkwasserreservoir Sachsen-Anhalts, die Colbitz-Letzlinger-Heide, nicht als Spielplatz für Panzerfahrzeuge und Kanonenschützen mißbrauchen darf, sondern daß es dem Land Sachsen-Anhalt zur adäquaten einzigen Nutzung als Naturreservat überlassen werden muß. ({9}) Meine Damen und Herren, dies alles ist in dem Antrag „Mehr Arbeit durch mehr Umweltschutz in den neuen Bundesländern" gesagt: Umweltschutz als Standortfaktor, als Arbeitsmarktfaktor, als unverzichtbarer Bestandteil einer zukunftsorientiert ausgerichteten Reindustrialisierung Ostdeutschlands. Welche Einstellung herrscht dagegen im Regierungslager zum Umweltschutz vor? Wir haben den Etat des Umweltministers, geschrumpft um 3,5 %. Der Herr Minister versucht, seine Haushaltsschlappe dahinter zu verstecken, daß in anderen Einzelplänen auch Geld für den Umweltschutz vorgesehen sei. Damit hat er zwar recht; nur werden diese Mittel genauso gekürzt wie seine eigenen. Weil es auch ein Licht auf den Wert, den die Regierung Umweltbelangen beimißt, wirft, möchte ich ein kleines Beispiel aus der Trinkwasserversorgung anführen. Auf Grund der Nähe zu einer Uranabsetzanlage ist das Wasser in einer kleinen thüringischen Gemeinde, in Wolfersdorf, so verseucht, daß das Leitungsnetz total ersetzt werden muß, Haushaltslage hin oder her. Weder das 600-Seelen-Dorf selbst noch das Land sind in der Lage, die Ausgaben dafür zu tragen. Die engagierte Bürgermeisterin hat es geschafft, die dafür eingerichtete Fachkommission „Soforthilfe Trinkwasser" beim Bundesgesundheitsamt für ein Gutachten zu gewinnen. 200 000 DM aus dem Titel „Notprogramm Trinkwasser" hat sie erhalten, wohlgemerkt für das Gutachten. Es war damit noch kein Spatenstich getan. Das „Notprogramm Trinkwasser" des Bundesgesundheitsministeriums enthielt 1991 5 Millionen DM, 1992 6 Millionen DM. Dies ist bei dem erwähnten katastrophalen Zustand der ostdeutschen Trinkwasserversorgung lächerlich genug. Dennoch wurde dieser Betrag nunmehr gestrichen. So sieht es nämlich aus mit dem Umweltgeld in anderen Haushaltsplänen. - Herr Laufs, richten Sie es Herrn Töpfer aus! Nicht nur das Geld wurde gestrichen, auch die Fachkommission „Soforthilfe Trinkwasser" taucht in den Haushaltsplänen nicht mehr auf, vielleicht nach dem Motto: Wenn die Anlagen sowieso nicht saniert werden, brauchen wir auch kein Personal, um die Schäden überhaupt zu erfassen. ({10}) Erst dem gemeinsamen Einsatz der Berichterstatter ist es zu verdanken, daß nunmehr die Fachkommission hoffentlich erhalten bleibt und wenigstens eine Art Katastrophenfonds von 3 Millionen DM eingerichtet wird. 3 Millionen DM für die Sanierung in Notfällen sind natürlich viel zu wenig. Das Trinkwasser - so heißt es aus dem Finanzministerium hinter vorgehaltener Hand - sei Ländersache und das Nothilfeprogramm nur eine Anschubfinanzierung. Wenn die Bundesrepublik ihre Verpflichtung gegenüber der EG-Kommission nicht erfülle, bis 1995 die entsprechenden Grenzwerte zu erreichen, dann - hören Sie einmal gut zu, meine Damen und Herren! - solle man doch vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die Bundesregierung klagen. Das ist der Gipfel an Zynismus auf Kosten der Gesundheit der Menschen in den neuen Ländern. ({11}) Wenn das Programm „Aufschwung Ost" wirklich gestrichen wird - mit den katastrophalen Folgen für Arbeitsmarkt und Umwelt -, wenn die ostdeutschen Kommunen nicht kräftig bei der Sanierung unterstützt werden, wenn also das der Sinn einer sogenannten Anschubfinanzierung gewesen sein soll, daß sie in der entscheidenden Phase wegfällt, dann braucht sich niemand über die Frustration der Menschen in Ostdeutschland und entsprechende Reaktionen zu wundern. ({12}) Ich denke, daß einzige, was auf diese Art angeschoben wird, ist der schon arg schwankende deutsche Einheitskarren. Die Richtung, in die er geht, will ich nicht näher beschreiben. Der Bundeskanzler hat für Ostdeutschland schon für die nahe Zukunft blühende Landschaften versprochen. Das einzige, was in Ostdeutschland zur Zeit blüht, ist der Unsinn einer völlig verfehlten Arbeitsmarktpolitik, einer kahlschlagenden Wirtschaftspolitik, einer bis zur Unkenntlichkeit zusammengestrichenen Umwelt- und nun auch noch einer zynischen Haushaltspolitik. Meine Damen und Herren, auch das Totschlagargument der katastrophalen Haushaltslage, für die die Regierung verantwortlich zeichnet, ändert nichts daran, daß das Programm „Aufschwung Ost" weitergeführt werden müßte. Es könnte auch weitergeführt werden, insbesondere in seinem Bestandteil für den Umweltbereich. Wir haben auch schon wiederholt gesagt, woher das Geld kommen kann: z. B. durch Wegfallen der Senkung des Spitzensteuersatzes, durch Streichungen im Verteidigungshaushalt, ({13}) durch Streichen und Umschichten im Verkehrshaushalt und schließlich durch Einführung einer Ergänzungsabgabe. Andere Beispiele haben wir Ihnen bis heute zur Genüge geliefert. Das Programm „Aufschwung Ost" hat für Sie, meine Damen und Herren aus der Regierungskoalition, bisher dazu hergehalten, den vorliegenden SPD-Antrag als unnötig abzulehnen. Nun läuft das Programm aus. Daher appelliere ich an Sie: Stimmen Sie um so beherzter der Beschlußempfehlung des Ausschusses auf Ablehnung unseres Antrages nicht zu! Ich danke Ihnen. ({14})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nun dem Abgeordneten Ulrich Klinkert das Wort.

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute über einen Antrag der SPD, der unter der Überschrift „Mehr Arbeit durch mehr Umweltschutz in den neuen Bundesländern" steht. Dieser Antrag, der übrigens anderthalb Jahre alt ist, liest sich wie ein Märchenbuch oder besser, wie eine Handlungsvorschrift nach dem Motto: Wie treibe ich den Staat in den finanziellen Ruin? ({0}) Als die SPD noch an der Regierung war, hat sie konsequent nach diesem Motto gehandelt, und sie ist letztendlich kläglich daran gescheitert. ({1}) - „Das wissen vor allem Sie! " habe ich jetzt als Zuruf von der PDS/Linke Liste bekommen. Ich bin dafür sehr dankbar. Liebe Kollegen, im Gegensatz zu Ihnen habe ich mich damals auch noch etwas außerhalb der DDR-Medien interessiert. ({2}) - Ja, gut, Sie gehörten ja zu den Privilegierten, die auch in den Westen fahren durften, aber offensichtlich haben Sie vieles nicht gesehen, oder Sie haben nicht weitergegeben, was Sie hier gesehen haben. ({3}) Die wichtigsten Schlagworte des Antrages der SPD, den der Umweltausschuß ja bereits abgelehnt hat, sind „Bereitstellung von mehr Haushaltsmitteln", „zusätzliche Bundesmittel", „finanzielle Zuschüsse" usw. Auch von der von mir geschätzten Kollegin Klemmer habe ich immer nur gehört: Geld, Geld, Geld. ({4}) Wörtliches Zitat von Frau Klemmer: Haushaltslage hin oder her; Ergänzung von mir: Geld muß her, immer mehr. Frau Klemmer, diese Rechnung geht sicherlich nicht auf, auch wenn wir einer Meinung sind, daß sauberes Trinkwasser notwendig ist, daß sanierte Flächen Voraussetzung für den industriellen Aufschwung sind. Aber lassen Sie mich noch ein Wortspiel anbringen. Im Vergleich zu dem, was die DDR hinterlassen hat, kann man zu der jetzigen Situation durchaus sagen: Unmögliches wird sofort erledigt, Wunder dauern eben etwas länger. ({5}) Sie fragen weder nach dem Woher der Mittel und äußern dazu allenfalls irreale Vorstellungen, noch antworten Sie qualifiziert auf die Frage nach dem Wieviel. Der einzig konkrete Vorschlag, den Sie immer wieder vortragen, besteht darin, für den Verkehrswegebau vorgesehene Bundesmittel umzuschichten, beispielsweise zugunsten des ÖPNV. ({6}) - Der Rüstungshaushalt ist auch genannt worden, aber der ist ja bereits deutlich gekürzt worden. ({7}) - Meine Damen und Herren, vergleichen Sie doch bitte einmal die Verhältnisse vor der deutschen Einheit mit den jetzigen Verhältnissen, vergleichen Sie die Ausgaben im Westen Deutschlands mit denen im Osten Deutschlands, ({8}) vergleichen Sie die jeweiligen Truppenreduzierungen und bringen Sie das in einen spezifischen Zusammenhang; dann müssen Sie schon eine deutliche Kürzung akzeptieren. Meine Damen und Herren von der SPD, wenn Sie vorschlagen, für den Verkehrswegebau vorgesehene Mittel zugunsten der Förderung öffentlicher Verkehrsmittel umzuschichten, dann kennen Sie offensichtlich nicht die Infrastruktur in den neuen Bundesländern. Würden Sie sie kennen, wollten Sie nicht verhindern, daß dort neue Straßen gebaut werden. Übrigens, wo sonst sollen die Fahrzeuge des ÖPNV fahren? Wenn Sie die Lage kennen und dies trotzdem fordern, dann ist es um so schlimmer. Dann kann ich nur schlußfolgern, daß Sie von der SPD aus den neuen Bundesländern eine grüne Kolonie machen wollen, in der SPD-Abgeordnete möglicherweise ihr Wochenende verbringen wollen. ({9})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage der Abgeordneten Caspers-Merk zu beantworten?

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte sehr, Frau Kollegin, Sie haben das Wort.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Klinkert, wie verträgt sich Ihre Rede hier mit Ihren eigenen Forderungen im Umweltausschuß, die Mittel um 400 Millionen DM aufzustocken? ({0})

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, in meinem Konzept steht genau dazu, daß dies einer der wenigen Punkte ist, in denen ich einer Meinung mit Ihnen bin. ({0}) Auch ich bin der Meinung, daß der Haushalt des Bundesumweltministers aufgestockt werden muß. ({1}) Ich danke für die Frage. ({2}) Ich habe zu dem, was Sie bezüglich des Straßenbaus im Osten vorhaben, ja bereits einiges ausgeführt. Das wird ergänzt durch Ihr prima Papier, das Sie vor anderthalb Jahren vorgelegt haben und in der die ach so neue Erfindung des „sanften Tourismus" gepriesen wird. Sie sind sicherlich nicht die ersten, die darauf gekommen sind. Der Antrag geht leider völlig an den Realitäten vorbei. Er ist zeitlich überholt und wird im Deutschen Bundestag wohl auch keine Zustimmung finden. Gleichwohl ist diese Debatte ein willkommener Anlaß, über die Umweltsituation in den neuen Bundesländern und über beschäftigungswirksame Chancen der Umweltsanierung zu reden. Je mehr detaillierte Ergebnisse über die ökologische Situation der ehemaligen DDR vorliegen, desto deutlicher wird, daß die Schäden einer verantwortungslosen Planwirtschaft erst in einem geschichtlichen Zeitraum zu beseitigen sein werden. ({3}) Dies heißt nicht, davor zu resignieren und die Hände in den Schoß zu legen. Mehr als 120 000 Menschen sind zur Zeit über ABM im Bereich der Umweltsanierung beschäftigt. ({4}) Zur Zeit sind innerhalb der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen Überlegungen im Gange, diese ABM in längerfristige Beschäftigungsprogramme umzuwandeln. Ich halte diese Überlegungen für richtig, wenn auch im Detail noch für diskussionswürdig, weil sie den Betroffenen, nämlich den Beschäftigten in ABM, den falschen Eindruck nehmen, daß es sich bei ABM um zweitklassige und vor allen Dingen zeitlich begrenzte Beschäftigungen handele. Als Beispiel möchte ich die Sanierung der Braunkohlenreviere nennen, wovon mein Wahlkreis in der Lausitz stark betroffen ist. Zur Zeit sind Tausende von Arbeitnehmern über ABM mit der Sanierung von toten oder stillgelegten Bergwerken beschäftigt. Diese Maßnahmen sind zeitlich befristet und würden, wenn nichts geschähe, in den nächsten Monaten auslaufen, was für die Betroffenen, die dann wieder arbeitslos wären, natürlich unverständlich ist, denn sie haben die Arbeit vor Augen. Im Rahmen der Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes sind deshalb neue Finanzierungsmodelle vorgesehen. Dies bedeutet nicht automatisch eine Kürzung der Beschäftigungsdauer, sondern sichert im Gegenteil - Staatssekretär Laufs hat es ausgeführt - eine Beschäftigung bis mindestens 1997. Im Fall des stillgelegten Braunkohlenbergbaus soll der Erlös der Treuhand aus der Privatisierung des aktiven Braunkohlenbergbaus zur Sanierung beigesteuert werden. Strittig ist momentan noch die Aufteilung des verbleibenden Finanzbedarfs auf Länder und Bund. Wir appellieren sowohl an die Lander als auch an den Bund, aufeinander zuzugehen und Kompromisse zu finden. Wir sind es den 15 000 Menschen, die dadurch im Lausitzer und im mitteldeutschen Revier eine sinnvolle Zukunft finden können, schuldig. Mit jedem Tag, um den sich die Sanierung verzögert, wird sie teurer, denn die Umweltzerstörung schreitet auch dann fort, wenn ein Bergbaubetrieb stillgelegt ist. Allein ein unkontrollierter Anstieg des durch den Braunkohlenbergbaus abgesenkten Grundwassers könnte irreparable Schäden hervorrufen. Hunderte Hektar Kippenflächen würden, wenn sie nicht bergtechnisch vor dem Ansteigen des Grundwassers bearbeitet werden, auf Dauer jeglicher Nutzung entzogen werden und müßten für immer gesperrt werden. ({5}) Andererseits hat sich durch das jahrzehntelange Heben von mehr als 1 Milliarde Kubikmeter Wasser pro Jahr ein neues Gleichgewicht im Wasserhaushalt eingestellt, ({6}) das durch die schlagartige Einstellung der Wasserförderung empfindlich gestört würde. ({7}) Es besteht z. B. die Gefahr des Austrocknens des Spreewaldes. Damit wiederum besteht die Gefahr, daß die Trinkwasserversorgung Berlins nicht mehr sichergestellt werden kann. ({8}) Deshalb ist ein weiteres Fördern von Wasser aus dem Braunkohlenrevier auf längere Zeit notwendig. Das muß natürlich irgendwie finanziert werden. ({9}) - Ich habe Ihnen doch gerade gesagt: Über das Arbeitsförderungsgesetz und über die Sanierungsgesellschaften kann ein Teil der 15 000 Menschen, die bis 1997 Arbeit finden, auch zur Förderung von Wasser, das die Austrocknung des Spreewaldes verhindert, was wiederum zur Sicherung der Trinkwasserversorgung Berlins beiträgt, eingesetzt werden. ({10}) Wirtschaft und Beschäftigung werden aber nicht nur über ABM gefördert. Vielmehr müssen mehr marktwirtschaftliche Instrumentarien im Bereich von Infrastrukturmaßnahmen eingesetzt werden. ({11}) - Es verwundert mich nicht, daß Sie, meine Damen und Herren von der SPD, angesichts marktwirtschaftlicher Instrumentarien unruhig werden oder lachen. Offensichtlich trifft das nicht Ihre politische Linie. Allein im Bereich der Abwasserbehandlungsanlagen besteht zur Zeit beispielsweise im Freistaat Sachsen ein Finanzbedarf von 30 Milliarden DM. Übrigens sind 58 Kläranlagen entlang der Elbe bereits im Bau. Das sind mehr als in 40 Jahren DDR. Dem Finanzbedarf von 30 Milliarden DM steht aber nur ein Volumen von 300 Millionen DM pro Jahr im sächsischen Haushalt gegenüber. Deswegen müssen schleunigst die Voraussetzungen geschaffen werden, damit über Betreibermodelle vorhandenes privates Kapital zum Bau von Kläranlagen mobilisiert werden kann. Ein ganz anderes Beispiel, wie für den Umweltschutz privates Kapital in nennenswerten Größenordnungen mobilisiert werden kann, ist der Emissionsschutz. Entsprechend dem Einigungsvertrag müssen die ostdeutschen Kraftwerke auf emissionsärmere Techniken umgerüstet werden. Dies hat zur Folge, daß in den nächsten fünf Jahren für den Neubau von drei Kraftwerken und die Umrüstung weiterer Kraftwerke mehr als 15 Milliarden DM privates Kapital ohne steuerliche Belastung zur Verfügung gestellt werden. Diese 15 Milliarden DM sind übrigens wesentlich mehr, als beispielsweise für die positiven Beispiele Autowerke Mosel und Eisenach zusammen benötigt werden. Der Bundesumweltminister hat in den vergangenen zwei Jahren viele Projekte in den neuen Bundesländern gefördert. Mehr als 1,5 Milliarden DM wurden in 1 800 Umweltschutzprojekte investiert. An dieser Stelle hätte ich meinen Hinwels auf den Bundeshaushalt gegeben, aber ich kann mir diesen Hinweis dank der Zwischenfrage jetzt sparen. ({12}) Die Förderung von Recyclinganlagen sowie die Umsetzung der Abfallnovelle bieten weitere Chancen für die industrielle Entwicklung im Osten Deutschlands. Wir sind uns darüber einig, daß ein Mehr an Umweltschutz auch ein Mehr an Arbeitsplätzen bedeuten kann. Was wir aber brauchen, ist nicht ein Festhalten an vergilbten Wunschprojekten, sondern sind neue, zukunftsweisende marktwirtschaftliche Mechanismen. Vielen Dank. ({13})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr Frau Dr. Dagmar Enkelmann.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mir wurde erzählt, daß bei einem Rundflug über das Naturschutzgroßgebiet Schorfheide im Land Brandenburg Minister Töpfer meinte, daß dieses Gebiet das „Tafelsilber" Deutschlands sei. Ich kann dem Minister nur voll zustimmen ({0}) und den Kollegen und Kolleginnen einen Besuch dort oder in einem der anderen Naturschutzgebiete im Osten Deutschlands wärmstens ans Herz legen. Als Ab-und-zu-Hausfrau weiß ich aber auch, daß Tafelsilber regelmäßig genutzt und geputzt werden muß; sonst wird es nämlich schnell unansehnlich. Insofern ist der Vergleich so schlecht nicht, muß doch auch im Umweltschutz kontinuierlich etwas getan werden, um nicht in Zukunft doppelt und dreifach zahlen zu müssen. Das heißt auch, daß es mit ABM-Projekten allein nicht getan ist. Hier stimme ich Ihnen, Kollege Grünbeck - er ist leider nicht mehr da -, voll zu. Im Gegenteil: Gerade bei dieser Art der Finanzierung von Umweltschutzprojekten liegt die Gefahr darin, daß in den Projekten praktisch Kontinuitätsbrüche entstehen. Ich möchte auf einige Beispiele aus dem Land Brandenburg aufmerksam machen. Im schon genannten Biosphärenreservat Schorfheide sind gegenwärtig 250 ABM-Kräfte beschäftigt. Das Ziel für dieses und alle anderen Großraumschutzgebiete besteht darin, daß sie als naturnahe Gebiete erhalten bleiben, die sich wirtschaftlich selbst tragen. Dazu bedarf es neuer Überlegungen über eine harmonische wirtschaftliche Entwicklung in der Region, z. B. Förderung von Gewerbe und Mittelstand für die Verarbeitung der landwirtschaftlichen und forstlichen Produkte, für sanften Tourismus, Ausbildung von Naturwächtern usw. Diese in der Ausarbeitung befindlichen Konzepte könnten in vier bis fünf Jahren greifen und viele Arbeitsplätze - wohlgemerkt: Dauerarbeitsplätze - schaffen, wenn es gelingt, bis dahin die ABM-Kräfte dort zu halten. Gegenwärtig aber sind von den 250 ABM-Kräften 200 zumindest noch für das Jahr 1993 bestätigt. Diese 200 sind in der Naturwacht tätig. Die restlichen 50, die an konkreten Projekten arbeiten, sind gefährdet. Insgesamt sind im Land Brandenburg ca. 25 000 Arbeitsplätze durch ABM gebunden, davon ca. 80 % im Bereich Umweltschutz. Ein großer Teil der Beschäftigten arbeitet an Projekten, deren Ergebnisse von weitreichender Bedeutung sein könnten. Insofern, Herr Laufs, geht es eben nicht nur um Sanierung. Ich möchte Ihnen dazu einige Beispiele nennen. Erstes Projekt: Entsorgung und Verwertung von Biomasse. Dazu wird in Eberswalde ein ehemaliger Produktionsstandort der Forst übernommen. Die Arbeiten, die dieses Projekt einschließt, reichen von der Grundlagenforschung bis zu Waldpflegearbeiten. Das Projekt wird mit der Wirtschaftsförderungsgesellschaft Eberswalde den Großschutzgebieten und verschiedenen Sozialprojekten gemeinsam vorangetrieben. Ein zweites Beispiel: das Projekt bei Wald-Sieversdorf im Kreis Strausberg. Hier werden Pflanzen für die Renaturierung geschädigter und anderer Gebiete gezüchtet. Ein drittes Beispielprojekt: Energiegewinnung aus nachwachsenden Rohstoffen. Hier geht es vor allen Dingen um die Nutzung von Holz als Energieträger der Zukunft. Realistische Vorstellungen gehen dahin, daß hier künftig ca. 3 000 Dauerarbeitsplätze entstehen könnten. Diese Beispiele belegen bereits die große Chance, aus solchen ABM-Projekten sich wirtschaftlich selbsttragende Einrichtungen zu entwickeln und Arbeitsplätze in größerer Zahl zu schaffen. Dazu reicht aber die Möglichkeit der bisherigen Arbeitsförderungsmaßnahmen bei weitem nicht aus. Die angedachten Änderungen des § 249a des AFG können zwar als Schritt in die richtige Richtung gewertet werden, bleiben aber letztlich halbherzig. Erforderlich wäre z. B. weiterhin, die Arbeitsförderungsgesellschaften den öffentlichen Trägern gleichzustellen, und es müßten für einen bestimmten Zeitraum nicht 80 %, sondern 100 % der Kosten an die Träger erstattet werden. Es wäre weiter notwendig, solche Projekte, wie ich sie u. a. genannt habe, mittels Vorfinanzierung durch Bund und Länder zu sichern. Das erfordert nicht mehr Geld, sondern lediglich eine Umverteilung, die es ermöglicht, daß statt Arbeitslosigkeit eben Arbeit finanziert wird. Hier könnte die Bundesregierung den Versuch wagen, von der bisherigen kurzsichtigen Politik der Löcherstopferei wegzukommen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Harald Kahl.

Dr. Harald Kahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, daß ich zunächst auf die Einlassungen der Kollegin Klemmer bezüglich des Trinkwasserproblems in einer Kommune in Thüringen eingehe. Es handelt sich hier um die Gemeinde Wolfersdorf im Kreis Greiz. Es stimmt, daß das Bundesministerium für Gesundheit 200 000 DM für ein Gutachten bereitgestellt hat. Es stimmt auch, daß es ein Gutachten des Bundesamtes für Strahlenschutz gibt. Es stimmt aber nicht, daß in diesem Gutachten das Wasser als verseucht angesehen wird. Es bewegt sich im Grenzbereich. Gegenwärtig gibt es Modellversuche, die klären sollen, inwieweit die Inkrustationen, die in den Eisenrohren der Trinkwasserversorgung vorhanden sind, tatsächlich zu einer Gefährdung führen. Im übrigen möchte ich für den Fall, daß es Ihnen entgangen sein sollte, sagen, daß sich Bundesumweltminister Töpfer und auch der Umweltminister von Thüringen am 15. und 16. September 1992 in der Region vor Ort über das Problem informiert haben. Im übrigen bin ich der Meinung, daß die Beseitigung dieser Schäden, für die die Wismut als Verursacher gilt, im Grunde genommen auch aus dem Haushalt des Bundeswirtschaftsministeriums beglichen werden sollte, d. h. hier müßten ganz konkret finanzielle Mittel eingestellt werden, um für die Sanierung der in der Gemeinde Wolfersdorf entstandenen Schäden von der Wismut aus Sorge zu tragen. Der wirtschaftliche Aufschwung in den jungen Bundesländern kommt langsamer in Gang, als voraussehbar war. Das Zusammenbrechen des Ostmarktes, die ungeklärten Eigentumsfragen, schleppende Genehmigungsverfahren und Verwaltungsentscheidungen sind Gründe dafür. Ein besonders schwerwiegender Grund jedoch, der sich in seiner ganzen Dramatik gleichsam Monat für Monat scheibchenweise immer deutlicher darstellt, ist die katastrophale Umwelthinterlassenschaft von 40 Jahren SED-Herrschaft. Sie gefährdet nach wie vor, wenngleich auch schon wesentlich weniger, die Gesundheit der Menschen in den jungen Bundesländern durch Emissionen von Schadstoffen, durch teilweise qualitativ schlechtes Trinkwasser, verseuchte Böden, fehlende Abwasserbehandlung und wilde Deponien. Sie gefährdet aber nicht minder den wirtschaftlichen Aufschwung durch das schier unermeßliche Ausmaß von Altlasten. Soll in den jungen Bundesländern eine erfolgreiche ökonomische Sanierung Platz greifen, bedarf es vorgeschaltet und begleitend gleichermaßen einer angemessenen ökologischen Sanierung. Die Bundesregierung hat mit dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost, in dem das Aktionsprogramm ökologischer Aufbau enthalten ist, ein Instrument geschaffen, bei dem Prioritäten gesetzt werden zur Bekämpfung der schlimmsten Umweltschäden in den neuen Bundesländern. 800 Millionen DM stellte die Bundesregierung 1991 und 1992 für ein Umweltschutzsofortprogramm und für Pilotvorhaben zur Verfügung. Als vordringlichste Aufgaben erwiesen sich u. a. die Verbesserung der Trinkwasserversorgung, Maßnahmen zur Abwasserbeseitigung sowie Emissionsentlastungen durch Umstellung von Feuerungsanlagen von Braunkohle auf Öl oder Erdgas. AB-Maßnahmen haben sich hierbei besonders bewährt. Deshalb, meine ich, kann es auch gar nicht anders sein, als daß die AB-Maßnahmen auf dem Gebiet des Umweltschutzes ohne Abstriche und unter Bereitstellung von Mitteln für Sachkosten weitergeführt werden, da sonst Anschlußprojekte oder längerfristige Vorhaben elementar gefährdet sind. Ein Investitionshemmnis besonderer Art stellen die Altlastenflächen dar, die auf rund 50 000 geschätzt werden. Sie zu erfassen und zu bewerten bindet aber ebenso Arbeitskräfte wie der dringend notwendige Aufbau einer leistungsfähigen Entsorgungs- und Verwertungsinfrastruktur. Hierbei spielen zu errichtende Bodensanierungszentren, Abfallbehandlungs- sowie Recycling-Anlagen, die sich der ganzen Palette moderner physikalischer, chemischer, biologischer und thermischer Entsorgungs- bzw. Verwertungstechniken bedienen, eine besondere Rolle. Sie schaffen die Voraussetzung für das Wiederansiedeln von Industrie und Gewerbe und sichern vor allem Arbeitsplätze in zukunftsträchtigen Industriezweigen. Der wirtschaftliche Aufschwung in den jungen Bundesländern ist mit dem Wohnungsneubau sowie der Sanierung und Privatisierung kommunaler Wohnungen untrennbar verbunden. Allein durch Umstellung der Heizungssysteme sowie durch Maßnahmen zur Wärmedämmung lassen sich Energie einsparen und Emissionsabsenkungen in beträchtlichen Größenordnungen erzielen sowie Tausende von Arbeitsplätzen sichern. Aber schon jetzt ist ein Arbeitskräftemangel im Baugewerbe eingetreten, den es durch gezielte Umschulungs- und Ausbildungsmaßnahmen schnellstens auszugleichen gilt. Meine Damen und Herren, mit dem Gesetz zur Beseitigung von Hemmnissen bei der Privatisierung und zur Förderung von Investitionen vom 22. März 1991 wurde die Möglichkeit für Investoren zur Freistellung von Altlasten festgeschrieben. Das ist eine durchaus willkommene marktwirtschaftliche Regelung, die eigentlich investitionsfördernd wirken sollte. Wenn aber, wie beispielsweise in Thüringen, Tausende Anträge auf Freistellung seit Monaten einer Bescheidung harren, dann wird diese Regelung zur Farce. Ganze drei positive Bescheide hat es bisher lediglich gegeben. Das hat fatale Folgen: Die Investoren reagieren verunsichert, weitere Investitionen und damit Arbeitsplätze werden in Frage gestellt. ({0}) Angesichts der angespannten Finanzlage können die Länder die Mittel dafür nicht allein aufbringen. ({1}) Dennoch sollte im gemeinsamen Kontext eine schnelle Lösung gefunden werden, zumal die Gelder ja nicht jetzt, sondern in aller Regel erst in Jahren fällig werden. Hier ist dringender Handlungsbedarf geboten; sonst wird neben den ungeklärten Eigentumsfragen und den langwierigen Verwaltungsentscheidungen ein weiteres Investitionshemmnis hinzugefügt, das die Sicherung von Arbeitsplätzen in Frage stellt. Meine Damen und Herren, als besondere umweltpolitische Erblast stellen sich die Folgen des Uranerzbergbaus in Thüringen und Sachsen dar. Auf einer Fläche von insgesamt 1 500 Quadratkilometern gibt es 34 größere Verdachtsflächen, die mit Sicherheit einer Sanierung zugeführt werden müssen. Allein im Sanierungsbetrieb der Wismut GmbH sind gegenwärtig mehr als 6 300 Beschäftigte mit Sanierungsaufgaben betraut, was erheblich zur Stabilisierung des Arbeitsmarktes dieser Region beiträgt. Darüber hinaus sind im Rahmen der Wismut GmbH innerhalb von Arbeitsförderungsgesellschaften mehr als 4 000 Beschäftigte in Aus- und Weiterbildung. Dennoch verläuft auch hier die Entwicklung nicht wie gewünscht. Die für die einzelnen Sanierungsprojekte erforderlichen Genehmigungen nehmen oft Monate in Anspruch mit dem Ergebnis, daß die notwendigen Sanierungsaufgaben nicht wahrgenomDr. Harald Kahl men werden können, Beschäftigte untätig bleiben müssen und kostenintensive Technik stillsteht. Hier bedarf es in Zukunft einer wesentlich besseren Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern sowie einer Straffung der Genehmigungsverfahren. Nur so können die Mittel, die seitens des Bundeswirtschaftsministeriums in Höhe von jährlich 900 Millionen DM zur Verfügung gestellt werden - und das sind ja unser aller Steuergelder -, abfließen. Lassen Sie mich zum Thema Wismut noch eine Anmerkung machen. Es hat in der Presse geradezu eine Kampagne gegen die Wismut-Region gegeben. Die kommunalen Träger der Verantwortung und auch die Investoren haben sich davon nicht schrecken lassen. Am 16. September 1992 konnte Umweltminister Töpfer - das finde ich besonders bemerkenswert - den ersten Spatenstich für eines der größten Industriegebiete Ost-Thüringens mit 100 ha vornehmen, das in der Endstufe insgesamt 2 500 Arbeitsplätze sichert. Meine Damen und Herren, im Haushaltsplan 1993 ist für das Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit eine Mittelkürzung von 3,5 % gegenüber 1992 inklusive Nachtragshaushalt vorgesehen. Die effektive Kürzung gegenüber dem ursprünglichen Plan liegt damit also noch weit höher. Angesichts der nach wie vor gravierenden Umweltschäden in den jungen Bundesländern erscheint diese Kürzung aus meiner Sicht unvertretbar. Um die ABM-Maßnahmen im Umweltschutz in gleicher Qualität und Quantität weiterzuführen, bedarf es dringend der Mittelfortschreibung. Mir ist völlig klar, daß der Haushalt 1993 ein Sparhaushalt sein muß. Allerdings scheinen mir die Prioritäten hier nicht richtig gesetzt zu sein. Sollen die ostdeutschen Länder wirtschaftlich nicht noch mehr veröden, bedarf es weiterer großer Anstrengungen und eben auch Mittel, um Altlasten zu beseitigen und das Umweltschutzniveau so schnell wie möglich dem in den alten Bundesländern anzugleichen. ({2}) Wiewohl zahlreiche umweltschutzrelevante Vorhaben in anderen Haushalten eingestellt sind - z. B. Trinkwasserversorgung im Bundesministerium für Gesundheit und Wismut-Sanierung im Bundesministerium für Wirtschaft -, scheint mir der Stellenwert des Umweltschutzes nicht richtig gewichtet zu sein. Erst wenn hier nachgebessert wird, können auch Arbeitsplätze in den jungen Bundesländern für den Umweltschutz weiterhin gesichert und neue geschaffen werden. Ich danke Ihnen. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Wieland Sorge.

Wieland Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002193, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Osten steht in Flammen - so war in den letzten Wochen und Monaten oft durch die Medien zu hören und zu sehen. Viele Menschen hatten sich sehr schnell daran gewöhnt, daß jeden Abend neue Greueltaten Verbreitung fanden: vor den Asylbewerberheimen oder in Stadien. Ganz besonders schrecklich empfanden die Menschen in Deutschland und in der Welt, daß diese Randale von 14- bis 20jährigen Jugendlichen begangen wurde. Ich glaube, wir sind uns alle einig, daß wir jede Art von solcher Gewalt ablehnen. Aber ich möchte versuchen, aus der Entwicklung der letzten zweieinhalb Jahre um etwas Verständnis für die Situation der Jugendlichen bei uns in den neuen Bundesländern zu werben, und Sie dafür zu gewinnen, daß Sie unserem Antrag zustimmen; denn er ist außerordentlich wichtig. Ich möchte mich dabei weniger auf die Gruppierungen konzentrieren, die hier ebenfalls einbezogen sind, nämlich die Behindertensportler, die Senioren oder auch die im Erwachsenensport tätigen Menschen. ({0}) - Wir werden darauf auch zu sprechen kommen. Aber die Realität der Jugend ist für uns so wichtig, daß ich heute die Gelegenheit nehmen möchte, über diese Probleme etwas ausführlicher zu sprechen. Die letzten zwei Jahre waren von dem totalen Umwandlungsprozeß eines 16-Millionen-Volkes geprägt. Nichts, aber auch gar nichts der bisher gewohnten und beherrschten Lebensumstände hatte Bestand. Alles wurde auf den Kopf gestellt. Unter der Vorstellung, alles im Leben, was man bisher gemacht hat, war falsch, leiden die Menschen in den neuen Bundesländern heute noch. Mit dieser Tatsache werden sie einfach nicht fertig. ({1}) Schlagartig änderte sich das ganze Leben. Alle lebensnotwendigen Schritte wie Arbeitsplatz, Wohnungssuche, Behördengänge, Weiterbildung, Qualifizierung, Kindergartenplatzbeschaffung, Schulausbildung der Kinder, Aushandlung von Krediten, Abschluß von Versicherungen, Verhandlungen mit Gewerbe und Dienstleistungen mußten plötzlich allein und ohne jegliche Erfahrung auf diesem Gebiet realisiert werden. Das führte logischerweise zu Fehlern, die die Menschen in eine Situation hineingebracht haben, mit der sie nicht mehr fertigwunden. Ich denke an solche Dinge, daß man Kredite aufgenommen hat, die zur Verschuldung der Familie geführt haben, daß man Versicherungsvertretern auf den Leim ging, weil man keine Erfahrung hatte, und durch die Versicherungsprämien ebenfalls eine Verschuldung eintrat. All diese Dinge haben dazu geführt, daß die Menschen immer mehr Angst hatten, diese Probleme, die auf sie zukamen und mit denen sie keine Erfahrung hatten, nicht lösen zu können. Die Ängste steigerten sich durch andere Dinge, die die Leute ebenfalls bewältigen mußten. Zum erstenmal wurden sie damit konfrontiert, daß sie ihre Arbeit verlieren können. Die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, führt logischerweise zu Spannungen im Arbeitsprozeß, aber auch in der Familie. Die Menschen, die gewohnt waren, daß alle etwa gleiche Löhne bekamen - zwischen Arbeiter und Arzt war die Verdienstspanne ganz gering -, hörten plötzlich, daß es Menschen gibt, die 1 000 DM verdienen, und andere, die 10 000 DM und mehr verdienen. In erster Linie werden da die Politiker herangezogen. Das ist nach den letzten 40 Jahren einfach nicht in die Köpfe der Menschen hineinzubringen. Die Angst, durch Erhöhung von Miete und Nebenkosten die Wohnung zu verlieren, war bisher nie ein Thema gewesen und führt nun ebenfalls zur Verschärfung der Spannungen in der Familie. Ganz besonders stark sind die Spannungen bei den Eigenheimbesitzern. Die Eigenheimbesitzer, die es mit viel Initiative geschafft haben, ein solches Haus für die Zukunft, für ihr Alter zu bauen, haben plötzlich Angst, daß sie infolge von Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit nicht mehr in der Lage sind, die Kosten zu tragen, und aus ihrem Eigenheim vertrieben werden. Die größte Herausforderung für das Denken und Handeln bildet aber die bisher nicht vorstellbare Arbeitslosigkeit. Eine Situation dieser Größenordnung übersteigt das Vorstellungsvermögen der Menschen im Osten. Dies ist gegenwärtig für viele Menschen gleichbedeutend mit dem eigenen sozialen Untergang, mit dem Verfall der Familie, mit der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit des Ostens. Sie sehen sich als ohnmächtige Leidtragende. Solange immer noch Arbeitsplätze vernichtet werden und weniger Arbeitsplätze entstehen, als bisher Arbeitslose existieren, haben die Menschen irgendwie die Hoffnung verloren, daß es vorwärtsgeht. Sie fühlen sich von einigen Politikern getäuscht. Das alles hat dazu geführt, daß sie auf der einen Seite Angst vor der Zukunft haben, andererseits aber auch eine innere Wut empfinden, weil das nicht eintrifft, was sie sich einmal vorgestellt und vorgenommen haben um ihre Entwicklung voranzubringen. In dieser Hinsicht sehen sie sich verlassen. All diese Dinge werden jeden Tag in den Familien ausgetragen mit aller Wut, mit allen möglichen Emotionen. Damit werden unsere Kinder und Jugendlichen ständig bombardiert. Diese Dinge werden auf der Straße fortgesetzt. Keiner jedoch gibt den Jugendlichen einen Ratschlag, wie man diese Dinge lösen kann. Wenn schon die Erwachsenen mit diesen Problemen nicht fertigwerden, wie sollen es die Jugendlichen mit ihren geringen Erfahrungen und mit ihrer geringeren Standfestigkeit schaffen? Nun werden Sie fragen, wie es mit den Jugendlichen selbst aussieht. Die Probleme, die von den Erwachsenen ohne Lösungsmöglichkeiten auf sie abgewälzt, abgetragen werden, werden noch durch die eigenen Probleme verstärkt, die die Jugendlichen haben. Sie mußten ein völlig neues Schulsystem sowohl in bezug auf die Organisation als auch auf die Inhalte übernehmen. Die Anforderungen wurden viel größer, und der sogenannte Streß zog auch in die Schule ein und vergrößerte das ganze Spannungsfeld. Aber auch Jugendarbeitslosigkeit und nicht immer vorhandene Ausbildungsplätze verschärften die Probleme der Jugendlichen so, daß die Probleme der Erwachsenen und die der Jugendlichen zusammentrafen. Aber Lösungsmöglichkeiten wurden nicht gegeben. Nun stellt man sich die Frage: Wer hilft ihnen eigentlich dabei, diese Probleme zu lösen? ({2}) - Ja, genau. Ich werde darauf eingehen. Ich wollte allerdings kein Szenario malen, wie schlecht es ist. Ich möchte nur Verständnis für die Jugendlichen bei Ihnen entwickeln ({3}) und will versuchen, gerade den Menschen, die in Not geraten sind und ihre Probleme nicht lösen können, bei der Bewältigung ihrer Probleme zu helfen. Das ist mein Ziel. Ich will nichts anderes. Ich bin wie Sie der Meinung, daß es viele Jugendliche gibt, die ein ausgewogenes Leben führen, die uns keine Sorgen machen. Aber wir können nicht die Fernsehbilder ansehen und sagen, daß wir die Gewalt verurteilen, und uns dann im Sessel zurücklehnen und nichts tun. Deshalb möchte ich versuchen, bei Ihnen wenigstens Verständnis für die Situation zu wekken. ({4}) Früher war die Schule eine Möglichkeit, die Probleme, die die Jugendlichen hatten, mit den Lehrern zu beraten und Lösungswege zu finden. ({5}) - Ich rede jetzt nicht vom Unterricht, sondern von den Möglichkeiten, die man außerdem hatte. Es klingt jetzt oft so, als hätte es überhaupt keine verständnisvollen Lehrer gegeben, als hätten alle nur den Sozialismus hochhalten wollen. Es gab auch Lehrer, die Verantwortung spürten, die Liebe zu den Kindern entwickelt hatten und sich mit den Jugendlichen und den Kindern verbunden fühlten. Wenn Sie das nicht einsehen, Herr Krüger, sind Sie wahrscheinlich in eine Schule gegangen, wo das nicht möglich war. ({6}) Es gibt sicher viele Lehrer, die das nicht getan haben. Aber ein Pauschalurteil darüber abzugeben ist nicht angebracht. Eine andere Sache ist noch wichtig . Die Schule war ja im Neuaufbau, und so hatten die Lehrer eigentlich mit sich selbst zu tun. Die Angst der Lehrer, daß sie entlassen werden könnten, ihre Existenzangst, die bis zu diesem Jahr anhielt, wurde auch auf die Schüler, auf die Jugendlichen übertragen. Wenn Sie in den letzten Wochen mit Jugendlichen über diese Frage diskutiert haben, werden Sie gehört haben, daß die Lehrer auch dieses Problem auf sie abgewälzt haben. Zu erwähnen sind auch noch die Einrichtungen, die früher in erster Linie dem Staat dienten, um seine Politik und seine Ideologie zu verbreiten. Aber diese Jugendklubs, Jugendkinos, Jugenddiskos und viele andere Einrichtungen für die Jugend waren auch Stätten der Begegnung. Sie wurden genutzt, um über die Probleme zu sprechen. Die Jugendlichen fanden sich dort zusammen, um untereinander bestimmte Fragen zu besprechen und nicht nur der Ideologie der Verantwortlichen zu folgen, die in diesen Häusern natürlich auch ihre Möglichkeiten suchten. Man muß immer versuchen, das real zu sehen. Diese Häuser und diese Klubs existieren heute nur noch in ganz geringer Zahl, weil sie zum größten Teil zweckentfremdet und in andere Einrichtungen, z. B. Spielhöllen, verwandelt wurden. Weil die Jugendlichen weniger Möglichkeiten haben, sich zusammenzufinden, hat sich der Entwurzelungsprozeß fortgesetzt. Die Jugendlichen können sich gegenwärtig kaum in der Gesellschaft orientieren. Wenn Sie einmal in die Schulen gehen - ich tue das sehr häufig -, dann werden Sie sehen, daß die Jugendlichen heute eher geneigt sind, Meinungsverschiedenheiten untereinander mit Gewalt auszutragen. Sie sind natürlich auch sofort bereit, den Leuten, die diese Gewalt predigen, ihr Ohr zu leihen. Das führte letztlich auch dazu, daß sie glaubten, denjenigen folgen zu müssen, die die einfachste Lösung anbieten. Man versucht nun für die Probleme, die man nicht lösen kann, die Schwächsten verantwortlich zu machen. Das waren in dem Fall die Menschen in den Asylbewerberheimen. Damit komme ich zu der Lösungsmöglichkeit. Eine der größten Herausforderungen dieser Zeit für den Sport besteht darin, daß er nicht mehr nur die Komponente haben soll, Gesundheit zu entwickeln. Ich sehe den Sport in den neuen Bundesländern heute vielmehr in erster Linie als eine sozialpolitische Aufgabe. ({7}) Wir müssen versuchen, Wege zu finden, damit der Sport dieser Aufgabe gerecht wird. Ich will die Lage im Bereich der Sportvereine zwischen 1989 und 1991 vergleichen und Ihnen einige Zahlen nennen, die zeigen, daß wir auf diesem Gebiet noch nichts erreicht haben. In diesem Zeitraum gab es in Brandenburg 140 000 Austritte, in MecklenburgVorpommern 100 000, in Sachsen-Anhalt 200 000, in Thüringen 170 000 aus den Vereinen. Noch viel schlimmer ist die Meldung, daß beispielsweise in Leipzig von ehemals 36 000 Kindern, die in den Vereinen verankert waren, nur noch 9 500 übriggeblieben sind. Bei den Jugendlichen sieht es etwas besser aus. Von 11 000 sind immerhin noch 4 000 in den Vereinen tätig. Das sollte für uns das Signal sein, daß wir die Masse der jungen Menschen nicht erfassen. Deshalb haben wir einen neuen Plan aufgelegt und gesagt: Wir müssen dem Sport die Möglichkeit geben, diese Jugendlichen zu erfassen, damit sie einerseits dem Sport nachgehen und sich gesund erhalten können, also eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung haben, aber andererseits in den Vereinen auch kommunizieren und ihre Probleme beraten können, damit ein Entspannungsprozeß innerhalb der Jugend herbeigeführt wird. Dazu müssen wir die Voraussetzungen schaffen. In dieser Frage gehen wir mit der Koalition zusammen; denn hinsichtlich der Erkenntnisse, die die Koalition über die Sportstätten in den neuen Bundesländern gesammelt hat, sind wir uns, glaube ich, alle einig. Auch Herr Tillmann und Herr Hansen und andere sind zu den gleichen Erkenntnissen gekommen, daß einerseits die Sportstätten für die Vielzahl der Jugendlichen, die wir einbeziehen wollen, nicht ausreichen, daß sie andererseits in einem so desolaten Zustand sind, daß sie für den Sport nicht genutzt werden können. Deshalb haben wir gesagt: Wenn wir uns dieser Frage stellen und den Jugendlichen ein Signal setzen wollen, dann müssen wir uns alle - Kommune, Land und Bund - gemeinsam zu dieser Aufgabe bekennen. ({8}) Das bedeutet, daß wir Möglichkeiten schaffen müssen, die uns bisher durch die Verfassung verwehrt waren. Aber wenn es 1960 möglich war, den Bund in den Goldenen Plan, in dieses Boot der Finanzierung, hineinzunehmen, warum soll uns das heute in dieser angespannten Situation nicht möglich sein? ({9}) Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung, damit wir diese 100 Millionen DM als etwas Positives und im Verhältnis zu dem sehen, was möglicherweise durch Randale und Gewalt zerstört wird. Zum andern sollte insgesamt eine Verbilligung eintreten. Auch die Möglichkeit, in den Vereinen Ausländer zu integrieren, könnte dazu führen, daß die Jugendlichen ein anderes Verhältnis zu Ausländern haben, die bisherigen Spannungen abgebaut werden, sich ein Verständnis füreinander entwickelt und Schritte in eine positive Richtung möglich sind. ({10}) Die Jugendlichen im Boxring, auf den Matten, in Turnhallen und auf Sportplätzen sind uns lieber als randalierende Jugendliche vor Asylbewerberheimen oder Stadien. ({11})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Paul Krüger.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der real gescheiterte Sozialismus hat uns in fast allen Bereichen des Lebens Aufgaben hinterlassen, an deren Lösung wir noch lange arbeiten müssen; leider. Wenn wir die zum Teil maroden Sportanlagen in den neuen Bundesländern sehen, sollten wir uns deutlich machen: Es handelt sich nicht um Folgen der Wiedervereinigung Deutschlands, sondern um Relikte aus 40jähriger sozialistischer Mißwirtschaft. ({0}) Der Hochleistungssport war in der DDR eines der Hätschelkinder; das wissen Sie. Doch selbst für dieses Hätschelkind konnten im scheiternden Sozialismus seit Anfang der 80er Jahre praktisch keine Gelder für die Bauerhaltung bereitgestellt werden. ({1}) - „Fast", habe ich gesagt, „kaum". Die Folgen sind katastrophal. Unter den Menschen in den neuen Bundesländern wird behauptet - zumindest von einigen, die ich kenne -, in 40 Jahren Sozialismus sei mehr Bausubstanz verfallen, als im gesamten Zweiten Weltkrieg vernichtet wurde. Ob diese Behauptung wahr ist, vermag kaum jemand zu prüfen; wahr ist jedoch, daß allein im Bereich der Sportstättensanierung der neuen Bundesländer Aufgaben anstehen, die - da hat Herr Sorge zweifelsfrei recht - nicht kurzfristig lösbar sind. Dennoch, meine Damen und Herren von der SPD, das Szenario, das Sie aufbauen, ist nicht richtig. Lassen Sie mich verdeutlichen, in welchem Maße sich der Bund für den Leistungssport in den neuen Ländern engagiert hat, im Gegensatz zu dem Staat, den Sie hier preisen. ({2}) Es begann mit dem Haushalt 1990, als wir gerade in das neue System übergegangen sind und noch im dritten Nachtragsetat zusätzlich Mittel für den innerdeutschen Sportaustausch sowie für den Ausbau und Aufbau demokratischer Sportstrukturen bereitgestellt wurden. ({3}) In den Jahren 1991 und 1992 haben wir diese Maßnahmen verfestigt und insgesamt jeweils nahezu 100 Millionen DM für Sportstätten in den neuen Bundesländern ausgegeben. Damit konnten Olympiastützpunkte ausgebaut und Bundes- und Leistungszentren eingerichtet werden; über 550 haupt- und nebenamtliche Trainer wurden beschäftigt; die Stiftung Deutsche Sporthilfe wurde in die Lage versetzt, den Spitzensportlerinnen und Spitzensportlern aus den neuen Bundesländern Absicherungen zu geben; erstmals konnten im Gebiet der ehemaligen DDR Maßnahmen zum Aufbau eines kontinuierlichen Behindertensports in Angriff genommen werden; ({4}) und sofort wurde mit der Sanierung von Sportstätten für den Hochleistungssport und mit dem behindertengerechten Ausbau von Breitensportanlagen begonnen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Dr. Krüger, lassen Sie eine Zwischenfrage aus den Reihen der PDS/Linke Liste zu?

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein! ({0}) - Ich kann mir sehr gut vorstellen, meine Damen und Herren von der PDS, daß Ihnen das wehtut, was ich hier sage. ({1}) Auch durch dieses Bündel von Maßnahmen konnte vielen Sportlerinnen und Sportlern in den neuen Bundesländern wieder Vertrauen gegeben werden. So konnte die zunächst zu beobachtende Auswanderungswelle - das ist wahr - von Sportlerinnen und Sportlern sowie Trainerinnen und Trainern weitgehend gestoppt werden. Auch der Leistungsstandard konnte gesteigert oder wenigstens gehalten werden, was auch die Ergebnisse der letzten Weltmeisterschaften und Olympiaden deutlich bewiesen haben. ({2}) - Ich habe durchaus sehr guten Kontakt zu einem Sportklub und bin dort Mitglied. Als erfreulich ist im Bereich des Sports festzustellen, daß die Entwicklung günstiger ist, als Sie, meine Damen und Herren von der SPD und insbesondere von der PDS, sie uns heute darstellen wollten. Sie sollten z. B. den Zustandsbericht des Präsidenten des thüringischen Landessportbunds lesen. ({3}) Herr Professor Thies hat dort sehr deutlich gemacht - darauf will ich besonders hinweisen -, daß man es vor allem mit eigener Kraft angehen muß und daß man, wenn man das tut, die Chance bekommt, es zu schaffen. Vor allem in Thüringen sind recht gute Erfolge erreicht worden. ({4}) Auch dies hat sich mittlerweile herumgesprochen: Ein freiheitlicher Sport kann nicht von oben oktroyiert werden, sondern er muß sich von unten heraus auf einer breiten Basis entwickeln. Diese Grundvoraussetzung eines freien Sports ({5}) sollte niemand unterschätzen. ({6}) - Herr Sorge, Sie haben sich einen Freudschen Versprecher geleistet - ich sehe Ihnen das nach -, indem Sie gesagt haben: „Die Kinder wurden gesammelt. " Ich will den Wert, den der Sport auf die Kindererziehung haben kann, gar nicht unterschätzen. Doch ich will damit sagen, daß nicht alles nur positiv war. Mit dem Staat vor Augen, der alles regeln kann und alles regeln soll, werden wir die Probleme in den neuen Bundesländern keineswegs lösen. Bedenken Sie auch: Der Staat, auch die Bundesrepublik Deutschland, ist kein nimmermüder Wohlstandsautomat. Sport ist eine wichtige Aufgabe unserer Gesellschaftspolitik. Dazu stehen wir; dazu bekennen wir uns. Wir bekennen uns aber auch dazu, freie Kräfte sich entfalten zu lassen, ihnen zu helfen, sich zu entfalten, und sie zu unterstützen, damit sie die Aufgaben, die sie aus freiwilliger Verantwortung übernommen haben, sachgerecht auf der Basis von Föderalismus und Subsidiarität erfüllen können.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Dr. Krüger, darf ich fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sorge beantworten?

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eine Zwischenfrage von Herrn Sorge beantworte ich gerne, wenn Sie mir das nicht auf die Zeit anrechnen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das tue ich nicht. Bitte schön, Herr Sorge.

Wieland Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002193, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Dr. Krüger, da Sie sagen, daß die Bundesrepublik kein Wohlstandsstaat ist und daß sie nicht alles leisten kann, was notwendig wäre, frage ich Sie: Wie stehen Sie denn zu der Grundgesetzregelung, daß die Lebensverhältnisse in allen Teilen Deutschlands gleich sein sollen, wenn sie die Zahlen gegenüberstellen, wonach 6 bis 8 % der Menschen in den neuen Bundesländern Sport treiben - diese Zahlen stammen nicht von mir -, ({0}) in den alten Bundesländern aber 30 bis 40 %? Aus diesem Grund muß ich sagen, daß die Lebensverhältnisse nicht ausgewogen und gleich sind. Die anderen Zahlen, die ich hier benutzt habe, stammen von Herrn Grünbeck, nicht von mir.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Was fragen Sie?

Wieland Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002193, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich frage Sie, ob Sie bereit sind, dafür zu sorgen, daß die Lebensverhältnisse auf diesem Gebiet einander angenähert werden, wo ein Gefälle von 6 % zu 40 % besteht.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Sorge, eines können Sie mir glauben, und das wissen Sie auch, da wir zusammen in einem Ausschuß sitzen: daß ich genauso interessiert und bestrebt bin wie Sie, diese Defizite aufzuarbeiten. Aber es sind Defizite, die unter einem anderen System entstanden sind, Defizite, die wir nicht zu verantworten haben. Verstehen Sie? Mir war schon seinerzeit bekannt, daß es in den alten Bundesländern 14 Millionen Kegler gibt. Ich hätte früher auch gern gekegelt. Es war leider nicht möglich, weil wir in einer Stadt mit 100 000 Einwohnern ganze zwei Kegelanlagen hatten. ({0}) Wir sollten uns gemeinsam bemühen, das aufzuarbeiten. Aber wir können es - das habe ich soeben anzudeuten versucht - nur in einem Rahmen machen, der finanzierbar ist. ({1}) In den neuen Bundesländern gibt es trotz der genannten Defizite eine große Zahl von Sportanlagen. Der zum Teil katastrophale Zustand dieser Anlagen macht zunächst deren Sicherung dringend erforderlich. Da sind wir völlig d'accord mit unseren Kollegen von der SPD. Jede Sportanlage, die jetzt verlorengeht, wird in absehbarer Zeit nicht neu errichtet werden können. Deshalb setzen wir uns gemeinsam im Sportausschuß dafür ein, daß die Anlagen, z. B. der ehemaligen Gesellschaft für Sport und Technik, der NVA, der GUS-Einheiten, der Reichsbahn und anderer, den Kommunen kostenlos übertragen werden sollen. Auch hier sind wir völlig d'accord. Bei der derzeitigen Finanzsituation der Kommunen wird es nicht möglich sein, diesen 30prozentigen Abschlag auf den Zeitwert zu realisieren. ({2}) Eine kostenlose Übertragung dieser Anlagen halte ich ebenso wie meine Kollegen deshalb für unabdingbar. Als einen Schritt in die richtige Richtung betrachte ich in diesem Zusammenhang den angekündigten Verkauf des olympischen Ruderklubs in Rostock, den das Bundesfinanzministerium, wie ich höre, für eine symbolische Mark der Stadt Rostock verkaufen will. Die ungesicherten Eigentumsverhältnisse bei Betriebssportanlagen sind zu klären. Ich kann jede Kommune verstehen, die Investitionen scheut, die sie in nicht kommunales Eigentum tätigt. Sport ist ein Teil der kommunalen Kultur. Dies ist keine neue Erkenntnis. Sie steht bereits im Bericht des Deutschen Bundestags zum Baugesetzbuch. Angesichts dieser fundamental richtigen Aussagen hätten wir es alle sicher begrüßt, wenn der Kulturbegriff diese Ausdehnung spürbar erhalten hätte. Ich begrüße es außerordentlich, daß der Bund in den letzten beiden Jahren nahezu 2 Milliarden DM zur Erhaltung der kulturellen Substanz in den neuen Bundesländern aufgebracht hat. Ich bedauere jedoch, daß in dem einen Fall großzügig über die Verfassungskompetenz hinweggegangen wurde, im Bereich des Sportes jedoch nicht. ({3}) Hier bin ich sicher im Einklang mit meinen Kolleginnen und Kollegen der SPD, aber auch mit den Landes- und Kommunalpolitikern meiner Partei und mit vielen Kollegen meiner Fraktion. In diesem Zusammenhang ist es erstaunlich, daß die Kommunen die Mittel des Strukturfonds Aufschwung Ost in beträchtlichem Umfang genutzt haben, um notwendigste Sanierungsmaßnahmen an ihren Sportanlagen vorzunehmen. Nach meinen vorsichtigen Recherchen handelt es sich hierbei um Beträge in dreistelliger Millionenhöhe. Auch darauf wollte ich Sie hinweisen. ({4}) Es sind also mindestens 100 Millionen DM. Hier wurde die Summe, die Sie fordern, aufgebracht, um den Sportvereinen den notwendigen Rahmen zu ihrer Entfaltung zu geben. Auch aus diesem Grund setzen sich viele meiner Kollegen und ich für eine befristete Fortführung der kommunalen Investitionspauschale ein, auch um im Bereich des Sports wirksam zu werden. ({5}) Für ausgesprochen begrüßenswert halte ich auch den gestern auf Initiative der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. einstimmig im Sportausschuß unterstützten Entschließungsantrag, der auf die Erhaltung je einer Sportschule in jedem der neuen Bundesländer und der Sportschule Kienbaum zielt. In wenigen Wochen wird eine Erhebung der ostdeutschen Länder vorliegen, die deutlich macht, wie groß der Sanierungsbedarf an Sportanlagen in den neuen Ländern sein wird. Vorsichtige Schätzungen sprechen hier von einem Volumen in Höhe von mehreren Milliarden DM. Damit wird deutlich, daß diese Aufgabe nicht von heute auf morgen und auch nicht von einem staatlichen Partner allein zu bewältigen ist. Bei aller verständlichen Ungeduld sollten wir jedoch nicht vergessen, daß das Geld, das der Staat auch in diesem Bereich ausgibt, erst erwirtschaftet werden muß; zumindest sehen wir in der CDU/ CSU-Fraktion das so. Ich will, wenn es der Herr Präsident gestattet, ganz kurz auf die Ausführungen zur Jugendpolitik eingehen, Herr Sorge, weil mich das ein bißchen betroffen gemacht hat. Wir haben sicher in vielen Punkten Gemeinsamkeiten und sehen die ganze Entwicklung in den neuen Ländern mit Sorge. Trotz aller Umstellungsprobleme, die sich hier auswirken, kann ich - es tut mir leid - nicht die Ansicht teilen, daß alle Ursachen in der Entwicklung der letzten zwei Jahre liegen. Ich habe das sehr positiv verfolgt. Ich habe selber zwei Kinder. Obwohl ich den Einfluß der Schule als sehr gering einschätze - darin bestätigen mich viele wissenschaftliche Erhebungen -, muß ich sagen: Die Lehrer haben sich nicht wesentlich verändert. Meine Tochter - sie ist noch in der Schule; mein Großer nicht mehr - sagt mir: Ihr macht es viel mehr Spaß. Sie haben viel mehr Freiheit. Man geht im Unterricht viel lockerer miteinander um. Ich muß Ihnen sagen: Hooligans gab es schon vor sechs Jahren. Es gab damals auch schon Skinheads. Ich habe sie selber erlebt. Es gab Familienprobleme noch und nöcher. Wir hatten die höchsten Scheidungsquoten schon damals. Wir hatten auch schon damals den Alkoholismus. Das sind nicht die Probleme, die jetzt erst entstanden sind. ({6}) Ich teile die große Befürchtung, die unser Fraktionsvorsitzender vor einiger Zeit im Bundestag sehr deutlich ausgesprochen hat: Der Ruf nach zuviel Staat kann nur mit Totalitarismus beantwortet werden. ({7}) Totalitarismus heißt: ein Führer. Hier habe ich genau wie Sie Sorgen, große Sorgen. ({8}) Deshalb halte ich es nicht für gut, die Bevölkerung bewußt oder unbewußt zu verunsichern. ({9}) - Nein, nicht mit diesem Antrag. Aber ich denke an die Ausführungen, die teilweise heute in dieser Debatte gemacht wurden. ({10}) Frankl hat einmal gesagt: Zu keiner Zeit war es gut, Menschen Verzweiflung zu predigen und sie zur Verzweiflung zu führen. In den neuen Bundesländern brauchen wir mehr denn je Mut und Initiative. Es ist nie gut, Menschen mit Verzweiflung zu infizieren. Es ist immer besser, sie gegen Verzweiflung zu immunisieren. ({11}) Deshalb möchte ich Ihnen noch sagen: Wir sollten uns vor allem hüten, diejenigen, die für die katastrophale Hinterlassenschaft für 40 Jahre Sozialismus verantwortlich sind, mit denen zu verwechseln, die sich täglich verantwortlich bemühen, diese Folgen zu mildern und zu beseitigen. ({12})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Seifert für eine Kurzintervention das Wort.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da der Kollege Krüger offensichtlich vor Fragen Angst hat, die von einiger Sachkompetenz geprägt sein könnten, erlaube ich mir wenigstens den Hinweis, daß die CDU/CSU in der Bundesrepublik Deutschland „Neu" den Behindertensport nicht erfunden hat, daß es ihn schon zu DDR-Zeiten gab und daß er, obwohl er nicht zu den geförderten Sportarten gehörte, was wir damals immer kritisiert haben, von den Sportlerinnen und Sportlern seinerzeit mit erheblich weniger Schwierigkeiten ausgeübt wurde. Ich erlaube mir, Sie darauf hinzuweisen, einfach einmal einige Interviews von Sportlerinnen und Sportlern, Medaillengewinnern bei den Paralympics zu lesen. Sie werden sehr deutlich erfahren, daß sie auf die Trainingsmöglichkeiten zu DDR-Zeiten mit Stolz zurückblicken. Vielen Dank.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile dem Abgeordneten Wieland Sorge zu einer Kurzintervention das Wort, wobei das, damit wir uns geschäftsordnungsmäßig verhalten, nicht die Antwort auf Herrn Seifert ist. Bitte schön.

Wieland Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002193, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Krüger, wir sind einig, daß wir versuchen wollen, der Jugend Möglichkeiten zu geben, das nicht zu tun, was wir im Fernsehen erlebt haben. Ich habe jetzt zwei Jahre lang regelmäßig Gymnasien besucht. In der letzten Woche war ich in einer Diskussion mit 100 Jugendlichen auf dem Land, wo gegen Asylbewerberheime noch nichts passiert ist. Das hätten Sie erleben sollen. Ich wollte eineinhalb Stunden mit ihnen sprechen. Das erste Thema, das sie genannt haben, war das Asylproblem. Ich wünsche, Sie hätten gehört, wie uns in den ersten Minuten die Jugendlichen beschimpft und gesagt haben: Ihr Politiker seid für die Deutschen da und für niemanden sonst; begreift das endlich; sonst habt ihr in Bonn nichts verloren. Das war für mich so besorgniserregend, daß ich hier versucht habe, das ganze Problem darzustellen und um Verständnis zu bitten, damit wir das gemeinsam regeln. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile dem Abgeordneten Uwe Lühr das Wort.

Uwe Bernd Lühr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001392, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf den ersten Blick erscheint es recht merkwürdig, daß der Ältestenrat den Antrag „Sofortprogramm zur Förderung des Sports in den neuen Ländern" in einer Reihe eingeordnet hat mit den Anträgen „Gemeinschaftsinitiative Neue Länder" und „Mehr Arbeit durch mehr Umweltschutz in den neuen Bundesländern". Beim zweiten Blick, meine ich, erschließt sich die innere Logik. Es geht gar nicht in erster Linie um die Malaise des ostdeutschen Sports. Denn daß es dem ostdeutschen Sport nicht gerade gut geht, das weiß jeder, der mit offenen Augen und Ohren in den neuen Bundesländern unterwegs ist. Noch frisch im Gedächtnis sind auch die Schlagzeilen der letzten Wochen. Das Ende der ABM-Politik treffe den Sport im Osten ins Mark, hieß es. Ein dramatischer Appell „Rettet den Ostsport" und vom unaufhaltsamen freien Fall des Ostsports war da zu lesen. Der DSB will einen Goldenen Plan Ost; der DSB hält am DDR-System fest, hieß es da, womit 18 von früher 26 Kinder- und Jugendsportschulen gemeint waren, die der DSB nun in den neuen Bundesländern weiter betreiben will. „Die Planer der Erfolge von morgen müssen heute um Geld betteln", so machte „Die Welt am Sonntag" einen Bericht über das dem BMI unterstehende Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten, kurz FES, auf, das als High-Tech-Schmiede im Hinterhof die sogenannten Pink Panthers, die schnellen Boote, und die heißen Rennräder gebaut hat, die für unsere Erfolge in Barcelona mit sorgten. Natürlich muß auch dem Sport in Ostdeutschland geholfen werden. Wie dies vom Bund aus zu geschehen hat, ist im Einigungsvertrag geregelt. In Art. 39 ist festgelegt, daß mit der Vereinigung der Sport in den neuen Bundesländern nach den gleichen Strukturen aufgebaut und nach den gleichen Kriterien organisiert wird wie in der alten Bundesrepublik. Dort ist vereinbart, daß die Erhaltung zentraler Trainingseinrichtungen, die Finanzierung von Spitzenathleten und ihrer Trainer sowie die Sicherung des sozialen Umfelds der Kaderathleten zum Schwerpunkt der Förderung durch den Bund gehören. Dort ist des weiteren festgelegt, daß der Bund für eine Übergangszeit bis zum 31. Dezember dieses Jahres den in der DDR sehr vernachlässigten Breitensport der Behinderten fördert. Herr Dr. Seifert, sicher ist schon zu DDR-Zeiten Behindertensport, auch im Spitzensportbereich, sehr intensiv betrieben worden. Das kann ich Ihnen bestätigen; meine Frau arbeitet an einer Körperbehindertenschule. Aber der Breitensport wurde gerade in diesem Bereich arg vernachlässigt; von Sportgeräten bis hin zu den einzelnen Geräten, die ein Behinderter braucht, ganz zu schweigen. Es war schlichtweg ein Drama. ({0}) - Ja, natürlich. Durch eine Verdoppelung der Ansätze im Sporthaushalt 1991 gegenüber dem Vorjahr hat der Bund den Einstieg in die Zusammenführung des Sports von Ost und West nicht unwesentlich erleichert. Der Rückgang der Mitgliederzahlen und auch die Massenaustritte vor allem der Jugendlichen sind durch öffentliche Gelder - das müssen wir uns klarmachen - nicht aufzuhalten. Diese Phänomene sind auch im Westen mit seinen finanzstarken Sportverbänden seit langem zu beobachten. „Sport ist im Verein erst schön" scheint für 14- bis 25jährige in ganz Deutschland nicht mehr zu gelten. Im übrigen ist Breitensport nicht Sache des Bundes. Das ist natürlich auch Ihnen von der SPD bekannt. Deshalb ist Ihr Vorschlag weniger ein Sofortprogramm zur Förderung des Sports in den neuen Ländern als vielmehr ein Sofortprogramm, das Gewalt und Extremismus bekämpfen soll, ein Miniinvestitionsprogramm, das Arbeitsplätze sichern soll, und eine - so wörtlich - „Anschubfinanzierung für ein demokratisches Vereins- und Verbandswesen im Sport". „Eine lebendige Vereinskultur" - so ist einige Absätze weiter zu lesen -" stabilisiert die Gesellschaft in Notzeiten und Umbruchsituationen." Nun mag die gesellschaftsstabilisierende Wirkung einer lebendigen Vereinskultur an anderer Stelle untersucht werden. Hier bleibt, meine ich, festzuhalten, daß wir die Grundsätze der Autonomie des Sports und der Subsidiarität der Sportförderung nicht mit einem Vehikel unterlaufen wollen, das sich „Sofortprogramm des Bundes zur Förderung des Sports nennt", ({1}) aber in Wahrheit ein Sofortprogramm mit Ausgaben in der Zuständigkeit von Ländern und Kommunen ist. Außerdem kann durchaus bezweifelt werden, daß hauptberuflich besetzte Geschäftsstellen der Stadt- und Kreissportbünde Elementares zur Demokratisierung des Vereinslebens beitragen können. ({2}) Übrigens ist der Bund schon dort, wo er in eigener Zuständigkeit auf unterer und unterster Ebene gefragt war und noch gefragt ist, sehr großzügig, etwa bei der Übertragung von Sportstätten auf die Gemeinden. Auch meine Vorredner gingen darauf ein. ({3}) - Sie müssen mich nur zu Ende reden lassen und ein bißchen zuhören. Dann kommen wir meistens doch zusammen. Natürlich gibt es immer wieder Schwierigkeiten bei der Übertragung des Eigentums an den Sportstätten, weil man es mit sehr unterschiedlichen Rechtsträgern bei den Sporteinrichtungen zu tun hat. Es ist eben zu differenzieren, ob die Kommunen, die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, das Ministerium für Staatssicherheit, die Massenorganisationen, die Gesellschaft für Sport und Technik, die volkseigenen Betriebe oder der Deutsche Turn- und Sportbund Rechtsträger waren. Im Grundsatz - das sage ich hier sehr bewußt - sollten alle diese Sportstätten unentgeltlich an die Kommunen bzw. Länder und die freien Träger übereignet werden, und zwar zügig. ({4}) - Wissen Sie, ich bin Abgeordneter dieses Parlaments. Ich kann mir durchaus leisten, der Regierung einmal ein paar kritische Worte ins Stammbuch zu schreiben. ({5}) Die Förderung des Sports aus öffentlichen Haushalten darf immer nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. Zunächst ist das Engagement der sich selbst verwaltenden Organisationen des Sports gefragt, die ja teilweise über nicht unerhebliche Mittel verfügen, etwa durch den Verkauf von Fernsehübertragungsrechten. Wir müssen weiterhin darauf bestehen, daß die Sportorganisationen zunächst ihre eigenen Möglichkeiten zur Finanzierung ausschöpfen. In schwierigen Zeiten wie diesen wird natürlich nichts gegen ein verstärktes Engagement des Bundes einzuwenden sein; aber das finanzielle Engagement in freiwilligen Auf- und Ausgaben darf nicht progressiv sein. Zwar soll die Förderung nicht abrupt auf das Normalmaß zurückgeführt werden, und auch die lauf enden AB-Maßnahmen sollten weich auslaufen und unter Umständen verlängert werden, damit bei der Konsolidierung auf einem niedrigen Personalniveau soziale Härten möglichst vermieden werden und den Beschäftigten Zeit zur persönlichen Zukunftsplanung bleibt. Aber eine Intensivierung des Engagements des Bundes im Sinne des Antrags der SPD lehnt meine Fraktion aus den vorgetragenen Gründen ab. Danke. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Eduard Lintner. ({0})

Eduard Lintner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001351

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die vorliegenden Entschließungsanträge geben der Bundesregierung eine gute Gelegenheit, die öffentliche Aufmerksamkeit auf einige interessante Tatsachen zu lenken. Besonders interessant und wichtig ist die erste Tatsache in diesem Zusammenhang, nämlich daß die Bundesregierung seit Erlangung der deutschen Einheit gerade der Zusammenführung des Sports ganz besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat. Dabei hat sie sich nicht nur um den Spitzensport entsprechend der verfassungsrechtlichen Kompetenzlage gekümmert, sondern gleichzeitig Maßnahmen ergriffen, um im Breitensport in den neuen Ländern freiheitliche und föderale Strukturen zu schaffen. Die Bundesregierung geht davon aus, daß die Neubelebung des Vereinswesens, das vom DDR-Regime zerschlagen worden ist, nun das primäre Ziel sein muß und bereits einen guten Anfang genommen hat. ({0}) Lassen Sich mich von den ergriffenen Maßnahmen des Bundes für den Breitensport in den neuen Ländern nur einige nennen. Von 1990 bis 1992 hat der Bundesminister des Innern insgesamt 14 Millionen DM Strukturhilfemittel für den Aufbau demokratischer Vereins- und Verbandsstrukturen in den neuen Ländern geleistet. Diese Mittel haben sich erkennbar positiv ausgewirkt, Herr Sorge. Den Landessportbünden wurde eine Soforthilfe in Höhe von 2 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Die Leistungszentren des Spitzensports wurden von uns - anders als in den alten Ländern - praktisch zu 100 % gefördert. Sie stehen nun auch den Breitensportlern zur Verfügung. Außerdem wurden durch diese Vollfinanzierung des Bundes die Gemeinden entlastet. Sie konnten dadurch Mittel verstärkt für den Breitensport und die Vereine zur Verfügung stellen. Wir wissen natürlich auch, daß die Sportanlagen in den neuen Ländern überwiegend marode sind. Aber für welche öffentlichen Einrichtungen in Ostdeutschland gilt dies eigentlich nicht? Trotzdem haben Sie, Herr Sorge - das möchte ich Ihnen und Ihrer Partei entgegenhalten -, nicht den Bund aufgefordert, in all den Fällen, wo marode Infrastruktur vorhanden ist, seine Kompetenz, die er nach der Verfassung ja gar nicht hat, einzusetzen und dort mit Zuschüssen und Förderung finanziell tätig zu werden. Es besteht ein erheblicher Sanierungsbedarf, der möglichst bald erfüllt werden muß - auch darin sind wir uns einig -; denn erst das Vorhandensein von benutzbaren Sportstätten läßt ein gesundes Vereinsleben entstehen. Aber der Bund ist nach unserer Verfassung nicht allzuständig, und zwar, wie hier oft erörtert wurde, aus gutem Grund. Hier sind also die Kommunen und die Länder in erster Linie gefordert. Sie müssen dem Sport den ihm gebührenden Rang einräumen. Ich betone - das ist Meinung der Bundesregierung -, daß dem Sport eine hohe Priorität in unserem Gemeinschaftsleben zukommen muß. Die Bundesregierung ist aber der Auffassung, daß ein besonderes Hilfsprogramm für die Sportstättensanierung durch den Bund nicht beigesteuert werden muß. Abgesehen davon, daß die Verfassung dem Bund hier enge Grenzen setzt, sollten die notwendigen Maßnahmen im Rahmen der allgemeinen Hilfsund Investitionsprogramme für die neuen Bundesländer ergriffen werden, was im übrigen, Herr Kollege Sorge, der Lebensrealität wohl am ehesten entspricht. Denn dann kann eine praxisgerechte, lebensnahe Entscheidung im Rahmen dieser Prioritätenzuständigkeit unmittelbar vor Ort durch die Kommune bzw. das Land getroffen werden, die da in ihren Entscheidungen viel treffsicherer sind, als es etwa der Bund je sein kann.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lambinus? - Bitte sehr, Herr Kollege Lambinus.

Uwe Lambinus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001271, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, können Sie mir erklären, aus welchen Gründen der „Goldene Plan", der in den 60er und 70er Jahren in der alten Bundesrepublik sehr angebracht war, nun für die fünf neuen Bundesländer nicht aufgelegt werden soll? Wo ist denn der grundsätzliche Unterschied?

Eduard Lintner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001351

Herr Kollege Lambinus, der „Goldene Plan" hatte seinerzeit ganz andere Modalitäten vorgesehen, die hier gar nicht hilfreich wären; denn es waren, wenn Sie sich zurückerinnern, ganz erhebliche Eigenleistungen der betroffenen Kommunen oder Länder erforderlich, die hier gar nicht vorausgesetzt werden können, ({0}) auch angesichts der Tatsache, daß wir es hier natürlich mit einer viel größeren und im Grunde viel schwierigeren Situation zu tun haben, weil die Einrichtungen, vom Kindergarten, von der Kinderkrippe angefangen bis weiß Gott wohin, zu erneuern und zu sanieren sind. ({1}) - Das mag Ihre Logik sein, aber ich glaube, die Tatsachen sprechen in diesem Fall für die Position der Bundesregierung. ({2}) Der Bund, meine Damen und Herren, hat einerseits als besondere Finanzierungshilfe nach dem Auslaufen des Investitionsprogramms „Aufschwung Ost" zum 1. Januar 1992 den Fonds Deutsche Einheit um insgesamt 6 Milliarden DM aufgestockt, und von diesem Fonds stehen 40 % der Mittel unmittelbar den Gemeinden zu. So können die Gemeinden selbst die notwendigen Schwerpunkte auch im Bereich des Sports, etwa in der Form der Sanierung der Sportanlagen, setzen. Darüber hinaus plant die Bundesregierung, wie im Jahre 1991 bereits geschehen, ab 1993 erneut eine kommunale Investitionspauschale für zwei Jahre aufzulegen. Dies bedeutet zusätzliche Investitionsmittel, die ebenfalls, jedenfalls teilweise, von den Kommunen zur Sanierung der Sportanlagen verwendet werden können. Wenn Sie also genau sein wollen, dann gibt es das von Ihnen geforderte Programm längst, wenn auch jetzt verpackt in diesen pauschalen Investitionshilfen, die die Bundesregierung den Kommunen gewährt. ({3}) Meine Damen und Herren, innerhalb der kommunalen Investitionspauschale 1991 wurden von den Gemeinden in den neuen Ländern bereits insgesamt 750 Millionen DM für soziale Einrichtungen, Sport und Erholung verwendet, wie es ausdrücklich in der Zweckbestimmung heißt. Die Gemeinden dürfen bei den Entscheidungen über diese Investitionshilfen den Sport nicht ausklammern, wenn ab 1993 den Gemeinden erneut die kommunale Investitionspauschale gewährt wird. Und hier kann ich auch noch daran erinnern - das ist vorhin schon erwähnt worden -, daß der Bund teilweise auch kostenlos oder jedenfalls in stark verbilligter Form Sportstätten oder auch Sportgerät Vereinen und Kommunen überlassen hat - sicherlich auch ein Beitrag zur Förderung des Breitensports, wie Sie alle wissen. Ich muß sagen, meine Damen und Herren von der SPD, Sie wissen das alles genauso gut wie wir. Wenn Sie nun dennoch ein Sonderprogramm in der in der Entschließung enthaltenen Art fordern, dann wohl mehr, um es vorzeigen zu können, nicht aber als ernst gemeinte Kritik an der Sportpolitik der Bundesregierung.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Staatssekretär, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Schmidt? - Bitte sehr, Kollege Schmidt.

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, wie bewerten Sie denn dann die Initiative des Deutschen Sportbundes, der inzwischen selbst von einem solchen Programm spricht und die SPD in diesen Fragen sehr ermuntert?

Eduard Lintner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001351

Herr Schmidt, daß der Bedarf für Zuschüsse natürlich auch im Bereich des Sports uferlos ist, ist völlig klar, und der Deutsche Sportbund als ein Interessenvertreter auf diesem Feld muß diesen Zuschußbedarf natürlich irgendwie zum Ausdruck bringen. Aber auch der Sportbund hat nie erwartet, daß dies vom Bund, von der Bundesregierung je in dieser Höhe bedient werden könnte. ({0}) Meine Damen und Herren, die Sportpolitik der Bundesregierung ist jedenfalls auf einem guten, d. h. auf dem richtigen Weg, und das gilt auch für die Frage der Perspektiven des Sports im Jahre 1993 und später. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren! Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/2874 und 12/2815 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Meinungen? - Ich sehe das nicht. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Drucksache 12/1705. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD „Mehr Arbeit durch Umweltschutz" auf Drucksache 12/676 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Ausschusses? - Danke. Die Gegenprobe? - Enthaltungen? - Ich stelle fest, daß mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen der Antrag der SPD abgelehnt worden ist. Die Beschlußempfehlung ist angenommen. Wir sind damit am Ende dieses Tagesordnungspunktes, und ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis c sowie die Zusatzpunkte 3 und 4 auf: 13. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Viertes Gesetzes zur Änderung mietrechtlicher Vorschriften ({0}) - Drucksache 12/3254 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({1}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der Wartefristen für Eigenbedarfskündigungen in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet - Drucksache 12/2758 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({2}) Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Rudolf Schöfberger, Renate Schmidt ({3}), Achim Großmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wiederherstellung eines sozialen Mietrechts - Drucksache 12/3013 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({4}) Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste Verschiebung der 2. Mietsteigerung zum 1. Januar 1993 um ein Jahr - Drucksache 12/3284 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({5}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Christina Schenk, Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Maßnahmen zur Begrenzung des Mietpreisanstiegs, zur Erweiterung des Kündigungsschutzes und zur Erhaltung des Bestands an Mietwohnungen - Drucksache 12/3291 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({6}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Herr Parlamentarische Staatssekretär Rainer Funke.

Rainer Funke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000624

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst einige Worte zur Situation sagen. Wir haben zuwenig Wohnungen. Wir haben nicht genügend Wohnungen für die gestiegenen Wünsche vieler Wohlstandsbürger, nicht genug Wohnungen für die Haushaltsneugründer der geburtenstarken Jahrgänge und für immer mehr SingleHaushalte und nicht zuletzt für die drei Millionen Menschen, die in den letzten Jahren zugewandert sind. Die Regierungskoalition hat wohnungs- und finanzpolitisch die Weichen für den Bau neuer Wohnungen gestellt. Die jährlichen Fertigstellungen sind innerhalb von drei Jahren um mehr als 50 % gestiegen und werden auch weiter steigen. Auch vom Mietrecht ist ein Beitrag gefordert. Die vorliegende Novelle bringt ihn: Erstens. Der Ausbau und Umbau bestehender Gebäude zu neuem Wohnraum sowie die Bebauung von Nebenflächen müssen mietrechtlich erleichtert werden. Es geht nicht an, daß ein einzelner Mieter, der einen Lattenverschlag unter dem Dach mitgemietet hat, deswegen die Aufstockung des ganzen Hauses um ein halbes Dutzend Wohnungen blockieren kann. ({0}) Darin sind wir uns im übrigen mit dem Bundesrat einig. Zweitens. Der Werkswohnungsbau muß wiederbelebt werden. Wir wollen neue Investoren an den Mietwohnungsbau heranführen. Viele große und mittelständische Wirtschaftsunternehmen haben das Kapital - und das kann man aus der Bilanz ohne weiteres ersehen - und zum Teil auch die Grundstücke, um für ihre Mitarbeiter Wohnungen zu bauen. Sie werden das nur tun, wenn sie Wohnungen auf Dauer ihren Werksangehörigen anbieten können. Wer den Betrieb verläßt, soll nicht noch auf Monate oder gar Jahre einen Anspruch auf die bisherige Werkswohnung haben - und das auch noch zu einer Vorzugsmiete, denn die Wohnungen sind ja im Grunde genommen von der Firma subventioniert. Darum sollen Mietverträge über Werkswohnungen, wenn die Dauer des Verbleibs im Betrieb oder in der Wohnung von vornherein absehbar ist, definitiv befristet werden können. Bei unbefristeten Mietverträgen muß die Kündigung mit einer kürzeren Frist zulässig sein, wenn die Wohnung an einen anderen Mitarbeiter vergeben werden soll. Drittens. Durch Zulassung von Mietanpassungsklauseln in Wohnraummietverträgen wollen wir die Investitionsbedingungen im Mietwohnungsbau dauerhaft verbessern. Die Wohnungswirtschaft ist dringend auf ein einfacheres Verfahren zur Mietanpassung angewiesen. Die Koppelung der Miete mit den Lebenshaltungskosten schützt die Investoren weitgehend gegen Inflationsverluste. Auch für die Mieter ist dieses System einsichtiger als das jetzige Vergleichsmietenrecht. Ich kann das als früher tätiger Anwalt durchaus sagen: Dieses komplizierte Erhöhungsverlangen hat natürlich abgeschreckt. Viertens. Mit der gestiegenen Nachfrage nach Wohnungen sind in den letzten Jahren auch die Mieten - das ist überhaupt nicht zu bestreiten - stärker gestiegen. Wer dagegen angehen will, begibt sich allerdings auf eine Gratwanderung. Es gilt, den Mietanstieg zu dämpfen, ohne die Investoren zu verschrecken. Der Gesetzentwurf erreicht diese Gratwanderung mit einer zeitlich befristeten Senkung der Kappungsgrenze von 30 auf 20 %. Das soll eine Übergangsmaßnahme sein, keine mietenpolitische Weichenstellung. Hat sich der Wohnungsmarkt in einigen Jahren wieder der Normalität angenähert - wovon wir ausgehen -, sind wir auf ein solches Ausnahmerecht nicht mehr angewiesen. ({1}) - Genau das wird hier angestrebt. Wohnungsbau kann man nur betreiben, indem man entsprechende Investoren hat, die das Geld zur Verfügung stellen, und nicht durch sozialistische Planwirtschaft. ({2}) - Herr Kansy, ich will Sie nicht unterbrechen; deshalb höre ich selber kurz auf zu sprechen. ({3}) - Doch, Herrn Kansy kann man in den Griff bekommen, wenn man einfach selber aufhört. Dann wird auch er aufhören und dem Redner wieder das Wort geben. ({4}) - Ob Herr Kansy immer recht hat, das will ich hier einmal nicht weiter untersuchen. Schließlich befinden wir uns in einer Koalition, und wir haben dieses Ergebnis gemeinsam verhandelt, Herr Dr. Kansy. Darf ich trotzdem wieder zu meinem Redeentwurf zurückkommen? ({5}) - Vielen Dank, Herr Dr. Kansy. Fünftens. Die 20 %-Wesentlichkeitsgrenze für die zulässige Miethöhe soll nunmehr im Wirtschaftsstrafgesetz festgeschrieben werden. Die Ausnahmen von dieser Regelung sollen eingeschränkt und die zulässige Geldbuße verdoppelt werden. Auch darin sind wir mit dem Bundesrat einig. Sechstens. Die Bundesregierung nimmt es auch nicht tatenlos hin, daß einzelne Wohnungsvermittler die gegenwärtige Wohnungssituation in schäbiger Weise ausnutzen und überhöhte Vermittlungsentgelte kassieren. Dem schiebt der Gesetzentwurf einen Riegel vor. Wir haben die Vermittlungsgebühr auf zwei Monatsmieten begrenzt. Dies erscheint auch im Hinblick auf eine notwendige Kostendeckung bei den Maklern angemessen. Siebtens. Für die Mieter und Vermieter im Osten Deutschlands bringt die Vierte Mietrechtsnovelle eine Verlängerung der Wartefrist für Eigenbedarfskündigungen bis einschließlich 1995. Die bisherige Härteklausel kann allerdings so, wie sie bisher war, nicht bleiben. Nutznießer der SED-Herrschaft sollen sich künftig nicht mehr auf den besonderen Kündigungsschutz berufen dürfen. Auch sonst wissen wir von Fällen, in denen Mieter ohne triftige Gründe an ihrer Wohnung festhalten und auch Angebote angemessener Ersatzwohnungen ablehnen. So soll es künftig, drei Jahre nach dem Ende der SED-Herrschaft, nicht weitergehen. Achtens. Lassen Sie mich abschließend nochmals auf ein eher westliches Mieterschutzproblem eingehen: die Umwandlungsproblematik. Mit dem Bundesrat sind wir uns darin einig, daß Umgehungen des Mieterschutzes bei Wohnungsumwandlungen künftig ausgeschlossen werden sollen. Auch ein Vorkaufsrecht der Mieter wird in der Gegenäußerung der Bundesregierung nicht definitiv abgelehnt. Eine nochmalige Verlängerung der Kündigungssperrfrist von fünf auf sieben Jahre wäre meines Erachtens aber ein Schuß in den Nebel. Nachdem wir erst vor zwei Jahren die Sperrfrist von drei auf fünf Jahre verlängert haben, sollten wir zunächst einmal abwarten, wie sich diese Regelung tatsächlich bewährt. Meine Damen und Herren, es handelt sich hier um ein sehr wichtiges Gesetz. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir dieses Gesetz zügig in den Ausschüssen beraten könnten. Die Bundesregierung sagt hierzu ihre Hilfe zu. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Dr. Rudolf Schöfberger.

Dr. Rudolf Schöfberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema bewegt mich sehr, weil ich aus einer Großstadt, aus München, komme, in der die Mietprobleme eine sehr, sehr bedeutende Rolle spielen, weil ich als Anwalt häufig mit bedrängten Menschen zu tun habe, denen ich wegen des Mangels an sozialem Mietrecht beim besten Willen nicht helfen kann und weil ich glaube, daß das Mietrecht auf dem Gebiet der Sozialpolitik und des sozialen Friedens eine ganz große und bedeutende Rolle spielt. Am 10. Dezember 1982 hat die neue Koalition aus CDU/CSU und aus F.D.P. das von der SPD und der F.D.P. 1972 und 1976 geschaffene soziale Mietrecht ausgehöhlt und deformiert. Ihr damaliges Gesetz hieß schönfärberisch „Gesetz zur Erhöhung des Angebots an Mietwohnungen" und war im Titel so falsch wie in seiner Wirkung fatal. ({0}) Tatsache ist: 1981 wurden noch 365 000 Wohnungen fertiggestellt. Wenn das Mietrecht, wie von Ihnen behauptet, der Hauptinvestitionshinderungsgrund gewesen wäre, hätte der Neubau von Wohnungen sprunghaft ansteigen müssen. Aber 1988 wurden nur noch 208 000 Wohnungen hergestellt. ({1}) Jetzt fehlen in Deutschland 2,7 Millionen Wohnungen. Bildlich gesprochen: Sie haben 1982 den Frierenden zunächst die wärmende Decke des sozialen Mietrechts weggerissen, mit den plausibel klingenden Trostworten: Warme Räume seien allemal besser als warme Decken. Aber dann haben Sie bei der Herstellung warmer Räume grenzenlos versagt. ({2}) Das empirisch gefestigte Urteil lautet: Zuerst hat Ihre Politik das soziale Mietrecht ruiniert und dann den Wohnungsbau selbst. ({3}) Jetzt wäre es Zeit zur Besinnung und Umkehr. Ich gebe Ihnen ja recht: Vollzogener Wohnungsbau ist der beste Mieterschutz, aber eben nur vollzogener Wohnungsbau und nicht versprochener. ({4}) Solange wir drückende Wohnungsnot haben, können wir auf ein taugliches soziales Mietrecht nicht verzichten. ({5}) Wir Sozialdemokraten verlangen nicht soziales Mietrecht statt Wohnungsbau, wir verlangen soziales Mietrecht u n d energischen Wohnungsbau. ({6}) Wir weigern uns, daß soziales Mietrecht ständig gegen Wohnungsbau ausgespielt wird.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Schöfberger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Hitschler?

Dr. Rudolf Schöfberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr gern.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte, Kollege Hitschler.

Dr. Walter Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schöfberger, ist Ihnen noch gewärtig, daß Ihr Oberbürgermeister Kronawitter von München im letzten Kommunalwahlkampf auf Großplakaten versprochen hat: Wir bauen 100 000 Wohnungen in München! Wie viele von diesen 100 000 Wohnungen wurden denn in München in der Zwischenzeit gebaut?

Dr. Rudolf Schöfberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Darf ich Ihnen mitteilen, daß die Stadt München unter allen deutschen Großstädten in den letzten drei Jahren den stärksten Wohnungsbau gehabt hat? Und wenn das nicht noch mehr ist, dann liegt das an den Bodenpreisen, dann liegt das auch an der Bodenvorratspolitik des Bundes und des Freistaates! ({0}) Bei Wohnungsüberangebot, meine Damen und Herren, oder schon bei ausreichender Wohnungsversorgung bräuchten wir ein soziales Mietrecht nur für relativ wenige Härtefälle. Aber wenn 2,7 Millionen Wohnungen fehlen, kommt es um so mehr auf ein soziales Mietrecht an. Und diese Wohnungen fehlen unter anderem, weil Wohnungsbauminister Schneider nicht gemerkt hat, daß die Bundesregierung auch 3 Millionen Aussiedler ins Land gebeten hat, weil er trotz seiner sonstigen Weitsichtigkeit das Heranwachsen geburtenstarker Jahrgänge, ansteigende Scheidungsraten, verlängerte Lebenserwartungen nicht bemerkt hat. Das waren alles verborgene Geheimnisse für ihn, obwohl ein Blick ins Statistische Jahrbuch ihn aufgeklärt hätte. Je mehr Wohnungen fehlen, je drückender die Wohnungsnot ist, je höher die Mieten deshalb klettern, je mehr Menschen auf die Straße fliegen und ins Obdachlosenheim wandern, desto eindringlicher gebietet der soziale Frieden ein ausgeprägtes soziales Mietrecht. Die Möglichkeit - ich gehe jetzt nur auf zwei Punkte ein -, im Abstand von je drei Jahren Mieten um 30 % erhöhen zu dürfen, hat sich nicht als Kappungsgrenze, sondern als Lokomotive erwiesen. ({1}) Diese Möglichkeit, meine Herren, ist der erste und einzigartige gesetzlich verankerte Mietwucher in der deutschen Rechtsgeschichte. ({2}) Das hat es noch nie gegeben! ({3}) - Nein, keine Zwischenfragen mehr. In der zweiten Lesung des Gesetzes am 10. Dezember 1982 sagte ich wörtlich: Sie machen mit diesem Gesetz die Schleusen für die größte und höchste Mietpreiswelle auf, die seit dem Zweiten Weltkrieg durch das Land gehen wird. Dr. Möller ({4}) rief damals dazwischen: „Ist das das Niveau eines Münchner Anwalts?" Ich wollte, ich hätte 1982 unrecht gehabt, aber meine Prognose - sie bedurfte keiner großen Weitsicht - war leider wahr. Die drückende Wohnungsnot treibt die Mieten in schwindelnde Höhen. ({5}) Während in den drei Jahren 1989, 1990 und 1991 die allgemeinen Preise um 9 % stiegen, kletterten die Mieten bei Wiedervermietung Neubau um 31 %, bei Erstvermietung um 36 %; bei Wiedervermietung Altbau um 41 %, und das alles in drei Jahren! Also, wenn das sozial gerecht ist, dann verstehe ich Ihren Gerechtigkeitssinn nicht. In Ballungsräumen, z. B. in München, sind Quadratmeter-Mieten von 25 bis 30 DM an der Tagesordnung. Münchener Mieter müssen durchschnittlich bereits ein Drittel ihres Nettofamilieneinkommens für Miete ausgeben. Alleinstehende Durchschnittsverdiener, junge Familien, Rentner und viele andere Millionen von Mietern in Deutschland blättern bereits mehr als die Hälfte ihres verfügbaren Nettofamilieneinkommens für Miete hin. ({6}) - Na, das können Sie in der „Süddeutschen Zeitung" und im Statistischen Jahrbuch nachlesen. Wer von den Klein- und Mittelverdienern, ich denke an Verkäuferinnen, Krankenschwestern, Polizisten, Postler, Straßen- und Eisenbahner, kann sich in Ballungszentren - und da sind die ja nicht ganz freiwillig, die müssen ja schließlich dort auch arbeiten - noch eine halbwegs erschwingliche Wohnung leisten? Wenn Sie natürlich in Ihren Villen sitzen, haben Sie dafür kein gottgeschenktes Verständnis. ({7}) Machen Sie eigentlich Mietersprechstunden, Herr Kansy! Oder dinieren Sie lieber mit Baulöwen und Wohnungsspekulanten? Ich mache diese Mietersprechstunden. Haben Sie eigentlich schon alte Menschen verzweifelt weinen sehen, wenn ihnen die Miete 1983, 1986, 1989 und 1992 gnadenlos um jeweils 30 % erhöht worden ist, von ursprünglich 350 DM auf jetzt 1 000 DM? Wie soll denn das bei 800 oder 1 000 DM Rente aufgehen? Wie soll das denn aufgehen, wenn ein Polizist oder Postler 1 500 DM netto mit nach Hause trägt? Sie haben mit Ihrer Mieten- und Wohnungsbaupolitik seit der Aushöhlung des sozialen Mietrechts im Dezember 1982 Millionen Mieter erbarmungslos in Kummer und Sorgen, in Nöte und Ängste gestürzt, und häufig werden daraus Existenzängste. ({8}) - Ich weiß nur nicht, auf welchem Raumschiff Sie leben. Werden Sie denn von Mietern nicht angesprochen, die in große Bedrängnis kommen? Sie haben seit dem 10. Dezember 1982 über viele Millionen von Menschen Leid gebracht. ({9}) Christlich war das nicht, sozial war das auch nicht, aber freiheitlich war das. Es kommt allerdings darauf an, wessen Freiheiten Sie in diesem Hause vertreten. Die bloße Herabsetzung auf 20 % nur für Wohnungen bis Baujahr 1980 mit mehr als 8 DM Miete pro qm und noch dazu befristet auf fünf Jahre im Regierungsentwurf betrifft nur einen Bruchteil aller Wohnungen und wird den Mietanstieg kaum dämpfen. Es ist am Ende ein hohles Windei, mit dem sich auch die CSU nicht abspeisen läßt, Der bayerische Innenminister Stoiber ({10}) - und ich zitiere ihn nur selten ({11}) nennt den Gesetzentwurf der Bundesregierung - wörtlich - „sträflich halbherzig". Stoiber wörtlich: „Der Entwurf, der reichlich spät kommt, verdient nur die Note ungenügend. " „Die F.D.P.", so wörtlich Stoiber, „sollte endlich ihrer sozialen Verantwortung gegenüber den Bürgern gerecht werden und von ihrer Klientelpolitik abrücken". Wir Sozialdemokraten fordern die unbefristete Herabsetzung auf 15 % und laden vor allem die CSU herzlich zum Mitmachen ein, getreu ihren eigenen Verheißungen in München. Und sie muß aus Wahrhaftigkeit und Selbstachtung mitmachen, es sei denn, die Koalitionstreue ist der CSU wichtiger als das Schicksal von Millionen Mietern, Das zweite, das ich ansprechen möchte - ein besonders dramatisches Kapitel -, ist die massenhafte Umwandlung von preiswerten Altbaumietwohnungen in luxussanierte Eigentumswohnungen. Allein in München sind in den letzten zehn Jahren 40 000 Mietwohnungen umgewandelt und damit der sozialen Wohnungsversorgung entzogen worden. Rund 100 000 Mieter hatten darunter mehr oder weniger, meistens mehr, zu leiden. Monatelang zu erduldende Übersanierung, Umlage der Sanierungskosten, 30 %ige Mietsprünge, rechtswidrige Eigenbedarfskündigungswellen schließlich die Vertreibung rechtschaffener kleiner Leute aus ihren angestammten Stadtvierteln waren die Folgen. 2 000 ehemalige Arbeiter und Angestelltenwohnungen in der Kolbsiedlung bei uns in München gehören jetzt den Herren Zahnärzten aus CastropRauxel und aus Wien, die dann für die studierende Tochter in München die Eigenbedarfskündigung geltend machen. ({12}) Hier werden Kapitalien - jetzt appelliere ich an Sie als Marktwirtschaftler -, hohe Kapitalien in der Wohnungswirtschaft steuerbegünstigt gebunden, ohne daß auch nur eine einzige Wohnung mehr entstehen würde. ({13}) Ist das denn marktwirtschaftlich oder auch nur wohnungspolitisch gedacht? Dann unterbinden Sie doch diese Umwandlungskatastrophen oder erschweren Sie sie wenigstens in den Gebieten des gesteigerten Wohnungsbedarfs. Und da weist die Frau Bundesminister der Justiz auf die fünfjährige Schutzfrist hin. So wird halt die 70jährige Rentnerin erst mit 75 aus der Wohnung expediert, wenn sie inzwischen nicht verzweifelt ist. Ist das ein tolles Mietrecht! Den beiden für Mieten- und Wohnungspolitik zuständigen F.D.P.-Bundesministerinnen fehlt offenbar jedes Verständnis für die Umwandlungsprobleme. Nach dem negativen Karlsruher Beschluß, wir haben in München bereits wieder 5 000 neue Anträge auf Umwandlung, antworten sie teils zynisch abweisend, teils mit trostreichen Worten. Letzte Frage: Wer schon das Hotel- und Gaststättengewerbe vor der Umwandlung von Mietwohnungen in Ferienwohnungen gesetzlich geschützt hat - § 22 Baugesetzbuch -, muß die Perversität erklären, warum er da nicht bereit ist, Millionen umwandlungsbedrohter Mieter gegen Spekulation zu schützen. ({14}) Mit beiden Ministerinnen hat die Bundesregierung zwei Böcke - den weiblichen Ausdruck darf ich nicht sagen - zu Gärtnerinnen im Mietrechtsgarten der Republik gemacht.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Sie müssen zum Schluß kommen, bitte!

Dr. Rudolf Schöfberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren von der CSU, sofern anwesend, der Gesetzentwurf der SPD will diese Umwandlungsspekulation unterbinden und wenigstens erschweren. Die durchaus volksverbundene CSU ist in Bayern, vor allem in München, lautstark dafür eingetreten, erklärt sich gar zum Schutzpatron der bedrängten Menschen - Hic Rhodos, hic salta! Ich fordere die CSU herzlich auf, hier im Bundestag das zu tun, was sie den Menschen in Bayern längst, vielfach und nachhaltig versprochen hat. Die CSU bitte ich im Interesse der Mieter und Mieterinnen herzlich: Lassen Sie sich als große Volkspartei nicht mehr länger einspannen! Die F.D.P. darf nicht mehr länger unter dem Motto „Friede den Palästen, Krieg den Hütten" die Mietrechtspolitik bestimmen. Denn in München das große Sagen

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Schöfberger, das sind nun schon zweieinhalb Minuten!

Dr. Rudolf Schöfberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- und in Bonn das große Versagen wird von den Mietern nicht mehr akzeptiert! ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren! Jetzt hat das Wort unser Kollege Dr. Wolfgang von Stetten.

Dr. Wolfgang Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieses Gesetz zur Regelung der Miethöhe ist nun die vierte Änderung des Gesetzes vom 18. Dezember 1974. Ebenso werden Teile des BGB und des Wirtschaftsstrafgesetzes geändert. Es wird niemand in der Bundesrepublik bestreiten, daß es eine Wohnraumnot gibt. Dennoch muß man das sehr viel differenzierter sehen, als das allgemein getan wird. Es handelt sich auch um zuwenig Wohnraum, aber insbesondere um ein Verteilungsproblem. Fast 40 Quadratmeter Wohnfläche kommen auf jede Person in der Bundesrepublik - das ist so viel wie noch nie in den letzten Jahrzehnten. Die Verteilung aber ist einseitig, weil Zehntausende von Wohnungen meist älterer Bauart von Einzelpersonen oder Ehepaaren bewohnt werden, die sie nicht ausnutzen können, aber aus Kostengründen, weil eine kleinere Neubauwohnung wesentlich teurer ist als eine große Altbauwohnung, den für sie zu großen, aber eben vorhandenen Wohnraum für Familien mit Kindern blockieren. Ein noch größeres Ärgernis ist es, daß in der Bundesrepublik Deutschland rund 700 000 Wohnungen leerstehen bzw. als Einlieger- oder Dachgeschoßwohnungen zu Hobbyzwecken benutzt werden, weil ein zwar sozial gemeinter - meine Damen und Herren von der SPD, hören Sie zu -, aber sich als unsozial auswirkender Kündigungsschutz der 70er Jahre die Eigentümer schlichtweg vom Vermieten abhält. Bevor wir wieder zur Wohnraumzwangsbewirtschaftung zurückkehren, wie einige Initiativanträge es anstrebten, sollten wir alle unsere Anstrengungen darauf richten, einen Weg zu finden, daß die unterbelegten Wohnungen gegen kleinere Wohnungen getauscht werden und die leerstehenden Wohnungen bzw. zweckentfremdeten Wohnungen wieder vermietet werden. Bei vielen unterbelegten Wohnungen ginge dies sicher durch Übernahme von Differenzmietkosten oder Umzugskostenbeihilfe, bei nicht vermietetem Wohnraum durch befristete Aussetzung des Kündigungsschutzgesetzes sowie punktuelle Aussetzung des Räumungsschutzes. Ich verkenne nicht die Schwierigkeiten einer solchen Gesetzgebung, die außergewöhnlichen Umstände der Wohnungssituation aber rechtfertigen außergewöhnliche Maßnahmen. Solche Maßnahmen sind auch für potentielle Mieter zumutbar, weil sie bei Einzug in eine solche Wohnung von dem verringerten Kündigungsschutz wissen und es oft durch ihr Verhalten selbst in der Hand haben, ob der Vermieter kündigt oder nicht.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege von Stetten, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Seifert?

Dr. Wolfgang Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte sehr, Kollege Dr. Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege von Stetten, da Sie so für Mietwohnungstausch plädieren: Wie können Sie sich dann erklären, daß z. B. in Berlin-Ost Wohnungstausch praktisch unmöglich ist, weil die Ämter keine Genehmigung erteilen?

Dr. Wolfgang Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn es tatsächlich so ist, daß keine Genehmigungen erteilt werden oder gesetzliche Bestimmungen entgegenstehen, dann liegt es zum einen an der Stadt Berlin und an den Bezirksämtern, hier etwas zu machen, zum anderen müssen wir die erwähnten Möglichkeiten schaffen und notfalls auch Zuschuß gewähren. Das ist eine Sache, die ich hier eben angeregt habe. Ich bitte die Bundesregierung dringend - das wollte ich eben sagen -, diese Möglichkeiten zu prüfen und, wenn möglich, noch in das Vierte Mietrechtsänderungsgesetz einzubauen. Wenn durch Umbesetzung fehlbelegten Wohnraums und durch Wiedervermietung freien oder fehlgenutzten Wohnraums mit einem Schlag mehrere Hunderttausende Wohnungen zur Verfügung stünden, wäre das eine spürbare Entlastung, die einer Wohnungsbaukapazität von ein oder zwei Jahren entspricht. Allein diese Dimension rechtfertigt es, sich sehr intensiv mit diesem Gedanken auseinanderzusetzen und zu versuchen, dies trotz aller rechtlichen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu verwirklichen. Unabhängig davon, weil meist befristet, sind die von der Bundesregierung vorgeschlagenen Maßregeln im wesentlichen zu begrüßen, wobei die zum Teil erheblich weitergehenden Vorschläge des Bundesrates zu große Einengungen darstellen. Gerade wegen in Ballungsgebieten drastisch gestiegener Mieten ist es vertretbar, die Kappungsgrenze von 30 % auf 20 % für Mieten über 8 DM zu senken und die Erhöhungsmöglichkeit von 30 % auf einen Höchstbetrag der zu verlangenden Miete von 9,60 DM festzulegen. Die Wünsche des Bundesrates und der SPD, die Kappungsgrenze auf 15 % zu senken, ist für Wohnungseigentümer nicht zumutbar, da dadurch nicht einmal die üblichen Kostensteigerungen in drei Jahren gedeckt werden. Die Ausdehnung dieser zeitlich befristeten verminderten Mieterhöhungsmöglichkeit auf Neubauwohnungen würde das Interesse am Wohnungsneubau schlagartig vermindern und so das Gegenteil von dem erreichen, was gewünscht wird. Die in diesem Zusammenhang zu nennende Änderung des Wirtschaftsstrafgesetzes ist schon in sich problematisch, weil bei starren Grenzen das Überschreiten ortsüblicher Mieten von 20 % schon als unangemessen hoch gilt und eine Ordnungswidrigkeit bis immerhin 100 000 DM nach sich zieht. Wenn bisher die Gerichte bei „nicht unwesentlich" ihre Entscheidungsprobleme hatten, werden sie nunmehr Probleme bei der Vergleichbarkeit von Art, Größe, Ausstattung, Beschaffenheit und Lage haben. Die Beschränkung der Wohnungsvermittler auf das Doppelte der Wohnungsmiete für die Vermittlung oder den Nachweis einer Wohnung ist ausgewogen und sowohl den potentiellen Mietern als auch den Maklern wirtschaftlich zumutbar. Sie wird die Tätigkeit von Wohnungshaien einschränken. Die Beschränkung auf eine Monatsmiete dürfte zu gering sein. Um den Wohnungsbau anzukurbeln, ist die Änderung des § 541 b Abs. 1 BGB, nach der der Mieter zur Duldung von Umbauten verpflichtet ist, wenn dadurch neuer Wohnraum geschaffen wird, richtig. Folgerichtig wird auch § 564 b BGB geändert, in dem als berechtigtes Interesse des Vermieters zur Kündigung auch gilt, wenn der Vermieter nicht zum Wohnen bestimmte Nebenräume oder Teile eines Grundstücks zur Wohnraumbeschaffung kündigen will. Auch die Änderung des § 564 c BGB ist gerechtfertigt, um den Werkswohnungsbau anzukurbeln. Die Hinzunahme der Kündigungsmöglichkeiten bei Bedarf für Dienstverpflichtete ist sachgerecht. Folgerichtig ist auch die Änderung des § 565 c. Für die Zukunft kann nicht nur bei „dringendem Bedarf", sondern auch bei „einfachem Betriebsbedarf" gekündigt werden, wenn die Wohnung an einen Mitarbeiter weitergegeben wird. ({0}) - Nein, das ist keine Verschlechterung. Es führt dazu, daß derjenige, der Werkswohnungen baut, über diese für seine aktiven Arbeiter, nicht für diejenigen, die entlassen oder pensioniert sind, verfügen kann. ({1}) - Doch! Auf berechtigte Interessen im Sinne des § 564 b kann sich der Vermieter in den neuen Ländern richtigerweise erst nach dem 31. Dezember 1995 berufen. Eine dreijährige Verlängerung in bezug auf die neuen Länder ist sachgerecht - mit Ausnahme der SED-Bonzen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit der Vorlage dieses Gesetzes haben wir natürlich noch nicht alle Probleme im Osten wie im Westen gelöst. Den Besonderheiten der Mietwohnungen in den neuen Ländern muß Rechnung getragen werden. Zu berücksichtigen sind dabei der berechtigte Anspruch der Mieter auf sozial verträgliche Miete, aber auch die zwingende Notwendigkeit für den Eigentümer, eine annähernd kostendeckende Miete zu erhalten, um die dringend notwendigen Reparaturen und Investitionen vornehmen zu können. Wer öfters drüben ist und wer dort wohnt, sieht, woran es fehlt. In den neuen Ländern, aber auch in ganz Berlin, ist der Mittelstand von explosionsartig gestiegenen Mieten im Bereich des Gewerbes bedroht. Bei aller Gegnerschaft zum Dirigismus muß etwas unternommen werden, damit nicht die wenigen kleinen Gewerbetreibenden, die 40 Jahre lang den Kommunismus überlebt haben, die Marktwirtschaft nicht überleben. Auch hier werden wir uns etwas einfallen lassen müssen. Ich gehe davon aus, daß eine Initiative der neuen Länder in den nächsten Wochen kommen wird. Ich bin gerne bereit, dort aktiv mitzuarbeiten. In Berlin habe ich mit Gewerbetreibenden gesprochen; ich glaube, daß man das eine oder andere durchaus machen kann. ({2}) Wir müssen uns nach dem Urteil des gemeinsamen Senats in bezug auf die Umwandlung von Altbauwohnungen in Wohnungseigentum überlegen, wie wir die Umwandlungsmöglichkeit nicht verbauen, aber auch langjährige Mieter schützen. Hier schwebt mir ein Modell vor, das Mieter über einen längeren Zeitraum, vielleicht zehn Jahre, als Käufer der zu Wohnungseigentum umgewandelten Wohnungen bevorrechtigt, wobei es sich um ein Vorkaufsrecht, Ankaufsrecht oder etwas ähnliches handeln kann. Erst dann können die Wohnungen auf dem freien Markt verkauft werden. Wir verhindern dadurch nicht nur Renovierungen, sondern fördern auch den dringend notwendigen Eigentumserwerb und schützen den Mieter nachhaltig. Ich bitte Sie deswegen, dem vorliegenden Gesetzentwurf in den zuständigen Gremien zuzustimmen und bei den noch notwendigen Ergänzungen mitzuarbeiten. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erteile jetzt unserer Kollegin Frau Christina Schenk das Wort.

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der halbherzige Gesetzentwurf, den die Bundesregierung heute hier einbringt, hätte ohne jede Einschränkung den zweifelhaften Titel „Gesetzentwurf zum Schutz der Vermieter vor notwendigen Veränderungen im Zeichen der Zeit" verdient. Wir, die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sind nicht bereit, diesen Antrag, der sich ja auf Grund der Rechtslage nur auf Westdeutschland bezieht, isoliert zu diskutieren, und bringen daher einen Antrag ein, der die klare Intention hat, Mieterinnen und Mieter wirksam zu schützen, und folglich auch wesentlich weitergeht als das Miethöhengesetz der Bundesregierung. Ich will hier also nicht vorrangig über die Mieten im Westen reden, sondern über die im Osten bevorstehenden Mieten, die durch den Einigungsvertrag der Kontrolle durch den Bundestag, die dieser in anderen Bereichen hat, entzogen worden sind und einfach per Dekret - ich denke, das muß man an dieser Stelle einmal so deutlich sagen - von der Bundesregierung, natürlich bei Zustimmung der Länderregierungen, erlassen werden. Für die Bundesregierung ist das sehr bequem. Bequem ist das wahrscheinlich auch für die Fraktionen im Bundestag, die nach jeder Mieterhöhung im Osten ihre Hände in Unschuld waschen können. Was das mit Demokratie zu tun haben soll, das mag verstehen wer will - mich erinnert dieses Verfahren eher an die Herrschaftsgebaren einer Besatzungsmacht. Ich meine: Welchen Grund hatte denn die Bundesregierung, als sie im Herbst 1990 auf diesem Verfahren bestanden hat? Hätte sie nur nachvollziehbare Mieterhöhungen im Auge gehabt, die einer Überprüfung durch den halbwegs gesunden Menschenverstand standhalten, dann wäre es nicht nötig gewesen, dieses Parlament von diesen Entscheidungen auszuschließen. Meine Damen und Herren, wir lehnen die Mieterhöhung, die die Bundesregierung ab 1. Januar 1993 für den Osten vorgesehen hat, ganz entschieden ab. Wir halten es für unerträglich, daß sich die Bundesregierung an einer ominösen durchschnittlichen Einkommenshöhe orientiert. Die Aussagekraft von Durchschnittswerten ist äußerst begrenzt, vor allem im Sozialbereich. Das, denke ich, müßte doch jedem und jeder klar sein, der oder die sich auch nur ein wenig mit Statistik befaßt hat. ({0}) Für diejenigen, die das noch nicht getan haben: Im Durchschnitt war der Teich einen Meter tief, und trotzdem ist die Kuh darin ertrunken. ({1}) - Das ist die Intention Ihrer Statistikkenntnisse. Wenn Sie derartige Gesetzentwürfe einbringen und derartige Berechnungsgrundlagen haben, beweisen Sie, daß Sie von Statistik keine Ahnung haben und daß Sie insbesondere keine Ahnung von der Einkommenssituation im Osten haben. Bis jetzt gibt es keine detaillierte Statistik darüber; Durchschnittswerte sagen nichts aus. Es ist keine Statistik vorhanden, wie sich die einzelnen Einkommen auf die verschiedenen Schichten der Bevölkerung verteilen. Ich denke, damit ist der Diskussionsbedarf über die Frage der Statistik abgeschlossen. Ich habe keine Lust, hier noch darüber zu reden.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Dr. Kansy?

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte sehr.

Dr. - Ing. Dietmar Kansy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001064, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, wenn Sie schon meine wohnungspolitischen Vorstellungen nicht teilen, würden Sie dann wenigstens dem Hohen Hause bestätigen, daß nach langen Verhandlungen die Mietverordnung mit Zustimmung aller ostdeutschen Bundesländer - unabhängig, wie sie regiert sind - erlassen wurde und daß in diesen Verhandlungen die Grundlagen zigfach überprüft wurden und dieses insofern ein Gemeinschaftsergebnis von Bundesregierung und allen ostdeutschen Landesregierungen ist?

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kansy, das ist mir durchaus bekannt, und ich bedauere die Zustimmung der SPD zu diesem Gesetz. Das ändert aber nichts an meiner Feststellung, daß die Durchschnittseinkommen eine ungerechtfertigte Basis für derartige Bindungen sind. ({0}) - Lieber Herr Kansy, ich habe schon öfter hier gesagt: Ich bin nicht Mitglied des BÜNDNISSES 90, und ich bin auch nicht Mitglied der GRÜNEN; ich bin Mitglied des Unabhängigen Frauenverbandes. Das nur zu Ihrer Information. Ich habe also damit nichts zu tun. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Aber nun, Herr Kollege Dr. Kansy, jetzt müssen wir Frau Schenk weiter zuhören. Bitte sehr!

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident, ich hoffe, daß mir dieser Disput nicht auf die Redezeit angerechnet wird, denn sonst ist es mir nicht möglich, im Rahmen meiner Redezeit zum Ende zu kommen. Weiterhin - das sage ich auch ganz klar halten wir es für ein Unding, von Mieterinnen und Mietern eine höhere Miete zu verlangen, ohne daß dies an die Garantie einer Sanierung der Wohnung gekoppelt ist. Eine Mieterhöhung kann sich nur am individuellen Einkommen der einzelnen Haushalte orientieren - da wären wir wieder bei der Frage von Statistik und Durchschnitt , und die Mieterinnen und Mieter müssen wissen, daß sie für ihre höheren Mieten in absehbarer Zeit auch einen höheren Wohnwert bekommen. Alles andere ist Willkür und wird im Osten auch nicht anders als eine Willkürmaßnahme verstanden. Meine Damen und Herren, die Wohnungssituation im Osten ist infolge der Mißwirtschaft der DDR-Regierung schon schlimm genug. Ich sage Ihnen: Die Leute sind bedient und nicht bereit, nun noch zusätzlich die Auswirkungen der im Westen geprägten, ausschließlich gewinnorientierten Wohnungspolitik auf sich zu nehmen. Ich sage noch einmal ganz klar: Wenn es nicht gelingt, zu einer grundlegenden Wende in der Wohnungspolitik der Bundesregierung zu kommen, dann wird die Wohnsituation für all diejenigen im Osten, die nicht zu den Gewinnlern oder Gewinnlerinnen der Einheit gehören, noch viel schlimmer werden. Dazu gehören Erwerbslose, Alleinerziehende - von denen es im Osten bekanntlich wesentlich mehr gibt als im Westen -, dazu gehören Kinderreiche, Ausländerinnen und Ausländer, Renterinnen und Rentner. Meine Damen und Herren, es macht wirklich keinen Spaß, sich hier hinzustellen und derartig schlimme Verhältnisse vorauszusagen, aber es macht noch viel weniger Spaß, dann auch noch recht zu behalten. Deswegen haben wir die Gelegenheit genutzt und uns die Mühe gemacht, einen sehr ausführlichen Antrag auszuarbeiten, der die Begrenzung des Mietanstiegs, die Erweiterung des Kündigungsschutzes und den Erhalt des Mietwohnungsbestandes zum Gegenstand hat. Dieser Antrag bezieht sich auf die Situation in Westdeutschland, aber er hat für Ostdeutschland natürlich auch deswegen Bedeutung, weil sich eine Situation wie im Westen irgendwann auch im Osten ergeben wird, so schlimm sie auch ist. Unsere Forderungen - das sage ich auch noch einmal - sind nur teilweise neu. Einige wurden bereits von der Bundestagsfraktion DIE GRÜNEN in der letzten Legislaturperiode eingebracht und bemerkenswerterweise anschließend von der SPD, vom Bundesrat und sogar von der CSU übernommen. Ich schließe mich dem Appell meines Kollegen von der SPD an und sage: Wenn es diesmal den Abgeordneten der CSU gelänge - anders als in der letzten Legislaturperiode -, sich vom Diktat der Bundesregierung, insbesondere vom Diktat der F.D.P., zu lösen, wenn sie also bereit wären, unserem Antrag wenigstens teilweise zuzustimmen, was ja nichts anderes hieße, als die Forderungen, die bereits die bayerische Landesregierung gestellt hat, auch hier im Bundestag zu unterstützen, dann hätten wir eine Chance, einen großen Schritt zugunsten der Mieterinnen und Mieter im Westen und dann natürlich auch im Osten zu tun. Danke. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Dr. Walter Hitschler,

Dr. Walter Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Mietrecht gehört zu den besonders sensiblen Rahmenbedingungen für den Wohnungsbau. Auf Änderungen des Mietrechts reagieren die Investoren im Mietwohnungsbau sehr empfindsam, ({0}) denn aus Neubauwohnungen, die zur Erstvermietung anstehen, werden sehr schnell Bestandswohnungen, die zur Wiedervermietung bzw. zur Mietanpassung an die Kostenentwicklung anstehen. Die Mieten sind für den Investor neben einigen anderen der wichtigste Indikator für die Rentabilität seiner Investition und damit für seine Entscheidung, ob er sein Kapital im Wohnungsbau oder in anderen alternativen Anlagemöglichkeiten unterbringt. Staatliche Eingriffe ins Mietrecht oder gar miethöheregulierende Eingriffe sind daher mit äußerster Skepsis und Zurückhaltung zu betrachten, da sie sich unmittelbar auf die Investitionsneigung und damit auf die Angebotsverknappung auswirken. Ich kann daher nicht umhin einzugestehen, daß meine Fraktion die in diesem Vierten Mietrechtsänderungsgesetz enthaltene Neuregelung der Kappungsgrenze nicht gerade bejubeln kann, sondern sie nolens volens wie eine ungewollte Schwangerschaft betrachtet, für welche in einer Verbindung mit der CSU eine Fristenlösung von vornherein ausgeschlossen war. ({1}) Immerhin bleibt die bisherige Kappungsgrenze von 30 % für alle die Mietverhältnisse in Kraft, bei denen die Quadratmetermiete unter 8 DM liegt. Das trifft beispielsweise für viele Wohnungen zu, die aus der Sozialbindung herausfallen, die einen hohen Nachholbedarf bei Instandsetzungsmaßnahmen haben und bei denen die Heranführung der Miete an die ortsübliche Vergleichsmiete einen allzu langen Zeitraum - einen Zeitraum von bis zu 14, 15 Jahren - in Anspruch nehmen würde. Das kann nicht richtig sein. Deshalb ist es logisch und verständlich, daß die 30 %ige Kappungsgrenze bei niedrigen Mieten erhalten bleibt und die 20 %ige nur diejenigen Mieten betrifft, die über 8 DM pro Quadratmeter liegen. Verbote und gedeckelte Mieten, meine Damen und Herren, haben in der Vergangenheit immer dazu geführt - und das wird auch in Zukunft so sein -, daß das Wohungsangebot weiter verknappt wird, weil kein nennenswerter Wohnungsneubau mehr erfolgt und die Wohnungsbesitzer keine Wohnungen frei machen, unter allen Umständen an ihnen festhalten. Die Wohnungssuchenden sind die Leidtragenden. Sie bleiben bei einer solchen Politik auf der Strecke.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Dr. Hitschler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schöfberger?

Dr. Walter Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte sehr.

Dr. Rudolf Schöfberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß das Deutsche Städtebauinstitut in einer breit angelegten empirischen Befragung aller möglichen Wohnungsbauinvestoren zur Erkenntnis gekommen ist, daß das bestehende Mietrecht am allerwenigsten investitionsentscheidend ist - weder positiv noch negativ -, sondern vielmehr das Bodenrecht, die Bodenhortung, die Bodenverknappung, die mangelnde Ausweisung durch die Kommunen, die Bodenspekulation und auch letzten Endes die Bodenpreise?

Dr. Walter Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schöfberger, diesen Unsinn habe ich vorhin schon Ihrer Rede entnommen. Es wird dadurch nicht klüger, daß er vom Deutschen Städtebauinstitut verbreitet wird. ({0}) Es gibt sehr viel namhaftere und klügere Wirtschaftsfachleute, die genau das bestätigen, was ich Ihnen vorgetragen habe. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn bei kräftig steigenden Baukosten und Baulandpreisen und überdies hohen Fremdkapitalzinsen Ihren Anregungen zur Beschneidung der Mieten gefolgt würde, käme dies einer Erdrosselung des privaten Wohnungsbaus gleich, die viel schlimmere soziale Folgen hätte als die, die Sie hier als Folgen steigender Mieten an die Wand zu malen versuchen, Nein, es geht kein Weg an der Erkenntnis vorbei, daß der Staat diese Aufgabe des privaten Wohnungsbaus aus Geldmangel nicht erfüllen kann, daß wir auf private Investoren angewiesen sind und daß die Rahmenbedingungen für den Neubau von Wohnungen deshalb so gestaltet werden müssen, daß sich die auf lange Sicht rechnenden und kalkulierenden Investoren auf verläßliche Konditionen einstellen können, die nicht bei jedem konjunkturellen Windhauch wieder vom Gesetzgeber geändert werden. Um negative soziale Auswirkungen abzumildern, stehen, was die Miethöhe angeht, andere Instrumente zur Verfügung, im übrigen das Wohngeld, das sich in vielen Jahren ausgezeichnet bewährt hat. Wenn wir uns die Entwicklung der Baufertigstellungszahlen und der Baugenehmigungszahlen ansehen, können wir feststellen, daß selbige kontinuierlich ansteigen und wir uns auf einem erfolgreichen Weg befinden. Gutgemeinte, aber falsch angelegte sozial bemäntelte Wohnungspolitik, wie sie hier von Herrn Schöfberger gezeichnet worden ist, kommt dem Bürger im nachhinein immer am teuersten zu stehen. Dennoch erliegen viele Politiker immer wieder dieser Versuchung, weil der Unbedarften viele sind. ({1}) Weitergehende Eingriffe und Verschlechterungen der Rahmenbedingungen an den Wohnungsmärkten über das hinaus, was in diesem Gesetz enthalten ist, kommen für die Freien Demokraten nicht in Betracht. Dies gilt auch für die Forderungen nach einem Umwandlungsverbot oder der Einführung einer gesetzlichen Abgeschlossenheitsbescheinigung, wie sie in der Umwandlungsdiskussion, die jetzt überflüssigerweise losgetreten wird, gefordert wird. In Gebieten mit erhöhtem Wohnbedarf ist der Käufer bei Umwandlung einer Miet- in eine Eigentumswohnung fünf Jahre an einer Eigenbedarfskündigung gehindert. Der Eigenbedarf muß darüber hinaus begründet sein. Erst nach Ablauf dieser fünfjährigen Schutzfrist kann er die Kündigung aussprechen. Erst von diesem Zeitpunkt an beginnt die gesetzliche Kündigungsfrist zu laufen, und danach kann er sich auf die Sozialklausel des § 556a BGB berufen, wonach er einer Kündigung des Mietverhältnisses widersprechen kann, wenn die Kündigung für ihn oder seine Familie eine soziale Härte darstellen würde. All dies wird in Ihren Darstellungen verschwiegen. Die Fälle, in denen es einem Vermieter gelingt, einen Mieter mit einer Räumungsklage aus einer Wohnung herauszuklagen, haben in der wirtschaftlichen Wirklichkeit Seltenheitswert. ({2}) Nicht wenige Fachleute nennen dies bereits einen überzogenen Mieterschutz und zählen ihn ihrerseits zu den Investitionshemmnissen. Gesetzliche Eingriffe sind auch, was die Zahlen tatsächlicher Eigenbedarfskündigungen im Umwandlungsfalle angeht, nicht angebracht. Sie reden immer von den angemeldeten Umwandlungen, aber nicht von den tatsächlichen Kündigungen der Mietverhältnisse. Es ist ja wohl etwas völlig anderes, ob den Leuten im Falle der Umwandlung hinterher auch gekündigt wird, ob der Eigenbedarf also tatsächlich geltend gemacht wird. Diese Zahlen werden in der Öffentlichkeit verschwiegen. Sie spielen nämlich in der Wirklichkeit überhaupt keine Rolle. Gerade in Ballungsgebieten ist der Kauf einer Eigentumswohnung überdies für viele junge Familien die einzige Möglichkeit, Wohneigentum zu bilden, was uns ausgesprochen wünschenswert erscheint und darüber hinaus hilft, den Wohnungsbestand qualitativ zu verbessern. Für uns, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist mit diesem Vierten Mietrechtsänderungsgesetz in Sachen Mietrechtsänderungen das Ende der Fahnenstange erreicht. Wir sagen, obwohl wir in der Sache eigentlich eine Liberalisierung des Mietrechts fordern müßten, um des sozialen Friedens willen zu Mietern und Vermietern: Hände weg vom Mietrecht! ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Ilja Seifert das Wort.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Hände weg vom Mietrecht" ({0}) - Herr Hitschler, diese Losung übernehme ich gerne, allein mit anderen Vorzeichen. ({1}) Herr Dr. Schöfberger, Ihre Rede hat mir sehr gut gefallen. Hoffentlich setzen Sie das hier Gesagte auch um, wenn Sie in der von Ihnen angestrebten Großen Koalition das Sagen haben werden. ({2}) Mit dem hier vorgelegten Vierten Mietrechtsänderungsgesetz geht die Bundesregierung nach unserer Auffassung völlig an den Realitäten vorbei, nämlich der Verschärfung der Wohnungsnot und der zunehmenden Obdachlosigkeit in ganz Deutschland. Das tut sie nicht, weil sie diese Realitäten nicht zur Kenntnis nehmen kann, sondern weil sie es nicht will. Das Recht auf Wohnen, immerhin ein grundlegendes Menschenrecht, ist Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, offenbar egal. „Vermieten muß sich rechnen" - Herr Hitschler, auch Sie sprachen ausschließlich wieder von Renditeaspekten, nicht vom Menschenrecht auf Wohnen. Das bedauere ich. ({3}) - Ich sage ja: Man muß die Wohnung als soziales Gut betrachten, nicht als Renditeobjekt. Ich übersehe natürlich nicht, daß einige Punkte des Regierungsentwurfs - wenn auch in halbherziger Weise, aber immerhin - einen Kompromiß zwischen den Verwertungsinteressen der Haus- und Grundbesitzer und den Schutzinteressen der Mieterinnen und Mieter darstellen. Allerdings wird das juristisch so vertrackt verklausuliert, daß das ohnehin komplizierte Mietrecht vollends undurchsichtig wird. Noch schlimmer ist das bei den Inhalten, auf die ich hier leider nicht so ausführlich eingehen kann. Meine Redezeit ist wie immer äußerst begrenzt. ({4}) Modernisierungsumlagen ohne Kappungsgrenzen drücken zunehmend stärker jetzt schon Ostmieten über Westniveau - ein Fakt, der in Beispielrechnungen des Bauministeriums, Herr Hitschler, für ostdeutsche Mieterinnen und Mieter bisher geflissentlich übersehen wird, aber nicht von der Hand zu weisen ist. Um einmal ein Bild zu benutzen: Frau Schwaetzer absolviert die Mieterhöhungen in Ostdeutschland in Siebenmeilenstiefeln. Ich unternehme deshalb im Auftrag der PDS heute einen erneuten Versuch, Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, zu bitten, Augenmaß und Gerechtigkeit walten zu lassen. ({5}) - Ja, ich hätte das gerne getan. Es lag leider nicht in meiner Hand. ({6}) Verschieben Sie die Mieterhöhung um ein Jahr. Nehmen Sie die Warnung der 38 ostdeutschen Mieterverbände ernst. Zahlen Sie die zusätzlich geplanten Mittel direkt an die Wohnungswirtschaft aus, und streichen Sie die fiktiven Altschulden. Um ein anderes Bild anzuwenden: Bei der Verlängerung des Kündigungsschutzes wird die Salamitaktik angewandt, nur zu dick dürfen die Scheiben nicht sein. Die Verlängerung um drei Jahre wirkt geradezu krämerhaft, wenn man in Betracht zieht, daß der Mietwohnungsbau im Osten Deutschlands nach der Wende völlig zusammengebrochen ist und angesichts sagenhaft geringer Fördermittel, völligen Fehlens von Eigenkapital, ungeklärten Eigentumsverhältnissen und nicht arbeitsfähigen Behörden eine Verbesserung der Lage auf diesem Gebiet nicht in Sicht ist. Mit neuen Wohnungen ist also nicht zu rechnen. Sollen die mit Eigenbedarfsklagen bedrohten Mieterinnen und Mieter auf die Straße gesetzt werden? Herr Hitschler, ich kann Ihrer Argumentation da nur mit Zweifeln folgen. Wir sind gegen Flickschusterei und Augenwischerei. Unser Antrag, den Kündigungsschutz um fünf Jahre zu verlängern, enthält eine Mindestforderung. Insofern liegt mir die Forderung von Frau Schenk wesentlich näher als die Ihre, Frau Ministerin. Frau Ministerin ist leider nicht da. Dann wende ich mich eben an den Staatssekretär. ({7}) - Ich hoffe, daß er das weitergibt. ({8}) - Freut mich. Wenn er es berücksichtigt, wäre das noch besser. ({9}) Wir verlangen zur Behebung der Wohnungsnot und zur Sicherung bezahlbarer Mieten, daß die Bundesregierung endlich ein nationales Wohnungsbauprogramm vorlegt, das diesen Namen auch verdient, und daß dafür - beginnend schon im Haushalt 1993 - veränderte Prioritäten in den öffentlichen Haushalten gesetzt werden. Namens der Abgeordnetengruppe der PDS/Linke Liste erkläre ich, daß wir den vorliegenden Entwurf des Mietrechtsänderungsgesetzes ablehnen werden. Ich danke trotzdem für die Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt als vorletztem Redner unserem Kollegen Dieter Maaß das Wort.

Dieter Maaß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001401, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Kanzler Kohl regiert, sind die Mieten ungebremst im Steilflug - seit 1989 explodieren sie nahezu -, und der Mieterschutz ist im Sturzflug. Die Regierung legt nach über zweijährigem öffentlichen Streit einen Gesetzentwurf vor, der das Papier nicht wert ist, auf dem er steht. Die Bauministerin entschuldigt sich bei jeder Gelegenheit dafür, daß es diesen Entwurf gibt. Auch in der Wohnungs- und Mietenpolitik ist diese Regierung handlungsunfähig und inkompetent. ({0}) Das Wohnen ist in den letzten zehn Jahren, in denen Sie regieren, um sage und schreibe 71 % teurer geworden. Eine westdeutsche Familie gibt heute den größten Teil ihres Einkommens für Wohnen aus, nämlich mehr als 26 % - wohlgemerkt: im Durchschnitt. 1970 waren es noch weniger als 20 %. Die Mieten fressen bei vielen bis zu 40 % des Nettoeinkommens auf. Bei immer mehr Familien reicht das mit redlicher Arbeit verdiente Geld nicht mehr aus, um das Dach über dem Kopf zu bezahlen. Wohnen ist unter dieser Regierung zum Luxus geworden. Wir steuern auf 3 Millionen fehlende Wohnungen zu. Die Mieten werden weiter in die Höhe schießen. Ein Ende ist nicht in Sicht, wenn nicht rasch wirksam gehandelt wird. ({1}) Die Eigenbedarfskündigung ist leichter geworden, die Wohnungsspekulation feiert fröhliche Urständ. In die ortsübliche Vergleichsmiete wurde ein Sprengsatz eingebaut, der heute voll zündet. Sie gehen auf diesem unseligen Weg mit ihrem Mietgesetzentwurf weiter. Sie wollen Modernisierung gegen den Willen der Mieter zulassen. Sie wollen Mietern von Werkswohnungen bei Arbeitsplatzverlust auch die Wohnung wegnehmen. Sie tun nichts gegen Wohnungsspekulanten. In den neuen Ländern wollen Sie den erforderlichen Schutz vor Eigenbedarfskündigungen durchlöchern. Allein in Einliegerwohnungen sind 500 000 Menschen von Kündigung bedroht. Heute wie vor zehn Jahren verkünden Sie die gleiche falsche Parole: Weniger Mieterschutz bringt mehr Wohnungen. Ihr Leugnen der Fakten ist erstaunlich: Sie haben den Mieterschutz abgebaut, die Mieten steigen unaufhörlich, aber von einer ausreichenden Wohnversorgung keine Spur. ({2}) Im Gegenteil: Sie haben den Wohnungsbau auf den historischen Tiefpunkt von 208 000 Wohnungen 1988 gebracht, und noch immer werden pro Jahr nur halb so viele Wohnungen gebaut, wie erforderlich wären. Ihre Wohnungsbau- und Mietenpolitik ist eine Politik des gebrochenen Wortes. ({3}) Unter den SPD-geführten Regierungen der Kanzler Brandt und Schmidt wurden jährlich 50 % mehr Wohnungen gebaut, und es gab zugleich einen wirksamen Mieterschutz. ({4}) Das geht, wenn man will. Aber Sie wollen und Sie können nicht. Wie es bei vielen Familien heute aussieht, ({5}) macht ein Brief deutlich, der mich vor kurzem erreichte. Daraus folgendes Zitat: Ich bin Jahrgang 1940, und die meisten Menschen meiner Generation haben mit ihrer Arbeitskraft und Steuerehrlichkeit diesem Land zu Ansehen in der Welt verholfen. Arbeit und Wohnung haben uns unsere Würde gegeben und die Bereitschaft, anderen zu helfen. Jetzt bricht das Unglück in Form von unzähligen Eigenbedarfskündigungen auf die kleinen Leute herein. Auch meine Familie hat es getroffen. Ich schreibe Ihnen, weil ich jeden Tag in die leeren Augen meiner Frau und meiner Tochter sehe. Die Angst, irgendwann auf der Straße zu landen, beherrscht jedes Handeln. Denken und Fühlen dreht sich um eine Wohnung und den kommenden sozialen Abstieg. Heute auf Wohnungssuche gehen zu müssen, ist furchtbar. Neubauwohnungen sind mit 15 bis 18 DM pro Quadratmeter bei 2 400 DM Nettoeinkommen geradezu utopisch. Mit dieser nervlichen Belastung ist es fast unmöglich, ein normales Leben weiterzuführen. Diese Worte eines berufstätigen Familienvaters zeigen die brutale Realität in unserem Land. Ich will diesem Brief ein Zitat aus der Rede der Bauministerin vor dem Bundesverband Freier Wohnungsunternehmen am 27. Mai 1992 entgegenstellen. Sie sagte: Dieter Maaß ({6}) Darum bedaure ich die gestrige Entscheidung des Bundeskabinetts, die sogenannte Kappungsgrenze von 30 auf 20 % abzusenken. Die Zahl der von dieser Regelung betroffenen Mietverhältnisse ist zwar gering, und Neuverträge sind nicht betroffen. Trotzdem kann diese Regelung einen großen psychologischen Schaden bei den Investoren mit sich bringen. ({7}) Wo ist die soziale Verantwortung der Ministerin, wo ihr Mitgefühl für den tausendfachen psychologischen Schaden in den Familien, die Angst um ihre Wohnungen haben? Wo ist ihr entschlossenes Handeln, um diesen Menschen zu helfen? ({8}) Hier liegt ein Gesetz vor, daß die Mieter nicht ausreichend schützt, also unwirksam ist. Das sagt sie ja selbst. Aber ihre größte Sorge gilt dem Seelenhaushalt möglicher Investoren und nicht den bedrängten Mietern. ({9}) Was sie bedauerlich fand, bedeutet in der Praxis, daß die Miete in drei Jahren und einem Tag statt um bisher 66 % nur noch um 44 % steigen darf. Dann erklärte die Ministerin in einem Interview mit der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung" vom 27. August 1992, daß die Mieten an der Schallmauer sind. Den Wohnungsunternehmern aber sagt sie, wie leid es ihr tut, daß sie nicht mehr Miete verlangen dürften, und für die Mieter vergießt sie Krokodilstränen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Maaß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Hitschler?

Dieter Maaß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001401, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte, Kollege Dr. Hitschler.

Dr. Walter Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Maaß, sind Sie wenigstens geneigt, den Zuhörern auch mitzuteilen, daß diese Möglichkeit der Erhöhung um 44 bzw. 66 %, von der Sie gesprochen haben, nach oben hin begrenzt wird durch die ortsübliche Vergleichsmiete, daß also der Vermieter nicht willkürlich die Mieten um 30 % innerhalb von drei Jahren erhöhen kann, wie das der Kollege Schöfberger vorhin schon einmal in einer falschen Behauptung hier kundgetan hat, sondern daß es sich um Mieterhöhungsspielräume unterhalb der normalen Durchschnittsmiete, die in einer Gemeinde herrscht, handelt, also um Anpassungsprozesse an die Durchschnittsmiete, und das eben etwas anderes ist als das, was Sie hier den Zuhörern klarzumachen versucht haben?

Dieter Maaß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001401, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber Herr Dr. Hitschler, diese Art der Mieterhöhungen schaukelt doch auch die Vergleichsmiete hoch. Das können Sie doch hier nicht leugnen. Das ist doch völlig klar. ({0}) Das ist doppelzüngig und unredlich. Ausgerechnet diese Ministerin ermahnt den Mieterbund zur Sachlichkeit. Der von uns vorgelegte Gesetzentwurf will die Mieter stärker vor unvertretbar hohen Mietpreisen und vor der Verdrängung aus der Wohnung schützen. Die Mietpreisbildung soll wieder auf breiter Basis aller vereinbarten Mietverträge erfolgen. Bis zu einer Entspannung auf dem Wohnungsmarkt ist eine Kappungsgrenze von 15 % erforderlich, und zwar für alle bestehenden Mietverträge, und nicht - wie es die Regierung will - nur für die vor 1981 gebauten Wohnungen. Neubau und Erstvermietung fallen weder unter die Kappungsgrenze noch unter die ortsübliche Vergleichsmiete, wenn der entsprechende Mietpreis kostenmäßig begründbar ist. Investitionen werden also nicht behindert, die Investoren haben Rechtssicherheit. In Gebieten mit hoher Wohnungsnot sollen die Länder bis Ende 1999 die Möglichkeit erhalten, auch die Steigerung der Wiedervermietungsmieten auf 10 % über der Vergleichsmiete zu begrenzen. Mit einem weiteren Gesetzentwurf wollen wir den Sonderkündigungsschutz in den neuen Ländern ungeschmälert um fünf Jahre verlängern. Die SPD-Gesetzentwürfe stellen sicher, daß Mieter und Wohnungssuchende nicht länger die Zeche für die gescheiterte Wohnungspolitik dieser Bundesregierung zahlen müssen. ({1}) Die eindringlichen Appelle, wegen der Wohnungsnot die Mieter besser zu schützen, prallen an der Bauministerin ab wie an einem Panzer. Sie sieht wieder nur böse Panikmacher am Werk. Will sie im Ernst behaupten, daß der Deutsche Städtetag, die Caritas, der Bundesrat, die CSU, sieben Oberbürgermeister von Großstädten, unter ihnen Herr Rommel und Herr Diepgen, daß sogar CDU-Wohnungspolitiker nur Panik verbreiten? Alle fordern zumindest in wichtigen Teilbereichen einen besseren Schutz der Mieter, aber die F.D.P.-Justizministerin und die F.D.P.-Bauministerin bleiben stur. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie wissen im übrigen, daß Investitionen in den Wohnungsbau auch heute rentabel sind. Und wenn Sie mir nicht glauben wollen, fragen Sie zum Beispiel Herrn Wullkopf vom Institut Wohnen und Umwelt, den die Ministerin selbst in die Expertenkommission berufen hat! Er wird Ihnen vorrechnen, daß bei Anfangsmieten zwischen 11 und 15 DM pro Quadratmeter und bei Mietsteigerungen von 3 bis 5 % pro Jahr die Anlage in Immobilien eine langfristige Verzinsung von 8 % im Jahr übersteigen kann. Also auch dann, wenn die Mieten vertretbar steigen, so wie wir es fordern, lohnt sich Wohnungsbau. Man kann also die Mieter besser schützen, ohne den Wohnungsbau zu behindern. Deshalb fordere ich Sie von der CDU, insbesondere Herrn Dr. Kansy, und Sie, meine Damen und Herren von der CSU, erneut auf, Ihren Ankündigungen einer Verbesserung des Mieterschutzes wenigstens gegen Dieter Maaß ({2}) die Wohnungsspekulanten endlich konkrete Taten folgen zu lassen. Es geht um die bedrückenden Sorgen vieler Menschen. Für wichtige Maßnahmen zum Schutz der Mieter gibt es in diesem Haus eine sachliche Mehrheit. Den Menschen zu erklären, warum sich diese sachliche Mehrheit nicht durchsetzt und die Minderheit der 11%-Fraktion der F.D.P. den sozialen Frieden in unserem Land gefährden darf, dürfte schwer sein. Wir werden Ihnen von der CDU/CSU Gelegenheit geben, Farbe zu bekennen. Schönen Dank. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, als letztem Redner erteile ich nunmehr unserem Kollegen Herbert Frankenhauser das Wort.

Herbert Frankenhauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den alten Bundesländern betritt jeder, der sich mit dem Thema Wohnungspolitik befaßt, ideologisch vermintes Gelände. Je nach Interessenlage wird fast jede denkbare Meinung vertreten, wobei sich die Größe der Leidenschaft gelegentlich umgekehrt proportional zu Tatsachen, Sinn und geleisteter Denkarbeit verhält. Dies ist nicht von mir, trotzdem gut; es ist ein Zitat aus dem jüngsten Beschluß des Präsidiums des Deutschen Städtetages zur Wohnungspolitik vom 14. September dieses Jahres. Ich hoffe und wünsche, daß ich mit meinem heutigen Beitrag, wenn ich zu dem vorgelegten Entwurf teilweise ergänzend Überlegungen einbringe, nicht gleich Minen zum Explodieren bringe und auch der angesprochenen Proportion gerecht werden kann. ({0}) - Sie können ja gehen, wenn es Ihnen zu langweilig ist. Tatsache ist, daß es im Bereich des Wohnens und der Miete Probleme und Notstände gibt, die größer zu werden drohen, und daß diese Probleme und Notstände beachtlichen Sprengstoff enthalten. Dies ist natürlich, handelt es sich doch bei dem Bereich Wohnung um den Mittelpunkt der menschlichen Existenz. Das komplexe, mannigfaltige Problem der Wohnungswirtschaft wird sich nicht lösen, sondern allenfalls mildern, weil wir keine Einheitlichkeit der Problemlagen haben und der Wohnungsmarkt in verschiedene Teilmärkte und Problemzonen aufgesplittert ist. Das zeigt beispielhaft deutlich die immense Diskrepanz zwischen den regionalen Bereichen mit ausreichender Wohnraumversorgung und den explodierenden Problemen in den Großstädten und Ballungsräumen. Das bezeugt auch die kaum positiv lösbare Wechselwirkung des Mieterschutzes: Je höher der staatliche Schutz für jemanden ist, der bereits eine Wohnung hat, desto schwieriger wird es für jene, die auf Wohnungssuche sind. Dazu kommt, daß die Schutzvorschriften für Mieter so bemessen werden müssen, daß die Rückwirkungen auf die Bereitschaft zu privaten Investitionen in den Wohnungsbau, die wohl unbestritten völlig unverzichtbar ist, nicht übermäßig nachteilig sind. Der vorgelegte Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Vierten Mietrechtsänderungsgesetz ist in Anbetracht der Gesamtproblematik eine ebenso richtige wie begrüßenswerte Antwort auf den bestehenden politischen Handlungsbedarf. Die in ihm vorgesehenen Maßnahmen zur Verschärfung des § 5 des Wirtschaftsstrafgesetzes für die Mietüberhöhung, die Zulassung von Mietzinsleitklauseln, die Schaffung neuen Wohnraums in Nebenräumen von bestehenden Gebäuden und auf Freiflächen und die Verbesserung der Bedingungen zur Errichtung von Werkswohnungen - im übrigen darf ich meinem Vorredner sagen, daß eine Vielzahl von Gewerkschaften, zumindest auf regionaler Ebene, in München, einer solchen Regelung ausdrücklich zugestimmt hat -, die Begrenzung des Entgelts für die Vermittlung einer Mietwohnung auf zwei Monatsmieten und der Kündigungsschutz der Mieter gegen Eigenbedarfskündigungen in den neuen Bundesländern sind uneingeschränkt und nachdrücklich zu begrüßen und zu unterstützen. Dabei möchte ich ganz besonders die Erleichterungen im Bereich des Werkswohnungsbaus hervorheben, die einen entscheidenden Impuls für eine Belebung dieses so wichtigen Bereichs geben werden.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Frankenhauser, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Maaß? - Bitte sehr, Kollege Maaß.

Dieter Maaß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001401, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, sind Sie bereit, zuzugeben, daß die Schwierigkeit für die Arbeitgeber, Werkswohnungen zu errichten, nicht darin liegt, daß das Kapital oder die Bereitschaft fehlt, sondern daß sie wegen der niedrigen Einkommensgrenzen ihre eigenen Leute dort nicht mehr einziehen lassen können?

Herbert Frankenhauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auf vielen Betriebsrätekonferenzen, die ich in München abgehalten habe und deren Teilnehmer nicht alle meiner Partei angehören, wie Sie vielleicht wissen werden, ist übereinstimmend berichtet worden, daß das Problem auch betriebsintern von der Arbeitnehmerseite darin gesehen wird, daß die Arbeitnehmer Unverständnis haben, daß in den Werkswohnungen überwiegend Leute wohnen, die in dem Werk, daß diese Wohnungen errichtet hat, nicht mehr arbeiten. Sie haben in vielen Gesprächen übereinstimmend erklärt, daß es sinnvoll sei, hier zu einer Veränderung des Kündigungsschutzes zu kommen. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Frankenhauser, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Hitschler? - Bitte sehr, Herr Kollege.

Dr. Walter Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Frankenhauser sind Sie bereit, zuzugestehen, daß der Kollege Maaß in dem Falle recht hat, wenn es sich um Wohnungen im sozialen Wohnungsbau des ersten Förderweges handelt? Dann trifft das in der Tat zu. Aber wenn Wohnungen beispielsweise im dritten Förderweg oder nach anderen Förderungsmodellen gefördert werden, trifft Ihre Aussage natürlich nicht zu.

Herbert Frankenhauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wie Sie sicher wissen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, hat die Christlich-Soziale Union auch im Bereich des Mietrechts seit vielen Jahren eine besondere Haltung eingenommen. Obwohl diese politischen Vorstellungen der CSU bezüglich des Mietrechts in die Koalitionsvereinbarungen der Regierungsparteien nicht vollständig übernommen werden konnten, darf ich diese unter Hinweis auf meine eingangs gemachten Feststellungen und in Anbetracht der objektiven Problemsituation insbesondere in den Großstädten und den Ballungsräumen auch im Namen meiner CSU-Kollegen aus München nochmals in die Diskussion einbringen und Sie alle bitten, in den anstehenden parlamentarischen Beratungen miteinander darüber zu diskutieren, ob diese Vorschläge der CSU nicht doch die effektivere Problemlösung bedeuten würden. Besonders die seit der Koalitionsvereinbarung von vor knapp zwei Jahren eingetretene Situation in den Großstädten und Ballungsräumen gibt uns berechtigten Anlaß, die Herabsetzung der sogenannten Kappungsgrenze von bisher 30 % im Zeitraum von drei Jahren entgegen dem vorliegenden Vorschlag auf 15 % erneut zur Diskussion zu stellen. ({0}) - Sie hatten doch den Kollegen Seifert zuerst gerügt, daß er seine Ablehnung dieses Gesetzes schon heute bekundet. So würde ich doch sagen: Eröffnen wir einmal die Debatte und warten ab, was dabei herauskommt! ({1}) Die im vorliegenden Entwurf enthaltene Begründung zur Ablehnung einer 50 %igen Kappungsgrenze ist inhaltlich zumindest in besonderen Problembereichen nicht zutreffend, da es in den Großstädten um Ballungsräume keinen aufzuholenden Rückstand gegenüber der ortsüblichen Vergleichsmiete gibt. Desgleichen wollen meine Münchner CSU-Kollegen und ich in Übereinstimmung mit der Meinung des Bundesrates erneut die Forderung zur Diskussion stellen, daß in Ballungsräumen für die Dauer von fünf Jahren die zulässige Miete bei der Weitervermietung einer vor dem Jahr 1991 gebauten Wohnung auf 10 % über der ortsüblichen Vergleichsmiete begrenzt wird. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Frankenhauser, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Hitschler?

Herbert Frankenhauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gern.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte, Kollege Dr. Hitschler.

Dr. Walter Hitschler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Frankenhauser, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es in München immer noch Wohnungen im sozialen Wohnungsbau gibt - auch solche, die bald aus der Sozialbindung herausfallen -, die eine Miethöhe von 4,20 DM/qm haben? Und würden Sie sagen, daß das Ihrer Behauptung, die Sie hier eben aufgestellt haben, nicht widerspricht?

Herbert Frankenhauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Dr. Hitschler, ich bin gerne bereit, mit Ihnen die geringe Anzahl von Wohnungen mit 4,50 DM/qm persönlich zu besichtigen. Wir brauchen nicht viel Zeit dazu. ({0}) Zudem sollten wir intensiv beraten, welcher Zeitraum unter Abwägung aller Aspekte in die Berechnung bzw. Ermittlung der ortsüblichen Vergleichsmiete im Mietspiegel angesetzt werden soll. Auf Grund der Entscheidung des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes am 30. Juli 1992 ist dringendster Handlungsbedarf, um qualifizierte Maßnahmen des Gesetzgebers vorzugeben, die den sogenannten Umwandlungsspekulationen nachhaltig Einhalt gebieten können. Selbstverständlich muß die schriftliche Begründung der Entscheidung des Gemeinsamen Senats abgewartet werden. Ich bitte aber dringend darum, daß die zuständigen Ministerien nach Vorliegen der Begründung, die etwa für Mitte Oktober erwartet wird, unverzüglich mit entsprechenden Vorschlägen in die parlamentarische Beratung gehen und dabei besonders die Notwendigkeit berücksichtigen, das zeitliche Vakuum zwischen der Urteilsverkündung und der Gesetzgebung positiv im Sinne der Betroffenen zu egalisieren. Meine sehr geehrten Damen und Herren, bei aller Notwendigkeit einer kontroversen Diskussion über die berechtigten Belange des Mieterschutzes, zu deren Schwierigkeit - das gebe ich zu, Herr Dr. Hitschler - ich heute auch etwas beigetragen habe, dürfen meines Erachtens folgende Aspekte unter keinen Umständen außer Betracht bleiben. Erstens. Durch eine, wie auch immer gestaltete Mieterschutzgesetzgebung schaffen wir keine einzige Wohnung zusätzlich. ({1}) Unseren Kollegen Schöfberger, der so plastisch im Ludwig-Thoma-Stil die Münchner Verhältnisse dargestellt hat, muß ich darauf hinweisen, daß ich mich noch gut daran erinnern kann, daß uns von der CSU während meiner Stadtratszugehörigkeit in den 70er und 80er Jahren von Ihren Genossinnen und Genossen ständig in leuchtenden Farben die „idealen Wohn- und Mietrechtsverhältnisse" in der damaligen DDR als beispielhaft vor Augen geführt worden sind. Ich glaube, eine weitere Beurteilung erübrigt sich, nachdem der eine oder andere von Ihnen das jetzt in natura hat besichtigen können. ({2}) Zweitens. Es bleibt letztendlich kein anderer Lösungsweg aus dieser Problematik, als einfach mehr Wohnungen zur Verfügung zu stellen. ({3}) Das heißt, daß insbesondere die Kommunen mehr denn je aufgefordert und verpflichtet sind, wirklich ausreichend Bauland für den Wohnungsneubau zur Verfügung zu stellen. ({4}) - Ich rede jetzt gerade vom Wohnbauland, das ist die ursprüngliche Voraussetzung, um darauf etwas bauen zu können, Herr Dr. Seifert. - Die unabdingbare Zurverfügungstellung von Bauland zu verhindern, wie es landauf und landab, insbesondere unter der Führung von sozialdemokratischen Oberbürgermeistern geschieht, und gleichzeitig die Wohnungs- und Mietproblematik zu beklagen, heißt, Feuer an die sozialpolitische Lunte zu legen. Für Sie aus Münchner Sicht leuchtendes Beispiel: Panzerwiese. Das gilt auch, wenn diese Nichtausweisung von Bauland unter dem Deckmantel sogenannter ökologischer Begründungen geschieht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir stehen am Anfang der Beratung eines wichtigen Gesetzesvorhabens, das unsere betroffenen Mitbürger zutiefst berührt. Lassen Sie uns deshalb mit allem Engagement und im harten Austausch der Argumente ({5}) - vielleicht kommen wir auch noch zu einer „gewünschten Schwangerschaft", nicht ad personam, aber grundsätzlich -, aber unter Umgehung des ideologischen Minenfeldes zu einer bestmöglichen Lösung für alle Betroffenen kommen! Vielen Dank. ({6}) Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/3254, 12/2758, 12/3013, 12/3284 und 12/3291 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu noch andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 25. September 1992, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.