Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Zunächst habe ich Ihnen noch zwei allgemeine Mitteilungen zu machen. Erstens. Aus dem Gemeinsamen Ausschuß nach Art. 53a des Grundgesetzes scheiden der Kollege Dr. Hans-Jochen Vogel als ordentliches Mitglied und der frühere Kollege Harald Schäfer, Offenburg, als stellvertretendes Mitglied aus. Die Fraktion der SPD schlägt als neues ordentliches Mitglied den Kollegen Hans-Ulrich Klose und als neues stellvertretendes Mitglied Hans Gottfried Bernrath vor. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die genannten Kollegen gemäß Art. 53 a des Grundgesetzes bestimmt.
Zweitens. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um den Antrag der Fraktion der SPD zur Reform des Gesundheitswesens - Drucksache 12/3226 - erweitert werden. Dieser soll zusammen mit Tagesordnungspunkt 2 aufgerufen werden. Sind Sie auch damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 sowie den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung ({0})
- Drucksache 12/3209 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({1}) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Rechtsausschuß
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 12/3210 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({2}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Rechtsausschuß
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
ZP Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Reform des Gesundheitswesens
- Drucksache 12/3226 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({3}) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Nach der interfraktionellen Vereinbarung soll die Aussprache bis 12.30 Uhr dauern. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch.
Das Wort hat zunächst der Bundesminister für Gesundheit, Herr Seehofer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gesundheit ist für die Menschen ein hohes, ich meine, vielleicht sogar das höchste Gut. Bei keinem anderen Thema werden die Gefühle der Menschen so stark berührt wie bei der Sorge um die eigene Gesundheit. Deshalb heißt das erste Gebot Sachlichkeit. Wir dürfen die Auseinandersetzung um den richtigen Weg bei der Gesundheitsreform nicht durch völlig unbegründete Ängste, die in diesen Tagen geschürt wurden, auf dem Rücken der Kranken und Hilfsbedürftigen austragen.
({0})
Die Qualität unserer Gesundheitsversorgung steht weltweit an der Spitze. Ich sage damit nicht, daß alles perfekt ist. Aber, meine Damen und Herren, es ist an der Zeit, auch einmal darauf hinzuweisen, daß unser Niveau der Gesundheitsversorgung in der deutschen Sozialgeschichte einmalig ist. Wir stehen im weltweiten Vergleich ganz oben. Dies hat viele Gründe.
Ich möchte auf einen Grund besonders hinweisen. Wir verdanken dieses Versorgungsniveau, die Qualität der gesundheitlichen Versorgung der Qualifikation und dem Einsatz der Männer und Frauen, die tagtäglich in der Sprechstunde, am Krankenbett, im Rettungsdienst, in vielen der Gesundheit dienenden Einrichtungen als Angehörige vieler Gesundheitsberufe oft rund um die Uhr unter Einsatz aller Kräfte im
wahrsten Sinne des Wortes Dienst am Menschen leisten.
({1})
Meine Damen und Herren, wir haben in dieser Woche oft darüber diskutiert, was alles in den neuen Bundesländern noch nicht funktioniert, noch nicht erfüllt ist. Deshalb liegt mir zu Beginn dieser Diskussion daran, gerade beim Gesundheitswesen darauf hinzuweisen, was seit dem Fall der Mauer in der Gesundheitsversorgung in den neuen Bundesländern geschehen ist. Es ist in atemberaubender Schnelle und überall funktionierend ein flächendeckendes System der gesetzlichen Krankenversicherung, der gegliederten Krankenversicherung aufgebaut worden. Wir haben eine flächendeckende ambulante medizinische Versorgung. Die Qualität der Apparatemedizin wurde erheblich verbessert. Die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung in den neuen Bundesländern war zu keiner Minute gefährdet. Ich denke, daß sich das, was in ein, zwei Jahren dort sehr rasch geschehen ist, sehen lassen kann. Alle Beteiligten, insbesondere die Selbstverwaltung, haben eine Pionierarbeit geleistet, die in die Geschichte der deutschen Gesundheitspolitik eingehen wird.
({2})
Es sind heute weniger die Qualität der Versorgung und weniger das Versorgungsniveau, sondern es sind die Finanzen, die uns heute beschäftigen. Meine Damen und Herren, die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung steigen seit zwei Jahren doppelt so schnell wie die Einnahmen.
({3})
Wir werden Ende dieses Jahres einen Beitragssatz von durchschnittlich über 13 % haben. Er ist noch höher, als er im Mai/Juni dieses Jahres prognostiziert wurde. Trotz dieses Rekordbeitragssatzes in der Geschichte der deutschen Krankenversicherung werden wir gleichwohl ein Defizit von über 10 Milliarden DM haben. Das ist eine Rekordhöhe. Trotz hundertjähriger Geschichte der gesetzlichen Krankenversicherung war die finanzielle Situation nie zuvor so ernst wie heute. Wir befinden uns in einer dramatischen Situation. Es stimmt, daß dies eine Entwicklung ist, die nicht auf die deutsche Einheit zurückzuführen ist. Davon haben wir noch vor wenigen Wochen gesprochen. Aber die Prognose, daß wir noch in diesem Jahr in den neuen Bundesländern schwarze Zahlen schreiben werden, scheint sich nicht zu bewahrheiten. Die Allgemeinen Ortskrankenkassen in den neuen Bundesländern beginnen bereits, rote Zahlen zu schreiben, obwohl im letzten Jahr der Überschuß in den neuen Bundesländern 2,8 Milliarden DM betrug.
Rekordbeitragssätze in den alten Bundesländern, Rekorddefizite in der Geschichte der deutschen Sozialversicherung in der Gesundheitspolitik, rote Zahlen in den neuen Bundesländern - darauf kann es nur eine Antwort geben: So kann es nicht weitergehen. Hier helfen uns keine roten Karten, hier helfen uns keine bunten Plakate, hier helfen uns keine lauten
Kongresse. Hier hilft uns nur die Kraft zum Handeln. Diesen Mut hat die Koalition.
({4})
Meine Damen und Herren, wenn wir jetzt, in dieser dramatischen Situation, nicht handeln, werden wir an der Schnittstelle 1994/95 einen durchschnittlichen Beitragssatz von über 15 % haben. Dies bedeutet für einzelne Regionen in der Bundesrepublik Deutschland einen Spitzenbeitragssatz von etwa 20 %. Wir hätten diesen durchschnittlichen Beitragssatz von 15 % bereits jetzt, wenn diese Koalition nicht 1988 die erste Gesundheitsreform durchgeführt hätte.
({5})
Der Erfolg der ersten Gesundheitsreform läßt sich in Mark und Pfennig nachweisen. Durch diese Gesundheitsreform ist von 1989 bis heute eine Beitragsentlastung von 50 Milliarden DM entstanden. Ich denke, der Erfolg des Gesundheits-Reformgesetzes kann sich sehen lassen. Wir haben bei der Verabschiedung der ersten Gesundheitsreform immer gesagt, daß eine zweite Stufe notwendig ist. Diese zweite Stufe der Gesundheitsreform leiten wir jetzt ein.
Lieber Norbert Blüm, es gibt kein größeres Anerkenntnis des Erfolges dieser ersten Gesundheitsreform als die Äußerung von Herrn Bourmer in der sehr hitzigen Diskussion in der letzten Woche, die lautete: „Wir Ärzte wollen unseren Norbert Blüm wiederhaben! "
({6})
- Durch Horst Seehofer wird Norbert Blüm erst richtig schön für die Ärzte.
Meine Damen und Herren, die einzigen Reaktionen, die von uns bisher in den letzten zwei Jahren auf diese dramatische Entwicklung erfolgt sind, waren Beitragserhöhungen, und diese einfache Antwort können wir uns nicht mehr länger leisten. Beitragserhöhungen sind gesundheitspolitisch falsch. Sie sind ökonomisch gefährlich, und sie sind auch sozial ungerecht.
Sie sind, meine Damen und Herren, gesundheitspolitisch falsch, weil wir mit den derzeitigen Beitragserhöhungen nicht ein Mehr an Gesundheit finanzieren, sondern Unwirtschaftlichkeiten und Verschwendung.
({7})
Wenn wir ein Wundermittel gegen Krebs oder Aids finden würden, würden wir mit gutem Recht über Beitragserhöhungen diskutieren können. Aber das ist ja nicht der Fall. Wir finanzieren ja nicht mehr Gesundheit durch den aktuellen Kostenschub.
Es wird immer als Begründung angegeben: Das ist ja ganz natürlich, daß die Kosten, die Ausgaben explodieren, weil die Lebenserwartung steigt und der medizintechnische Fortschritt voranschreitet. Meine Damen und Herren, dieses Argument ist mittel- und
langfristig nicht zu bestreiten, aber es ist keine Erklärung für die aktuellen Kostenschübe.
({8})
Wenn die Ausgaben für den Zahnersatz im ersten Quartal 1992 um über 17 % gestiegen sind, kann das doch niemand damit erklären, daß im gleichen Jahr etwa die Lebenserwartung um 17 % gestiegen sei. Die gleichen Steigerungsraten haben wir - annähernd - bei Heilmitteln, bei Arzneimitteln.
({9})
Nein, meine Damen und Herren, da gibt es eine ganze Menge von Unwirtschaftlichkeiten und unnötigen Mengenausweitungen. Wir haben die zweithöchste Arztdichte in ganz Europa. Allein in den letzten zehn Jahren kamen 17 000 Kassenärzte - das sind 25 % - hinzu. Und niemand wird bestreiten wollen, daß zwischen steigenden Arztzahlen und steigenden Ausgaben ein unmittelbarer Zusammenhang besteht.
({10})
Wir sind Weltmeister im Schlucken von Pillen und Tröpfchen. Eine hoher Anteil von verschriebenen Arzneimitteln wird angebrochen, aber nicht aufgebraucht und landet auf dem Arzneimüll. Kein Patient oder kaum ein Patient verläßt die Arztpraxis ohne ein Rezept.
Meine Damen und Herren, niemand bestreitet, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland zu viele Krankenhausbetten haben, daß wir im Krankenhaus ein hohes Maß an Fehlbelegungen haben, daß wir in Deutschland viel zuviel stationäre und viel zuwenig ambulante Behandlung durchführen.
({11})
Niemand wird ernstlich in Frage stellen können, daß wir in der teuren Apparatemedizin z. B. einen Anteil von 30 % überflüssigen Röntgen- oder Laborleistungen haben. Jeder kennt doch die Probleme mit den Mehrfachuntersuchungen, mit den großen Arzneimittelpackungen. Hier liegen große Wirtschaftlichkeitsreserven für das Einsparen.
({12})
Deshalb ist es gesundheitspolitisch falsch, mit steigenden Beiträgen Verschwendung und unerwünschte Mengenausweitung zu finanzieren.
({13})
Steigende Beiträge sind auch ökonomisch gefährlich. Das hat uns diese ganze Woche begleitet. Steigende Beiträge belasten die Arbeitskosten, gefährden Arbeitsplätze und die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Man muß sich einmal vorstellen, was es bedeutet, wenn in Regionen wie Dortmund oder Hamburg bei Nichthandeln der Politik ein Beitragssatz von annähernd 20 % erreicht wird. Wenn ich 18 oder 19 % Rentenversicherungsbeitrag und über 6 % Arbeitslosenversicherungsbeitrag dazuzähle, wären manche Arbeitnehmer in den unteren Lohngruppen besser beraten, sie ließen sich die
Abzüge auszahlen statt der Nettolöhne. Auch so kann es nicht weitergehen.
({14})
Höhere Beiträge sind auch sozial ungerecht. Ich gebe zu, daß dies in der Öffentlichkeit in der Konkurrenzsituation zur Selbstbeteiligung und Zuzahlung nicht einfach darzustellen ist. Es ist viel einfacher zu sagen: Selbstbeteiligung ist Abkassieren. Nur, meine Damen und Herren, die Stabilität der Beiträge liegt insbesondere auch im Interesse der Menschen, die über einen schmalen Geldbeutel verfügen, im Interesse von Menschen mit normalem Einkommen und insbesondere auch im Interesse von Rentnern.
({15})
Was entsteht denn, wenn die Ausgaben stärker als die Einnahmen steigen? Dann entsteht ein Defizit, und ein Defizit von heute ist die Beitragserhöhung von morgen. Und eine Beitragserhöhung bedeutet, daß in jedem Falle der Krankenversicherungsbeitrag für die Rentner steigt, daß die Arbeitgeberbelastung beim Lohn steigt, und zwar mit dem Arbeitnehmerbeitrag. Die Menschen kommen noch von einer zweiten Seite in die Zange, weil der Arbeitgeberbeitrag, wo immer es möglich ist, in die Preise einfließt. Das heißt, im Kern finanziert der Beitragszahler ein Defizit.
Was hat denn ein Rentner von einer 3%igen Rentenerhöhung, wenn auf der einen Seite die Preise über 3 % hinaus steigen, auf der anderen Seite auch der Krankenversicherungsbeitrag? Dann hat der Rentner unter dem Strich nach einer Rentenerhöhung weniger als vorher. Deshalb müssen wir handeln.
({16})
Die Finanzierung eines Defizits in der gesetzlichen Krankenversicherung trifft den Beitragszahler, die Rentner, die Menschen mit schmalem Geldbeutel stärker als die Belastungen durch dieses Reformwerk. Deshalb liegt die Beitragsstabilität auch im Interesse der Beitragszahler und Patienten. Jeder Patient, meine Damen und Herren - dies wird oft vergessen -, ist auch Beitragszahler.
({17})
Deshalb steht für diese Koalition eindeutig fest: Beitragssatzerhöhungen sind die denkbar schlechteste Antwort auf die Kostenexplosion. Beitragserhöhungen sind die unsozialste Form der Lösung dieses Problems. Keines der dringenden Probleme wird damit gelöst. Deshalb wollen wir mit aller Entschlossenheit dieser Automatik, diesem Teufelskreis von steigenden Ausgaben und steigenden Beiträgen mit dieser Reform entgegentreten.
({18})
Nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden bei dieser Reform natürlicherweise zuallererst über das Geld. Aber ich möchte hier einmal als Zwischenbemerkung einschieben, daß es uns nicht nur um Sozialtechnik und materielle Betrachtungsweisen dieses Problems gehen darf. Ich halte ein Gesundheitswesen für ungerecht, wenn wir auf der einen Seite Milliarden für Unwirtschaftlichkeiten und unerwünschte Mengenausweitungen aufwenden und wenn auf der ande8990
ren Seite nicht die notwendigen Mittel für große sozialpolitische Herausforderungen zur Verfügung stehen.
Ich halte es geradezu für eine ethische Verpflichtung der Politik, die Mittel von der Verschwendung, von der unerwünschten Mengenausweitung wegzuziehen und dorthin zu lenken, wo die Menschen wirklich Hilfe brauchen. Da haben wir auch noch Aufgaben, wenn ich an die Pflegebedürftigen denke. Das sind Menschen, die gefüttert und gewickelt werden müssen, die rund um die Uhr betreut werden müssen, die ohne fremde Hilfe überhaupt nicht leben können. Es ist ein ethisches Gebot, Mittel von der Verschwendung wegzunehmen und zugunsten der Pflegebedürftigen in unserer Gesellschaft einzusetzen.
({19})
Meine Damen und Herren, wenn man ein so schwieriges und gewaltiges Reformwerk angeht, muß man auch das Ziel kennen, damit man den richtigen Weg einschlagen kann. Eine Zeitung hat in der letzten Woche geschrieben - ich weiß nicht, ob es ein Tadel oder eine Auszeichnung ist -, ich sei der erste Sozialist am Kabinettstisch von Helmut KohL
({20})
- Ich vermisse Beifall von der linken Seite dieses Hauses. „Sozialist" scheint kein moderner, kein fortschrittlicher Begriff mehr zu sein.
({21})
Wir müssen hier deutlich machen, welches Ziel wir als Koalition wirklich verfolgen. Da gibt es nicht die geringsten Zweifel zwischen CDU/CSU und F.D.P.
({22})
Wir wollen ein freiheitliches Gesundheitswesen, wir wollen ein pluralistisches Gesundheitswesen, und wir wollen ein solidarisches Gesundheitswesen.
({23})
Zur Freiheitlichkeit des Gesundheitswesens zählt die Freiberuflichkeit, zählt die Therapiefreiheit des Arztes, zählt die freie Arztwahl, zählt auch die Pluralität des Angebots gerade in der Krankenhauslandschaft, und dazu gehören auch freigemeinnützige, private und kirchliche von jeder Konfession. Meine Damen und Herren, zur Freiheitlichkeit des Gesundheitswesens gehört auch die Selbstverwaltung - trotz aller Mängel, die es da und dort gibt. Deshalb treten wir für die Vorfahrt der Selbstverwaltung in diesem Gesetzgebungsverfahren ein, obwohl in der Öffentlichkeit genau das Gegenteil behauptet wird.
({24})
Selbstverwaltung heißt auch Selbstverantwortung, meine Damen und Herren.
({25})
Wer für die Selbstverwaltung eintritt, muß die Aufträge, die die Selbstverwaltung hat, auch erfüllen.
Vielleicht würden wir heute hier nicht diskutieren, wenn die Selbstverwaltung in den letzten Jahren die Aufträge, die sie durch die erste Gesundheitsreform 1989 bekommen hat, fristgerecht erledigt hätte.
({26})
Wenn die Verantwortung durch andere nicht wahrgenommen wird, dann müssen wir als Politiker dafür sorgen, daß richtige Maßnahmen in der Praxis durch Ersatzvornahmen umgesetzt werden. Das darf man uns nicht zum Vorwurf machen.
Wir haben nun folgende Situation: Drei Jahre standen bisher zur Verfügung für die Einführung von Richtgrößen, Wirtschaftlichkeitsprüfungen, Qualitätsprüfungen und für mehr Transparenz im Gesundheitswesen. Wir geben jetzt der Selbstverwaltung für die Verwirklichung dieser Aufträge noch einmal Zeit bis Ende 1994, weil wir akzeptieren, daß im Zusammenhang mit der deutschen Einheit Probleme in bezug auf die Arbeitsbelastung in der Selbstverwaltung bestanden. Bis Ende 1994 sind dann insgesamt sechs Jahre seit der erstmaligen Auftragserteilung vergangen. Wenn die dafür zuständigen Stellen in dieser Zeit ihre Verantwortung nicht wahrnehmen, können der Gesundheitsminister und die Aufsichtsbehörden handeln. Wenn die staatlichen Verwaltungen dann handeln, kann jedoch ein nachträgliches Handeln der Selbstverwaltung das staatliche Handeln wieder außer Kraft setzen.
Meine Damen und Herren, mehr Vorrang für die Selbstverwaltung als die soeben angesprochenen sechs Jahre mit der zusätzlichen Möglichkeit der Aushebelung staatlicher Ersatzvornahme durch eigenes Handeln der Selbstverwaltung ist kaum vorstellbar.
({27})
Ich sage: Wir wollen eine solidarische Krankenversicherung. Das heißt, daß diese Krankenversicherung auch in Zukunft das solidarisch abdecken muß, was der einzelne und seine Familie nicht leisten können. Ich füge hinzu: Die gleichen finanziellen Probleme, die die gesetzliche Krankenversicherung begleiten, hat in gleichem Umfang - in Teilbereichen sogar noch stärker - die private Krankenversicherung. Dies macht deutlich, daß es weniger um eine Systemfrage, sondern mehr um Strukturfragen geht.
Wir wollen eine solidarische Krankenversicherung. Das heißt, daß wir den Segen des medizinischen Fortschritts allen Menschen in diesem Lande zugute kommen lassen wollen, und zwar unabhängig vom Alter, unabhängig vom sozialen Stand und auch unabhängig vom persönlichen Einkommen. Wir wollen keine Auslese bei der medizinischen Versorgung nach Lebensalter, wie dies in manchen europäischen Ländern geschieht, und wir wollen vor allem auch kein Gesundheitssystem wie in den Vereinigten Staaten, wo 40 Millionen Menschen überhaupt keine Absicherung im Krankheitsfall haben, weil sie es sich entweder nicht leisten können oder von den Versicherungen aus Risikogründen nicht aufgenommen werBundesminister Horst Seehof er
den. Eine solche Krankenversicherung wollen wir nicht, meine Damen und Herren.
({28}) Unser Konzept setzt drei Schwerpunkte.
Erstens. Wir haben nicht zuwenig Einnahmen, sondern zuviel Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung. Deshalb ist die erste und wichtigste Antwort ein rigoroser Sparkurs, eine Sofortbremsung, die verhindert, daß sich ab 1993 die Schere zwischen Ausgaben und Einnahmen weiter auseinanderentwickelt. Dies heißt konkret, daß wir zeitlich befristet - nicht, wie oft behauptet wird, unbefristet - im Gesetz dafür sorgen, daß sich die Pflegesätze im Krankenhaus und die Arzthonorare 1993, 1994 und 1995 nicht stärker als die Löhne und Gehälter der Beschäftigten nach oben entwickeln können.
Ich denke, das ist das mildeste Mittel, das denkbar ist. Das ist eine zumutbare Lösung für die Ärzte, für die Zahnärzte und auch für die Krankenhäuser, um in dieser schwierigen Situation der gesetzlichen Krankenversicherung in den Sparbeitrag einbezogen zu werden.
({29})
Es geht um die Begrenzung der Zuwächse - zeitlich befristet. Meine Damen und Herren, ich kann gar nicht verstehen, daß dies als Sozialismus oder Planwirtschaft eingestuft wird. Ich halte nichts davon, daß man auf Dauer budgetiert. Auf längere Sicht muß man andere strukturelle Maßnahmen haben. Aber eine zeitlich befristete Budgetierung in dieser dramatischen Situation - das halte ich für selbstverständlich; denn keine Familie, kein Handwerksbetrieb und kein mittelständischer Betrieb können auf Dauer mehr ausgeben, als sie einnehmen.
({30})
Meine Damen und Herren, das ist ein Prinzip der Marktwirtschaft. Das hat nicht das geringste mit Sozialismus oder Planwirtschaft zu tun. Deshalb stehe ich voll hinter dieser Maßnahme. Das Prinzip, daß man auf Dauer nicht mehr ausgeben kann, als man einnimmt, ist eine Grundregel der Betriebs- und der Volkswirtschaft. Ich bin dafür, daß wir dies zeitlich befristet auch in der gesetzlichen Krankenversicherung verwirklichen. Das ist die erste Sofortmaßnahme, die wir ergreifen müssen.
({31})
Aber wir beschränken uns nicht auf diese Sofortbremsung. Wir gehen auch an die Wurzeln der Entwicklung heran,
({32})
indem wir strukturelle Maßnahmen einleiten. Ich sage Ihnen: Tiefgreifende Strukturveränderungen müssen her.
Graf Lambsdorff, der sicher aus begründetem Anlaß abwesend ist, sage ich über das Mikrofon: Dieses Reformwerk ist weit mehr als ein Reparaturgesetz. Ich muß alle Experten der Koalition, von CDU, CSU und F.D.P., vor dem Vorwurf,
({33})
wir hätten nur ein Flickwerk, ein Reparaturgesetz gemacht, in Schutz nehmen.
({34})
Wir leiten tiefgreifende Strukturänderungen ein, z. B. im Krankenhaus, bei den Arztzahlen, beim Zahnersatz durch eine Regelwahlleistung und dadurch, daß wir bei den freiwillig Versicherten die Möglichkeit der Kostenerstattung auf freiwilliger Basis einführen. Wir verwirklichen die Richtgrößen und Wirtschaftlichkeitsprüfungen. Erstaunlicherweise sind jetzt die Richtgrößen, die von den Ärzten drei Jahre lang bekämpft wurden, als Alternative zu diesem Gesetzentwurf von den Ärzten vorgeschlagen worden.
({35})
Und was in der öffentlichen Diskussion häufig übersehen wird: Wir verbinden trotz dieses großen Sparprogramms damit auch einen Umbau des Sozialstaats. Auch das ist eine strukturelle Veränderung. Wir verabschieden ebenfalls neue Personalanhaltszahlen für die Krankenhäuser, die gewährleisten, daß wir in den nächsten vier Jahren in den deutschen Krankenhäusern insgesamt 26 000 Stellen mehr haben.
({36})
Meine Damen und Herren, wir haben in den letzten Jahren alle miteinander den Dienst an der Maschine und den Dienst am Schreibtisch höher bewertet als den Dienst für den Menschen. Hier müssen wir umsteuern. Da helfen keine schönen Sätze, daß man den Pflegeberuf ideell und materiell aufwerten muß. Nein, da müssen wir auch handeln, indem wir mehr Stellen für die hochbelasteten Pflegekräfte in den Krankenhäusern zur Verfügung stellen.
({37})
Wenn wir 11,4 Milliarden DM einsparen und einen Teil davon dazu verwenden, die Pflegefachberufe, z. B. die Schwestern, zu unterstützen, dann ist das ein Umbau des Sozialstaats. Ich setze alles daran, daß ich meine Zusage auf einer sehr vergnügungssteuerpflichtigen Massendemonstration auf dem Münsterplatz, die ich den Schwestern und Pflegern gegeben habe, auch einhalte. Ich hoffe, daß mich die SPD an der Verwirklichung der Glaubwürdigkeit - gerade in diesem Punkt - nicht hindern wird.
({38})
Ich hoffe, daß die SPD ein solches Verhalten nicht vertreten kann.
Meine Damen und Herren, ein weiteres Strukturelement ist die Einführung der Transparenz. Es wird höchste Zeit, daß die Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung durch einen Kontoauszug erfahren, was im Falle der ärztlichen Behandlung im konkreten Fall verschrieben und in Rechnung gestellt wird. Das führen wir durch dieses Gesetz ein.
({39})
Das sind tiefgreifende strukturelle Maßnahmen.
Meine Damen und Herren, es steht auch fest, daß wir das Gehäuse unserer gesetzlichen Krankenversicherung langfristig neu zimmern müssen. Das ist heute keine aktuelle Aufgabe in diesem Reformwerk. Aber ich sage dies mit Absicht an dieser Stelle so deutlich. Lieber Norbert Blüm, wir haben diesen Punkt 1988, nämlich daß eine zweite Stufe notwendig ist, gemeinsam nicht ausreichend in die Köpfe der Menschen gebracht. Jetzt wird die zweite Stufe als Antwort auf das Scheitern der ersten Stufe eingestuft. Aber sie war genau so geplant.
Wir brauchen etwa Mitte dieses Jahrzehnts eine dritte Stufe, in der das Verhältnis zwischen Solidarität und Eigenverantwortung neu definiert wird. Ich bin der festen Überzeugung, daß wir mit der Krankenversicherung von heute, mit dem Leistungskatalog von heute die gewaltigen Herausforderungen der Demographie, des medizinischen Fortschritts im nächsten Jahrhundert nicht bewältigen können.
({40})
Da können wir nicht erst handeln, wenn die Situation uns wieder dazu zwingt. Ich plädiere sehr dafür, daß wir das präventiv machen. Wir müssen eine Antwort darauf finden, was solidarisch, gemeinschaftlich in einer Zwangsversicherung, nämlich der gesetzlichen Krankenversicherung, abgesichert werden muß und kann und was wir der Eigenverantwortung der Menschen übertragen können und müssen.
Diese Antwort sollte nicht in diesem Gesetz gegeben werden, weil es eine sehr schwierige Antwort ist. Da dürfen wir keine Flickschusterei betreiben. Deshalb haben wir uns darauf verständigt, daß wir den Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion mit einem Sondergutachten beauftragen, damit er uns Vorschläge macht, nach welchen Regeln und Kriterien diese Neuabgrenzung zwischen Solidarität und Eigenverantwortung stattfinden kann.
Dazu möchte ich nicht nur den Sachverständigenrat der Konzertierten Aktion einladen, sondern es sind alle eingeladen. Ich lade die Ärzte ausdrücklich ein, sich in den nächsten ein, zwei Jahren rechtzeitig Gedanken über diese Neukonstruktion zu machen, damit die Situation dieser Woche vermieden wird, gewissermaßen zwölf Stunden vor der Beratung eines Gesetzentwurfes mit Sonderärztetagen eine Alternative auf den Tisch legen zu müssen. Vielleicht hätten wir die Alternative nie bekommen, wenn wir in den letzten Wochen und Monaten nicht so standhaft geblieben wären.
({41})
Es reicht nicht aus, gegen Macht zu sein. Vielmehr brauchen wir bei den Standesvertretungen, bei den Verbänden Gestaltungsmacht. Deshalb lade ich alle Ärzte und alle anderen Gruppen des Gesundheitswesens ein, die nächste Zeit zu nutzen, hier Konzepte zu entwickeln, damit wir diese dritte Stufe bewältigen können. In dieser dritten Stufe müssen wir auch über die jetzt durch Datenerhebung eingeleitete Krankenkassenreform endgültig entscheiden.
Meine Damen und Herren, wir können nicht auf unabsehbare Zeit den Arbeitern in der gesetzlichen Krankenversicherung ein freies Kassenwahlrecht vorenthalten, und wir können nicht auf unabsehbare Zeit die Augen vor den unterschiedlichen Risikostrukturen in den Kassenarten verschließen.
({42})
Das sind unsere drei Schwerpunkte: Sofortbremsung, Einleitung struktureller Maßnahmen auf vielen Gebieten
({43})
und Vorbereitung einer langfristigen Neuordnung der gesetzlichen Krankenversicherung in punkto Leistungskatalog und Krankenkassenreform. Diese drei Maßnahmen zusammen werden 1993 zu einem Einsparvolumen von 11,4 Milliarden DM führen, sozial gerecht verteilt: 8,2 Milliarden DM bei den Leistungserbringern, also Krankenhausärzten, Apothekern, Pharmabereich, Zahntechnikern, Zahnärzten, und 3,2 Milliarden DM bei den Versicherten.
Meine Damen und Herren, über 70 % des Sparbeitrages tragen die Leistungserbringer und unter 30 % die Versicherten. Ich denke, man kann mit Fug und Recht von einer gerechten Verteilung der Sparlasten sprechen.
({44})
Ein Thema hat in den letzten Tagen eine besondere Rolle gespielt, nämlich das sogenannte Arzneimittelbudget. Wir bekommen ja mit diesem Gesetz, auch wenn viele es nicht glauben, einen Solidarbeitrag der Pharmahersteller durch eine gesetzliche Absenkung der Preise 1993 und 1994. Das wird 1993 und 1994 insgesamt ein Solidarbeitrag von über 3 Milliarden DM sein. Die Koalition ist fest entschlossen, diesen Solidarbeitrag auch durchzusetzen.
({45})
Dieser Solidarbeitrag ist notwendig, weil wir auf der anderen Seite eine verstärkte Selbstbeteiligung der Versicherten bei den Arzneimitteln bekommen.
Meine Damen und Herren, ich muß einmal darauf hinweisen, daß diese Selbstbeteiligung, die jetzt gefunden worden ist, eine große Ungerechtigkeit, die im nächsten Jahr eintreten würde, verhindert, nämlich daß sich die im Gesetz bereits enthaltene 15 %Selbstbeteiligung bei Arzneimitteln vorwiegend auf die Arzneimittel konzentrieren würde, die innovativ neu auf den Markt kommen, auf die Arzneimittel, die typischerweise bei schweren Erkrankungen verschrieben werden, während gleichzeitig Arzneimittel, die bei Bagatellerkrankungen verschrieben werden, dann zuzahlungsfrei wären. Es könnte auf Dauer nicht so bleiben, daß bei schweren Erkrankungen Zuzahlungen zu leisten wären und bei Bagatellerkrankungen Zuzahlungsfreiheit bestünde. Deshalb meine ich, daß wir hier jetzt ein Stück soziale Gerechtigkeit verwirklichen.
Ich möchte der Öffentlichkeit sehr sehr deutlich sagen, daß die Härtefallregelung bei Arzneimitteln nach wie vor bestehen bleibt, ja, daß wir uns im Gesetzgebungsverfahren darum bemühen werden, die Härtefallregelung noch transparenter und verständlicher zu machen, damit auch wir Politiker, die wir manchmal nachlesen müssen, was alles in der Härtefallregelung steht, sie verstehen. Darauf werden wir noch etwas Gehirnschmalz verwenden müssen. Es bleibt bei der Härtefallregelung, wonach Menschen, die ein bestimmtes Einkommen nicht überschreiten, von Zuzahlungen völlig befreit sind, und bei der Überforderungsklausel, wonach Patienten nur mit einem bestimmten Anteil ihres Einkommens Zuzahlungen leisten müssen, nämlich 2 % und Höherverdienende 4 %. Darüber hinaus kann niemand zu Zuzahlungen herangezogen werden.
Es bleibt also bei dieser Härtefallregelung. Das ist der soziale Ausgleich bei den Zuzahlungsregelungen, und dieser soziale Ausgleich ist, wie wir wissen, in der Praxis treffsicher, weil er die Menschen, die wirtschaftlich nicht so leistungsfähig sind, vor Überforderung schützt. Dabei bleibt es!
({46})
Nun machen wir das Arzneimittelbudget, und zwar nicht deshalb, weil wir etwa große Anhänger von Budgetierungen sind. Auch das Arzneimittelbudget ist zeitlich befristet. Ich möchte hier noch einmal den wesentlichen Grund für dieses Budget sagen: Wenn wir 1993 und 1994 die Preise gesetzlich um 5 % senken, dann müssen wir dafür Sorge tragen, daß diese Preissenkung nicht durch Strukturkomponenten und Mengenentwicklung unterlaufen wird.
({47}) Das ist der entscheidende Grund.
Nun könnte man sagen: Dafür haben wir doch die Selbstbeteiligung. Aber wir wissen seit 1989, daß die Selbstbeteiligung, für sich allein betrachtet, nicht die Steuerungswirkung auslöst, die sich viele von ihr versprochen haben. Wir haben seit 1989 in den Bereichen, in denen wir die höchste Selbstbeteiligung haben, auch die größte Mengenentwicklung, den größten Mengenzuwachs. Deshalb können wir nicht allein auf die Steuerungswirkung der Selbstbeteiligung vertrauen. Wir würden uns ja geradezu der Lächerlichkeit preisgeben, wenn wir den Solidarbeitrag der Pharmahersteller, den sie übrigens - mit Ausnahme einzelner Firmen - sehr klug begleiten, jetzt als großes Sparopfer der Pharmaindustrie darstellten und diese Preissenkung dann im Herbst 1993 durch Mengenentwicklung vielleicht überholt würde, Das darf nicht passieren. Deshalb müssen wir Sorge dafür tragen, daß die Mengen nicht explodieren. Nur darum geht es, meine Damen und Herren.
({48})
Wir stellen für 1993 - und es geht, um das noch einmal deutlich zu sagen, um ein einziges Jahr; anschließend ist dies Sache der Selbstverwaltung - gesetzlich ein Arzneimittelvolumen zur Verfügung, das in seiner Höhe in der Bundesrepublik Deutschland bisher erst einmal verbraucht wurde, nämlich über 24 Milliarden DM. Das ist der Spitzenwert für den Medikamentenverbrauch in der Bundesrepublik
Deutschland. Den kürzen wir nicht, sondern stellen ihn 1993 zur Verfügung. Deshalb ist die Mär, chronisch Kranke, Allergiker, Diabetiker, Herzkranke, Rheumatiker, würden nicht mehr die notwendigen Mittel erhalten, absolut falsch. Ich garantiere, meine Damen und Herren: Auch nach dieser Reform bekommt jeder Kranke sein medizinisch notwendiges Medikament!
({49})
Ich sage in diesem Zusammenhang noch einmal: Wir reduzieren nicht die Qualität, wir reduzieren nicht das Versorgungsniveau, sondern das einzige, was wir tun, ist, Verschwendung und Unwirtschaftlichkeit wegzunehmen. Und die gleichen Standesvertreter und Ärzte, die sagen, das Arzneimittelbudget könne zu einer Beeinträchtigung der Therapiefreiheit führen, sagen in ihren Beschlußpapieren: Grenzt doch unwirksame Arzneimittel aus, die es in Milliardenhöhe gibt. Man kann doch nicht auf der einen Seite sagen: „Wir können nicht mehr genug verordnen" und auf der anderen Seite zugeben, daß es in diesem Leistungskatalog unwirksame Arzneimittel in Milliardenhöhe gibt, die wir ausgrenzen können.
({50})
Gleichwohl sage ich: Das Einsparvolumen gerade in diesem Punkt muß erreicht werden. Doch hinsichtlich des Instruments sind wir, ist die Koalition natürlich gesprächsbereit.
({51})
Aber es darf nicht die Illusion entstehen, daß wir das Sparvolumen dann aufgeben. Es muß bei der gerechten Lastenverteilung bleiben; über Instrumente kann man reden.
({52})
Steigende Zahl der Kassenärzte: Ich sagte schon, es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen steigenden Arztzahlen und steigenden Ausgaben. Deshalb müssen wir eine Antwort auf dieses Thema finden. Unser Vorschlag ist, wie Sie wissen, die Bedarfszulassung. Ich weiß, daß dies eine verfassungsrechtliche Frage von hohem Rang ist. Aber wir sind überzeugt, daß wir dieses Problem nicht anders lösen können. Wenn wir die Antwort in diesem Gesetzgebungsverfahren darauf nicht finden, dann sind staatliche Dauerinterventionen unvermeidbar.
Viele Verfassungsjuristen schlagen uns vor, die Dauerintervention der Honorardeckelung zu machen. Das wäre der weitaus schärfere Eingriff, weil er an die Qualität und an die Existenz der bestehenden Praxen geht. Die Auswirkungen dieses auf den ersten Blick sehr verführerischen Vorschlags beginnen doch schon beim Medizinstudium. Ich habe dagegen unter dem Gesichtspunkt der Qualität der Medizinerausbildung überhaupt nichts einzuwenden; anders könnten wir da verfassungsrechtlich ohnehin nicht ran. Die ganzen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit Föderalismus lasse ich jetzt einmal beiseite; das Ganze ist ja Kulturhoheit.
Aber unabhängig vom Verfassungsrecht und unabhängig davon, daß es unter Qualitätsgesichtspunkten Sinn machen würde, beim Zugang und bei der Praxis8994
bezogenheit etwas am Medizinstudium zu ändern, muß man darauf hinweisen, daß dies die Bedarfsfrage, nämlich die ständig steigende Kassenarztzahl, in keiner Weise steuert oder löst. Denn die Europäische Gemeinschaft ermöglicht es, daß jeder, der in Europa Medizin studiert, in Deutschland als Arzt zugelassen werden muß. Jeder deutsche Medizinstudent, der im Ausland studiert, muß in Deutschland ebenfalls zugelassen werden. Wenn wir das Medizinstudium für deutsche Studenten jetzt unter Bedarfsgesichtspunkten - das wäre rechtlich gar nicht zulässig - verschärfen würden, dann würden wir bezüglich der zusätzlichen Kassenzulassungen in der Bundesrepublik Deutschland wegen der Freizügigkeit in Europa nichts erreichen. Das wäre eine Maßnahme, die sich allein gegen die deutschen Medizinstudenten richtet.
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Krankenhaus - ein Kernpunkt unseres Strukturkonzeptes. Ich sage auch hier noch einmal: Ohne Einbeziehung des Krankenhauses gibt es keine Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Wir alle kennen doch die Fälle - sie werden uns jetzt täglich in Briefen geschildert -, daß die Patienten ausgerechnet am Montag oder Dienstag entlassen werden.
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Warum wird immer mehr stationär behandelt? Warum steigt die Häufigkeit der Krankenhausaufenthalte in den letzten zehn Jahren um fast 50 %? Sind denn die Menschen um so viel kränker geworden?
Meine Damen und Herren, das Krankenhaus ist eine Stätte der Hochleistungsmedizin. Ich bin sehr dafür, daß es auch so bleibt. Aber dies heißt doch nicht, daß es nicht auch dort Wirtschaftlichkeitsreserven gibt, die wir nutzen müssen. Wir müssen beispielsweise das Vergütungssystem, das Selbstkostendekkungssystem im Krankenhaus durch leistungsorientierte Vergütungen wie Sonderentgelte und Fallpauschalen ablösen.
({55})
Wir müssen dafür sorgen, daß wir mehr ambulant - im niedergelassenen Bereich und möglicherweise auch im Krankenhaus - und weniger stationär behandeln. Auch dazu sieht der Gesetzentwurf Ansatzpunkte vor; man kann sie vielleicht noch verstärken.
Was die 11 DM Zuzahlung im Krankenhaus betrifft: Wir wollen die Hochleistungsmedizin für die Menschen gerade im Krankenhaus; das kostet Geld. Wir wollen die optimale pflegerische Betreuung. Aber wenn wir das wollen - was wir auch finanzieren können müssen -, dann müssen wir mit der Bevölkerung eine Diskussion führen, ob sie nicht bereit ist, sich wenigstens an der Verpflegung im Krankenhaus zu beteiligen.
({56})
Ich bin sehr dafür, daß wir diese Diskussion führen;
denn wenn wir das nicht tun, dann müßten wir die
Qualität zurückführen. Das wäre der weitaus größere Eingriff für die Menschen.
Natürlich müssen wir uns die Extremfälle, die uns genannt wurden, anschauen und im Gesetzgebungsverfahren überlegen, ob wir im Sinne einer Härtefallregelung hier sozial etwas abfedern können.
({57})
Die Krankenhäuser - da bin ich sicher - bleiben auch in Zukunft der Ort der Hochleistungsmedizin. Es gibt keinen Grund zur Sorge, daß die Trägervielfalt im Krankenhausbereich durch dieses Gesetz gefährdet sein könnte. Das wollen wir nicht.
Meine Damen und Herren, nach der Entwicklung der letzten Tage möchte ich zum Stil der Auseinandersetzung nur zwei Bemerkungen machen. Ich denke, es ist legitim, ja sogar notwendig, daß Verbände und Standesvertretungen in der Bundesrepublik Deutschland bei einem Reformwerk ihre Interessen mit allem Nachdruck vertreten; das müssen sie. Ein Politiker, der dies nicht aushält, wäre falsch am Platz. Nur, auch diese Auseinandersetzung muß sich innerhalb der demokratischen Spielregeln abspielen. Ich sagte eingangs, sie darf vor allem nicht auf dem Rücken der Kranken und der Hilfebedürftigen ausgetragen werden.
({58})
Ich möchte Ihnen jetzt nicht jedes persönliche Erlebnis, das ich im Zusammenhang mit diesem Reformwerk hatte, vortragen. Aber wenn man mir persönlich vorwirft, ich würde mit diesem Reformwerk ein verkapptes Euthanasieprogramm und die Hinrichtung von Menschen verfolgen,
({59})
wenn man in Zeitungsanzeigen veröffentlicht „Wer früher stirbt, ist billiger für die Krankenversicherung" - dies stammt von einer Aktionsgemeinschaft der Kassenärzte -,
({60})
dann bitte ich um Verständnis, wenn ich sage: Hier ist die Schallmauer der Geschmacklosigkeit durchbrochen.
({61})
Ich konnte nicht anders, als durch die Nichtteilnahme an den Ärztetagen ein deutliches Signal in der Öffentlichkeit zu setzen.
({62})
Ich respektiere und vermerke mit Dank, daß sich die Spitzenvertreter der deutschen Ärzteschaft an diesen beiden Tagen distanziert haben.
({63})
Ich möchte dem Ersten Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Dr. Ulrich Oesingmann,
ausdrücklich danken. Wir haben uns in den letzten Tagen und Wochen beide nichts geschenkt; aber ich habe mit großem Respekt begleitet, wie er mit der Spitze der KBV den Kurswechsel, nämlich hin zu Dialogbereitschaft und zur Alternative, in dieser Woche eingeleitet hat. Wer die Verhältnisse in der Ärzteschaft bis zu diesem Tage kannte, weiß, daß dazu eine gehörige Portion Mut gehört hat. Deshalb möchte ich ihm hier vor aller Öffentlichkeit danken, daß er den Faden in die Gesprächsspule wieder eingeführt hat. Es gibt nicht nur eine medizinische Verantwortung der Ärzte, sondern es gibt bei so einem Reformwerk auch eine soziale Verantwortung der Ärzte.
Meine Damen und Herren, ich bedanke mich auch bei den Krankenkassen, die dieses Reformwerk ohne Ausnahme verantwortungsvoll begleitet haben, obwohl die Versicherten davon betroffen sind. Sie haben mir immer wieder gesagt: Wir sind bereit, Verantwortung zu tragen, wenn die Lasten gerecht verteilt werden.
Ich sage für die ganze Koalition: Wir bleiben in den nächsten Wochen und Monaten dialogbereit, nicht nur mit den Ärzten, sondern auch mit den Kassenzahnärzten, mit der Krankenhausgesellschaft, den Zahntechnikern, den Apothekern und den Krankenkassen. Dialogbereitschaft heißt: Wenn gute Argumente auf den Tisch kommen, muß man auch bereit sein, etwas zu ändern. Da fällt niemandem ein Zacken aus der Krone, da geht es nicht um Eitelkeiten. Aber um Illusionen von vornherein vorzubeugen: Es muß gewährleistet bleiben, daß das Sparvolumen nicht verwässert wird und daß die Lastenverteilung gerecht bleibt.
({64})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Gesetz, dieses Reformwerk ist ein Prüfstein für die Umbaufähigkeit des Sozialstaates. Gefragt ist die Kraft zu Reformen anstelle des Klammerns an Besitzstände. Gefragt ist Mitmenschlichkeit, das Denken an das Gemeinwohl statt Egoismus. Gefragt sind jetzt rasche, eindeutige und nach Möglichkeit auch richtige Entscheidungen. So wie die Koalition in den letzten Wochen in höchstem Maß vertrauensvoll zusammengearbeitet hat, werden wir auch in den nächsten Wochen zusammenarbeiten.
Meine Damen und Herren, da wir die Zustimmung zu diesem Gesetz brauchen und da es um ein komplexes und ernstes Thema geht, möchte ich hier der SPD und den Bundesländern im Namen der Koalition das Angebot zu Gesprächen und zur Zusammenarbeit machen.
({65})
Ich bitte, in dieses Angebot nichts Falsches hineinzuinterpretieren. Dahinter stecken weder koalitionspolitische, taktische Fragen, noch hat irgend jemand die Absicht, Partner gegeneinander auszuspielen. Ich denke, es ist, wenn man die Zustimmung braucht, ein Gebot der Vernunft, das Gespräch frühestmöglich zu suchen - aber nicht nur wegen der Zustimmung.
Nachdem das Arbeitsförderungsrecht in einer großen, parteiübergreifenden Koalition konzipiert, die
Rentenreform parteiübergreifend durchgeführt und auch die Rentenüberleitung auf die fünf neuen Länder parteiübergreifend „gezimmert" worden ist, wäre es gut, wenn wir auch auf dem schwierigen Feld des Gesundheitswesens und der gesetzlichen Krankenversicherung zu einem großen Konsens kommen würden. Ich lade alle Beteiligten dazu ein.
Wenn wir das schaffen - ich bin sicher, daß wir es schaffen -, haben wir nicht nur einen gewaltigen Schritt zur Lösung der aktuellen Probleme getan, sondern auch einen Riesenschritt zur sozialen Zukunftsvorsorge, auf daß allen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland der Segen des medizinischen Fortschritts zu finanzierbaren Beiträgen zugute kommt.
Ich bitte Sie auf diesem Weg um Ihre Unterstützung. Zeigen Sie Gelassenheit, Lebensfreude! Dazu möchte ich auch die Bevölkerung ermuntern. Denn beides ist neben dem, was wir heute diskutieren, immer noch die beste Medizin.
({66})
Ich habe mich dieser Medizin, der Gelassenheit und der Lebensfreude, in den letzten Wochen bedient. Ich habe festgestellt, sie ist hochwirksam.
({67})
Als nächster spricht der Abgeordnete Rudolf Dreßler.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 1988, im November, stand an diesem Pult der Vorgänger von Herrn Seehofer, der damalige Gesundheitsminister Blüm. Sein Parlamentarischer Staatssekretär Seehofer saß hinter ihm. Herr Blüm erzählte uns: „Wir stimmen heute über eine Jahrhundertreform ab." Gelächter auf der Seite der Opposition, Ovationen auf der Seite der CDU/CSU und F.D.P. Ich stelle heute fest: Das CDU/CSU-F.D.P.-Jahrhundert dauert drei Jahre. Das ist Ihre Mengenlehre.
({0})
Wer die Einbringungsrede zu den beiden Gesetzentwürfen der Koalitionsfraktionen hier verfolgt hat, wer die darin aufgelisteten Probleme in unserem Gesundheitswesen registriert, der muß daran erinnert werden: Wir schreiben eben nicht das Jahr 1988, sondern das Jahr 1992. Bei der heute zur Beratung anstehenden Vorlage handelt es sich nicht um die damalige sogenannte Gesundheitsreform. Auf frappierende Weise gleichen sich nämlich die Problembeschreibungen damals und heute. Das beweist: Wir sind seither keinen Schritt weitergekommen.
({1})
Die Mängel im Gesundheitswesen bestehen nach wie vor. Noch so kunstvolle rhetorische Umschreibungsversuche können nicht verdecken, was offenkundig Tatsache ist. Das sogenannte Gesundheits-Reformge8996
setz von 1989 ist gescheitert, meine Damen und Herren.
({2})
Eindrucksvoller könnte der Beweis nicht ausfallen: Nach nur drei Jahren wird unser Gesundheitswesen abermals von einer schweren Kostenkrise heimgesucht. Bestürzender könnte die Bilanz für die Beitragszahler wie für die Patienten wohl nicht ausfallen. Trotz erheblicher zusätzlicher Lasten in Form von Selbstbeteiligungen und Leistungskürzungen von 7 Milliarden DM Jahr für Jahr streben die Beitragssätze der Krankenkassen auf ein nie gekanntes Rekordniveau zu. Die großen Ersatzkassen sehen sich zu Beitragssatzerhöhungen von über einem Prozentpunkt gezwungen. Mehrere große Ortskrankenkassen erreichen mit ihren Beitragssätzen mittlerweile die 16-%-Marke oder liegen gar noch darüber. Im laufenden Jahr müssen wir mit einem Defizit in der Krankenversicherung von 10 bis 12 Milliarden DM rechnen.
Jeder muß wissen: Die politische Verantwortung für diese Entwicklung trägt die Koalition, tragen die Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. Ihre Unfähigkeit, die Kraft zu einer wirklichen Reform des Gesundheitswesens aufzubringen, wirkt sich für die Patienten und Beitragszahler so verhängnisvoll aus wie beschrieben, meine Damen und Herren.
({3})
Ich will es mir an dieser Stelle versagen, meine Reden vom Herbst 1988 zu wiederholen, in denen ich für die SPD exakt jene Entwicklung prognostiziert habe, die nunmehr eingetreten ist.
({4})
Ich will statt dessen die Frage problematisieren, ob CDU/CSU und F.D.P. wenigstens nunmehr begriffen haben, daß derartige Gesetzesoperationen nicht weiterhelfen.
Die uns heute präsentierten Vorlagen machen mich allerdings skeptisch. Die Gesetzentwürfe greifen abermals zu kurz, werden den Problemen erneut nicht gerecht. Wenn die beiden Gesundheitsgesetze in der heute vorliegenden Form verabschiedet würden, wäre die nächste Kostendämpfungsoperation im Gesundheitswesen schon für 1995 vorprogrammiert. Sie sind deshalb für die SPD-Fraktion nicht zustimmungsfähig.
({5})
Unser Gesundheitswesen muß durchgreifend umgestaltet werden. Die Tatsachen liegen auf der Hand. Der ungünstige demographische Aufbau unserer Gesellschaft, das wachsende Gesundheitsbewußtsein der Menschen, die gestiegene und weiter ansteigende Lebenserwartung der Bürgerinnen und Bürger und der unaufhaltsame medizinische Fortschritt lassen eine ständig steigende Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitswesens erwarten. Diese vier säkularen Trends, die wir größtenteils alle gemeinsam begrüßen, können aber nicht verändert werden. Angesichts dieser Entwicklung käme es einer Illusion gleich, würde man annehmen, einen 10%igen Sektor unserer Volkswirtschaft, wie das Gesundheitswesen
ihn darstellt, aus der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung dauerhaft ausblenden zu können. Das geht nicht!
Es bedeutete einen großen Erfolg, wenn es gelänge, den gesundheitsbezogenen Anteil unseres Bruttosozialprodukts für absehbare Zeit bei etwa 10 % stabil zu halten. Aber mit Ihren Gesetzentwürfen gelingt dies nicht. CDU/CSU und F.D.P. lügen sich in die Tasche, wenn sie so tun, als könnte durch einen noch weitergehenden Ausbau der Selbstbeteiligungsleistungen für die Versicherten etwa eine Stabilisierung gelingen. Dieses Instrument kann bestenfalls die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung absenken. Die Gesundheitsausgaben insgesamt wird es jedoch überhaupt nicht beeinflussen. Hier wird lediglich eine Finanzierungsquelle durch eine andere ersetzt. Denn das, was in den Haushalten der Krankenversicherungen gespart wird, führt zu kompensatorischen Erhöhungen der Ausgaben von Privaten für Gesundheit. Der Gesundheitsanteil des Bruttosozialprodukts wird nicht verändert. Die Verteilung der finanziellen Lasten auf die einzelnen Glieder unserer Gesellschaft wird allerdings grundlegend umgestaltet. Die solidarische Finanzierung von Gesundheitsleistungen wird zugunsten einer privaten Finanzierung ohne Rücksicht auf die gesellschaftlichen Folgen zurückgedrängt. Das wissen CDU, CSU und F.D.P. Sie wissen es aber nicht nur. Sie wollen das. Sie sind in dieser Frage ideologisch fixiert.
({6})
Sie wollen unser Gesundheitswesen durch Einführung der Selbstbeteiligung auf breiter Front auf den Weg der Privatisierung von Risiken bringen: Jahr für Jahr 7 Milliarden DM Selbstbeteiligung seit 1989 durch die sogenannte Gesundheitsreform und jetzt noch einmal über 3 Milliarden DM mehr ab Januar 1993.
Den Weg der Privatisierung gesundheitlicher Risiken darf es nicht geben. Er wäre sozial nicht zu verantworten. Der weitere Ausbau des Instrumentariums von Selbstbeteiligungsleistungen ist daher mit der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion nicht zu verwirklichen.
({7})
Die Qualität des deutschen Gesundheitswesens steht und fällt mit der Anwendung des Grundsatzes der solidarischen Finanzierung. In kaum einem anderen vergleichbaren System steht die moderne Medizin allen Gruppen der Bevölkerung, und zwar unabhängig von ihrem Einkommen, gleichermaßen zur Verfügung wie in Deutschland. In keinem anderen System kommt der medizinische Fortschritt in dieser umfassenden Breite und so schnell für alle Menschen zur Anwendung wie in Deutschland.
Das muß so bleiben und darf nicht gefährdet werden. Gesundheitsleistungen dürfen nicht über den Umweg der Selbstbeteiligung künftig von der Größe
der persönlichen Geldbörse abhängig gemacht werden.
({8})
Von einigen wird argumentiert, gerade die solidarische Finanzierung fördere durch die nicht personengebundene Zuordnung von Beitragslast und Leistungsnutzen den Mißbrauch.
Damit kein Mißverständnis aufkommt: Niemand kann mißbräuchliche Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen bestreiten; sie ist offenkundig. Mißbrauch gibt es im übrigen nicht nur auf der Seite der Versicherten - wie allzu Einäugige manchmal voreilig feststellen möchten -. Es gibt ihn auch auf der Seite der Leistungserbringer.
Aber dieser Mißbrauch ist nicht auf die solidarische Grundausrichtung des Systems zurückzuführen. Er ist vielmehr darin begründet, daß allzu viele der sich im System Bewegenden die ihnen übertragenen Auf gaben, die Pflichten und die Rechte nicht ernst nehmen.
Die Klage, bei den Patienten habe sich eine Art Selbstbedienungsmentalität breitgemacht, ist für mich nicht sonderlich überzeugend. So ist z. B. der vielfach überzogene Arzneimittelverbrauch - wer wollte den eigentlich bestreiten? - nur vordergründig in den Wünschen der Patienten begründet. Seine tatsächliche Ursache findet er darin, daß andere es den Patienten erst ermöglichen, diese Wünsche zu realisieren.
({9})
Tatsache ist doch, daß jede, auch die mißbräuchliche, Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen erst durch die Unterschrift des Arztes auf dem Rezeptblock möglich wird.
({10})
Der Arzt allein entscheidet; er allein hat den Gewährleistungsauftrag; er allein stellt die Indikation; und er allein entscheidet über die Verordnungen, die für die Genesung des Patienten notwendig sind.
Das muß so bleiben; etwas anderes ist nicht denkbar. Aber der Arzt muß den daraus folgenden Verpflichtungen nachkommen und kann ihnen nicht dadurch ausweichen, daß er mittels Selbstbeteiligung den Patienten indirekt daran beteiligt. Nicht die Selbstbeteiligung, sondern das Nein des behandelnden Arztes löst das Problem des Mißbrauchs.
({11})
Haben Sie sich eigentlich die Folgen Ihrer neuen Selbstbeteiligungsregelungen im einzelnen einmal überlegt, etwa im Krankenhaus oder beim Zahnersatz?
Sie wollen, daß Patienten bei Krankenhausaufenthalt künftig 11 DM je Tag ohne zeitliche Begrenzung bezahlen. Wissen Sie, was das etwa für einen Unfallpatienten bedeutet? Bei einem halbjährigen Krankenhausaufenthalt mit anschließender dreimonatiger Rehabilitationskur heißt das, daß er 274 mal 11 DM zu bezahlen hat. Das sind 3 014 DM. In Ostdeutschland,
wo Sie statt 11 DM 8 DM von den Patienten abkassieren wollen, bedeutet dies 2 192 DM.
Ein Herzinfarktpatient mit sechswöchigem Auf enthalt im Krankenhaus und vierwöchiger Reha-Kur ist im Westen mit 770 DM und im Osten mit 560 DM dabei. Für den normalen Beinbruch bei vier Wochen Krankenhausaufenthalt kassieren Sie im Westen 308 DM und im Osten 224 DM.
All dies wird fällig ohne jede Einschränkung. Selbst der ärmste der Armen soll zahlen. Können Sie mir einmal sagen, was das eigentlich mit sozialer Gerechtigkeit zu tun hat?
({12})
Ich frage Sie: Was hat es eigentlich mit Solidarität zu tun, wenn von dieser Regelung die Wirkung ausgeht, daß derjenige, der am schwersten krank ist, am meisten an Selbstbeteiligung aufzubringen hat? Dies alles ist weder solidarisch noch gerecht. Dies ist die Fortsetzung der 1989 mit dem Gesundheits-Reformgesetz begonnenen Abkassiererei.
({13})
Die Damen und Herren von der Freien Demokratischen Partei beweisen dabei besondere Einfühlsamkeit.
({14})
Unangemessene Härten und übermäßige Einkommensreduzierungen müssen jedoch vermieden werden, meint Herr Solms, der Vorsitzende der F.D.P.-Fraktion, im Zusammenhang mit diesem Gesetz. Aber dies meint er nicht etwa an die Rentnerin mit 1 500 DM Einkommen pro Monat gerichtet, nein; dies sagt er Zahnärzten mit 20 000 DM vor Steuern im Monat ganz ungeniert und öffentlich in einer Pressemitteilung der F.D.P.
({15})
Selbst wenn man sich in dieser unverhohlenen Form als Zahnärztepartei profilieren will: das ganze Parlament ist auf die Bundesrepublik Deutschland als Sozialstaat verpflichtet, auch die F.D.P. Ich frage Sie: Können Sie derartige Äußerungen Ihres Fraktionsvorsitzenden eigentlich mit Ihrem Gewissen vereinbaren?
({16})
Ich frage, ob CDU/CSU und F.D.P. sich die Folgewirkungen ihrer Neuregelungen im Zahnersatzbereich hinreichend deutlich vor Augen geführt haben. Da soll künftig zwischen Wahlleistungen und Regelleistungen unterschieden werden. Um nicht mißverstanden zu werden: Es geht nicht darum, künftig Luxusversorgung beim Zahnersatz zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung zu ermöglichen. Luxusversorgung gab es schon bisher nicht. Es geht ausschließlich um eine funktionell vernünftige und auch ästhetisch angemessene Versorgung mit Zahnersatz.
Was ist denn nun Regelleistung, und was soll Wahlleistung sein? Hier sind der definitorischen Willkür Tür und Tor geöffnet. Genau das wollen Sie. Sie wollen ein Einfallstor schaffen, um die Versorgung der
Versicherten mit Zahnersatz künftig noch weiter zu privatisieren.
Bei der Verabschiedung des sogenannten Gesundheits-Reformgesetzes haben Sie sich 1989 mit dem Festbetragskonzept gebrüstet und haben versprochen, daß künftig Festbetragsmedikamente von jeder Zuzahlung frei seien. Das soll nun auf einmal nicht mehr wahr sein. Wer in Ihr neues Gesetz hineinschaut, wird feststellen, daß künftig auch für Festbetragspräparate Selbstbeteiligungen bezahlt werden sollen, aber nicht - wie bisher bei den anderen Medikamenten üblich - 3 DM je Präparat, sondern mindestens 3 DM, höchstens 10 DM, und in dieser Spanne in jedem Falle 10 % des Preises. Hier werden das Motto „Was schert mich mein Geschwätz von gestern?" zur politischen Losung und der Wortbruch zum politischen Programm.
({17})
Deshalb nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß ich für die SPD-Fraktion feststelle: Es gibt keine Stimme der Sozialdemokraten für eine weitere Erhöhung der Selbstbeteiligung, weder im Bundestag noch im Bundesrat.
Sie versuchen derzeit, durch allerlei Nebelwerferei den Eindruck zu erwecken, als sei die abermalige Belastung der kranken Menschen nicht so schlimm. In dieser Woche trat der Bundesgesundheitsminister im ZDF auf und verkündete die These, das Unsozialste überhaupt sei die Beitragserhöhung in der Krankenversicherung. Das hört sich zwar gut an. Aber es ist die Unwahrheit; es ist die Verdrehung von Tatsachen.
Sie versuchen nämlich mit diesem Argument, Herr Seehofer, zu verwischen, daß in Wahrheit die Selbstbeteiligung auch eine spezielle Form der Beitragserhöhung ist, und zwar eine Beitragserhöhung, die nicht alle Versicherten, wohl aber die besonders Benachteiligten unter ihnen, nämlich die Kranken, trifft. Gibt es eigentlich etwas Unsozialeres als ein solches Instrument?
({18})
Ich hoffe, es ist Ihnen klar, daß Sie mit solchen Argumenten die Beitragszahler gegeneinander aufbringen. Sie versuchen das berechtigte Interesse der Beitragszahler an niedrigen Beitragssätzen als Instrument gegen die Kranken und ihr Interesse an niedriger Selbstbeteiligung einzusetzen. Ich nenne das ein schlimmes Verfahren.
Die Koalition vertritt seit geraumer Zeit in der ihre Gesetzgebung begleitenden öffentlichen Diskussion eine merkwürdige Behauptung. Ich meine die These von der gerechten Verteilung der Belastungen auf Zahnärzte, Ärzte, Pharmaindustrie auf der einen Seite und Versicherte und Kranke auf der anderen Seite.
Auch daran stimmt übrigens nichts. Mit dem Gesundheits-Reformgesetz von 1989 wollten Sie 14 Milliarden DM einsparen. 7 Milliarden DM sollten die Leistungserbringer aufbringen und 7 Milliarden DM die Versicherten und Patienten. Tatsächlich eingespart wurden 7 Milliarden DM, und die haben ausschließlich die Versicherten und Kranken aufgebracht. Der 7-Milliarden-DM-Beitrag der Leistungserbringer steht noch aus.
({19})
Jetzt sollen es 11 Milliarden DM sein, die gespart werden, diesmal 8 Milliarden DM für die Leistungserbringer und 3 Milliarden DM für die Patienten. Die 8 Milliarden DM für Ärzte, Zahnärzte und Pharmaindustrie - sollten sie je wirklich eingespart werden - sind doch nichts anderes als das, was bereits vor drei Jahren fällig gewesen wäre. Damit wird doch lediglich die Bezahlung der Zeche von vor drei Jahren nachgeholt. Gleichwohl verlangen Sie von den Versicherten zusätzlich zu den 7 Milliarden DM pro Jahr seit 1989 nun weitere 3,2 Milliarden DM. Was ist daran eigentlich sozial ausgewogen?
({20})
Sie schreiben doch lediglich die soziale Unausgewogenheit des damaligen Gesetzes in die Zukunft der 90er Jahre fort.
({21})
Noch eines fällt ins Auge, wenn man Ihre Behauptung von der sozialen Ausgewogenheit des Pakets nachprüft. Den Patienten und Versicherten werden 11 Milliarden DM im Jahr durch Leistungskürzungen und zusätzliche Selbstbeteiligungen direkt abgeknöpft.
Bei Ärzten gehen Sie ganz anders vor. Sie kürzen nicht, sondern Sie begrenzen die Einkommenszuwächse. Bei Ärzten gibt es also immer noch ein Mehr; das Mehr wird nur nicht so groß sein wie bisher. Und auch das soll sozial ausgewogen sein?
CDU/CSU und F.D.P. geben sich seit je als die ordnungspolitischen Gralshüter der Sozialen Marktwirtschaft aus. Haben Sie sich eigentlich die ordnungspolitische Wirkung Ihrer Instrumente, die Sie in diesem Gesetz anwenden wollen, wirklich vor Augen geführt?
Herr Seehofer sprach heute morgen von tiefgreifenden Strukturveränderungen. Im Gesetz ist zu lesen: staatlicher Stopp der Einkommenszuwächse bei Ärzten und Zahnärzten, staatlicher Stopp der Entgelte für die Krankenhäuser, staatliche Preisabsenkung in der Arzneimittelversorgung. Wo man hinschaut: Preisstopps. Statt mehr Marktwirtschaft im Gesundheitswesen da, wo es möglich wäre, gibt es mehr staatliche Intervention. Das ist die CDU/CSU-F.D.P.-Devise: In Sonntagsreden sich selbst als Erben von Ludwig Erhard feiern, aber in der praktischen Politik die Nachlaßverwalter von Günther Mittag sein! Das ist eine schöne Gesellschaft.
({22})
- Helau.
Natürlich müssen Ärzte, Zahnärzte und Pharmaindustrie Sparbeiträge erbringen. Es geht um kostengünstige Honorarformen, andere Krankenhauspflegesätze, endlich Preisverhandlungen zwischen Krankenkassen und Pharmaindustrie.
Die hinter dem Gesetzespaket von CDU/CSU und F.D.P. stehende Philosophie ist in einem wichtigen Aspekt die gleiche wie die des sogenannten Gesundheits-Reformgesetzes von 1989. Es wird eine politisch motivierte, rein willkürliche Einsparsumme vorgegeben, die dann entsprechend realisiert werden muß. Man könnte fragen: Wieso eigentlich 11 Milliarden, warum nicht 9 oder 14 oder 20? Woher wird eigentlich eine solche Zahl genommen? Da machen sich ministerielle Einsammler auf den Weg nach dem Motto „Ein bißchen von diesem, ein bißchen von jenem", und dann gehen sie zusammen ans Werk. Welch eine Überraschung: Sie kommen dann zu dem gewünschten Einsparergebnis.
Das alles hat weder etwas mit gesundheitspolitischer Orientierung oder gar Strategie und noch gar mit den gesundheitspolitischen Notwendigkeiten für die Versicherten zu tun. Dies ist eine ins Fiskalische gewandelte Gesundheitspolitik.
Ich glaube, an dieser Stelle sind einige klare Worte in Richtung Ärzte und Zahnärzte geboten. Man kann zu den Gesetzesvorschlägen der Koalition und zur Gesundheitspolitik von Herrn Seehofer stehen, wie man will - auch die Opposition kritisiert viele von deren Aspekten -; aber es ist unerträglich, wenn von Interessengruppen der Ärzte und Zahnärzte versucht wird, Politik unter Druck zu setzen, wie das in den vergangenen Wochen versucht wurde.
({23})
Ich denke, es ist Aufgabe des ganzen Hauses, unabhängig davon, ob Koalition oder Opposition, deutlich zu machen: Der Deutsche Bundestag läßt sich nicht unter Druck setzen, und nötigen läßt er sich schon gar nicht.
({24})
Er weist die anschließende Begleitmusik einiger ärztlicher Standesfunktionäre mt Entschiedenheit zurück. Zudem: Wer sich seine eigene Propaganda gegen parlamentarische Vorhaben von pharmazeutischen Unternehmen finanzieren läßt, wie etwa der Hartmannbund, bringt seine Glaubwürdigkeit ins Zwielicht und scheidet als seriöser Gesprächspartner aus. Er schafft unerträgliche Zustände. Das muß deshalb vom Tisch.
({25})
Die Kassenärzte wehren sich besonders gegen die Budgetierung der Arzneimittelausgaben, insbesondere aber gegen die Regelung, Überschreitungen des Budgets auf die eigenen Honorare angerechnet zu bekommen. Über den Sinn einer solchen Regelung mag man streiten. Aber es ist nicht glaubwürdig, den Patienten einzureden, dadurch könnten sie künftig nicht mehr ordentlich mit Arzneimitteln versorgt werden. Gleichzeitig höre ich, daß Krankenkassen - Krankenkassen! - und Kassenärzte hinter verschlossenen Türen um eine Regelung kungeln, nach der die Kassenärzte, sollten sie die Arzneimittelbudgets
unterschreiten, die unterschrittene Summe ihrem Honorar gutgeschrieben erhalten.
({26})
Budgetierungen also, bei denen die Ärzte im Zweifelsfall zuzahlen müssen, sollen die Arzneimittelversorgung der Patienten gefährden, und viel strengere Budgetierungen, bei denen die Ärzte noch verdienen, sind ein lohnenswertes Unterfangen und gefährden plötzlich die Versorgung nicht. Hier wird doch deutlich, um was es in Wahrheit geht: nicht um die Arzneimittelversorgung, nicht um die Patienten, sondern nur ums Geld. Das ist ein schlimmer Verfall der sozialen Sitten.
({27})
Herr Seehofer hat heute im Namen der Bundesregierung ein Gesprächsangebot unterbreitet. Er trägt damit den Tatsachen Rechnung, weil er weiß, daß jede Strukturreformmaßnahme im Gesundheitswesen, also auch die Pläne der Koalition zu einem Gesundheitsstrukturgesetz, der Zustimmung des Bundesrates, also der SPD, bedarf. Ich begrüße dieses Angebot auch deswegen, weil es zeitgerecht kommt, der Klärungsprozeß zwischen Koalition und Opposition also nicht auf die letzte Sekunde - und das wäre der Vermittlungsausschuß - vertagt wird.
Herr Seehofer, die Sozialdemokraten nehmen Ihr Gesprächsangebot an. Wir sind bereit, mitzuarbeiten, eine breite parlamentarische Mehrheit für eine wirkliche Reform des Gesundheitswesens zustande zu bringen. Sie wissen, die Mitarbeit der SPD ist politisch nicht kostenlos.
({28})
- Wenn ihn die Antwort der Opposition auf sein Angebot nicht mehr interessiert, dann kann er das sagen.
({29})
- Der interessiert in diesem Zusammenhang überhaupt nicht, Herr Seehofer.
Sie wissen, Herr Seehofer, die Mitarbeit der SPD ist politisch nicht kostenlos. Unsere Vorstellungen kennen Sie. Damit Sie sie nicht vergessen, stehen sie heute in Form eines Antrages ebenfalls zur Diskussion.
Allerdings sage ich Ihnen: Irritierend sind seit gestern Presseberichte, nach denen die Koalition parallel zu Gesprächen mit der SPD in Arbeitsgruppen mit Verbänden des Gesundheitswesens über Veränderungen an ihren Gesetzentwürfen verhandeln will. Herr Seehofer, ich sage Ihnen: Reden Sie mit wem Sie wollen. Aber wenn Sie ernsthaft an einer tragfähigen Gesetzeslösung mit der SPD interessiert sind, wird dieses Verfahren nicht möglich sein. Die SPD spricht nicht über Gesetzentwürfe, die in Hinterzimmern und Kungelrunden mit Verbänden schon längst zur Makulatur geworden sind.
({30})
Ich gehe davon aus, daß Sie für ihre Vorhaben eine Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat haben
wollen. Deshalb frage ich Sie: Wie viele Stimmen haben eigentlich Ärzteverbände und Pharmaindustrie im Bundesrat, und wie viele Sitze haben sie eigentlich im Bundestag? Gespräche müssen dort geführt werden, wo die Mehrheit für Gesetze zu erlangen ist: zwischen den Fraktionen des Bundestages, den Ländern und der Regierung.
({31})
Etwas anderes wird die Sozialdemokratische Partei Deutschlands jedenfalls nicht akzeptieren.
({32})
Wer Gespräche führen will, sollte eine eindeutige Geschäftsgrundlage haben. Sie müssen sich also über folgendes klar sein:
Erstens. Die SPD wird weder im Bundestag noch im Bundesrat einen Gesetzentwurf mittragen, der die abermalige Erhöhung der Selbstbeteiligung der Versicherten vorsieht.
Zweitens. Wer eine Reform des Gesundheitswesens will, die trägt, darf nicht bei den Vorschlägen, die Sie in Ihrem zweiten Gesetzentwurf, dem Gesundheitsstrukturgesetz, gemacht haben, stehenbleiben. Dieser Gesetzentwurf ist unzureichend. Hier muß kräftig korrigiert werden. Ohne eine Organisationsreform der gesetzlichen Krankenversicherung wird unser Gesundheitswesen auch weiter von einer Krise in die andere taumeln.
({33})
Drittens. Nur unter der Bedingung einer echten Strukturreform ist die SPD zu einem Vorschaltgesetz bereit, in das kurzfristige Maßnahmen aufgenommen werden, die übergangsweise wirken, bis die eigentliche Reform trägt.
Das Rentenreformgesetz und unser gemeinsames Vorgehen dort zeigen: Wer eine gemeinsame Lösung will, braucht eine gemeinsame Vorlage. Für die sozialdemokratische Fraktion erkläre ich, daß wir bereit sind, unseren Antrag zur Reform des Gesundheitswesens in einen gemeinsamen Gesetzentwurf der drei Fraktionen eingehen zu lassen. Wir erwarten von der Koalition das gleiche.
Bei möglichen Konsensgesprächen müssen sich im Ergebnis alle Beteiligten wiederfinden. Aber dabei darf der Sinn für parlamentarisch-politische Proportionen nicht verlorengehen. Die Union vertritt 45 % des Parlaments, die SPD 35 % und die F.D.P. 10 %. Ein mögliches Konsensergebnis kann das nicht auf den Kopf stellen.
Wir sind bereit, in diesem Sinn die Gespräche mit der Koalition und die dann folgenden parlamentarischen Beratungen zu führen.
({34})
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Dieter Thomae.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Außergewöhnliche Umstände erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Die gesetzliche Krankenversicherung befindet sich in einer dramatischen Lage. Ich brauche die Zahlen nicht zu wiederholen. 10 % Ausgabenzuwachs im letzten Jahr und wieder 10 % im Laufe des Jahres zwingen zum Handeln, und zwar kurzfristig zu wirksamem Handeln. Die Lage ist bedrohlich. Wir haben viel zu verlieren.
Das Gesundheitswesen in der Bundesrepublik Deutschland genießt höchste Anerkennung. Es gibt medizinische Spitzenleistungen für jedermann. Wir sind in den Leistungsbereichen kaum zu übertreffen: von der schwersten Operation bis hin zu Rehabilitation, Pflege, ja sogar Sterbegeld.
Es sind die gut ausgebildeten, engagierten und motivierten Menschen, die Ärzte, die Zahnärzte, die Krankenschwestern, die fachlich versierten Apotheker und alle anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen, die dies überhaupt möglich machen.
({0})
Geld allein macht nicht gesund. All diesen Berufen möchte ich von dieser Stelle aus zurufen, daß wir im Ringen um die Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens das Menschliche nicht aus den Augen verlieren dürfen.
({1})
Wir unterstreichen dies im Gesetzentwurf durch die Bereitstellung von Mitteln für 13 000 neue Pflegekräfte.
Wir haben ein freiheitliches Gesundheitswesen mit Therapiefreiheit, freier Arztwahl, Selbstverwaltung und Freiberuflichkeit. Wir haben ein international kaum erreichtes Niveau bei der Entlohnung der medizinischen Leistungen. Wir haben bestmöglich ausgestattete Praxen und damit ein gut funktionierendes ambulantes Versorgungssystem.
Wir dürfen aber nicht die Augen davor verschließen, daß das alles weitestgehend aus Beiträgen, Zwangsbeiträgen, bezahlt werden muß; Beiträge, die die Versicherten und die Arbeitgeber gemeinsam aufbringen müssen; Beiträge, die - wie Steuern - als Lasten empfunden werden, die Lohnnebenkosten sind und die über die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft entscheiden.
Deshalb können steigende Beitragssätze nicht die Antwort auf steigende Ausgaben sein. Wer diesen Weg geht und diesen Weg propagiert, stellt auf Dauer die Grundlagen des Systems in Frage.
Die gesetzliche Krankenversicherung ist ein Solidarsystem. Es lebt letztlich von der Akzeptanz der Beitragszahler. Niemandem - nicht den Versicherten und auch nicht denen, die im Gesundheitswesen tätig sind - wäre damit gedient, wenn wir die Krankenversicherung in den finanziellen Kollaps laufen ließen. Wir haben Verständnis dafür, daß die Mediziner aus ihrem Engagement, aus dem hippokratischen Eid heraus, der sie in die Pflicht zu maximal möglichen medizinischen Leistungen nimmt, sich schwertun, die ökonomischen Zwänge zu akzeptieren, von denen wir Politiker uns auch dann nicht befreien können, wenn
es um das höchste Gut, nämlich die Gesundheit, geht.
Höhere Beiträge - sie sind ja in den letzten Tagen wieder angekündigt worden - können auch in Zukunft nicht ausgeschlossen werden, wenn sie gebraucht werden, um medizinische Defizite zu beseitigen. Das steht für uns außer Frage. Die gesetzliche Krankenversicherung als Teil des beitragsfinanzierten Solidarsystems steht in einer unaufkündbaren Schicksalsgemeinschaft mit der wirtschaftlichen Entwicklung.
({2})
Deshalb gilt für die Krankenversicherung wie für alle anderen Sozialleistungen der liberale Grundsatz: Es kann nicht mehr ausgegeben werden, als erwirtschaftet wurde.
Ausgabenzuwächse von durchschnittlich 10 % sind nicht finanzierbar. Sie rechtfertigen keine Beitragssatzerhöhung, weil sie in dieser Zeitspanne auch medizinisch nicht begründbar sind. Wir stehen heute mehr denn je in allen Bereichen im Zwang zur Konsolidierung. Das gilt für die Staatshaushalte. Das gilt selbstverständlich auch für die Haushalte der Sozialversicherung.
Vielleicht ist es uns noch immer nicht ganz bewußt: Eine Epoche geht zu Ende. Die politischen und, in ihrem Gefolge, die wirtschaftlichen Veränderungen, die Überwindung der Blöcke, das alles hat weit mehr Konsequenzen für jeden einzelnen, als wir es erkennen oder wahrhaben wollen. Es hat natürlich Konsequenzen auch für die Gestaltung der Politik. Die alten Muster, die alten Rituale des Verteilens, vor allem des Verteilens von Zuwächsen, tragen nicht mehr. Wir müssen aufpassen, daß der breite soziale Konsens nicht unter die Mühlen von Gruppenansprüchen gerät.
In diesen schwierigen Zeiten ist die Sicherung des Erreichten schon viel, und selbst das geht nicht ohne schmerzliche Eingriffe.
Wir müssen die Versicherten, aber auch die Leistungserbringer mehr in die Verantwortung für die Kosten einbinden. Wir Liberalen tun uns da sehr schwer.
({3})
Die vorgesehenen Eingriffe in Einkommenspositionen von Zahntechnikern und von Zahnärzten, von Pharmaunternehmen und Apothekern, von Ärzten, von den Chefärzten in Krankenhäusern, sind Opfer, die wir diesen Berufsgruppen abverlangen. Es sind Solidarbeiträge, die wir brauchen, weil es in dieser besonderen Notsituation, in der die gesetzliche Krankenversicherung ist, kaum kurzfristige wirksame Alternativen gibt.
Ich will das nicht beschönigen. Budgetierung und gesetzlicher Preis bzw. Gebührensenkungen sind keine liberalen Instrumente. Nur unter bestimmten Bedingungen ist dies für uns Liberale hinnehmbar. Deshalb haben wir auf eine konsequente Befristung
gedrängt. Eine Verlängerung des Zeitraums für die Budgetierung kommt für die F.D.P. nicht in Frage.
({4})
Im Gegenteil: Das Arzneimittelbudget soll, wenn möglich, noch vor 1995 durch eigenverantwortliche Regelungen der Selbstverwaltung abgelöst werden.
({5})
Hierüber sind jetzt konkrete Gespräche mit den Beteiligten aufgenommen worden. Ich bin sicher, daß wir am Ende zu einvernehmlichen Lösungen kommen werden, die auch die Ärzteschaft mittragen kann.
Herr Dreßler, ich bitte auch zu bedenken: Auch die Koalition, jede einzelne Partei hat das Recht - die Möglichkeit dazu muß bestehen -, mit den einzelnen Gruppen zu sprechen.
({6})
Zum zweiten ist es mit der Kostendämpfung allein nicht getan. Das Gesundheitswesen läßt sich nicht immer weiter durch Sparmaßnahmen sanieren. Wir brauchen keine laufende Reparatur, sondern durchgreifende Reformen.
({7})
Die Verknüpfung der Sofortbremsung, Herr Kirschner, mit Strukturveränderungen war für uns eine absolute Bedingung. Am Ende des interventionistischen Tunnels steht für uns der Übergang zu mehr Marktwirtschaft und zu mehr Freiheit.
({8}) Das erreichen wir
({9})
durch die zeitlich unbefristeten Strukturmaßnahmen, und das erreichen wir durch den Einstieg in eine Neubestimmung der Grenzen zwischen Eigenverantwortung und Solidarabsicherung. Der Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion wird beauftragt, konkrete Vorschläge für diese Neudefinition des Aufgabenkatalogs der sozialen Krankenversicherung vorzulegen.
Daß wir nicht nur Kostendämpfung betreiben, sondern die Strukturen in wichtigen Bereichen reformieren, will ich an den folgenden Punkten aufzeigen.
Wir führen endlich eine durchgreifende Reform im Krankenhaus durch. Rund 60 Milliarden DM werden in diesem Bereich ausgegeben; das sind rund ein Drittel der gesamten Ausgaben der GKV. Dieser riesige Beitrag wird nach einem Prinzip ausgegeben, das die ordnungsgemäße Behandlung von Kosten und eine hohe Auslastung von vorhandenen Betten belohnt.
Die Verweildauer in deutschen Krankenhäusern ist noch zu hoch. Sie ist zwar zurückgegangen; aber sie ist noch zu hoch. Viele Leistungen, die heute stationär erbracht werden, können zudem ambulant erfolgen. Die medizinische Technik macht dies möglich. Hier liegen noch unausgeschöpfte Wirtschaftlichkeitsreserven. Deshalb meine ich, daß wir im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens gerade in diesem Bereich
noch Öffnungen durchführen müssen, damit ambulante Operationen stärker gefördert werden.
({10})
Für uns Liberale ist vor allem wichtig, daß endlich das Selbstkostendeckungsprinzip abgeschafft wird. Es ist die entscheidende Ursache für Unwirtschaftlichkeiten. Wer wirtschaftlich arbeitet, wird in Zukunft durch Gewinne belohnt und kann diese vor allem behalten. Auf der anderen Seite führt Unwirtschaftlichkeit zu Verlusten. Aber die Solidargemeinschaft muß diese Verluste nicht mehr übernehmen.
Wir werden ab 1995 schrittweise ein System der leistungsgerechten Entgelte einführen. Wenn wir den Übergang schon früher schaffen, so kann ich nur sagen, ist das der F.D.P. nur recht. Wichtig ist, daß wir echte Preise für Krankenhausleistungen bekommen. Wichtig ist auch, daß wir weiterhin Pflegesätze haben, die neben den Fallpauschalen und Sonderentgelten endlich trennen zwischen Hotelkosten oder Unterbringungskosten, Pflegekosten und medizinischen Kosten.
Es bedarf im Krankenhaus schließlich eines schrittweisen Übergangs zur monistischen Finanzierung. Es muß die Möglichkeit geben, Rationalisierungsinvestitionen endlich anders durchzuführen und - die entscheidende Möglichkeit - private Gelder in Krankenhäusern zu investieren. Das ist vor allen Dingen eine Chance in den neuen Bundesländern. Hierauf wird mein Kollege Dr. Menzel noch näher eingehen.
({11})
Meine Damen und Herren, ein zweiter wichtiger Bereich sind die Wahl- und Regelleistungen. Man kann in Zukunft nicht mehr für alles die Solidargemeinschaft in Anspruch nehmen. Luxus zu finanzieren gehört nicht zu den Aufgaben einer Solidarversicherung. Wer Wahlleistungen will, muß sie aus der eigenen Tasche bezahlen. Wahltarife werden angeboten. Ich würde mich freuen, wenn dies durch die private Versicherung erfolgen würde, damit hier eine klare Trennung bestehenbleibt. Dies ist für uns eine Wegweisung für die Zukunft; denn auf Dauer wird die Solidargemeinschaft, wie schon erwähnt wurde, nicht mehr alles finanzieren können.
({12})
Darum müssen wir in Regel- und Wahlleistungssysteme einsteigen.
Wir haben trotz massivster Bedenken einer Absenkung der zahnprothetischen Honorare und der Preise für zahntechnische Leistungen zugestimmt. Dies war ein hoher politischer Preis für uns. Eine pauschale Honorarabsenkung bei einem freien Beruf ist ein schwerwiegender Eingriff.
({13})
Wir werden noch einmal sehr genau alle Auswirkungen prüfen. Niemandem, weder Zahnärzten noch Zahntechnikern, dürfen unzumutbare Opfer abverlangt werden. Eine 20 %ige Absenkung bei den prothetischen Leistungen und 10 % bei der Zahntechnik
sind vorgesehen. Auf keinen Fall mehr! Wenn sich zeigen sollte, daß die Einsparvolumen überschritten werden, dann werden und müssen wir korrigieren.
({14})
Der dritte wesentliche Reformbestandteil des vorliegenden Gesetzespaktes ist der Arzneimittelbereich. Es wird von niemandem bestritten, daß in diesem Bereich Wirtschaftlichkeitsreserven vorhanden sind. Das hat vielfache Ursachen. Hier müssen wir dafür sorgen, daß die Arzneimittel medizinisch vernünftig verschrieben werden. Aber wir müssen auch dafür sorgen, daß die Therapiefreiheit erhalten wird. Darum bin ich froh, daß wir jetzt Gespräche führen, damit eine vernünftige Lösung mit den beteiligten Gruppen gefunden werden kann.
Pharmaindustrie und Apotheker erbringen ebenfalls einen Solidarbeitrag. Im Laufe des Verfahrens bitte ich aber auch noch einmal in diesem Bereich die Einsparquoten genau zu definieren und festzulegen, damit wir ganz fundierte Daten haben, um die endgültigen politischen Entscheidungen im weiteren Gesetzgebungsverfahren letztlich zu treffen.
Für mich persönlich - das möchte ich betonen - ist die Einbeziehung der Selbstmedikation nicht unproblematisch.
Meine Damen und Herren, leider läuft die Zeit ab.
({15})
Ich hätte noch gerne einige Punkte vorgetragen. Ich möchte das Angebot des Gesundheitsministers an die SPD unterstützen: Die F.D.P. steht zu Gesprächen bereit. Die F.D.P. will mit Ihnen die einzelnen Themenbereiche abklopfen.
Aber es gibt auch gewisse Bedingungen der F.D.P., Herr Dreßler. Das ist für uns das Thema Regionalisierung, und das ist für uns - ich glaube, Herr Dreßler, da liege ich mit Ihnen fast auf einer Linie - auch das Thema Finanzausgleich. Ich kann mich erinnern, daß Sie, Herr Dreßler, vor kurzer Zeit an irgendeiner Stelle gesagt haben, ein kassenartenübergreifender Finanzausgleich wäre nichts anderes als Verkleisterung.
({16})
Wenn Sie bei dieser Auffassung blieben, würden wir uns sehr freuen. Wir stehen zu Gesprächen zur Verfügung.
Eines möchte ich der Öffenlichkeit noch mitgeben - weil die Zeit nicht reicht, kann ich es nicht lange ausführen -: Die F.D.P. steht für alle zum Dialog bereit. Ich bitte alle Gruppen, die sich bisher benachteiligt fühlen oder sich ausgeklinkt haben: Suchen Sie das Gespräch mit uns! Das Gesetzgebungsverfahren läuft erst.
({17})
Vielen Dank.
({18})
Als nächste spricht die Abgeordnete Dr. Ursula Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das GesundheitsStrukturgesetz verkörpert das jüngste Kapitel einer scheinbar unendlichen Big-Business-Geschichte. Je mehr sich die Medizin zum Big Business wandelte, desto ratloser wurden offensichtlich die Teilnehmer der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen.
Die Politiker versuchten, der Expansion des medizinisch-industriellen Komplexes mit immer bürokratischeren Maßnahmen und dirigistischen Eingriffen beizukommen. So folgte einem Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz 1977 bald das Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz. An das KrankenhausKostendämpfungsgesetz 1982 schloß sich das Gesetz zur Neuordnung der Krankenhausfinanzierung 1985 an. Und schon bald darauf, 1986, folgte die Verordnung zur Regelung der Krankenhauspflegesätze. Diese wiederum wurde durch das GesundheitsReformgesetz modifiziert. Jetzt ist Minister Seehofers Gesundheits-Strukturgesetz an der Reihe.
Bereits bevor der Referentenentwurf des Gesundheits-Strukturgesetzes vorlag, war so viel Verwirrung gestiftet worden, daß zumindest eines sicher sein konnte: Die Versicherten, um derentwillen ja all diese Anstrengungen unternommen werden, wissen nun gründlich gar nichts mehr. Sie werden und wurden zur Manövriermasse von Verbänden, Krankenkassen, kassenärztlichen Vereinigungen, Pharmaindustrie, Ärztekammern, Apotheken, Ärzten und Ärztinnen usw., usf. und selbstverständlich auch des Gesundheitsministeriums.
Ich frage mich an dieser Stelle, ob das gewollt ist. Ich denke, ja. Das Sich-Berufen auf das Patientenwohl ist zu einem Argument geworden, welches dazu führt, daß nicht mehr sachlich diskutiert wird. Das tut mir persönlich leid. Überhaupt erinnert mich diese Debatte an die Debatte um § 218. Sie ist ähnlich emotional. Sachliche Überlegungen und Argumente bleiben auf der Strecke.
Alles, was jetzt an politischen Forderungen aufgebaut ist und wird - da nehme ich den SPD-Antrag nicht aus -, ist unter dem Gesichtspunkt zu sehen, daß man die dargestellten Grundstrukturen nicht antastet, statt dessen jedem einzelnen aber sehr deutlich macht, worin sein Beitrag zu seiner Gesundheit und seiner Versorgung zu bestehen hat. Das ist das Dilemma, und das weiß Minister Seehofer natürlich auch. Er weiß auch, daß nur radikale Reformen des Gesundheitswesens das System vor dem Zusammenbruch retten können.
Deutschland muß im übrigen die strukturellen Mängel des in 40 Jahren gewachsenen, wenig geplanten Gesundheitswesens in den alten Bundesländern beseitigen. Diese Struktur- und Finanzprobleme lassen sich eben nicht durch ein oder mehrere Reförmchen lösen. „Weil die Politiker den Kardinalfehler des Systems, die Ausschaltung von Marktmechanismen und den Ausschluß des Konsumenten, nicht behoben haben, folgte jedem staatlichen Eingriff prompt das Ausweichmanöver". Das ist ein Zitat eines westdeutschen Arztes, Dr. Hans Biermann, im „Stern" 37/92 und stammt nicht von mir.
Patienten können nicht ausweichen. Dieser Kardinalfehler wird eben in keinem der vorgeschlagenen Schritte zur Reform auch nur angetastet.
Ein paar Bemerkungen zum Gesundheits-Reformgesetz von 1988. Das sogenannte JahrhundertGesundheits-Reformgesetz von Minister Blüm konnte einen seiner Ansprüche erfüllen: Die Stabilität der Beitragssätze ist mittelfristig, nämlich zwei Jahre garantiert worden. Aber einzig und allein Patienten und Versicherte zahlten seitdem, abgesehen von ihren Kassenbeiträgen, über Zuzahlungen bei Zahnersatz, Hilfs- und Heilmitteln, Krankenhausaufenthalten und Medikamenten den Betrag, den die gesetzlichen Krankenkassen sonst als Defizit zwischen Einnahmen und Ausgaben verbuchen müssen. Das waren jährlich ungefähr 7 Milliarden DM, die den Versicherten und Patienten als zusätzliche Kosten auferlegt wurden. Bei den Leistungsanbietern wie Krankenhäusern, niedergelassenen Ärzten, Apothekern, der Pharmaindustrie und anderen wurde keine der im Gesetz vorgesehenen Maßnahmen zur Ausschöpfung ihrer Wirtschaftlichkeitsreserven wirksam.
Als ein weiterer Kostendämpfungsversuch geht das nunmehr auch von allen Politikern als gescheitert betrachtete Gesetz in die Geschichte ein, und möglicherweise wird es in einigen Jahren mit dem Gesundheits-Strukturgesetz ganz genauso sein.
Einen Fakt sollte man an dieser Stelle ruhig sehr deutlich machen: Bei der Forderung nach Beitragsstabilität - das ist ja an und für sich etwas Gutes - geht es nicht primär um Interessen der Patienten, sondern es geht darum, daß die Arbeitgeber ihre Lohnnebenkosten so gering wie möglich halten können. Selbst mit dieser Forderung, die sehr logisch erscheint, vertritt die Bundesregierung eindeutig Arbeitgeberpolitik, Politik zugunsten des Kapitals und eben nicht unbedingt die Interessen der Patienten.
Der Satz „Wir kämpfen um Beitragsstabilität" hört sich, wie gesagt, sehr schön populistisch an - der Minister hat das sehr klar ausgeführt -, bedeutet aber in der Realität, die wir vor uns haben, daß nur die Lohnnebenkosten so gering wie möglich gehalten werden und daß alle Kosten, die entstehen, in Privathaushalte verlagert werden, noch dazu in die der Kranken. Wer erzählt dies den Versicherten? Ich habe im übrigen überhaupt nichts vom Wegfall der Beitragsbemessungsgrenzen gehört; denn auch darüber sollte man sich unterhalten.
({0})
Um Krankheitsverhinderung als billigste Form der Gesundheitsversorgung kann es eben einfach nicht gehen, wenn feststeht, daß dieses Gesundheitswesen ein riesiger Markt ist, wo Profite realisiert werden. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob diejenigen, die Profite realisieren wollen - das sagt ja auch unser Ausschußvorsitzender - überhaupt ein Interesse an Krankheitsverhinderung haben. Weil die Gesundheitsversorgung, wie sie organisiert ist, einen Markt
darstellt, ist sie krankheitsfördernd und damit kostentreibend.
({1})
- Das hat nun wirklich nichts mit irgendwelchen sozialistischen Ideen zu tun.
Ärztinnen und Ärzte in den neuen Bundesländern, nach ihrer Situation befragt, sagten: Wenn es meiner Praxis gutgeht, geht es mir psychisch schlecht. Wenn es mir psychisch gutgeht, dann geht es meiner Praxis schlecht. Diesen Satz halte ich für sehr aussagekräftig. Ich möchte ihn interpretieren: Wenn ich mich ärztlich verhalte, kann ich meinen Kredit bei der Anlage dieses Gesundheitswesens nicht abbezahlen.
Der Patient wird somit zum Medium, das Kosten erzeugt, d. h. produziert. Je mehr Kosten ein Patient produziert, desto besser für meine Praxis. Ich sehe hierin eine sehr große Gefahr. So werden Patienten auch krankgemacht, und das alles unter dem Motto Patientenwohl. Mit Appellen an die Adresse der Ärztinnen und Ärzte ist da wenig zu bewegen, da die Zwänge nun einmal objektiv sind.
Wenn Herr Minister Seehofer sagt, die Ärztinnen und Ärzte lügten wie gedruckt
({2})
- doch, das haben Sie in meiner Anwesenheit gesagt -, dann sind nicht vor allem die Ärztinnen und Ärzte anzuklagen, sondern das System, das sie dazu degradiert. Sie artikulieren eben ihre Meinung.
Obwohl der Bundesregierung spätestens seit 1988 hätte klar sein müssen, daß das Gesundheitswesen selbst schwer krank ist, hinderte das die Gesundheitspolitiker der Koalition wider besseres Wissen beim Beitritt der DDR nicht daran, das Gesundheitswesen West dem Gesundheitssystem Ost einfach überzustülpen, und das, obwohl der damalige Arbeitsminister Blüm gefordert hatte - das verdient auch heute noch unsere Unterstützung -, einen qualitativen Ausbau des Gesundheitswesens durch Umbau zu erreichen.
Deshalb lebten auch nach Beitritt der DDR zur BRD Hoffnungen auf, daß positive Ansätze - die gab es zweifelsohne - zu einer Strukturreform auch in den Altbundesländern führen könnten. Das war eine Illusion, denn gerade auch in diesem Bereich hat eine rigorose Anschlußpolitik nur dazu geführt, daß wir heute in den neuen Bundesländern mit ganz ähnlichen Bedingungen konfrontiert sind wie in allen Bundesländern.
Das macht die Auseinandersetzung auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik sehr interessant; denn es gibt kaum noch Interessenunterschiede der Beteiligten in Ost und West, wobei ich nicht zum Ausdruck bringen möchte, daß es keine anderen Unterschiede gibt, die selbstverständlich ihre Berücksichtigung finden müssen. Also: vertane Chancen für Reformen in diesem Bereich.
Zwei Jahre dauert nunmehr die Umstrukturierung in den neuen Ländern an, da beginnt mit Antritt des neuen Gesundheitsministers Seehofer ein erneuter Gesundheitsreformversuch, genannt GesundheitsStrukturgesetz. Dem Beitragszahler mutet das Gesundheits-Strukturgesetz „nur" weitere 3,2 Milliarden DM zu. Seit Ende der 70er Jahre schraubt sich damit die Selbstbeteiligung auf rund 15 Milliarden DM hoch- auch das sagt keiner -: 5,6 Milliarden DM nach den Kostendämpfungsbeschlüssen, 6,7 Milliarden DM durch das Gesundheits-Reformgesetz und 3,2 Milliarden DM durch das Gesundheits-Strukturgesetz. Das macht einen Schattenbeitrag von 1,3 % aus, der wohlgemerkt nur auf seiten der Versicherten entsteht. Da sich dieser Zusatzobolus vor allem bei chronisch Kranken und älteren Bürgerinnen und Bürgern konzentriert, ist die Belastung wieder sehr ungleichmäßig und deshalb auch ungerecht verteilt.
Der Vorstoß von Herrn Seehofer, Einsparprogramme auf seiten der Leistungsanbieter zu realisieren, ist schon unterstützenswert, aber es gibt da Besonderheiten. Für mich ist es immer noch eine Art Schutzbehauptung, wenn man bereits jetzt verbreitet, daß bei den Krankenkassen in diesem Jahr rote Zahlen geschrieben werden. Mit dem im Einigungsvertrag festgelegten Beitragssatz von 12,8 % für Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben die Ostkassen seit 1990 sogar Reserven anlegen können. Das hat sehr unterschiedliche Gründe, bedeutet aber, daß das Gesundheits-Strukturgesetz in der jetzt vorliegenden Form die konkrete Situation der Leistungsanbieter, insbesondere der niedergelassenen Ärzte, und auch der Patienten der neuen Bundesländer völlig unberücksichtigt läßt. Wir lehnen es darum ab.
In der zweiten Runde werde ich dann mit weiteren Details aufwarten.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Als nächster hat der Abgeordnete Wolfgang Lohmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Antwort des Herrn Dreßler auf die große Einbringungsrede unseres Gesundheitsministers hat eigentlich nicht überrascht. Sie war ein Gemisch aus hier und da sachlichen Bezügen
({0}) und dann Unlogik und Polemik.
({1})
Wie soll man denn z. B. die Reaktion auf das Gesprächsangebot verstehen, wenn im gleichen Atemzug Gespräche mit Betroffenen, die jeder von uns führen muß, in dieser Weise diskriminiert werden, oder die Tatsache, daß Sie in einem anderen Zusammenhang diese Koalition und den Minister als „Nachlaßverwalter von Günter Mittag" bezeichnen, zu einem Zeitpunkt, als Sie bei dem Hinweis darauf, daß wir uns möglichst einer Sprache befleißigen sollten, die der Sachlichkeit nicht ganz entbehrt, gerade noch genickt hatten?
({2})
Wolfgang Lohmann ({3})
Das ist nicht die richtige Reaktion.
Die gesamte Bevölkerung in Deutschland genießt in allen Bereichen des Gesundheitswesens eine Spitzenversorgung. Wir können das heute auch mit Stolz feststellen. Aber das System selbst, die Systematik von Leistung und Vergütung, die Relation von Solidarität und Subsidiarität, ist gestört. Das System also ist krank. Die Ausgaben bei der gesetzlichen Krankenversicherung steigen doppelt so schnell wie die Einnahmen. Ihnen allen ist bekannt, daß das Defizit im Vorjahr 5 Milliarden DM betragen hat, in diesem Jahr mehr als 10 Milliarden DM erreichen wird - dies alles bei gleichzeitig auf breiter Front steigenden Beiträgen.
Wenn die Regierung und die Koalition nicht handeln würden, ginge dies genauso weiter; denn nichts, aber auch gar nichts spricht dafür, daß dieser Trend im nächsten oder übernächsten Jahr gebrochen würde, wenn nicht entsprechend gehandelt wird.
Die Steigerungsraten, die Ihnen allgemein bekannt sind, sind nicht mit wohlfeilen Argumenten, die sich auf die Überalterung der Bevölkerung oder die medizinische und medizinisch-technische Entwicklung beziehen, zu begründen. Sie haben vielmehr offensichtlich ihre Begründung - dies wird auch in kleinen Gesprächszirkeln nicht bestritten - zum erheblichen Teil in Mengenausweitungen, die mit einer Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung nichts zu tun haben.
Auf die unabsehbaren Folgen weiterer Beitragssatzsteigerungen und damit der Erhöhung der Lohnnebenkosten ist bereits hingewiesen worden. Der Gesetzgeber ist also gehalten, nein, er ist gezwungen, im Interesse einer Wiedergewinnung der Beitragssatzstabilität tätig zu werden.
Nun sind schon häufig Kostendämpfungsversuche, mit sehr begrenztem und fast immer nur mit befristetem Erfolg, unternommen worden; denn sowohl für die Patienten als auch für die Krankenhäuser, Ärzte und die Pharmaindustrie gab und gibt es im bestehenden System noch immer zu wenige Anreize für wirtschaftliches Verhalten und größeres Kostenbewußtsein.
Mit dem heute eingebrachten Gesetzentwurf werden strukturelle Maßnahmen endlich energisch eingeleitet, um die Fehlentwicklungen im Kern anzugehen. Herr Dreßler, wenn Sie auch heute im Hinblick auf die vorgesehene Eigenbeteiligung wieder von Steigerungen in Höhe von 7 Milliarden DM einerseits gesprochen haben, während auf der anderen Seite keine Beiträge der anderen geleistet worden seien, verschweigen Sie - das sollte zumindest einmal gesagt werden -, daß die Versicherten in den zwei Jahren, in denen die Beiträge deutlich gesenkt wurden, rund 50 Milliarden DM - wenn Sie zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufteilen wollen: mindestens 25 Milliarden DM - gespart haben.
({4})
Das gilt aus heutiger Sicht nicht für die Zukunft; zugegeben. Bei 25 Milliarden DM und 7 Milliarden DM Eigenbeteiligung pro Jahr haben wir jedoch nach wie vor noch einen positiven Saldo für die Beitragszahler. Das sollte man bei einer solchen Diskussion nicht verschweigen.
Sie fordern eine durchgreifende Umgestaltung. Wie eine durchgreifende Umgestaltung über die Maßnahmen hinaus, die heute vorgeschlagen worden sind, aussehen soll, sagen Sie in aller Regel nicht.
({5})
Die Erfahrung lehrt, daß strukturelle Maßnahmen hinsichtlich ihrer Umsetzung und Wirksamkeit erhebliche Zeit in Anspruch nehmen. Diese Zeit haben wir nicht. Die Beiträge werden weiter steigen, und zwar in Größenordnungen, die vollkommen unakzeptabel sind. Wir haben bereits jetzt einen Beitragskorridor zwischen 8 % und 16 %.
({6})
Der Durchschnittssatz liegt bei 12,8 % und wird bei Jahresende noch höher liegen, bei 13,2 % oder sogar mehr.
Würden wir uns jetzt neben der Durchführung struktureller Maßnahmen nicht zu einer sofort wirksamen Sicherung der finanziellen Grundlagen entschließen, wären jährliche weitere Beitragssatzsteigerungen von 0,5 Prozentpunkten unausweichlich. Nur deshalb haben wir eine Parallelität von Sofortbremsung einerseits und Strukturänderung andererseits vorgeschlagen.
({7})
Hierbei ist klar, daß alle am Gesundheitswesen Beteiligten einen ausgewogenen und zumutbaren Beitrag zu den Sparbemühungen erbringen müssen. Denn es darf nicht sein, daß es einer Gruppe oder einer Institution, beispielsweise dem Krankenhaus, gelingt, sich aus dem Akkord einer großen solidarischen Anstrengung auszuklinken. Das wäre für die jeweils andere Gruppe das Signal, das gleiche zu tun. Dann stünden wir wieder da, wo wir heute stehen.
Über die Ausgewogenheit ist diskutiert worden. Man kann selbstverständlich darüber unterschiedlicher Meinung sein, ob die Relation 3,2 Milliarden DM für die Beitragszahler und 8,2 Milliarden DM für die Leistungserbringer irgendeinen besonderen Sachbezug hätte. Aber vielleicht wäre es ganz zweckdienlich, wenn Sie vorschlagen würden, in welcher Weise bei Aufrechterhaltung des gesamten Einsparvolumens in der Größenordnung von 11,4 Milliarden DM mehr Gerechtigkeit zu erreichen wäre.
Herr Dreßler, ich möchte ein Argument von Ihnen aufgreifen, das mich sehr nachdenklich gemacht hat. Sie haben - meines Wissens erstmalig in diesem Zusammenhang - davon gesprochen, die Gesundheitskosten stünden in einer Beziehung zum Bruttosozialprodukt und müßten das auch weiterhin tun. Sie haben quasi gesagt, 10 % des Bruttosozialprodukts sollte auch weiterhin die Marge sein. Sie nehmen damit das Argument derjenigen auf, die sich, was ihr Einkommen betrifft, in immer größerem Umfang an den Gesundheitskosten beteiligen wollen. Sie wissen ganz genau: Wir sind in erster Linie für die Beitrags9006
Wolfgang Lohmann ({8})
zahler verantwortlich. Ein Gesundheitssystem, das sich aus Beiträgen finanziert, kann die Höhe der Belastung nicht am Bruttosozialprodukt messen.
({9})
Insofern ist es ein sehr gefährliches Argument, das Sie aufgenommen haben. Möglicherweise haben Sie es auch nicht so gemeint, wie ich es interpretiert habe.
({10})
Einen besonders wichtigen Abschnitt dieser gesetzlichen Neuordnung bildet das Krankenhaus. Das Krankenhaus wurde - das muß man sagen - bei den früheren Bemühungen um eine Begrenzung der Ausgaben regelmäßig und weitestgehend ausgespart, auch wenn bei der letzten Gesundheitsreform davon gesprochen worden ist, das sei Gegenstand der zweiten Stufe. Aber in der Vergangenheit - auch schon vor dieser Koalition - ist immer darum herum reformiert worden. Bei dieser Schonung des Krankenhausbereiches haben die Bundesländer leider eine nicht sehr glückliche - um nicht zu sagen: unselige - Rolle gespielt. Wir hoffen, daß die Einsicht in die Handlungsnotwendigkeit jetzt wesentlich größer ist als vorher.
({11})
Der Krankenhausbereich macht schließlich mehr als ein Drittel der gesamten Kosten aus. Weit über 50 Milliarden DM werden hier per annum umgesetzt. Die Kostensteigerungen lagen in den letzten Jahren weit über der Steigerungsrate der Grundlohnsumme. 1991 betrug die Steigerung 9,8 %, im ersten Halbjahr dieses Jahres bereits 13,5 %.
Wir haben einen durchschnittlichen Pflegesatz von 350 DM pro Tag mit Spitzenwerten bis zu sage und schreibe 600 DM pro Tag. Wenn man dazurechnet, daß Privatpatienten über ihre Wahlleistungen und den Zimmerzuschlag, etwa im Hamburger Bereich, mit 200 DM oder 250 DM zusätzlich zur Kasse gebeten werden, dann kommen wir auf Sätze, die jeder sachlichen Begründung entbehren
({12})
bzw. die sehr stark vermuten lassen, daß die Wirtschaftlichkeit und das Kostenbewußtsein auch im Krankenhaus - ganz vorsichtig ausgedrückt - noch verbessert werden könnten.
Es ist zuzugeben, daß sich die Verweildauer seit 1960 deutlich reduziert hat. Sie liegt jetzt im Schnitt unter 16 Tagen: bei der inneren Medizin bei 14,1 Tagen, bei der Chirurgie bei 12,3 Tagen und bei der Orthopädie bei 17 Tagen. Aber die Fachwelt ist sich einig, daß weitere deutliche Senkungen der Verweildauer möglich wären, wenn entsprechende Anreize gegeben oder ein heilsamer Druck ausgeübt würden.
Diese mit wenigen Strichen skizzierte Lage hat ihre Ursache in einem Mangel an Wettbewerb und Wirtschaftlichkeit. Das wiederum ist auf die Fehlsteuerung
zurückzuführen, die im Kern durch die duale Finanzierung, das Selbstkostendeckungsprinzip, ausgelöst wird. Unsere Handlungsmaxime muß also auch hier sein: Sofortbremsung jetzt, Budgetierung oder, wie viele sagen, Deckelung und strukturelle Maßnahmen parallel dazu.
Das Krankenhaus muß endlich zu einem richtigen Unternehmen werden.
({13})
Natürlich zu einem Unternehmen eigener Art; denn es hat ja schließlich einen Versorgungsauftrag zu erfüllen. Aber auf Sicht soll das Entgelt nicht mehr an der Dauer des Krankenhausaufenthaltes, sondern an der Einzelleistung, sozusagen am einzelnen Krankheitsfall bemessen werden. Der Krankheitsfall wird der Parameter für die Kostenzuordnung und die Preisbemessung.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, natürlich ist es nicht möglich, quasi in einem Gewaltakt die gesamte Krankenhausfinanzierung vollkommen umzustülpen. Dazu sind die Strukturen - teilweise auch die in den Köpfen - viel zu sehr verkrustet. Aber immerhin gehen wir einen ganz wesentlichen Schritt auf dem Weg von der dualen zur monistischen Finanzierung, d. h. zur Finanzierung aus einer Hand, die eigentlich das Grundprinzip einer Neuordnung sein müßte. Der wesentliche Schritt ist die Abschaffung des Selbstkostendeckungsprinzips zum 1. Januar 1993 und die gleichzeitige Festlegung, daß von 1993 bis 1995 die dem Krankenhaus zur Verfügung stehenden Mittel der GKV auf den Zuwachs der beitragspflichtigen Einnahmen begrenzt werden. Hierbei werden im Vergleich zu der bisherigen Entwicklung rund 2,5 Milliarden DM eingespart werden können.
Zugleich bestehen wir darauf, daß ein wesentlich größerer Teil der notwendigen Kostenerstattung durch Chefärzte an die Krankenkassen, die bei der Budgetzuzahlung schließlich in Vorlage getreten sind, auch erstattet werden und nicht in andere Kanäle, wie sie auch heißen mögen, geleitet werden.
Ab 1995 wird der tagesgleiche Pflegesatz so schnell und so weitgehend wie möglich durch leistungsorientierte und pauschalierte Vergütungen wie Sonderentgelte und Fallpauschalen abgelöst. Auch private Investitionen beispielsweise werden wesentlich erleichtert und geradezu angeregt. Für die pauschalierten Vergütungen ist eine regionale Preisfindung auf der Basis bundeseinheitlicher Kriterien vorgesehen, möglicherweise mit einer späteren Tendenz zur Individualisierung im Rahmen von bestimmten Bandbreiten.
Fallpauschalen werden - das bestätigen alle bisherigen Modellversuche - Anreize für eine deutliche Senkung der Verweildauer ausüben. Der bisher von den Krankenhäusern stets bestrittene Bettenüberhang wird bei Senkung der Verweildauer offensichtlich werden und die Chance eröffnen, Betten abzubauen, möglicherweise Abteilungen zu schließen,
Wolfgang Lohmann ({14})
oder, was noch viel besse wäre, Abteilungen für den dringend notwendigen Pflegebereich umzuwidmen.
({15})
Durch eine Reihe weiterer flankierender Maßnahmen - die im Rahmen des jetzigen Zeitlimits nicht mehr angesprochen werden können - wird Wettbewerb ausgelöst und damit ein Rationalierungszwang erzeugt, den es bisher nicht gab. Es wird gewissermaßen das Rationalprinzip im volkswirtschaftlichen Interesse und im Interesse des Patienten wieder in Kraft gesetzt. Denn bisher, meine Damen und Herren, hieß „Rationalprinzip" im Krankenhaus doch: Wenn es dir gelingt, alle Kosten nachzuweisen, dann bekommst du sie auch ersetzt. Es hieß nicht, wie an sich erforderlich: Eine bestimmte Leistung muß ich mit möglichst niedrigen Kosten zu erzeugen versuchen, oder - umgekehrt - bei bestehenden Kosten muß ich eine möglichst hohe Leistung zustande bringen. Nach der Gesetzesänderung werden alle Anstrengungen darauf verwendet werden, die entsprechenden Leistungen auch zu erbringen.
In diesem Zusammenhang ist von Herrn Dreßler auch die Frage der Eigenbeteiligung noch einmal angesprochen worden. Daß Eigenbeteiligung, Zuzahlung, ein Reizwort ist und daß es sich natürlich auch ausgezeichnet dazu eignet, zu polemisieren, auch Menschen zu verängstigen oder die Neiddiskussion wieder in Gang zu setzen, ist bekannt.
({16})
Nur ist es in diesem Fall, bei den Krankenhäusern, am allerwenigsten angebracht. In anderen Fällen kann man darüber reden, beim Krankenhaus nicht.
Wenn es stimmt, daß der nicht mehr zu Hause versorgte und verpflegte Patient im Krankenhaus eine Einsparung von rund 11 DM pro Tag hat, dann kann doch die Solidargemeinschaft der Beitragszahler nicht dafür da sein, ihm bei dem durch die Krankheit notwendig gewordenen Krankenhausaufenthalt diese Einsparung noch zugute kommen zu lassen, sondern diese Einsparung - und nur diese Einsparung - soll er abführen.
({17})
- Das hat mit zu hohen Belastungen nichts zu tun. Es ist interessant, daß nun auf einmal behauptet wird, daß alle Patienten wochen-, monate- und möglicherweise jahrelang im Krankenhaus liegen, obwohl wir doch wissen: Die durchschnittliche Liegedauer beträgt rund 16 Tage. Im Durchschnitt käme also nur eine Zuzahlung von 16 mal 11 DM in Frage. Das ist der Durchschnitt; es gibt welche mit viel, viel kürzerer Aufenthaltsdauer, es gibt welche mit längerer. Wenn die Einsparung am ersten Tag da ist, ist sie auch am zehnten Tag da, und sie ist auch am 50. Tag da. Insofern ist es sachlogisch, das durchzuziehen und nicht auf bestimmte Zeiten zu begrenzen.
({18})
Nach Vorlage des Referentenentwurfs hat es bereits eine Menge Kritik gegeben. Sie war in den seltensten Fällen sachorientiert, meistens an Eigeninteressen und der Verteidigung von Besitzständen ausgerichtet.
({19})
Gelegentlich waren Einlassungen geradezu abenteuerlich. Ich entsinne mich an eine Veranstaltung mit Zahnärzten,
({20})
wo mir u. a. bezüglich der Absicht, das Honorar für Zahnersatz für drei Jahre um 20 % zu senken, vorgehalten wurde: Wissen Sie, was das heißt? 60 %!
({21})
Meine Damen und Herren, Adam Riese würde sich im Grabe herumdrehen, wenn er solche Rechenexempel hören könnte.
Auf Briefe anderen Inhalts will ich in diesem Zusammenhang nicht eingehen; denn wir haben uns vorgenommen, wieder zur Sachdiskussion zurückzukehren.
({22})
Deswegen möchte ich von mir aus nicht mit gleicher Münze heimzahlen, was uns bisher geboten worden ist.
Meine Damen und Herren, das System wird nicht zusammenbrechen, wie uns vorgehalten wird, sondern leistungsfähig gehalten:
Die freiberuflich Tätigen werden nicht in den Ruin getrieben, sondern veranlaßt, das Eigeninteresse durch Eigenverantwortung für das Ganze zu ersetzen oder zumindest zu ergänzen.
Die Selbstverwaltung wird nicht ausgehebelt und zu einem sozialistischen Planungsinstrument umfunktioniert, sondern handlungsfähig und durch heilsamen Nachdruck vielleicht auch handlungsbereit gemacht.
Die Versicherten werden nicht, wie die SPD behauptet, durch Eigenbeteiligung überfordert,
({23}) sondern veranlaßt,
Herr Lohmann, Ihre Redezeit ist beendet.
- letzter Satz! - kritischer mit den Gesundheitsangeboten umzugehen und sich nicht vor den Karren der Einkommensinteressen anderer spannen zu lassen.
Das Gesetz ist gut, und ich hoffe, daß es aus den parlamentarischen Beratungen, insgesamt gesehen, so herauskommen wird, wie wir es eingebracht haben.
({0})
Wolfgang Lohmann ({1}) Schönen Dank.
({2})
Als nächster erteile ich der Abgeordneten Christina Schenk das Wort.
Frau Präsidentin!. Meine Damen und Herren! Das Wort „Gesundheitswesen" scheint seit einigen Jahren nicht mehr denkbar zu sein ohne das Wort „Kostenexplosion" . Ich meine, daß dies eine irreführende Beschreibung für das Problem ist, um das es hier geht: die stetig größer werdende Diskrepanz zwischen Einnahmen und Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung, die, wie hier heute schon öfter erwähnt, bereits Anlaß zu mehreren Reformversuchen gegeben hat. Diese Diskrepanz muß nicht nur abgebaut werden, sondern die Finanzierung des Gesundheitswesen muß endlich auf eine solide Basis gestellt werden. Ich glaube, da besteht sogar Konsens.
Hierzu ist jedoch eine Analyse nicht nur der Ausgabenseite, sondern auch der Einnahmenseite erforderlich. Der Begriff Kostenexplosion, der in den gesundheitspolitischen Diskussionen nahezu inflationär gebraucht wird, verweist jedoch ausschließlich auf den Anteil der Ausgaben und dient, wie ich meine, allzu offensichtlich dem Zweck, die Verantwortung, die der Bund für die Deckung des Defizits der gesetzlichen Krankenversicherung übernehmen muß, zu ignorieren.
Die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung sind in erster Linie abhängig von der demographischen Entwicklung und auch von der Lage auf dem Arbeitsmarkt. Bei herrschender Massenerwerbslosigkeit und gleichzeitig drastischem Anstieg des Anteils älterer Bürger und Bürgerinnen kann das Versorgungsniveau nur dann gehalten und die Beitragsstabilität nur dann gewährleistet werden, wenn sich der Bund an den Kosten des Gesundheitswesens beteiligt und wenn zugleich eine wirklich aktive Arbeitsmarktpolitik betrieben wird.
Allein mit Hilfe marktwirtschaftlicher Instrumentarien, wie es in dem vorliegenden Reformpaket vorgeschlagen wird, ist das Problem nicht zu lösen. Man muß endlich zur Kenntnis nehmen, daß es Bereiche gibt, die man nicht zum marktwirtschaftlichen Selbstläufer machen kann, zumindest so lange nicht, wie der Begriff Sozialstaat noch eine Bedeutung haben soll.
({0})
An der Bereitschaft, Steuergelder auch für Zuschüsse zur Kostendeckung im Gesundheitswesen zu verwenden und vor allem einen grundlegenden Strukturwandel vorzunehmen, wird sich messen lassen, was einer Regierung die Gesundheit der Barger und Bürgerinnen wert ist.
Das jetzt vorgelegte Reformkonzept enthält in seinen beiden Teilen weder einen Hinweis darauf, daß der Bund nunmehr in die Verantwortung genommen wird, noch Überlegungen zu einer Einnahmenerhöhung der gesetzlichen Krankenversicherung über die Ausdehnung der Versicherungspflicht, sondern konzentriert sich allein auf die Reduzierung der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung und läßt
dabei den eigentlich kostentreibenden Faktor noch unberührt. Nicht nur die High-Tech-Methoden, der Arzneimittelverbrauch, die Nachfrage nach ärztlicher Betreuung oder die Zahl der Ärzte sind kostenbestimmend und gehen in die Bilanz der gesetzlichen Krankenversicherung ein, sondern die Struktur des Gesundheitswesens selbst mit seinem Zwang zur Niederlassung und seinem Honorarsystem, das die ärztliche Behandlung zu einem betriebswirtschaftlichen Vorgang macht und darüber hinaus noch den apparativen Einsatz überdurchschnittlich bewertet, muß zwangsläufig zu einer Beschleunigung der Kostenentwicklung führen.
An dieser alles entscheidenden Stelle jedoch greift das Reformkonzept nicht. Es beschränkt sich allein darauf, insbesondere die Kranken zur Kasse zu bitten. Dahinter steckt die verleumderische Legende von der Verantwortungslosigkeit der Patienten und Patientinnen, die angeblich dazu führt, daß sie Medikamente in unglaublichen Mengen konsumieren wollen, daß sie wegen jeder Bagatelle zum Arzt laufen, daß sie ein überzogenes Anspruchsdenken haben und daß sie sich um die eigene Gesundheitsvorsorge nicht scheren. Wie anders soll man sonst die Rufe von seiten der Versicherungsträger und - wen wundert es denn in diesem Hause noch? - auch von seiten der PharmaIndustrie interpretieren, die einen Bewußtseinsumschwung bei den Versicherten fordern und dies dadurch fördern wollen, daß die Versicherten an den Ausgaben, die zur Behandlung ihrer Krankheiten erforderlich sind, prozentual beteiligt werden?
Hinter solch einem Denken steckt nicht nur Zynismus gegenüber den Kranken, insbesondere gegenüber den chronisch Kranken, sondern auch noch der Grundirrtum, daß Gesundheit monokausal bedingt sei und allein vom persönlichen Verhalten abhänge. Nicht das Verhalten der Versicherten ist in erster Linie die Ursache für die Finanzierungsprobleme des Gesundheitswesens, sondern die Strukturdefekte eben dieses Gesundheitswesens.
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Der zweite Teil der Seehoferschen Reform trägt zwar die Bezeichnung Gesundheits-Strukturgesetz und wird als Strukturverbesserung verkauft, leistet aber eben genau das nicht, sondern bleibt auf der monetären Ebene stecken. Die notwendige grundsätzliche Reform des Gesundheitswesens degeneriert also wieder nur zur notdürftigsten Schadensbegrenzungs- und Reparaturgesetzgebung, die zudem mit extremen sozialen Ungerechtigkeiten verbunden ist, der Qualität der Versorgung schadet und letztendlich die Divergenz zwischen Einnahmen und Ausgaben nicht dauerhaft aufheben wird, da eben die treibenden Momente der Kostenentwicklung nicht eliminiert werden. Es scheint, als ob entweder die Lüge oder die Selbsttäuschung nun endgültig zum konstitutiven Moment der Politik dieser Regierung geworden ist.
Eine Bemerkung zu den Einnahmen der Krankenversicherung: Es ist sozialpolitisch nicht begründbar, warum in einem Sicherungssystem, welches sich auf Solidarität gründet und auch gründen muß, wenn es human und sozial sein soll, die Besserverdienenden nicht auf ihr gesamtes Einkommen Beiträge entrichChristina Schenk
ten. Die Bemessungsgrenze sollte gestrichen werden.
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Die Familienversicherung sollte sich auf minderjährige Kinder beschränken. Beamte und Selbständige sollten in das Krankenversicherungssystem grundsätzlich einbezogen werden.
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Ein Wort zu den Ausgaben: Es greift zu kurz, wenn die Aufwendungen der Kassen für Arzneimittel dadurch gedämpft werden sollen, daß künftig Zuzahlungen auch für Festbetragsmedikamente geleistet werden, die dann auch noch jährlich dynamisiert werden. Das ist schlichtweg unsozial.
Die entscheidenden Einsparmöglichkeiten liegen an einer ganz anderen Stelle. Die Preise für die Produkte der deutschen Pharmaindustrie liegen im europäischen Vergleich an der Spitze.
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Hier muß mit Preisreglementierungen eingegriffen werden, nicht mit Budgetierung und Malus-Regelungen, die die ärztliche Behandlung sachfremden Zwängen aussetzen und geeignet sind, das Vertrauen der Hilfesuchenden in Aussicht auf bestmögliche Behandlung zu zerstören.
Der entscheidende Punkt bei den Ausgabenbegrenzungen liegt jedoch im Honorarsystem. Eine simple Deckelung der Einkommen der Ärzte und Ärztinnen, wie das Seehofersche Konzept sie vorsieht, ist nicht die Lösung. Solange jeder einzelne Handgriff abrechenbar ist, sind die Patientinnen und Patienten zwangsläufig der Gefahr überflüssiger Untersuchungen und Verschreibungen ausgesetzt, zumal das Prinzip der Niederlassung dazu verleitet und zum Teil auch dazu zwingt, sich die Gewinne selbst zu organisieren. Es ist höchste Zeit, über Alternativen zum Einzelleistungsvergütungssystem nachzudenken, z. B. über die Zahlung von Pauschalbeträgen pro Patient bzw. Patientin.
Auch das eklatante Mißverhältnis in der Bewertung technisch-operativer Leistungen einerseits und der Bemühungen um individuelle und angemessene Beratung und Aufklärung sowie um die psychosomatischen Aspekte einer Behandlung andererseits muß dringend abgestellt werden. Die Materialschlacht in den Arztpraxen wird durch das gegenwärtige Honorarsystem geradezu provoziert; da braucht man sich doch über die steigenden Kosten nicht zu wundern.
Auf der anderen Seite werden Ärzte und Ärztinnen, die die Medizintechnik nicht exzessiv einsetzen wollen oder auf Grund ihrer Spezialisierung nicht können, in ungerechtfertigter Weise benachteiligt. Ich meine, auch über Alternativen zum Niederlassungsprinzip muß endlich nachgedacht werden. Dazu liegen vielfältige Erfahrungen in der Ex-DDR, d. h. in Ostdeutschland, vor.
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Der Grundfehler liegt doch gerade in der alleinigen Steuerung durch Profitinteressen. Ausgerechnet das
soll nun auch die ausschließliche Grundlage der Krankenhausfinanzierung werden. Demnächst soll in diesem Bereich in gleicher Weise verfahren werden wie mit dem öffentlichen Wohnungsbau. Ich sage Ihnen: Auf lange Sicht werden sich auch hier die kurzfristigen Spareffekte der öffentlichen Hand ins Gegenteil verkehren. Das gilt vor allem für die Krankenhäuser in Ostdeutschland, die durch ihren erheblichen Investitionsbedarf unter der geplanten Umstellung der Krankenhausfinanzierung am meisten leiden werden.
Ein weiterer Punkt, der zur Kosteneinsparung beitragen könnte, wäre, dafür zu sorgen, daß die Kassen auf vergleichbarer Basis in einen Wettbewerb zueinander treten können. Nur wenn ein Risikostrukturausgleich zwischen den Kassen vorgenommen wird, wird die Qualität des Managements erst vergleichbar. Dies würde sich dann direkt auf die Beitragshöhe auswirken können.
Von alledem ist im Reformpaket nicht die Rede. Das hier vorgelegte Konzept ist de facto die Aufkündigung der Solidargemeinschaft zwischen Gesunden und Kranken. Die Regierungskoalition beschreitet mit ihrer rigorosen Ökonomisierung der Sozialpolitik weiter ihren einseitigen und zutiefst unsozialen Weg der Reprivatisierung und Individualisierung der Daseinsvorsorge,
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an dessen Ende die völlige Demontage des Sozialstaates stehen kann, wenn hier nicht entschlossen Widerstand geleistet wird.
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Als nächstes spricht der Sozialminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Dr. Klaus Gollert.
Minister Dr. Klaus Gollert ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Gesetzespaket zur Gesundheitsreform leistet die Bundesregierung einen mutigen, wenn auch umstrittenen Beitrag, um die dramatische Ausgabenentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung zu stoppen. Es gibt hier eindeutigen Handlungsbedarf.
Ich ergreife heute als Sozialminister eines neuen Landes und als Arzt eines solchen Landes das Wort vor allem für die Belange der neuen Länder. Dort war die Situation der Kassen bisher noch vergleichsweise stabil. Die Explosion der Kosten im Gesundheitswesen und die damit verbundenen Probleme kommen allerdings auch auf uns schneller zu, als uns lieb ist. Bereits für das Jahr 1992 wird ein Defizit von rund 2 Milliarden DM für die Krankenversicherung vorausgesagt.
Es zeichnet sich bereits jetzt ab, daß bei ungebremster Kostenentwicklung auch in den neuen Ländern die Beitragssätze längerfristig angehoben werden müssen. So sinnvoll und notwendig deshalb Maßnahmen zur Kostendämpfung schon heute sind, so müs9010
Minister Dr. Klaus Gollert ({1})
sen sie jedoch in den neuen Ländern besonders sensibel vorgenommen werden.
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Die neuen Strukturen des Gesundheitswesens müssen sich erst einmal allmählich etablieren. Dieser Prozeß ist noch lange nicht abgeschlossen.
Es gibt in den neuen Ländern einen enormen strukturellen und investiven Nachholbedarf. Dieser muß kompensiert werden, bevor das kostendämpfende, marktwirtschaftliche Instrumentarium des neuen Gesetzes greifen kann.
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Wir können nicht erwarten, daß mittel- oder langfristig ein gleich hohes Niveau bei der gesundheitlichen Betreuung erreicht wird, wenn man heute von einem vollkommen unterschiedlichen Niveau startet und dennoch in gleicher Weise Einsparungen vornimmt. Die neuen Länder sind deshalb auch perspektivisch auf die Solidarität Gesamtdeutschlands angewiesen. Diese muß sich bei der Gewährung von Investitionshilfen für Krankenhäuser, durch Ausnahmeregelungen, durch Schonfristen und durch Übergangslösungen, die im vorgesehenen Gesetzesvorhaben berücksichtigt werden sollten, bewähren,
Bei allem Grundkonsens mit den Plänen der Bundesregierung sollten aus der Sicht der neuen Länder doch folgende Forderungen bedacht werden: Bei der stationären Versorgung ist die Aufhebung des Selbstkostendeckungsprinzips grundsätzlich richtig, setzt aber eine qualitativ und quantitativ funktionstüchtige Krankenhausstruktur voraus. Hier gibt es erheblichen Nachholbedarf vor allem bei Bausubstanz und Ausstattung der Krankenhäuser. Solange diese Niveauunterschiede zu den Altländern nicht annähernd beseitigt sind, können unsere Krankenhäuser überwiegend nicht kostendeckend arbeiten.
Neben den Ländern sind auch der Bund und andere Kostenträger an der Finanzierung der dringend notwendigen Investitionen zu beteiligen. Es sind Anreize für den Einsatz privaten Kapitals zu schaffen.
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Bei der ambulanten ärztlichen Versorgung dürfen erreichbare und absehbare Erfolge nicht durch restriktive Maßnahmen gefährdet werden. Ich nenne nur drei Beispiele.
Beim Zahnersatz besteht in der Bevölkerung immer noch ein enormer Nachholbedarf. Die Aufspaltung in Regel- und Wahlleistungen muß deshalb zur Zeit in den neuen Ländern befristet ausgesetzt werden.
Die Zuzahlungen der Patienten müssen moderat gehandhabt werden. Im Vorfeld der Beratungen konnte durch die Einführung gleicher Einkommensgrenzen für Ost und West bei der Zuzahlung für Arznei-, Heil- und Hilfsmittel viel für die neuen Länder getan werden. Bei der Zuzahlung für Krankenhausaufenthalte sollte unseres Erachtens ebenfalls eine Härtefallregelung aufgenommen werden.
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- Doch.
Mit der Einführung von Altersgrenzen für die Kassenzulassung dürfen keine falschen Zeichen gesetzt werden. Die Garantie, die Zulassung mindestens 15 Jahre behalten zu können, ist bereits ein Zugeständnis an die neuen Länder. Wegen der hohen Kosten bei der Neueinrichtung von Praxen halte ich eine Schonfrist von 20 Jahren bis zum Erreichen der Altersgrenzen für angemessen.
Meine Damen und Herren, alle neuen Länder, auch Berlin und Brandenburg, hatten im Vorfeld der Beratung gute und konstruktive Gespräche mit dem Bundesgesundheitsminister. Es gab im Krankenhausbereich viel Konsens. Eine Verweigerungshaltung der SPD, wie sie sich im Bundesrat in dieser Woche angedeutet hat, ist deshalb fehl am Platz.
Für die neuen Länder setze ich darauf, daß die bisherige Gesprächsbereitschaft der Bundesregierung auch im weiteren parlamentarischen Verfahren aufrechterhalten wird.
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Gestatten Sie mir noch ein letztes Wort zur Regionalisierung der Krankenkassen, wie sie von vielen Ländern gefordert wird. Nach wie vor lehne ich diese ab,
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wenn sie wirtschaftsschwache Länder zugunsten wirtschaftsstarker Länder benachteiligt, wenn sie auf Grund unterschiedlicher Finanzierungsmöglichkeiten in den Ländern unterschiedliche Niveaus der Versorgung mit Gesundheitsleistungen bewirkt und wenn sie zu einer Zerschlagung funktionsfähiger Krankenkassen führt.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})
Als nächster spricht der Abgeordnete Klaus Kirschner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch wenn Sie es leugnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der F.D.P.: Die Vorlage der beiden Gesetzentwürfe
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von seiten der Bundesregierung ist ein gesundheitspolitischer Offenbarungseid.
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Ein deutlicheres Eingeständnis des Scheiterns des Gesundheits-Reformgesetzes kann es nicht geben. Ziel Ihres damaligen Gesetzes war es - ich will es Ihnen noch einmal in Erinnerung rufen -, die Beiträge zu senken und dauerhaft zu stabilisieren.
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Ihrer Analyse, Herr Bundesgesundheitsminister, kann man eigentlich nichts hinzufügen. Sie macht nur
Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 105. Sitzung. Bonn, Freitag, den i 1. September 1992 9011
die Verantwortung der Bundesregierung für das Scheitern ihres eigenen Gesundheits-Reformgesetzes deutlich.
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Meine Damen und Herren, auch wenn einige Punkte im nun vorliegenden Entwurf eines Gesundheits-Strukturgesetzes auf mehr Wirtschaftlichkeit gerichtet sind - das wollen wir anerkennen -,
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knüpft die Bundesregierung unterm Strich - das ist unsere Kritik - dort wieder an, wo schon Blüm gescheitert ist, nämlich zu kurzatmiger Kostendämpfung. Zwar werden die geplante Arzneimittelbudgetierung und die 5%ige Preissenkung der festbetragsfreien Arzneimittel zu einer gewissen Preisberuhigung in diesem Bereich führen, aber was kommt danach?
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Sicherlich wird auch die geplante neuerliche Selbstbeteiligung der Patienten bei den Arzneimitteln zu geringeren Ausgaben bei den Krankenkassen führen. Jedoch: Wer bezahlt dies? - Es sind die Patienten, und es trifft hierbei vor allem die chronisch kranken und älteren Menschen, also jene Gruppen, die Arzneimittel am häufigsten benötigen und die der Solidargemeinschaft am stärksten bedürfen.
Oder die von Ihnen vorgesehene 20 %ige Absenkung der Vergütung beim Zahnersatz bei den sogenannten Regelleistungen: Dies wird zwar den Kassen weniger Ausgaben in diesem Bereich bescheren; die Zahnärzte werden sich dies jedoch mit Mengenausweitung und höherer Zuzahlung durch die von Ihnen vorgesehenen privaten Wahlleistungen bei den Patienten wiederholen. Höhere Zuzahlungen sind nichts anderes als ein Verschiebebahnhof hin zum Geldbeutel des einzelnen Versicherten.
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Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auch folgendes feststellen. Wir haben bei den Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen dort die höchsten Steigerungsraten, wo Sie mit dem GesundheitsReformgesetz die Selbstbeteiligung der Versicherten drastisch erhöht haben, beispielsweise bei den Arzneimitteln, wo wir 1991 Ausgabensteigerungen von mehr als 12 % hatten. Dort müssen wir für das erste Halbjahr 1992 ebenfalls mit zweistelligen Steigerungsraten rechnen. Das gilt auch für das Krankenhaus, wo Sie die Selbstbeteiligung verdoppelt haben. In diesem Bereich gab es 1991 Ausgabensteigerungen von fast 10 %. Die Steigerungsrate des ersten Halbjahres 1992 lag bei 12 %.
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Das gilt auch für den Bereich des Zahnersatzes, wo die Ausgabenzuwächse 16 % betragen, obwohl Sie durch das Gesundheits-Reformgesetz die Höhe der Zuzahlung verdoppelt haben.
Ich denke, diese wenigen Beispiele machen deutlich: Nicht der Patient bestimmt den Umfang der verordneten Leistungen, sondern der Arzt. Lassen Sie mich deutlich sagen: Der Arzt hält den Schlüssel zu unserem Gesundheitswesen - um nicht zu sagen: den Tresorschlüssel - in der Hand, nicht der Patient.
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Ihre Strategie war und ist es, den finanziellen Anteil der Versicherten an den Ausgaben der Krankenversicherung durch eine zusätzliche Selbstbeteiligung zu erhöhen, um damit den Anteil der Arbeitgeber an der gemeinsamen Finanzierung zu senken und gleichzeitig neue Finanzspielräume für die Leistungserbringer zu eröffnen. Diese Politik lehnen wir ab. Mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch setzen Sie diese Politik der zusätzlichen Belastung für die Patienten fort, diesmal in einer Größenordnung von 3,2 Milliarden DM pro Jahr. Dies ist gesundheitspolitisch verfehlt und sozialpolitisch völlig verwerflich.
In diesem Zusammenhang muß auch der von der Bundesregierung geplante Systembruch beim Zahnersatz beurteilt werden. Das, was Sie auf diesem Gebiet vorhaben, widerspricht den Grundsätzen unserer sozialen Krankenversicherung.
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- Hören Sie bitte zu. Die von Ihnen geplante Aufteillung in eine Grundversorgung - Sie nennen es schönfärberisch Regelleistung - und in Wahlleistungen ist, auch wenn Sie mir widersprechen, der Weg in die Zweiklassenmedizin.
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Diejenigen, die es sich finanziell leisten können, die Wahlleistungspatienten, werden dann bevorzugt bedient und behandelt, während der Regelleistungspatient in der Warteschlange steht.
Ich fordere Sie auf: Setzen Sie auf ein Konzept der Prävention, der Qualitätssicherung mit verbindlich vorgeschriebenen Qualitätsstandards und der Gewährleistungsfristen, die auch auf Füllungen auszudehnen sind.
Nehmen Sie sich bitte einmal die vor wenigen Monaten veröffentliche Langzeitstudie des Bundesverbandes der Betriebskrankenkassen zur Qualität der zahnmedizinischen Versorgung vor. Diese hat es doch an den Tag gebracht: Schlechte Arbeit kostet die Krankenkassen Jahr für Jahr mindestens 350 Millionen DM. Das sind Versichertengelder, die bei entsprechend verbindlich vorgeschriebenen Qualitätsstandards und Gewährleistungsfristen einzusparen sind, und die Patienten müssen nicht unnötige Schmerzen erleiden und unnötige Gänge zum Zahnarzt antreten.
Mit Ihrem Regelleistungs- und Wahlleistungskonzept gehen Sie einen Weg in die Vergangenheit. Sie öffnen die Tür für eine andere Krankenversicherung, die nicht mehr die notwendige medizinische Vollversorgung gewährleistet, sondern eben auf eine Grundversorgung ausgerichtet werden soll. Ich sage deutlich: Dies lehnt die SPD ab.
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Herr Bundesgesundheitsminister, was Ihren Entwurf des Gesundheits-Strukturgesetzes angeht, so sind einige richtige Schritte vorgesehen. Allerdings sind sie zu kurz, oder sie weichen zu früh vom Weg ab. Glauben Sie nicht, Herr Bundesminister, daß es 1999 zu spät ist für eine wirksam greifende Bedarfsfestlegung im ambulanten ärztlichen Bereich und für die Einführung der Altersgrenze? Bei einem Nettozuwachs von 3,5 bis 4,5 % bei der Zahl der niedergelassenen Ärzte bedeutet dies mindestens noch einmal 12 000 Ärzte mehr als heute. Schon heute haben wir trotz ständig nach oben korrigierter Bedarfszahlplanungen einen Versorgungsgrad, der zwischen 117 % bei den Allgemeinmedizinern und 243 % bei den Nervenärzten liegt.
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- Herr Dr. Altherr, eine über den Bedarf hinausgehende Zahl von Ärzten bedeutet nicht mehr Gesundheit, sondern steigende Ausgaben. Da zitiere ich übrigens nur den Herrn Bundesgesundheitsminister; nur damit wir wissen, wovon wir reden.
Ich möchte Sie an dieser Stelle an das Sondergutachten des Sachverständigenrates vom November letzten Jahres erinnern, das die Bundesregierung selbst angefordert hat. In diesem Sondergutachten wird festgestellt, daß im internationalen Vergleich in der Bundesrepublik die Arzt-Patienten-Kontakte mehr als doppelt so häufig sind wie in Frankreich und in den USA und mehr als viermal so häufig wie in Schweden.
Dazu stellt der Sachverständigenrat folgendes fest:
Die Vermutung, das medizinisch Notwendige werde in der Bundesrepublik überschritten, wird durch die Höhe der Fallzahlen gestützt. 305 Millionen Abrechnungsfälle im Jahre 1989 in den alten Bundesländern in der ambulanten kassenärztlichen Versorgung bedeuten bei einem Versicherungsgrad von 88 % der Gesamtbevölkerung in der gesetzlichen Krankenversicherung, daß rein rechnerisch auf jeden Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung im Durchschnitt 5,6 Fälle pro Jahr entfallen. Die Annahme, eine sehr intensive medizinische Betreuung gehe mit hoher Gesundheit in der Bevölkerung einher, läßt sich nicht halten. Die Bundesrepublik liegt bei allen gängigen Vitaldaten im Mittelfeld vergleichbarer Staaten und nicht an der Spitze.
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So der Sachverständigenrat. Ich denke, deshalb müssen die Schritte schneller erfolgen.
Ein weiteres: Eine Strukturreform ohne die längst überfällige Organisationsreform der gesetzlichen Krankenversicherung verdient diesen Namen nicht. Schon in der letzten Legislaturperiode hatte die Bundesregierung die Organisationsreform zugesagt. In Ihrem jetzigen Gesetzentwurf verzichten Sie wiederum weitestgehend darauf.
Ich möchte daran erinnern, daß wir Beitragssatzunterschiede von mehr als 100 % haben. Die Beitragssätze reichen nämlich von 8 bis 16,8 %. Das bedeutet für die Versicherten Einkommensunterschiede von mehreren tausend Mark pro Jahr.
Ich sage deutlich: Dies ist nicht nur sozialpolitisch unerträglich, dies ist auch verfassungswidrig.
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- Herr Dr. Altherr, darauf kann ich gleich antworten. Wer das gegliederte System der gesetzlichen Krankenversicherung erhalten will, muß für Chancengleichheit im Wettbewerb der Kassen untereinander sorgen und endlich cien ruinösen Wettbewerb um gute Versichertenrisiken beenden. In unserem Entschließungsantrag schlagen wir deshalb einen kassenartenübergreifenden Risikostrukturausgleich vor.
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Eine umfassende Strukturreform kann nach meiner festen Überzeugung die notwendige medizinische Vollversorgung finanzieren, und dies zu vertretbaren Beitragssätzen, wenn dieses Parlament dazu den gemeinsamen Willen hat. In unserem Antrag zeigen wir Wege dazu auf. Ich denke, wir werden bei den Verhandlungen sehen, ob bei Ihnen der Wille vorhanden ist. Bei uns ist er jedenfalls vorhanden.
Herzlichen Dank.
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Nun hat der Kollege Dr. Bruno Menzel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute in erster Lesung über ein Reformpaket unseres sozialen Sicherungssystems, das bereits im Vorfeld dieser Debatte zu ungemein heftiger, der Sachlichkeit häufig entbehrender und vom Stil her, gelinde ausgedrückt, befremdlicher Form der Diskussion geführt hat. Ich hoffe, daß die heutige Beratung allen Beteiligten bzw. Betroffenen zeigen wird, daß dringender Handlungsbedarf besteht und daß die Koalition bemüht ist, ein sozial ausgewogenes und für alle akzeptables und tragbares Gesetzeswerk auf den Weg zu bringen.
Damit werden drei wesentliche Ziele verfolgt: dem unbegrenzten Ausgabenanstieg wirksam zu begegnen, die zwingend notwendigen StrukturveränderunDr. Bruno Menzel
gen in unserem Gesundheitswesen einzuleiten und dafür Sorge zu tragen, daß auch in Zukunft mit mehr Liberalität und Marktwirtschaft in Verbindung mit einer sinnvollen und notwendigen Begrenzung des von der Solidargemeinschaft zu finanzierenden Aufgabenkatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung unser Gesundheitssystem auf hohem Leistungsniveau erhalten und finanzierbar bleibt.
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Der durchschnittliche Krankenversicherungsbeitrag wird Ende dieses Jahres voraussichtlich knapp über 13 % liegen; das ist uns allen bekannt. Der Höchstbeitrag zur Krankenkasse beträgt dann im Durchschnitt etwa 700 DM pro Monat. Wenn nichts geschieht, meine Damen und Herren, dann steigen die Krankenkassenbeiträge von Jahr zu Jahr unaufhaltsam weiter, um rund einen halben Beitragspunkt pro Jahr. Mitte des Jahrzehnts wären wir dann schon im Durchschnitt bei über 15 %. Unsere Sozialabgabenquote, bestehend aus Rentenversicherungsbeiträgen, Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung und Krankenkassenbeiträgen, überschreitet dann die Marge von 40 %.
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Wer da im übrigen auch noch den einen oder anderen Punkt für die Pflegeversicherung obendrauf packen will, der wird die Belastbarkeit unserer Volkswirtschaft endgültig überfordern.
Meine Damen und Herren, das Problem ist nicht, daß unsere Gesundheitsausgaben von Jahr zu Jahr steigen; das Problem besteht vielmehr einzig und allein darin, daß die Gesundheitsausgaben deutlich schneller steigen als die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft. Daß dies nicht dauerhaft verkraftbar ist, dürfte wohl niemand bezweifeln.
Eine Reihe von Gründen für diese nicht verkraftbare Entwicklung sind bekannt. Sie sind z. B. auch vom Sachverständigenrat zur konzertierten Aktion wiederholt genannt worden. Ich will Ihnen nur drei Bereiche nennen: Es gibt zuwenig marktwirtschaftliche Steuerungsinstrumente in unserem Gesundheitswesen. Zum scheinbaren Nulltarif ist die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen nahezu unbegrenzt.
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Es gibt zu viele Anbieter. Wir haben in den Krankenhäusern einen fünfstelligen Überhang an Betten, die im übrigen dank eines fehlenden Anreizes zur Verweildauersenkung auch erfolgreich ausgelastet sind.
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Jedes Jahr erhalten 2 500 bis 3 000 Ärzte zusätzlich eine Kassenzulassung. Gleichzeitig bleibt die Bevölkerungszahl unverändert. Auch die Veränderung in der Altersstruktur der Bevölkerung macht diesen Zuwachs der Ärztezahl nicht erforderlich. Zu Recht hat der Sachverständigenrat deshalb darauf hingewiesen, daß die Veränderung in der Altersstruktur der
Bevölkerung kurzfristig keine meßbare Bedeutung für die Ausgabensteigerung im Gesundheitswesen hat.
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Gleichzeitig hat der Leistungsumfang, der durch die gesetzliche Krankenversicherung finanziert wird, immer weiter zugenommen. Nicht mehr nur medizinisch notwendige Leistungen werden durch die Krankenversicherungen finanziert, sondern hier hat sich zuweilen eine Art Vollkaskomentalität entwickelt, in der jede Leistung, auch wenn sie eigentlich nicht in den Rahmen einer solidarisch finanzierten Krankenversicherung hineinpaßt, bezahlt wird.
Meine Damen und Herren, auch der medizinische Fortschritt ist kein hinreichender Grund dafür, daß wir Jahr für Jahr überproportionale Ausgabensteigerungen haben. Denn dieser Fortschritt vollzieht sich ja nicht schlagartig, sondern in kleinen Entwicklungsstufen und kann deshalb - ich zitiere noch einmal den Sachverständigenrat - von Jahr zu Jahr nur einen marginalen Einfluß auf die Ausgabenentwicklung haben. Es gibt folglich kein durch die Qualität der medizinischen Versorgung begründetes Argument, warum die Ausgaben der Krankenkassen permanent schneller steigen als die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft.
Da wir dies aus schlichter finanzieller Notwendigkeit heraus nicht weiter hinnehmen können, müssen wir die wirklichen Strukturdefizite unseres Krankenversicherungssystems aufgreifen. Die marktwirtschaftliche Steuerung, verbunden mit einer Neudefinition des Aufgabenkataloges der gesetzlichen Krankenversicherung, ist übrigens für uns Liberale keine neue Forderung. Wir haben immer die Auffassung vertreten, daß nur in der Verfolgung dieser beiden Zielrichtungen die Finanzierbarkeit unseres Gesundheitswesens auch für die Zukunft sichergestellt werden kann.
Hierzu gehört im übrigen auch, daß wir uneingeschränkt das im internationalen Vergleich außergewöhnlich hohe Leistungsniveau des deutschen Gesundheitswesens erhalten wollen und müssen. Unser Anliegen ist es, mit aller Macht eine Situation zu vermeiden, in der wir eines Tages auf Grund einer finanziellen Knappheit Eingrenzungen in der Hochleistungsmedizin vornehmen müßten. Es ist für uns Liberale absolut keine Perspektive, wenn, wie in einigen anderen Ländern, aus einer finanziellen Knappheit heraus für bestimmte aufwendige Leistungen Altersgrenzen oder restriktive Kriterien vorgegeben werden. Solche Begrenzungen bei medizinisch unbedingt notwendigen Leistungen darf und wird es in einer solidarischen Krankenversicherung in unserem Lande nicht geben.
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Umgekehrt gehört alles das, was nicht unbedingt notwendig ist und was z. B. lediglich einer subjektiven Befindensverbesserung dient, nicht zu den Aufgaben einer Solidarversicherung. Die jetzt begonnene Reform dient der Sicherung des medizinischen Leistungsstandards; die Qualität der gesundheitlichen Versorgung bleibt uneingeschränkt erhalten.
Meine Damen und Herren, die aktuelle Diskussion zu den beiden Ihnen heute vorliegenden Gesetzentwürfen beschäftigt sich derzeit weniger mit den entscheidenden ordnungspolitischen Neuorientierungen, die wir mit diesem Reformpaket begonnen haben, die aber in den nächsten Jahren selbstverständlich noch einer Fortsetzung bedürfen; die Kritik richtet sich vielmehr vor allem gegen die zeitlich befristeten, unmittelbar wirksamen Bremsmaßnahmen.
Ich möchte deshalb in der Folge einige wichtige Punkte herausgreifen. So ist es ordnungspolitisch zweifelsohne problematisch, z. B. die gesetzlich vorgesehene Begrenzung des Ausgabenanstiegs an die Entwicklung der Einkommen der Versicherten anzubinden; es wurde bereits öfter darauf hingewiesen. Sie ist auch nur in einer außergewöhnlichen finanziellen Situation und auch nur in einer zeitlich eng begrenzten Übergangszeit hinnehmbar.
Trotz aller Kritik, mit der wir uns im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch sehr ausführlich beschäftigen werden, möchte ich es an dieser Stelle nicht versäumen, denjenigen zu danken, die ihre Bereitschaft bekundet haben, die gesetzlich befristeten Ausgabenbegrenzungen zumindest im Grundsatz mitzutragen. Denn es gibt, auch wenn dies in der Berichterstattung der Presse zuweilen täuscht, nicht nur Protest. Aus zahlreichen Gesprächen in den letzten Wochen weiß ich, daß es auch Verständnis für diese Maßnahmen gibt,
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und zwar auch bei jenen, die persönlich davon betroffen sind. So ist z. B. für viele Hausärzte und Allgemeinärzte die durch die Honorarbegrenzung verschobene Rückkehr zur reinen Einzelleistungsvergütung sicherlich schwer zu tragen. Auch jene, die durch Praxisneugründungen oder den Erwerb einer Praxis hohe Schuldenlasten übernommen haben, tragen ein besonderes Risiko, ebenso all jene, die mit großem Mut und Einsatz in den fünf neuen Bundesländern beim Aufbau eines freiheitlichen Gesundheitswesens mitgewirkt haben und die den Weg in die Selbständigkeit gegangen sind: Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Zahntechniker und andere Berufsgruppen.
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All jene haben ein Recht auf verläßliche Zukunftsbedingungen. Bei noch nicht angeglichenem Punktwert und schnell steigender Arztzahl in eigener Niederlassung sind sie ein sehr hohes Berufsrisiko eingegangen. Das gilt besonders für die Kolleginnen und Kollegen, die 50 Jahre alt oder noch älter sind und die trotz aller damit verbundener hoher Verschuldung nicht gezögert haben, diesen Schritt zu tun.
Besonders betonen möchte ich dabei - das halte ich für ganz wesentlich -, daß gerade die Zuschriften vieler Kollegen aus den neuen Bundesländern durch die Sachlichkeit der Darstellung auffielen. Die Situation wurde zwar eindringlich geschildert, aber in keiner Weise dramatisiert. Ich möchte von dieser Stelle aus allen Kolleginnen und Kollegen in den neuen Bundesländern versichern, daß ihre berechtigten Sorgen von der Koalition sehr ernst genommen werden.
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Speziell von den Abgeordneten aus den neuen Bundesländern wurden diese Aspekte in allen Verhandlungsphasen dargelegt. Ich bin mir sicher, nicht zuviel zu versprechen, wenn ich sage, daß im weiteren Gesetzgebungsverfahren Lösungen für diese speziellen Probleme gefunden werden und daß niemand in Existenznot geraten wird.
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Vertrauensvolle Gespräche zwischen Minister, Abgeordneten und Vertretern der Standesorganisationen werden uns dabei helfen, den richtigen Weg zu finden. Ich halte solche Gespräche für unverzichtbar, und ich denke, auch das ist ein Mittel, um Politikverdrossenheit, von der in diesen Tagen so oft gesprochen wird, abzubauen. Denn die Abgeordneten haben die Pflicht, das Gespräch mit jenen zu suchen, die von dem betroffen sind, was sie zu entscheiden haben.
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Ein besonders heftig umstrittener Punkt ist das Arznei- und Heilmittelbudget. Speziell hier sind in den zurückliegenden Wochen unverantwortliche Handlungen begangen und Äußerungen getan worden. Unverständlich waren sie deswegen, weil zu einem Zeitpunkt, als es noch gar kein Budget gab, Patienten hochgradig verunsichert worden sind. Das heißt, hier wurden Interessenkämpfe auf dem Rücken des schwächsten Gliedes in der Kette, nämlich der Patienten, ausgetragen. Wer hier damit droht, daß Patienten notwendige Arzneimittel vorenthalten werden müssen, sagt wissentlich die Unwahrheit.
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Es gibt und es wird auch in Zukunft keine Einschränkung der notwendigen und qualitätsgerechten medizinischen Versorgung geben. Es ist auch von niemandem beabsichtigt, in die Therapiefreiheit des Arztes einzugreifen.
Es kann aber auch niemand ernsthaft bestreiten, daß das Verordnungsverhalten der Ärzte eine entscheidende Rolle für die Ausgaben für Arzneimittel spielt. Deshalb haben wir nach Abwägung aller Umstände einer befristeten Budgetierung der Heil-und Hilfsmittel zugestimmt. Das bedeutet natürlich, daß die Ärzte insgesamt mit in die Verantwortung genommen werden, zumal auch der Versicherte über die Selbstbeteiligung seinen Anteil übernimmt. Diese Einbindung der Ärzte war bereits 1988 beabsichtigt. Dies sollte mit der Festlegung und der Bildung von Richtgrößen erreicht werden. Wäre dies bis zum heutigen Tage umgesetzt worden, wäre es zu einer solchen Diskussion sicher nicht gekommen.
({12})
Ganz abgesehen davon, daß für uns Liberale keine individuelle unbefristete Malusregelung in Frage kommt, haben wir stets besonders betont, daß wir mit jeder Regelung einverstanden sind, die das vorgegebene Einsparvolumen garantiert. Wir fordern alle auf,
mit uns gemeinsam die Diskussion darüber zu führen.
Meine Damen und Herren, meine Zeit ist abgelaufen.
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Ich hätte gerne noch mehr dazu ausgeführt. Aber wen das interessiert, der kann es später nachlesen. Ich möchte zum Abschluß nur noch sagen: Wir werden in den weiteren Beratungen alle getroffenen Regelungen sehr sorgfältig prüfen. Wir werden dies in enger Zusammenarbeit mit allen Beteiligten aus dem Gesundheitswesen prüfen. Das Gesamteinsparvolumen für 1993 steht dabei nicht zur Disposition. Aus unserer Sicht stehen aber umgekehrt all die Regelungen zur Disposition, die weder für die von uns beschlossene Umgestaltung der GKV für mehr Liberalität und Marktwirtschaft erforderlich sind noch zur Realisierung des beschlossenen Einsparvolumens zwingend notwendig sind.
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Sie hätten noch eine Redezeit von vier Sekunden gehabt. Nun hat unsere Kollegin Gudrun Schaich-Walch das Wort.
Verehrte Präsidentin, meine Damen und Herren! Das Prinzip der Solidargemeinschaft der GKV ist schon in den letzten Jahren verletzt worden. Was mit dem sogenannten Blumschen Reformwerk begonnen wurde, wird jetzt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf konsequent fortgeführt: der Ausstieg aus dem Solidarprinzip. Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes haben dem Sozialstaatsprinzip Verfassungsrang eingeräumt. Dies bedeutet die Verpflichtung zu Solidarität und die Absage an egoistischen Individualismus. Darauf basiert auch die Solidargemeinschaft der Krankenversicherung. In ihr tragen Gesunde für Kranke, Junge für Alte, Reiche für Arme und Einzelverdiener für Familien die Verantwortung. Daran halten wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten fest. Wir werden das auch beständig verteidigen.
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Sie, Herr Minister, und Ihre Koalitionsregierung gehen allerdings einen anderen Weg. Besonders hilfreich ist dabei die F.D.P., die bereits bei den Gesprächen über die Pflegeversicherung immer nur den Weg der Entlastung der Arbeitgeber und Leistungserbringer gegangen ist und damit eine Umverteilung zu Lasten der Kranken und weniger gut Verdienenden unserer Gesellschaft im Auge hat.
({1})
Die Ausweitung der Zuzahlungspflicht für Patienten und die Einführung eines Systems der Mindestversorgung mit einer zusätzlichen Privatversicherung stellt sich für mich als ein Einstieg in amerikanische Versicherungsverhältnisse dar, die hier niemand haben möchte.
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Ich möchte jetzt zu den Arzneimitteln kommen. Wir brauchen eine Bereinigung des Arzneimittelmarktes von therapeutisch unwirksamen und kostenungünstigen Medikamenten und nicht die Selbstbeteiligung der Patienten.
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Selbstbeteiligung ist - das haben wir Sozialdemokraten gemeinsam mit der F.D.P. schon einmal erfahren müssen, das mußte Herr Blüm erfahren, und das werden Sie auch jetzt erfahren - kein Steuerungsinstrument.
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Statt eine Liste von Arzneimitteln zu erstellen, deren therapeutische Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit nachgewiesen sind, laufen auch Sie, Herr Minister Seehofer, in die gleiche Sackgasse wie Herr Blüm: die Sackgasse der Selbstbeteiligung.
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Das wäre nicht so schlimm. Schlimm ist nur, Herr Minister, daß Sie genau wissen, daß Sie diese Fehler begehen und Sie mit dem Begehen dieser Fehler zur Entsolidarisierung beitragen.
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Kranke und alte Menschen, die die ungeteilte Solidarität und den Schutz der Solidargemeinschaft brauchen, werden damit ansatzweise ausgegrenzt. Für sie gilt dann nämlich nicht mehr die Formel: Gesunde für Kranke, Junge für Alte. All diesen Menschen macht der vorliegende Gesetzentwurf angst. Dies wird eindrucksvoll dadurch belegt, daß es der Deutschen Rheuma-Liga gelungen ist, in zwei Wochen 25 820 Unterschriften zu sammeln.
Ich möchte an einem Beispiel verdeutlichen, wie stark gerade die chronisch Kranken von den von Ihnen angestrebten Zuzahlungen betroffen sind. Nach dem Blumschen Gesetz haben chronisch Kranke, an Polyarthritis Erkrankte 486 DM pro Jahr für Arzneimittel, Krankenhausaufenthalte und Kuren bezahlt. Nach der neuen Vorlage müssen die gleichen Patienten nun 1 333 DM bezahlen. Das sind 847 DM oder - in Prozent ausgedrückt - 174 % mehr. Ich denke, das ist nicht sozial vertretbar. - Sie schütteln den Kopf. Sie können sich diese Zahlen auch von verschiedenen Krankenkassen besorgen. Ich kann sie Ihnen auch gern übermitteln.
Die Folgen der Zuzahlungen für Krankenhausaufenthalte, bei denen Sie auf die Härtefallregelung verzichten wollen, sind sehr tragisch. Bei den Arzneimitteln bedeutet die Einführung der Rezeptgebühr von 10 % bzw. mindestens 3 DM und maximal 10 DM eine Reparatur der verfehlten Politik des Reformgesetzes von 1989 zu Lasten der Kranken. Die Undurchführbarkeit der Negativliste hat Sie letztlich zu diesem Verhalten gebracht. Ich versichere Ihnen, meine Damen und Herren, daß Sie für die Zuzahlungspflicht von der SPD-Bundestagsfraktion keine Stimme bekommen werden.
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Gehen Sie statt dessen mit uns den Weg der konsequenten Reformen. Führen Sie die Positivliste für Arzneimittel ein. Dann werden Kranke keine häufig sinnlos verordneten Medikamente mehr schluck en müssen. Die GKV wird Geld sparen. Die Einführung Ihres Zuzahlungsmodells wird sich erübrigen.
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In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf die Rolle einiger Ärzte und Ärzteverbände eingehen. Ich freue mich darüber, daß es dort auch Ausnahmen gibt. Es zeichnet sich seit gestern auch ab, daß es eine Versachlichung geben wird. Die Auseinandersetzung mit der Strukturreform hatte erschreckende Formen angenommen: Ärzte erzwingen die Solidarität der Patienten gegen die geplante Strukturreform dadurch, daß hilfesuchende Menschen, die in Arztpraxen kommen, in Postkartenaktionen für den Krieg der Ärzte eingespannt werden. Ich bezeichne dies als Nötigung.
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Eine Solidarität zwischen diesen Ärzten und den Patienten gibt es nicht. Ich glaube, was wir als Grundlage unseres Gesundheitswesens brauchen, ist Solidarität zwischen Ärzten und Patienten. Fast alle Ärzteverbände fordern Zuzahlungen der Patienten. Sie bezeichnen dies als Stärkung der Selbstverantwortung der Patienten. Dabei waren sie diejenigen, die die Patienten über Jahre hinweg zu den Konsumenten erzogen haben, über die sie jetzt weinen. Nun schieben die Ärzte die Verantwortung für ihr eigenes Verordnungsverhalten den Patienten zu. Sie, meine Damen und Herren, von der CDU, unterstützen die Ärzteschaft bei diesem Verhalten. Verzichten Sie darauf. Kehren Sie mit uns zu einem System der wirklich geschlossenen Solidarität zurück! Wir werden mit Ihnen über die Reformen verhandeln.
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Nun hat der Kollege Wolfgang Zöller das Wort.
Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Was nun, Herr Seehofer? Machen Sie weiter so! - Zu dieser Schlußfolgerung wird spätestens seit dem letzten Donnerstag die überwiegende Mehrheit der Deutschen gekommen sein. Sie und die Koalition haben die richtigen Weichen für eine Gesundheitsstrukturreform gestellt, um ein leistungsfähiges Gesundheitssystem auf Dauer finanzierbar zu gestalten. Überkapazitäten, unwirtschaftliche Strukturen und medizinisch nicht erforderliche Mengenausweitungen treiben die Beitragssätze nach oben, ohne daß damit die gesundheitliche Versorgung verbessert wird. Die unsozialste Form - auch wenn Sie anderer Meinung sind - ist die Selbstbeteiligung durch allgemeine Beitragserhöhung. Hier würde nämlich der Patient mit über 5 Milliarden DM direkt mit den Kosten belastet und indirekt über den Arbeitgeberanteil, die Lohnnebenkosten, noch einmal mit zur Finanzierung herangezogen.
Deshalb ist unser Vorschlag, 3,2 Milliarden DM für die Patienten und 8,2 Milliarden DM Belastung für die Leistungserbringer, wesentlich gerechter.
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Um dieses angestrebte Stabilitätsziel zu erreichen, gingen wir von folgenden Leitlinien aus.
Erstens. Ein Gesundheitsstrukturgesetz 1993 hat nur dann einen Sinn, wenn einschneidende Maßnahmen durchgesetzt werden, die Beitragssatzstabilität auch tatsächlich gewährleisten können.
Zweitens. Alle Leistungserbringer und die Versicherten müssen zur finanziellen Konsolidierung der gesetzlichen Krankenversicherung mit beitragen.
Drittens. Die Belastungen sind gerecht und ausgewogen zu verteilen.
Viertens. Das ist sehr wichtig: Die vereinbarten Maßnahmen bilden eine in sich geschlossene Einheit. Würden hier im Interesse einzelner Betroffener Abstriche gemacht werden, dann würde das Gesamtkonzept seine Funktion nicht mehr erfüllen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Gesetzentwurf sieht zum einen Maßnahmen vor, die finanziell sofort wirksam sind. Zum anderen wird sich das Gesetz nicht auf kurzfristige Korrekturen beschränken. Zeitgleich werden daher strukturelle Maßnahmen eingeleitet, um die Fehlentwicklungen an der Wurzel zu beseitigen.
Daneben - das möchte ich unterstreichen bleibt die Selbstverwaltung aufgefordert, ihren Handlungsauftrag aus dem Gesundheits-Reformgesetz 1989 zu erfüllen und ihren Beitrag zur Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung zu leisten.
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Von den vorgesehenen Strukturmaßnahmen mußte Bayern den stets vertretenen Grundsatz der Selbstkostendeckung aufgeben, was uns bestimmt nicht leichtgefallen ist.
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Wegen ihrer erfolgreichen Sparbemühungen werden hier die bayerischen Krankenhäuser von den Vorschlägen der Koalition besonders hart betroffen. Bayern ist nämlich seit jeher das Land mit den niedrigsten Pflegesätzen. Letztendlich hat aber die Notwendigkeit dieser strukturellen Neuorientierung als entscheidender Anreiz für mehr Wirtschaftlichkeit im Krankenhaus den Ausschlag gegeben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Kassenärzte veranlassen durchschnittlich das Vierfache der Leistungsausgaben, die sie selbst verursachen. Diese Größenordnung zeigt eigentlich, wie wichtig es ist, gerade hier Steuerungselemente einzubauen, die eine wirtschaftliche Verordnungsweise gewährleisten.
Ein wesentlicher Faktor für die Ausgabensteigerung im Arzneimittelbereich liegt in der ungebremsten Mengenentwicklung. Wenn Arzneimittel für 2 bis 4 Milliarden DM auf dem Müll landen, muß man sich darüber Gedanken machen. Die vorgesehenen RichtWolfgang Zöller
größen sind eine Möglichkeit, Mengenentwicklungen auf das medizinisch notwendige Niveau zu reduzieren. Dies halten wir ordnungspolitisch für sinnvoll, da das wirtschaftliche Verordnungsverhalten des Arztes, nämlich überflüssige Verordnungen zu vermeiden und bevorzugt preisgünstige, festbetragsgebundene Mittel zu verschreiben, gefördert wird.
Es ist gesundheitspolitisch sinnvoll, da es uns eine Umschichtung der finanziellen Mittel nach gesundheitspolitischen Prioritäten ermöglicht, wie der Sachverständigenrat im übrigen des öfteren schon gefordert hat. Es ist medizinisch sinnvoll, da eine Reduzierung der Arzneimittel nach Einschätzung vieler Mediziner und Pharmakologen in Teilen nicht nur unschädlich, sondern geradezu förderlich für die Gesundheit sein soll. Es ist ökonomisch sinnvoll, da vorhandene Wirtschaftlichkeitsreserven besser als bisher ausgeschöpft werden können.
Lassen sie mich auch eine Bemerkung zu den Ärzten machen. Für mich ist es unerträglich, wenn die Vertreter der Ärzte auf der einen Seite durch Gespräche Dialogbereitschaft demonstrieren, andererseits zur gleichen Zeit Ärzte im Fernsehen den Minister als Verbrecher bezeichnen. Ich erwarte hier eine Entschuldigung in aller Öffentlichkeit. Ich pfeife auf Briefchen, die klammheimlich im Briefkasten des Ministers landen.
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Es wird auch höchste Zeit, daß sich die große, die überwiegende Zahl verantwortungsbewußter Ärzte nicht von solchen Scharfmachern ihren Ruf total zerstören läßt.
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Hier gilt wie überall: Wie lange läßt sich die große anständige Mehrheit von radikalen Minderheiten vorführen?
Lassen Sie mich noch einige andere Punkte ansprechen: die ärztliche Überversorgung. Das gravierende Strukturproblem eines Überangebots an Ärzten führt zu einer medizinisch nicht gerechtfertigten Ausdehnung der Leistungsmengen. Wir müssen deshalb gegensteuern, ohne die jetzt in der Ausbildung befindlichen Ärztinnen und Ärzte zu benachteiligen.
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Die Zahl der Kassenärzte und Kassenzahnärzte wird durch gesetzliche Regelungen begrenzt werden. Das heißt jedoch nicht, daß sich die Ärzte von diesem Zeitpunkt an nicht mehr frei niederlassen können. Nur wird ihnen die automatische Zulassung zu den Krankenkassen nicht mehr zugesichert. Um es verfassungsrechtlich abzusichern, muß daher eine Altersbegrenzung vorgesehen werden.
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Um in der Zwischenzeit wenigstens die regionale Verteilung des Überangebots an Ärzten besser lösen zu können, wird die Bedarfsplanung des geltenden Rechts wirksamer ausgestaltet.
Eine weitere Maßnahme soll der Qualität der kassenärztlichen Versorgung dienen. Als Voraussetzung
für die Kassenzulassung wird für den Allgemeinmediziner eine dreijährige Weiterbildung vorgeschrieben. Dies wird auch langfristig die Position des Hausarztes stärken.
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Lassen Sie mich etwas zu den Zahnärzten und Zahntechnikern sagen. Hier muß das Motto gelten: Zahnerhaltung soll den Vorrang vor Zahnersatz haben.
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Dieses Strukturprinzip des Vorranges zahnerhaltender Maßnahmen wirkt sich natürlich zwangsläufig auf das Zahntechnikerhandwerk aus. Um ein angemessenes Verhältnis zur 20%igen Absenkung bei Zahnärzten herzustellen, werden die Vergütungen im Zahntechnikerbereich um die Hälfte, also um 10 %, gesenkt. Aber hier ist es wichtig, anzumerken und unmißverständlich klarzustellen, daß das Einsparziel von 10 % absolut und nicht kumulativ definiert wird. Zum anderen darf es auch keine einseitigen Benachteiligungen der gewerblichen Labors geben.
Mit der Aufteilung in Wahl- und Regelleistungen besteht nämlich die Gefahr, daß Zahnärzte in ihren Praxislabors die Wahlleistungen durchführen und den Zahntechnikern dann die Regelleistungen überweisen. Somit könnte eine gutgemeinte Regelung unseres Gesetzentwurfs unterlaufen werden. Eine Chancengleichheit zwischen Praxislabor und Zahntechnikerlabor muß deshalb erreicht werden.
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Um den I Iandwerksbetrieben in diesem Falle größere Unabhängigkeit zu gewährleisten, halte ich persönlich eine Gebührenordnung der Zahntechniker für sinnvoll.
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Zur Organisationsreform der gesetzlichen Krankenversicherung. Hier wollen wir das Wahlrecht für die Arbeiter einführen. Um bei gleichzeitiger Beibehaltung unseres gegliederten Systems bleiben zu können, muß aber über einen sinnvollen Risikostrukturausgleich entschieden werden. Hier brauchen wir ein wertneutrales Zahlenmaterial, das innerhalb der nächsten zwei Jahre zusammengestellt wird. Auf dieser Grundlage wird dann entschieden.
Herr Kollege Dreßler, Sie haben, als der Minister sprach, dazwischengerufen: Wo steht das in eurem Gesetz? Ich gehe davon aus, daß Sie das Gesetz wenigstens gelesen haben.
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Es steht in Art. 14, Seite 33, 34 und 35. Da ist die Datenerhebung für Risikostrukturausgleichsverfahren geregelt. Ich würde empfehlen, einmal kurz nachzulesen.
Jetzt zu den Versicherten. Auch hier sind wir der Meinung, daß sie nicht ausgeklammert werden können. Ihr Konsolidierungsbeitrag hält sich mit 3,2 Milliarden DM in verträglichen Grenzen.
Das setzt jedoch voraus, daß die den Leistungserbringern abverlangten Belastungen von 8,2 Milliar9018
den DM zuverlässig erbracht werden müssen. Der Beitrag der Versicherten beschränkt sich auf drei Positionen.
Zahnersatz ist durch konsequente Prophylaxe weitgehend vermeidbar. Deshalb ist es, glaube ich, auch gerechtfertigt, beim Zahnersatz ein System von Regelleistungen und von Wahlleistungen einzuführen.
Für die Regelleistung, die die medizinisch notwendige Versorgung absichert, bleibt der Kassenzuschuß bei 60 %. Wer aufwendigeren Zahnersatz wählt, erhält von seiner Krankenkasse einen Zuschuß im Umfang der entsprechenden Regelleistung.
Zu der Zuzahlung von 11 DM bei Krankenhausaufenthalt: Diese Zuzahlung basiert auf der Überlegung, daß pro Tag eine häusliche Ersparnis für Frühstück, Mittagessen und Abendessen von rund 11 DM entsteht. Hier werden wir bestimmt im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens über gewisse Abfederungsmaßnahmen für besondere Härtefälle diskutieren und eine sinnvolle Lösung finden.
Ich denke an folgendes Beispiel: Für den Fall, daß bei einer Familie mit mehreren Kindern ein Elternteil ins Krankenhaus kommt, muß über eine Abfederungsmaßnahme sicherlich neu diskutiert werden.
Für Arzneimittel wird ab Januar eine Zuzahlung von 10 %, mindestens 3 DM, maximal 10 DM je Mittel, eingeführt.
Das Nebeneinander von zuzahlungsfreien und zuzahlungspflichtigen Arzneimitteln wäre auf Dauer nicht sinnvoll. In diesem Zusammenhang ist es auch recht interessant, zu wissen, daß rund 70 % der Arzneimittel, die auf der Müllhalde landen, zuzahlungsfreie Medikamente sind.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte jetzt gern noch einen weiteren Punkt ansprechen. Es ist wirklich unredlich, Rentner mit der Behauptung zu verunsichern, daß sie künftig durch die neue Arzneimittelzuzahlung besonders hart getroffen werden und ca. 80 DM monatlich mehr bezahlen müßten. Wenn diese Behauptung richtig wäre, müßten die Rentner eigentlich froh sein; denn 80 DM Zuzahlung bedeutet, daß sie mindestens 4 000 DM Rente haben müßten.
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Richtig ist vielmehr, daß Rentner mit einem Einkommen bis 1 400 DM überhaupt keine Zuzahlung zu entrichten haben.
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Wie sozial ausgewogen dieses System ist, erkennt man auch daran, daß Leute mit niedrigem Einkommen sowie Kinder und Jugendliche zuzahlungsfrei bleiben und die Zuzahlungen je nach Einkommen gestaffelt sind. Hier mit Durchschnittswerten zu rechnen ist falsch und wird dem sozial abgestuften System nicht gerecht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Gesundheits-Strukturgesetz 1993 ist ein weiterer wesentlicher Reformschritt. Damit sind jedoch - das muß immer wieder unterstrichen werden - die
Reformbemühungen noch nicht beendet. Dies wird ein permanenter Prozeß sein. Zur Mitarbeit an der Lösung der Probleme sind alle recht herzlich eingeladen.
Lassen Sie mich zum Schluß feststellen: Wir stehen als Koalition zu unseren Eckwerten. Wir stehen zu unserem Minister. Alle, die jetzt an Ihrer Standfestigkeit, Herr Seehofer, zweifeln, werden Sie spätestens ab Januar voller Neid mit „Stehhofer" begrüßen können.
Vielen Dank.
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Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Hans-Hinrich Knaape das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nicht gegen Personen gerichtete aggressionsgeladene Affektausbrüche, akzentuierte Beleidigungen und Vorwürfe über und für in den zurückliegenden Jahren in der Gesundheitsgesetzgebung Unterlassenes sollten heute gefordert sein, sondern kühle Sachlichkeit und der Wille zur Verständigung,
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über unterschiedliche Auffassungen und Lösungswege hinweg, unter Einbeziehung von fachlicher Kompetenz aller Anbieter von medizinischen Leistungen. Gesucht werden muß nach einem tragfähigen Kompromiß, der der Sachlage dient, sie befördert, dies aber nicht nur auf der Grundlage der von der Koalition eingebrachten Gesetzentwürfe, sondern auch unter Berücksichtigung der Vorstellungen der Opposition.
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Ehrlichkeit und der Wille zur Verständigung sind gefragt. Ein Problem ist zu lösen. Es ist nicht die Zeit für wortgewaltige Selbstdarstellungen. Gesundheit und Krankheit betreffen alle Bürger unseres Staates.
Wenn nach außen hin der Eindruck erweckt wird - so der Kollege Hoffacker schriftlich, und auch der Kollege Zöllner hat sich heute in diesem Sinne geäußert -:
Fest steht, daß sich die Koalition keinen Stein aus dem Gesetzeswerk brechen läßt, aber andererseits Kollege Dr. Thomae verlauten läßt, daß der Kabinettsentwurf des Gesundheits-Strukturgesetzes verbessert werden könnte, und zwar ohne finanzielle Eckpunkte zur Disposition zu stellen,
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sondern - so steht es im gelben Dienst - allein durch das Aufbrechen von Fronten und durch neue und wirkungsvolle Vorschläge, und wenn weiterhin Verhandlungsangebote der Ärzte und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und des Deutschen Ärztetages vorliegen und kritische, aber auch kompromißbereite Stellungnahmen der Deutschen Krankenhausgesellschaft, der Kassen und anderer medizinischer
Leistungsanbieter bei uns allen eingegangen sind, so signalisiert dies doch, daß eine feste Mauer noch nicht steht, aber eine breite Bereitschaft zur Lösung der Aufgabe vorhanden ist.
Das Problem erscheint zu umfassend und zu schwierig, als daß nur eine Seite eine für lange Jahre sozial verträgliche Lösung finden könnte.
Wenn wir dies nun in den folgenden Wochen versuchen, so müssen wir uns darüber im klaren sein, daß dieses Gesetzgebungsverfahren in erster Linie wegen der Kostenausweitung im Gesundheitswesen der alten Bundesländer erforderlich ist und das Gesetzeswerk den Besonderheiten des Gesundheitswesens in den neuen Bundesländern Rechnung tragen muß. Fest steht, daß die Qualität und Quantität der medizinischen Versorgung in den neuen Ländern erst jener in den alten Ländern angeglichen werden muß, daß dies noch Jahre dauern wird und daß diese Aufgabe ohne investive Hilfe des Bundes nicht bewältigt werden kann.
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Daneben sind menschliche Probleme sozial verträglich zu ordnen. Ärzte, die stolz darauf sind, daß sie ihren Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft in die freie Niederlassung ohne staatliche Hilfe reibungslos vollzogen haben, sind jetzt in Angst um ihre Existenz. Ein Gesetz über die Gesundheits-Strukturreform muß für die neuen Bundesländer ohne Zweifel Ausnahmen, Schonfristen, Übergangsregelungen, zusätzliche Regelungen und auch Experimentierklauseln enthalten.
Wir sind der Auffassung, daß in den neuen Bundesländern neue Wege für Gesundheitszentren, die Zulassung von Fachambulanzen an Krankenhäusern zur ambulanten Versorgung, aber auch Institutsambulanzen nicht nur an psychiatrischen Kliniken, sondern auch an psychiatrischen Abteilungen von Krankenhäusern notwendig sind, damit insbesondere die medizintechnischen Geräte und das spezielle ärztliche Fachwissen aus den besonders seit dem vorletzten Ärztetag weiter differenzierenden Fachdisziplinen sinnvoll eingesetzt werden können.
Eine Beschränkung der Zahl der Kassenärzte wird nicht zu umgehen sein. Die Regulierung bedeutet aber nicht die Aufgabe des historisch gewachsenen, fachlich bewährten und von den Versicherten akzeptierten Systems der Freiberuflichkeit der Ärzte, das aber auch Anreize für den Mißbrauch der Gelder der Versicherten einschließt. Diesem Mißbrauch muß begegnet werden.
Für die Zuzahlung bei Arzneimitteln haben insbesondere die Bürger im Osten kein Verständnis. Der Steuerungseffekt auf Ausgaben im Gesundheitswesen wird überschätzt. Das gleiche trifft für die Hilfsmittel zu.
Für die Krankenhäuser in den neuen Ländern ist ein Sonderprogramm über Jahre hinaus notwendig. Nicht nur Infrastrukturmodernisierungen sind erforderlich, sondern teilweise auch Neubauten. Eine finanzielle Beteiligung des Bundes an den Rationalisierungsinvestitionen ist deshalb nicht zu umgehen. Nach dem Einigungsvertrag ist die Koalition verpflichtet, dafür zu sorgen, daß das Niveau auch im Bereich des Gesundheitswesens angeglichen wird.
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Die Krankenhäuser in Ostdeutschland sind noch in der Umbruchphase. Die Koalition sei daran erinnert, daß sie zu ihrem Wort stehen müßte, wie sie es im Januar 1991 in der Koalitionsvereinbarung gesagt hat.
Ebenso wird die abrupte Aufhebung des Selbstkostendeckungsprinzips unter Aufrechterhaltung des Sicherstellungsauftrages und der Behandlungspflicht zu erheblichen Finanzdefiziten zu Lasten der Träger, also überwiegend der finanzschwachen Kommunen, führen. Eine Zuzahlung in den Krankenhäusern würde nicht nur die Schwächsten unter den Versicherten in den neuen Bundesländern treffen, die Altersrentner mit niedrigen Bezügen, sondern auch die Versicherten mit geringem Einkommen, die wegen ihres größeren Nachholbedarfs in allen Bereichen ihrer persönlichen Haushaltsführung wenig finanziellen Spielraum haben.
Überhaupt muß beachtet werden, daß die durch die Versicherten in den neuen Bundesländern aufgebrachten Beiträge geringer sind als vergleichsweise jene in den alten Ländern. Geringere Tarifabschlüsse, hohe Arbeitslosigkeit und die Überalterung der Bevölkerung durch die Landflucht der Jugend und arbeitsfähigen Frauen und Männer in den Westen des Landes senken die Einnahmen der Kassen erheblich. Ein bundesweiter kassenartenübergreifender Risikostrukturausgleich ist deshalb für den Osten zu fordern, nachdem alle Kassen für alle Bürger offen sind.
Eine Strukturreform des Gesundheitswesens kann ohne eine Organisationsreform der Krankenversicherung - dies lehrt uns die Sichtung der Situation im Osten -, wenn eine langfristige Kostenbewältigung im Gesundheitswesen angestrebt wird, nicht erreicht werden. Das Gesetz, das nach der parlamentarischen Beratung das Zusammenspiel der am Gesundheitswesen Beteiligten finanziell verträglich und medizinisch auf hohem diagnostischen und therapeutischen Niveau für den Versicherten regeln soll, muß den Nachholbedarf in allen Belangen in Ostdeutschland berücksichtigen und gesamtdeutsche Solidarität bei einer für mehrere Jahre notwendigen Übergangslösung in sich einschließen. Sonst ist ein solches Gesetz für die SPD nicht tragfähig.
Ich danke Ihnen.
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Nun hat die Kollegin Dr. Ursula Fischer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister, ich möchte doch auf eine Bemerkung in Ihrem Beitrag eingehen. Sie haben gesagt, daß es jetzt eine flächendeckende Versorgung in den neuen Bundesländern gebe. Ich möchte nur eine kleine Korrektur anbringen, weil ich dort lange genug gearbeitet habe: Die flächendeckende Versorgung gab es vorher auch. Das muß ich einmal so sagen, weil diese Bemerkung doch
etwas demütigend war. Beispielsweise bei Mutter und Kind war die Versorgung wahrscheinlich sehr viel umfassender, als es jetzt möglich ist.
Nun zum Gesundheits-Strukturgesetz: Ein weiterer Fakt läßt uns die vorgeschlagenen Regelungen ablehnen. Nach der Zerschlagung der Strukturen des Gesundheitswesens der DDR - ({0})
-Ja, Zerschlagung. Genau das habe ich gemeint. Ich lasse mich durch Sie nicht durcheinanderbringen. Sie machen das immer so.
Nach der Zerschlagung der Strukturen des Gesundheitswesens der DDR, bei dem eine Vielzahl von Ärzten auch in die Niederlassung gezwungen wurden, um auch Polikliniken plattzumachen, sieht die Situation derzeit nach Auskunft des Bundesministeriums auf eine Kleine Anfrage folgendermaßen aus. Nach Stand vom 31. Dezember 1991 hatten sich in den neuen Bundesländern und Ostberlin 14 677 Kassenärzte niedergelassen, von denen im übrigen 5 243 über 49 Jahre alt waren. Das würde man wahrscheinlich in der alten Bundesrepublik nicht so machen.
({1})
Das bedeutet für mehr als ein Drittel dieser Ärzte, daß sie nicht einmal 15 Jahre Zeit haben werden, um die Kreditierung ihrer Praxen zurückzuzahlen.
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Die Möglichkeiten für ihre Altersvorsorge sind sehr beschränkt. Der Lebensstandard wird sinken. Da beißt die Maus keinen Faden ab.
Ähnlich stellt sich die Situation bei den Zahnärzten dar. Mit Hilfe des Gesundheits-Strukturgesetzes zwingen Sie die Ärzte ja geradezu zu einem Denken und Handeln, bei dem der Patient und die Behandlungszeiten für ihn glatt auf der Strecke bleiben. Die Ethik eines behandelnden Kassenarztes und des Ärztestandes überhaupt wird mehr und mehr in Frage gestellt. Was bleibt den Ärzten unter solchen Bedingungen denn anderes übrig, als Quantität im Auge zu haben, statt Qualität zu leisten? Qualität wird zum großen Teil nicht vergütet. Ich nenne z. B. zwischenmenschliche Beziehungen und verbale Therapien, sehr kostengünstig, wie gesagt, und sehr wirksam.
Ein weiteres Beispiel sind die Medikamentenkosten. Der Minister will ab 1993 nun nicht nur dem Patienten eine Zuzahlung von 3 bis 10 DM pro verordnetes Medikament abknöpfen, sondern obendrein den Kassenärztlichen Vereinigungen Kostenerstattungen verweigern, wie die Malusregel ausweist. Wir haben hier schon gehört, daß das nicht klappen wird. Es wäre doch viel sinnvoller, die Marktstrategie der Pharmaindustrie, die das Preisgefüge verschleiert, anzuprangern und da auch einzugreifen. Es ist einfach ein Fakt, daß 86 von 100 angeblich neuen Medikamenten Wirkstoffe enthalten, die es in vorhandenen Präparaten bereits gibt. Wo bleibt denn da die Sinnhaftigkeit dieses Systems? Den deutschen Pharmamarkt mit seinen mehr als 125 000 Medikamenten können selbst Branchenexperten nicht mehr überschauen, geschweige denn der einzelne Arzt. Das ist
- das wissen Sie genausogut wie ich - unbedingt zum Nachteil für den Patienten. Diese ganze Strategie wird in keiner Weise angesprochen.
Ein anderes Problem ist, daß in der Bundesrepublik Jahr für Jahr 6 bis 7 Milliarden Mark für unwirksame Medikamente ausgegeben werden bzw. ein nicht quantifizierbarer Anteil von Medikamenten einfach weggeworfen wird. Das wird eine Malusregel nicht ändern können.
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- Ich weiß übrigens, was „Compliance" heißt; ich habe damit auch schon etwas zu tun gehabt.
Schwierigkeiten habe ich auch mit der Altersbegrenzung für Kassenärzte oder für Ärzte überhaupt. An sich erscheint es natürlich relativ logisch, jungen Ärzten eine Chance zu bieten. Minister Seehofer will ja bekanntlich Medizinern die Kassenzulassung entziehen, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet haben. Das hat Herr Thomae im März übrigens noch abgestritten.
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- Das ist das gleiche. - Wie ich von vielen Patienten, aber auch aus eigener Erfahrung weiß, sind es gerade die älteren und erfahrenen Praktiker - das wissen Sie auch -, die mehr auf Beratung und Gespräche setzen als auf High-Tech und pharmakologischen Unsinn.
Kommen wir zu einem dritten, aber sehr wichtigen Komplex: dem kostenintensiven Krankenhausbereich. Mit dem Entwurf des Gesundheits-Strukturgesetzes wird nun der Weg frei, neben den Finanzierungsmitteln der Länder - wie die Situation im Osten ist, setze ich als bekannt voraus - verstärkt auch privates Kapital einzusetzen und über den Pflegesatz zu finanzieren. Eine Ausnahmeregelung für die neuen Bundesländer, zusätzliche Mittel durch den Bund bereitzustellen und so zeitweilig eine Mischfinanzierung von Bund und Ländern zu gewährleisten, ist von seiten des Bundes ausgeschlossen worden. Das heißt, einerseits soll insbesondere im Osten Privatkapital den investiven Nachholbedarf realisieren und die Kommunen sozusagen entlasten. Das heißt allerdings auch, daß die Kommunen von ihrer Verantwortung für die stationäre medizinische Versorgung ihrer Bürgerinnen und Bürger entlastet werden. Aber wie zaghaft privates Kapital in den Osten „strömt", kennen wir wohl alle aus der Wirtschaft. Wird so die stationäre Versorgung im Osten gesichert, geschweige denn verbessert werden können, wie es der Einigungsvertrag vorsieht? Uns scheint, daß die Bundesregierung mit diesen Entscheidungen generell den Weg frei machen will für einen kapitalen Gesundheitsmarkt. So steuert man auf kritikwürdige Zustände von sogenannter Grundversorgung oder wohl eher Notversorgung und Wahlmöglichkeiten für Gutbetuchte hin. Ich könnte Ihnen dafür Beispiele anführen.
Grundsätzlich muß man doch feststellen, daß privates Kapital nur dann investiert, wenn Profite zu erwarten sind. Es geht hier also um Krankenhausprofite. Unter dem Tenor „Mehr Wirtschaftlichkeit im
Krankenhaus " versteckt sich also dann mehr Profit bei stationärer Behandlung.
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- Das ist der gleiche Unterschied wie der zwischen Marktwirtschaft und Kapitalismus. Das habe ich auch noch nie begriffen. - Dann haben wir also im ambulanten und auch im stationären Bereich permanent zu fragen - überlegen Sie das -: Wie und womit verdienen der Arzt und dann der jeweilige „Krankenhauskonzern" ihr Geld an der Krankheit der Patienten? Das ist der Weg zum großen Krankheitskapitalmarkt, der - wie gesagt - dafür Sorge tragen muß, daß möglichst viele mit möglichst schwierigen Krankheiten versehene Menschen existieren.
Aus all dem Gesagten wird deutlich, daß wir dieses Gesundheits-Strukturgesetz ablehnen, das seinen Namen eben nicht verdient. Wir bleiben bei unseren Forderungen nach einem an den Bedürfnissen der Patienten orientierten, nicht profitsüchtigen, demokratisch gestalteten, pluralistischen Gesundheitswesen, in dem das Solidarprinzip, eine gesetzliche Krankenversicherung ohne Ausgrenzung der Bestverdienenden, für alle Kranken eine angemessene Behandlungsmöglichkeit garantiert. Und das ist auch bezahlbar.
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Die Diskussion um den Haushalt 1993 macht ja deutlich, daß der Bundeshaushalt bei einer veränderten Prioritätensetzung - darum geht es - durchaus genügend Geld zur Verfügung hat, um als Staat der Fürsorgepflicht für die Gesundheit - und nicht nur für die Krankheit - seiner Bürgerinnen und Bürger nachzukommen.
Somit sind wir bei dem Thema der eigentlichen Reform im Gesundheitswesen der Bundesrepublik angelangt. Dafür hat sich Minister Seehofer allerdings noch zwei Jahre Zeit ausgebeten, wahrscheinlich auch wegen Wahlen usw. Das hat er in der „Süddeutschen Zeitung" auch schon einmal zugegeben.
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- Warten Sie es ab!
Mit dem Gesetz wird ein kollektiver Entsolidarisierungsprozeß eingeleitet, der durch die Eröffnung des Zugangs zu Sonderklassen der Versicherten zu einer Zersplitterung führt, und das ist sozial und materiell massiv ungerecht. Diese Ungerechtigkeiten sind auch überhaupt nicht zu begründen.
Genau an dieser Stelle versagt das Gesundheits-Strukturgesetz wieder einmal völlig, weil es eben die Grundstrukturen nicht berührt, die als manifeste Faktoren zu den Problemen im Gesundheitswesen führen, geführt haben und führen werden. Ich habe bereits von der unendlichen Geschichte gesprochen.
Alle dirigistischen Eingriffe, den Markt der Medizin zu steuern, müssen scheitern, solange der Patient überhaupt nichts zu sagen hat, und das hat er nicht. Aber ich habe auch Hoffnung. Ich habe besondere Hoffnung in die jüngere Ärztegeneration. Die jungen
Ärzte verfluchen insgeheim den sogenannten Sicherstellungsauftrag, von dem ihre Vorgänger so lange und auch sehr gut gelebt haben, der ihnen aber nur bürokratische Schikanen und Frust bringt.
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Sie sind auch die Politiker leid, die ihnen die Abläufe in ihrer Praxis bis ins kleinste Detail vorschreiben wollen und sie in den Medien als Geldgeier vorführen. Sie haben offensichtlich auch keine Lust, große Teile des Tages
Frau Kollegin, würden Sie zum Schluß kommen, bitte.
- ja - nur für die Amortisation des immer teurer werdenden Maschinenparks zu arbeiten. Da habe ich Hoffnung. Aber ich denke, daß solche Ideen im Moment keinerlei Zukunft haben. Wir werden uns weiter, selbstverständlich auch im Ausschuß, dafür einsetzen, das Gesundheits-Strukturgesetz, wie es vorliegt, durch entsprechende Anträge zu verbessern.
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Als nächster hat der Kollege Dr. Hans-Joachim Sopart das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben es heute mehrfach gehört: Die Finanzentwicklung der GKV West ist dramatisch. Die eindrucksvolle Entwicklung wurde mehrfach und detailliert dargestellt. Unklar scheint vielen dagegen die Finanzsituation der GKV Ost zu sein. Erklärungen von Leistungserbringern aus den neuen Ländern scheinen zumindest für diese Unklarheit zu sprechen.
Der Überschuß von 2,8 Milliarden DM für das Jahr 1991 mag für manchen Anlaß genug zu einem unbegründeten Optimismus sein. Das Defizit für das erste Halbjahr 1992 mit 230 Millionen DM setzt aber eine Tendenz fort, die sich schon im dritten Quartal 1991 andeutete - und dies bei einem von vornherein relativ hohen Beitragssatz von 12,8 % über alle Kassen.
Es kann keinen Zweifel geben: Soll das Solidarprinzip GKV auch im Osten funktionsfähig gehalten werden, muß das vorliegende Gesetz auch in den neuen Ländern - dies nicht nur im Sinne einer ordnungspolitischen Rechtsgleichheit in Ost und West - zur Anwendung gebracht werden. Das durch die Gesetzgebung geplante Einsparvolumen von 1,4 Milliarden DM jährlich zugunsten der GKV Ost ist dringend erforderlich.
Zu beachten ist allerdings, daß das Gesundheitswesen in den neuen Ländern einen gewaltigen Umstrukturierungsprozeß hinter sich hat, der in weiten Bereichen der Struktur zwar abgeschlossen ist, der in der Entwicklung eines höheren Niveaus aber zunächst einmal nur Teilbereiche erfaßt hat. Eine Angleichung
des Versorgungsniveaus kann man im Bereich der Versorgung mit Arzneimitteln, mit Heil- und Hilfsmitteln und im Bereich der Zahnprothetik konstatieren. Auch die ambulanten ärztlichen und zahnärztlichen Leistungen konnten ein hohes Niveau der Versorgung erreichen - dies mit einem enormen Einsatz von privatem Kapital, das aber in der Regel durch Kreditaufnahme der Kassenärzte und Kassenzahnärzte realisiert wurde. So ist beispielsweise - um nur eine Zahl zu nennen - die durchschnittliche ostdeutsche Zahnarztpraxis mit 238 000 DM verschuldet.
In diesem Zusammenhang will ich nachdrücklich darauf hinweisen, daß die finanzielle Situation von Arzt- und Zahnarztpraxen in den neuen Ländern keinesfalls mit der finanziellen Situation dieser Praxen in den alten Ländern vergleichbar ist und daß ostdeutsche Kassenärzte und Kassenzahnärzte mit einem hohen persönlichen Risiko ein großartiges Aufbauwerk geleistet haben.
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Im Krankenhausbereich hat sich die umfassende Versorgung mit Arzneimitteln, mit Heil- und Hilfsmitteln und die Realisierung von Investitionen vorwiegend im Bereich unterhalb von Großinvestitionen schon deutlich positiv auf das Versorgungsniveau ausgewirkt.
Diese Ausgangssituation, schlaglichtartig umrissen, muß beachtet werden, wenn man die Auswirkungen der vorliegenden Gesetzesentwürfe in den neuen Ländern angemessen beurteilen will. Gestatten Sie mir deshalb, daß ich nur auf die Situation in den neuen Ländern eingehe.
Besonders fürchten Kassenärzte und Kassenzahnärzte die Budgetierung der Gesamtvergütung unter dem Aspekt, daß 96 `Y. aller Praxen als Neugründungen mit hohen Krediten belastet sind. Diese Befürchtung ist aus meiner Sicht zwar verständlich, aber unbegründet. Zunächst einmal soll im Gesetzentwurf beachtet werden - so die ergänzenden Überlegungen der Koalitionsarbeitsgruppe -, daß die Niederlassungswelle 1991 in den neuen Ländern noch nicht abgeschlossen war, so daß sich die Budgetierung nicht wie in den alten Bundesländern auf das Jahr 1991 beziehen kann, sondern sich auf das Jahr 1992 beziehen muß.
Der Rahmen der Gesamtvergütung für die kassenärztliche und kassenzahnärztliche Versorgung - korrekterweise ohne Zahnersatz - wird sich in Ostdeutschland bei schneller steigenden Bruttolöhnen deutlich rascher erweitern können als in den alten Ländern. Ich muß Ihnen da ausdrücklich widersprechen, Herr Kollege Knaape: Man kann davon ausgehen, daß die Einnahmezuwächse je Mitglied im Jahre 1993 gegenüber 1992 mindestens 15 % betragen werden - eine Steigerung, die sich logischerweise auch im Gesamtbudget für das Honorar der Ärzte- und Zahnärzteschaft niederschlagen wird.
In diesem Sinne verändern die vorgelegten Gesetze im Bereich der ärztlichen und zahnärztlichen Vergütung de facto eigentlich nichts im Bereich der neuen Länder; denn schon im Einigungsvertrag war der 45°-Einstiegswinkel festgelegt, der mit zunehmenden Einnahmen der Kassen erweitert werden sollte. Dies
ist Schritt für Schritt geschehen, und die vorliegenden Gesetze werden dies auch in Zukunft ermöglichen.
Die beschriebene rasche Steigerung der GKV-Einnahmen führt selbstverständlich auch zu einer schnelleren Ausweitung des Budgets in den anderen Ausgabenbereichen der GKV. Dies betrifft sowohl das Budget für Arznei- und Heilmittel als auch das Budget für den Krankenhausbereich. Zusätzlich gilt das Budget für Arznei- und Heilmittel erst ab 1994 in den neuen Ländern, da bis zu diesem Zeitpunkt das Erste Gesetz zur Änderung des Fünften Buches des Sozialgesetzbuchs gelten wird. Zugleich wird sich absehbar, so denke ich, bis zu diesem Zeitpunkt eine Marktangleichung von Ost und West entwickelt haben. Veränderungen der Patientenzahl, der Altersstruktur der Patienten, der Preise und Innovationen sowie mögliche gesetzgeberische Veränderungen werden ohnehin im Budget berücksichtigt. Ich sage das an dieser Stelle nur, weil man in der Öffentlichkeit ganz andere Meinungen hört.
Schon ab 1995 ist dann unter bestimmten Voraussetzungen ein Aussetzen des Arzneimittelbudgets möglich, so daß dieser Teil des Gesetzes in den neuen Ländern praktisch nur ein Jahr wirken muß.
Einen heftigen Streit gibt es auch in den neuen Ländern mit den Zahnärzten über die Absenkung des Punktwertes für Zahnersatz um 20 % zum 1. Januar 1993, bezogen auf den Punktwert vom 31. Dezember 1991. Ich habe in diesem Fall ein gewisses Verständnis für die Klagen. Am 31. Dezember 1991 betrug der Punktwert für ostdeutsche Zahnärzte noch 1,10 DM. Wenn man nun diesen Punktwert um 20 % senkt, käme es zu einem Verfall des inzwischen auf 1,15 DM angestiegenen Punktwertes um über 20 %. Aus diesem Grunde wird man im Gesetzgebungsverfahren ein anderes Bezugsdatum einführen müssen - dies auch unter dem Aspekt, daß die Vergütungen der Zahnärzte bei der vorgesehenen Wahlleistung 1993 voraussichtlich nur 70 % der Einnahmen ihrer westlichen Kollegen betragen wird.
Zusätzlich sei hier angemerkt, daß - im Gegensatz zu den alten Ländern, wo die Absenkung von 1993 bis 1995 festgeschrieben ist - die Selbstverwaltung weitere Erhöhungen des Vergütungsniveaus für diese Jahre innerhalb der Einnahmeentwicklung im Beitrittsgebiet vereinbaren kann. Ich denke, daß diese Klarstellung für die Diskussion in den neuen Ländern sehr wichtig ist.
Speziell für die neuen Länder wurde bei der Altersgrenze für die Zulassung zur kassenärztlichen Versorgung die Klausel eingefügt, daß der Kassenarzt, der weniger als 15 Jahre tätig war, über die Altersgrenze von 65 Jahren hinaus praktizieren kann. Dies kommt den Kollegen zugute, die sich erst in höherem Alter niederlassen konnten.
Sehr intensiv hat sich die Koalitionsarbeitsgruppe mit der Aufhebung des Selbstkostendeckungsprinzips, der Festlegung eines Krankenhausbudgets und der Auswirkung dieser Maßnahmen auf die Krankenhäuser in den neuen Ländern beschäftigt. Tatsächlich stehen nach einer extremen Umbruchsituation in diesen Häusern Rationalisierungsmaßnahmen noch aus.
Herr Knaape, ich gebe Ihnen recht: Die meisten Krankenhäuser befinden sich zur Zeit in kommunaler Trägerschaft. Die Finanzierung der kommunalen Haushalte in den neuen Ländern ist bereits heute außerordentlich angespannt, so daß die Kommunen kaum in der Lage sein dürften, eventuell entstehende Finanzierungsdefizite zu tragen. Ähnlich ist die Situation allerdings bei den freien Trägern. Deshalb ist die Veränderung des § 18b KHG, die ein Umlegen von Rationalisierungsinvestitionen auf den Pflegesatz ermöglicht, gerade für die neuen Länder von herausragender Bedeutung. Auf der anderen Seite sind 1992 die Pflegesätze in Ostdeutschland im Schnitt um 26 gestiegen, so daß sich auch hier eine beträchtliche Belastung der GKV Ost ergibt.
Hinzu kommt, daß 1994 die beträchtlichen Instandhaltungskosten, die sich schätzungsweise auf 600 Millionen DM jährlich belaufen werden, in den Pflegesatz eingerechnet werden können. Dies führt zwar zu einer wünschenswerten Entlastung der Krankenhäuser, belastet aber die GKV Ost zusätzlich.
Weiter kommt hinzu, daß die Einführung der Pflegepersonalverordnung sowie die eventuellen Tarifentwicklungen im BAT-Ost zu einer deutlichen Mehrbelastung der Krankenkassen führen können. Unter diesem Aspekt sind trotz der genannten Bedenken diese Kostendämpfungsmaßnahmen im Krankenhausbereich auch in den neuen Ländern möglich.
Ausdrücklich begrüßt werden muß in diesem Zusammenhang die Möglichkeit des Einsatzes von privatem Kapital in den Krankenhäusern Ostdeutschlands .
Lassen Sie mich abschließend auf die spezifischen sozialen Auswirkungen der vorgelegten Gesetzentwürfe in den neuen Ländern eingehen. Die Sozialverträglichkeit der Regelung ist ohne Zweifel ein Kernproblem der vorliegenden Gesetze.
Die spezifischen sozialen Probleme in den neuen Ländern sind bekannt: Das ist der hohe Anteil von Empfängern von Arbeitslosengeld - zukünftig auch von Arbeitslosenhilfe -, von Leistungen aus dem AFG, es sind aber auch die niedrigeren Löhne, Gehälter und Renten. Für diese Empfänger niedrigerer Einkommen gelten die bewährten Regelungen des Fünften Sozialgesetzbuches; dieses gilt auch in den neuen Ländern. Auf die Einzelheiten dieser Regelungen ist mein Kollege Zöller detailliert eingegangen.
Für die Zuzahlung im Krankenhaus und bei stationären Kuren - mit Ausnahme von Müttergenesungskuren, die weiterhin kostenfrei sind - gelten für die neuen Länder entsprechend den geringeren Einkommen niedrigere Tagessätze; dies ist auch bei der Zuzahlung für den Krankentransport so.
Hier ist, so denke ich, im Gesetzgebungsverfahren zu prüfen, ob bei der hier nicht geltenden Härtefallregelung im Krankenhaus für chronisch Kranke oder sozial Schwache zusätzliche Entlastungsmechanismen eingebaut werden können. Dies liegt übrigens im Sinne der Betroffenen in den neuen Ländern, aber auch in den alten Ländern.
Kritik wird vielfach an den unterschiedlichen Härtefallgrenzen für Ost und West geübt. Dies hat, wie Sie wissen, zunächst sehr formale Ursachen. Die
Härtefallgrenze ist mit 40 % der Bezugsgröße der Sozialversicherung festgelegt. Die niedrigeren Gehälter, die zu einer niedrigeren Zuzahlung im Krankenhausbereich führen, bedeuten auch einen niedrigeren Ansatz der Härtefallgrenze in den neuen Ländern.
Lediglich bei der Zuzahlung von Arzneimitteln gilt die Härtefallregelung West. Dies ist in sich schlüssig, da im Bereich des Zahnersatzes in Ost und West noch ein unterschiedliches Preisniveau besteht. Bei Arzneimitteln dagegen gelten dieselben Preise.
Die Belastungen für Wahlleistungen beim Zahnersatz werden in den neuen Ländern voraussichtlich nur 70 % der Ausgaben ausmachen, mit denen ein gleichartig behandelter Versicherter im Altbundesgebiet belastet ist.
Meine Damen und Herren, ich verkenne in keinem Augenblick, welche außergewöhnlichen Belastungen auf die Patienten, aber auch auf die Leistungserbringer, besonders in den neuen Ländern, zukommen. Andererseits sehe ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch für die neuen Länder die dringende Notwendigkeit, den Trend zur Ausgabensteigerung kurzfristig zu stoppen. Nur so wird es uns gelingen, das Ausgabenniveau und damit die Leistungsfähigkeit der GKV-Ost angemessen zu stabilisieren.
Weil Sie das angesprochen haben, Frau Kollegin Fischer: Dieses Gesetz soll nicht einseitig das Kapital stärken, wie Sie das gesagt haben, sondern diese steigenden Beitragssätze, wenn sie in den neuen Ländern denn kommen würden, wären für die im Aufbau befindliche Wirtschaft katastrophal.
({1})
Sie würden Arbeitnehmer und vor allen Dingen den sich entwickelnden Mittelstand, der es jetzt schon schwer genug hat, überfordern und die Bezieher der noch deutlich niedrigeren Einkommen stärker belasten.
({2})
Deshalb ist dieses Gesetz bei den offenkundigen Belastungen für alle Beteiligten, besonders in den neuen Ländern, ein notwendiges und, wie ich denke, auch angemessenes Erfordernis.
Ich danke Ihnen.
({3})
Nun hat der Kollege Horst Schmidbauer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben deutlich gemacht, daß es auch im Krankenhaus mit uns kein Abkassiermodell gibt. Ich fordere Sie, Kolleginnen und Kollegen der Koalition, auf: Machen Sie mit uns für die Krankenhäuser eine Strukturreform, eine Strukturreform, die den Namen wirklich verdient. Ich füge hinzu: Wir können dann dauerhaft Kosten sparen, und Sie können auf das Abkassiermodell im Krankenhaus verzichten.
({0})
Horst Schmidbauer ({1})
- Ich komme dazu. - Wir sind nicht nur offen für neue Wege, nein, wir sind der Auffassung: Neue Strukturen im Krankenhaus sind notwendig, um die Wirtschaftlichkeitsreserven der Krankenhäuser zu nutzen, um mit einem neuen Vergütungssystem größere Leistungsanreize zu bieten und vor allem um die harten Brüche bei der notwendigen Verzahnung von „ambulant" und „stationär" zu überwinden.
Zwei zentrale Ziele können wir sicher gemeinsam formulieren:
Erstens. Wir wollen das Selbstkostendeckungsprinzip durch die Einführung eines leistungsbezogenen Vergütungssystems ersetzen.
({2})
Zweitens. Wir wollen die duale Krankenhausfinanzierung schrittweise durch ein monistisches System ablösen.
({3})
Die Fragen, die offenbleiben, lauten: Sind die Ziele auf der gleichen Grundlage? Wie und mit welchen Mechanismen und in welchem Zeitraum können die Ziele erreicht werden?
({4})
Wie sieht der Übergang für das Krankenhaus 2000 aus, so wie wir es uns vorstellen? Eine vor- und nachstationäre Behandlung ist notwendig; die Kurzzeitpflege, ambulante Pflegedienste und Notfalldienste, Fach- und Institutsambulanzen sind im Sinne einer besseren Verzahnung zum Nutzen der Patienten konsequent weiterzuentwickeln.
Da wir uns klar darüber sind, daß hier ein hochkompliziertes, sensibles Gebilde zu verändern ist, ist mehr gefordert als vage Zielformulierungen. Anders ausgedrückt: Das Ziel ist sichtbar; aber was den Weg angeht, haben Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, die Hausaufgaben noch nicht gemacht.
({5})
Wie müssen die Abrechnungsformen der Zukunft denn aussehen, ohne daß wir z. B. Gefahr laufen, eine Amerikanisierung in die Bundesrepublik zu importieren? Wie muß denn der Sicherstellungsauftrag formuliert werden, ohne daß wir Gefahr laufen, daß mit neuen Strukturen zugleich Leistungsausgrenzungen eingeführt werden? Wie soll denn die von den Kassen geforderte Transparenz hergestellt werden, wenn durch Hunderte von Abrechnungsformen, Fallpauschalen, Sonderentgelte, differenzierte Pflegesätze bis hin zu den Stationen ein unbezahlbarer Bürokratisierungsschub kommt und damit auch Wirtschaftlichkeitsreserven, die auf der einen Seite gewonnen werden können, wieder aufgefressen werden? Und vor allem: Wie hilft die Politik den Krankenhäusern, den Strukturwandel zu vollziehen?
Wie kann man zugleich den ständig wachsenden Anforderungen an die Gesundheitsdienstleistungen des Krankenhauses nachkommen? Denn wir dürfen doch nicht vergessen, daß jeder zweite Krankenhauspatient über 60 Jahre alt ist. Immer mehr Menschen
werden chronisch oder mehrfach krank. Diese Menschen müssen teilweise lebenslang zwischen ambulanter und stationärer Versorgung hin- und herpendeln.
Das Krankenhaus, als Akutkrankenhaus konzipiert, muß in der Zukunft das Thema „chronisch" mit beinhalten. Das verlangt natürlich nach neuen Lösungen, die vom Krankenhaus allein nicht zu bewältigen sind. Wir müssen den Krankenhäusern helfen, wir müssen vor allem Entlastungen schaffen. Da will ich ganz deutlich sagen: Die Pflegeversicherung kommt 1996 zu spät; wir brauchen sie jetzt, um echte Entlastungseffekte zu haben.
({6})
Wenn also Strukturreformen mit uns, dann bitte richtig.
Sie, Herr Seehofer, springen noch zu kurz in der Frage; denn wenn man Kosten sparen, Qualitäts- und Leistungsstandards aber halten will, muß man vor allem mit weniger Betten auskommen. Das funktioniert, wenn der ambulante Bereich im Krankenhaus verankert ist und die vor- und nachstationäre Behandlung ambulant im Krankenhaus erfolgt. Da genügt ein „möglicherweise" des Herrn Ministers nicht; das ist zu kurz gesprungen.
Darauf, daß die Dinge konkrete Grundlagen haben, möchte ich gerade in Anwesenheit des bayerischen Ministers hinweisen: Das Modell des dreiseitigen Vertrages in Bayern zeigt, daß durch die Regelung im ambulanten Bereich vor- und nachstationär eine große Sparmöglichkeit besteht; hochgerechnet bedeutet das bundesweit z. B. einen Einspareffekt von 23 000 Betten. Das heißt: Wenn wir zu einer verbindlichen und vorbildlichen Verzahnung des ambulanten und stationären Bereichs kommen, haben wir tatsächlich große Sparmöglichkeiten. Da sind Milliarden für uns zu sparen. Ich sage: Greifen Sie zu mit uns. Dann können Sie auf Ihr Abkassiermodell verzichten.
({7})
Lassen Sie uns gemeinsam feststellen: Wir wollen unter keinen Umständen, daß eine Reform des Krankenhauses auf dem Rücken der Träger, noch weniger der Beschäftigten ausgetragen wird. Sie haben es nicht verdient.
({8})
Bei aller Notwendigkeit einer Strukturveränderung: Unsere Krankenhäuser brauchen sich bei einem internationalen Vergleich nicht zu verstecken, im Gegenteil.
Wir müssen deshalb dafür sorgen, daß die Träger auch in Zukunft einen Anspruch auf eine leistungsbezogene Vergütung bei wirtschaftlicher Betriebsführung haben.
({9})
Horst Schmidbauer ({10})
Wir sagen wegen der offenen Fragen: Das Selbstkostendeckungsprinzip wird durch zeitgleiche Einführung leistungsbezogener Vergütungssysteme abgelöst. Also erst dann kann das Selbstkostendeckungsprinzip abgelöst werden.
Anders verhält es sich in den internationalen Vergleichen, wenn wir die Zahl der Beschäftigten ansehen, vor allem im Pflegebereich. Bei uns liegt die Zahl der Beschäftigten im Pflegebereich niedrig. Die Folge davon hat einen Namen: Pflegenotstand.
Für alle Beteiligten ist wichtig, daß hier einheitliche Grundlagen für den Personalschlüssel im Krankenhaus geschaffen werden, sowohl für Pflegekräfte wie für Ärzte.
Der Herr Minister hat so getan, als wenn er jetzt mit der Pflegepersonalverordnung den gesamten Pflegebereich geordnet oder geregelt hätte. Aber ich sage, Herr Minister: Sie sind auf halbem Wege stehengeblieben. Schaffen Sie doch für die Nachtdienste, für die Funktionsbereiche die entsprechende Grundlage, damit der gesamte Pflegebereich geregelt wird
({11})
und wir dann eine gemeinsame Pflegepersonalbemessung haben. Schieben Sie vor allem die Pflegepersonalbemessung für die Ärzte nicht auf die lange Bank, sondern machen Sie in dieser Frage jetzt Nägel mit Köpfen.
Wichtig ist, daß die verabschiedete Pflegepersonalverordnung für die Psychiatrie und für die Pflege jetzt zügig umgesetzt wird, auch wenn wir Ihrer Rechnung dazu, Herr Minister, noch nicht folgen können. Zugegeben, es klingt gut - es könnte fast von einem Sozialdemokraten sein -, wenn Sie so schön sagen: Wir bitten die Chefärzte zur Kasse, um damit die Pflege zu finanzieren. Redlich, Herr Seehofer, ist das nicht. In Wirklichkeit nehmen Sie mit dem Geld aus den Chefarztabgaben den Krankenhäusern Millionen weg, ohne damit die Sicherheit für die Finanzierung der Pflege zu garantieren.
({12})
Diese Hunderte von Millionen sind bisher von den Krankenhäusern für Investitionen zur Deckung ihrer Defizite herangezogen worden. Sie müssen in diesem Bereich natürlich auch für die Zukunft eine Lösung haben.
Das hat zur Folge - ich habe das an einem Beispiel in meinem Wahlkreis nachgerechnet -, daß z. B. das Klinikum auf 7 Millionen DM im Jahr verzichten muß. Die Frage ist: Wer kommt dafür auf? Die Krankenkassen, der Stadthaushalt - so man einen hat? Das ist das Problem.
({13})
Fassen wir zusammen: Wenn Sie bei der Strukturreform schon so konkrete Vorstellungen entwickelt hätten wie beim Abkassieren der Versicherten über SGB V, dann sähen wir auch in der Strukturreform der Krankenhäuser klarer. Oder bildlich ausgedrückt: Die Richtung zur Reform ist angezeigt. Unklar bleibt aber die Frage: Wie läuft der richtige Weg über den Paß? Ich denke, solange keine klare Sicht besteht, gibt es auch nicht die gemeinsamen Schritte.
({14})
Meine Damen und Herren, als letzter Redner in dieser Debatte hat jetzt unser Kollege Dr. Martin Pfaff das Wort.
({0})
Herr Minister, bei der Anwesenheit so stimulierender Kollegen brauche ich kein Manuskript.
({0})
- Einige Unterschiede, Herr Bundesminister für Gesundheit, würden zwischen uns wohl bestehen.
Herr Präsident! Meine Herren Bundesminister! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin so froh, Herr Bundesminister Blüm, daß Sie hier sind - es gab Gespräche am Rande im Sachverständigenrat bei der Konzertierten Aktion -, weil wir uns heute doch mit den Ergebnissen der damaligen Prognosen befassen müssen. Wären nämlich die Strukturmaßnahmen, die jetzt ihr Nachfolger, Herr Seehofer, selber einführen will, damals schon eingeführt worden, bräuchten wir uns über Einsparungen von 11 Milliarden DM heute vielleicht überhaupt nicht zu unterhalten.
({1})
- Ich weiß, das ist ja Ihr Charme, Herr Kollege, daß Sie aus Ihren Fehlern lernen können.
({2})
Meine Aufgabe soll es sein, am Ende ein Fazit zu ziehen, indem ich einige sehr persönliche Wertungen vortrage, die aber nicht nur von mir als politisch engagiertem Bürger, sondern auch aus der Kontinuität meines eigenen Engagements in diesem Bereich kommen.
Herr Bundesminister, ich möchte Ihre zwei Pakete in vier Kategorien einteilen: Das erste - ich nenne es einmal so in Anführungszeichen - sind die „sozialpolitischen Todsünden" des Herrn Kollegen Seehofer, das zweite sind die klassischen Marterwerkzeuge des Herrn Bundesministers, das dritte sind die Unterlassungssünden, und das vierte sind die diskussionswürdigen Strukturmaßnahmen.
Fangen wir doch einmal mit der sozialpolitischen Todsünde an. Wenn die soziale Krankenversicherung - ich hoffe, da sind wir uns vom Prinzip her einig - eine Veranstaltung ist, die nach dem Bedarf und nur nach dem Bedarf in Anspruch genommen werden soll,
wo jeder Mann, jede Frau, jedes Kind ohne Zuzahlung das, was notwendig ist, im Augenblick der Krankheit erhalten kann, und wenn zweitens die Finanzierung solidarisch sein soll - bis zur Beitragsbemessungsgrenze, über die wir uns jetzt nicht unterhalten können und müssen -, dann ist es in der Tat so, daß die Jungen die Alten, die Gesunden die Kranken, die Männer die Frauen, die Bezieher höherer Einkommen diejenigen mit niederen Einkommen mitfinanzieren; Gudrun Schaich-Walch hat das gesagt. Aber in dem Fall soll der Regelkatalog der gesetzlichen Krankenversicherung das ohne Zuzahlung bringen, was notwendig, angemessen, nach den Regeln der ärztlichen Kunst erforderlich und wirtschaftlich ist; so steht es im GRG. Dann haben aber Regel- und Wahlleistungen keinen Stellenwert in einer sozialen Krankenversicherung.
({3})
Entweder ist es notwendig oder angemessen, dann gehört es hinein, oder es ist es nicht, dann kann es privat - wie schon heute - zusätzlich abgedeckt werden.
({4})
- Nein, Sie wollen, daß wir unterscheiden zwischen Regel- und Wahlleistungen im Rahmen der GKV.
({5})
Es hindert niemand heute, Herr Kollege, sich über private Krankenversicherungen für alle möglichen Dinge zu versichern. Der Leistungskatalog der GKV soll aber auf das, was ich charakterisiert habe, beschränkt werden.
({6})
Wenn Sie den Weg in Regel- und Wahlleistungen gehen, dann besteht das Problem noch nicht in der Klassifizierung, sondern in der Tendenz, daß die Regelleistungen über Zeit nach unten gefahren werden
({7})
und daß dann diejenigen, die über mehr D-MarkStimmen verfügen, bei der Wahl zu ganz anderen Ergebnissen kommen als diejenigen, bei denen das nicht der Fall ist.
Herr Kollege Pfaff, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jagoda?
Selbstverständlich.
Bitte sehr.
Herr Kollege Dr. Pfaff, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Katalog der Regelleistungen das, was medizinisch notwendig ist, umfassend beschreibt, daß es nach dieser Definition keine Leistung gibt, die medizinisch
notwendig ist und nicht durch eine Regelleistung erbracht werden kann?
Für mich als jemanden, der in diesem Gebiet sehr lange tätig ist, aber kein Mediziner und auch kein Zahnarzt ist, Herr Kollege Jagoda, ist es völlig unverständlich, warum eine Brücke für zwei Zähne Regelleistung und für drei Zähne Wahlleistung sein soll.
({0})
Entweder ist die Brücke für drei Zähne medizinisch notwendig, dann, bitte schön, soll sie im Katalog sein, oder sie ist nicht notwendig, dann soll sie ausgeschlossen sein. Alles andere ist nicht einsichtig.
Der zweite Sündenfall ist das Kostenerstattungssystem. Es hat zwar auch positive Effekte - die Versicherten sind etwas besser informiert; das ist richtig -,
({1})
aber die Kontrollfunktion der Kassenärztlichen bzw. der Zahnärztlichen Vereinigung - ich könnte Ihnen natürlich, Sie wissen es, die Vorlage Ihres eigenen Hauses zeigen - wird in der Tendenz unterlaufen.
({2})
- Ja. - Das dritte ist: In dem Umfang, Herr Bundesminister, wo dann die verauslagten Kosten von den Kassen nicht voll erstattet werden, bleibt der Versicherte natürlich auf einer variablen Zuzahlung sitzen. Die Motivation der Zahnärzte ist doch nicht das Bedürfnis, den Informationsstand der Versicherten zu erhöhen, sondern ihre eigenen Einkommenschancen durch eine variable Zuzahlung zu verbessern.
({3})
Der nächste Punkt: Herr Blüm, Ihr Herzstück wird zur Disposition gestellt. Ich müßte zumindest eine oder zwei Tränen bei Ihnen vermerken, wenn Herr Seehofer jetzt die Festbetragsregelung der Zuzahlung unterwerfen will.
({4})
Sie haben dies als Herzstück bezeichnet. Ich fand das gar nicht so falsch.
({5})
Ich habe das schon immer gesagt, auch wenn die vorgegebene Abdeckung von 85 % für Festbeträge noch in weiter Ferne liegt. In der Hinsicht haben Sie Ihr Globalziel verfehlt, auch wenn das die nichtfestbetragsgedeckten Arzneimittel in der Ausweitung und der Menge kompensiert haben.
Ich komme zum zweiten Katalog, zu den klassischen Marterwerkzeugen. Ich nenne sie so, weil sie schon in den 70er Jahren eingeführt worden sind. Nur, einige haben halt die Lektion gelernt, andere nicht. Es ist ja richtig, daß Zuzahlungen in keiner Weise steuerungstechnisch wirkungsvoll sind. Im Gegenteil. In Ländern mit Zuzahlungen sind die Ausgaben sogar höher. In USA 12,4 %, bei uns 8,1 % Anteil, wenn man die OECD-Berechnung nimmt.
Zweitens sind sie sozialpolitisch bedenklich,
({6})
weil natürlich gerade die Einkommensschwächeren davon betroffen sind. Und sie sind gesundheitlich bedenklich, weil natürlich, wenn sie Biß haben, auch gesundheitlich notwendige Leistungen unterbleiben. Wenn sie keinen Biß haben, kann man sie vergessen. Wenn sie Biß haben und notwendige Leistungen unterbleiben, dann muß man sie erst recht vergessen. Zuzahlungen haben in einer sozialen Krank enversicherung keinen Stellenwert. Ich sage: Die Politik der Zuzahlungen, die „Kunst der Primitiven", rächt sich politisch bitter. Das zeigt sich nämlich immer wieder nach einigen Jahren, wenn die Rechnung auch politisch für eine solche Strategie präsentiert wird.
({7})
Ich komme drittens zu den Unterlassungssünden. Herr Bundesminister, wenn es Ihnen ernst ist - und ich nehme Ihnen das ab, daß Sie an den Strukturen wirklich etwas ändern wollen, weil die Dynamik, die den Versicherten, vor allem den Kranken, in der Qualität der Versorgung nichts bringt -, damit im Krankenhaus anzufangen und das bei den Kapazitäten fortzusetzen, dann frage ich Sie: Warum haben Sie denn andere wirklich notwendige und machbare Reformen, die nicht im Jahr 1999, sondern jetzt greifen, nicht gebracht? Warum haben Sie die Vergütung im ambulanten Bereich in Richtung pauschalierter, leistungsbezogener Vergütung nicht verändert?
({8})
Wenn das im Krankenhaus richtig ist, warum soll es im ambulanten Bereich falsch sein? Warum kommen wir nicht, bitte schön, endlich weg von dieser unseligen Einzelleistungsvergütung, die wegen der Mengenexpansion nicht im Sinne der Versicherten ist, die eigentlich auch nicht im Sinne der Ärzte ist? Große Wartezimmer müssen vorgehalten werden. Die Arbeitgeber müssen die Ausfallzeiten finanzieren, die Versicherten müssen bei vergleichbaren Behandlungen zwei- oder dreimal so oft kommen wie die anderen. Hier wäre doch eine echte Strukturreform möglich gewesen, die nicht erst im Jahr 1999 greift.
({9})
Zweiter Punkt. Warum nicht die Organisationsreform, Herr Bundesminister, vorziehen? Ich wollte das nicht so in den Vordergrund stellen, aber ich war einer der ersten, die das prognostiziert haben. Ein 14seitiger Brief, Herr Blüm, in Ihrem Hause bei Herrn Jung, wird das noch im Detail aufhellen. Ich prognostiziere Ihnen heute: Wenn Sie den Konditionenwettbewerb nicht aus dem System der gesetzlichen Krankenversicherung nehmen, wird diese Aktion nicht einmal bis zum Dezember 1994 halten. Das ist meine düstere Prognose.
Deshalb appelliere ich an Sie, die Organisationsreform wirklich ernsthaft zu diskutieren. Geht es denn an, daß Arbeiter heute weniger Wahlrechte haben als Angestellte? Ich meine, nein. Geht es denn an, daß gerade die sozial und wirtschaftlich Schwächeren, weil sie diese Wahlrechte nicht haben und einer anderen Kassenart angehören, für die vergleichbar
gleiche Leistung einen höheren Beitrag zahlen müssen? Ich sage, nein. Und geht es denn wirklich an, daß diejenigen, die in strukturschwächeren Gebieten sind, deshalb und nur deshalb einen höheren Beitrag leisten müssen als andere? Auch dazu, meine ich, sollten wir eigentlich alle nein sagen. Deshalb ist ein Risikostrukturausgleich das Gebot der Stunde, die zweite notwendige Forderung für die Organisationsreform.
Gestatten Sie noch eine Zusatzfrage, Herr Kollege Pfaff?
Ja, selbstverständlich.
Herr Kollege Pfaff, Sie fordern jetzt die Organisationsreform sofort bei den Krankenversicherungen. Sie wissen aber doch, glaube ich, genau wie wir, daß es dazu bestimmter Daten bedarf, um den richtigen Strukturausgleich zum richtigen Moment vorzunehmen. Zu dem, wie Sie ihn fordern, darf ich Sie vielleicht zitieren. Sie fordern einen Grundlohn, Familienquoten sowie Alters- und Geschlechtsstrukturausgleich. Dieses Beispiel ist jetzt für die AOK durchgerechnet worden. Und siehe da, wenn wir diesem Beispiel folgen würden, käme es zu einem Ergebnis, bei dem der niedrigste Beitragssatz um 0,06 und der höchste um minus 0,02 Prozentpunkte verändert würden. Dann können doch die Ausgangsdaten nicht stimmen, daß ich so ein großes Werk angreife, um die zweite Stelle nach dem Komma zu verändern. Hier brauchen wir doch wesentlich fundierteres Datenmaterial.
Das war mehr eine Zwischenbemerkung des Kollegen Zöller, aber trotzdem, bitte sehr, Herr Kollege Pfaff.
Herr Zöller, es gibt Dinge, über die lohnt es sich zu streiten. Es gibt Dinge, für die muß man streiten. Aber bei diesen Berechnungen würde ich Ihnen schleunigst raten: Ändern Sie Ihre Berater! Wenn Sie keinen anderen finden, kommen Sie zu mir.
({0})
Diese Berechnungen sind absolut falsch. ({1})
Ich schicke Ihnen auch eine Monographie, wo wir für jede einzelne Kasse und Kassenart die Angaben finden: regional, bundesweit, intern, extern, Grundlohn, mit Versichertenquote - für die alten Länder wohlgemerkt -, Jakobs, Igels, Leber, Base und wen auch immer. Diese Ziffern sind grundsätzlich falsch. Ein bundesweiter Risikostrukturausgleich würde für fast 90 % der Versicherten die Beitragssatzunterschiede auf vier Zehntel eines Prozentpunktes reduzieren.
Gestatten Sie noch eine Zusatzfrage, Herr Kollege?
Dem Kollegen Zöller jederzeit, solange es nicht angerechnet wird.
Herr Kollege Pfaff, sind Sie denn mit mir der Meinung, daß es, wenn die
AOK behauptet, ihre Berechnung sei richtig, während Sie behaupten, daß Ihre Berechnung richtig sei, erforderlich ist, daß wir alle Berechnungsstrukturen miteinander vergleichen, und zwar mit wirklich fundierten Zahlen? Da wir diese zur Zeit allerdings nicht haben, ist im Gesetz vorgeschrieben, daß wir erst nach Vorlage dieser Zahlen eine wirklich fundierte Entscheidung treffen können.
Herr Kollege, dies ist eine vorgeschobene Behauptung. Die AOK-Berechnungen liegen nicht weit weg von unseren. Wenn Sie, Herr Bundesminister, für alle Elemente dieses Gesetzespakets bis zum letzten Komma die Berechnungen haben wollten, müßten Sie in der Tat noch vier bis fünf Jahre warten. Wo haben Sie denn die Berechnungen, wenn es um das Malussystem bei den Ärzten geht? Wo haben Sie denn die Berechnungen - wir haben sie in unserem Haus teilweise gemacht -, wie sich die Selbstbeteiligungen im Krankenhausbereich auswirken? Es tut mir leid. Ich streite ja gerne, aber in dem Punkt, das ist wirklich wahr, ist die Qualität der Information um etliche Quantensprünge besser als bei den anderen Gesetzeselementen, die eigentlich auf Intuition und Erkenntnis und nicht auf Quantifizierung beruhen. Das ist leider, leider die Wahrheit.
({0})
Herr Bundesminister, ich habe zwei wesentliche Strukturreformen angesprochen. Was den Krankenhausbereich betrifft, so ist der Lernfortschritt des Kollegen ja wirklich anzuerkennen, nicht nur weil er ihn getan hat, sondern weil er es eingesehen und eingestanden hat. Ich möchte das nicht zynisch, sondern wirklich positiv hier erwähnen, weil so wenige in diesem Haus in der Lage sind, einmal so etwas offen zu sagen.
Aber, wenn Sie das Krankenhaus reformieren wollen, Herr Bundesminister, warum ändern Sie dann nicht die grundsätzliche Arbeitsteilung zwischen ambulant und stationär, vor- und nachstationär?
({1})
Warum sehen Sie nicht teilstationäre Angebote vor? Ja, warum ändern Sie nicht die Zusammenarbeit mit den sozialen Diensten und ähnlichem? Das wären doch Reformen, die wirklich Zuzahlungen überflüssig machen würden.
Ein letztes zum Krankenhausbereich, Herr Bundesminister. Schon allein aus Gründen der Kollegialität und nicht nur aus der Kenntnis würde ich Ihnen doch herzlich raten, eine Härtefallregelung im Krankenhaus einzuführen. Es geht so nicht. Ich glaube, da wären wir uns alle einig.
Zu dem letzten Punkt, den diskussionswürdigen Strukturmaßnahmen. In dem Umfang, Herr Bundesminister, wie Sie im Krankenhausbereich bei der Steuerung der Angebotszahlen bei den Ärzten notwendige Veränderungen treffen, die längerfristig nicht nur die Finanzierbarkeit, sondern auch die Qualität der Versorgung unseres Gesundheitswesens nachhaltig verbessern sollen, und in dem Umfang, wie Sie in einen offenen und ehrlichen Dialog mit uns eintreten wollen, werden Sie in uns ernsthafte Gesprächspartner finden. Aber dafür ist eine noch
größere Beweglichkeit erforderlich, als wir sie selbst
bei Bundesminister Seehofer bisher erleben durften.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zu den natürlich völlig unzulässigen Zwischenrufen von der Regierungsbank, die etwa so hießen: Was, ohne Manuskript? Ich will dazu einmal vorlesen, was in § 33 unserer Geschäftsordnung steht:
Die Redner sprechen grundsätzlich in freiem Vortrag. Sie können hierbei Aufzeichnungen benutzen.
Dies war ein klasischer Fall der Geschäftsordnung.
({0})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/3209 und 12/3210 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und außerdem an den Rechtsausschuß und den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft vorgeschlagen.
Der Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3226 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Der Haushaltsausschuß soll den Antrag zur Mitberatung erhalten.
Gibt es dazu noch andere Vorschläge? - Das sehe ich nicht. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Punkt 3 der Tagesordnung auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Fördervoraussetzungen im Arbeitsförderungsgesetz und in anderen Gesetzen
- Drucksache 12/3211 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes ({2})
- Drucksache 12/3008 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({3}) Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsauschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache.
({4})
Vizepräsident Helmuth Becker
- Ich möchte gerne dem ersten Redner das Wort erteilen, sobald wir hier dafür die nötige Ruhe hergestellt haben. - Ich erteile dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, unserem Kollegen Dr. Norbert Blüm, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Daß es bisher nicht zu einer sozialen Explosion im Osten gekommen ist, haben wir vor allem der Arbeitsmarktpolitik zu verdanken." - Dieser Satz steht in nicht im Bulletin der Bundesregierung, sondern in der Pressemitteilung der stellvertretenden Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Frau Ursula Engelen-Kefer. Ich bin froh darüber, daß Konsens herrscht über die wichtige Rolle und den Erfolg unserer Arbeitsmarktpolitik. Ich versichere Ihnen: Wir werden diesen erfolgreichen Weg fortsetzen.
({0})
Unsere produktive Arbeitsmarktpolitik trägt seit dem 1. Juli 1990, dem Tag der Einführung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, die Hauptlast, den Beschäftigungseinbruch abzudämmen. Sie ist ein Damm gegen die Hoffnungslosigkeit. Allein in diesem Jahr gibt die Bundesanstalt für Arbeit etwa 43 Milliarden DM in den neuen Ländern aus. 43 Milliarden DM entsprechen etwa 18 % des ostdeutschen Bruttoinlandprodukts.
In den neuen Ländern gaben wir für aktive Arbeitsmarktpolitik - ohne Kurzarbeit - 1991 19 Milliarden DM und geben wir 1992 35,8 Milliarden DM und 1993 34 Milliarden DM aus. Mit diesem Geld bewahren wir seit 1991 im Durchschnitt fast 2 Millionen Menschen vor Arbeitslosigkeit.
Allen, die die Frage der Arbeitsmarktpolitik so abstrakt angehen, sei gesagt. Man müßte sie nur einmal wegdenken. Dann zeigte sich, welches Tal der Hoffnungslosigkeit ohne die Leistungen der Arbeitsmarktpolitik vorzufinden wäre.
1991 haben wir aus dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost Mittel in Höhe von 5,6 Milliarden DM für ABM ausgegeben.
({1})
- Sie werden gleich feststellen, daß wir insgesamt, auch durch die Einführung neuer Instrumente, versuchen, das erreichte Niveau zu halten, es allerdings besser zu justieren.
({2})
1992 geben wir 10,3 Milliarden DM und 1993 7,7 Milliarden DM für ABM aus.
Die Ausgaben für Fortbildung und Umschulung: 19914,7 Milliarden DM, 1992 9,3 Milliarden DM; nach unseren Überlegungen sollen es im Jahre 1993 unter Berücksichtigung der jetzt zu beratenden AFG-Änderungen 8,2 Milliarden DM sein.
Seit Oktober 1990 haben 1,5 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine Weiterbildungsmaßnahme begonnen. Das heißt: Rund ein Sechstel der ehemals 9 Millionen Beschäftigten in der ehemaligen DDR hat bereits einmal an von der Bundesanstalt
geförderten Bildungsmaßnahmen teilgenommen. Man kann den Erfolg von Fortbildung und Umschulung sensationell nennen, denn 80 % der Absolventen sind kurze Zeit nach Abschluß der Ausbildung nicht mehr auf Bezüge aus den Arbeitsämtern angewiesen.
Um den Verdacht zu widerlegen, die Arbeitsmarktpolitik sei auf dem Rückzug, will ich auch die weiteren Gelder nennen. Altersübergangsgeld: 1991 2,7 Milliarden DM, 1992 8,6 Milliarden DM und 1993 - neben 400 Millionen DM aus dem Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit - 10,1 Milliarden DM. Das bedeutet eine kräftige Steigerung des Altersübergangsgeldes.
Ich verteidige es auch, denn ich denke, es ist besser, einem 55jährigen Altersübergangsgeld zu geben als einem 20jährigen Arbeitslosengeld. Dennoch sollten wir einen Augenblick innehalten. Insgesamt darf sich nicht auf Dauer die Richtung festsetzen, daß 55jährige im Erwerbsleben schon nicht mehr gebraucht werden. Das gilt überall, auch im westlichen Teil Deutschlands. Das ist aus meiner Sicht ein unmenschlicher Zug, der sich da einschleicht. Das ist eine Jugendfixierung, die den Platz der Älteren in der Gesellschaft in Frage stellt. Altersübergangsgeld ist eine ungewöhnliche Maßnahme, aber es kann keine Dauereinrichtung sein.
Für das kommende Jahr stellen wir aus dem Etat des Bundesministers für Arbeit 4,4 Milliarden DM für den Vorruhestand zur Verfügung. Das betrifft 205 000 Leistungsempfänger. Insgesamt kommen rund 800 000 Personen in den Genuß von Altersübergangsgeld und Vorruhestand. Hätten wir die beiden Instrumente nicht, hätten wir 800 000 Arbeitslose mehr.
Das zeigt: Es gibt bei den Transferzahlungen auch 1993 keinen Abbau, sondern Umstellungen. Die qualitative Veränderung der Arbeitsmarktpolitik läßt sich auch an Hand von Zahlen belegen. Während wir 1982 für aktive Arbeitsmarktpolitik 18 % des Haushalts der Bundesanstalt für Arbeit mobilisiert haben, sind es jetzt rund 50 %. Es zeigt sich, daß aus der ehemaligen Arbeitslosenversicherung mehr als nur eine Arbeitslosenversicherung geworden ist; sie ist ein Instrument moderner arbeitsmarktpolitischer Dienstleistungen.
Ich möchte hier auch die Gelegenheit nutzen, den Mitarbeitern der Arbeitsverwaltung für das ungeheure Engagement in Sachen deutsche Einheit zu danken. Daß wir innerhalb von wenigen Wochen eine Arbeitsverwaltung fast aus dem Boden gestampft haben, daß sie nicht nur in der Lage war, Arbeitslosengeld, sondern auch das Kindergeld gleich mit auszuzahlen, daß sie 400 000 AB-Maßnahmen und 890 000 Eintritte in Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen organisiert hat, ist aus meiner Sicht eine Superleistung. Wenn alle politischen Bereiche so effizient und so solidarisch gewesen wären wie die Sozialversicherung, dann sähe es in Deutschland anders aus.
({3})
Ich meine, da kommt noch etwas zum Vorschein: 100 Jahre Sozialversicherung; es ist doch ein Fundus an Solidarität gewachsen, der auch in Krisenzeiten zu
mobilisieren ist und der nicht in allen Teilen unserer Gesellschaft zu finden ist.
Nun zum Thema Fortbildung und Umschulung. Ich glaube, daß wir jetzt stärker die Qualitätsfrage stellen müssen. Es war ganz selbstverständlich, daß beim ersten Dammbau nicht jede Maßnahme unter exakten Qualitätskontrollen stand. Wenn jemand am Ertrinken ist, braucht er einen Rettungsring und keine theoretische Anleitung zum Schwimmen. So war es auch mit den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten. Jetzt müssen wir allerdings schon darauf achten, daß nicht ins Blaue hinein ausgebildet wird, sondern daß Bildung auf Verwertbarkeit hin ausgerichtet ist.
Es muß überprüft werden, ob die Träger von Bildungsmaßnahmen auch wirklich ein Angebot vorweisen, das den Arbeitnehmern zur Qualifizierung verhilft, oder ob sie nur Geld mitnehmen. Daß in einem derart immensen Aufbau solche Fehlleistungen enthalten sind - wer sie hätte verhindern wollen, hätte gar nichts machen dürfen -, ist ganz selbstverständlich. Nur, das rechtfertigt es nicht, sich jetzt sozusagen in Fehlsteuerungen häuslich einzurichten.
Ich glaube, es ist auch für die Motivation der Teilnehmer wichtig, daß ihre berufliche Qualifikation, daß ihre Anstrengungen bei der Umschulung auch auf sinnvolle Ziele gelenkt werden.
Bei den Anbietern von Weiterbildungsmaßnahmen muß die Spreu vom Weizen getrennt werden. Gut 1 900 Bildungsträger gibt es derzeit im sächsischen Raum, etwa 300 von ihnen allein in Chemnitz. Zum Vergleich: In München sind es 52. Da ist schon die Frage erlaubt, ob alle Bildungsträger, die sich dort niedergelassen haben, in der Tat über ein qualitativ befriedigendes Angebot verfügen.
Diese Frage stellt sich freilich auch im Westen. Wir wollen die Überprüfung einer Bildungsmaßnahme auf ihre Förderungswürdigkeit schon vor Beginn der Förderung leisten, nicht erst, wenn sie schon läuft. Durch die Verankerung einer Beratungspflicht vor Eintritt in die Bildungsmaßnahme wird die Anwerbung von Teilnehmern durch schwarze Schafe unter den Bildungsträgern unterbunden. Auch die Möglichkeit der Mehrfachfortbildung, bei der man sich sozusagen dauernd in Fortbildung befindet, soll eingeschränkt werden. Ich glaube, daß diese Maßnahmen sinnvoll sind und nicht einfach als Sparmaßnahme abgeheftet werden können, sondern auch einer qualitativen Verbesserung dienen, denn auch unter qualitativen Gesichtspunkten haben Quantitäten ihre Grenzen.
Ich sprach vorhin - von manchen etwas mitleidig belächelt - von neuen Instrumenten, einer Neujustierung unserer Arbeitsmarktpolitik. Ich will gleich für ein Instrument werben, von dem ich weiß, daß es auf allen Seiten unseres Hauses auf Zustimmung trifft: Arbeitsförderung zur Umweltsanierung. Es hat einen doppelten Zweck. Es soll helfen, die Umwelt in den neuen Bundesländern zu sanieren, und neue Beschäftigungsmöglichkeiten in Umwelt- und Gewässerschutz schaffen. Wir werden sie dort einsetzen, wo in Großprojekten die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur Sanierung und zur Beseitigung von Umweltschäden auslaufen. Die industriellen Altlasten aus der
ehemaligen DDR und die vorhandenen Umweltschäden sind ja auch ein Hemmnis für Industrieansiedlungen. Also, mehrere Ziele sollen mit diesem neuen Instrument erreicht werden.
Die Umweltsanierungsarbeiten müssen grundsätzlich durch ein Wirtschaftsunternehmen durchgeführt werden. Der Sanierungsträger begründet mit dem Arbeitslosen ein normales Arbeitsverhältnis. Die Höhe des Zuschusses orientiert sich an den durchschnittlichen Aufwendungen für Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe in den neuen Bundesländern. Um es weniger kompliziert zu sagen: Die Firma bekommt das Geld, das der Arbeitnehmer erhalten würde, wenn er arbeitslos wäre. Denn ich finde, wenn wir schon Geld ausgeben, ist es sinnvoller, wir geben es für Arbeit aus als für Arbeitslosigkeit.
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Das Geld, das wir dem Arbeitslosen zahlen würden, wenn er keine Arbeit hätte, geben wir der Firma, wenn sie einen Arbeitslosen einstellt, um auf diese Weise Umwelt zu sanieren.
({5})
- Selbst wenn es sozialdemokratisch wäre, auch von den Sozialdemokraten sind manchmal - wir wollen nicht übertreiben, damit der Hochmut nicht steigt - gute Vorschläge gekommen. Aber Patentschutz machen wir ja nicht. Was den Menschen hilft, das machen wir.
({6})
- Ich lasse mich wieder durch Ihre Zwischenrufe ablenken. Aber wenn Sie Zwischenrufe machen, seien Sie vorsichtig: Ich gebe Antworten. Bleiben wir doch lieber bei dem, was wir gemeinsam schaffen müssen!
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Nun, meine Damen und Herren, was Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen anbelangt, geht es darum, daß wir sie fortführen.
({8})
Wir werden nicht einfach in die Vollen gehen können: immer mehr Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen anstelle der alten Planwirtschaft, um dann plötzlich eine Arbeitsbeschaffungswirtschaft zu haben. Man muß auch darauf achten, daß die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nicht dem normalen Arbeitsmarkt Konkurrenz machen.
In Zukunft wird in den neuen Ländern ein über 75 % hinausgehender Zuschuß zu den Personalkosten einer ABM nur dann gewährt werden können, wenn die geförderte Arbeitszeit auf 80 % der normalen Vollarbeitszeit begrenzt wird oder - das werden wir im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens noch vorschlagen; ich bitte Sie um Ihre Prüfung - wenn für die zugewiesenen Arbeitnehmer Entgelte vereinbart werden, die angemessen niedriger sind. Dazu braucht
man die Tarifpartner; ich bin nicht dafür, daß der Gesetzgeber das macht. Ich bin dafür, daß man in freier Vereinbarung solche schwierigen Probleme löst.
Es muß ein Anreiz bestehen bleiben, aus den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den normalen Arbeitsmarkt überzuwechseln. Dabei weiß ich, daß man eine so theoretische Alternative auch verbinden muß mit dem praktischen Angebot auf dem normalen Arbeitsmarkt. Bei der heutigen Beschäftigungsnot ist das so nicht vorhanden.
Insgesamt möchte ich doch die Vorstellung abwehren, die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme sei eine Art Hängematte. Ich möchte alle die verteidigen, die dort arbeiten, und vor allem diejenigen, die solche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen organisieren. Im übrigen beweisen Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarktforschung, daß der Bruttomonatslohn in ABM lediglich 88 % des durchschnittlichen Monatslohnes in Ostdeutschland entspricht, daß sie also schon faktisch unter den normalen Arbeitsentgelten liegen.
Ich bleibe auch aus Anlaß dieser schwierigen Problematik bei dem ausdrücklichen Bekenntnis zur Tarifautonomie. Die Tarifvertragsparteien haben eine hohe ordnungs- und friedensstiftende Funktion. Wer sie außer Kraft setzt oder beschädigt, wird sich wundern, was dann entsteht. Bei allem, was an Kritik und Vorschlägen geäußert wird, haben wir es doch mit einer Tarifautonomie mit hoher Verantwortung zu tun, die auf Einsichten beruht.
({9})
- Jetzt sprechen wir doch über Arbeitsförderung. Ich spreche zu jeder Zeit über alles. Ja, ich rede über Tarifautonomie und rede über die Kooperation der Tarifpartner mit dem Staat, die wir an allen Stellen brauchen.
Wo die Tarifautonomie nicht funktioniert, muß der Staat eingreifen. Er macht es nicht besser. Dort, wo keine Tarifautonomie ist, muß der Staat Mindestlöhne festsetzen. Das ist nie erfolgreich.
({10})
- Herr Schreiner, Sie sind heute bei der falschen Tagesordnung. Vielleicht haben Sie heute Nacht schlecht geschlafen. Wir sprechen jetzt über das Arbeitsförderungsgesetz. Bewahren Sie sich doch selber vor der Blamage, die Tagesordnung des Bundestages nicht zu kennen!
Ich will noch einmal über die Flexibilität der Tarifverträge, auch im Osten, sprechen. Ab 1. Januar 1992 waren für 1 500 der insgesamt 2 400 beschlossenen Vereinbarungen Firmentarifverträge abgeschlossen. Das ist gar nicht so ein Eisblock. Der entsprechende Anteil im Altbundesgebiet liegt bei 27 %. Es wird viel über die Unbeweglichkeit der Tarifpartner gesprochen.
Ohne Spektakel - das ist ja auch kein Fall für Spektakel ({11})
gibt es Lösungen mit hoher Verantwortung. Beispielsweise ist zwischen dem Handelsverband Sachsen, der DAG und der HBV ein Tarifvertrag für den Einzelhandel abgeschlossen worden. Dieser Tarifvertrag enthält eine Mittelstandsklausel, die es gestattet, daß kleine Unternehmen bis 20 Beschäftigte vom 1. April bis 30. September 1992 um 12,5 % und vom 1. Oktober bis 30. April 1993 um 10 % niedrigere Entgelte vereinbaren können. Mancherorts wird der Eindruck entwikkelt, wir hätten es mit Dinosauriern zu tun, die sich nicht bewegen können. Die Verantwortung der Tarifpartner ist noch immer sehr hoch und sie verdient auch, vom Parlament anerkannt zu werden.
({12}) Ihr Geschäft ist ja nicht gerade leicht.
Bessere Arbeitsinstrumente brauchen wir auch, um ungerechtfertigte Inanspruchnahme abzuschneiden. Ich denke, daß der § 128 Arbeitsförderungsgesetz so, wie er heute ist, nicht bleiben kann. Der Kollege Urbaniak kennt das Problem. Die Großbetriebe lösen ihre betrieblichen Personalprobleme häufig auf Kosten der Solidarkassen. Da immer von Mitnahme der Arbeitnehmer gesprochen wird, wollen wir auch noch von der Mitnahme der Firmen reden.
({13})
Ein kleiner Mittelständler kann das nicht. Schon der Zulieferer zu den Großbetrieben kann nicht durch einen großen Sozialplan den Unterschied zwischen letztem Nettoverdienst und Arbeitslosengeld ausgleichen, so daß der Arbeitnehmer drei oder fünf Jahre früher in der Rente ist, als er ohne diese Lösung wäre. Bezahlen tun das die Arbeitnehmer in Betrieben, die sich solche Lösungen nicht leisten können. Was ist daran solidarisch? Was ist daran gerecht? Es ist eine Lösung, die sich nur die großen Betriebe der deutschen Industrie erlauben können. Dort scheiden immerhin 100 000 Arbeitnehmer mit 58 statt mit 63 Jahren aus dem Beruf aus. Das kostet die Arbeitslosenversicherung jährlich 2,7 Milliarden DM, 0,2 Beitragspunkte. Wir müssen aber sehr sparsam sein mit den Beitragspunkten, um das Notwendige zu finanzieren und die Personalzusatzkosten nicht ausufern zu lassen.
Über die Möglichkeiten der neuen Zusammenarbeit zwischen Arbeitsförderung, Bundesanstalt und Rentenversicherung werden sicher aus dem Parlament noch entsprechende Vorschläge zu machen sein.
({14})
- Nein, sie sind nur dem Thema entsprechend aufmerksam. Das entspricht auch der Thematik.
({15})
- Sie dürfen nicht von sich auf andere schließen.
Im Bereich der beruflichen Rehabilitation wollen wir eine Überlegung in die Beratung zum Arbeitsför9032
derungsgesetz einbringen, die schon seit längerem diskutiert wird. In der Sache geht es um eine begrenzte Ausweitung der Rentenversicherung im Bereich der berufsfördernden Leistungen zur Rehabilitation. Anlaß dazu sind Kontinuitätsbrüche, die sich daraus ergeben, daß die Rentenversicherung bei jüngeren Versicherten mit weniger als 180 Monaten Beitragszeit zwar für die medizinische Rehabilitation zuständig ist, nicht aber für die berufsfördernde Rehabilitation. Wir schlagen vor, daß auch bei diesen jüngeren Versicherten die Rentenversicherung für die berufsfördernden Leistungen zuständig sein soll. Das ist im übrigen auch ein Anliegen der Rentenversicherung selber, damit die Betroffenen von einem Träger betreut werden und nicht zwischen verschiedenen Trägern wechseln müssen.
Ein weiterer Punkt: Die Eingliederungskosten für Aussiedler werden auf mehrere Schultern verteilt. Es war auch hier im Parlament schon häufig die berechtigte Frage gestellt worden, wieso die Beitragszahler die Eingliederungsbeihilfen der Aussiedler bezahlen. Das betrifft die generelle Frage, die wir in der Sozialversicherung stellen müssen: Was gehört zur Solidaritätspflicht der Beitragszahler, und was ist Aufgabe der staatlichen Gesamtgemeinschaft? Wer diese Trennung nicht akzeptiert, der führt uns zu großen Verteilungsungerechtigkeiten. Warum? - Es zahlen nicht alle Beitrag, und diejenigen, die Beitrag zahlen, zahlen auch nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze.
Wenn wir soziale Aufgaben, für die eigentlich die Allgemeinheit zuständig ist, über die Leistungen der Beitragszahler finanzieren, dann entlasten wir die Steuerzahler und schieben über die Sozialversicherung alles den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern zu. Deshalb muß es eine Neuordnung der Leistungen für die Aussiedler geben.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Reimann?
Bitte sehr.
Herr Minister, seit Jahren diskutieren wir das von Ihnen angesprochene Problem - in den Ausschüssen, am Rednerpult hier - aus der Sicht der Sozialdemokraten. Warum haben Sie eigentlich in den vergangenen Jahren nicht dazu beigetragen, daß das, was Sie jetzt sagen, durch die Regierung realisiert wird?
Ich könnte genausogut sagen: Lieber Herr Reimann, warum haben Sie in den 13 Jahren Ihrer Regierungszeit nicht gleich alles so gemacht, wie Sie es anschließend für richtig befunden haben? - Der Fortschritt bewegt sich Schritt für Schritt. In der Tat kann man in der Politik nicht alles gleichzeitig erreichen. Ich behaupte auch jetzt noch: In der gesamten Sozialversicherung gibt es noch mehr als eine Maßnahme, die eigentlich nicht von Beitragszahlern
bezahlt werden müßte, sondern durch die staatliche Gemeinschaft.
({0})
- Ein weiterer Grund, dieses Gesetz zu unterstützen.
Ich meine, es müßte die Aufgabe der Sozialpolitiker insgesamt sein, die Frage zu stellen, was allgemeine Aufgabe ist, was aus dem Steuersäckel gezahlt wird - in diesem Bereich trägt jeder nach seiner Leistungsfähigkeit bei -, und was der Sozialversicherung zufällt und somit durch Beiträge bezahlt wird. Wer das vermischt, wer der Sozialversicherung immer mehr Aufgaben auferlegt, die allgemeine Aufgaben sind, mag sich als Meister des sozialen Fortschritts feiern lassen - in Wirklichkeit ist das eine Umverteilung von oben nach unten.
({1})
Meine Damen und Herren, wir haben für die Aussiedler 1991 von der Bundesanstalt Mittel in Höhe von 4,6 Milliarden DM in Anspruch genommen, 1992 in Höhe von 3,1 Milliarden DM. In der Tat wollen wir es in Zukunft so halten: Der Bund übernimmt für die Aussiedler, die nach dem 31. Dezember 1992 nach Deutschland einreisen, die Kosten für eine sechsmonatige Sprachförderung. Er zahlt außerdem eine sechsmonatige Eingliederungshilfe, die in Anlehnung an die Vorschriften der Arbeitslosenhilfe ausgestaltet wurde. Darüber hinausgehende Eingliederungshilfen fallen dann in die Zuständigkeiten der Länder und Gemeinden.
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf, dem zuzustimmen ich Sie bitte, dient der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Ich möchte auch hier noch einmal werben, gerade im Hinblick auf Westdeutschland: Der Strukturumbruch in den neuen Bundesländern ist härter und geht tiefer, als in den Arbeitslosenzahlen zum Ausdruck kommt. Die alte DDR hatte mehr als 9 Millionen Beschäftigte; jetzt sind es knapp 6 Millionen. Mehr als ein Drittel der Beschäftigten haben ihren Arbeitsplatz aufgegeben.
({2})
- Ja, verloren; sagen Sie es, wie Sie es wollen. Ich schildere ja ausdrücklich die Härte. Das kommt in der Arbeitslosenstatistik deshalb nicht so zum Vorschein, weil sich die einen zurückgezogen haben, andere als Pendler unterwegs sind, die Dritten als Übersiedler, und ein Teil in Arbeitsmarktmaßnahmen beschäftigt ist.
Ich wende mich auch an die westdeutschen Kolleginnen und Kollegen. Man muß sich einmal vorstellen, was in Westdeutschland passiert wäre, wenn in zwei Jahren ein Drittel der Beschäftigten ihren Arbeitsplatz hätten aufgeben müssen. 10 Millionen Arbeitslose mehr in zwei Jahren - was wäre da los gewesen!
Und wie hat die Bevölkerung geantwortet? 400 000 haben ABM aufgenommen; insgesamt befinden sich 900 000 Personen pro Jahr in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Die Bevölkerung hat nicht resigniert, sondern mit hohem Engagement selber Initiative entwickelt. Insofern verdient auch die Anstrengung all derjenigen, die nicht aufgegeben haben, eine große Anerkennung und die Notwendigkeit, daß wir auch in der Arbeitsmarktpolitik weiter zur Solidarität aufrufen, auch im Sinne, daß der Westen für den Osten eintritt; denn wir sind jetzt ein Deutschland.
Die Arbeitsmarktpolitik ist, wie die Sozialpolitik insgesamt, keine Spielwiese.
({3})
- Nein, das ist ein steiniger Acker der Gerechtigkeit, auf dem viele arbeiten. All denen möchte ich - über alle Parteigrenzen hinweg - Dank sagen.
Ich meine, wir sollten uns neben den großen ordnungspolitischen Aufbrüchen, neben den großen Gemälden der Zukunft einer Sozialpolitik der Nachbarschaft der Menschen verpflichtet fühlen. Unser Maßstab muß immer sein, wie wir den Menschen helfen. Die einen sagen, wir machten zuviel Sozialpolitik, die anderen sagen, wir machten zuwenig.
({4})
Deswegen suchen wir einen Weg, der zwei Absturzgefahren vermeidet: eine Sozialpolitik, die überbordet - die so tut, als würde sie das Geld vom lieben Gott beziehen -, und eine Sozialpolitik, die in Herzlosigkeit abstürzt.
({5})
- Der gesunde Mittelweg ist im übrigen keine Erfindung des Norbert Blüm. Den gibt es in der abendländischen Geschichte seit mehr als 2 000 Jahren. Ich rate uns für die Sozialpolitik, diesen gesunden Mittelweg beizubehalten ({6})
abseits aller hohen ideologischen Bemerkungen, immer bereit, zu fragen, wie wir den Menschen helfen können.
Die Arbeitsmarktpolitik hat den Menschen geholfen. Sie muß Fehler beseitigen, sie muß Fehlsteuerungen beseitigen. Aber wir brauchen sie auch weiterhin. Allerdings warne ich davor - damit schließe ich -, diese Aufgabe nur der Arbeitsmarktpolitik zu übertragen. Sie ist eine der wenigen Sachen, die wirklich funktionieren. Nur bei ihr die Fehler zu suchen ist falsch. Die Arbeitsmarktpolitik kann nicht alles. Sie ist nur eine Brücke; sie kann nicht die Gesamtlast der Beschäftigungspolitik tragen. Jede Brücke ist sinnlos, wenn sie nicht an ein Ufer führt. Deshalb bleibt die Hauptaufgabe - die kann die Arbeitsmarktpolitik nicht lösen -, Arbeitsplätze zu schaffen.
Ich glaube, daß man Bürokratien, die nur hinderlich sind, zerschlagen muß, daß man Investoren, gerade auch die kleinen, nicht von einem Schalter zum anderen schicken darf, daß man Eigentum breit streuen muß, daß man verhindern muß, daß am Ende
des Einigungsprozesses die alten Eigentümer aus dem Westen die neuen Eigentümer im Osten sind. Das sind große Aufgaben, die nicht allein - und schon gar nicht nur mit eigenen Kräften - die Arbeitsmarktpolitik lösen kann.
Deshalb bleibe ich dabei: Wir brauchen eine gemeinsame Anstrengung aller Beteiligten. Dafür steht der Begriff Solidarpakt. In einer Planwirtschaft ist die Zentrale für alles zuständig. In einer sozialen Marktwirtschaft übernehmen die Aufgaben die Tarifpartner, die Länder, die Kommunen und der Bund. Deshalb will ich die Gelegenheit nutzen, zu diesem Solidarpakt aufzurufen.
({7})
Meine Damen und Herren, als nächstem Redner erteile ich jetzt unserem Kollegen Adolf Ostertag das Wort.
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesarbeitsminister hat hier soeben mit vielen Zahlen eine Art Rechenschaftsbericht seiner ach so erfolgreichen Arbeitsmarktpolitik vorgelegt.
({0})
Aber ich glaube, das war doch ein Stückchen Gesundbeterei,
({1})
die nicht darüber hinwegtäuschen kann, welch dramatisches Ausmaß die Arbeitslosigkeit inzwischen in
dieser Republik, in Ost und West, angenommen hat.
In dieser Situation ist es unverzichtbar, erstens bewährte Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik auszubauen und zweitens neue Instrumente hinzuzufügen, vor allen Dingen, was die Verzahnung der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik betrifft. Was der Bundesarbeitsminister soeben dazu gesagt hat, klingt gut. Aber entscheidend ist, was die Bundesregierung tut und was sie mit dieser Novelle plant.
Sie will die Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik mit ihrem Gesetzentwurf nicht ausbauen, sondern weiter - ich sage bewußt: weiter - amputieren. Wer Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Umschulungsmaßnahmen einschränkt, wer Kurzarbeiter- und Umschulungsmaßnahmen auslaufen läßt - das alles ist geplant -, darf sich nicht wundern, daß sich die Rechnung dann in der Arbeitslosenstatistik niederschlägt; das sehen wir ja jeden Monat. Ich glaube, dieser Herbst läßt einiges Schlimme erwarten.
Wer also bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik spart, zahlt bei der Finanzierung von Arbeitslosigkeit drauf, von den sozialen Folgekosten der Arbeitslosigkeit ganz zu schweigen. Die jüngsten ausländerfeindlichen Ausschreitungen und der Terror von rechts zeigen, welchen Sprengsatz es bedeutet, wenn die Massenarbeitslosigkeit weiter ansteigt, gerade bei jungen Menschen.
({2})
- Das ist Ihr einziger Ausweg in dieser Debatte um die Arbeitsmarktpolitik. Ich glaube, das ist ein sehr trauriges Zeichen. Die Arbeits- und Beschäftigungspolitik hat in diesem Bereich eine hohe Verantwortung, der sie nachkommen muß. Hier dürfen wir nicht abbauen, nicht kürzen, sondern hier müssen wir ausbauen, um solche Ausschreitungen künftig im Keim zu bekämpfen. Wir dürfen nicht erst dann mit der Bekämpfung der Ursachen anfangen, wenn es gebrannt hat.
({3})
- Dazu komme ich noch.
Ohne Rücksicht auf die dramatische Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Ost lind West hat die Bundesregierung eine Novelle zur weiteren Demontage des AFG vorgelegt. Kürzungen von 6 Milliarden DM sollen hauptsächlich in den Bereichen der aktiven Arbeitsmarktpolitik vorgenommen werden. Nach Ihrer Lesart sind sie nötig, weil sich der Bund aus der finanziellen Mitverantwortung für die Bundesanstalt verabschiedet; das ist der Kern dieser Sparmaßnahmen. Diese Regierung redet von einem Solidarpakt - soeben hat es auch der Arbeitsminister wieder getan - und kürzt gleichzeitig bei den sozial Schwächsten. Auch sich christlich nennende Parteien müßten wissen: Solidarität heißt, daß die Starken den Schwachen helfen. Diese AFG-Demontage-Novelle wird genau das Gegenteil bewirken.
Spürbare Verschlechterungen für die Arbeitslosen und die von Arbeitslosigkeit bedrohten Menschen werden die Folge sein. Mindestens 100 000 werden zusätzlich arbeitslos, wenn über 1 Milliarde DM bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gekürzt werden. Schon jetzt bekommen unzählige Arbeitslose keine Chance und rutschen in die Arbeitslosenhilfe ab. Hunderttausende daraus sind schon in die Sozialhilfe gestürzt. Das ist Tatsache, vor allen Dingen in den neuen Ländern. Mittelfristig führen Ihre Vorschläge auch zu höheren Beiträgen und zu weiterem sozialen Sprengstoff.
Wenn die Bundesregierung diese Politik fortsetzt, ist das eine Politik mit der Abrißbime. Eine AFG-Novelle, die diesen Namen verdient, muß Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung, der beruflichen Qualifizierung und Umschulung auf hohem Niveau weiterführen. Das Altersübergangsgeld und die Kurzarbeitergeldregelung müssen sich, da sie sich bewährt haben, weiter auf hohem Niveau bewegen. Insbesondere dort liegen die positiven Ansätze der bisherigen Regelung.
Der einzig neue Vorschlag in der Regierungsvorlage ist - der Bundesarbeitsminister hat es soeben gesagt - von der Opposition abgeguckt. Aber die Abschreibstrategen der Regierung waren bei der Formulierung des neuen § 249h AFG wohl auf einem Auge blind. Hätten sie unseren im Mai eingebrachten Antrag genau angeguckt oder bei der ersten Lesung genau hingehört, hätten sie sich manches an Formulierungskünsten sparen können. In diesem Antrag haben wir ein Strukturförderprogramm zur Schaffung von zusätzlichen 550 000 Arbeitsplätzen zur
Verbesserung der Infrastruktur und des Umweltschutzes sowie im sozialen Bereich vorgeschlagen.
({4})
- Wir haben auch Finanzierungsvorschläge vorgelegt und wollen damit vor allen Dingen vollwertige Arbeitsplätze schaffen.
Der Vorschlag der Bundesregierung hingegen ist für uns nicht akzeptabel. Die Arbeitnehmer würden nur zu 80 % beschäftigt und bezahlt. Das kann doch kein Anreiz sein! Das Lohnniveau der Ostdeutschen liegt heute nicht einmal bei 60 % des Niveaus der Westdeutschen. Noch ein Fünftel weniger als eine Bezahlung zu 80 % bedeutet in der Tat trotz Arbeit ein Absinken auf Arbeitsloseneinkommen oder auf westliches Sozialhilfeniveau. Mit zwangsweiser Teilzeitarbeit kann man auch keine vernünftigen Projekte machen. Wo bleibt da die Devise dieser Regierung, „Arbeit soll sich wieder lohnen", wenn man fürs Nichtstun genausoviel bekommt wie für sinnvolles Schaffen? Das ist doch die Frage.
({5})
Da die vorliegende AFG-Demontage-Novelle nicht den Herausforderungen eines verläßlichen und zukunftweisenden Instrumentariums entspricht, wird sie von uns mit aller Entschiedenheit abgelehnt.
Meine Damen und Herren, unannehmbar ist für uns auch die Nachfolgeregelung des § 128 AFG. Viele Arbeitgeber umgehen den Kündigungsschutz - der Minister hat es gesagt. Und wir finanzieren über die Solidarkassen die Personalanpassung in den Betrieben. Aus eigener Erfahrung könnte ich Ihnen Beispiele nennen, die zeigen, daß große Unternehmen zig Millionen eingespart haben, weil seit über einem Jahr keine Nachfolgeregelung von dieser Regierung vorgelegt wurde. Auch öffentliche Unternehmen, in NRW z. B. das Kernforschungszentrum Jülich, haben sich teilweise auf Kosten der Solidarkassen saniert. Von daher ist dieses Verfahren nicht akzeptabel.
Obwohl mehrfach angekündigt, hat es über ein Jahr gedauert, bis die Bundesregierung einen Vorschlag vorgelegt hat. Er ist jedoch nicht praktikabel und auch unsolidarisch. Ich sage das bewußt auch mit Blick auf das hochtrabende Wort „Solidarpakt". Diesen Vorschlag lehnen die Gewerkschaften ab, weil er die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr belastet als die alte Regelung, die bis vor einem Jahr Gültigkeit hatte. Er bürdet ihnen zusätzliche Lasten durch Anrechnung von Abfindungen und durch verlängerte Sperrzeiten auf. Für ältere Arbeitnehmer sollen es jetzt 35 anstatt - wie bisher - 12 Wochen sein.
Die Arbeitgeber lehnen den Vorschlag ab, weil er überhaupt etwas kostet und weil er nach ihrer Auffassung Bedingungen des Bundesverfassungsgerichts nicht berücksichtigt. Sie sagen, daß rechtliche Auseinandersetzungen vorprogrammiert seien. - Dafür sind sie sicherlich Garant, wie unsere Erfahrungen mit dem alten § 128 AFG gezeigt haben. - Sie bezeichnen den Vorschlag als „Schnellschuß".
Wir Sozialdemokraten haben eine leicht handhabbare Lösung in Form einer Arbeitgeberumlage erarbeitet. Danach sollen alle Arbeitgeber - mit Ausnahme von Kleinbetrieben - gemeinsam für Arbeitslose ab 56 Jahren ca. 90 % der Kosten bezahlen - 90 % deshalb, weil in dieser Altersgruppe nur ca. 10 % der Fälle, in denen das Arbeitsverhältnis beendet wird, nicht im Zusammenhang mit betrieblicher Personalpolitik stehen. Das zeigt, daß private und auch öffentliche Unternehmen mit gutem Grund in die Pflicht genommen werden müssen. Das sagt auch der Bundesarbeitsminister. Mißbräuche mit der Arbeitslosenversicherung belasten den Beitragszahler in diesem Jahr schätzungsweise mit 3,2 Milliarden DM. Dieses Geld ginge durch die von uns vorgeschlagene Umlage in Höhe von 0,25 % der Lohnsumme an die Solidarkasse. Damit würde sich die finanzielle Lage der Bundesanstalt erheblich entspannen.
Der Regierungsentwurf brächte maximal 100 Millionen DM. Er wäre ein weiteres Geschenk an die Unternehmen.
Auch die Praktikabilität spricht klar für unseren Entwurf. Ein vergleichbares Umlageverfahren haben wir bekanntlich beim Konkursausfallgeld.
Manche Betriebe wollen und können - zumindest in Notfällen - nicht auf das Instrument „Auflösungsverträge mit Abfindung und vorzeitigem Ruhestand" verzichten. Mit unserem Vorschlag geht das auch weiterhin. Unser Entwurf belastet die Arbeitgeber als Gruppe. Sie haben es in Zusammenarbeit mit den Betriebsräten in der Hand, die Umlage gering zu halten.
Meine Damen und Herren, unsere Vorschläge orientieren sich einerseits an bewährten Instrumenten des Arbeitsförderungsgesetzes - wir wollen den aktiven Teil fördern -, andererseits haben wir neue Überlegungen mit unseren Anträgen eingebracht, die den Instrumentenkasten des AFG erweitern und neue Finanzierungsquellen erschließen, hin zu mehr Solidarität. Wir Sozialdemokraten reden nicht nur von Solidarität, wir wollen sie verwirklicht sehen, insbesondere mit dieser Novelle zum AFG.
Vielen Dank.
({6})
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserer Frau Kollegin Dr. Gisela Babel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Bereich Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit soll entsprechend den Koalitionsvereinbarungen zum Haushalt 1993 ein Finanzvolumen von 5 Milliarden DM eingespart werden. Die F.D.P. unterstützt den Beschluß und unterstützt den Bundesarbeitsminister, der um diese Aufgabe wahrlich nicht zu beneiden war.
({0})
Daß ein Sparhaushalt grundsätzlich finanzpolitisch wichtig und geboten ist, bestreitet ja auch die Opposition nicht. Aber natürlich opponiert sie gegen jeden konkreten Sparvorschlag und läuft Sturm gegen diese AFG-Novelle.
Die Maßnahmen im einzelnen lassen sich in drei Gruppen einteilen: Die erste Gruppe betrifft echte Leistungsstreichungen, Leistungskürzungen. Die zweite Gruppe betrifft eigentlich Verbesserungen, weil - trotz Beibehaltung der Förderung dem Grunde nach - Einsparungen erzielt werden; Stichwort: mehr Effizienz. Im dritten Teil gilt es einige wirkliche Verbesserungen anzusprechen, nämlich Beschäftigung für Frauen und im Bereich Umweltsanierung das Modell, das wir auch schon gestern angesprochen haben.
Müssen wir also im ersten Teil defensiv argumentieren und uns vor allem auf die Notwendigkeit zum Sparen berufen, so können wir im zweiten und dritten Teil durchaus auch Fortschritte melden.
({1})
Ich beginne mit den harten Maßnahmen, meine Damen und Herren: Erstens. Eingliederungshilfen für Aussiedler werden gestrichen. Einsparvolumen: 1,5 Milliarden DM.
Zweitens. Begrenzung der Rehabilitation für Behinderte: 500 Millionen DM.
Drittens. Senkung der Einarbeitungszuschüsse: 1,5 Milliarden DM.
Viertens. Abschaffung der Möglichkeit der Förderungen zum Hauptschulabschluß.
({2})
- Das ist nicht quantifiziert. Wir werden das in den Ausschüssen sicher noch beraten müssen.
({3})
- Wir haben noch nicht alle Einsparmaßnahmen festgelegt. Das sind die ersten; es kommen noch weitere hinzu.
({4})
- Das, was ich jetzt aufgezählt habe, sind keine 6 Milliarden - Sie haben gut mitgerechnet, Herr Schreiner-, aber es sind ja noch weitere Maßnahmen geplant.
Die Streichung der Eingliederungsleistungen für Aussiedler ist sozialpolitisch nicht unproblematisch. Gerade die Erfolge bei der Integration der Aussiedler beweisen, wie wichtig Eingliederungshilfen und Sprachkurse waren. Jetzt soll eine pauschalierte Hilfe bei Bedürftigkeit gezahlt werden. Das ist insofern unumgänglich, als ohne eine solche Unterstützung Aussiedler sofort der Sozialhilfe zur Last fallen und die Gemeinden mit Recht dagegen protestieren würden.
Ob und wie sich die mangelnden Sprachkenntnisse in Zukunft beheben lassen, wird sich erweisen. Der große Batzen von 1,5 Milliarden DM, der damit eingespart werden soll, zeigt aber, wie groß das Volumen auf diesem Sektor angewachsen war. Die Auswirkungen auf Betroffene, auf Betriebe und
Gemeinden werden wir im Ausschuß noch besprechen.
Noch schwerer fällt mir, meine Damen und Herren, Kürzungen im Bereich der beruflichen Rehabilitation von Behinderten zuzustimmen. Hier sollen in Zukunft auch Arbeitsmarktgesichtspunkte eine Rolle spielen und die Zuschüsse degressiv gewährt werden. Wichtig ist, daß es in diesem Bereich nicht zu einer deutlichen Verschlechterung für die Behinderten kommt. Gerade die Schulung Behinderter für den Arbeitsmarkt ist Voraussetzung für ihre Eingliederung.
Weiterhin sollen Einarbeitungszuschüsse der Höhe und der Dauer nach gekürzt werden. Das Einsparpotential ist auch hier groß - man geht von 550 Millionen DM aus -, aber die Folgen im Osten sind sicher problematisch.
Wie effektiv waren nun diese Zuschüsse? Nicht: Wie viele Personen haben sie bekommen?, sondern: Wie viele Personen haben durch diese Zuschüsse tatsächlich die Möglichkeit erhalten, im Arbeitsleben Fuß zu fassen?. Darüber brauchen wir nähere Auskunft.
Schließlich gibt es in Zukunft nicht mehr die Möglichkeit, nachträglich den Erwerb von Hauptschulabschlüssen unterstützt zu bekommen. Mir scheint, daß die Begründung hierfür besonders einleuchtend ist.
({5})
- Die Maßnahmen laufen ohnehin 1995 aus. - Denn es kann doch nicht angehen, daß wir Bildungsdefizite nun ausgerechnet auf Kosten der Beitragszahler finanzieren.
({6})
Zum zweiten Bereich der Maßnahmen, Einsparungen durch sinnvolleren Einsatz:
Da kann ich zuerst aufführen die Beratungspflicht der Teilnehmer bei Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen, Überprüfung der Bildungsangebote durch das Arbeitsamt vor dem Beginn an Kriterien arbeitsmarktpolitischer Erfordernisse, zweitens Streichen der Vorbereitungsgespräche zugunsten von Informationsveranstaltungen und drittens die Einschränkung der Möglichkeit, Arbeitslose zum zweitenmal in eine Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahme zu schicken.
Meine Damen und Herren, ich will es mit dieser Aufzählung bewenden lassen. Aber diese Vorschriften zeigen mir doch sehr deutlich die Erfahrungen, die man in den letzten Jahren mit den Bildungsträgern im Osten gemacht hat, daß das Geld hier vielleicht nicht immer so ausgegeben wurde, daß man sich am Arbeitsmarkt orientiert hat. Im Grunde also eine sehr sinnvolle Maßnahme, die hier vorgeschlagen wird.
Jetzt zum ABM-Tarif. Für die F.D.P. will ich sagen: Wir begrüßen die Tatsache, daß es diesen TeilzeitABM-Tarif jetzt geben soll, 80 % Lohn für 80 % Arbeitszeit. Wir machen das jetzt im Umweltbereich, wo es um die Sanierung von Boden und Gewässern im Osten Deutschlands geht.
Das Projekt erscheint mehrfach sinnvoll: erstens durch die Langfristigkeit der Maßnahme - es soll hier fünf Jahre lang die Gewährung von Zuschüssen geben -, zweitens durch den Zweck - Beseitigung ökologischer Schäden - und drittens durch die Begrenzung des Tarifs, um den ersten Arbeitsmarkt nicht zu belasten.
Wir haben schon seit längerem besondere ABM-Tarife gefordert. Auf diese sinnvollen Vorstellungen scheinen jetzt zwei Gewerkschaften - Chemie und Bergbau - auch einzugehen. Ich stimme dem Bundesarbeitsminister ausdrücklich zu, daß die Flexibilität, die sich hier jetzt bei den Gewerkschaften zeigt, von uns zu begrüßen ist. Allerdings bin ich nicht ganz sicher, ob nicht gerade die gravierenden Entwicklungen diesen Druck auf die Gewerkschaften ausüben mußten; so ganz ohne weiteres wären sie vielleicht nicht eingeschwenkt.
Meine Bedenken bleiben aber nach wie vor bestehen: Auch der 90-%-ABM-Tarif liegt über den Tarifen in den kleinen und mittelständischen Betrieben, so daß keine Anreize bestehen, in den ersten Arbeitsmarkt zu wechseln. Auch darüber werden wir sozusagen immer wieder nachdenken müssen.
Ich begrüße sehr das Bemühen, jetzt im AFG deutlich verankert, Frauen bei ABM besser als bisher zu berücksichtigen. Wir wissen ja, daß die Frauen an der Arbeitslosigkeit mit 64 % beteiligt sind. Es ist sicher gut, ohne daß wir an diesem Punkt nun wieder die leidige Quoten-Diskussion eröffnen, daß wir versuchen, mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen die Situation zu lindern.
Für mich ist es schon deprimierend und erschrekkend, wie rücksichtslos in einer freien Marktwirtschaft Frauen als erste entlassen werden
({7})
und wie schwer sie wieder Fuß fassen, wieder Arbeit finden. Ich denke also, es ist gut, wenn wir zumindest im AFG Anstrengungen unternehmen, dem zu begegnen.
Nun zum Altersübergangsgeld, zum § 128 AFG: Die SPD hat den Antrag gestellt, quasi auf dem Weg der Umlage zwischen den Arbeitgebern einen Ausgleich zu schaffen.
({8})
- Sehr sinnvoll, lieber Herr Schreiner, erscheint das nicht, weil dann nämlich alle Arbeitgeber zahlen müssen, ganz unabhängig davon, ob sie ältere Arbeitnehmer entlassen oder nicht.
({9})
Damit belastet man gerade die kleinen und die Mittelbetriebe,
({10})
die sich die Entlassung der älteren Arbeitnehmer in
der Regel gar nicht leisten können, und man entlastet
die Großbetriebe. Das ist insofern ein merkwürdiger Vorschlag, als er ausgerechnet von der SPD kommt.
({11})
Nun zur Lösung des Gesetzes: Grundsätzlich soll der Arbeitgeber bei frühzeitiger Entlassung des Arbeitnehmers das Arbeitslosengeld für zwei Jahre erstatten. Von diesem Grundsatz sieht das Gesetz jedoch einige sinnvolle Ausnahmen vor.
({12})
- Mein lieber Herr Andres, wenn in meiner Rede etwas zu beanstanden ist, immer an meine Adresse. Ich schreibe die selber.
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Keine Erstattungspflicht im Osten und keine in den kleinen Betrieben, also in denen mit unter 20 Beschäftigten. Meine Damen und Herren, ich weiß, daß dieser Vorschlag keine Gnade bei den Arbeitgeberverbänden findet. Aber hinweisen möchte ich schon auf den Tatbestand der mißbräuchlichen Handhabung der Kündigung im Alter und damit einer eigentlich übermäßigen Beanspruchung der Solidarsysteme Arbeitslosenversicherung und Rentenversicherung. Man kann nicht über hohe Lohnnebenkosten klagen und gleichzeitig zur Überlastung der Solidarsysteme beitragen.
({14})
Um nun die Probleme zwischen Arbeitslosenversicherung und Rentenversicherung bei den Personen zu lösen, die das Altersübergangsgeld zwar beziehen, gleichzeitig aber eigentlich schon Rente beziehen könnten, will ich hier auf einen Vorschlag hinweisen, den die Fraktionen CDU/CSU und F.D.P. einbringen werden.
Es handelt sich um eine unkonventionelle und unbürokratische Maßnahme, wie sie eben nur Fraktionen einfällt, daß nämlich die Arbeitslosenversicherung weiterhin an die Berechtigten leistet, dafür aber 1,6 Milliarden DM von der Rentenversicherung pauschal erhält. Das ist wirklich ein sinnvoller Transfer.
Gleichzeitig wird auch der Vorschlag eingebracht, bei einer der medizinischen Rehabilitationsmaßnahme folgenden beruflichen Rehabilitation von jungen Arbeitnehmern in Zukunft die Rentenversicherung zuständig zu machen. Das deutet darauf hin, daß es sich hier um eine sinnvolle Kombination gegenseitiger Wunscherfüllungen handelt.
({15})
Meine Damen und Herren, zur Arbeitsvermittlung, die im AFG geregelt ist und zu der die Koalition neue Wege vereinbart hat, liegt kein Änderungsantrag vor. Die F.D.P. vertraut aber darauf, daß mit der Kündigung des ILO-Abkommens der damit gewonnene Spielraum genutzt wird, nämlich endlich das Vermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit aufzuheben und flexiblere gewerbliche Arbeitsvermittlung zuzulassen. Wir alle wissen, wie wichtig Maßnahmen der Deregulierung derzeit sind, um Tempo, Effizienz und Flexibilität in alle Bereiche zu bringen.
Ich bedanke mich.
({16})
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserer Kollegin Petra Bläss.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Heimlich und in aller Schnelle kommt die AFG-Novelle".
({0})
An diesen Spruch auf einem Transparent zur am 17. Juni von Arbeitslosen- und Sozialhilfeverbänden initiierten Bonner Demonstration gegen Sozialabbau mußte ich dieser Tage immer wieder denken; denn angesichts des Tempos, mit dem jetzt, ohne große Einspruchsmöglichkeiten vor allem für die Betroffenen selbst, einschneidende Veränderungen des AFG durch den Bundestag abgesegnet werden sollen, ist durchaus etwas an ihm dran.
Hinter den vorgesehenen Streichungen der Eingliederungsleistungen für Aussiedlerinnen und Aussiedler, den Einsparungen bei der Förderung von Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen, den verschärften Förderbedingungen bei ABM, den Kürzungen des Einarbeitungszuschusses und beim Arbeitslosengeld sowie Leistungskürzungen bei der beruflichen Rehabilitation Behinderter verbirgt sich zweifellos eine Demontage arbeitsmarktpolitischer Instrumente, die für das hiesige Arbeitsrechts- und Tarifgefüge weitreichende Folgen haben wird.
In dieser Novelle wird konkretisiert, was in der zurückliegenden Haushaltsdebatte von Regierungsvertretern wortreich begründet wurde: Es muß gespart, konsolidiert, dereguliert werden. Das ist Ihnen mit dieser Sparnovelle wahrlich gelungen.
Wieder soll gerade bei den Mitteln massiv gekürzt werden, die nicht allein für Regelaufgaben vorgesehen sind, sondern für darüber hinausgehende Aufgaben wie Projekte, Modelle, Qualifizierung und Förderung ausgegeben werden könnten.
Doch durch die beschlossene Streichung des Bundeszuschusses an die Bundesanstalt für Arbeit wird eben genau bei diesen ohnehin geringen Gestaltungsspielräumen des AFG der Rotstift angesetzt. 5,2 Milliarden DM - diese Summe ist schon oft genannt worden - sollen im nächsten Jahr bei arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen eingespart werden - dies angesichts weiter steigender Arbeitslosenzahlen und Millionen von Menschen, deren berufliche Perspektive ausschließlich durch eine entwickelte Arbeitsmarktpolitik aufrechtzuerhalten ist.
Das, meine Damen und Herren, ist kontraproduktiv und geht vor allem zu Lasten derjenigen Beschäftigtengruppen, die auf besondere Förderung und Berücksichtigung angewiesen sind, als da sind: Frauen, ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Jugendliche, Behinderte, Ausländerinnen und Ausländer.
Dabei verteidigte die Bundesregierung noch Ende Mai in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der SPD zu Stand und Perspektiven der Arbeitsförderung die hohen Aufwendungen für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und verkündete, daß grundlegende Änderungen des AFG nicht erforderlich seien. - Wie gesagt: im Mai diesen Jahres.
Zu diesen Worten scheint sie heute ebensowenig zu stehen wie zu ihrer damaligen Feststellung, daß sich die Herausforderungen an die Arbeitsmarktpolitik erst in dem Maße vermindern, in dem im Zuge der Umstrukturierung der Wirtschaft Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt entstehen.
Die zweifellos unmittelbarer als manche Bonner Politiker und Politikerinnen mit der gegenwärtigen Situation vor Ort konfrontierten Arbeitsminister und Arbeitsministerinnen der neuen Bundesländer aber waren sich in ihrer Schweriner Erklärung vom 27. August einig, daß die dortige wirtschaftliche Lage eine Fortführung und Weiterentwicklung der Arbeitsförderung nötig macht, und fordern zu Recht die Rücknahme der unter kurzfristigen Sparerwägungen beabsichtigten Kürzungen.
Sofort nach dem Bekanntwerden der 10. AFG-Novelle hatte bereits der Arbeitslosenverband verkündet, daß sie, sollte sie so verabschiedet werden, zu einer weiteren erheblichen Verschlechterung der sozialen Situation der Erwerbslosen und zu einer Verschärfung der Lage auf dem Arbeitsmarkt führen wird.
Meine Damen und Herren, in der bereits zitierten Antwort ist die Bundesregierung der Meinung, das AFG erfülle die Anforderungen, die sich aus dem Gebot der Gleichstellung von Mann und Frau ergeben. Damit befindet sie sich nicht nur im Widerspruch zu bisherigen Bestandsaufnahmen wie der im Auftrag des niedersächsischen Frauenministeriums erarbeiteten Studie „Gleichberechtigung und Arbeitsförderungsgesetz" von Wolfgang Däubler oder den Stellungnahmen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Kommunalen Frauenbüros und der Frauenpolitischen Runden Tische in Berlin und Magdeburg, sondern mit einer solchen Einschätzung wird auch pure Augenwischerei betrieben; denn mit den herkömmlichen arbeitsmarktpolitischen Instrumenten ist es nicht gelungen, die strukturelle Benachteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt abzubauen - nicht zu vergessen, daß es frauendiskrimierende Elemente auch im AFG selbst gibt.
Doch laut Ministerin Merkel erhalten Frauen mit dem vorliegenden Novellierungsentwurf des AFG eine wirkungsvolle gesetzliche Grundlage für die Durchsetzung ihres Gleichberechtigungsanspruches.
Schön, wenn dem so wäre. Zu gern hätte ich diese Einschätzung nach der Lektüre der Bundestagsdrucksache 12/3211 geteilt. Doch dazu hätte sie verbindliche Regelungen vorweisen müssen, die zum Abbau von Frauendiskriminierung führen, als da sind: Anerkennung von Kindererziehung, Pflegezeiten und ehrenamtlicher Tätigkeit, verbunden mit materieller Bewertung bestimmter Formen der Nichterwerbsarbeit durch Ergänzung der §§ 112 und 168; verbindliche Quotenregelung bei Weiterbildung und ABM, d. h. der Frauenanteil im Rahmen dieser Maßnahmen muß mindestens dem Anteil der Frauen an den Erwerbslosen entsprechen; Abschaffung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse, der Nachweispflicht betreffend Verfügbarkeit, der Bedürftigkeitsprüfung sowie der Zumutbarkeitsregelung durch Modifizierung der §§ 103, 111, 138 und 169. - Nach all dem aber habe ich in der 10. AFG-Novelle vergeblich gesucht.
Daß unsere Frauenministerin die vorgesehene unverbindliche Absichtserklärung in § 2, wonach Frauen nunmehr entsprechend ihrem Anteil an den Arbeitslosen gefördert werden sollen, als historischen Schritt feiert, stimmt mich nicht nur traurig, es macht mich schlicht und einfach wütend.
({1})
Ich denke, wir Frauen sind lange genug mit solcher Art von Versprechungen vertröstet worden.
Ich appelliere an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Stimmen Sie angesichts der dramatischen Situation auf dem Arbeitsmarkt nur einer Novellierung des AFG zu, die einen wirkungsvollen Beitrag zur Vervollkommnung arbeitsmarktpolitischer Instrumente leistet.
Ich danke.
({2})
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Heinz Schemken.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, die Arbeitsmarktlage in den jungen Bundesländern bereitet uns allen große Sorgen. Das dürfen wir im Hause ungeteilt zum Ausdruck bringen.
Wir wissen sehr wohl, daß insbesondere die Maßnahmen des Arbeitsförderungsgesetzes uns darüber hinweggeholfen haben, daß es nach dem Vorgang der Wiedervereinigung zu größeren Verwerfungen kam. Dies hat der Minister soeben eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht.
Es geht hier um einen Solidarausgleich zwischen den Menschen in den alten und den jungen Bundesländern, um einen Ausgleich, der die Lage, was die Dramatik bei der Umstrukturierung angeht, sicherlich relativiert.
Wir stellen auch fest, daß es im Arbeitsmarkt Bewegung gibt. Es wäre falsch - Herr Ostertag, Sie sprachen soeben von Starken und Schwachen -, mit Blick in die jungen Bundesländer nicht auch einmal
von denen zu sprechen, die inzwischen mehr in Arbeit sind; denn auch sie müssen Ermunterung erfahren und die anderen motivieren.
Die Zahl der Arbeitslosen, die zu Beginn des Jahres 1,3 Millionen betrug, ist auf 1,18 Millionen gesunken. Dennoch ist jeder einzelne zuviel. Wichtig ist - dies ist positiv zu bewerten -, daß hierbei auch die arbeitsmarktpolitischen Instrumente gewirkt haben: Kurzarbeit, Teilnahme an Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen, Beschäftigung in ABM. Damit sind immerhin 1,8 Millionen Menschen erfaßt.
Wir dürfen feststellen, daß trotz des Rückgangs der Zahl der Kurzarbeiter auf 300 000 die marktwirtschaftlichen Elemente gewirkt haben und dadurch die Zahl der Vermittlungen zugenommen hat. Das sind positive Signale, die bei allem Bedauernswerten - da stimmen wir überein - zu erwähnen sind.
Der rasche Strukturwandel in den jungen Bundesländern und der Produktions- und Beschäftigungsverlust sind auf der anderen Seite für uns auch eine Herausforderung, was die Durchsetzbarkeit arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Maßnahmen angeht. Es ist ein Balanceakt. Wir müssen feststellen: Auf der einen Seite brauchen wir - wir haben ja eindrucksvolle Tage der Haushaltsdebatte hinter uns - Stabilität, auf der anderen Seite fordern wir, die Sozialpolitiker, mehr Ausgaben im sozialen Bereich, die natürlich kostenträchtig sind.
Der Wandel in den jungen Bundesländern vollzieht sich nicht so, wie es uns auch von Experten vorausgesagt wurde. Ich sage das ganz bewußt. Experten sowohl aus Wirtschaft und Wissenschaft als auch von Seiten der Arbeitnehmerschaft, aus dem Verbandsbereich, haben Anfang 1990 Prognosen aufgestellt, die völlig anders waren, als die Wirklichkeit nachher aussah. Ich habe noch in guter Erinnerung, daß ein nicht unbedeutender Mann, nämlich Herr Necker, gefordert hat: Weniger Verwaltung; schaffen Sie Strukturen! Das hat er Anfang 1990 gesagt. Genau ein Jahr später hat er gesagt: Eine gut funktionierende Kommunalverwaltung ist mehr wert als fünf Kilometer Straße.
({0})
- Auch Herr Kohl ist klug genug, zu wissen, daß er nicht alles weiß, sondern daß er sich auf Fachleute verlassen muß. Ich sage das ganz bewußt.
({1})
- Er ist klug genug, zu wissen, daß man nicht alles weiß. Ich warne vor den Politikern, die angeblich alles wissen. Diese Zeit haben wir hinter uns gebracht, den Sozialismus. Dort war es so. Dort hat man angeblich alles gewußt und nichts geregelt.
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Am Ende haben sich die Funktionäre die Taschen
vollgesteckt. Es ist, Frau Bläss, gerade der behinderte,
der ältere Mensch auf der Strecke geblieben. Schauen
Sie sich die Einrichtungen in den jungen Bundesländern an, was dort von uns noch nachzuholen ist.
({3})
Der Minister hat sehr eindrucksvoll dargestellt, daß mit einem Transfer von über 43 Milliarden DM ein Kraftakt gestartet wurde und fortgesetzt wird, der einmalig ist. Die übrigen osteuropäischen Länder - ich sage das bewußt -, die Anrainer, die dies sehen, wären dankbar und froh, hätten sie eine solche Möglichkeit des solidarischen Ausgleichs.
Eine wichtige Frage ist auch die Qualifizierung der Menschen, weil es letztlich um die Köpfe geht. Es geht auch um das, was sich in den Köpfen vollzieht. Es ist außerordentlich schwierig, dies alles von hier aus zu beurteilen, wenn man nicht unterwegs ist. Ich unterstelle allen hier, die als Sozialpolitiker tätig sind, daß sie die Gelegenheit nutzen, sich dort einmal umzuschauen.
Wir können nicht alles, was dort - ich sage das ganz bewußt - in 40 Jahren Planwirtschaft angerichtet wurde, mit unserer Elle messen.
Ein weiteres positives Signal ist, daß wir junge Menschen in eine Ausbildung bringen. Es sind über 80 000 Ausbildungsplätze verfügbar. 120 000 junge Menschen suchen einen Ausbildungsplatz. Die Landesregierungen setzen positive Akzente; das darf ich hier ausdrücklich sagen. Das ist begrüßenswert. Das geschieht auch in den jungen Bundesländern. Immerhin werden damit 20 000 Ausbildungsstellen geschaffen.
Die Bundesregierung tut über eigene Einrichtungen das Ihrige, um Perspektiven für junge Menschen zu eröffnen. Es ist ganz wichtig, daß junge Menschen erfahren, daß es zu dieser Sozialen Marktwirtschaft keine Alternative gibt, was die Zukunftschancen und den Eintritt in die Erwachsenenwelt über die Arbeit und über eine betriebliche Ausbildung angeht.
Wir bauen auf die Zukunft, Frau Schenk, und schauen nicht in die Vergangenheit. Das halte ich für ganz wichtig.
All das ist nur möglich, wenn wir die Wirtschaft in den alten Bundesländern flotthalten. Die Signale dort stehen auf Stagnation. Wir brauchen weiterhin die Entwicklung. Wir brauchen weiter zur Unterstützung des Bundeshaushalts und des Solidarhaushalts der Bundesanstalt für Arbeit eine Konjunktur, die sich sehen lassen kann, die etwas überbringt und etwas Schwung für die neuen Bundesländer bewirkt.
Insofern war es wichtig, so schmerzlich dies für uns ist - Sie können mir abnehmen: auch für die Freunde der CDU/CSU-Fraktion -, diese 5,2 Milliarden DM zurückzunehmen. Wir müssen Schwerpunkte setzen. Ich meine, ein wichtiger Schwerpunkt ist z. B. das Projekt, das der Minister soeben vorgestellt hat,
({4})
nämlich Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Allerdings müssen entsprechende Kontrollen erfolgen - dies sage ich ausdrücklich -, damit Mitnahmeeffekte wie in anderen Bereichen, auch in den jungen Bundesländern, verhindert werden. Wir brauchen
diese Maßnahme - der Minister hat es deutlich gemacht -, um im wahrsten Sinne des Wortes Altlasten zu beseitigen und um Industrieansiedlungen, Wohnungsbau und Landschaftspflege zu ermöglichen. Die Gesellschaften, die mit Unterstützung durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gegründet werden, halte ich für sehr wesentlich.
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Herr Ostertag, ich finde es eigentlich nicht ganz korrekt, die Asylfrage und diese Verwerfungen, die wir aufs schärfste verurteilen, nur mit der Arbeitslosigkeit in Verbindung zu bringen.
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- Sie haben das zweimal sehr nachdrücklich erwähnt. Ich halte dies nicht für fair. Für uns - Sie haben uns als Christen angesprochen - ist Arbeit nicht nur das Geldverdienen, sondern sie entspricht auch der Würde des Menschen. Diese Würde ist für uns ein hoher Anspruch; das sage ich Ihnen ganz deutlich.
Deshalb möchten wir über die Arbeitsförderung - das ist entscheidend - bewirken, daß der Mensch Chancen wahrnimmt. Auch das ist ein würdiger Ansatz, nicht nur die Versorgung auf dem Weg über die Arbeitsförderung.
Im Hinblick darauf sind die Bildungsmaßnahmen, die hier ausdrücklich in einem Maß durchgeführt werden, wie wir sie uns in den alten Bundesländern hier und da sicherlich in dieser Größenordnung gewünscht hätten, nur zu begrüßen. Sie sind für die Menschen dort der richtige Ansatz. Sie bringen Qualifizierung, Hoffnung und Perspektiven. Nur wer sich für die Zukunft rüstet, wird bestehen.
Frau Dr. Babel, Sie haben sicherlich zu Recht angemahnt: Wir müssen Europa und die dafür erforderliche Flexibilität berücksichtigen. Nehmen Sie uns bitte nicht übel, daß bei uns die Diskussion über das ILO-Abkommen auf sehr geteilte Meinung stößt. Das darf ich hier ausdrücklich feststellen.
Herr Schemken, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Reimann?
Bitte schön, Herr Reimann, wenn mir die Zeit nicht angerechnet wird.
Herr Kollege Schemken, weil Sie glauben, die Arbeitslosen hätten in Rostock nicht an den Ausschreitungen teilgenommen, frage ich Sie: Meinen Sie nicht, daß ein Arbeitsloser restlos verbittert ist, wenn er vorher auf einem Werftkran gearbeitet hat und entlassen wird, weil an diesen Arbeitsplatz ein Pole für 5 DM pro Stunde kommt? Was machen Sie mit diesem Arbeitslosen? Glauben Sie nicht, daß er verbittert ist und gegebenenfalls mitmarschiert, wo Steinewerfer marschieren?
Dieser Arbeitslose ist sicherlich verbittert; aber es war nicht der Arbeitslose,
der in Rostock beteiligt war; das darf ich Ihnen ausdrücklich sagen.
Die Frage, wie wir mit den Ausländern umgehen, hat eine völlig andere Dimension. Sie muß uns in den alten Bundesländern genauso beschäftigen und hat im Ansatz nichts, aber auch gar nichts mit der Arbeitslosigkeit zu tun.
Daß der Kranführer enttäuscht ist, kann ich nachvollziehen; aber er war nicht der Protestierende bzw. der Aggressive in Rostock.
Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt sind sicherlich ein erster Schritt. Es ist jedoch ein schwieriger Weg. Es hat aber auch unmittelbar nach der Währungsreform in den alten Bundesländern nicht sofort funktioniert. Die Soziale Marktwirtschaft ist ein kompliziertes Instrument; das sage ich Ihnen ganz deutlich. Wer am Ort, z. B. in den Kommunen der alten Bundesländer, zu tun hat, weiß ja wohl, wie schwierig es auch dort ist, eine Industrieansiedlung durchzuführen; um so schwieriger ist es in den neuen Bundesländern. Ich sage dies ausdrücklich, weil wir verstehen müssen, warum Menschen dort in bestimmter Weise handeln und daß sie möglicherweise durch das, was ihnen vorgegeben ist, überfordert werden.
Wir möchten die schwierige Frage des Arbeitsmarktes solidarisch mit den Menschen in den neuen Bundesländern angehen. Aber wir setzen auch darauf, daß die Soziale Marktwirtschaft stabil genug ist und daß die Gesellschaft, die sie trägt, bereit ist, den Menschen in den neuen Bundesländern, die unserer Hilfe bedürfen, in ihrer schwierigen Situation und in der schicksalhaften Stunde behilflich zu sein.
Ich bin fest davon überzeugt: Die ersten beiden Jahre waren die schwierigsten und mußten es auch sein. Wir können jetzt nach vorne blicken, und wir sollten den Menschen auch Hoffnung vermitteln.
Schönen Dank.
({0})
Frau Kollegin Christina Schenk, ich erteile Ihnen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Arbeitsmarktberichte aus Nürnberg bestätigen es: Die Beseitigung der DDR und die marktwirtschaftliche Neuorganisation Ostdeutschlands vollziehen sich nicht geschlechtsneutral. Die Statistik vermeldet monatlich das Steigen der Zahl erwerbsloser Frauen. Gegenwärtig sind bereits zwei Drittel der registrierten Erwerbslosen Frauen. Es wird immer deutlicher, daß mit der Liquidierung des Produktionsstandorts Ost die Frauenerwerbslosigkeit zur Dauererscheinung wird. Die Situation ist wirklich überaus dramatisch. Es besteht akuter Handlungsbedarf.
Daß die Bundesregierung diesem bei der geplanten Novellierung des AFG in keiner Weise Rechnung trägt, ist ein Skandal.
({0})
Nicht arbeitsmarktpolitische, sondern ausschließlich kurzfristige finanzökonomische Überlegungen bestimmen den Inhalt der Anpassung.
Die vorliegende Novelle ist unverkennbar ein weiterer Schritt der Bundesregierung in Richtung Demontage der Instrumente einer aktiven Arbeitsmarktpolitik. Wurde bei der Verabschiedung des AFG noch der Anspruch formuliert, den aktiven Instrumenten zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit den klaren Vorrang vor Lohnersatzzahlungen einzuräumen, wird nun die Tendenz zur Verwaltung und Finanzierung der Arbeitslosigkeit offenbar dominant.
So ist z. B. die Neufassung des § 2 des AFG, der besagt, daß Frauen entsprechend ihrem Anteil an den Arbeitslosen gefördert werden sollen, eine Farce. Was Frau Merkel - das ist hier schon erwähnt worden - als wirkungsvolle gesetzliche Grundlage und historischen Schritt in der Geschichte des AFG lobpreist, ist eine Soll-Bestimmung, deren Nichtbeachtung nicht sanktioniert werden kann. Solange in den ostdeutschen Bundesländern nicht einmal 40 % der arbeitslosen Frauen in AB-Maßnahmen sind, obwohl ihr Anteil an den Arbeitslosen gegenwärtig bei über 64 %, in einzelnen Regionen sogar bei 70 % liegt, reicht eine Sollbestimmung für die Durchsetzung gleicher Berufschancen ganz offensichtlich nicht aus.
({1})
Die Blümsche Sparnovelle enthält Maßnahmen, durch die sich die Situation erwerbsloser Frauen verschlechtert und ihr Weg in die existenzsichernde Erwerbsarbeit eher erschwert wird.
Die Novelle bestimmt, daß die Orientierungskurse zur Verbesserung der Vermittlungsaussichten nach § 41 a AFG wegfallen sollen. Davon sind hauptsächlich Frauen betroffen. In den westlichen Bundesländern haben sich diese Maßnahmen insbesondere für Berufsrückkehrerinnen bewährt, da sie den Vorteil haben, eine relativ arbeitsamtunabhängige und auf die individuelle Lage der Frau eingehende Beratung zu bieten.
Frauen in Ostdeutschland waren überproportional, nämlich zu 68 %, in diesen Orientierungskursen vertreten, während sie z. B. in direkt berufsvorbereitenden Maßnahmen unterrepräsentiert sind. Das signalisiert in beiden Aspekten einen überaus kritikwürdigen Zustand. Frauen in der DDR waren gut qualifiziert und hatten kontinuierliche Berufsverläufe. Ihr Qualifikationsbedarf ist daher kaum anders als der von Männern. Wenn sie dennoch häufiger als Männer in Maßnahmen nach § 41a abgeschoben werden und dadurch im Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt weiter ins Hintertreffen geraten, ist dies ein Beleg für die Tendenz einer frauendiskriminierenden Zuweisungspraxis der Arbeitsämter.
Im Zuge der jetzt stattfindenden Annäherung der Arbeitsmarktsituation für Frauen in Ost und West wird sich der Wegfall der Orientierungskurse auch für Ostfrauen negativ auswirken.
Was bietet nun Herr Blüm als Ersatz? Sein Ministerium hat offensichtlich eng mit den Entwerfern und Entwerferinnen des Gruppenantrages zum § 218 zusammengearbeitet; denn der Novellenentwurf plant eine Pflichtberatung jeder und jedes Arbeitslosen durch das Arbeitsamt vor der Teilnahme an einer Bildungsmaßnahme.
Die Erfahrung besagt, daß die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Verteilung von Qualifikations- und Karrierechancen durch die bisherige Arbeitsförderungspolitik nicht verringert, sondern eher noch verfestigt und ausgeweitet werden. Insofern ist die Ersetzung der Orientierungskurse durch eine Pflichtberatung, in der auch über die Zweckmäßigkeit der Fördermaßnahme entschieden wird, eine Regelung, die die Chance der einzelnen Frau, aus der ihr zugedachten Rolle auf dem Arbeitsmarkt auszubrechen, erheblich verringert.
Fortbildung und Umschulung haben schon unter den bisher geltenden Bedingungen einer geschlechtsspezifischen Arbeitsmarkt- und Einstellungspolitik zu einer massenhaften Dequalifizierung ostdeutscher Frauen geführt. Es gehört wenig Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie die Lage in zwei Jahren sein wird. Die Übertragung westdeutscher geschlechtsspezifischer Berufsstrukturen auf die ostdeutschen Bundesländer wird von der Arbeitsmarktpolitik, wie zu sehen ist, geradezu forciert.
Die geplanten Streichungen bei der Förderung von Fortbildung und Umschulung stellen mit 1,5 Milliarden DM den zweitgrößten Einsparungsposten in der Sparnovelle dar. Erreicht werden soll diese Einsparung - neben der Streichung der Orientierungskurse - durch die Festlegung, daß die Teilnahme an einer zweiten Bildungsmaßnahme künftig nur noch in begründeten Ausnahmefällen gefördert werden soll. Auch das trifft besonders Frauen in den alten und damit perspektivisch auch in den ostdeutschen Bundesländern. Denn sie sind es, die nach staatlich verordneter Zwangspause infolge von Erziehungsurlaub und nicht vorhandenen Kindertagesstätten als Berufswiedereinsteigerinnen verstärkten Qualifizierungsbedarf haben.
Ich möchte zum Schluß noch auf eine in der AFG-Novelle enthaltene Neuheit eingehen, die, wie ich meine, eine Zäsur in der bisherigen Bonner Arbeitsmarktpolitik darstellen wird. Die Novelle sieht vor, daß künftig in den ostdeutschen Bundesländern eine 90prozentige bzw. in Ausnahmefällen auch 100prozentige Förderung der Personalkosten durch die Bundesanstalt für Arbeit nur dann gewährt wird, wenn die Arbeitszeit der ABM-Beschäftigten auf 80 % eines Vollzeitarbeitsverhältnisses beschränkt wird.
Auch der Vorschlag, im Umweltbereich die Mittel der Bundesanstalt für Arbeitslosengeld in Lohnkostenzuschüsse umzuwandeln, ist an die Begrenzung der regulären Arbeitszeit und damit auch der Entlohnung auf 80 % gebunden.
Wirtschaftsminister Möllemann fordert immer wieder Sondertarife für Arbeitslose, die vermittelt werden. Bis jetzt war diese Forderung auch infolge des Widerstands der Gewerkschaften nicht durchsetzbar. Aber zumindest für die ABM-Beschäftigten und für die Arbeiter und Arbeiterinnen in der Umweltsanierung soll es künftig diesen Einkommensabschlag geben. So ist also der Einstieg in einen Sondertarif für Arbeitslose gefunden. Hier vollzieht sich ein massiver Eingriff in das Arbeits- und Tarifrecht der Bundesrepublik.
Die Bundesregierung hat mit dieser Novelle erneut ihre Unfähigkeit zu innovativem Reagieren auf eine sich verändernde Situation bewiesen.
({2})
Es wird in den seit Jahren gewohnten Bahnen weitergewuselt, nur jetzt mit noch schlechteren finanziellen Rahmenbedingungen. Die vorliegende AFG-Novelle ist eine arbeitsmarktpolitische Bankrotterklärung der Bundesregierung; anders kann ich das nicht bezeichnen. Was nach dem Lesen der AFG-Novelle bleibt, ist demzufolge das Wissen um den auch im Bereich der Arbeitsmarktpolitik stattfindenden Sozial- und Demokratieabbau, ein weiteres Mal wesentlich auf Kosten der Frauen.
({3})
Die nächste Rednerin ist Frau Kollegin Ulrike Mascher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir uns die Arbeitsmarktentwicklung in den neuen Bundesländern, aber auch im westlichen Bundesgebiet, vor Augen führen, wenn wir feststellen, daß es fast drei Millionen gemeldete Arbeitslose gibt, wenn wir lesen, was der Vorsitzende der Bundesanstalt für Arbeit, Herr Franke, noch im Mai voll Stolz erklärt hat - ich zitiere: „Ohne unsere Maßnahmen müßten wir heute im vereinten Deutschland 5,1 Millionen Arbeitslose registrieren" -, dann wäre eigentlich zu erwarten, daß mit der Änderung des AFG versucht wird, auf die steigende Arbeitslosigkeit zu reagieren und die Voraussetzungen für eine aktive und erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik zu verbessern. Das leistet diese Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes aber nicht.
Das Ergebnis dieser Änderung ist eine Demontage des Arbeitsförderungsgesetzes und wieder einmal eine Belastung der Gemeinden, da insbesondere die Streichung von Eingliederungsleistungen für Aussiedler und die drohende Kürzung bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen die Sozialhilfeetats der Kommunen belasten werden.
Ich möchte dazu aus einem Brief der CSU-Bürgermeisterin von Schweinfurt an den Bundesminister Waigel zitieren:
Jedem weiteren Abbau von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen über das bereits erfolgte Maß hinaus muß ich jedoch mit aller Entschiedenheit widersprechen. Ich bitte Sie eindringlich, die Auswirkungen eines solchen Schritts zu bedenken.
({0})
Er würde in zweifacher Weise die sozial Schwächsten treffen: Langzeitarbeitslosen, jüngeren und vor allem älteren Menschen ohne Arbeit würde eine letzte Chance genommen. Sehr häufig ist der Inhalt solcher Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Dienst an bedürftigen Mitmenschen. Daran, was es für die Selbstachtung eines Menschen bedeuten kann, ohne feste Arbeit zu sein, muß sich gelegentlich auch ein Politiker erinnern lassen.
Ich denke, dies gilt nicht nur für Herrn Waigel, sondern auch für Herrn Blüm.
({1})
Anstatt die Instrumente für eine aktive Arbeitsmarktpolitik an den Zielgruppen orientiert, die besonders von Arbeitslosigkeit betroffen sind, fortzuentwikkeln, wird diese Novelle des AFG genutzt, um Löcher im Haushalt von Finanzminister Waigel zu stopfen. Ergebnisse dieser Demontage aktiver Arbeitsmarktpolitik werden sein: ein Rückgang der Zahl der Umschulungen, ein Rückgang bei der Förderung von Bildungsmaßnahmen für die berufliche Eingliederung von Behinderten, weniger Beschäftigte in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, in Ostdeutschland eine geringere Bezahlung bei diesen Maßnahmen und mit Sicherheit eine Zunahme der Arbeitslosenzahl.
Das ist eine Haushaltspolitik auf dem Rücken der Menschen, die wegen geringer beruflicher Qualifikation, wegen gesundheitlicher Beeinträchtigungen oder deswegen, weil sie Frauen sind, kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Dies ist eine Politik, die den Anforderungen einer wirksamen Bekämpfung von Arbeitslosigkeit nicht gerecht wird.
({2})
Nun wird von der Bundesregierung und auch von Herrn Bundesminister Blüm behauptet, diese Demontage des Arbeitsförderungsgesetzes würde gleichzeitig auch wichtige Verbesserungen z. B. bei der Förderung der beruflichen Wiedereingliederung von Frauen bringen. Die Frauenministerin hat gestern abend den Arbeitsminister dafür gelobt.
Sieht frau sich den Regierungsentwurf daraufhin genau an, so findet sie eine ganz starke Formulierung. Bisher hieß es:
Die Maßnahmen nach diesem Gesetz haben insbesondere dazu beizutragen, daß der geschlechtsspezifische Ausbildungsstellen- und Arbeitsmarkt überwunden wird und Frauen, deren Unterbringung unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes erschwert ist, beruflich eingegliedert und gefördert werden;
Nun folgt statt eines Kommas ein Semikolon, und jetzt kommt die starke Formulierung: „Frauen sollen entsprechend ihrem Anteil an den Arbeitslosen gefördert werden." In den Erläuterungen werden dann so starke Worte verwendet wie „es wird eine weitere Verstärkung der Beteiligung von Frauen ({3}) angestrebt" oder „Die Bundesanstalt ({4}) wird darauf hinwirken". Wenn es nicht um das Schicksal von fast zwei Millionen Frauen ginge, wäre diese „starke" gesetzliche Regelung Stoff für eine Satire.
({5})
Aber was ist die arbeitsmarktpolitische Realität? Frauen sind auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt. Im Westen konzentriert sich die Erwerbstätigkeit von Frauen auf wenige Branchen und Berufsfelder, die sich durch niedrige Bezahlung und schlechte Arbeitsbedingungen auszeichnen. Frauen sind überdurchUlrike Mascher
schnittlich häufig in ungeschützten Arbeitsverhältnissen beschäftigt.
Auch in der früheren DDR gab es frauentypische Beschäftigungen. Auch hier lagen die durchschnittlichen Fraueneinkommen unter dem Niveau der durchschnittlichen Männereinkommen. Dieser Unterschied war etwas geringer als in Westdeutschland. Aber 94 % der Frauen hatten eine abgeschlossene Berufsausbildung. Immerhin 30 % der Leitungspositionen waren mit Frauen besetzt. Der Frauenanteil lag bei den technisch-gewerblichen Berufen bei etwa einem Drittel der Beschäftigten.
Um so dramatischer ist jetzt der Einbruch, den Frauen seit der Einigung auf dem Arbeitsmarkt erleiden. 64 % der Arbeitslosen in Ostdeutschland sind Frauen. In Westdeutschland waren es im Juli 1992 46,7 %. Dabei ist zu beachten, daß gerade erwerbslose Frauen zu einem erheblichen Teil nicht von der offiziellen Statistik erfaßt werden, weil sie in der „stillen Reserve" verschwinden. Seriöse Quellen gehen von etwa einer Million Frauen aus.
Was bietet die Bundesregierung angesichts dieser Entwicklung?: „Frauen sollen entsprechend ihrem Anteil an den Arbeitslosen gefördert werden. " Im Juli 1992 waren in Ostdeutschland 224 056 Männer und nur 164 636 Frauen in AB-Maßnahmen beschäftigt, obwohl 759 949 Frauen gegenüber 428 285 Männern arbeitslos gemeldet waren. Wir werden im nächsten Jahr sehen, ob das „Soll" erreicht wird. Ich befürchte allerdings, daß die Benachteiligung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt durch das „Soll" nicht aufgehoben wird.
Notwendig ist ein Bündel von gezielten Maßnahmen. Die frauendiskriminierende Verfügbarkeitsregelung soll aufgehoben werden. Von arbeitslosen Müttern soll kein Nachweis mehr über die Betreuung von Kindern gefordert werden, und zwar genauso, wie es bei arbeitslosen Vätern gehandhabt wird. Frauen sollen an frauenuntypischen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bzw. Beschäftigungsgesellschaften erheblich mehr beteiligt werden. Projekte, die z. B. im Rahmen der sozialen Infrastruktur oder im Dienstleistungssektor eine Beschäftigung für Frauen bieten, sollen gezielt gefördert werden. Der Frauenanteil an technischen und höher qualifzierenden Weiterbildungsmaßnahmen soll entsprechend der Soll-Vorschrift erhöht werden.
Kindererziehungs- und Pflegezeiten sollen wie beitragspflichtige Beschäftigungszeiten berücksichtigt werden, um Frauen den Zugang zu Leistungen des Arbeitsförderungsgesetzes zu eröffnen. Alle Teilzeitarbeitsverhältnisse, also auch die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, sollen in die Sozialversicherungspflicht einbezogen werden. Es sollen keine Streichungen der beruflichen Bildungsmaßnahmen erfolgen. Die Beschäftigungsprojekte, die im westlichen Bundesgebiet Frauenbeschäftigung bzw. Qualifzierungen angeboten haben, sollen erhalten werden. Zur Durchsetzung der neuen Soll-Vorschrift sollen die Kompetenzen der Frauenbeauftragten der Arbeitsämter erweitert werden.
Sicher sind diese Maßnahmen noch im einzelnen zu diskutieren. Ich freue mich schon, diese Frage im
Ausschuß mit Frau Dr. Babel, mit Frau Bläss, Frau Schenk und vielleicht auch einer Kollegin von der CDU intensiv zu beraten.
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- Ich lade auch die Kollegen ganz herzlich ein, ihren geballten Sachverstand einzubringen, damit wir in der Arbeitsmarktpolitik ein frauenförderndes Programm bekommen.
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Ich denke, daß nur durch eine gezielte Weiterentwicklung und Verknüpfung vorhandener Instrumente eine Neuorientierung in der Arbeitsmarktpolitik im Interesse von Frauen erreicht werden kann. Eine Soll-Vorschrift reicht auch mit den besten Absichten nicht aus.
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Ich erteile unserem Kollegen Julius Louven das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich fasse mich sehr kurz. Wir werden zu den Ausschußberatungen einige Änderungsanträge vorlegen. Einen davon möchte ich erwähnen, Herr Ausschußvorsitzender, weil ich es für sinnvoll halte, ihn in die Anhörung einzubeziehen.
Wir haben gehört, daß die für die neuen Bundesländer zuständigen Rentenversicherungsträger noch nicht in der Lage sind, den vielen Beziehern von Altersübergangsgeld Auskunft über ihre Rentenhöhe zu erteilen. Dies wird sich auch, wie wir hören, im nächsten Jahr nicht ändern und hängt mit dem großen Arbeitsanfall auf Grund des RentenÜberleitungsgesetzes zusammen. Von daher sage ich dies nicht als Vorwurf an die Rentenversicherungsträger. Vielmehr möchte ich deren Leistungen im Zusammenhang mit dem Renten-Überleitungsgesetz ausdrücklich würdigen.
Diese Situation führt nun allerdings dazu, daß viele Bezieher von Altersübergangsgeld auch wenn sie bereits 60 Jahre alt sind und einen Rentenanspruch haben, keinen Rentenantrag stellen, was zur Folge hat, daß die Bundesanstalt für Arbeit Altersübergangsgeld zahlen muß.
Im Ergebnis bedeutet dies eine nicht sachgerechte und natürlich auch nicht gewollte Lastenverschiebung zwischen der Rentenversicherung einerseits und der Bundesanstalt für Arbeit andererseits. Hier sind wir von seiten der Koalitionsfraktionen der Meinung, daß im Wege des Ausgleichs die Rentenversicherung der Bundesanstalt für Arbeit die Kosten erstatten sollte. Dies ist bei der Finanzlage der Rentenversicherung auch durchaus vertretbar. Dabei weise ich ausdrücklich darauf hin, daß dadurch der individuelle Rechtsanspruch der Bezieher von Altersübergangsgeld nicht tangiert wird.
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Herr Ausschußvorsitzender Heyenn, von daher wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie zur Anhörung auch
einen Vertreter des Verbandes der Rentenversicherungsträger einladen würden, damit wir auch zu diesem Problembereich entsprechende Fragen stellen können.
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Da ich noch eine Minute Redezeit zur Verfügung habe - nun ist Frau Babel nicht mehr da -, möchte ich noch ein paar Anmerkungen zur Kündigung des ILO-Abkommens machen. Wir, die Sozialpolitiker der Unionsfraktion, hätten es begrüßt, wenn wir mit dieser Novelle auch dem hätten Rechnung tragen können, was mit der Kündigung des ILO-Abkommens gewollt war. Als Basis denke ich dabei an das, was ich für die Sozialpolitik der Unionsfraktion vorgetragen habe. Ich meine nicht auf Gewinn orientierte Vermittlung, sondern mehr Flexibilität.
Ich würde es begrüßen, Herr Minister, wenn es noch im Laufe der Beratungen gelänge, zu einem Einvernehmen mit dem Koalitionspartner zu kommen; denn eine Kündigung eines internationalen Abkommens auszusprechen und damit einen längeren Schwebezustand zu haben, halten wir im Interesse derer, die diese Kündigung kritisieren,wie derer die die Kündigung wollten, für unvertretbar. Ich würde es begrüßen, wenn wir hier zu einer Regelung kommen könnten.
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Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, die letzte mir vorliegende Wortmeldung stammt von der Frau Kollegin Regina Kolbe. Sie hat das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte noch durch einige Worte auf den Konflikt mit ausländischen Arbeitnehmern hinweisen. Ich habe eine Mitarbeiterin in meinem Wahlkreis. Dem Ehemann dieser Mitarbeiterin ist gekündigt worden. Diesen Arbeitsplatz wird in Zukunft ein Pole einnehmen. Vor diesem Ereignis war meine Mitarbeiterin in bezug auf Ausländerarbeit sehr aktiv. Sie können sich jetzt sicherlich ihre Reaktion vorstellen.
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- Ja, all dies ist ein Problem.
Das, was die Bundesregierung als Neufassung des AFG vorgelegt hat, ist ein arbeitsmarktpolitischer und finanzieller Offenbarungseid. Insofern hätte die Debatte um die Novelle nicht erst heute auf die Tagesordnung gehört, sie hätte Gegenstand der Haushaltsberatungen sein müssen.
Einsparungen sind zuweilen sinnvoll und angesichts der Haushaltslage des Bundes sicherlich auch richtig. Aber ich glaube, in diesem Fall wird an der
falschen Stelle gespart. Übrigens stehe ich mit dieser Meinung nicht allein da - Vorstand und Verwaltungsrat der Bundesanstalt für Arbeit haben in dem Zusammenhang festgestellt, daß durch Kürzungen des Bundeszuschusses die Arbeitsmarktpolitik stark gefährdet wird.
Während der Ausschußberatungen werden wir sicher Gelegenheit haben, darüber hinreichend zu diskutieren.
Einige Punkte möchte ich aber heute schon ansprechen. Die vorgesehenen Kürzungen der Förderkonditionen bei ABM kann ich nicht akzeptieren. Es gibt zur Zeit im Osten keine andere Alternative als ABM.
Die Begründung für die Kürzungen ist unglaublich. Danach wollen Sie mit verringerten Arbeitszeiten und -entgelten die Bereitschaft fördern, in ein Normalverhältnis zu wechseln. Ja, wo gibt es denn diese Arbeitsplätze im Osten? In Ostdeutschland kommen zur Zeit auf einen freien Arbeitsplatz 13 ABM-Kräfte. Rechnet man die gemeldeten Arbeitslosen und die Bezieher von Altersübergangsgeld hinzu, kommen auf eine freie Stelle 68 mögliche Bewerber. Daß an Hand dieser Zahlen kein Mensch Ihrer Logik folgen kann, dürfte Ihnen doch eigentlich selbst klar sein.
Selbst die F.D.P.-Fraktion sollte diese Zahlen zur Kenntnis nehmen und endlich von Ihrem Bremskurs bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik abrücken.
Die Änderungen der Förderkonditionen für ABM werden vor allem den Effekt haben, daß Maßnahmenträger auf Grund der höheren Kosten weniger Anträge stellen. Ist das vielleicht das Ziel dieser Novelle?
Ich werde in meinem Wahlkreis immer wieder gefragt: Was macht ihr eigentlich in Bonn? Ich soll erklären, warum es so viele Arbeitslose gibt, wo doch die Arbeit auf der Straße liegt. Warum macht ihr nichts dagegen, heißt es immer wieder. Seitens der SPD-Fraktion liegen dem Parlament Anträge vor. Diese finden bei der Regierungskoalition keine Akzeptanz. Also bleibt alles beim alten. Wir finanzieren Arbeitslosigkeit und nicht Arbeit. Das kann kein Mensch verstehen; ich auch nicht.
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Das ist auch keine Frage des Intellekts. Das Unvermögen und vor allem das Nichtwollen der Regierung führen zur Politikverdrossenheit und zu sozialen Ängsten; siehe Rostock.
Meines Erachtens müssen wir alle Aktivitäten auf eine aktive Arbeitsmarktpolitik konzentrieren, solange es im Osten noch keine blühenden Industrielandschaften gibt. Optimisten sprechen von einer Zeit von fünf bis sieben Jahren, Pessimisten rechnen damit, daß es noch zehn Jahre dauern wird. Wir alle wissen doch genau, daß ca. 50 % aller Arbeitsplätze durch die Industrie geschaffen werden. Bis es soweit ist, muß die Politik Übergangslösungen bieten.
Dabei brauchen wir auch Programme für die Generation der 50jährigen, eine Generation, die sich heute schon als verlorene Generation bezeichnet. Auf den Arbeitsämtern heißt es: keine Chance für sie.
Wir diskutieren über eine AFG-Novelle, die zehnte innerhalb von 24 Jahren. Novellierung bedeutet für mich in der gegenwärtigen Situation ein Anpassen an die neue Problemlage. Das leistet diese Novelle nicht. Aber sie paßt bruchlos in die mehr als kritikwürdige Sozialpolitik dieser Regierung: Kürzungen und Schlechterstellungen, wohin man blickt.
Nehmen wir die Förderung von Behinderten. Der Entwurf spricht von einer Präzisierung und ist doch nur ein Freibrief für eine Einschränkung von Rehabilitationsmaßnahmen je nach Finanzlage. Ich frage Sie: Wie wird es in Zukunft aussehen, wenn Förderung nach den Gesichtspunkten des Arbeitsmarkts praktiziert wird?
Die Zahlen des letzten Berichtes über die Beschäftigung Behinderter sprechen eine eindeutige Sprache. Da wird deutlich, welches Interesse die Wirtschaft an der Beschäftigung Behinderter hat. Selbst viele Institutionen des Bundes sind nicht willens, Behinderte im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Quoten zu beschäftigen. Wer soll eigentlich an die Ernsthaftigkeit des Gesetzgebers glauben, wenn er selbst nicht bereit ist, seinen eigenen Gesetzen nachzukommen, und sich von seiner Verpflichtung freikauft?
Wenn der Bedarf am Arbeitsmarkt der ausschlaggebende Punkt bei der Qualifizierung sein soll - gemessen am bestehenden Bedarf -, wird in Zukunft überhaupt keine Qualifzierung mehr erfolgen. Gerade dieser Passus in der AFG-Novelle ist für mich, die selbst behindert ist, keine Weiterentwicklung im Behindertenrecht, sondern ein Rückschritt.
„Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist es im Rahmen ihrer Politik für Behinderte eine wesentliche Aufgabe, das Rehabilitations- und Schwerbehindertenrecht kontinuierlich weiterzuentwickeln. " Wolfgang Schäuble hat diesen Satz in sein Grußwort für das Europaseminar des VdK schreiben lassen. In diesem Punkt stimme ich mit ihm überein. Ich hoffe, dieses Problem ist damit vom Tisch.
Die AFG-Novelle nimmt jedem ein bißchen - scheibchenweise -, und am Ende sind 5 Milliarden DM zusammen.
Es war und ist nicht einzusehen, daß die Aufrechterhaltung einer Mindestbeschäftigung in Ostdeutschland durch die Bundesanstalt finanziert wird. Das Arbeitsförderungsrecht ist mit seinem gegebenen Instrumentarium auf die besondere Situation nach der Einheit gepreßt worden, ohne dafür konzipiert gewesen zu sein. Aber heute, zwei Jahre nach Vollzug der Einheit, zeigt sich, daß die Bundesanstalt nicht länger in der Lage ist, die wirtschafts- und strukturpolitischen Defizite sozialverträglich auszubügeln.
ABM im Osten leisten eine dringende, eine notwendige Aufbauarbeit. Von dieser Arbeit profitiert jeder, auch Beamte und Selbständige. Deshalb ist es für mich und den Großteil der Bevölkerung in diesem Lande unverständlich, daß diese gesellschaftlichen
Gruppen nicht an den entstehenden Kosten für eine aktive Arbeitsmarktpolitik beteiligt werden. Zum Beispiel dort sehe ich eine Finanzierungsquelle.
Geld ist das eine, aber noch viel wichtiger ist Arbeit für das Wohlbefinden der Menschen. Arbeitslosigkeit gehört zu den bittersten Erfahrungen der Menschen. Sie bedeutet soziale Unsicherheit. Lassen Sie uns kreativ und phantasievoll sein. Lassen Sie uns bitte jede Möglichkeit nutzen - ich bin aufgeregt, weil das Thema Arbeitslosigkeit für mich familiär sehr belastend ist -, um Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Wenn das zur Zeit nicht durch die Wirtschaft möglich ist, dann mit den Mitteln des AFG. Die Menschen im Osten wollen am Aufbau teilhaben. Also lassen wir sie bitte arbeiten und nicht zu Hause.
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Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/3211 und 12/3008 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nunmehr Punkt 4 c der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der anderweitigen Verwendung von Berufssoldaten und Beamten des Geschäftsbereichs des Bundesministers der Verteidigung ({0})
- Drucksache 12/3159 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({1})
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuß
Haushaltsausschuß
Der Tagesordnungspunkt 4 a und b wurde bereits am Mittwoch aufgerufen.
Es handelt sich um eine Überweisung im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 23. September 1992, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.